Verortungen in der Jerusalemer Altstadt: Lebensgeschichten und Alltag in einem engen urbanen Raum 9783839439388

A portrait of Palestinian daily life in the Old Town of Jerusalem: How do people perceive themselves as being located in

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German Pages 456 [454] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Sozialkonstruktivistische Biographieforschung, Raumsoziologie und ihre mangelnde Verknüpfung
3. Orte – Wir-Orte – Verortungen – Forschungsräume
4. Darstellung der verwendeten Methoden
5. Geschichte Ostjerusalems seit 1948
6. Jerusalems Altstadt: Stadthistorische Diskussionen, jüngste Geschichte und gegenwärtige Situation
7. Kleine Nachbarschaft
8. Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel
9. Mönche in der Jerusalemer Altstadt
10. Zusammenfassung und übergreifende Ergebnisse
11. Karten
12. Transkriptionszeichen
13. Literaturverzeichnis
Danksagung
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Verortungen in der Jerusalemer Altstadt: Lebensgeschichten und Alltag in einem engen urbanen Raum
 9783839439388

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Johannes Becker Verortungen in der Jerusalemer Altstadt

Urban Studies

Johannes Becker arbeitet am Methodenzentrum Sozialwissenschaften der GeorgAugust-Universität Göttingen in einem Forschungsprojekt zu Figurationen von Flüchtlingen, Migranten und Altansässigen in Jordanien seit 1946. Zuvor forschte er in einem Projekt zu Etablierten-Außenseiter-Figurationen in Palästina und Israel. Er studierte Geschichte, Germanistik, Musikwissenschaft und Ethnologie.

Johannes Becker

Verortungen in der Jerusalemer Altstadt Lebensgeschichten und Alltag in einem engen urbanen Raum

Zugleich Dissertation an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen unter dem Titel »Verortungen in der Jerusalemer Altstadt. Eine biographietheoretische und raumsoziologische Studie«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Johannes Becker 2017 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3938-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3938-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1.

Einleitung | 11

2.

Sozialkonstruktivistische Biographieforschung, Raumsoziologie und ihre mangelnde Verknüpfung | 19

2.1 Biographie in der Raumsoziologie, Raum in der Biographieforschung | 19 2.2 Einführung in die sozialkonstruktivistische Biographieforschung | 25 2.3 Einige sozialwissenschaftliche Positionen zum Raum | 30 3.

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Orte – Wir-Orte – Verortungen – Forschungsräume | 37

Orte: Prozesshaft, historisch und durch Akteure ko-konstituiert | 37 Wir-Orte | 46 Die Wahrnehmung von Orten | 50 Verortungen als biographietheoretische Perspektive | 53 Der Forschungsprozess: Von Forschungsräumen zu Verortungen | 58 Vorstellung der Forschungsräume: Kleine Nachbarschaft, Palästinenser/ -innen im erweiterten Jüdischen Viertel, Mönche in der Altstadt | 62

4. Darstellung der verwendeten Methoden | 69 4.1 Erhebung und Auswertung der biographisch-narrativen Interviews | 69 4.2 Erhebung und Auswertung der teilnehmenden Beobachtungen | 74 4.3 Datenmaterial/Sample und Anonymisierung | 81 5.

Geschichte Ostjerusalems seit 1948 | 85

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Die jordanische Herrschaft 1948-1967 | 85 Die israelische Besatzung ab 1967 | 88 Die Erste Intifada und danach | 92 Zunehmende Kontrolle der Ostjerusalemer Palästinenser/-innen | 95 Gegenwärtige Situation Ostjerusalems | 97

6.

Jerusalems Altstadt: Stadthistorische Diskussionen, jüngste Geschichte und gegenwärtige Situation | 101

6.1 Die wissenschaftliche Debatte um eine ›islamische Stadt‹ | 102 6.2 Verschiedene Interpretationen des Zusammenlebens in Jerusalem in historisch ausgerichteten Publikationen | 108 6.3 Die dominierende ethno-religiöse Sicht in Politik und Wissenschaft | 123 6.4 Wie die Altstadt ein Ort der Außenseiter wurde | 125 6.5 Die Forschungslage zu Ostjerusalem und der Altstadt | 139 6.6 Die Jerusalemer Altstadt in der Gegenwart | 143

7. Kleine Nachbarschaft | 157 7.1 Einführung | 157 7.2 Teilnehmende Beobachtungen in der kleinen Nachbarschaft | 161 7.2.1 Ambivalente Sozialisation in der kleinen Nachbarschaft | 162 7.2.2 Verschiedene Konzepte für das Zusammenwohnen in der Altstadt: ḥāra – ḥauš – ḥay – Altstadt | 171 7.2.3 Der Laden und die Dominanz der einflussreichen Familie | 178 7.2.4 Historische Generationen in der kleinen Nachbarschaft | 182 7.2.5 Umkämpfte Mietverhältnisse, Gerüchte und Siedlungen | 188 7.2.6 Diskursive Verneinung religiöser Diskriminierung | 193 7.2.7 Getrennter halbprivater Raum für Frauen und Männer? | 196 7.2.8 Die Herausforderung, Interviews zu organisieren | 198 7.3 Hafez Fuqaha: »Jerusalem doesn’t leave its people« | 201 7.3.1 Interviewkonstellation und Selbstpräsentation | 202 7.3.2 Hafez’ Familien- und Lebensgeschichte | 207 7.4 Kurze Falldarstellungen | 242 7.4.1 Der unglückliche Heimkehrer: Karim | 242 7.4.2 Der von der Nachbarschaft Zurückgezogene: Muhammad | 249 7.4.3 Die Gemeinschaftssuchende: Sana | 255 Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel | 263 8.1 Einführung | 263 8.2 Huda: »Ich sehe aus wie Jerusalem mit seiner Traurigkeit, Gebrochenheit und seinen Niederlagen« | 277 8.2.1 Interviewkontext und Selbstpräsentation | 277 8.2.2 Hudas Familien- und Lebensgeschichte | 281 8.3 Kurze Falldarstellungen | 313 8.3.1 Abu Lutfi und Amal: »Millionen werden hier sterben« | 315 8.3.2 Subhi: »I can’t leave the Old City« | 319 8.

Mönche in der Jerusalemer Altstadt | 325 9.1 Einführung | 325 9.2 Bruder Michel: »All my plans were not the plans God had for me« | 337 9.2.1 Interviewkontext und Selbstpräsentation | 337 9.2.2 Michels Familien- und Lebensgeschichte | 343 9.3 Kurze Falldarstellungen | 370 9.3.1 Bruder Haqoub: »Bis jetzt habe ich hier gedient, und ich diene hier noch immer« | 370 9.3.2 Bruder Macarius: »I like to go to another place« | 377 9.3.3 Bruder Jean: »Ich weiß, wie man in so einem Umfeld leben kann« | 381 9.

10. Zusammenfassung und übergreifende Ergebnisse | 387 10.1 Forschungsfrage und theoretische Konzeptionen | 388 10.2 Die Konstruktion von drei Forschungsräumen | 390 10.3 Die historisch gewandelte Realität der Altstadtbewohner/-innen, historische Generationen und erlebensbestimmende Diskurse | 392 10.4 Verortungen in der Altstadt | 397 10.5 Dominante Verortungen in den drei Forschungsräumen | 407 10.6 Verortungen in biographischen Verläufen: Einengung und Erweiterung | 410 10.7 Methodologische Implikationen | 416 10.7.1 Die hilfreiche Kombination aus Interviews und lang anhaltenden Beobachtungen | 416 10.7.2 Forschungen über Palästina und die Suche nach Widerständigkeiten | 419 10.7.3 Nachbarschaftsforschung als Ergänzung zur Forschung in Familien | 422 11. Karten | 427 12. Transkriptionszeichen | 429 13. Literaturverzeichnis | 431 Danksagung | 451

Current debates on Jerusalem have been so mystified by the nature of ideological claims put forth by Israelis, Palestinians and the world community, that we forget that before the war there was an ›ordinary‹ city called Jerusalem, and that it was divided by communities, neighbourhoods, ethnicities (of various nationalities), as well as by class. The religious identity of the city, and its sacred geography has since permeated all our conception of the city to the detriment of understanding its worldly character. (SALIM TAMARI 1999: 2)

The human is placing the place not is the place placing the human. (AUS DEM INTERVIEW MIT BRUDER MACARIUS)

Einleitung

F ORSCHUNGSTHEMA UND F ORSCHUNGSFRAGEN Die Biographieforschung sei »geradezu eine Wissenschaft der Zeit«, schreibt Martina Löw (2001: 10). Der Begriff Raum – und damit wohl die Raumsoziologie – dagegen bezeichne die »Organisation des Nebeneinanders« (ebd.: 12). Doch können räumliche und zeitliche Disziplinen oder Bezüge so entkoppelt werden? In dieser Arbeit werde ich mich mit dem Thema auseinandersetzen, was mit den Instrumenten der Biographieforschung über Räume und Orte ausgesagt werden kann. Neben der Definition eines prozessorientierten und wandelbaren Ortsbegriffes wird der Begriff ›Verortung‹ dabei einen zentralen Stellenwert haben, weil mit ihm die Biographieforschung und die Raumsoziologie näher zusammengeführt werden können. Verortungen können als ein ›natürliches‹ und naheliegendes Thema der Biographieforschung gesehen werden, wenn sie sich Raumfragen öffnet. Denn mithilfe einer Analyse räumlicher Zugehörigkeiten kann eine der ›großen‹ Fragen der Biographieforschung angegangen werden, nämlich wie Gesellschaft und Individuum ein Wechselverhältnis eingehen und sich gegenseitig konstituieren; aufgezeigt am Beispiel von Orten, die, wie später zu sehen sein wird, auch immer durch die Verortungen ihrer Mitglieder konstituiert sind. Verortungen sind ein wichtiges Element menschlichen Daseins, doch sie sind nicht essentialistisch, sondern ein soziales Konstrukt, prozessual und wandelbar, beruhen auf Selbst- und Fremddefinitionen. Verortungen begründen Orte und unter Umständen auch Wir-Orte, also auf einem gemeinsamen Wir-Bild beruhende gemeinschaftsähnliche Zusammenhänge. In dieser Hinsicht kann die Beschäftigung mit Orten und Verortungen in der Biographieforschung nicht nur wie bislang zum heuristischen Werkzeug im Interpretationsprozess, sondern darüber hinaus zu einem eigenständigen Forschungsthema werden.

12 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

Es ist nicht verwunderlich, dass diese Überlegungen aus der empirischen Beschäftigung mit der Jerusalemer1 Altstadt entstanden sind. Die Jerusalemer Altstadt ist symbolisch stark aufgeladen – in religiösem und politischem Sinne: In regionalen Diskursen und international spielt sie als Zentrum dreier Buchreligionen und als nationales Zentrum der seit Jahrzehnten konflikthaft verschränkten palästinensischen und zionistischen Nationalbewegungen eine große Rolle – 2017 jährt sich der Beginn der israelischen Besatzung der Altstadt zum 50. Mal.2 Die ummauerte Altstadt ist aber auch ein äußerst beengter und prekärer Wohnraum. Von der insgesamt weniger als ein Quadratkilometer großen Fläche stehen nur ungefähr 0,6 Quadratkilometer für Wohngebiete zur Verfügung. Der Rest der Altstadt besteht zum Großteil aus religiösen Bauten. Auf dieser kleinen Fläche wohnen und leben mehr als 40.000 Menschen. Die Altstadtbewohner/-innen setzen sich aus den Mitgliedern verschiedener palästinensischer Gruppierungen, die vor allem niedrigen sozioökonomischen Schichten angehören, genauso zusammen wie aus zumeist orthodoxen oder streng orthodoxen Jüdinnen und Juden oder dem Klerus verschiedener christlicher Denominationen. Daneben kommen (je nach politischer Lage) jährlich bis zu zwei Millionen Besucher/-innen (z.B. Pilger/-innen) in die Altstadt, auf täglicher Basis Händler/-innen und Polizeikräfte. Aufgrund der Komplexität der Altstadt habe ich mich in meiner empirischen Untersuchung, wie ich noch ausführen werde, auf drei Forschungsräume konzentriert, die vor allem Mitglieder verschiedener palästinensischer Gruppierungen und Mönche, die in der Altstadt leben, umfassen. Die Enge und Aufgeladenheit der Altstadt und die Armut vor allem der Palästinenser/-innen sind Gründe dafür, dass für die Einwohner/-innen schon alleine das Dasein in der Altstadt eine große Relevanz hat und Verortungen in ihrem Erleben sehr relevant sind und häufig im Alltag thematisiert werden, wie in meiner empirischen Arbeit deutlich geworden ist. Im Erleben wird diese Relevanz zudem durch die häufig im Alltagsraum wahrnehmbaren diskriminierenden Auswirkungen der israelischen Besatzungspolitik und der administrativen Vernachlässigung durch die 1

Ich verwende in dieser Arbeit durchgängig die deutsche Stadtbezeichnung Jerusalem. Im Arabischen wird die Stadt zumeist al-Quds genannt, bisweilen auch al-Quds aš-Šharīf und Bait al-Maqdis bzw. Bait al-Muqaddas.

2

Ostjerusalem gehört zu den Gebieten, die durch Israel im Krieg von 1967 erobert wurden. Laut den Vereinten Nationen (z.B. die UN-Resolution 478) ist Ostjerusalem daher als besetztes Gebiet zu bezeichnen. Dieser Begriffswahl schließe ich mich in dieser Arbeit an. Gerade für die Altstadt, in der es außer zwischen 1948 und 1967 in den meisten historischen Phasen eine jüdische Präsenz gab, ist dies zunächst einmal ein Begriff, der die von der lokalen Bevölkerung nicht legitimierte Herrschaft und die massiven rechtlichen und politischen Ungleichheiten und Diskriminierungen einschließt. Damit ist keine Annahme und keine Aussage impliziert, dass es ›historisch‹ eine Gruppierung gibt, deren Recht, in der Stadt zu wohnen, legitimer ist als das einer anderen Gruppierung.

E INLEITUNG

| 13

Stadtverwaltung sowie durch die aggressive Präsenz jüdischer Siedler/-innen hergestellt, die mit weiteren rechtlichen und politischen Unsicherheiten und Ausgrenzungen einhergehen. Wie in dieser Arbeit erläutert wird, sind auch abwertende innerpalästinensische Diskurse über die Altstadtbewohner/-innen und soziale Probleme, die durch die genannten Faktoren mitproduziert werden, Gründe, die das Dasein in der Altstadt als besonders relevant erscheinen lassen. Obwohl die angedeutete politische und religiöse Relevanz des Forschungsfeldes sicherlich die Themenwahl und die empirische Forschung beeinflusst hat, führt der Fokus der Studie gleichzeitig davon weg: Nicht die religiösen oder politischen Ereignisse und Diskurse stehen als Forschungsfrage im Zentrum, sondern die sorgfältige Untersuchung von Alltagspraktiken, Lebensgeschichten, -erzählungen und der Figurationen3 verschiedener Gruppierungen, deren Mitglieder in der Altstadt leben. Das ist ein Fokus, dem in sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Jerusalem bislang wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. Das wissenschaftliche Interesse an der Altstadt ist meist auf eine Analyse der übergeordneten politischen und religiösen Strukturen bzw. der alltäglichen Auswirkungen vor allem der politischen Machtkonstellationen konzentriert. In meiner Arbeit möchte ich diese Forschungsausrichtung durch eine offenere Herangehensweise und Fragestellung konterkarieren. Ein recht plakatives Beispiel für diese von mir verfolgte ›Entdeckungslogik‹ ist die Hinterfragung der diskursiven räumlichen Darstellung der Altstadt: Wie ich später diskutiere (Kap. 6.2 und 6.3), wird in israelischen, ›westlichen‹4 und selbst manchmal in palästinensischen Medien die Altstadt als in vier distinkte ethnoreligiöse Viertel getrennt eingeführt (Christliches Viertel, Armenisches Viertel, Jüdisches Viertel, Muslimisches Viertel). Während meiner empirischen Forschung mit palästinensischen Bewohnerinnen und Bewohnern wurde diese Einteilung als politisch bzw. kulturell motivierte Konstruktion erkennbar. In deren Selbstdefiniti3

Mit dem Begriff der Figuration bezeichnet Norbert Elias (2010) eine alleine dem Menschen eigene Form des Miteinanderlebens. Mit diesem Begriff will Elias das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft genauer definieren, indem »er die Menschen ausdrücklich in die Begriffsbildung einbezieht«: Einzelne Menschen sind in bestimmte Figurationen (er selbst nennt zum Beispiel Familien oder Staaten) eingebunden und werden dadurch wie durch ihre »persönliche Aneignung und Verarbeitung« des gesellschaftlichen Wissensbestands zu Individuen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich sowohl die Menschen als auch die Figurationen ändern können, aber auch Teil welcher Figurationen ein Mensch parallel und im Laufe des Lebens sein kann.

4

In der vorliegenden Arbeit bezeichne ich als ›westliche‹ Medien und Publikationen solche, die nicht nur in Israel oder Palästina rezipiert werden – aufgrund meiner Sprachkenntnisse vor allem solche aus dem englischen oder deutschen Sprachraum. Ebenso bezeichne ich als ›westliche‹ Diskurse solche, die nicht nur im lokalen Umfeld Jerusalems bzw. Israels verbreitet sind, sondern z.B. auch im englischen oder deutschen Sprachraum.

14 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

onen ist die Zugehörigkeit zu einem dieser vier Viertel entweder keine relevante Kategorie der räumlichen Verortung (andere Ebenen des räumlichen Zusammenschlusses sind relevanter) oder sie wurde nur deswegen relevant, weil raumdefinitorische Eingriffe der israelischen Besatzungsmacht eine Reformulierung der Zugehörigkeiten notwendig gemacht haben. Wie an diesem Beispiel bereits zu erahnen ist, handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um das Ergebnis von »microscopic empirical studies that take the perspective of individual actors and communities seriously and acknowledge their distinctive geographical and historical characteristics« (Bogner/Rosenthal 2009: 9). Dabei habe ich auf Basis von sozialkonstruktivistischer Biographieforschung, Figurationssoziologie und Ethnographie sowie mit Inspirationen aus der Stadt- und Raumsoziologie folgende Fragen verfolgt: − Wie verorten sich die Bewohner/-innen der Jerusalemer Altstadt in ihrem lebensgeschichtlichen Verlauf, in der Interaktion mit mir als deutschem Sozialwissenschaftler und im Kontext von Alltagsinteraktionen in der ideologisch aufgeladenen und geographisch beengten Altstadt? Wie werden sie durch Einbindung in Figurationen in der und Diskurse über die Jerusalemer Altstadt verortet? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird vor allem die Ebene des Erlebens der Bewohner/-innen betont. − Wie und welcher Art werden diese Verortungen relevant bei der Konstitution von Orten und Wir-Orten in der Altstadt von Jerusalem? Diese Frage zielt auf die formative Leistung, die Akteure durch ihre Handlungen, durch ihre Selbstund Fremddefinitionen bei der Konstitution von Orten haben – die in gewissem Sinne reziproke Konstitution von Akteuren und Orten, die es erlaubt, Orte mit rekonstruktiven Methoden zu analysieren.

E INBETTUNG

DER

F ORSCHUNG

UND

AUFBAU

DER

ARBEIT

Die vorliegende Arbeit wurde im Kontext des DFG-finanzierten trilateralen Forschungsprojektes Etablierte und Außenseiter zugleich. Palästinenser und Israelis in unterschiedlichen Figurationen verfasst, in dem ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.5 Für dieses Forschungsprojekt führten wir zwischen 2010 und 2015 in sieben Städten in Palästina und Israel Erhebungen durch und untersuchten Figurationen zwischen verschiedenen empirisch rekonstruierbaren Gruppierungen (vgl. 5

Die Finanzierung umfasste den Zeitraum von Februar 2010 bis zum Februar 2015. Die Projektkoordination hatte Prof. Dr. Gabriele Rosenthal (Göttingen) inne, weitere Projektleiter/-innen waren Prof. Dr. Shifra Sagy (Beer Sheva) und Prof. Dr. Mohammed DajaniDaoudi (Ostjerusalem).

E INLEITUNG

| 15

v.a. Rosenthal 2015a). Meine Mitarbeit in diesem Forschungsprojekt hat mir mehrere längere Forschungsaufenthalte in Jerusalem von insgesamt ca. acht Monaten Dauer und somit eine intensive Datenerhebungszeit ermöglicht. Während dieser Aufenthalte habe ich in der Altstadt insgesamt 35 biographisch-narrative Interviews6 erhoben sowie mehrere fokussierte teilnehmende Beobachtungen und eine lang anhaltende Beobachtung durchgeführt. Das für diese Arbeit charakteristische theoretische Sample wurde erst durch diese langen Erhebungszeiten ermöglicht. Das Sample ist ein zentrales Ergebnis meiner Beschäftigung mit dem Forschungsthema – wie man Raum- und Biographieforschung praktisch und auf Basis der Selbstdefinitionen der Altstadtbewohner/-innen verknüpfen kann – und beeinflusst auch den Aufbau dieser Arbeit. Deswegen werde ich die Genese der Arbeit und die ›räumliche‹ Samplebildung an dieser Stelle in aller Kürze umreißen und in den Unterkapiteln 3.5 und 4.3 detaillierter einführen. Aufgrund der oben erwähnten Diversität im Raum der Altstadt wurde während meiner Feldforschung die Notwendigkeit deutlich, mich in meiner empirischen Beschäftigung einzuschränken. In Anlehnung an die Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) bildete ich daher ein theoretisches ›räumliches Sample‹ (das erste und das zweite räumliche Sample). Nach den ersten Forschungsaufenthalten, in denen ich sehr offen und ohne Einschränkung im Altstadtraum Erhebungen durchgeführt habe, definierte ich aufgrund von Selbst- und Fremdzuschreibungen der räumlichen Zugehörigkeit der Einwohner/-innen globalanalytisch und kontrastiv drei heuristische Forschungsräume. Dadurch habe ich aus allen Erhebungsdaten im sehr diversen Raum der Altstadt (dem ›ersten räumlichen Sample‹) drei überschaubare, besser rekonstruierbare und theoretisch interessante Einheiten ausgewählt, die bereits auf ersten Analyseergebnissen beruhten und damit das ›zweite räumliche Sample‹ bilden. In diesen drei Forschungsräumen führte ich während weiterer Erhebungsphasen gezielt weitere Interviews und teilnehmende Beobachtungen durch. Der erste dieser Forschungsräume ist eine kleine Nachbarschaft, der zweite wird durch Palästinenser/-innen hergestellt, die im heute administrativ so definierten Jüdischen Viertel verblieben sind, und der dritte Forschungsraum bildet sich aus den Mönchen in der Altstadt.7 Bei der folgenden detaillierten Analyse der Erhebungsdaten habe 6

In den biographisch-narrativen Interviews, die ich geführt habe, bat ich die Interviewpartner/-innen darum, mir ihre Familien- und Lebensgeschichte zu erzählen. Erst nach der darauffolgenden Haupterzählung habe ich Fragen entlang von durch die Interviewpartner/-innen bereits erwähnten Themen gestellt; im letzten Teil des Interviews auch zu Themen, die die Interviewpartner/-innen noch nicht erwähnt hatten (Schütze 1983). Zur Auswertungsmethode der biographischen Fallrekonstruktion vgl. Rosenthal 1995. Erhebung und Auswertung der Interviews werden in Kap. 4.1 genauer dargestellt.

7

Die Begriffe ›(Stadt-)Viertel‹ und ›Nachbarschaft‹ sowie der arabische Begriff ›ḥāra‹ werden in der Forschungsliteratur uneinheitlich verwendet. Die Begriffe ›Stadtviertel‹

16 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

ich zunächst Verortungen auf der Ebene von einzelnen biographischen Fallrekonstruktionen nachvollzogen. Erst in einem weiteren Schritt habe ich analysiert, welche der rekonstruierten Verortungen in den einzelnen Forschungsräumen besondere Wirkkraft entfalten bzw. dominant sind. Auf diese Weise konnte ich zum einen verschiedene Typen der Verortung und verschiedene Orte innerhalb eines Forschungsraums rekonstruieren und zum anderen feststellen, welche Verortungen in mehreren Forschungsräumen vorkommen. Abbildung 1: Blick über die Altstadt von Jerusalem

Abbildung: Melanie Leimkugel

bzw. ›Stadtteil‹ benutze ich in der vorliegenden Arbeit für die außerhalb der Altstadt liegenden Gebiete Jerusalems. Den Begriff ›Viertel‹ verwende ich nur in Verbindung mit der diskursiven Darstellung der Altstadt als in vier ethno-religiöse Viertel getrennt, wie sie in israelischen und ›westlichen‹ Diskursen dominant ist (vgl. Kap. 6.2 und 6.3). Wenn es um die Herstellung der von diesem Diskurs abweichenden arabischen Nachbarschaften im historischen Zusammenhang und im Rahmen der empirischen Teile dieser Arbeit geht, spreche ich von ›Nachbarschaft‹ bzw. ›ḥāra‹ (Pl. ›ḥārāt‹). Für zwei Nachbarschaften mache ich hiervon eine Ausnahme: Die Bezeichnungen ›Marokkanisches Viertel‹ und ›Jüdisches Viertel‹ (letzteres als historische Nachbarschaft und nicht als eines der vier Viertel) sind auch im Deutschen etabliert. Für die ›kleine Nachbarschaft‹ benutze ich wie die Bewohner/-innen den arabischen Ausdruck ›ḥay‹ (siehe dazu detailliert Kap. 7.2.2).

E INLEITUNG

| 17

In dieser Arbeit folgt zunächst ein Verweis auf die bislang mangelnden Verknüpfungen von sozialkonstruktivistischer Biographieforschung und Raumsoziologie (Kap. 2.1), um dann beide Perspektiven kurz einzuführen (Kap. 2.2 und 2.3). In Kapitel 3 folgen theoretische und methodologische Überlegungen zur Konzeption von Orten und Verortungen, die bereits aus der empirischen Beschäftigung gespeist sind. Ausführlich leite ich die für mich relevanten Begriffe Ort, Wir-Ort und Verortung her. Auf der Basis der Annahme, dass Orte auch immer durch ihre Mitglieder hergestellt werden, soll eine Verbindung zwischen Biographieforschung und Raumsoziologie ermöglicht und ausgearbeitet werden. Daran anschließend vollziehe ich die angesprochene Konzeption der drei Forschungsräume nach und stelle diese vor (Kap. 3.5 und 3.6). Mein methodisches Vorgehen wird in Kapitel 4 dargestellt. Dort gehe ich auf Methoden der Datenerhebung (teilnehmende Beobachtungen und biographisch-narrative Interviews) und deren Auswertung (rekonstruktive Analyse der Beobachtungen und biographische Fallrekonstruktionen) ein und gebe forschungsfeldbezogene Hintergründe zur Interviewführung, Samplebildung und Anonymisierung. In den Kapiteln 5 und 6 erfolgt die historische und gesellschaftliche Kontextualisierung. Zunächst werden die jüngste Geschichte Ostjerusalems und dabei vor allem die Auswirkungen der israelischen Besatzung auf die legale und soziale Stellung der palästinensischen Einwohner/-innen vorgestellt (Kap. 5); in Kapitel 6 wird der Fokus von Ostjerusalem auf die Altstadt verengt. Zuerst führe ich in wissenschaftsgeschichtliche und historische Hintergründe für deren Verständnis ein. Ich charakterisiere die soziologische und regionalwissenschaftliche Debatte über eine mögliche Typologie ›islamischer‹ oder ›nahöstlicher‹ Städte (Kap. 6.1), die sich auch in wissenschaftlichen Interpretationen zum Zusammenleben der Bewohner/ -innen in der Altstadt in den vergangenen Jahrhunderten niedergeschlagen hat: Für Jerusalem wird entweder von einer recht strikten ethno-religiösen Trennung des Stadtraums ausgegangen oder im Gegenteil eine solche verneint (Kap. 6.2 und 6.3). Ein längeres Unterkapitel (Kap. 6.4) widmet sich dem in der wissenschaftlichen Literatur im Vergleich zu den ethno-religiösen Fragen selten rezipierten Bevölkerungsaustausch in Jerusalem und der damit verbundenen Verarmung der Altstadt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert – ein sehr relevanter, langandauernder Prozess, der noch immer die Basis für die innerpalästinensische Abwertung der Altstadtbewohner/-innen als Außenseiter darstellt. Danach nehme ich eine Gegenwartsperspektive ein und diskutiere die Darstellung der Altstadt in sozialwissenschaftlichen Publikationen (Kap. 6.5) und führe in deren gegenwärtige Situation ein (Kap. 6.6). Die darauffolgenden drei Kapitel sind jeweils einem der drei Forschungsräume zugeordnet. Die Kapitel 7 (Kleine Nachbarschaft), 8 (Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel) und 9 (Mönche in der Altstadt) bilden das empirische Herzstück der vorliegenden Arbeit. In den einzelnen Kapiteln folgt auf eine Einfüh-

18 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

rung in den Forschungsraum und die Kurzvorstellung der Ergebnisse die ausführliche empirische Herleitung der Verortungen der Altstadtbewohner/-innen mithilfe von Fallrekonstruktionen bzw. durch die Analyse von Beobachtungen. Im Ergebniskapitel (Kap. 10) spitze ich diese Verortungen theoretisch zu (die Verortung in Haus und Familie, die nachbarschaftliche Verortung, die symbolische Verortung, die Teilzeitablösung und der Wegzug) und leite dominante Verortungen in den drei Forschungsräumen her. Außerdem stelle ich drei Typen von Verortungen in biographischen Verläufen vor, die sich in ihrer Richtung von ›Einengung‹ und ›Erweiterung‹ unterscheiden. Zuletzt diskutiere ich drei methodologische Fragen: die Methodologie von Forschungen in sozial stark kontrollierten Nachbarschaften, die feldspezifische Kombination aus Interviews und teilnehmenden Beobachtungen und die Herausforderung von Forschungen in einem politisch sehr aufgeladenen und für den Forscher anspruchsvollen lokalen Umfeld. Im Anhang finden sich Karten, in denen die häufig gebrauchten geographischen Bezeichnungen aufgeführt sind. Die Umschrift der im Deutschen wenig oder nicht gebräuchlichen arabischen Begriffe erfolgt nach den Vorgaben der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG). Auf die Umschrift von Personennamen und der bekannten Ortsnamen habe ich aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet.

Sozialkonstruktivistische Biographieforschung, Raumsoziologie und ihre mangelnde Verknüpfung

2.1

B IOGRAPHIE IN DER R AUMSOZIOLOGIE , R AUM IN DER B IOGRAPHIEFORSCHUNG

Abgesehen von Randbemerkungen, etwa dass »jede Selbstbeschreibung […] voller Schilderungen über Räume« sei (Löw 2001: 152), ist in der (rekonstruktiven) Sozialwissenschaft die Frage nach möglichen Verbindungen zwischen Biographie- und Raumforschung lange Zeit weitgehend unbeachtet geblieben. Im Folgenden sollen drei soziologische bzw. erziehungswissenschaftliche Publikationen vorgestellt werden, die meines Wissens die einzigen sind, in denen eine Verbindung explizit thematisiert wurde. Behnken/Schulze: Tatort Biographie (1997) Die Erziehungswissenschaftler/-innen Imbke Behnken und Theodor Schulze (1997b) haben einen Sammelband unter dem Titel Tatort Biographie herausgegeben. Während die Beiträge nur lose thematisch zusammengefasst sind, widmen sich die Herausgeber/-innen in der Einleitung der Frage, wie und welche Orte in Biographien Relevanz entfalten. Ohne genauer auf die Theoriegeschichte oder mögliche Definitionen der Begriffe ›Ort‹ oder ›Raum‹ einzugehen, stellen sie fest, dass ganz verschiedene Orte in Verbindung mit ›Biographie‹ etwas bedeuten könnten – reale Orte wie der Geburtsort oder der Ort, an dem man glücklich werde, genauso wie imaginierte oder ›verinnerlichte‹ Orte (1997a: 7-8). Sie betonen, dass es einerseits ein »Nebeneinander verschiedener Orte« in Biographien gebe – dass also an verschiedenen sozialisatorischen Punkten mehrere Orte parallel biographisch relevant sein können, zum Beispiel Elternhaus und Schule (ebd.: 8). Daneben gebe es andererseits die »Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Orte«, zum Beispiel den wahrgenommenen und den erinnerten Ort und den Ort des Erinnerns:

20 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »Das Ineinander und Zueinander der verschiedenartigen Orte weist auf die Mehrdimensionalität biographischer Prozesse. Einer dieser Orte steht jeweils im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er verweist auf die anderen. Mal ist es der Ort der Inszenierung, der einen Ort des Lebens oder Erlebens vergegenwärtigt. Mal ist es ein Ort des Erinnerns, der einen Ausblick auf künftiges Leben gewährt. Mal ist es ein Text, der auf einen Ort, den es nicht mehr gibt, verweist, und mal ein Ort, ein Haus, ein Raum, der auf einen Text verweist und auf ein Leben, das vergangen ist.« (Ebd.: 8-9)

Die Herausgeber/-innen diskutieren in ihrem Beitrag aber nicht, wie sich diese Orte »im Zentrum der Aufmerksamkeit« – was vielleicht besser als räumliche Zugehörigkeit oder als Verortung bezeichnet werden könnte (vgl. Kap. 3.4) – biographisch herausbilden bzw. wie bestimmte Orte in der sich aufschichtenden Biographie eine besondere Relevanz im Erleben und in der Erinnerung erlangen können. Das zu erfahren, wäre auch deswegen interessant, weil Behnken und Schulze (ebd.: 9) Biographien erst durch eine »Zuordnung im Raum« Wirklichkeit zuschreiben – erst die ›Verortung‹ der Lebensstationen leiste, dass eine Biographie gesellschaftlichen Charakter annehme: »Die Bestimmung des Ortes versetzt den zeitlichen Ablauf nicht nur in eine irdische Existenz, sondern damit auch zugleich in ein Kräftefeld gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Ort ist nicht der Wirklichkeitspunkt, sondern selbst ein Stück Wirklichkeit. Er ist nicht nur der Ort, an dem etwas geschieht. Er ist selbst am Geschehen beteiligt.« (Ebd.)

So verweisen Orte in biographischen Erzählungen also nicht nur auf eine individuelle Lebensgeschichte, sondern auch auf deren gesellschaftliche Bestimmung, die deutlich wird, wenn »Individuen [in Orten] auf die Gesellschaft, auf ihre Strukturen, Anforderungen und Bedingungen stoßen« (ebd.: 11). Es scheint in der kurzen Abhandlung aber so, als seien die Autorin und der Autor nicht besonders stark an der Entwicklung von Bindungen an Orte während biographischer Verläufe interessiert. Sie haben vielmehr eine bestimmte Vorstellung davon, welche Beziehungen zu Orten biographisch wirksam sind, nämlich Ortsänderungen, die zum Beispiel durch Ortswechsel, Ortsverlust oder Ortswandel hervorgerufen werden (ebd.: 9-10). Es bleibt also offen, wie sich Zugehörigkeitsgefühle zu Orten entwickeln, reproduzieren und gesellschaftlich wirksam werden. Im Text steht zudem nicht im Zentrum, was Orte (oder Räume) überhaupt sind. Orte werden aber auf jeden Fall als unabhängig von den Individuen gegeben zugrunde gelegt. Nam: Leben und Wohnen in Raum und Zeit (1998) Sang-Hui Nam hat sich in ihrer Dissertation Leben und Wohnen in Raum und Zeit. Die Verknüpfung von Stadt- und Biographieforschung am Beispiel des Freiburger Stadtteils Weingarten (1998) mit einem vergleichsweise sozio-ökonomisch schwa-

B IOGRAPHIEFORSCHUNG , R AUMSOZIOLOGIE UND

IHRE MANGELNDE

V ERKNÜPFUNG

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chen Stadtteil auseinandergesetzt. Es ist ihr Verdienst, sich als erste zum Ziel gesetzt zu haben, aus phänomenologischer Sicht Stadt- und Biographieforschung zu verknüpfen – ein sehr relevantes Vorhaben, das dem der vorliegenden Arbeit recht nahe scheint. Zu Beginn ihrer Arbeit konstatiert sie, dass die Sozialwissenschaften versäumt hätten, die Husserl’sche Phänomenologie in klare methodische Verfahren zu übersetzen: »Tatsächlich besteht also eine große Lücke zwischen Phänomenologie und Empirie.« (Ebd.: 1-2) Es fällt auf, dass Nam eine ganze Generation qualitativer Sozialwissenschaftler/-innen, die versucht hat, im Anschluss an Alfred Schütz dessen zentral an Edmund Husserl orientiertes Werk in methodische Vorgehensweisen zu übersetzen – zum Beispiel die hermeneutische Wissenssoziologie (Soeffner 1989), die phänomenologische Lebensweltanalyse (Hitzler/Eberle 2010), die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie (Knoblauch 2014) oder eben die sozialkonstruktivistische Biographieforschung (vgl. Kap. 2.2) –, nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt. In Nams theoretischer Ausarbeitung der phänomenologischen Schriften konstruiert sie aus den, wie sie schreibt, wissenschaftlichen Begriffen ›Zeit‹ und ›Raum‹ eine Verbindung mit den Alltagsbegriffen ›Leben‹ und ›Wohnen‹: »Leben verhält sich zur Zeitvorstellung wie Wohnen zur Raumvorstellung.« (Nam 1998: 9) Erst nach dieser Übersetzung könnten die Begriffe für eine Analyse der sozialen Welt verwendet werden: »Phänomenologisch gesehen besteht die Lebenswelt aus der Zeit- und der Raumerfahrung, im konkreten Sinne aus Leben und Wohnen. Jedes Handeln findet im Koordinatenkreuz von Zeitlichkeit (bzw. Leben) und Räumlichkeit (bzw. Wohnen) statt und erfolgt innerhalb von Machtverhältnissen.« (Ebd.: 21)

Doch reproduziert dieses »Koordinatenkreuz« nicht die von ihr kritisierte Trennung von Raum und Zeit? Weiterhin ist ihr Fokus auf Wohnen auffällig, der ihre Vorstellung von Räumlichkeit sehr stark bestimmt. Sie versteht ›wohnen‹ dabei nicht als breiten Daseinsbegriff, zum Beispiel im Anschluss an Martin Heidegger (2000), der von ihr nicht rezipiert wird. Durch ihre Übersetzung wird Raum mit dem konkreten ›Aufenthaltsraum‹ oder ›Wohnraum‹ in Verbindung gebracht und scheint die biographische Wirksamkeit von anderen konkreten oder symbolischen räumlichen Zusammenhängen einzuschränken. Einen weiteren von Nam angeführten Kritikpunkt teile ich hingegen und werde ihn in Unterkapitel 2.3 in ähnlicher Weise ausführen: Sie argumentiert, dass die Trennung in Biographie- und Stadtforschung auch die Trennung von Raum und Zeit seit der Neuzeit reflektiere. Tatsächlich, so Nam (1998: 12, 33), seien beide Dimensionen empirisch nicht so einfach zu trennen, sondern überschnitten sich. Dies sei jedoch in der Biographieforschung wenig rezipiert worden. So seien zum Beispiel der Einfluss von räumlicher Bewegung und Ortswechseln im Lebenslauf

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wenig beachtet worden. Und den Soziologen Lothar Bertels (1990: 113, in: ebd.: 34) zitiert sie mit der Feststellung, in der Biographieforschung seien »die räumlichen Umwelteinflüsse bis heute weitgehend unterbelichtet«. Nam schlägt vor, die Trennung der beiden soziologischen Forschungsrichtungen weiter zu unterminieren. Ihre Anleitung dazu ist eine Art Funktionsteilung, die der Biographieforschung die Aufgabe zuschreibt, »Geschichten der einzelnen Bewohner zu erzählen«, während die Stadtforschung »die Machtverhältnisse in Verbindung mit der gesamten Gesellschaft« aufdecken solle (ebd.: 33). Mit dieser Teilung reproduziert sie die verkürzte Rezeption einer rein an subjektiven ›Geschichten‹ orientierten Biographieforschung und einer eher makrosoziologisch orientierten Raumsoziologie. Es wäre aber lohnenswert, beide Ebenen als interdependent zu begreifen. In ihrer empirischen Ausarbeitung konzentriert sich Nams Verknüpfungsvorschlag auf die Analyse von räumlichen Wechseln im Zuge von Statuspassagen (ebd.: 55-56), ein Fokus, der auch in der soeben vorgestellten Publikation Tatort Biographie zu erkennen war. Damit verknüpft ist die in den 1980er Jahren noch stärker in der Biographieforschung verfolgte Vorstellung eines ›Normallebenslaufs‹, den sie mit ihrer Datenanalyse zu identifizieren versucht. Sie beschreibt die konkreten räumlichen Umgebungen, die nacheinander oder parallel im Lebenslauf Relevanz entfalten – also zum Beispiel Disko und Zuhause in der Jugend – und ganz konkret Häuser oder Zimmer. Als Ergebnis reflektiert sie die Annahme der räumlichen Funktionsteilung in der Moderne: Es sei zur Ausdifferenzierung und Zerstückelung der Lebensräume und -zeiten, von Arbeitsplatz und Wohnhaus gekommen. Die Funktion des Hauses sei beschränkt auf einen Ort, an dem konsumiert werde, und die Stadt sei in Wohn-, Konsum- und Produktionsviertel eingeteilt. Diese Trennung sei biographisch in jeder Lebensphase gegeben (ebd.: 57). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Nams Dissertation trotz der theoretischen Beschäftigung wenig zur forschungspraktischen Verknüpfung von Biographie- und Raumforschung beiträgt. Ihre sehr breite Definition von Biographieforschung und der wenig ausgebreitete Analyseprozess haben zur Folge, dass ihre empirischen Ergebnisse teilweise nicht ganz einfach nachzuvollziehen sind. Die Analyse konzentriert sich in der Darstellung auf geographische Raumeinteilungen in einer modernen Gesellschaft. Sie leitet zwar aus ihrer phänomenologischen Argumentation die beiden grundlegenden Themen Grenzziehung und Identität ab (ebd.: 21), doch sie führt diese nicht – was sich unter dem Label Biographieforschung durchaus anböte – zur Diskussion der Entwicklung räumlicher Zugehörigkeitsgefühle weiter. Das liegt daran, dass sie, obwohl sie in theoretischer Hinsicht eine phänomenologische Herangehensweise verfolgt, der Analyse der Erlebnisse und Erinnerungen der Subjekte in ihrem Forschungsfeld wenig Platz einräumt.

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Weidenhaus: Soziale Raumzeit (2015) Der Raumsoziologe Gunter Weidenhaus hat über ein ähnliches Thema wie das in der vorliegenden Studie vorgestellte geforscht und das teilweise im gleichen Zeitraum. Daraus ging seine ambitionierte und anregende Studie Soziale Raumzeit (2015) hervor, die trotz des ähnlichen Themas auch deutlich andere Akzente als die vorliegende Arbeit setzt. Weidenhaus geht in seiner theoretisch anspruchsvollen Publikation der generellen Frage nach, ob es einen »Zusammenhang zeitlicher und räumlicher Konstitutionen im Rahmen von Biographien« gebe (ebd.: 13). In seinen differenzierten theoretischen Ausführungen zu ›Raum‹ und ›Zeit‹ wendet sich Weidenhaus gegen eine übermäßige Abschwächung der Grenze zwischen Raum und Zeit (wie sie teilweise in dieser Arbeit vertreten wird, vgl. Kap. 3). Zudem erläutert er die für ihn weiterhin gültige Differenzierung von physischem und sozialem Raum und führt weiterhin den Begriff des innerpsychischen Raums ein. Beim Aspekt Zeit unterscheidet er Geschichtlichkeit und Chronologie – wobei sich der erste Begriff durch seinen Subjektbezug auszeichnet. ›Soziale Raumzeit‹ – als eine Verbindung von sozialem Raum und Geschichtlichkeit – sieht Weidenhaus dagegen nur dann als gegeben an, wenn »die Konstitution des Raums mit der Konstitution der Zeit logisch zusammenhängt« (ebd.: 12). Diesen breiten theoretischen, zunächst unabhängig von der Empirie stehenden und stark philosophisch-logisch geprägten Begriffsdefinitionen gibt er daraufhin einen Gegenstandsbereich anheim, auf Basis dessen er quasi-experimentell seine Annahmen zur Überprüfung stellen kann – er selbst nennt sein Vorgehen »half-grounded« (ebd.: 76). Dies ist der Gegenstandsbereich ›Biographie‹. Weidenhaus basiert seine empirische Beschäftigung zur Beantwortung der Frage nach zeitlichen und räumlichen Konstitutionen in Biographien auf selbst erhobenen oder sekundär ausgewerteten Interviews. Die Interviewpartner/-innen stammen aus verschiedenen Städten in der Bundesrepublik. Das bedeutet, dass seine Arbeit nicht an einem konkreten, empirisch begrenzten Forschungsfeld beginnt, sondern bemerkenswerterweise erst einmal alle Biographien in Deutschland umfasst. Wie in der vorliegenden Studie arbeitet der Autor mit einer Kombination aus Biographieforschung und Raumsoziologie. Weidenhaus (ebd.: 66-68) schreibt, dass er bei der Datenerhebung mit an die Konzeption von Fritz Schütze angelegten biographisch-narrativen Interviews gearbeitet habe und, bezugnehmend auf die wissenssoziologische Hermeneutik, auf der Basis der Rekonstruktion von Einzelfällen. Weidenhaus’ Verzicht darauf, in den Interviews zu einer Erzählung der Lebensgeschichte aufzufordern und stattdessen zu einer Beschreibung des Lebens ist aufgrund seiner Frage nach Zeitstrukturen – die eben nicht nur eine lineare Zeit sein können – verständlich. Allerdings handelt es sich dann wohl nicht mehr um biographisch-narrative Interviews, die auch zur Rekonstruktion vergangenen Handelns entwickelt wurden: Die Frage nach Erzählungen soll bei Schütze eine Annäherung

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an das vergangene Erleben ermöglichen (vgl. Kap. 4.1) – die Rekonstruktion vergangenen Erlebens ist bei Weidenhaus’ Herangehensweise aber nicht zentral. Das hängt damit zusammen, dass seine Konzeption von Biographie und ihren Konstruktionsprinzipien etwas hinter den theoretischen Ausführungen zu Zeit und Raum zurückbleibt. Weidenhaus lässt die in den vergangenen 30 Jahren ausführlich geführten theoretischen Diskussionen innerhalb der Tradition der sozialkonstruktivistischen Biographieforschung weitgehend außen vor (z.B.: Wie kann vergangenes Erleben und erzähltes Leben heuristisch geschieden und analysiert werden? Wie ist eine Konzeption der gegenseitigen Durchdringung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Perspektiven möglich?; vgl. das folgende Unterkapitel 2.2). Er begreift Biographisierung lediglich als die Fähigkeit von Individuen, »ihr Leben als Gesamtheit auf den Begriff bringen [zu] können« (ebd.: 66). Dabei nehmen Raumund Zeitkonstitutionen den Charakter von »biographischen Orientierungsstrukturen« an (ebd.: 67). Raum-, Zeit- und Raumzeitkonstitutionen werden bei ihm also aus der Gegenwart der Interviewsituation heraus analysiert, wobei die Analyse weitgehend textinhärent verbleibt und die jeweiligen konkreten sozio-historischen Kontexte, in denen die Biographinnen und Biographen leben, an dieser Stelle relativ wenig ausgelegt werden. An diesem Punkt der Untersuchung hätte der Einbezug von bereits etablierten biographiewissenschaftlichen Auswertungsmethoden wie der Narrationsanalyse nach Schütze oder der biographischen Fallanalyse nach Rosenthal zu einem stärkeren Gewicht der analytischen Ausführungen beitragen können. Dabei folgt Weidenhaus’ Vorgehen bei der Auswertung einem eigentlich für die Fragestellung nach Raum-, Zeit- und Raumzeitkonstitutionen sehr anregenden Vorschlag: Er teilt sein Gesamtsample heuristisch und wertet zunächst die eine Hälfte mit der Frage nach Typen zeitlicher Konstitutionen aus, die andere Hälfte mit einer Frage nach Typen räumlicher Konstitution. Später werden die beiden Samplehälften vertauscht und die Ergebnisse der Raum- und die Ergebnisse der Zeitanalyse miteinander verglichen. Auf diese Weise definiert Weidenhaus jeweils drei Typen räumlicher und zeitlicher Konstitution in Biographien, die er – nach der Kreuzung der Analysen – zu drei Typen der Raumzeitkonstitution verdichtet. Diese drei Typen von Raumzeitlichkeit unterzieht er zuletzt einer Analyse ihrer Relevanz bzw. Bedingtheit im Kontext der Bundesrepublik und deren jüngerer Geschichte – also erklärt sie unter Rückgriff auf »makrosoziologische Gegenwartsanalysen« (ebd.: 16): »Die konzentrisch-lineare Raumzeitkonstitution wird dabei als Grundform der Moderne gedeutet, während netzwerkartig-episodische Konstitutionsformen vor dem Hintergrund der Flexibilisierung des kapitalistischen (Re-)Produktionsmodus entstehen und die Entstehung inselhaft-zyklischer biographischer Raumzeit im Zusammenhang mit Exklusionsprozessen betrachtet werden müssen.« (Ebd.)

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Damit unterscheidet sich das Vorgehen Weidenhaus’ von dem in der vorliegenden Studie. Während Weidenhaus ein wenig definiertes Sample der Analyse unterzieht und danach auf die gesellschaftlichen Implikationen der Resultate eingeht, habe ich mich mit der Jerusalemer Altstadt auf einen geographisch kleinen empirischen Raum beschränkt und diesen sogar durch die Auswahl dreier Forschungsräume weiter eingegrenzt. Unter ›Verortung‹ begreife ich den prozesshaften Vorgang, wie Orte für Individuen biographisch im Erleben relevant werden und wie die Individuen aus der Gegenwart darauf zurückblicken; dazu gehört auch das verortet werden, z.B. durch Diskurse. Zentral ist dabei die bereits bei der Einzelfallanalyse zu leistende Rekonstruktion der für die Lebensgeschichte relevanten sozio-historischen Kontexte. Damit soll die ständige Verwobenheit bzw. gegenseitige Konstitution von Gesellschaft und Individuum und die Einbindung der Individuen in Figurationen und Machtbeziehungen herausgestellt werden.

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E INFÜHRUNG IN DIE SOZIALKONSTRUKTIVISTISCHE B IOGRAPHIEFORSCHUNG

In weniger expliziter Weise als in den drei soeben vorgestellten Publikationen wurden in biographietheoretischen Analysen selbstverständlich Rückbezüge auf die räumliche Umgebung der Interviewpartner/-innen vorgenommen. Diese sind eine Art lebensweltliche Analyse deren aktueller bzw. potenzieller Reichweite (Schütz/Luckmann 2003 [1979]: 71-76), in der die räumlichen Einflüsse auf das Individuum interpretiert werden bzw. gefragt wird, wie Individuen die sie umgebenden Räume mitgestalten. So hat zum Beispiel Nicole Witte (2010) in ihrer Dissertation über ärztliches Alltagshandeln und dessen biographische Prägung mithilfe von Videographie die Gestaltung des Konsultationsraums und dessen Auswirkung auf die Interaktionen mit den Patienten untersucht. Biographisch ausgerichtete Einzelfallstudien fanden bereits im Zuge der Forschungen der Chicago School Eingang in die Untersuchung von lokalisierten Gruppierungen (hierzu gehört die formative biographietheoretische Studie von William I. Thomas und Florian Znaniecki) (Breckner/Rupp 2002: 290). Eine weitere Funktion der Analyse des geographischen räumlichen Kontextes in der Biographieforschung besteht darin, aufzuzeigen, wie stark Diskurse das Erleben prägen können, wie Gabriele Rosenthal (2015b: 35-41) in ihrer Untersuchung über die Gestaltung eines Platzes in Ramallah und dessen Wahrnehmung gezeigt hat. Die Biographieforschung hat sich aber ›traditionellerweise‹ stärker in ihrer Rolle als Forschungsrichtung etabliert, die sich mehr als andere zeitlich dichten Prozessen widmet; als eine Forschungsrichtung, die sich überdurchschnittlich häufig Zeitabschnitten starker sozialer Transformationen oder Migrationsbewegungen zuwen-

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det (Apitzsch/Inowlocki 2000: 55). Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie sich die Biographieforschung vor allem in Deutschland in diese Richtung entwickelt hat und welche Grundprinzipien die meisten ihrer Vertreter/-innen heute als verbindend ansehen. Die sozialkonstruktivistische Biographieforschung steht in der deutschsprachigen geisteswissenschaftlichen Tradition, in der Tradition der ›verstehenden Soziologie‹ und verweist in ihren Theoriebezügen zudem auf die amerikanischen Einflüsse der Chicago School, des Pragmatismus, des symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, Konversationsanalyse, Soziolinguistik und der Grounded Theory. Diese theoretischen Einflüsse fanden ihren Eingang in die deutsche Diskussion in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, zunächst vor allem an der Universität Bielefeld. Auffallend häufig stammten die Inspirationen von (Re-)Migranten wie Karl Mannheim oder Alfred Schütz, deren Werke durch ihre eigenen Erfahrungen von Flucht oder Ausgrenzung stark beeinflusst waren. Ein zentrales biographietheoretisches Thema ist mit ihren nur scheinbar individuellen Lebensläufen verknüpft: Die Kritik an der wissenschaftlichen Scheidung einer ›objektiven‹ sozialen Realität von deren ›subjektiver‹ Wahrnehmung. Diese Problematik hat ihren sichtbaren Ausdruck in dem durch Martin Kohli im Jahre 1978 wiederabgedruckten Generationenaufsatz von Karl Mannheim (1928) gefunden, der genau diese Frage von subjektivem Erleben und historischen Ereignissen aufgeworfen hat (Apitzsch/Inowlocki 2000: 53-58). In besonderem Maße ist die sozialkonstruktivistische Biographieforschung aber der Schütz’schen phänomenologischen Soziologie (1971) und dem Sozialkonstruktivismus nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969) verbunden. Erstens setzt die sozialkonstruktivistische Biographieforschung im Anschluss an die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz bei den Erfahrungen der Akteure selbst an und untersucht sowohl die subjektiven Bedeutungen, die Individuen ihren sozialen Handlungen beimessen, als auch die latenten Bedeutungen und die Konsequenzen, die sich aus diesem Handeln (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) in interaktiven Zusammenhängen ergeben. Nach Alfred Schütz (1971 [1953]: 5-7; vgl. Hitzler/Eberle 2010: 113) sollen die wissenschaftlichen ›Konstruktionen zweiten Grades‹ auf den ›Konstruktionen ersten Grades‹ – also denen im Alltagsleben, in den Lebenswelten – basieren und die von den Wissenschaftlern bearbeiteten Themen mit den Relevanzen der Alltagshandelnden kompatibel sein. Daraus wurden – generell für die interpretative Forschung und nicht nur für die Biographieforschung – die Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation als Forschungsmaximen abgeleitet. Das Prinzip der Kommunikation kann als Aufforderung gelesen werden, theoretische Erkenntnisse nicht unabhängig von der empirischen Beschäftigung mit gesellschaftlichen Akteuren zu konzipieren. Daher gilt es, sowohl die Alltagskommunikation als relevantes Untersuchungsphänomen zu erkennen als auch in ein kommunikatives Verhältnis mit den Alltagshandelnden einzutreten (Hoffmann-Riem

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1980: 346-351). Das Prinzip der Offenheit (ebd.: 343-346) fordert generelle Flexibilität und Neugier in Erhebung und Auswertung – Modifikationen vorzunehmen, wenn die empirischen Kontexte dies herausfordern, die Samplebildung darauf zu fußen und als Teil der ›Entdeckungslogik‹ ein breites Hypothesenset auf Basis der Erhebungen zu erarbeiten. Der zweite zentrale Einfluss auf die Biographieforschung ist der Sozialkonstruktivismus nach Berger und Luckmann (1969). Diese beschäftigt einerseits die Frage, wie Gesellschaft, Institutionen und Wissensbestände durch Interaktionen hergestellt, bewahrt und verändert werden, und andererseits, wie sich diese wiederum auf die Individuen und ihre Interaktionen auswirken. Das heißt, dass die ›gesellschaftliche Realität‹ zwar eine die Einzelne oder den Einzelnen bestimmende Macht hat, dass aber jene ›gesellschaftliche Realität‹ erst durch subjektive und intersubjektive Konstruktionsprozesse hergestellt wird. Auf diese Weise wird ausgedrückt, dass Akteure eine aktive Rolle in der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben können, ohne dass ihre Subordination unter gesellschaftliche Bestände bestritten würde. Akteure sind sowohl (Mit-)Gestalter als auch Erleidende der sozialen Realität. Die soziale Wirklichkeit und ihre Geschichte sind somit ohne Akteure nicht zu begreifen; die Kollektivgeschichte und Lebensgeschichten sind notwendigerweise interdependent. Diese Annahmen sind fundamental für die sozialkonstruktivistische Biographieforschung, da hierin ihre gesellschaftsanalytische Relevanz liegt. Die Biographieforschung strebt an, die Konstruktionen von Akteuren zu rekonstruieren und zu untersuchen, wie sich diese im Laufe deren Lebens verändern, um auf diese Weise soziale Prozesse in ihrer gesellschaftsbildenden Genese, Rekonstruktion und Transformation zu verstehen. Dabei sollen einerseits die den Konstruktionen der Akteure zugrundeliegenden gesellschaftlichen Wissensbestände und Interpretationsmuster rekonstruiert werden, die von den Akteuren internalisiert worden sind – die sie ›geerbt‹ haben und die ihnen helfen, das Alltagsleben zu meistern. Die Akteure sind in diese »nichtintentionale[n] und vorgegebene[n] Bedingungen des Handelns« (Fischer/Kohli 1987: 35) sozialisiert worden, sie stellen Interpretationsangebote bereit und helfen bei der Entwicklung von Handlungsroutinen in alltäglichen oder wiederkehrenden Kontexten. Die Interpretationsmuster und Wissensbestände sind nicht allen gemein und gleich, sondern sie sind abhängig von der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppierungen mit unterschiedlichen Machtchancen – dies können zum Beispiel generationelle und familiale Zusammenhänge oder Klassenlagen sein (Rosenthal 2008: 172). Andererseits sind die Wissensbestände aber auch als abhängig von konkreten individuellen Erfahrungen zu sehen. Diese ›verbesondern‹ Akteure und führen zu ihnen eigenen Interpretationen. Das heißt, Interpretationsmuster und Wissensbestände sind mehr oder weniger, aber nie ausschließlich gesellschaftlich determiniert. Daher ist es wichtig, nicht nur die Determination des Handelns zu reflektie-

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ren, sondern in einem »dynamischen Strukturbegriff« die subjektiven Perspektiven ernst zu nehmen: »Wir verstehen Biographie als alltagsweltliches Konstrukt, das die lebensweltliche Ambiguität vorgegebener Regelhaftigkeit und Emergenz gleichermaßen beinhaltet. Dementsprechend kann die soziologische Biographieanalyse sowohl dem Anliegen ›subjektiver‹ wie ›objektiver‹ Analyse gerecht werden, sofern sie Erfahrung und Intention im Handlungsbegriff als auch das der Handlung vor-intentional zugrundeliegende Schema enthüllen kann.« (Fischer/ Kohli 1987: 35, Herv. i.O.)

Die Einsicht, dass Biographien als soziale Konstrukte sowohl gesellschaftlich als auch individuell geprägt sind, hilft, den »Weg aus der dualistischen Sackgasse von Subjekt und Gesellschaft« (Rosenthal 1995: 12) zu weisen. Lebenserfahrungen sind einerseits spezifisch für die Biographin oder den Biographen, gehören andererseits auch zum Allgemeinen sowohl für die Gruppierungen, denen sie oder er zugehört, als auch für die jeweils spezifische historische Situation. In Kapitel 3 werde ich herausarbeiten, dass diese Einsicht auch für die Beschreibung und Analyse räumlicher Umgebungen der Biographinnen oder Biographen verwendet werden kann. Mitglieder eines bestimmten Ortes prägen diesen durch ihre eigene Zugehörigkeit zu ihm, werden selbst aber auch stark von diesem geprägt. Aus diesen Überlegungen ist in der Biographieforschung die Schlussfolgerung gezogen worden, dass Analysen zwar auf Basis einzelner Biographien erfolgen können (und oftmals auch auf dieser Ebene erfolgen), dass diese aber nicht auf dem Level von einzelnen, singulären Lebensgeschichten verbleiben. Die Prämisse von der wechselseitigen Konstituierung von Gesellschaft und Individuen führt dazu, dass nicht nur auf die subjektiven Perspektiven der Biographin oder des Biographen eingegangen wird, sondern die Analysen gleichzeitig darauf abzielen zu identifizieren, welche Interpretationsmuster und Wissensbestände in der Gesellschaft vorhanden sind, also was gesagt und getan werden kann und was nicht, und wie dies mit den individuellen Perspektiven in Interrelation steht (Rosenthal 2008: 170-172). Im auf diesen Überlegungen beruhenden empirischen Zugang der Erhebung haben sich in der Biographieforschung offene lebensgeschichtliche Interviewformen wie das biographisch-narrative Interview nach Fritz Schütze (1977, 1983) als am meisten verwendete Methoden durchgesetzt, die dann von anderen methodischen Instrumenten ergänzt werden. Die narrative Eingangsfrage zu Beginn des Interviews und konsequent narrativ gehaltene Nachfragen haben sich als brauchbar erwiesen, Interviewpartner/-innen beim Einnehmen von Vergangenheitsperspektiven zu unterstützen, die für die Analyse von vergangenem Erleben notwendig sind (auf die Interviewführung wird detailliert im Unterkapitel 4.1 eingegangen). Beim analytischen Zugang ist es verschiedentlich zu theoretischen Diskussionen über eine der sozialkonstruktivistischen Biographieforschung zugeschriebene An-

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nahme einer Homologie von Erzählungen aus der Gegenwart zu einer erlebten vergangenen Wirklichkeit gekommen (Bude 1985; Bourdieu 2000). Obwohl bereits die frühen Vertreter/-innen der Biographieforschung vielfach differenziert über dieses Verhältnis nachgedacht haben, lässt sich kritisch anmerken, dass einige Formulierungen Fritz Schützes (1984) zu seiner biographieanalytischen Methode einen homologen Charakter nahelegen mögen, wenn er zum Beispiel davon schreibt, dass der »lebensgeschichtliche Erfahrungsstrom […] in erster Linie ›analog‹ durch Homologien des aktuellen Erzählstroms mit dem Strom der ehemaligen Erfahrungen im Lebensablauf wiedergegeben wird« (ebd.: 78).1 Dabei hat sich im deutschsprachigen Kontext weitgehend eine Sichtweise durchgesetzt, bei der die Präsentation von vergangenem Erleben als vermittelt durch späteres Erleben, durch die Interviewsituation und die davon abhängige Zuwendung zu bzw. Darbietung von Erinnerungen interpretiert wird (Rosenthal 1995: 70-98, 2008: 166-168). Diese am prominentesten von Wolfram Fischer (1978) und Gabriele Rosenthal (1995, 2008: 166) ausgearbeitete Herangehensweise ist verknüpft mit der Aufforderung, nicht nur zu versuchen, vergangene Erlebnisse (nicht Ereignisse) zu rekonstruieren, sondern auch die Gegenwart der Biographin oder des Biographen und die Situation, in der das lebensgeschichtliche Interview stattfindet – und diese beiden Ebenen daraufhin in der Zusammenschau zu betrachten. Das heißt, es wird dazu aufgefordert, sowohl Perspektiven in der Gegenwart als auch langfristige Handlungsverläufe zu rekonstruieren und dabei zu fragen, was die Akteure erlebt haben und welche Bedeutung sie ihren Handlungen in der Vergangenheit zugemessen haben (Rosenthal 2004: 49), die Vergangenheitserfahrungen aber gleichzeitig als »part of the overall context of his/her current life and his/her resulting present and future perspective« zu berücksichtigen (ebd.: 50, Herv. i.O.). Als analytisches Verfahren wird in dieser Arbeit größtenteils die auf Basis dieser Annahmen konzipierte biographische Fallrekonstruktion (nach Rosenthal 1995, 2008) angewandt, die Zugang zur Analyse der Vergangenheitsperspektive und des vergangenen Erlebens eröffnet, aber gleichzeitig auch die Analyse der gegenwärtigen Sprechpositionen, Perspektiven und Interpretationen der Akteure ermöglicht. Die detaillierte Darstellung der Auswertungsmethode erfolgt in Kapitel 4.1. An dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, dass die Analyse der Interviews bei biographischen Fallrekonstruktionen heuristisch in zwei Ebenen getrennt wird – in die erlebte und die erzählte Lebensgeschichte. Durch diese Trennung werden einerseits 1

Doch auch in dieser Publikation sind differenziertere Bemerkungen zu finden. Zwar betont Schütze (1984: 80) einerseits, »daß die Darstellungsstruktur der Erfahrungsrekapitulation im Stegreiferzählen nicht aus der Interaktionsdynamik der Kommunikationssituation ableitbar« sei, schreibt aber an anderer Stelle, dass die »Darstellungsaktivitäten des Informanten […] selbst im narrativen Interview […] mit Notwendigkeit eine interaktionsbezogene Komponente« haben (ebd.: 79).

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vergangene Erlebnisse und Perspektiven rekonstruiert, andererseits aber auch die Reinterpretationen von vergangenen Erlebnissen und deren Darstellung während der Interviewinteraktion sowie die gegenwärtige Lebenssituation der Biographin oder des Biographen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Bedeutung von Erlebnissen im Lebensverlauf ändern kann, indem sie späteren Interpretationsmustern angepasst oder gänzlich reinterpretiert werden, und zwar in einer solchen Weise, dass die Akteure ihrem vergangenen Leben in der Gegenwart einen Sinn verleihen können. Diese Trennung bedeutet aber nicht, dass die Vergangenheitsperspektive die ›reale‹ und die andere lediglich die Interpretation aus der Gegenwart sei: »Erlebte und erzählte Lebensgeschichte stehen in einem sich wechselseitig konstituierenden Verhältnis«, wie Rosenthal (1995: 20) in der von ihr in die biographietheoretische Forschung eingebrachten, auf Aron Gurwitsch (1974 [1957]) rekurrierenden Lesart der Gestalttheorie betont. In der Gegenwart des Biographen oder der Biographin wird die jeweilige Vergangenheit genauso konstruiert wie die erwartete Zukunft. Seine oder ihre gegenwärtige Sicht bestimmt mit, was erinnert wird, wie und in welcher Reihenfolge und mit welchen thematischen Verknüpfungen Erlebnisse erinnert werden und wie sie dargestellt werden. Doch diese Zuwendung zur Vergangenheit geschieht nicht, ohne dass die vergangenen Ereignisse, über die berichtet wird, diese mitbeeinflussten.

2.3

E INIGE SOZIALWISSENSCHAFTLICHE P OSITIONEN ZUM R AUM

Der Begriff Ort, der bereits im Titel dieser Arbeit steckt, hat im Verlauf meiner Forschung größere Relevanz erlangt als der Begriff Raum (vgl. Kap. 3). Er ist aber gleichzeitig untrennbar mit dem Begriff Raum verknüpft, der zudem die Basis der wissenschaftlichen Diskussion darstellt. Daher werde ich zunächst als Hintergrund in für diese Arbeit relevante Forschungslinien und -traditionen zum Raum einführen, aber von einer strikten Definition absehen. Außerdem beschränke ich diese Einführung weitgehend auf einige jüngere Traditionen aus der Kulturgeographie und der Soziologie – zu »unübersichtlich ist der, falls überhaupt quantitativ überschaubare Korpus an Publikationen, zu verschieden die (sub)disziplinären Kontexte« (Bürk 2006: 159). Die Raumforschung als multidisziplinär geprägte wissenschaftliche Ausrichtung hat sich zum Beispiel in der Physik, in der Geographie, Philosophie, Soziologie, der Raumplanung oder den Erziehungswissenschaften einen festen Platz gesichert (ebd.: 166). Insbesondere in den 1990er und den frühen 2000er Jahren erlebte die Forschung über den Raum in verschiedenen Disziplinen einen Höhepunkt, so dass sogar der spatial turn ausgerufen wurde, um eine bis dato wahrgenommene Vorrangigkeit der

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Forschungen zu Zeit zu kompensieren (ebd.: 160). In Deutschland kam dieser spatial turn etwas verspätet an, da mit dem Ballast der Verwendung von Raummetaphern während der nationalsozialistischen Diktatur gerungen wurde. Doch nun sind Forschungen zum Raum wieder fest in die sozialwissenschaftliche Arbeit in verschiedenen Disziplinen integriert, die Hochzeit des spatial turn ist abgeschlossen. Inzwischen wird sogar Kritik am inflationären und häufig untheoretisierten Gebrauch des Begriffes Raum geübt (ebd.: 165). Was Raum überhaupt sei, wurde lange von den Vorstellungen der Physik Newtons oder der Philosophie Kants geprägt. In der Physik wurde – vereinfacht ausgedrückt – eine Trennung der beiden Kategorien Raum und Zeit entworfen und ihnen ein jeweils eigener Charakter zugeschrieben. Raum wurde als passiv konstruiert, als eine Art Bühne für Objekte und Interaktionen, die darin platziert werden können bzw. darin stattfinden und die wiederum von einem Beobachter verfolgt werden können (Massey 1992: 76). Bei Immanuel Kant (1996 [1781]: 72, zitiert in Löw 2001: 29) erscheint der Raum – wie auch die Zeit – als eine »notwendige Vorstellung, a priori«, die also vor der Erfahrung liegt. Diese Trennung von Zeit und Raum – die jahrhundertelang ihre Wirkmächtigkeit entfaltete – und die Bevorzugung der ›aktiven‹ Zeit gegenüber dem Raum wurde auch als »founding moment of modern philosophy« (Larry Grossberg 1996: 178, zitiert in Massey 1999: 263) bezeichnet. Mit dieser Vorstellung ist die in der Wissenschaft und im Alltag dominierende Vorstellung eines ›absolutistischen Raumes‹, ›Containerraumes‹ oder ›Behälterraumes‹ verknüpft. Diese Begriffe umschreiben die Vorstellung, dass (ein) Raum bereits vor dem ›Befüllen‹ mit Akteuren, Handlungen oder materiellen Dingen vorhanden sei (Massey 1999; Löw 2001). In Bezug auf die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung argumentieren Martina Löw (2001: 53) und Doreen Massey (1999: 268, 274) übereinstimmend, dass Raum meistens unkritisch oder unhinterfragt im oben genannten Schema eines dreidimensionalen Raumes verwendet worden sei. Raumanalysen werden dadurch als gegensätzlich zu prozessualen Herangehensweisen gesehen; Räume würden sozialen Handlungen gegenübergestellt und von ihnen getrennt. Es gehe, so Löw (2001: 53), häufig um die Frage, wie Räume durch die Handelnden angeeignet würden. Damit werde ausgesagt, dass diese auch ohne die Handelnden bestünden. Es erscheine daher so, als würden die Räume erst durch Wissenschaftler/-innen identifiziert und nicht von den Handelnden in der sozialen Welt gestaltet. Räume werden also als vorstrukturierende Einheiten gesehen. Löw exemplifiziert ihre Kritik an zahlreichen Beispielen aus der Geschichte der Soziologie, von denen im folgenden Absatz nur diejenigen kurz gestreift werden, die auch in der vorliegenden Arbeit relevant sind. So kritisiert sie (2001: 48-51) an den stadtsoziologischen Forschungen der Chicago School, dass diese einen als generell angenommenen Raum in verschiedene Behälter – zum Beispiel Stadtviertel – unterteilten, von denen angenommen werde, dass sie soziale Zusammenhänge

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strukturierten. Damit werde wie selbstverständlich ein Containerraummodell angewendet. Es sei inzwischen aber herausgestellt worden, dass nicht nur Nachbarschaftsräume soziale Beziehungen bestimmten, sondern auch in städtischen Kontexten ethnische, religiöse und andere Zugehörigkeiten einen entscheidenden Einfluss haben könnten und raumbildend wirkten. An der Phänomenologie, die in ihren räumlichen Beschreibungen vor allem das »selbstverständliche Alltagsleben« aus akteurszentrierter und leiblicher Sicht darstelle, kritisiert Löw (2001: 19-20) die unkritische und unhistorische, situative Herangehensweise. An Schütz und Luckmanns Strukturen der Lebenswelt (2003: 71-81) und Berger und Luckmanns Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969) kritisiert sie, dass Raum und die Regeln seiner Konstruktion lediglich als Handlungshintergrund, nicht aber als Wissensfeld behandelt würden und Raum somit unhinterfragt gegeben sei. Bei Berger und Luckmann identifiziert sie außerdem eine »ortsbezogene Bedeutung« von Raum (Löw 2001: 42-43). Aus unterschiedlichen Richtungen wurden jedoch Anstrengungen unternommen, um die etablierten Konzepte der Trennung von Raum und Zeit, des a priori vorhandenen Raumes und des Containerraums zu unterminieren und anders zu lesen. In der Entwicklungspsychologie haben Jean Piaget und Bärbel Inhelder aufgezeigt, dass sich räumliche Vorstellungen sukzessive und prozessartig durch Handlungserfahrungen entwickeln, was Kants a priori-Vorstellungen infrage gestellt hat (Löw 2001: 74-76). In der Physik wurde die strikte Trennung von Raum und Zeit durch Einsteins Relativitätstheorie überwunden und die Raumzeit als vierdimensionale räumlich-zeitliche Einheit gesetzt (Massey 1992: 76). In der kritischen Geographie wurde dies vor allem durch Doreen Massey ausgearbeitet. Sie begreift Raum und Zeit als untrennbar miteinander verwoben: »Space must be temporal; must incorporate process« (Massey 1997: 221). Zwar könnten Unterscheidungen zwischen Raum und Zeit getroffen werden, aber diese ergäben sich aus der Spannung zwischen den beiden Begriffen (dies. 2002: 77). Raum sei nicht statisch und könne nie ohne die Zeit als ›geschlossenes System‹ betrachtet werden: »[Space] is not defined negatively as an absence of temporality, it is not the classic ›slice through time‹. Indeed, the closed-system/slice-through-time imagination of space denies the possibility of a real temporality for there is no mechanism for moving from one slice to the next […]. Rather the spatiality that I envisage would be open, would be constantly in the process of being made« (dies. 1999: 264-265).

Auf einen solchen prozessartigen Raum- und auch Ortsbegriff werde ich weiter unten (Kap. 3.1) ausführlich eingehen. Zudem, und verknüpft damit, wurden Anstrengungen unternommen, Räume als ›relational‹ und ›relativ‹ zu fassen. Das führt zur Auffassung, dass es keinen ›leeren Raum‹ geben kann. Einerseits wurden Räume durch ›relative‹ Beziehungen von Körpern und Gegenständen konzeptualisiert,

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wodurch die Vorstellung des ›Containerraums‹ konterkariert wurde: Raum entsteht dann nur, wenn mindestens zwei Objekte zueinander in Beziehung gesetzt werden (dies. 1992: 77). Das ermöglicht zum Beispiel auch die Vorstellung, dass ein Ort oder ein Handelnder Teil mehrerer Räume sein kann (Löw 2001: 273; Fritsche/Lingg/Reutlinger 2010: 13). Relative Raumvorstellungen wurden von Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Norbert Elias in ihre Konzepte eingearbeitet (Löw 2001: 18). Auf letzteren werde ich weiter unten (Kap. 3.1) noch einmal eingehen. Bei der Annahme der ›Relationalität‹ wird konstatiert, dass Raum sozial konstituiert oder konstruiert ist; Raum kann es nicht vor dem relationalen Handeln der Akteure in ihm geben, das somit zentral wird (Massey 1999: 262; Läpple 1991: 189): »What makes a particular view of these social relations specifically spatial is their simultaneity […]. Seeing space as a moment in the intersection of configured social relations (rather than as an absolute dimension) means that it cannot be seen as static. […] Space is not a ›flat‹ surface in that sense because the social relations which create it are themselves dynamic by their very nature.« (Massey 1992: 80-81)

Martina Löw, deren Publikationen zu Raumfragen in den vergangenen 15 Jahren die Diskussion in Deutschland angeregt haben,2 hat eine Raumkonzeption vorgelegt, mit der sie einen prozessartigen soziologischen Raumbegriff prägen will, der sich zudem gegen die übliche Trennung von sozialem und materiellem Raum wendet (Löw 2001: 15). Für sie ist es zentral, aufzuzeigen, wie sich Räume konstituieren, und damit einer steten territorialen Raumauffassung entgegenzutreten. Daher konzeptioniert sie Raum als »in den Handlungsverlauf integriert«: »Das heißt, was zuvor Ausgangs- oder Bezugspunkt einer Untersuchung war, wird selbst zum soziologischen Gegenstand: die Konstitution von Raum. Um diese auf allen Ebenen einer handlungstheoretischen Konzeption berücksichtigen zu können, muß das Handeln selbst als raumbildend verstanden werden.« (Ebd.: 67) In der Raumkonstitution sind Löw zufolge zwei Prozesse vereint: Das ›Spacing‹, womit das Anordnen von sozialen Gütern und Menschen gemeint ist, und die ›Syntheseleistung‹, womit diese durch Wahrnehmung oder Erinnerungen zu Räumen verknüpft werden (ebd.: 158159). Im Zusammenhang dieser Arbeit über Jerusalem soll etwas genauer auf die Entwicklung von Löws theoretischer Konzeption eingegangen werden. Es ist nämlich eine Koinzidenz, dass sie die Begrifflichkeiten ihrer Raumtheorie an einem 2

Viel intensiver waren allerdings die Diskussionen um das von ihr mitgeprägte Konzept der ›Eigenlogik‹ von Städten. Die ›Eigenlogik‹ solle die jeweils individuelle Gestalt von Städten herausarbeiten. Andere Vertreter/-innen der deutschen Stadtsoziologie kritisierten dieses Konzept, weil es die Stadt als Abbild gesellschaftlicher Prozesse vernachlässige (Berking/Löw 2008 und kritisch Kemper/Vogelpohl 2011).

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Textausschnitt der Autobiographie von Josef Tal erarbeitet, einem deutschjüdischen Komponisten, der vor den Nationalsozialisten in das damalige Mandatsgebiet Palästina geflüchtet war. Im von Löw ausgewählten Textausschnitt beschreibt Tal zwei Besuche der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt: »Noch in der britischen Mandatszeit, vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, konnte ich unter der Führung zweier hoher Regierungsbeamter die Klagemauer im Herzen der arabischen Altstadt sehen. Man ging durch ein engmaschiges Netz verwinkelter, enger Gäßchen und stand dann plötzlich vor einer steilen Wand riesiger Quadersteine. Hoch oben blieb ein schmaler Streifen blauen Himmels zwischen dem engen Gemäuer des Gäßchens. Die Enge ließ die Quadersteine noch viel größer und mächtiger vor dem kleinen Menschen erstehen. Davor konnte man nur zur Allmacht beten, die unerreichbar über dem unermeßlichen Gestein schwebte. Nach dem Sechstagekrieg von 1968 [sic! J.B.] wurde das Gäßchengewirr vor der Klagemauer freigelegt. Heute nähert man sich der Mauer über ein weites, großes Gelände, das Tausenden von Besuchern Platz bietet, um zu beten und auch religiöse Feste zu feiern. Natürlich sind es dieselben Quadersteine von ehedem, aber ihre Sprache hat sich durch die neue Umgebung verändert. Der weite Raum, der sie aus den engen Gäßchen befreit hat, führt ihr klagendes Echo in die Breite und nicht in die Höhe und gibt so dem Gebet einen anderen Sinn.« (Tal 1987: 87, in: Löw 2001: 152)

Löw arbeitet in diesem Text Raumkonstituenten heraus: Diese seien beim ersten Besuch die Verbindung der Gassen, der Wand und des Himmelstreifens. Beim zweiten Besuch bestehe der Raum der Klagemauer dagegen aus der Mauer, dem Platz und den Menschen. Sie sieht Tals Raumerzeugung als durch seinen durch die jüdische Kultur geprägten Habitus, durch sein Geschlecht (Frauen würden anders durch die arabische Altstadt gehen) und durch seine ethnische Zugehörigkeit (als Jude) determiniert. Sie stellt fest, dass Palästinenser/-innen die »Konstitution der beiden zeitlich aufeinanderfolgenden Räume« wahrscheinlich eher negativ als Verlust und Zerstörung beschreiben würden (ebd.: 177). Zwar gibt Löw (ebd.: 152) als einen Grund für ihre Textauswahl an, dass dieser eine »Vorher-nachher-Struktur beinhaltet und damit den zeitlichen Prozeß von einer Raumkonstitution zur nächsten besonders anschaulich dokumentiert«. Sie sehe jedoch, wie sie schreibt, bewusst davon ab, dass es um einen in der Erinnerung rekonstruierten Raum gehe (ebd.: 160). Dennoch ist aus der oben eingeführten Sicht der sozialkonstruktivistischen Biographieforschung (Kap. 2.2) anzumerken, dass dies bedeutet, dass in diesem Beispiel die Konstitution von Räumen in der Syntheseleistung (die Verknüpfung von angeordneten Gütern und Menschen zu Räumen in der Wahrnehmung oder Erinnerung) mit der Annahme verknüpft ist, Erlebnis, Erinnerung und Erzählen (also hier der Zeitpunkt der Abfassung der Autobiographie) seien konstant. Eine Analyse von Räumen als von der gegenwärtigen biographischen Situation genauso durchdrungen

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wie von den im jeweiligen Raum erlebten Ereignissen und als zusätzlich abhängig von gegenwärtigen und vergangenen Diskursen würde wahrscheinlich umfangreicher als in Löws Textpassage ausfallen. Mit letzteren sind im konkreten Beispiel nicht nur die politischen Diskussionen über die Klagemauer gemeint, an denen sich bereits 1929 blutige Auseinandersetzungen entzündeten, und die ihr zugewiesene symbolische Rolle im Krieg von 1967 (Dumper 2002b: 17-27, 76-78). Vielmehr sind mit der Gegenüberstellung der engen Gässchen mit dem freigeräumten Raum auch orientalistische und modernistische Diskurse verknüpft, die zudem in euphemistischer Weise die Zerstörung von palästinensischen Nachbarschaften, die an die Klagemauer angrenzten, im Jahre 1967 umschreiben: Das ›arabische Chaos‹ wurde durch die ›Freilegung‹ des Platzes beseitigt (vgl. Kap. 8.1). Zudem könnten die Besuche bei diesem von Tal auch als machtvoll beschriebenen jüdischen Symbol der Klagemauer in seine jeweilige biographische Situation eingebunden werden. Es liegen immerhin beinahe 30 Jahre zwischen den beiden Besuchen, und die Wahrnehmung eines jüngst aus seiner bisherigen Heimat Geflüchteten unterscheidet sich von der eines in Israel etablierten Komponisten. Schließlich wäre zu fragen, wie Tal durch seine Anwesenheit an der Klagemauer diesen Raum mitkonstituiert. Selbstverständlich geht es Löw in der Analyse dieses Textausschnittes vor allem um die Veranschaulichung ihrer theoretischen Konzeption. Dennoch wäre eine stärkere Einbindung der gesellschaftlichen Kontexte und der konkreten biographischen Situation eine bedenkenswerte Ergänzung zur theoretischen Formulierung eines Raumes.3 Eine diachrone Perspektive und eine Analyse der Veränderlichkeit der räumlichen Interpretationen und Zugehörigkeitsgefühle würden sicherlich auch mit ihrer prozessualen Sichtweise – dass es immer um die Konstitution von Räumen gehe – vereinbar sein. Aus der Perspektive der Wissenssoziologie und einer empirisch fundierten Theoriebildung ließe sich zudem die Frage formulieren, wie Löws theoretische Konzeption in der empirischen Arbeit mit den konkret erfahrenen Räumen der Alltagshandelnden rückgebunden werden kann. Nach diesem kurzen Durchgang durch einige raumbezogene Positionen in den Sozialwissenschaften möchte ich zuletzt auf einen – soweit mir bekannt – wenig repräsentierten Aspekt in der Diskussion eingehen. Einige Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass nicht nur in den wissenschaftlichen Konzeptionen, sondern auch im Alltagsleben in der ›modernen‹ Welt Raumvorstellungen dominant seien, die auf den dreidimensionalen, der Zeit gegenübergestellten Raum rekurrieren (Läpple 1991: 164; Löw 2001: 66). Es wird aber meiner Ansicht nach zu wenig betont, dass die Erforschung von Raumvorstellungen eine empirische Frage ist, die durch theoretische Herleitungen nicht erfasst werden kann. Es ist daher zunächst notwendig zu rekonstruieren, wie Akteure selbst Raum (bzw. im Folgenden auch 3

Dabei schreibt Löw (2001: 132) selbst: »Der Einfluß von Raumvorstellungen sowie die Wahrnehmungsvielfalt werden ebenso berücksichtigt wie biographisches Wissen.«

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Orte) in ihrem Alltag interaktiv konstituieren, um dann die raumwissenschaftliche Theoriebildung empirisch informiert und gesättigt darauf aufzubauen. Für die Identifikation von Räumen ist also – wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird – eine Haltung notwendig, die auf den weiter oben eingeführten Prinzipien von Offenheit und Kommunikation (Kap. 2.2; Hoffmann-Riem 1980: 343-351) beruht. Wie ich in Bezug auf mein Forschungsfeld zeigen werde, existieren zum Beispiel in der Altstadt von Jerusalem sowohl Vorstellungen vom relativen Raum als auch vom Raum als ›Container‹: Das Leben in der kleinen Nachbarschaft wird von relativen Raumvorstellungen bestimmt (vgl. Kap. 7.2); in anderen Räumen ist hingegen aufgrund von bürokratischen Verregelungsprozessen das ›Containermodell‹ vorherrschend und wird von den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Selbstdefinition übernommen (vgl. Kap. 8.1). Die methodische Konzeption und der Aufbau der vorliegenden Arbeit sind dementsprechend besonders durch die Frage bestimmt worden, wie Räume und Orte in einer empirischen Studie identifiziert und rekonstruiert werden können, denn an diesem Punkt ist die Bildung eines ›hermeneutischen Zirkels‹ nahezu unausweichlich: Untersuchungsräume müssen irgendwann gebildet, also heuristisch als bestehend angenommen werden, ohne dass deren Relevanz für die Mitglieder dieser Räume abschließend geklärt sein würde. Das hat zu meiner auf den nun folgenden theoretischen Betrachtungen aufbauenden Forschungskonzeption bzw. Samplebildung geführt. Mit dieser habe ich versucht, relevante Räume anhand eines zweistufigen Forschungsprozesses, der an die Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) angelehnt ist, zu bestimmen und somit diesen Zirkel etwas abzumildern (vgl. Kap. 3.5).

Orte – Wir-Orte – Verortungen – Forschungsräume

3.1

O RTE : P ROZESSHAFT , HISTORISCH UND DURCH AKTEURE KO - KONSTITUIERT

Die Relevanz von Orten in der Altstadt: »Ich bin Jerusalem« »Als sie mich danach fragten wer ich sei sage ich, ich bin Jerusalem ich (

) mit allen seinen

Widersprüchen mit allen Dingen die es darin gibt vom=vom vom=einfachen ḥāra [Nachbarschaft] bis zum ordentlichen ḥāra (2) ehrlich yaʿnī1 mit allen Details mit seinen Gassen mit deren Windungen mit seiner Einfachheit mit seiner Geschichte mit seiner Altehrwürdigkeit.«2

Dieses plakative Zitat aus dem von mir geführten biographisch-narrativen Interview mit Huda (vgl. Kap. 8.2) verdeutlicht, wie relevant der symbolische und räumliche Kontext der Altstadt in den Selbstpräsentationen der Altstadtbewohner/-innen sein kann. In beinahe allen Interviews in meinem Sample ist das (räumliche) Dasein in der Jerusalemer Altstadt sowohl auf Ebene des erzählten als auch des erlebten Lebens auf die eine oder andere Weise ein wichtiges, häufig sogar ein zentrales Thema. Nur solche Interviewpartner/-innen ließen es aus, die andere, stark dominierende persönliche Probleme hatten (in meinem Sample zum Beispiel zugeschriebene Homosexualität, starke innerfamiliale Gewalt oder ein anhängiges Verfahren wegen sexueller Belästigung). Natürlich hat diese Relevanz mit den gewöhnlichen und von allen Seiten an die Altstadt erfolgenden Zuschreibungen ihrer politischen und religiösen Bedeutung zu tun und mit ihrer vom Nahostkonflikt bestimmten jüngsten Geschichte (vgl. Kap. 5 und Kap. 6.5). Die jüngste Geschichte und die Zuschreibungen bedingen wahr1

Yaʿnī ist eine häufig verwendete Partikel in der palästinensischen Umgangssprache, wenn sie bedeutungstragend ist, kann sie ungefähr mit ›also‹ übersetzt werden.

2

Die Transkriptionszeichen werden in Kap. 12 erläutert.

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scheinlich, dass räumliche Zugehörigkeiten stärker manifest und weniger latent verhandelt werden als in anderen lokalen Kontexten. Um die komplexe Verbindung von Biographien und räumlichen Zugehörigkeiten in der Altstadt zu erfassen, müssen aber auch Themen berücksichtigt werden, die weniger stark in den dominanten israelischen und ›westlichen‹ Diskursen über die Altstadt verankert sind: die sehr beengten und sozio-ökonomisch sehr schwierigen Lebensbedingungen vieler Altstadtbewohner/-innen (vgl. Kap. 6.6) sowie die Abwertung der Altstadtbewohner/ -innen im innerpalästinensischen Diskurs (vgl. Kap. 6.4). Es ist nicht nur die Altstadt als Ganzes, die in den Interviews als wichtiger Bezugspunkt erscheint, sondern auch bestimmte Orte darin. Diese Orte bestehen aus konkreten geographischen Ausschnitten, aus symbolischen Zuweisungen oder aus sozialen Zusammenschlüssen. Daher wurde es ein zentraler Fokus meiner Arbeit zu untersuchen, wie sich meine Interviewpartner/-innen mit ihnen wichtigen lebensweltlichen Bezugspunkten in der Altstadt auseinandersetzten. Die Orte in den Lebensgeschichten und -erzählungen sind mit individuellen oder familialen Erfahrungen in der Altstadt, mit der Geschichte der in der Altstadt vertretenen Gruppierungen, aber auch stark mit Diskursen über sie, mit dem palästinensischen kollektiven Gedächtnis und mit dem Erleben der gegenwärtigen politischen Situation verknüpft. In Jerusalem (und nicht nur dort) sind Lebenserzählungen somit auch Verortungserzählungen. Die dadurch erfolgenden scheinbar individuellen Konstruktionen von Orten in Lebensgeschichten sagen auch etwas über den räumlichen Konstruktionsprozess von Zugehörigkeiten aus: »[The] construction of places, in the sense of known and definable areas, is a key way in which groups and collectivities create a shared, particular and distinctive identity.« (McDowell 1997: 2) Die Erforschung von lokal gebundenen Erfahrungen und Zugehörigkeiten bleibt also ein wichtiges Forschungsthema, obwohl in der Soziologie häufig gefordert wurde, dass Mobilitäten (Migration, Tourismus, Transnationalismus etc.) als ein zentrales Erfahrungsmodell zu behandeln seien (Bürk 2006: 89-90, 126). Wie bereits weiter oben ausgeführt (Kap. 2.3), bleibt in biographischen Fallrekonstruktionen die Relevanz der räumlichen Umgebung nicht unberücksichtigt – bei der Rekonstruktion der biographischen Daten sollen auch regionale, umgebungsbedingte Ereignisdaten rekonstruiert werden (Rosenthal 2008: 175). Doch eine konsequente Historisierung und Einordnung von Verortungen kann – wie in der vorliegenden Arbeit – auch zum Forschungsthema für eine rekonstruktive Biographieforschung werden und nicht nur in deren Hintergrund bleiben. Konzeptionen von Orten Es ist inzwischen weitgehender wissenschaftlicher Konsens, dass Zeit, Raum und Ort soziale Konstrukte sind (vgl. z.B. Elias 1984: 70-75; Harvey 1996: 210, 293; Massey 1999: 262). In der soziologischen Theoriebildung ist der Fokus vor allem auf den Begriff Raum gelegt worden und der Begriff Ort im Vergleich dazu ver-

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nachlässigt worden. Peter J. Taylor (1999: 13) sieht das als charakteristisch für die jüngeren Diskussionen an, weil der Begriff Raum durch seine Abstraktheit zugänglicher für die theoretische Beschäftigung sei.3 Zudem hat zum Beispiel David Harvey (1996: 209) angemerkt, dass der Begriff Ort durch seine essentialistischen Konnotationen oder durch seine Assoziation mit dem Begriff ›Gemeinschaft‹ bei nationalistischen oder faschistischen Gruppierungen Anklang finde und daher zum Teil vorsichtig verwendet werde. Bevor ich in den nachfolgenden Abschnitten für die biographietheoretische Erforschung von Verortungen auf ein phänomenologisches Konzept zurückgreifen werde, das Orte als vorrangig vor den Kategorien Raum und Zeit ansieht, stelle ich im Folgenden andere Konzeptionen zum Begriff Ort vor. Für manche Autorinnen und Autoren erscheinen die Begriffe Raum und Ort beinahe als identisch. Taylor (1999: 10) führt dies auf den Umstand zurück, dass im Erleben Raum mit Ort zusammenfalle und daher das Interesse an einer genaueren Definition gering sei. Als Beispiel führt er Untersuchungen von Edward Soja an, der den Begriff Ort explizit gemieden habe, weil er einen ausführlich ausgelegten Begriff Raum für ausreichend empfunden habe. In ähnlicher Weise trage John Urrys Buch zwar den Titel Consuming places, doch würden darin lediglich Raumtheorien eingeführt. Martina Löw (2001: 198) kritisiert dies: Orte würden, »wenn ihnen soziologische Relevanz zugesprochen wird, mit Räumen gleichgesetzt«. Eine ebenso häufig vertretene Vorstellung ist, dass es zu Beginn einen oder den Raum gebe, der sich durch die Zuschreibung von Bedeutung und Sinn zu einem identifizierbaren Ort wandele. Der Ort sei von Handeln geprägt, könne regelmäßig aufgesucht werden und habe eine Geschichte. Dabei gibt es eine Art Kontinuum von Raum zu Ort: »Space is more abstract than place. What begins as undifferentiated space becomes place as we get to know it better and endow it with value […]. If we think of space as that which allows movement, then place is pause; each pause in movement makes it possible for location to be transformed into place […]. When space feels thoroughly familiar to us, it has become place. Thus, abstract space, lacking significance other than strangeness, becomes concrete place when it is filled with meaning.« (Jonathan Smith 1987: 28, zitiert in Loimeier 2012: 159)

Auch David Harvey (1996: 261) geht davon aus, dass Raum durch Permanenzen (»permanences«) in Orte eingeteilt werde, zum Beispiel durch die Handlungsmacht von Akteuren, die einen Raum-Teil einnähmen und ihn als »a place – their place – 3

Aus dem englischen Begriff space könne man die Wörter »spatial, spacious, spatialization and spatiality« ableiten; die gleichen Wortbildungen gebe es für den Begriff place nicht (Taylor 1999: 13).

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(for this period of time)« definierten. Durch diese Permanenzen werde an Orten Zeit sichtbar gemacht. Peter Taylor (1999: 10-12) macht sich im Anschluss an den Geographen Yi-Fu Tuan (1977) daran, Orte in ihrer Wechselbeziehung mit Raum zu definieren. Raum stelle das Allgemeine, das Inhaltsleere dar, das, was überall sei. Orte hingegen seien konkreter, das Inhaltsreiche, also das, was irgendwo sei. Orte bildeten sich aus dem Raum, wenn dieser familiär geworden sei – was eine gewisse zeitliche Konstanz und Vertrautheit bedinge. Abhängig von dem Grad der Vertrautheit und der Perspektive könne ein Raum somit zugleich ein Ort sein (vgl. auch Steets 2010: 280). Martina Löw (2001: 203) geht dagegen von einem wechselseitigen Konstitutionsprozess von Raum und Ort aus: »Räume bringen Orte hervor, und diese sind gleichzeitig die Voraussetzung jeder Raumkonstitution.« Der Ort sei durch das Konkrete herausgehoben, bezeichne eine meistens geographisch benennbare Stelle mit einer symbolischen Konnotation und sei somit unverwechselbar. Orte entstünden im von ihr definierten Bereich des ›Spacing‹, dem Anordnen von sozialen Gütern und Menschen. Sie »werden durch die Besetzung mit sozialen Gütern oder Menschen kenntlich gemacht, verschwinden aber nicht mit dem Objekt, sondern stehen dann für andere Besetzungen zur Verfügung«. Der Ort sei »Ziel und Resultat der Plazierung«. Menschen und soziale Güter werden durch das Spacing im Ort platziert (ebd.: 198). Für Löw sind »Ort und Mensch als analytisch zu trennende Ebenen« (ebd.: 202) zu sehen. Der Mensch im Ort ist bei ihr zunächst nicht ›Konstrukteur‹ dieses Ortes. Der dem Spacing entgegengesetzte Begriff ›Syntheseleistung‹ (die Verknüpfung von angeordneten Gütern und Menschen zu Räumen in der Wahrnehmung oder Erinnerung) nimmt also eine untergeordnete Bedeutung in der Definition von Orten ein, die Platzierung wird externalisiert: Orte werden in der Syntheseleistung zwar wahrgenommen oder erinnert, die Syntheseleistung des Individuums oder Austauschprozesse zwischen Individuen tragen zunächst aber nicht zur Ortskonstitution bei: »Da Wahrnehmung meistens auf soziale Güter bzw. Lebewesen in ihrem Arrangement zielt, werden diese zusammen mit den Orten, an denen sie plaziert sind, wahrgenommen. Ort und plaziertes Element werden nicht getrennt. Ähnlich verläuft die Erinnerung. In ihr verschmelzen Objekte und Menschen mit ihren Lokalisierungen an konkreten Orten zu einzelnen Elementen, die dann im Gedächtnis bewahrt werden und auf diese Weise die alltägliche Konstitution von Raum beeinflussen.« (Löw 2001: 199)

Ihre Konzeption von Orten veranschaulicht Löw wiederum mit dem Beispiel des Exzerpts aus der Biographie von Josef Tal über die Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt (vgl. das Zitat auf S. 34). Löws Abschnitt wird nachfolgend gekürzt wiedergegeben:

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»Die Quadersteine, Überreste des alten Tempels, sind an einem speziellen Ort erbaut und bringen einen Ort hervor, die Stelle, an der die Klagemauer steht und die als solche auch bezeichnet wird. Würde die Klagemauer eingerissen, der Ort bliebe noch lange Zeit existent. Selbst wenn man diesen Ort noch nie gesehen hat, weiß man um die Einmaligkeit dieser Lokalisierung. Raum ist allerdings die Verknüpfung von Klagemauer, freiem Platz und Touristen. Jedes dieser drei Elemente und alle drei zusammen bringen Orte hervor, unterschiedliche Orte […]. Durch die hohe symbolische Bedeutung ist dieser Raum kaum von dem Ort trennbar. Dennoch ist die Unterscheidung unverzichtbar, weil zum Beispiel Palästinenserinnen am gleichen Ort andere Räume konstituieren und damit den Ort selbst noch einmal neu hervorbringen. Selbst wenn die Talsche Raumkonstruktion institutionalisiert ist und von allen Juden und Jüdinnen, von allen Christen und Christinnen4 in gleicher Weise vollzogen wird, dann ist der Raum dennoch nicht universell und die Möglichkeit, am gleichen Ort unterschiedliche Räume zu schaffen, immer gegeben.« (Löw 2001: 200)

Löw (2001: 202) argumentiert, dass durch ihren Ortsbegriff »eine Bezeichnung für die biographisch oder gesellschaftlich einmaligen Lokalisierungen gewonnen« werde. Bei der von ihr beschriebenen Ortskonstitution ist das Subjekt im Ort aber zunächst kein konstituierender Teil desselben. Ich werde in den folgenden Abschnitten eine weitere Herangehensweise an die Konstitution von Orten darstellen, die den theoretischen Grundlegungen der Biographieforschung (vgl. Kap. 2.2) entgegenkommt. Sie knüpft daran an, dass sich Orte und Akteure gegenseitig konstituieren, dass erstgenannte auch durch Interaktionen, Wahrnehmungen und Erinnerungen hergestellt werden und eine starke interaktive Qualität haben. Die Charakteristika dieser Sicht auf Orte werden bereits in den Überschriften der folgenden kurzen Abschnitte angedeutet. Vorrangigkeit von Orten gegenüber Raum und Zeit In einer phänomenologischen Interpretation, die zunächst bei der Wahrnehmung der Menschen ansetzt, können Orte als vorrangig zu Raum und Zeit konstruiert werden, wie der amerikanische Philosoph Edward Casey (1996) argumentiert. Diese Sichtweise ist der idealistischen Tradition entgegengesetzt, die den leeren, neutralen und unendlichen Raum als a priori-Konzept benannte und in der der Raum in Orte eingeteilt wird, die dem Raum nachgeordnet sind (ebd.: 14; vgl. Kap. 2.3). In der phänomenologischen Perspektive dagegen kommen Zeit und Raum im Ort zusammen – dadurch, dass der Ort erlebt wird. ›Raum und Zeit‹ werden nicht als zwei separate, weltdeterminierende Einheiten betrachtet, sondern in ihrer konkreten, gemeinsam erscheinenden, an den Ort gebundenen Ausprägung – bei ihrer gemeinsamen ›Verortung‹. Die Großkategorien ›Raum und Zeit‹ werden dem verorteten Ereignis 4

Mit diesen Formulierungen übergeht Löw unbeabsichtigt die Perspektiven von christlichen Palästinenser/-innen in Jerusalem.

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(»event«) – dem ›hier und jetzt‹ – nachgeordnet (Casey 1996: 36-37). Zeit und Raum »remain, first and last, dimensions of place, and they are experienced and expressed in place by the event of place« (ebd., Herv. i.O.). Alle Wahrnehmungen werden durch die Tiefe und Horizonte eines Ortes zusammengehalten, die somit deren grundlegende Ebene bilden. Das »lokale Wissen«, das sich dabei herausbilde, sei stark an dieses Erleben von Orten gebunden und weniger an die Erfahrung, die mit eher abstraktem und analytischem Wissen verbunden sei: »Local knowledge is at one with lived experience if it is indeed true that this knowledge is of the localities in which the knowing subject lives. To live is to live locally, and to know is first of all to know the places one is in.« (Ebd.: 18) Casey arbeitet die Vorrangigkeit der lokalen Umgebung und deren Erleben vor der Annahme eines generalisierten Raumes heraus. Das ist eine wichtige Grundlegung für die Analyse von Biographien in ihrer räumlichen Verortung. Weiter unten wird allerdings Caseys Betonung des Erlebnisses etwas dadurch abgeschwächt werden, dass auch Erfahrungen, Erinnerungen und Diskurse als ortsbildend aufgezeigt werden.5 Orte und Menschen konstituieren sich gegenseitig Casey (1996: 24, Herv. i.O.) benennt weitere herausstechende Eigenschaften von Orten: Zum einen würden Orte durch den gelebten Körper konstituiert: »[L]ived bodies belong to places and help to constitute them. […] By the same token, however, places belong to lived bodies and depend on them.« Dieses Argument gegen ein absolutes Raumverständnis betont, dass Orte nicht ohne die zunächst leibliche Präsenz von Individuen hergestellt werden können. Linda McDowell (1997: 1) spricht allerdings nicht nur von Körpern, sondern dass Orte Menschen ›begründen‹ würden und umgekehrt: »[T]here is a reciprocal relationship between the constitution of places and people. Thus there is a dual focus on how places are given meaning and how people are constituted through place (as well as how they perceive and consume place in everyday social interactions).« Casey und McDowell legen mit ihrer Betonung der reziproken Konstitution von Menschen/Körpern und Orten einen anderen Schwerpunkt als Löw, bei der Ort und Mensch in der Konstitution zunächst analytisch getrennt werden (s.o.). Orte sammeln Eine weitere von Edward Casey (1996: 24) benannte Eigenschaft von Orten ist, dass Orte ansammelten (»places gather«) – Orte könnten verschiedene (belebte oder unbelebte) Dinge in einer bestimmten Konfiguration zusammenhalten, einschlie5

Das bedeutet aber nicht, dass Orte eine bestimmte, recht kleine Einheit seien: »Place exists at different scales. At one extreme a favorite armchair is a place, at the other extreme the whole earth.« (Tuan 1977: 149)

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ßen, an ihren Rand drängen oder ausschließen. Casey erwähnt auch Erfahrungen, Geschichten, Sprachen oder Gedanken. Orte haben also nicht nur die Eigenschaft, Dinge zusammenzuhalten, sondern können auch einen stärker symbolischen Charakter haben. Auch Linda McDowell (1997: 2) schreibt: »So places are both concrete and symbolic. They are literally and metaphorically made up: of buildings, field systems, roads and railways as well as of myths and legends, statues and ceremonies that link people to a place.« Dieses Ansammeln, so Casey (1996: 24-26), sei eine Eigenschaft von Orten, die kein Mensch besitze. Sie verleihe Orten neben ihrer Veränderlichkeit auch Beständigkeit und erlaube, Orte immer wieder zu erkennen, zu erinnern und an sie zurückzukehren. Orte sind Prozesse der interaktiven Herstellung Norbert Elias (1984: 74-75) hat in Bezug auf einen begrifflich allgemein gehaltenen ›Raum‹ auf dessen Prozesshaftigkeit hingewiesen: »Jede Veränderung im ›Raum‹ ist eine Veränderung in der ›Zeit‹, jede Veränderung in der ›Zeit‹ ist eine Veränderung im ›Raum‹. Man lasse sich nicht durch die Annahme irreführen, man könne ›im Raum‹ stillsitzen, während ›die Zeit‹ vergeht: man selbst ist es, der dabei älter wird. […] Die Veränderung mag langsam sein, aber man verändert sich kontinuierlich ›in Raum und Zeit‹ – als ein Mensch, der älter und älter wird, als Teil einer sich verändernden Gesellschaft, als Bewohner der sich rastlos bewegenden Erde.«

Auch Orte seien, so Casey (1996: 44) und Doreen Massey (1994: 154-155), ständig in einer Änderung begriffen und würden, so Casey, in Ortsereignissen immer wieder neu konstituiert. Die Richtung ihrer Änderung sei nicht klar. Orte seien außerordentlich elastisch, was ihre Außengrenzen und Innenbeziehungen anbelange. Änderungen und Elastizität begründen eine komplexe Prozesshaftigkeit von Orten, die sich einfachen, statischen Zuschreibungen widersetzt und eine Rekonstruktion erschwert. Doreen Massey und Linda McDowell gehen noch über diese Feststellung hinaus und betonen die Herstellung von Orten aus sozialen Interaktionen heraus. So erklärt Massey (1994: 155), Orte seien »absolutely not static. If places can be conceptualized in terms of the social interactions which they tie together, then it is also the case that these interactions themselves are not motionless things, frozen in time. They are processes.« Und McDowell (1997: 4) schreibt prägnant, dass Orte als »living histories of past and current social and cultural relations« definiert werden könnten. Statt der früheren Annahme, dass Orte durch das Setzen einer räumlichen Grenze gebildet würden, »the recognition that places are constructed through social relationships […] also led to a far more dynamic conceptualization of place« (McDowell 1997: 4). Die Annahme von statischen Orten gegenüber dynamischer Zeit wird aufgehoben. Die Erkenntnis, dass Orte durch soziale Beziehungen konstruiert werden, heißt aber nicht, dass Dinge keine Rolle spielten. Es bedeutet in ei-

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ner sozialkonstruktivistischen Sicht, dass Dinge – seien es mobile Dinge oder auch architektonische Umgebung – als Ergebnis sozialer Handlungen und Interpretationen entstehen und dann den Kontext aktueller oder zukünftiger Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungen bilden. Somit wird die oft angenommene Trennung von sozialem und physischem Raum konzeptionell porös. Bei Casey (1996: 27, Herv. i.O.) ist bereits die Relevanz einer solchen prozessorientierten Sicht für die Biographieforschung zu erahnen. Ein Ort übernehme immer die »qualitites of its occupants«, »reflecting these qualities in its own constitution and description and expressing them in its occurrence as an event: places not only are, they happen. (And it is because they happen that they lend themselves so well to narration, whether as history or as story.)« Die Eigenschaften ihrer Mitglieder definieren Orte, und diese Eigenschaften sind dann in der Geschichte eines Ortes und den Erzählungen über einen Ort vorhanden. Orte können ohne die Analyse dieser »qualities« nicht rekonstruiert werden – eine Ortsanalyse kann somit auch über die Rekonstruktion der Lebensgeschichten der sie konstituierenden Mitglieder erfolgen. Im Umkehrschluss heißt das, dass in Lebensgeschichten etwas über die Orte, die die Personen konstituieren, gesagt werden kann. Doch es ist Masseys und McDowells prozesshafte Sicht auf durch ihre sozialen Interaktionen definierte Orte, die für die sozialkonstruktivistische Biographieforschung aussagekräftiger ist. Sie verunmöglicht es, einen verstetigten ›Hintergrundort‹ für die Lebenswelten von Biographinnen und Biographen anzunehmen. Stattdessen muss reflektiert werden, dass Individuen und Orte sich gegenseitig konstituieren und stets wandelbar sind. Somit muss die Genese von Orten und der Figurationen ihrer Mitglieder genauso in die Analyse einbezogen werden wie die gegenwärtigen Figurationen und Interaktionen zwischen den Akteuren, die den Ort konstituieren. Es geht darum, das soziale Geflecht in den Orten, in denen sich die Biographen verorten, in Vergangenheit und Gegenwart zu rekonstruieren. Orte brauchen eine historische Perspektive In ihrem Aufsatz Places and their pasts betont Doreen Massey (1995: 183) die Relevanz einer historischen Ortsanalyse und warnt vor einem essentialistischen Ortsbegriff, der Orte als bestimmten Gruppierungen ›zugehörig‹ sieht. Orte seien »always already hybrid« und veränderlich. Es sei auch gefährlich, Orte mit einer bestimmten Community und einem einzigen Ortssinn gleichzusetzen, denn Communities existierten auch ohne einen ihnen gemeinsamen Ort. Daher sei es vorschnell, eine bestimmte Verwandtschaft von einem Ort und seiner Geschichte anzunehmen. Diese Warnung vor einer essentialistischen Sichtweise auf Orte und ihre Geschichte ist für Jerusalem besonders wichtig, da dort in den jeweils dominanten Diskursen der Gruppierungen die jeweilige Ortsinterpretation ständig reproduziert und als gegebenes Recht auf die Altstadt interpretiert wird. Jede Vergangenheit eines Ortes ist offen für eine Vielzahl konkurrierender Lesarten. Massey (1995: 184) schreibt, dass

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dagegen ein einzelner »sense of the past« Debatten an ihr Ende bringe. Das erhöht nochmals die Relevanz der Berücksichtigung der prozesshaften Entwicklung von Orten und der Rekonstruktion der unterschiedlichen Sichten auf die Vergangenheit(en) von Orten, die Akteure in Orten haben können. Massey (1995: 184, Herv. i.O.) schlägt daher vor, den Begriff ›Tradition‹ als »place-based«, aber nicht als »place-bound« zu betrachten. Tradition sei schon immer – wobei sie wohl auch auf die invention of tradition (Hobsbawn 1983) rekurriert – in der Gegenwart und nicht nur in der Vergangenheit gemacht worden. Dadurch, dass sich der Ort auch aus den Akteuren und ihren sozialen Beziehungen konstituiert, kann es nie zu einer Identität eines Ortes kommen. Sie ist immer abhängig von der jeweiligen Figuration der Menschen, die den Ort mit ausmachen: »The identity of places, indeed the very identification of places as particular places, is always in that sense temporary, uncertain, and in process.« (Massey 1995: 190)6 Trotz ihrer harten Kritik an der Essentialisierung von Orten und ›zugehörigen‹ Communities wiederholt Massey, dass Orte dauerhaft seien, nicht nur in der Gegenwart bestünden und nicht von ihrer Geschichte trennbar seien: »[P]laces stretch through time« (ebd.: 187). Sie seien nicht nur durch ihre sozialen Beziehungen in der Gegenwart charakterisiert, sondern als »constantly shifting articulations of social relations through time« zu sehen (ebd.: 188). Weiter oben wurde hierfür beispielhaft die architektonische Umgebung benannt, Massey führt als konkrete Beispiele historische Gebäude oder Straßennamen an. Somit seien Orte durch eine wechselseitige Konstitution von Vergangenheit und Gegenwart geprägt: »If the past transforms the present, helps thereby to make it, so too does the present make the past« (ebd.: 187). Es wird deutlich, dass diese Sicht auf die Genese von Orten den in Kapitel 2.2 eingeführten Grundlagen biographietheoretischen Arbeitens ähnelt. So artikuliert Gabriele Rosenthal (2004: 50) die wechselseitige Konstitution wie folgt: »Just as the past is constituted out of the present and the anticipated future, so the present arises out of the past and the future.« Masseys Überlegungen zur Konstitution eines Ortes aus der Vergangenheit und der Gegenwart bilden auch ihr Argument zur Beachtung von Erinnerungen über Orte: »[T]he past may be present in the unembodied memories of people, and in the conscious and unconscious constructions of the histories of the place.« (Massey 1995: 187) Diese Parallelen zur Biographieforschung laden dazu ein, einen Ort sowohl aus Perspektiven der Vergan6

Massey beschäftigt sich in ihren Artikeln vor allem mit Prozessen der Deutungshoheit in Großbritannien. Ihre Arbeit ist auch als Abhandlung über die Globalisierung zu lesen. Sie betont, dass einige der sozialen Beziehungen in Orten auch zu dem »beyond (the global)« führten und dieses entgrenzende Charakteristikum genauso bestimmend für die Identität eines Ortes sei. Diese Verbindungen mit anderen Orten seien jedoch generell nichts Neues, obwohl sie heute eine neue Intensität erreicht hätten. Die Identität eines Ortes werde dadurch aber nicht unausweichlich zerstört (Massey 1994).

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genheit als auch aus seiner Ausprägung in der Gegenwart zu analysieren. Das kann über die Rekonstruktion von Lebensgeschichten und Selbstpräsentationen geschehen, wenn sie auf Verortungen hin untersucht werden. Doch Masseys Arbeit zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie prozessorientiert ist und Orte als Interrelationen von vergangenen und gegenwärtigen Perspektiven sieht. Sie nimmt auch eine machtanalytische Haltung ein und stellt sich der Frage, wie unterschiedliche Machtpositionen auf Orte Einfluss gewinnen. Orte besäßen keine singuläre Identität, weil sie immer voller interner Konflikte von Akteuren mit unterschiedlichen Machtpositionen seien (Massey 1995: 188). Die Identitäten eines Ortes hingen auch damit zusammen, welche Geschichte(n) wie über einen Ort erzählt würden und welche Geschichte sich als dominant durchsetze (ebd.: 186). Damit sind wohl – obwohl Massey es nicht explizit benennt – auch Diskurse über die Vergangenheit und Gegenwart von Orten oder die sie konstituierenden Mitglieder gemeint, die die Identitäten von Orten beeinflussen und wandeln können (Rosenthal 2015b: 35-41; Kap. 6.4). Aber auch Grenzziehungen und Benennungspraktiken, so Massey (1995: 189), reflektierten Machtpositionen. Durch sie werde aktiv versucht, Orte zu ›machen‹. Dies wird in meiner Arbeit vor allem am Beispiel des erweiterten Jüdischen Viertels zu sehen sein (vgl. Kap. 8). Die für meine Forschung grundlegenden Annahmen zu Orten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Orte sind vorrangig vor Raum und Zeit. Sie werden durch ihre Mitglieder und deren soziale Interaktionen in Vergangenheit und Gegenwart konstituiert und haben die Eigenschaft, materielle und immaterielle Dinge in sich zu sammeln. Dazu gehören auch Materialität gewordene vergangene soziale Beziehungen, Erinnerungen und Geschichtskonstruktionen. Orte sind somit auch eine historische Größe, prozessual und durch Macht- und Diskursbeziehungen geprägt. Sie bieten sich an, durch die Verortungs- und Lebensgeschichten ihrer Mitglieder untersucht zu werden. So werden Orte zur Untersuchungsgröße für die sozialkonstruktivistische Biographieforschung.

3.2

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Einer Verwendung des Begriffes ›Ort‹ wurden zwei Kritikpunkte entgegengehalten: Erstens impliziere er eine erdräumliche Fokussierung und stehe, zweitens, in der Gefahr, dass mit ihm eine Annahme von gemeinschaftsähnlichen Zusammenhängen verknüpft werde. Besonders die zweite Kritik ist für meine Definition von ›WirOrten‹ in dieser Arbeit relevant. Zunächst soll aber auf die erste Kritik eingegangen werden. Der Begriff ›Ort‹, so wurde kritisch angemerkt, habe eine erd- und nahräumliche Orientierung, und dadurch bestünde die Gefahr, dass lokalisierte Gruppierun-

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gen als Gegensatz zu den tatsächlich globalisierten Kulturverhältnissen verstanden würden (Schroer/Wilde 2010: 185). Doch eine thematische Ausrichtung auf Orte muss weder als Gegenpol zu Globalisierungsannahmen noch als erdräumliche Fixierung gedacht werden, wie es Doreen Massey (1994: 156, Herv. i.O.) am Beispiel eines ›multikulturellen‹ Londoner Stadtteils beschrieben hat, den sie als Ort verstand, der gleichzeitig lokal und global ist: »There is the specificity of place which derives from the fact that each place is the focus of a distinct mixture of wider and more local social relations. There is the fact that this very mixture together in one place may produce effects which would not have happened otherwise.« Dennoch signalisiert die Betonung des Lokalen durchaus eine Zurückhaltung gegenüber einer unreflektierten Überbetonung des Globalen. Thomas Bürk (2004: 124, Herv. i.O.) schreibt in seiner Besprechung von Ulf Hannerz’ Kultur in einer vernetzten Welt: »[Hannerz] betont die tendenzielle Prägung des Lokalen von Face-to-Face-Kontakten, direkten Begegnungen und im großen und ganzen langfristigen Beziehungen und die Bedeutung, die frühe, allererste Erfahrungen des Menschen an eben diese Orten haben, die zu alltäglichen werden. […] Dies alles unterstreiche die anhaltende Bedeutung des Lokalen, das so einen Gegenpol zu den ›großen Erzählungen‹ der Globalisierung liefern würde.«

Zwar werde ich mich im Folgenden auf einen begrenzten geographischen Ort beziehen, die Altstadt von Jerusalem. Doch dieser ist stets von globalisierter Kultur durchdrungen – wie ich es zum Beispiel am Forschungsraum der aus zahlreichen Ländern kommenden und in Jerusalem platzierten Mönche (Kap. 9) verdeutliche und wie es die Diskurse über die politische und religiöse Aufladung der Stadt vermitteln. Doch es wäre leichtsinnig, wegen einer angenommenen stärkeren globalen Vernetzung den sogenannten Nahraum als weniger relevant zu konzeptionieren. Wie die phänomenologische Sicht (s.o.) betont, ist es eben auch der gelebte Körper, der Orte ausmacht (Becker et al. 2013: 261). Weiterhin gibt es den zweiten Kritikpunkt, dass die Verwendung des Begriffs ›Ort‹ in einer recht zügigen Annahme der Existenz gemeinschaftsähnlicher Zusammenhänge münde (Schroer/Wilde 2010: 185). Für die weiter oben herausgearbeiteten Komponenten einer Ortsdefinition spielte die Frage nach Gemeinschaftsbildung aber erst einmal keine Rolle. In meinem Sample finden sich sowohl Orte, in denen ein Wir-Bild deutlich vorhanden ist, als auch solche, in denen es nicht zu rekonstruieren war. So zeigte die Analyse des Forschungsraums der Mönche in Jerusalem (Kap. 9), dass weder die Grabeskirche noch das ›heilige‹ Jerusalem als Orte die Kraft haben, die Gruppierung der Mönche zusammenzuhalten und ein Wir-Bild bereitzustellen. Auch im Forschungsraum des erweiterten Jüdischen Viertels (Kap. 8) konstituiert sich kein Ort, der ein gemeinsames Wir-Bild für dessen palästinensische Bewohner/-innen bietet. Wie differenziere ich also zwischen diesen Orten und solchen, in denen ein gemeinsames Wir-Bild sehr ausgeprägt ist – in meinem

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Sample vor allem die kleine Nachbarschaft (Kap. 7) oder in manchen Fallrekonstruktionen das Familienhaus? Vor allem in der kleinen Nachbarschaft gibt es ein deutliches Wir-Bild der Bewohner/-innen, an dem sie sich orientieren oder abarbeiten. Das Wir-Bild dient ihnen zur gegenseitigen Identifikation und Versicherung, und die Selbstbeschreibung der Zugehörigkeit zur kleinen Nachbarschaft wird auch als verortende Begrifflichkeit untereinander verwendet. In Fortführung der bisherigen konzeptionellen Ausarbeitungen werde ich solche Orte als ›Wir-Orte‹ bezeichnen. Der Begriff des ›Wir-Ortes‹ trägt dem Rechnung, dass Orte gemeinschaftsähnliche Züge haben können und somit ein Wir-Bild verkörpern. Norbert Elias hat in Wandlungen der Wir-Ich-Balance (1987: 238-239) Großfamilie und Heimatort als »Brennpunkte der persönlichen Wir-Identität des einzelnen Menschen« benannt und führt in seinem Text weitere Beispiele an: »Man stellt nur eine Auslese der möglichen Wir-Bezüge vor, wenn man darauf hinweist, daß Menschen ›Wir‹ sagen können in bezug auf ihren Familien- oder Freundeskreis, auf Dörfer oder Städte, wo sie ihren Wohnsitz haben, auf nationalstaatliche Verbände, auf postnationale, also etwa auf kontinentale Verbände mehrerer Nationalstaaten und schließlich in bezug auf die Menschheit. Es ist leicht zu erkennen, daß die Intensität der Identifizierung mit diesen verschiedenen Integrationsebenen recht verschieden ist. Das Engagement, das in dem Gebrauch des Fürworts ›Wir‹ zum Ausdruck kommt, ist wohl gewöhnlich am stärksten, wenn es sich um Familie, Wohnort oder Wohngegend und um die nationalstaatliche Zugehörigkeit handelt.« (Ebd.: 270)

Mit Familie und Wohngegend nennt Elias die zwei ›Wir-Orte‹, die ich in meinem Sample rekonstruieren konnte: die kleine Nachbarschaft und das Familienhaus als korrespondierend zu Familie und Wohngegend.7 Elias selbst geht auf die Räumlichkeit, die diesen Wir-Bezügen inhärent ist, nicht ein. An dieser Stelle genügt es, in Bezug darauf auszudrücken, dass die physische und gedankliche Fokussierung auf diese Wir-Orte einerseits ein gewisses Sicherheitsbedürfnis in der ideologisch aufgeladenen Stadt Jerusalem zufriedenstellt, aber andererseits auch als Hindernis einer individuellen Lebensplanung und als verknüpft mit sozialer Kontrolle gesehen werden kann. Elias diskutiert, dass gerade in weniger entwickelten Ländern die Wir-Identität von Großfamilie und Heimatort stärker akzentuiert sei (ebd.: 238239). Für Jerusalem bilden die Wir-Orte des Familienhauses und der kleinen Nachbarschaft aber außerdem sichere Rückzugsorte angesichts der israelischen Besatzung. 7

Die nationale Zugehörigkeit ist in Jerusalem ein ständig präsentes Thema. In meinen Rekonstruktionen des Erlebens von Verortungen war sie aber weniger stark vorherrschend, als ich erwartet hatte. In meiner Typologie ist sie vor allem als Teil der symbolischen Verortung relevant (vgl. Kap. 8.2 und 10.4).

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Wieso benötigt es einen ›neuen‹ Begriff, den des Wir-Ortes? Landläufig wurde in ähnlichen Kontexten der Begriff ›Lebenswelt‹ verwendet. Doch dieser ist bei einer solchen Begriffsverwendung zu weit gefasst, da er in seiner phänomenologischen Bedeutung eigentlich als egologisches Konzept zu verstehen ist. Da jede und jeder eine Lebenswelt ›hat‹, ist der Begriff an dieser Stelle, an der es um vergemeinschaftende Tendenzen in Orten, um Orte, die ein Wir-Bild bereitstellen, geht, ungeeignet (Hitzler/Honer 1984: 56-61). Und mit dem Konzept der ›kleinen Lebenswelten‹ werden freiwillige Handlungsmuster und Teilzeitorientierungen empirisch analysiert, die sich dadurch auszeichnen, dass sie die ›eine‹ gesellschaftliche Normalität ersetzen (dies. 1988: 496-498; Honer 1994: 89). Gerade die kleine Nachbarschaft ist aber ein äußert verbindlicher, zum Teil sogar ganzheitlicher Zusammenhang und bildet keine Teilzeitperspektive und keine Sinnprovinz. Doch am ehesten muss der Begriff Wir-Ort vom lange etablierten Begriff ›Sozialraum‹ abgegrenzt werden. Bei seiner Einführung im Kontext der Studien der Chicago School als social area wurde dieser Begriff zur Untersuchung von Stadtquartieren in segregierten Städten verwendet – und zum Beispiel zur Untersuchung der Frage, warum sich Menschen gleicher Herkunft in bestimmten Stadtteilen angesiedelt haben (Hillmann 2007). Dabei wurde von fixierten geographischen Grenzen dieser Quartiere ausgegangen (Steets 2010: 277). In jüngerer Zeit wurde der Begriff ›Sozialraum‹ von Fabian Kessl und Christian Reutlinger (2010: 250) prominent als »die von den handelnden AkteurInnen permanent (re)produzierte Räumlichkeit bezeichnet. Eine Räumlichkeit, die deren Praktiken wiederum beeinflusst.« Zunächst lassen sich in diesem Konzept einige Ähnlichkeiten zu der oben eingeführten Definition von ›Orten‹ erkennen, da neben dem Fokus auf soziale Handlungen implizit eine Annahme von Prozesshaftigkeit enthalten ist. Dem Begriff ›Sozialraum‹ mangelt es aber an einer genauen Beschreibung der Zusammengehörigkeit der Mitglieder, die durch ein gemeinsames Wir-Bild geprägt sein kann. Im deutschsprachigen Kontext der Sozialen Arbeit wurde der Begriff ›Sozialraumorientierung‹ inzwischen als paradigmatisch für eine veränderte Herangehensweise an die praktische Arbeit eingeführt (Kessl/Reutlinger 2010). Er soll eine Abkehr vom Einzelfall und eine Hinwendung zum (Um-)Feld der Akteure andeuten (»vom Fall zum Feld«) (Fritsche/Lingg/Reutlinger 2010: 11). Dieser Gegensatz geht an den Prinzipien der rekonstruktiven Sozialforschung vorbei, bei der eine Analyse des Umfelds bis zu einem gewissen Grad schon immer in die Einzelfallanalyse einfließt.8

8

Belina und Michel (2007: 12) analysieren die Sozialraumorientierung zudem kritisch als staatlichen Regulierungsversuch der größer werdenden sozialräumlichen Unterschiede in Städten.

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3.3

D IE W AHRNEHMUNG

VON

O RTEN

Weiter oben wurde ausgeführt, dass Orte als prozessual und wandelbar betrachtet werden können. Doch nicht nur Orte, auch die Wahrnehmung von Orten kann sich ändern. Das werde ich kursorisch in diesem Unterkapitel beschreiben, um daraus im nachfolgenden Abschnitt 3.4 etwas über den Begriff der ›Verortung‹ abzuleiten, der mit der Wahrnehmung von Orten verknüpft ist und der wiederum für die Biographieforschung verwendbar gemacht werden soll. Die Wahrnehmung von Orten kann in deren noematische und noetische Komponenten geschieden werden. Die Unterscheidung von Noema und Noesis ist für Edmund Husserl (2009 [1913]: 202) eine von den »eigentlichen Komponenten der intentionalen Erlebnisse und ihren intentionalen Korrelaten, bzw. deren Komponenten«. Das Noema der Wahrnehmung bezeichnet das »Wahrgenommene als solches« (ebd.: 203), was Husserl auch als Wahrnehmungssinn bezeichnet, also das der Wahrnehmung Immanente, »wie es, wenn wir rein dieses Erlebnis selbst befragen, uns von ihm dargeboten wird«. Demgegenüber steht die Noesis, die intentionalen Komponenten der Wahrnehmung, worunter Husserl den Blick auf das Wahrgenommene, dessen Erfassung und das Aufeinanderbeziehen bzw. das Stellungnehmen in verschiedenen Arten und Weisen versteht (ebd.: 202-203).9 Der Ort bietet sich dementsprechend einerseits dem Wahrnehmenden dar; der Wahrnehmende wendet sich in gleicher Weise dem Ort (in strukturierender Weise) zu. Es gibt nach Husserl (1928: 382-427, nach Rosenthal 1995: 31-32) keinen strukturellen Unterschied im Wahrnehmen eines Raumdinges und eines zeitlichen Prozesses, weil eine momentane Wahrnehmung immer auf gerade erst Wahrgenommenes und auf erwartete zukünftige Wahrnehmungen verweise. Gabriele Rosenthal (ebd.) fügt hinzu: »Die visuelle Wahrnehmung eines Raumdings, die sich aus vielen einzelnen Wahrnehmungen des Hinschauens zusammensetzt, ist dabei selbst ein temporaler Akt.« Sie formuliert aber gleichzeitig einen Unterschied der Wahrnehmung von Raumdingen und von sozialen Handlungen: Ein Raumding bestehe bereits als Ganzes und könne sich materiell wieder in gleicher Form darbieten, während sich die Wahrnehmung sozialer Handlungen auf temporale Gestalten beziehe, die sich im Prozess des Entstehens befänden. Soziale Handlungen als gerichtete Prozesse seien danach nur noch in der Erinnerung zuhanden. Doch wie oben eingeführt, lassen sich Orte nicht nur als Raumdinge definieren: Sie konstituieren sich prozesshaft und als Zusammenspiel von sozialen Handlungen und Raumdingen – die somit nicht strikt unterteilt werden können.

9

Dieses Wechselverhältnis gilt nicht nur für die Wahrnehmung, sondern Husserl erwähnt auch das Verhältnis von Erinnerung und Erinnertem, Phantasie und Phantasiertem, etc. (Husserl 2009 [1913]: 210).

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Ortsnoemata Husserl – und Aron Gurwitsch in seiner Nachfolge – haben häufig Beispiele verwendet, die einen räumlichen Bezug aufweisen. Im Beispiel vom Haus wird deutlich, dass dieses als physisches Gebäude nie in Gänze wahrgenommen werden kann. Das Haus präsentiert sich mit einem sinnbildlichen Noema (was von Husserl auch als ›Appräsentation‹ bezeichnet wurde), das sich auf das noematische System ›Haus‹ bezieht, und wird durch die Noese als ›Haus‹ wahrgenommen. Die Teile sind ohne das Ganze, das noematische System, ohne Identität (Rosenthal 1995: 2830). Auch Orte sind in ihren materiellen oder nicht-materiellen Qualitäten nie in ihrer Vollständigkeit wahrnehmbar. Sie werden von einzelnen Teilen des noematischen Systems ›Ort‹ präsentiert, von denen wiederum auf den ganzen Ort geschlossen werden kann. Der Ort bietet sich mit seinen materiellen und immateriellen Objekten und den ihn mitkonstituierenden Individuen dem Wahrnehmenden dar, der Ort als Ganzes ist dann ein »konstruktiver Akt des Bewusstseins« (ebd.: 28). Nicht nur die ihn konstituierenden Individuen und Dinge sind beispielhafte Teile des Noemas eines Ortes. Auch bestimmte Handlungen können Teil eines Ortsnoemas sein. Bewohnern in einem Nachbarschaftskontext in Jerusalem präsentierten sich zum Beispiel bestimmte Handlungen nachbarschaftlicher Solidarität als die den Ort definierende Art und Weise des Zusammenlebens. Auf den Ort kann noetisch auch durch dieses Noema bzw. diese Appräsentation geschlossen werden. In dieser Arbeit werden aber auch radikale, von außen auferlegte Änderungen im geographischen und demographischen Gefüge der Altstadt aufgezeigt – zum Beispiel nach dem Krieg von 1967 im erweiterten Jüdischen Viertel (vgl. Kap. 8). Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob Orte, wie sie größere oder kleinere Nachbarschaften oder Innenhöfe etc. sein können, die sich davor für ihre Bewohner/-innen als gegeben präsentiert haben, bestehen bleiben können, auch wenn sich ihre Zusammensetzung (der Individuen oder der Dinge) grundlegend verändert hat, oder ob Orte auch aufhören zu bestehen. Gabriele Rosenthal (1995: 30-31) schreibt: »Nehmen wir von einer Gestalt etwas weg, dann bleibt sie als solche erkennbar, wenn sich in ihrem Rest bereits die Struktur des Ganzen erkennen lässt.« Die Frage ist also, ob einzelne Noemata genügen, das noematische System als solches zu präsentieren und/oder ob sich neue Orte mit neuen noematischen Systemen bilden. Im Falle des erweiterten Jüdischen Viertels ist die Frage, ob es sich um das gleiche noematische System von palästinensischen Nachbarschaften handelt, deren ›Reste‹ noch zu dessen Identifikation genügen. Ein weiteres Beispiel für diese Frage ist, wenn ein Haus, das sich für seine und die Bewohner/-innen umliegender Häuser als zuverlässig integriert in eine palästinensische Nachbarschaft dargeboten hat, von Siedlern übernommen und mit israelischen Fahnen beflaggt wird: Bleibt es dann Teil des noematischen Systems Nachbarschaft oder ändert sich die Einheit Noema-Noesis dahingehend, dass es daraus ausgeschlossen wird?

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Ortsnoesen Für mich als Forscher, der seine Sozialisationen weder in einem beengten urbanen noch in einem so prekären und aufgeladenen Raum und außerdem in einem anderen kulturellen Zusammenhang erlebt hat, bedingt das Forschen in Jerusalem eine Selbstbeobachtung und Reflektion der eigenen wechselnden noetischen Zuwendungen zu den noematischen Systemen. Die etablierte touristische Wahrnehmung der Altstadt als orientalischem Bazar oder als determiniert von religiösen Bauten und Repräsentanten, die wiederum durch dominante Diskurse über die Altstadt geprägt wird (vgl. u.a. Kap. 6.2 und 6.3), ändert sich unweigerlich bei einem längeren oder intensiveren Altstadtaufenthalt. Das wird in der phänomenologischen Tradition gerne durch Kippbilder oder das Lesen chinesischer Schriftzeichen verdeutlicht. Wenn einmal das zweite Bild oder die Bedeutung der Schriftzeichen entdeckt worden ist, dann wird diese Wahrnehmung auferlegt (Rosenthal 1995: 43-44). So auch in der Altstadt, wo diese sich verändernden Wahrnehmungen sowohl Dinge (wie materielle Objekte) als auch das soziale Alltagsleben betreffen. Erst nach einem längeren Aufenthalt in der Altstadt bieten sich zum Beispiel jüdische Siedlungen als solche dar, die auf den ersten oder zweiten Blick nicht als unterschiedlich von ihrer räumlichen Umgebung wahrgenommen wurden. Erst dann nimmt man gesicherte Türen, Gitter auf dem Dach, das auffällig-unauffällige Sicherheitspersonal und mehr oder weniger offensichtliche israelische Fahnen wahr. Es ist nicht möglich, hinter diese ›neue‹ Zuordnung zurückzugehen, als ob man sich dessen nicht bewusst sei. Dazu gehört auch die sich wandelnde Wahrnehmung, dass das erweiterte Jüdische Viertel zum großen Teil aus Neubauten besteht und nicht ›besser erhalten‹ oder ›aufgeräumter‹ ist als die restlichen Gebiete der Altstadt, wie es häufig kolportiert wird. Ein weiteres Beispiel ist die Wahrnehmung der ›typisch orientalischen‹ Märkte, die sich nach einiger Zeit als durch den Habitus unterer sozioökonomischer Schichten bestimmt herausstellen und damit als Repräsentanten des Orients ihre Gültigkeit verlieren. Für die Bewohner/-innen bleiben die Wahrnehmung der Altstadt und der von ihnen gemachten Einteilungen in Orte während ihrer Sozialisation und in ihrem alltäglichen Erleben zunächst unhinterfragt. Das Noema, das sich ihnen darbietet, wird in seiner gewissen Regelmäßigkeit auch von früheren Erfahrungen mitkonstituiert, womit die Gegenwart stets – aber normalerweise nicht im manifesten Bewusstsein – auch von der Vergangenheit konstituiert ist (ebd.: 46). Die Analyse biographischer Erfahrungen wird in diesem Kontext bereits relevant, zum Beispiel in Bezug auf die Analyse der kindlichen Umgebung, die von Biographinnen und Biographen als Vergleichsmaßstab für den Aufenthalt an weiteren Orten im späteren Leben herangezogen wird (vgl. die Falldarstellungen in Kap. 7.3 und 8.2). Aber natürlich können sich auch die Wahrnehmungen der Mitglieder eines Ortes stets reorganisieren. Entweder geschieht das durch Änderungen des noematischen Systems (s.o.) oder durch eine geänderte noetische Zuwendung zu den Orten.

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Was heute ein wirkungsvoller Bezugszusammenhang ist, kann morgen diese Kraft durch eine Reorganisation eingebüßt haben, ohne dass in der Erinnerung genau klar ist, in welcher Situation und wie diese Reorganisation geschehen ist (Rosenthal 1995: 46). Zum Beispiel kann sich die Wahrnehmung von Orten als sicher oder unsicher ändern (Becker 2009). Das heißt, dominante noematische Systeme – zum Beispiel der Nachbarschaft – ermöglichen trotz ihrer steuernden Tendenz immer auch die Möglichkeit unterschiedlicher bzw. sich wandelnder noetischer Zuwendungen. Alfred Schütz (Schütz/Luckmann 2003: 258-269) bietet eine Unterscheidung an, mit der gerade die häufig unfreiwillige Notwendigkeit von ortsbezogenen Zuwendungen in Jerusalem zum Beispiel von freiwilligen Zuwendungen unterschieden werden kann. Er unterscheidet zwischen ›auferlegter‹ thematischer Relevanz (der erzwungenen Aufmerksamkeit) und der ›motivierten‹ thematischen Relevanz (freiwilliger Zuwendung).10 Zwar bestünden zwischen beiden nur »graduelle Unterschiede« (ebd.: 265), doch zwei der vier von ihm dargestellten Hauptformen der erzwungenen Aufmerksamkeit – »Unvertrautes im Rahmen des Vertrauten« und die soziale Erzwungenheit von Aufmerksamkeit – bilden wichtige Ansatzpunkte zum Verstehen von ortsbezogenen Wahrnehmungen im biographischen Kontext in Jerusalem. Die Bewohner/-innen in der ideologisch aufgeladenen und geographisch engen Altstadt sind wiederkehrend dem neuen, »hervorstechenden Unvertrauten« (ebd.: 261) und dem Eingreifen »in einen Erfahrungsablauf« (ebd.: 262) in ihrer lebensweltlichen Umgebung ausgesetzt.

3.4

V ERORTUNGEN

ALS BIOGRAPHIETHEORETISCHE

P ERSPEKTIVE

Eine Definition von Verortung Wie im letzten Unterkapitel herausgearbeitet wurde, sind die Wahrnehmungen von Orten wandelbar und als eine Einheit von Noema und Noesis zu begreifen: Unterschiedliche Zuwendungen zu einem dominanten noematischen System, aber auch Wandlungen im noematischen System der Wahrnehmung sind möglich. Es geht also nicht nur um die Zuwendung des Subjekts zum Ort, sondern auch darum, welche Arten der Zuwendung der Ort zulässt oder ausschließt. Das bedeutet, dass sich Wahrnehmungen von Orten – und somit die Erfahrungen mit Orten – ändern können und dass Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen nicht nur bewusste Zuwendungen zum Ort sind, sondern auch durch die Art und Weise, wie sich der Ort den Subjekten darbietet, determiniert werden.11 10 Hinzu kommt noch die hypothetische Relevanz (Schütz/Luckmann 2003: 269-272). 11 Rosenthal (1995: 40) kritisiert Max Weber und Alfred Schütz, weil Letzterer »im Weberschen Rationalismusschema und in der Dominanz der Noesis befangen« geblieben sei.

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Durch die Analyse vergangener und gegenwärtiger Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erinnerungen können sich ändernde Ortsnoemata und unterschiedliche Formen der Noesis herausgearbeitet werden. Die Analyse biographischer Verläufe hilft, die Veränderlichkeit von Ortswahrnehmungen zu rekonstruieren. Anstatt solche Wahrnehmungen nur für das gegenwärtige Erleben zu erfragen und zu bestimmen, ist es angemessener, in Anlehnung an eine zentrale biographietheoretische Forderung auch Ortswahrnehmungen und -erfahrungen im Kontext der gesamten Lebensgeschichte zu interpretieren. Dazu gehört auch die Rekonstruktion der über Räume und Orte zirkulierenden Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart. Verortungen können so zunächst einmal als Aufschichtung der Erfahrungen von Orten gesehen werden, zu denen die Subjekte über kürzere oder längere Perioden ›gehören‹ und sie mitkonstituieren. Für die Verknüpfung der Raumsoziologie und der Biographieforschung gilt: »[W]e are always already in a place, never not emplaced in one way or another.« (Casey 1996: 17) Alle unsere Erlebnisse und Erinnerungen sind in Orten verortet, und Lebenserzählungen sind immer auch Verortungserzählungen. Die Erinnerungen und die Präsentationen der Erfahrungen werden aber auch von der räumlichen Sprechposition in der Gegenwart mitkonstituiert, vom Ort, in dem sie oder er ist. Mit dem Begriff der Verortung soll also herausgearbeitet werden, dass unsere Wahrnehmungen, Erlebnisse, Erinnerungen und Erzählungen nicht im ›leeren Raum‹ stattfinden, sondern stets vom jeweiligen ›dort/ damals‹ des Erlebens und dem ›hier/jetzt‹ des Präsentierens abhängig sind. Einerseits determinieren also Orte Biographien. Für Orte gilt das gleiche, was Hildenbrand et al. (1984: 30) als »biographiekonstituierende[n] Charakter sozialer Milieus« bezeichnet haben. In Bezug auf Aron Gurwitsch schreiben sie: »Das heißt, daß die Geschichtlichkeit sozialer Milieus die individuelle Biographie als Handlungsorientierung bis in die leiblichen Orientierungsleistungen hinein bestimmt.« (Ebd.) Aber andererseits begründen Akteure mit ihren Biographien Orte, wie weiter oben ausgeführt worden ist: Die Akteure sind durch ihr in Orten gelebtes Leben Teil dieser Orte. Die Konstitution von Orten und Individuen ist ein wechselseitiger Prozess. Orte werden nicht nur durch mobile und immobile Dinge konstituiert, sondern auch durch ihre Mitglieder, deren mit den Orten verbundenen Erlebnissen, Erinnerungen und Erzählungen und deren Interaktionen/Handlungen. Daher kann durch die Rekonstruktion von Lebensgeschichten und -erzählungen nicht nur etwas über die individuellen Verortungen von Menschen in Jerusalem ausgesagt werden, sondern auch etwas über die Orte, in denen sie sich verorten, und deren Geschichte. Weiter oben wurde diskutiert (vgl. Kap. 2.2), dass in der Biographieforschung die Und weiter: »Auch hinter dem in den Sozialwissenschaften so beliebten Konzept der ›subjektiven Perspektiven‹ oder der ›subjektiven Erfahrung‹ verbirgt sich nicht selten dieser Dualismus eines vom Subjekt und seiner Wahrnehmung unabhängigen Ereignisses und seines jeweils unterschiedlichen Erlebens und Erfahrens.« (Ebd.: 42)

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Kritik an der Trennung von ›objektiver‹ sozialer Realität von deren ›subjektiver‹ Wahrnehmung zentral geworden ist. Die soeben angestellten Überlegungen helfen, auch in der Raumsoziologie die Vorstellung von subjektiven Raum- oder Ortswahrnehmungen und ihnen gegenübergestellten objektiven Verhältnissen zu überwinden. Auf der Basis dieser Überlegungen möchte ich den Begriff ›Verortung‹ für diese Arbeit folgendermaßen schärfen: Verortung ist ein prozesshafter Vorgang und bezeichnet a) das ›sich verorten‹, d.h. welche Orte auf welche Art und Weise für ein Individuum biographisch in Bezug auf Wahrnehmungen, Handlungen und Deutungen relevant geworden sind, welche Bedeutungen sie diesen zuschreiben, wie diese sich verändern und wie das Individuum aus der Gegenwart darauf (zurück-)blickt. Er bezeichnet b) das ›verortet werden‹ durch die Ortsnoemata, durch die Einbindung in verschiedene Figurationen und durch Diskurse über die mit Individuen assoziierten Orte (und damit zugeschriebene Machtpositionen) – diese fordern bestimmte Weisen der Verortung heraus oder machen sie schwer umgehbar. Beide Aspekte gehen eine Wechselwirkung ein. Die erste, ›aktive‹ Komponente dieser Definition verdeutlicht dabei, warum der Terminus ›Verortungen‹ in diesem Kontext besser geeignet ist als die alternativ zur Verfügung stehenden, etwas passiveren Begrifflichkeiten ›räumliche Zugehörigkeit‹ oder ›Ortsverbundenheit‹. Methodologische Implikationen für die Analyse von Verortungen Edward Casey hat in seiner oben besprochenen, in einem ethnologischen Sammelband veröffentlichten phänomenologischen Einführung (1996) vor allem an die Methode der teilnehmenden Beobachtung gedacht. Das ist daran ersichtlich, dass er besonders den ›gelebten Körper‹ als ortskonstituierend heraushebt. Doch mithilfe teilnehmender Beobachtungen ist es kaum möglich, einen Ort und die Perspektiven seiner Mitglieder auch historisch bzw. in seiner/ihrer Genese zu rekonstruieren, zum Beispiel durch die Rekonstruktion der Erfahrungen seiner Mitglieder. Casey (ebd.: 28) geht jedoch nur andeutungsweise darauf ein, dass Orte nicht nur durch ihre Inhalte, sondern auch durch die Artikulation ihrer Inhalte konstituiert werden, dass Orte auch »denoted, described, discussed, narrated« werden können und dass Verortungen somit nicht nur die erlebte alltägliche, sondern auch die diskursive und die erzählte Verortung im Interviewprozess umfassen. Um gegenwärtige und vergangene Perspektiven auf Orte rekonstruieren zu können, habe ich teilnehmende Beobachtungen und – in zentraler Weise – biographisch-narrative Interviews eingesetzt. Während mit der ersten Methode vor allem gelebte Alltagspraktiken im teilnehmenden Nachvollzug miterlebt werden können, tragen die lebensgeschichtlichen Interviews dazu bei, sowohl einen analytischen Blick auf die Selbstpräsentationen in der Gegenwart als auch auf die erlebten Lebensgeschichten zu werfen (vgl. Kap. 4 und 10.7).

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Nach der Datenerhebung habe ich zunächst die Interviews mit biographischen Fallrekonstruktionen (Rosenthal 1995, 2008) ausgewertet. Darin werden bei der Analyse der biographischen Daten die weitgehend ›objektiven‹ Lebensdaten (Oevermann/Allert/Konau 1980) in die jeweilige gesellschaftspolitische und lokale Situation eingebettet (alle Ereignisse, die für das Individuum hypothetisch relevant werden konnten), also en passant eine gewisse Einbindung der Biographie in den räumlichen Kontext (vgl. Kap. 4.1).12 Bei der Rekonstruktion von gegenwärtigen Verortungen und von Verortungen im biographischen Verlauf gilt es, räumliche Komponenten in der Analyse manifest zu benennen und ihnen einen breiteren Stellenwert einzuräumen, um die Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit von Verortungen im biographischen Verlauf deutlich zu machen. Dazu gehören zum Beispiel die Fragen, wie man ›lernt‹, in einem Ort zu sein, und wie sich Interpretationen der sozialen und physisch-räumlichen Umgebungen ändern oder herausgefordert werden. Hierbei ist auch der Begriff der Routinisierung zentral: Es ist anzunehmen, dass durch die Sozialisation in Orten die Interpretationsspielräume der Akteure in Bezug auf diese Orte durch die Orientierung an vorhandenen sozialen Institutionen kleiner werden. Erst danach habe ich Orte in der Altstadt aus der Perspektive der Lebensgeschichten ihrer Mitglieder rekonstruiert. Diese rekonstruktive Ortsanalyse kann als Analyse eines zwischen der individuellen Biographie und der ›Gesamtgesellschaft‹ stehenden Zusammenhangs gesehen werden. Dieser durch die zumindest teilzeitliche räumliche Kopräsenz – in Häusern, Nachbarschaften, Städten oder in symbolischen Orten – hergestellte Zusammenhang wurde bislang nicht systematisch reflektiert. Besonders relevant ist in diesem Kontext die Frage nach der Bildung von Nachbarschaften, die im Fall von Jerusalem langfristige und familienähnliche Bindungen herstellen können und generationenübergreifend wirken (vgl. Kap. 6.1, 7 und 10.7.3). Im Rahmen der Rekonstruktionen wurde deutlich, dass sich nicht jedes Mitglied eines bestimmten Ortes diesem in gleicher oder ähnlicher Weise verortend zuwendet: Nicht alle Mitglieder eines Ortes haben die gleichen Verortungen, und Verortungen können sich im Laufe der Zeit ändern. Das lädt dazu ein, die Vielschichtigkeit von Orten, die durch ihre Mitglieder konstituiert werden, herauszuarbeiten: 12 In der biographietheoretischen Literatur finden sich trotz ihrer Fokussierung auf die zeitliche Genese viele Begriffe, die einen implizit räumlichen Charakter haben, zum Beispiel Rahmung und Rahmen, Feld, (Handlungs- und Deutungs-)Muster. Eine Biographie kann durch einen Fokus auf die räumliche Verortung charakterisiert sein: Manche lässt ihr Herkunftsdorf nie los, andere erinnern sich ständig an einen bestimmten Ort. In biographischen Erzählungen wird zum Beispiel gesagt: Dann mache ich mal mit (Ortsbegriff z.B. England) weiter – das heißt, eine biographische Periode wird über den determinierenden Ort eingeführt.

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»[Places] define themselves and their inhabitants as ›different from‹, although this is not to deny the multiple senses and meanings of place constructed by the co-inhabitants of any place. The meaning of place varies depending on the age, class, gender, status and point of view of its occupants, but nevertheless boundaries and exclusion are essential characteristics of place formation.« (McDowell 1997: 2)

Biographische Fallrekonstruktionen bilden somit ein Korrektiv für die bzw. sind eine Hilfe zur Vermeidung von essentialistischen Setzungen von Räumen und Orten und einer damit einhergehenden Zuschreibung von einheitlichen Handlungs- und Erinnerungspraktiken ihrer Mitglieder. Die Verortung in einem Ort bedeutet keine exklusive Bindung; Akteure können sich parallel an mehr als einem Ort verorten – im Falle der Altstadt heißt das: sowohl innerhalb als auch jenseits der Altstadt, sowohl im regionalen Umfeld als auch auf einem globalen Level.13 Dabei gilt es aber immer, die Interpretationen der Akteure in Bezug auf Räume und Orte zu rekonstruieren und ihre Alltagskonstruktionen gelten zu lassen (zum Beispiel, ob sie in ihren Selbstbeschreibungen eher ein Containerraum- oder ein relatives Raummodell verwenden). Auch wenn weiter oben eine bestimmte soziologische Definition von Orten hergeleitet wurde, ist es für die Analyse der empirischen Erhebungen wichtig, diese Erklärungen einzuklammern. Das Ziel einer Kombination aus Biographieforschung und Raumsoziologie kann von den beiden – verkürzt ausgedrückt – jüngeren Polen der deutschen Stadtsoziologie abgegrenzt werden: Es geht mir weder um die Rekonstruktion eines ›Jerusalem-Images‹, also um die ›Eigenlogik‹ oder eigene Gestalt dieser Stadt (Berking/Löw 2008), noch darum, die Altstadt als ›Abbild‹ der palästinensischen Gesellschaft zu lesen, also in der Tradition einer Stadtsoziologie, die in Städten immer eine Widerspiegelung gesamtgesellschaftlicher Zustände sieht (z.B. Belina/Michel 2007). Die vorliegenden Analysen von Verortungen und Orten sollen vielmehr zum Verständnis der komplexen Jerusalemer Altstadt beitragen, für das mehr benötigt wird als statistische Analysen der Lebensbedingungen in der Altstadt oder sich wiederholende Top-Down-Analysen der politischen oder religiösen Relevanz der Altstadt. Es gilt vielmehr, durch Betrachtung von alltäglichen Verortungen die essentialisierenden Diskurse über den ›heiligen‹ oder ›umkämpften‹ Ort kritisch zu hinterfragen (vgl. Kap. 6.5). Der biographietheoretische Zugang zu städtischen Räumen ermöglicht es gerade durch die Rekonstruktion von Einzelfällen, sowohl etwas über die Spezifik Jerusalems als auch etwas über die palästinensische Gesellschaft herauszuarbeiten.

13 Gerade Palästinenser/-innen sind sich durch die Vertreibungen, durch Auswanderung und internationales Engagement ihrer die Grenzen der Altstadt übersteigenden Wirkung und Reichweite, aber auch ihrer räumlichen Beschränkungen bewusst.

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3.5

D ER F ORSCHUNGSPROZESS : V ON F ORSCHUNGSRÄUMEN ZU V ERORTUNGEN

Während ich im vorigen Unterkapitel darauf eingegangen bin, wie in der Datenanalyse Verortungen und Orte rekonstruiert werden können, gehe ich in diesem Abschnitt auf den gesamten Forschungsprozess von Erhebung und Auswertung ein und lege einen Schwerpunkt auf die dafür nötige charakteristische Samplebildung. Wie man Verortungen empirisch untersuchen kann, dafür legen keine der vorgenannten Forscher/-innen wie Casey (1996), Massey (1994, 1995, 1999, 2002), McDowell (1997) oder Taylor (1999) und andere konkrete Vorschläge vor. Auch im deutschen soziologischen Kontext wurde immer wieder beklagt, dass die neue Welle raumsoziologischer Theoriebildung selten empirisch umgesetzt und ausgearbeitet wurde (Herrmann 2010: 18) und dass die Theorien meistens Selbstzweck blieben. Wie bereits eingeführt, mangelt es vor allem an expliziten Verknüpfungen der Raum- und Stadtsoziologie und der Biographieforschung (vgl. Kap. 2.1). In diesem Abschnitt stelle ich dar, wie ich auf Basis der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1967) mit dieser Herausforderung umgegangen bin. Für mich hat sich als das dringlichste Problem eine mögliche Zirkelbildung herausgestellt: Wie definiere ich Orte, in denen sich die Akteure verorten, ohne dass ich diese von Beginn an festsetze und somit durch meine Forschung nur bestätige? Wie kann ich also Orte aufgrund der Selbstdefinitionen der Bewohner/-innen identifizieren, ohne daraus sogleich bestimmte Annahmen über ihre Verortungen abzuleiten? Auch Heike Herrmann (2010: 17) hat dieses Problem thematisiert, nämlich die Gefahr, »BewohnerInnen eines bestimmten Quartiers, Stadtteils, Gebietes oder einer Straße als homogene Gruppe aufgrund ihres Wohnorts« zu sehen. Dabei würde die größere Diversität der Gruppe nicht reflektiert und gerade die Stimmen von solchen Menschen überhört, die sich zum Beispiel nicht über das Quartier oder die Straße definieren. Das Problem hieran sei, dass ein solcher ›Geodeterminismus‹ den Ort als Erklärung für eine gewisse Art und Weise des sozialen Handelns ansehe (ebd.: 19-20). Diesem Problem bin ich auf Basis einer zweistufigen, theoretischen ›räumlichen‹ Samplebildung (Glaser/Strauss 1967: 45-77) und durch die heuristische Trennung von Forschungsräumen und Einzelfallanalyse begegnet. Erstes Sample Ich habe die Forschung als Prozess begriffen, der zur Entdeckung von Theorien führen soll (ebd.: 9). Daher war – jenseits der Entscheidungen zum Forschungsinteresse und zu einer vagen Forschungsfrage, nämlich die nach räumlichen Orientierungen der Einwohner/-innen – die Datenerhebung nicht im Voraus geplant, sondern weitgehend von den Entdeckungen im Feld gelenkt (ebd.: 45-47). Zu Beginn meiner empirischen Arbeit habe ich im Herbst 2010 und im Frühjahr 2011 mit

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Menschen mit sehr verschiedenen Hintergründen und Positionen biographischnarrative Interviews (Schütze 1977, 1983) und ethnographische Interviews (Spradley 2003) geführt sowie in verschiedenen Umgebungen teilnehmend beobachtet (Hirschauer 2002; Hammersley/Atkinson 2007; Rosenthal 2008: 106-107) und dabei die in der Literatur vorhandenen Annahmen zur Kategorisierung der Altstadt eingeklammert (Glaser/Strauss 1967: 37, zu diesen Annahmen vgl. Kap. 6.2 und 6.5). Ich interviewte muslimische und christliche Palästinenser/-innen, jüdische Israelis, Besucher/-innen und Pilger/-innen, Mönche, Händler/-innen, aber auch aus der Altstadt Verzogene. Daneben begann ich im Frühjahr 2011 mit einer lang anhaltenden teilnehmenden Beobachtung14 in einem kleinen Lebensmittelladen in einem der Wohnquartiere der Altstadt. Die empirischen Daten aus dieser Erhebungsphase bilden das erste Sample (Rosenthal 2008: 94-96). In dieser Forschungsphase wurde deutlich, dass eine weitere Fokussierung der Erhebung nicht nur aufgrund der angestrebten theoretischen Samplebildung notwendig ist, zu vielfältig und zu komplex sind die Figurationen verschiedener Gruppierungen in der eigentlich recht kleinen Altstadt, und deren Rekonstruktion wäre eine nicht zu leistende Aufgabe gewesen. Zudem wurde klarer, dass die Bewohner/ -innen verschiedene räumliche und soziale Unterteilungen und Kategorisierungen in der Altstadt vornahmen. Das Forschungsfeld bot damit von sich aus an, einige von diesen im Rahmen eines zweiten räumlichen Samples weiterzuverfolgen, und das steht auch in Einklang mit den Vorschlägen der Grounded Theory zur Sampleentwicklung: »Theoretical sampling, though, does not require the fullest possible coverage on the whole group except at the very beginning of research, when the main categories are emerging – and these tend to emerge very fast.« (Glaser/Strauss 1967: 69) Zweites Sample Dementsprechend stellte sich die praktische Frage, wie ich dieses Sample eingrenzen kann: »In short, how does the sociologist select multiple comparison groups? The possibilities of multiple comparisons are infinite, and so groups must be chosen according to theoretical criteria.« (Ebd.: 47) Ich habe die Daten des ersten Samples zunächst globalanalytisch (Rosenthal 2008: 92-94) daraufhin ausgewertet, welche räumlichen Referenzpunkte und Selbstbeschreibungen die Interaktionspartner/ -innen gewählt haben. Dazu gehörte etwa, was sie gegenüber mir oder anderen als ihre Zugehörigkeit manifest angaben (Jerusalem, Altstadt, eine Nachbarschaft, eine Religionszugehörigkeit oder ethnische oder nationale Zugehörigkeit), welche anderen Kategorisierungen sie im Altstadtraum vornahmen, welche historischen Bezüge

14 Zur genaueren Charakterisierung von lang anhaltenden Beobachtungen und fokussierten Beobachtungen vgl. Kap. 4.2.

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gewählt wurden und welche anderen Gruppierungen in der Altstadt von ihnen identifiziert und als positive oder negative Bezugspunkte genannt wurden. Aufgrund dieser ersten Analyse der bis dahin erhobenen Daten habe ich auf Basis von maximalen Kontrasten heuristisch drei (vieler theoretisch möglicher) ›Forschungsräume‹ gebildet und andere räumliche Zusammenhänge für die weiteren Erhebungen verworfen. Dabei ging es um die »theoretische Relevanz« (Glaser/Strauss 1967: 49) der Forschungsräume und nicht darum, sie nach politischer oder religiöser Relevanz zu bewerten. Das heißt, die Räume sind von den Akteuren im Feld in den empirischen Erhebungen ›vorgeschlagen‹ und von mir entworfen worden – die Grounded Theory (ebd.: 107) spricht von Kategorien »that [the sociologist] has constructed himself […]; and those that have been abstracted from the language of the research situation«. Dass diese Forschungsräume auch eine Konstruktionsleistung des Forschers sind, haben Glaser und Strauss (ebd.: 52) explizit vorgesehen, nämlich »[to] usefully create groups, provided [the sociologist] keeps in mind that they are an artifact of his research design, and so does not start assuming in his analysis that they have properties possessed by a natural group«. Das zweite Sample besteht konkret aus 1) einer kleinen, muslimisch geprägten Nachbarschaft, 2) den palästinensischen Bewohnerinnen und Bewohnern des erweiterten Jüdischen Viertels sowie 3) den aus vielen verschiedenen Ländern stammenden Mönchen in der Altstadt. Auf die Auswahl, Konstruktion und die Charakterisierung dieser Forschungsräume werde ich im folgenden Unterkapitel 3.6 genauer eingehen. In diesen Forschungsräumen habe ich während weiterer Feldaufenthalte gezielt weitere empirische Daten erhoben, biographisch-narrative Interviews geführt und teilnehmend beobachtet sowie die historischen Hintergründe recherchiert. Die Zahl der erhobenen Daten sowie die Intensität der teilnehmenden Beobachtungen haben dabei je nach Forschungsraum differiert. Diese ›Unregelmäßigkeiten‹ werden im Forschungsablauf der Grounded Theory nicht als ›problematisch‹ empfunden, da selbst Einzelfälle bereits eine allgemeine Kategorie andeuten können (ebd.: 30). Es gilt vielmehr als relevanter, der Struktur der Gruppe bzw. des Forschungsraums gerecht zu werden: »Clearly, to succeed [the sociologist] must be flexible in his methods and in his means for collecting data from group to group.« (Ebd.: 65-66) Anschließend habe ich Interviews und teilnehmende Beobachtungen aus den jeweiligen Forschungsräumen auf Basis von biographischen Fallrekonstruktionen (Rosenthal 1995, 2008) bzw. Beobachtungsauswertungen (Hammersley/Atkinson 2007; Rosenthal 2008: 116-123) analysiert und gefragt, welche Verortungen in den Daten rekonstruierbar sind und welche besonders relevant sind. Aufbauend darauf versuchte ich, festzustellen, welche die Verortungsorte in den jeweiligen Forschungsräumen sind und ob dort auch Wir-Orte konstituiert werden. Wie bereits im vorigen Unterkapitel ausgeführt, hat es sich als sehr wichtig erwiesen, dass Fallrekonstruktionen und Verallgemeinerungen zunächst nicht auf Ebene der Forschungsräume selbst, sondern auf Ebene der in diesen Forschungsräumen erhobenen Daten

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(Interviews, Beobachtungen) erfolgt sind – dass also Verortungen zunächst am Einzelfall rekonstruiert wurden. Das war der Schlüssel zur Durchbrechung der oben eingeführten Zirkelbildung (Wie kann ich im Zuge einer Forschung, die am Prinzip der Offenheit orientiert ist, die Verortungen identifizieren, die für Akteure relevant sind, ohne von vorneherein bestimmte räumliche Kategorien zu bilden?). Auf diese Weise konnte ich verschiedene Orte und verschiedene Weisen der Verortung in den jeweiligen Forschungsräumen rekonstruieren bzw. Verortungen, die in mehreren Forschungsräumen vorkamen und daher nicht ›exklusiv‹ zu einem Forschungsraum gehörten. Doch in der anschließenden Zusammenschau der Fallrekonstruktionen und beim Vergleich der drei Forschungsräume haben sich auch Unterschiede und Ähnlichkeiten der einzelnen Forschungsräume herausgestellt. Das heißt, ich habe in einem weiteren Analyseschritt versucht, dominante Verortungen in den Forschungsräumen zu rekonstruieren und dadurch auch überprüft, ob sich meine Konstruktion von Forschungsräumen als tatsächlich relevante Kategorisierung, zum Beispiel als Ort oder Wir-Ort, bestätigt hat. Dabei haben sich die Analysen der Interviews und Beobachtungen einerseits und der Forschungsräume andererseits wechselseitig ergänzt: Die Fallrekonstruktionen lieferten Material für die Charakterisierung der Forschungsräume und die weitergehende Recherche zu den Forschungsräumen wiederum Material für die biographischen Fallrekonstruktionen. Die von mir (re-)konstruierten Forschungsräume stehen somit einerseits bereits als Forschungsergebnis selbst: Sie sind als beispielhafte Übung zu lesen, dass es eben nicht genügt, das Zusammenleben in Städten anhand statischer Kriterien zu beschreiben – im Falle des dominanten Diskurses über Jerusalem durch die Zerschneidung des geographischen Raumes in vier ethno-religiöse Viertel (Kap. 6.2) oder durch noch so genaue statistische Erhebungen des Zusammenlebens (Kap. 6.6). Das zeigt auf, dass das Vorgehen nach der Grounded Theory geholfen hat, auch die sozialen und historischen Zusammenhänge zu rekonstruieren, die in einem gröberen Forschungsschema nicht erfasst worden wären: Räume und Orte, die wenig formal institutionalisiert sind, die keine genauen Grenzen haben, deren Prozesse der Einbeziehung und des Ausschlusses nicht einfach nachvollziehbar und vielleicht sogar unscharf sind und die trotzdem Teil davon sind, wie Menschen in der Altstadt den materiellen, spirituellen und politischen Dimensionen Bedeutung zuweisen. Andererseits haben sich die Forschungsräume als hervorragende Basis für weitergehende soziologische Überlegungen erwiesen, zum Beispiel zu den Themen, wie sich kollektive Zugehörigkeiten reproduzieren und verändern (u.a. ›historische Generationen‹ [Kap. 7.2.4]), wie sich Verortungen wandeln, wenn sich Ortsdefinitionen verändern (Kap. 8.1), oder in welchem Verhältnis soziale Institutionen wie Familie und Nachbarschaft zueinander stehen (Kap. 10.7.3).

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3.6

V ORSTELLUNG DER F ORSCHUNGSRÄUME : K LEINE N ACHBARSCHAFT , P ALÄSTINENSER /- INNEN IM ERWEITERTEN J ÜDISCHEN V IERTEL , M ÖNCHE IN DER ALTSTADT

Die kleine Nachbarschaft (Kap. 7) Bei meinem zweiten längeren Feldaufenthalt 2011 begann ich, regelmäßig einen kleinen Lebensmittelladen in der Altstadt zu besuchen, weil der Besitzer, mit dem ich gemeinsame Bekannte habe, mir angeboten hatte, mit mir mein Arabisch zu verbessern. Ich rahmte meine Besuche dort verstärkt als lang anhaltende teilnehmende Beobachtung. Zunächst begriff ich den Lebensmittelladen als Teil einer in der arabischen Literatur als historisch-traditionell bekannten Jerusalemer Nachbarschaft (ḥāra), deren Grenzen weitgehend festgelegt sind. Bald wurde aber an den Interaktionen ersichtlich, dass dieser Laden das Zentrum eines kleineren, sehr engen nachbarschaftlichen Zusammenhanges ist, und diese kleine Nachbarschaft wurde mir gegenüber auch manifest als Zugehörigkeit benannt. Daher engte ich den Forschungsraum nochmals vom ḥāra auf diese kleine Nachbarschaft in der Umgebung des Ladens ein, weil sie sich als viel relevanter für das Alltagsleben und die Verortungen der Bewohner/-innen erwiesen hat. In der kleinen Nachbarschaft führte ich insgesamt elf biographisch-narrative Interviews, dazu kam eine lang anhaltende teilnehmende Beobachtung im Lebensmittelladen. Sowohl die einstweilige Definition des Forschungsraums als traditionelles arabisches ḥāra als auch dessen darauffolgende Einengung auf die kleine Nachbarschaft habe ich deswegen gewählt, weil beide Zusammenhänge nicht der im ›westlichen‹ und israelischen Diskurs üblichen Repräsentation der Jerusalemer Altstadt als unterteilt in vier nach Religion und Ethnie geordnete und abgrenzbare Viertel (Christliches Viertel, Jüdisches Viertel, Muslimisches Viertel, Armenisches Viertel) entsprachen und sie deswegen mein theoretisches Interesse hervorriefen. Die Vorstellung der vier Viertel wurde – wie die historische Recherche (vgl. Kap. 6.2) verdeutlicht – von westlichen Reisenden und später von der britischen Mandats- und der israelischen Besatzungsmacht forciert. Sie wird in israelischen, ›westlichen‹ und sogar palästinensischen Publikationen als ›natürliche‹ Aufteilung präsentiert. Dadurch wird historische Konstanz suggeriert und ein wichtiges diskursives Bild über Jerusalem geprägt: Das einer Stadt, in der die monotheistischen Religionen friedlich nebeneinander wohnen. Meine Forschungen in der kleinen Nachbarschaft haben demgegenüber aufgezeigt, dass die palästinensischen Einwohner/-innen die Aufteilung der Jerusalemer Altstadt anders wahrnehmen und alltagspraktisch ausleben, als jenes diskursive Bild suggeriert (vgl. insbesondere Kap. 7.2.2). Im Gegensatz zu den vier Vierteln lassen sich die Grenzen der kleinen Nachbarschaft nicht genau festlegen, auch die Bewoh-

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ner/-innen sind sich darüber nicht ganz klar. Die Nachbarschaftsdefinition bezieht sich nicht auf einen geographisch exakt eingeteilten Raum, also einen Containerraum, sondern ist flexibel bzw. relativ und eher an der Einbindung bestimmter Personen in einem sehr vage bestimmten geographischen Bereich orientiert. In gleicher Weise können Familien, die zentral in dieser geographisch nur ungefähr definierten Nachbarschaft wohnen – wie zum Beispiel jüdische Siedler/-innen – zumindest teilweise ausgeschlossen werden. Auch die Zahl der Bewohner/-innen, die in gegenüber mir gemachten Angaben zwischen 500 und 1.000 schwankte, ist nicht genau festgelegt. Zwar ist die kleine Nachbarschaft muslimisch geprägt, es gibt aber einen deutlich wahrnehmbaren Anteil christlicher Familien. Im Lebensmittelladen als einem Zentrum dieser kleinen Nachbarschaft – er wird von einem Mitglied einer einflussreichen Familie betrieben und liegt recht zentral in der Straße, die ungefähr die kleine Nachbarschaft ausmacht – und in den biographisch-narrativen Interviews konnte diese abweichende Stadtaufteilung und Selbstdefinition vieler Bewohner/ -innen nachvollzogen werden. Das Nachbarschaftsleben wird durch wahrgenommene lebens- und familiengeschichtliche Homogenitäten bestimmt, durch das Vorherrschen von Face-to-Face-Interaktion und durch Erzeugung einer nahezu als familial wahrgenommenen Verbindung der Nachbarinnen und Nachbarn. Zudem überschaut bzw. kontrolliert eine einflussreiche Familie das nachbarschaftliche Miteinander bis zu einem gewissen Grad. Die kleine Nachbarschaft trägt für ihre Bewohner/-innen gemeinschaftsähnliche Züge und kann als ein Wir-Ort begriffen werden. Das Wir-Bild beruht auf der täglichen Interaktion, dem internen Diskurs über den engen Charakter der kleinen Nachbarschaft und die Traditionen sowie auf dem gemeinsamen Erleben der häufig widrigen Lebensbedingungen in der Altstadt. Für die Bewohner/-innen stellt die Verortung in der kleinen Nachbarschaft die Basis für ein Gefühl von Sicherheit in einem politisch und rechtlich sehr unsicheren Umfeld dar. Jedoch gehen mit der Verortung in dieser kleinen, ›sicheren‹ Nachbarschaft eine starke soziale Kontrolle und ein erheblicher Druck einher, dem Wir-Ort und den wahrgenommenen ›Traditionen‹ eines sozial-konservativen und primär muslimisch geprägten Lebens und der nachbarschaftlichen Solidarität treu zu bleiben. Die Rekonstruktionen der empirischen Erhebungen in der kleinen Nachbarschaft haben aufgezeigt, wie stark die Identifikation mit diesem Wir-Ort sein kann und wie dominant diese Verortung ist. Trotzdem wurde gerade in den biographisch-narrativen Interviews deutlich, dass diese Tendenz zur Vergemeinschaftung und Verortung im Wir-Ort nicht von allen getragen wird. Stattdessen verorten sich Einwohner/-innen der kleinen Nachbarschaft auch im Haus der Familie oder in einem symbolischen Jerusalem. Manche streben vor allem danach, die Altstadt teilzeitlich zu verlassen.

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Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel (Kap. 8) Der zweite Forschungsraum konstituiert sich aus Palästinenserinnen und Palästinensern (Muslime und Christen), die in Überresten ehemaliger palästinensischer Nachbarschaften wohnen, die nach der israelischen Eroberung der Altstadt 1967 zerstört wurden und deren Fläche dem erweiterten Jüdischen Viertel zugeschlagen wurde. Administrativ ist die Grenze des erweiterten Jüdischen Viertels in der Gegenwart geographisch genau definiert – also ein ›Containerraum‹. Dadurch ist die Zahl der palästinensischen Bewohner/-innen (im Gegensatz zur kleinen Nachbarschaft) auf ungefähr 500 Personen recht genau festlegbar. Wie in anderen Gebieten der Altstadt noch heute war das erweiterte Jüdische Viertel vor 1967 in Nachbarschaften unterteilt, deren genaue geographische Begrenzung oftmals in der Schwebe blieb, die aber das Selbstbild der Bewohner/ -innen stark geprägt haben. Vor 1948 war eine dieser Nachbarschaften stark jüdisch geprägt (und wurde auch Ḥārat al-Yahūd [Jüdisches Viertel] genannt, es wurde nach 1948 zerstört), andere waren stärker gemischt oder muslimisch oder christlich geprägt. Die meist arme Bevölkerung war also ethno-religiös recht heterogen. Die palästinensischen Einwohner/-innen, die vor Beginn der israelischen Besatzung im Jahr 1967 in diesen Nachbarschaften und im damaligen Jüdischen Viertel gewohnt hatten (also der Fläche, die heute das erweiterte Jüdische Viertel ausmacht), wurden nach 1967 größtenteils vertrieben oder enteignet. Seit Ende der 1970er Jahre ist der Zuzug in das erweiterte Jüdische Viertel de facto Jüdinnen und Juden vorbehalten.15 Das erweiterte Jüdische Viertel, dessen nun festgelegte Größe auf das Drei- bis Sechsfache des vorherigen Jüdischen Viertels geschätzt wird, ist somit eine stark politisch motivierte Konstruktion. Das ist auch daran zu ersehen, dass die meisten alten (auch die von Juden erbauten) Gebäude einem nach europäischen Bauprinzipien gestalteten, lediglich mit historisierenden Elementen im lokalen Stil arbeitenden Masterplan weichen mussten. In diesem Forschungsraum habe ich acht palästinensische Einwohner/-innen interviewt und mehrere fokussierte Beobachtungen durchgeführt.16 Mich hat darin vor allem die Konstellation herausgefordert, dass es um einen Zusammenhang geht, in dem radikale, von außen auferlegte Änderungen der räumlichen Definitionen stattgefunden haben. Damit ist es ein maximal kontrastiver Forschungsraum zur kleinen Nachbarschaft. Dies ist wiederum verbunden mit der Frage, was dies für die dort noch lebenden Palästinenser/-innen und ihre Verortungen bedeutet. Auch für diesen 15 Zur komplizierten Rechtslage vgl. Kap. 08.1. 16 Ich habe zu Beginn meiner Feldforschung versucht, auch Interviews mit Jüdinnen und Juden in der Altstadt und besonders im erweiterten Jüdischen Viertel zu führen. Es war ausgesprochen kompliziert, jüdische Bewohner/-innen zu finden, die zu einem Gespräch bereit waren. Auch die wenigen Interviews selbst gestalteten sich schwierig. Auf diese Schwierigkeiten gehe ich in Kap. 4.3 genauer ein.

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Forschungsraum sollen einige während des Forschungsprozesses herausgearbeitete Ergebnisse kurz angerissen werden: Die numerische Minderheitenposition der zurückbleibenden Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel ist auch wegen ihrer geringen Machtchancen mit einer Außenseiterposition in der Figuration mit den im Viertel wohnenden Jüdinnen und Juden und den israelischen Institutionen (Stadtverwaltung, israelischer Staat) verknüpft. Durch den explizit vertretenen jüdisch-israelischen Anspruch auf das ganze Gebiet des erweiterten Jüdischen Viertels sind die Palästinenser/-innen zusätzlich Anfeindungen durch die Bewohner/ -innen des Viertels ausgesetzt, die fordern, dass sie ihre Häuser verkaufen. Auf der anderen Seite stehen von der palästinensischen Gesellschaft herangetragene Forderungen, als Form des nationalen Widerstands den palästinensischen Besitz mit aller Kraft zu halten. Dazu kommt die Verinselung der verbliebenen palästinensischen Anwesen in der Altstadt. Hieraus resultiert eine von mir analysierte gestiegene Relevanz der Verortung im Familienhaus sowie der Verortung in einem symbolischen Jerusalem, mit der die Interviewten versuchen, ihre prekäre individuelle Situation und räumliche Position herzuleiten und zu bearbeiten. Das heißt, es gibt kein funktionierendes Nachbarschaftsleben der ›Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel‹, wenige Face-to-Face-Interaktionen, kein geteiltes Alltagsleben und somit keinen auf einem gemeinsamen Wir-Bild beruhenden Wir-Ort. So konnte in der Erhebung der empirischen Daten und durch die historischen Recherchen festgestellt werden, dass sich die Deutungshoheit des jüdisch-israelischen Anspruchs auf den geographischen Raum des erweiterten Jüdischen Viertels im Verlauf der vergangenen 50 Jahre weitgehend durchgesetzt hat – bis hinein in die palästinensische Gesellschaft. Die meisten Interviewpartner/-innen in der Altstadt und selbst im erweiterten Jüdischen Viertel griffen zum Beispiel nicht auf die vor 1967 gebräuchlichen Nachbarschaftsbezeichnungen in diesem Gebiet zurück, sondern verwendeten bis auf wenige Ausnahmen selbst den ›neuen‹ Begriff ›Jüdisches Viertel‹. Das war ein weiteres Ergebnis, das im Forschungsprozess über diesen räumlichen Zusammenhang deutlich wurde: die Inkongruenz zwischen Selbstbezeichnungen und historischem Hintergrund. Namen und Existenz der und das Wissen über die arabischen Nachbarschaften sind weitgehend in Vergessenheit geraten und bilden keinen Teil des palästinensischen kollektiven Gedächtnisses in Jerusalem (und das trägt zum mangelnden Wir-Bild bei). Eine Ausnahme davon ist das Ḥārat al-Maġāriba (Marokkanisches Viertel), das direkt neben der Klagemauer lag. Dessen spektakuläre Zerstörung in den Tagen nach dem Krieg von 1967 hat sich im kollektiven Gedächtnis verankert.

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Mönche in der Altstadt (Kap. 9) Der dritte Forschungsraum setzt sich aus den aus vielen Ländern stammenden Mönchen zusammen, die in der Jerusalemer Altstadt wohnen. Es gibt dort wohl mehrere hundert Mönche der verschiedenen christlichen Denominationen. Ich definierte diesen Forschungsraum aus mehreren Gründen: Die Mönche wurden in den Fremddefinitionen der palästinensischen Bewohner/-innen immer wieder erwähnt und tauchten somit als von außen definierte Gruppierung auf. Für mich wurde diese Gruppierung zunehmend wichtig, um einer essentialisierenden Herangehensweise an den Altstadtraum zu entgehen, also zum Beispiel um nicht nur auf Einwohner/ -innen einzugehen, die dort bereits ihr Leben lang gelebt haben und dies als ›natürlich‹ anzunehmen. Die Rekonstruktionen der Interviews mit Mönchen können zur Diskussion beitragen, was es heißt zu lernen, Teil eines Ortes zu werden, wie man sich selbst dort verortet und inwieweit man gezwungen ist, die vorherrschenden Interpretationsmuster zu übernehmen. Schließlich war es auch die von Martina Löw (2001: 51) prägnant formulierte Kritik daran, Räume nur als geographischen Zusammenhang zu sehen, die mich zur Bildung dieses Forschungsraums motivierte. Sie fragt: »Warum ist das Netzwerk einer Gemeinschaft über verschiedene Stadtteile hinweg kein Raum?« Ich habe sieben biographisch-narrative Interviews mit Mönchen in der Altstadt und an verschiedenen Orten fokussierte teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Meine Interviewpartner wohnen seit zwischen zehn und 35 Jahren in Jerusalem. Als Mitglieder ihrer Orden und Teil der Kirchenhierarchie sind sie in ein komplexes Netz von mächtigen, stark hierarchisch organisierten Institutionen eingebunden, die die meisten ihrer biographisch relevanten Entscheidungen treffen oder sie zumindest absegnen müssen. Ich spreche mit Lewis A. Coser (1974) von ›besitzergreifenden Institutionen‹ (›greedy institutions‹). Um auch hier einige Beobachtungen aus den empirischen Daten und Ergebnisse der Analyse bereits anzudeuten: Ich war sehr überrascht, dass sich von Beginn an abzeichnete und später in den Analysen weiter bestätigte, dass sich die Bindung eines relevanten Teils der Mönche zur Jerusalemer Altstadt (z.B. zu den ihnen als heilig geltenden Orten, zu den Mitbrüdern anderer christlicher Denominationen und den ihnen zugeordneten Laiencommunities) als weit weniger eng und leidenschaftlich erwies, als ich erwartet hatte. Mehr oder weniger latent wurde bei vielen von ihnen der Wunsch deutlich, Jerusalem wieder zu verlassen. Die Gründe hierfür waren Heimweh, die als bedrückend oder unsicher wahrgenommene politische Lage in Jerusalem, eine kosmopolitische Ausrichtung oder die Annahme, dass ihre Platzierung in Jerusalem eine Karrieresackgasse bedeute. Die Mönche müssen Obrigkeitsentscheidungen akzeptieren. Ihre Erfahrungen der Verortung in Jerusalem waren davon abhängig, ob es ihr Wunsch war, nach Jerusalem zu kommen oder nicht – es war nie ihre Entscheidung, aber wenn die Kirchenhierarchie ihre Wünsche mit der Platzierung in Jerusalem erfüllte, dann waren sie vergleichsweise glücklich. Da die Mönche eine von außen wahrgenommene Position als Repräsentanten ihrer Orden

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und Kirchen in Jerusalem haben, entwickelten diejenigen, die mit ihrer Platzierung unzufrieden sind, für die Außenpräsentation sinnfällige Argumentationen über eine spirituelle, symbolische Verortung in Jerusalem, die ihnen eingeübt über die Lippen kamen. Diese standen aber im Gegensatz zu ihrem meist geringen Interesse an urbanen Prozessen, die außerhalb der Kirchenmauern stattfinden. Vielmehr war die räumliche Umgebung der eigenen Denomination – also die eigene Kirche und das Ordenshaus –, die häufig zusätzlich von einer ›Kultur‹ oder ›Ethnie‹ geprägt ist, wichtiger als die ökumenische Zusammenarbeit und das soziale Miteinander in der ›christlichen Altstadt‹. Es gibt zwar geographisch-räumliche Berührungspunkte wie der Ort der Grabeskirche (die die Stelle der Kreuzigung und die des Grabes Jesu umfassen soll). Dort hat aber der Austausch zwischen den Mönchen unterschiedlicher Denominationen lediglich eingeübten, mechanischen Charakter und ist von interdenominationeller Kontrolle und Konkurrenzdenken geprägt. Daher gibt es auch keinen den Mönchen von Jerusalem gemeinsamen Wir-Ort.

Darstellung der verwendeten Methoden

Im Folgenden stelle ich in komprimierter Form die von mir verwendeten Erhebungs- und Auswertungsmethoden vor. Zunächst gehe ich auf die Erhebung und Auswertung der biographisch-narrativen Interviews ein, daraufhin auf die Erhebung und Auswertung der teilnehmenden Beobachtungen. Die Abschnitte zu den Beobachtungen fallen ausführlicher aus als die zu den biographischen Interviews, da ich auf korrespondierende Annahmen der Biographieforschung, die die zentrale Herangehensweise dieser Arbeit darstellt, bereits in Unterkapitel 2.2 eingegangen bin.

4.1

E RHEBUNG

UND AUSWERTUNG DER BIOGRAPHISCH - NARRATIVEN I NTERVIEWS

Das biographisch-narrative Interview Das biographisch-narrative Interview fußt auf dem narrativen Interview, das seine erste Anwendung im Kontext einer Gemeindeforschung fand. Fritz Schütze (1977) konzipierte das Instrument und untersuchte damit die Implementierung der Gebietsreformen der 1970er Jahre in der Bundesrepublik, und zwar im lokalen Umfeld einzelner Gemeinden. In diesem Projekt verwendete er noch keine lebensgeschichtliche Fragestellung. Auf eine offene narrative Eingangsfrage folgten narrative Nachfragen entlang der Perspektiven der beteiligten Akteure, Schütze legte also einen Fokus auf deren Erlebnisse und Perspektiven in der Vergangenheit und auf Prozessstrukturen. Bereits in diesem Kontext wurde ein räumliches Problem – die Kommunalreform – in seiner historischen Dimension angegangen, ohne dass Schütze diese Verbindung von Prozessanalyse und Raum- bzw. Stadtsoziologie explizit diskutiert hätte:

70 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »Die nun zu beschreibende Technik narrativer Interview [sic!] eignet sich sowohl für Forschungsfragestellungen, die ein soziohistorisch spezifisches Interesse an bestimmten krisenhaften Konflikten innerhalb entsprechender Ortsgesellschaften beinhalten, als auch für grundlagentheoretische Fragestellungen, die sich für ortsgesellschaftliche Krisen ›nur‹ deshalb interessieren, weil an ihnen der Umschlag gesamtgesellschaftlicher Faktoren in die Ebene konkreter Interaktionsprozesse und individueller Lebensführungen überprüft werden kann.« (Ebd.: 7)

Schütze (1983) entwickelte in den Folgejahren die Methode zum biographischnarrativen Interview mit der Eingangsfrage nach der gesamten Lebensgeschichte weiter. Später wurde die Interviewtechnik nochmals erweitert und zum Beispiel um die Frage nach der Familiengeschichte ergänzt (Rosenthal 1995, 2008: 145). Die Grundannahme des narrativen Interviews ist von erzählanalytischen Erkenntnissen inspiriert: dass die Textsorte der Erzählung einen besseren Zugang zu latenten Strukturen liefere und eine größere Nähe zu ihnen zugrundeliegenden Erlebnissen erreiche als andere Textsorten wie Beschreibungen oder Argumentationen, die entweder statisch seien oder von gegenwartsorientierten Interpretationen bestimmt. Erzählungen sind dagegen prozesshaft (Schütze 1977: 1). Daher konzipierte Schütze das narrative Interview so, dass sowohl die Eingangsfrage als auch die Nachfragen zu Erzählungen einladen sollen. Die Interviewpartner/-innen sollen dabei unterstützt werden, in einen Erinnerungsfluss zu gelangen. Das Interview wird explizit von solchen Befragungsformen abgegrenzt, in denen zuvorderst Meinungen, Gefühle oder Argumentationen erfragt werden. Die Erhebung des narrativen Interviews folgt den Prinzipien der Kommunikation und der Offenheit (Hoffmann-Riem 1980 und Kap. 2.2). Das beginnt bereits vor dem Interview. Interviewpartner/-innen sollen die Möglichkeit erhalten, das Interview so weit wie möglich nach eigenen Präferenzen zu gestalten (z.B. hinsichtlich Ort, Zeit, Sprachgebrauch), um eine möglichst einladende und vertrauenschaffende Interviewsituation herzustellen. Das Interview selbst beginnt mit einer offenen Eingangsfrage, in der entweder die gesamte Lebens- und Familiengeschichte, die Lebensgeschichte oder ein bestimmter thematischer oder zeitlicher Ausschnitt angesteuert wird. Verbunden damit sind Regieanweisungen, die die Interviewpartner/ -innen darauf hinweisen, dass sie bei der folgenden ›autonomen Selbstpräsentation‹ thematisch nicht eingeschränkt seien. Die Rolle der Interviewerin bzw. des Interviewers beschränkt sich zunächst darauf, zuzuhören und Notizen anzufertigen, auf deren Basis im Anschluss Nachfragen formuliert werden.1 Nach Abschluss jener 1

Die von mir (meist auf Englisch, aber auch auf Arabisch oder Deutsch) gestellte Frage nach der Familien- und Lebensgeschichte lautete ungefähr wie folgt: »I would like to ask you to tell me your life and family history. You can tell me whatever you want and talk how long you want. I won’t interrupt you, but just write down some notes. After you will

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autonomen Selbstpräsentation folgen zunächst ›interne Nachfragen‹ – weitere narrative Fragen sequentiell entlang der angefertigten Notizen –, bevor im letzten Teil des Interviews, den ›externen Nachfragen‹, weitere relevante Themenkomplexe ebenfalls mit narrativen Fragen angeschnitten werden können (Rosenthal 2008: 143-152). Für den regionalen Kontext des Westjordanlandes und Ostjerusalems war es ein generelles Ergebnis unseres Forschungsprojekts, dass viele palästinensische Interviewpartner/-innen zunächst in keinen Erinnerungsfluss gelangten, sondern ihre Selbstpräsentationen vor allem an bestimmten Diskursen ausrichteten. Am deutlichsten zu erkennen war der homogenisierende palästinensische Wir-Diskurs (Rosenthal 2012, 2015a), der mit einer Nivellierung von innergesellschaftlichen Unterschieden und einer Depersonalisierung der Lebensgeschichte einherging, im Falle der Altstadt kam der von mir rekonstruierte Diskurs des problemlosen Nachbarschaftslebens hinzu (Becker 2013, 2015, Kap. 7.2). Die Gründe für die starke Diskursorientierung in den Selbstpräsentationen liegen im sozialen Druck, die Situation der Palästinenser/-innen zu repräsentieren und der starken sozialen Kontrolle in Teilen meines Untersuchungsfeldes begründet. Damit ist verbunden, nicht zu viel Persönliches zu erzählen, sondern zum Beispiel die nachbarschaftliche Gemeinschaft zu betonen: Die Präsentation eines kollektiven Wir (oder bei den Mönchen das Wir der besitzergreifenden Institution) war in vielen Interviews zunächst wichtiger als das detaillierte Erzählen einer individualisierteren Lebensgeschichte. Die argumentative Haltung, die in vielen Selbstpräsentationen überwog, konnte sich aber – wie in dieser Arbeit prägnant am Beispiel von Hafez (Kap. 7.3) deutlich wird, dessen Selbstpräsentation nahezu rein argumentativ gehalten war – im Verlauf der Interviews verändern und, wie bei ihm, dann stärker an eigenerlebten Erlebnissen ausgerichtet sein. Die Dauer der Selbstpräsentationen in der Altstadt reichte von drei Minuten bis zu zwei Stunden. Auf diese Weise konnten bereits durch die Analyse der Gestaltung der Selbstpräsentationen – ob Diskurse diese stark oder weniger stark prägten – Rückschlüsse auf das soziale Feld und die Positionierung der Interviewpartner/-innen darin gezogen werden. Ein charakteristisches Element der von mir geführten Interviews in der Altstadt war, dass der externe Nachfrageteil der narrativen Interviews in Bezug auf meine Forschungsfrage von sehr untergeordneter Bedeutung war: Wie bereits am Anfang der Arbeit erwähnt, waren die räumliche Umgebung und die biographischen Verortungen in den meisten Interviews schon während der ersten beiden Interviewteile zentrale Themen. Das ist ein klares Indiz für die Relevanz der von mir ausgearbeiteten Forschungsfragen.

have finished I will come back to a few things that you have told me and ask some more questions.«

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Biographische Fallrekonstruktionen Die grundlegenden Annahmen der Biographieforschung, die die Grundlage für das methodische Instrument der biographischen Fallrekonstruktionen nach Rosenthal (1995, 2008) bilden, habe ich bereits in Kapitel 2.2 angesprochen – es sei an dieser Stelle nur an einen Kernpunkt für die Analyse von Lebensgeschichten erinnert: die Rekonstruktion der gegenwärtigen Perspektive(n) und der vergangenen Perspektive(n) sowie der Differenz zwischen diesen beiden. Dafür ist im Auswertungsverfahren der biographischen Fallrekonstruktion die heuristische Unterscheidung zwischen erlebtem und erzähltem Leben vorgesehen. Die sich gegenseitig informierenden Analyseschritte bauen eine kritische Deutungsperspektive auf Lebensgeschichten und Lebenserzählungen ein. Aussagen und Erlebnisse können so im Kontext des gesamten biographischen Verlaufs bzw. seiner Genese sowie im Kontext der gegenwärtigen Situation und Zukunftsperspektiven interpretiert werden (Rosenthal 2008: 165). Das Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion beruht auf der Anregung durch verschiedene methodologische Ansätze und deren Verknüpfung. Dazu gehört die von Fritz Schütze vorgeschlagene Narrationsanalyse, Ulrich Oevermanns objektive Hermeneutik und die thematische Feldanalyse der Selbstpräsentationen nach Wolfram Fischer (in Anlehnung an Aron Gurwitsch). Im Folgenden stelle ich die Abfolge der biographischen Fallrekonstruktion kurz dar. Im ersten Schritt, der ›biographischen Datenanalyse‹, werden zunächst solche Daten aus dem Interview als Grundlage für das abduktive Schlussverfahren herangezogen, die »kaum an die Interpretation des Biographen« (Rosenthal 1995: 216) gebunden sind, zum Beispiel Geburt, Heirat, Arbeitsverhältnisse oder ehrenamtliche Positionen. Der oder die Forschende ergänzt diese Daten durch selbst recherchierte gesellschaftspolitische und lokale Ereignisse, die von Relevanz für die Interviewpartner/-innen gewesen sein könnten. Zu diesen Daten werden sequentiell, in der Chronologie des Lebenslaufs, abduktiv Hypothesen gebildet: also alle dem Forscher zugänglichen und sinnvollen Schlüsse und Folgehypothesen, die die Handlungsoptionen und -beschränkungen verdeutlichen können. Ziel ist es, im Verlauf der Analyse zu sich erhärtenden Strukturhypothesen auf Basis des erlebten Lebens zu gelangen (ebd.: 216-217). Die darauffolgende ›Text- und thematische Feldanalyse‹ wendet sich im Gegensatz dazu dezidiert dem Interviewtext zu. Es wird untersucht, welche Themen in welcher Konstellation und auf welche Weise in der biographischen Selbstpräsentation vorgebracht werden. Rosenthal (ebd.: 218) verdeutlicht, dass es dabei nicht nur um die bewusste Zuwendung, sondern besonders um »die sich im Akt der Zuwendung darbietende Gesamtgestalt der Biographie« gehe, die den Interviewten nur latent zugänglich sei. Der Interviewtext wird nach Sprecher/-innen-, Themen- und Textsortenwechseln sequenziert. Darauf folgt die sequentielle Interpretation der biographischen Selbstpräsentation – ebenfalls dem Prinzip der Abduktion folgend. Dabei wird nach der Funktion der jeweiligen Sequenzen und Themen im Rahmen

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der Selbstpräsentation gefragt – es geht darum, wieso eine Biographin oder ein Biograph welche Themen an welcher Stelle im Interview ansteuert, welche Themen und Lebensabschnitte nicht zur Sprache kommen und in welchem thematischen Feld die Selbstpräsentation steht (ebd.: 219). Der dritte Schritt ist die ›Rekonstruktion der Fallgeschichte‹. Der chronologischen Analyse der biographischen Daten werden weitere im Interview vorhandene Daten und die entsprechenden Textstellen hinzugefügt und damit wiederum die Ebene des erlebten Lebens angesteuert. Dabei geht es um die Einbettung der einzelnen biographischen Erlebnisse in die Gesamtheit der Biographie – also die Nachzeichnung der biographischen Aufschichtung – und nicht um die isolierte Betrachtung einzelner Lebensstationen. Die leitende Frage lautet, welche Bedeutung die Erlebnisse in der Vergangenheit für die Interviewpartner/-innen hatten – also wie sich ihnen Erlebnisse in der Vergangenheit dargeboten haben und wie sie sich diesen zugewendet haben. Ziel ist die Rekonstruktion der vom Biographen oder von der Biographin in der Vergangenheit eingenommenen Perspektiven (ebd.: 220-221). Um diese Vergangenheitsperspektiven im Interviewtext genauer rekonstruieren zu können und bereits aufgestellte Hypothesen zu überprüfen, greift das Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion außerdem auf die im Kontext der objektiven Hermeneutik entwickelte ›Feinanalyse‹ (Oevermann et al. 1979) als einem flexibel einsetzbaren Instrument im Auswertungsprozess zurück. Eine kurze Texteinheit an ›neuralgischen‹ Interviewstellen wird unabhängig ihres Textkontextes kleinteilig (zum Teil auf Wortebene) und unter Einklammerung des erworbenen Wissens über die Biographie sequenziell und abduktiv interpretiert. Mit dieser detaillierten Analyse kann geprüft werden, ob bisherige Interpretationen auch auf diesem Level validierbar sind und sich Strukturhypothesen dadurch verfestigen lassen. Es können auch neue Hypothesen aufgestellt werden bzw. bestehende ergänzt (ebd.: 222). Ein weiteres Element der biographischen Fallrekonstruktion ist schließlich der Vergleich der in den vorherigen Analyseschritten gewonnenen Ergebnisse, also der ›Vergleich von erzählter und erlebter Lebensgeschichte‹. Die Ergebnisse der Textund thematischen Feldanalyse und der Rekonstruktion der Fallgeschichte werden kritisch gegeneinandergehalten, um eine Gleichsetzung von Text und Vergangenheitserleben zu vermeiden (ebd.: 225). Gleichzeitig wird aber die »wechselseitige Durchdringung« der beiden Perspektiven, die nie vollständig getrennt sind, betont (ebd.: 221). Als Teil des räumlichen Samplebildungsprozesses habe ich zudem mit von Rosenthal (2008: 92-94) vorgeschlagenen Globalanalysen gearbeitet. Diese beruhen auf den gleichen Auswertungsprinzipien, erfolgen aber nicht auf der Basis von Transkripten und umfangreichen Hintergrundrecherchen, sondern auf Basis der von jedem Interview angefertigten Protokolle, die auf Notizen und Erinnerungen beruhen. Auch hier werden erzählte und erlebte Lebensgeschichte getrennt betrachtet, jedoch in einem deutlich verkürzten Analyseverfahren.

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4.2

E RHEBUNG

UND AUSWERTUNG DER TEILNEHMENDEN B EOBACHTUNGEN

›Klassische‹ und fokussierte teilnehmende Beobachtung Während meiner Feldforschung in Jerusalem habe ich neben der Erhebung der biographisch-narrativen Interviews eine lang anhaltende teilnehmende Beobachtung2 und mehrere kurzzeitige teilnehmende Beobachtungen (im Sinne der ›fokussierten Ethnographie‹, Knoblauch 2001) unternommen.3 Die lang anhaltende teilnehmende Beobachtung stellt die ›klassische‹ Form der teilnehmenden Beobachtung dar und ist auf eine »anhaltende Kopräsenz des Beobachters« gestützt, womit »Gleichörtlichkeit und Gleichzeitigkeit« gemeint sind (Hirschauer 2002: 37, Herv. i.O.). Dem Konzept von Erhebungspunkten ist also das einer Erhebungsstrecke entgegengesetzt (Amann/Hirschauer 1997: 16). Bei der vor allem in der Ethnologie geprägten und beheimateten lang anhaltenden teilnehmenden Beobachtung – verknüpft mit dem Ideal einer mindestens ein Jahr lang dauernden Feldforschung in der Tradition Bronislaw Malinowskis (1922) – geht es darum, in einem bestimmten sozialen Feld über eine längere Dauer die dortigen kulturellen und sozialen Praktiken vertieft im Alltag kennenzulernen und zu analysieren. Während die im Unterkapitel 7.2 dargestellten Beobachtungen eher dieser Tradition entsprechen, können die zwei kurzen, in den Unterkapiteln 8.1 und 9.1 dargestellten teilnehmenden Beobachtungen eher als ›fokussierte Ethnographie‹ gesehen werden. Es ist bei fokussierten Beobachtungen im Gegensatz zu den lang anhaltenden Beobachtungen nicht das Ziel, soziale Einheiten, die »auch in ihrem Selbstverständnis eigene Felder darstellen« (Knoblauch 2001: 132) – wie zum Beispiel die kleine Nachbarschaft –, durch längere Teilnahme zu rekonstruieren. Stattdessen werden »bestimmte Aspekte von Feldern« (ebd.: 126) in kurzen, aber datenintensiven Beobachtungsphasen anvisiert (ebd.: 129). Dafür ist bereits eine gewisse Bekanntheit mit dem Feld notwendig (ebd.: 134), und daher habe ich die hier analysierten fokussierten Beobachtungen gegen Ende der Feldaufenthalte in Jerusalem, in den Jahren 2013 und 2014, unternommen, als ich schon um die Relevanz der jeweiligen Settings wusste. In der methodologischen Literatur wurde es für die Ethnographie in der Soziologie als prägend erachtet, dass sie die eigene Kultur ›befremden‹ müsse (Amann/

2

Die Bezeichnung ›lang anhaltende Beobachtung‹ für zeitlich extensive, langdauernde Beobachtungsstrecken wurde unter anderem von Christa Hoffmann-Riem (1980: 361) verwendet und von mir in dieser Arbeit so übernommen.

3

Auch wenn ich bei der Diskussion der jeweiligen Texte den Terminus ›Ethnographie‹ im Sinne der Autorinnen und Autoren verwende, bevorzuge ich hier den Begriff ›teilnehmende Beobachtung‹, um sie als eine Methode im Kontext der Biographieforschung zu bezeichnen, in der diese Arbeit platziert ist.

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Hirschauer 1997), da sie in bekannten Feldern stattfinde, während jene Fremdheit in der Ethnologie bereits durch das ›fremde‹ Feld gegeben sei: »Was den soziologischen Ethnographen vom ethnographisch arbeitenden Ethnologen bzw. Kulturanthropologen unterscheidet, das ist, daß er (der Soziologe) in der Regel erst wiederlernen muß, daß er die ›Sprache des Feldes‹ tatsächlich nicht ohnehin und selbstverständlich beherrscht.« (Honer 1994: 102, Herv. i.O.)

Doch diese strikte Arbeitsteilung ist im Begriff, sich zu verschieben, wie am Fokus der vorliegenden soziologischen Arbeit auf eine ›fremde‹ Umgebung zu sehen ist oder auch am Konzept der ›anthropology at home‹ (Eriksen 2001: 29). Allgemeine Aspekte der teilnehmenden Beobachtung Im Vergleich mit Interviews werden in der Forschungsliteratur häufig die Stärken der teilnehmenden Beobachtung betont, wenn es darum geht, nichtsprachliche Handlungspraktiken, Routinen und deren Durchbrechung zu untersuchen sowie durch leibliche Teilnahme die Umwelt der Menschen im Feld mitsamt ihren Herausforderungen nachzuvollziehen (Rosenthal 2008: 106-107). Die Relevanz von sprachlichen Interaktionen wird dagegen als sekundär gesehen. Erving Goffman (1996: 10-11) betonte zum Beispiel, dass die Analyse von sprachlichen Konversationen bei teilnehmenden Beobachtungen kein eigenes Untersuchungsthema für ihn sei: »Ich lege beinahe überhaupt keinen Wert darauf, was die Leute sagen, aber ich versuche, das, was sie sagen, mit dem, was sie tun, in Verbindung zu bringen.« Während meiner teilnehmenden Beobachtungen waren es aber gerade die verbalen Daten, die alltäglichen Gespräche und Interaktionen sowie die gezielt mit mir forcierten Gespräche, die in der Analyse besonders relevant wurden. Sie zeigten mir feldrelevante Gesprächsthemen auf und auch, welche und warum bestimmte Feldvertreter/-innen eine besser vernehmbare Stimme in der kleinen Nachbarschaft hatten als andere. Herbert Kalthoff (2003: 74) sieht dies ähnlich und definiert verbale Daten neben Praktiken und dem sozialen und dinghaften Setting als wichtiges Element im Erhebungsprozess der teilnehmenden Beobachtung. Teilnehmende Beobachtungen in ihren verschiedenen Ausprägungen sind eine vom ›Prinzip der Kommunikation‹ und dem ›Prinzip der Offenheit‹ geprägte Methode (Hoffmann-Riem 1980: 346-351). Mit ihrer Hilfe können Feldforscher/-innen »die meisten der üblicherweise vom Normalsoziologen als bedeutsam erachteten Fragen ausklammern und statt dessen [sic!] fragen, was denn dem Untersuchten – als einem (wie auch immer zu bestimmenden) Typus – wichtig ist, was er als ›seine Welt‹ erfährt« (Hitzler 1999). Erving Goffman (1996: 3) sieht die Aufgabe darin, dass

76 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre Arbeitssituation, ihre ethnische Stellung oder was auch immer reagieren. Daß man also in ihrer Nähe ist, während sie auf das reagieren, was das Leben ihnen zumutet.«

Die teilnehmende Beobachtung unterscheidet sich von den ›pragmatischen‹ Beobachtungen durch die Mitglieder des Untersuchungsfeldes darin, dass für mich als Forscher zunächst alles potenziell von Bedeutung und damit beobachtungswürdig ist. Es gilt, so viel wie möglich wahrzunehmen und zu erfahren (Honer 1994: 90). In der Soziologie wird Ethnographie, wie bereits erwähnt, häufig mit der Befremdung von bereits Bekanntem assoziiert. Im Falle meiner Studie ging es aber vor allem um die Erkundung von Neuem, sich also »Kulturen aus[zusetzen], deren Zeichenhaftigkeit, deren Funktionieren und deren Bedeutungsstrukturen sich […] nicht unmittelbar erschließen« (Kalthoff 2003: 75). Die ›Reziprozität der Perspektiven‹ muss durch die Beobachterarbeit erst hergestellt werden (ebd.). Dazu gehört auch das Finden einer Beobachter/-innenrolle, die im Feld sozial akzeptiert ist und mit der erfolgreichen Herstellung von Rapport einhergeht (Hirschauer 2002: 38). Während ich zunächst einen relativ passiven Beobachterstatus im Lebensmittelladen hatte und lediglich in Konversationen eingebunden wurde, konnte ich danach in sehr begrenzter Weise bei den Alltagspraktiken mitwirken. Dabei beobachteten die Bewohner/-innen mit einer gewissen Neugier, wieso ich, der ich aus einem anderen kulturellen Zusammenhang komme, anstrebte, meinen mir zugestandenen Gästestatus zu erweitern und praktisch in einem Lebensmittelladen mitzuhelfen. Meine Rolle hat sich also von einem teilnehmenden Beobachter zu einer eingeschränkten Form des beobachtenden Teilnehmers entwickelt. Die Vertreter/-innen der lebensweltlichen Ethnographie haben die ›beobachtende Teilnahme‹ als wichtigen Schritt hervorgehoben, um sich in aktiverer Weise in die Handlungen im Untersuchungsfeld einbinden zu lassen; »sich in möglichst Vieles existentiell involvieren (lassen), in verschiedene Rollen schlüpfen, mit-tun, was zu tun je ›üblich‹ ist« (Hitzler 1999). Diese Rolle hat viel mit einer ethnologischen Beobachtungsausrichtung gemein, denn es soll ein Schritt »vom ›so tun als ob‹ zum ›mit-tun‹« (Honer 1994: 89) gegangen werden. Dieses Mit-Tun blieb in meinem Feld aber recht symbolisch, ein ›selbstverständlicher‹ Teil der Abläufe bin ich nie geworden. Zuletzt sei erwähnt, dass mit der teilnehmenden Beobachtung ethische Fragen des Einverstandenseins (des ›informed consent‹) einhergehen. Können Beobachtungen verdeckt oder müssen sie offen sein? Muss man sein gesamtes Forschungsinteresse offenlegen? Ist die Position als Forscher für die Mitglieder des Feldes überhaupt nachvollziehbar? Während ich mir zu Beginn meiner lang anhaltenden Beobachtung selbst nicht über meine Position im Laden bewusst war (ob ich tatsächlich dort forschen wollte) und daher meine Forscherposition nicht herausge-

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stellt habe (not »telling the ›whole truth‹ in negotiating entry for research« [Hammersley/Atkinson 2007: 57]), bewegte sich dieser »balancing act« (ebd.: 58) immer mehr zu einer Offenheit in Bezug auf meine Forschung, in der am Ende die Bewohner/-innen der Nachbarschaft mich als eine Art Experte von außen ansprachen und zum Beispiel nach meiner Meinung über ihr Zusammenleben fragten. Protokollierung Eine wichtige Rolle kommt bei Beobachtungen der Protokollierung zu. Die Möglichkeiten des Beobachtenden, seine Umwelt zu erfassen, sind partiell, und die Beobachtungen müssen zudem doppelt, bzw. in meinem Fall sogar dreifach übersetzt werden: zuerst, nach der Beobachtung, vom Beobachtenden in Sprache bzw. Text und später für die Lesenden zum intersubjektiven Nachvollzug in ein verständliches Textprodukt. Zudem musste ich die fremdsprachlichen Gespräche zumindest grob ins Deutsche übersetzen. Die Selektivität der Wahrnehmung und des Memorierens bedingt die Selektivität der Protokollierung; es ist ein (latenter) Aushandlungsprozess, welche generellen Strukturen und welche Details letztlich aufgezeichnet werden (Hammersley/Atkinson 2007: 175). Kalthoff (2003: 79) weist zudem darauf hin, dass Feldnotizen nicht nur selektiv seien, sondern schreibt, sie fügten dem, »was gesagt und getan wurde, auch etwas hinzu«. Und Emerson et al. (2007: ix) erwähnen, dass Beobachtungen auch intime oder unangenehme Eigenwahrnehmungen erzeugen und Forscher/-innen vor die Frage stellen, wie sie damit umgehen sollen. Diesen Herausforderungen entsprechend gibt es viele Handreichungen, wie Protokolle erstellt werden sollen. Diese reichen von Aufforderungen, Protokolle in poetische Texte umzuwandeln, über den Vorschlag, in diesen zunächst die eigene Rolle zu reflektieren, bis zu sehr strukturierten Vorschlägen der Notierung. Gabriele Rosenthal (2008: 111-115) schlägt eine Protokollierung vor, die eine spätere rekonstruktive Auswertung ermöglichen soll. Dazu gehören unter anderem die genaue Beschreibung der Umgebung, die Hervorhebung und detaillierte Darstellung von einzelnen Szenen im Kontext der gesamten Beobachtung und die heuristische Trennung von Beschreibung und Interpretation. Diese Hinweise sind vor allem für einzelne Beobachtungen konfiguriert, bei mehrmaligen oder sogar lang anhaltenden Beobachtungen ist es möglich, dabei an Grenzen zu stoßen. Während ich zu Beginn meiner Protokollierung noch versucht habe, diesen Ansprüchen an die Protokolle insofern gerecht zu werden, dass sie für eine spätere rekonstruktive Auswertung tauglich sind, wurde dies im Laufe der Zeit immer schwieriger: Meine Protokolle ähnelten zunehmend Tagebucheinträgen. Manchmal habe ich lediglich kurze Stichwörter notiert, ein anderes Mal erstellte ich zu herausragenden Ereignissen detailreiche Protokolle. Das lag daran, dass es im Kontext des Lebensmittelladens zahlreiche Faktoren gab, die einen Fokus auf Handlungszusammenhänge mühsam machten und auch beim Memorieren und der späteren Niederschrift von Beschrei-

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bungen hinderlich waren. Dazu gehörten sowohl der häufig repetitive Charakter der sozialen Interaktionen als auch deren direktes Aufeinanderfolgen und deren kurze Dauer (Austausch von Grußformeln, Smalltalk). Die vielen Personen, die in den Laden kamen oder vorbeiliefen, erschwerten die Beschreibung – genauso wie die von mir ihnen zugeschriebenen habituellen Ähnlichkeiten im äußeren Auftreten (Kleidung, Frisur, Sprache, Themen). Weiterhin trug dazu auch meine Rolle im Lebensmittelladen bei, die ständige Kommunikation in einer mir nur bis zu einem gewissen Grad vertrauten Fremdsprache erforderte und schließlich die Schwierigkeiten, direkt im Feld schriftliche Aufzeichnungen anzufertigen. Es ist mir daher wichtig, festzuhalten, dass die Art und Weise meiner Protokollierung stark an die Forschungssituation und -erfahrung gebunden war. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, frühzeitig mit weiteren Personen in das Feld zu gehen und gemeinsam Beobachtungen durchzuführen (Knoblauch 2001: 129). Doch ich habe (zu) lange gezögert, dies zu tun, da ich meinen Status im Feld als recht unsicheren begriffen habe und der Aufbau von Vertrauen für die Forschungssituation mir immer als vorrangig vor dem gemeinsamen Beobachten erschien. Doch nicht nur die Ausführlichkeit, auch die thematische Breite meiner Beobachtungsprotokolle wandelte sich: Durch die zwischen intensiven Feldaufenthalten erfolgende Analyse (Rosenthal 2008; Hirschauer 2002: 38) war ich zunehmend für relevante Themen im Feld sensibilisiert; auch meine verbesserten Sprachkenntnisse und die Kenntnisse vom Ort ließen es zu, dass ich meine Beobachtungen stärker fokussierte: »As the research progresses and emergent issues are identified, the notes will become more restricted and more focused in subject matter.« (Hammersley/Atkinson 2007: 144-145) Die Entwicklung der Protokolle hatte also die Form einer »characteristic ›funnel‹ structure, being progressively focused over its course« (ebd.: 159). Die Analyse der Beobachtungsprotokolle und der Schreibprozess Auch die Analyse von ethnographischen Daten ist – ähnlich wie die Protokollierung – ein häufig etwas unklarer und wenig ausformulierter Teil der empirischen Praxis. Dies hat auch mit dem nicht-standardisierten und feldoffenen Vorgehen bei teilnehmenden Beobachtungen zu tun; die Felder können so verschieden sein, dass es schwierig ist, allumfassende Verfahren zu entwickeln: »[T]here is no formula or recipe for the analysis of ethnographic data. There are certainly no procedures that will guarantee success.« (Hammersley/Atkinson 2007: 158) Doch dies bedeutet nicht, dass es lediglich um einen kreativen Prozess des Datenlesens geht: »Besides obscuring the importance of strategies for generating concepts and models, overemphasis on the role of creative imagination in the development of analytical ideas also leads us to forget the function that our existing knowledge of the social world, and our reading of relevant literature, can perform in this process.« (Ebd.: 162)

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Dieser kreative Prozess des Analysierens, der inzwischen häufiger propagiert wird, werde durch »postmoderne Zweifel« (Kalthoff 2003: 83) hervorgerufen, ob soziale Realität noch dargestellt werden könne. Kalthoff (ebd.) ruft dazu auf, diese Zweifel einzuklammern, da sonst ein analytischer Prozess gänzlich verunmöglicht werde: Die Analyse »härtet und stabilisiert die schriftlichen Zeugnisse als stellvertretende Repräsentation der beobachteten sozialen Phänomene«. Doch Hinweise, wie eine Analyse denn ablaufen solle, differieren hinsichtlich der Verschreibungsgenauigkeit und reichen von allgemeinen Handreichungen für ein weitgehend regelloses, stark vom Schreibprozess beeinflusstes analytisches Vorgehen bis zu Vorschlägen für einen stärker regelgeleiteten Auswertungsprozess, der die Rekonstruktion von sozialen Situationen fokussiert. Stefan Hirschauer (2002: 44) zum Beispiel fasst sein recht allgemein gehaltenes analytisches Konzept folgendermaßen zusammen: »Man kann lesen, was man geschrieben hat, und gewinnt […] zeitlichen Abstand zu den eigenen Äußerungen. Die Schrift erlaubt Interaktion mit sich selbst und einen weiteren Rollenwechsel vom Teilnehmer (Insider) zum Autor (Beobachter) zum Leser (Kommentator).« Damit ist eine Skepsis gegenüber rekonstruktiven Analyseansätzen verbunden. So kritisieren Amann und Hirschauer (1997: 31, Anm. 21) Forscher, die die »epistemische Bedeutung von Protokollnotizen« als genaue Wiedergabe der Beobachtungen überschätzten. Stattdessen komme es darauf an, die Beschreibung einer »Szenerie« so zu gestalten, dass die kulturellen Muster in anderen Beschreibungen wiedererkannt werden könnten. Hammersleys und Atkinsons (2007: 164-168) Analyseempfehlungen orientieren sich stärker an einer theoriegenerierenden Haltung im Sinne der Grounded Theory. Sie schlagen vor, nach einer genauen Lektüre des Datenkorpus feldangemessene Konzepte, »sensitizing concepts« (Blumer 1954: 7), zu entwickeln. Diese seien im Gegensatz zu ›verschreibenden‹ Theorien Handreichungen, um mit dem empirischen Material umzugehen und die weitere Forschungsrichtung festzulegen. Das Durchkämmen des Textes und der ständige Vergleich sollen helfen, die »mutual relationships and internal structures of categories« herauszuarbeiten (Hammersley/Atkinson 2007: 165). Gabriele Rosenthal (2008: 119-122) hat etwas detailliertere Vorschläge zur Analyse von teilnehmenden Beobachtungen vorgestellt, die dabei behilflich sein sollen, diese in einer sequentiellen und abduktiven Weise rekonstruktiv auszuwerten. Für die Analyse einer Beobachtung mit mehreren Einheiten schlägt sie vor, zunächst die materiellen, historischen, organisationellen und sonstigen Rahmen des Settings oder der Organisation auszulegen, um einen Erwartungsschirm an Handlungsmöglichkeiten im spezifischen Kontext zu öffnen. Für die Analyse einzelner Beobachtungsprotokolle orientiert sich ihr Vorgehen insofern an den bereits eingeführten biographischen Fallrekonstruktionen, als auch hier als erster Schritt ›objektive Daten‹ bzw. sequentielle Ereignisdaten (den chronologischen Ablauf der Beobachtung betreffend) aus dem Protokolltext extrahiert und interpretiert werden sol-

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len. Auf diese Weise werden jeweils mögliche anschließende Handlungen und Interaktionen entworfen. Wie bereits oben erwähnt, ruft Rosenthal bei der Formulierung der Protokolle dazu auf, einige wenige Szenen en detail zu beschreiben. Die feinanalytische Auswertung dieser detaillierten Szenen wird dann in die Analyse der Ereignisdaten eingebettet. Dadurch soll gewährleistet werden, dass es gelingt, die »sequenzielle Struktur sozialen Handelns zu beachten und Phänomene in der Abfolge ihrer Entstehung zu rekonstruieren« (ebd.: 121). Wichtig sei es weiterhin, Hypothesen zu generieren, wie es ›im Feld weitergehen‹ könnte und was passieren müsste, dass das Setting sich reproduziere oder sich in seiner Struktur verändere. Somit sollen vorschnelle Annahmen eines statischen Feldcharakters verhindert werden (ebd.: 121-122). Sollte es sich bei der Beobachtung um einen Teil einer längeren Feldforschung handeln, die viele Beobachtungsprotokolle beinhaltet, schlägt sie vor, nur eine Auswahl dieser Protokolle in sorgfältigerer Weise auszuwerten, ansonsten nach globalanalytischen Prinzipien vorzugehen und dadurch die gesamte Dauer der Beobachtung analytisch abzudecken (ebd.: 121). Dabei legt sie besonderen Wert auf die Auswertung der Protokolle in ihrer sequentiellen, zeitlichen Genese, »[dadurch] wird es auch möglich, die sich im Lauf der Beobachtungen verändernde Perspektive des Beobachters und damit die Wandlungsprozesse von einem fremden zu einem mehr und mehr vertrauten Teilnehmer an der erforschten Lebenswelt zu rekonstruieren. Also dadurch, dass der Beobachtungsprozess selbst als ein strukturierter Prozess betrachtet wird, lässt sich der Tendenz entgegenwirken, dass die Selbstreflexion des Beobachters lediglich zu einer generalisierten Infragestellung von Forschungsergebnissen und einem forschungspraktisch sterilen Relativismus führt.« (Ebd.: 122)

Im vorigen Abschnitt habe ich ausgeführt, warum der spezifische Charakter meines Beobachtungsfeldes eine sorgfältige Protokollierung oftmals erschwert hat. Das hat sich auch auf die Analysepraxis ausgewirkt. Trotzdem habe ich mich an den Prinzipien der interpretativen Analyse nach Rosenthal orientiert, denn auch für mich hat das Prinzip der Sequentialität eine herausragende Stellung im Analyseprozess eingenommen. Viele der Strukturen des Feldes haben sich mir durch die konsequente chronologische Einordnung der Genese meiner Rolle dort veranschaulicht. Durch die Vielzahl der Protokolle und ihre Repetitivität war mir besonders wichtig zu analysieren, welche feldstrukturierenden Elemente wann in meinen Protokollen auftauchen (z.B. in meinen Beobachtungsprotokollen die Relevanz des ḥay, vgl. Kap. 7.2.2) bzw. wann sie wieder aus den Protokollen verschwinden, entweder weil sie für mich zu selbstverständlich geworden waren oder weil sie ihre Relevanz verloren haben. Durch die Anzahl meiner Protokolle drängten sich in immer wiederkehrenden Sequenzen Strukturen des Feldes beinahe auf. Diese Analyse habe ich durch einen abduktiven Blick auf den Fortgang meiner Beobachtungen und durch

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Feinanalysen (Rosenthal 2008: 116-117) einiger herausragender Beobachtungen ergänzt. Dadurch haben sich immer stärker die textordnenden analytischen Kategorien (z.B. historische Generationen, vgl. Kap. 7.2.4) herausgeschält. Eine wichtige Rolle hat für mich zusätzlich das »analysierende Schreiben« (Emerson et al. 2007: 179) eingenommen, mit dessen Hilfe ich die weniger zentralen Protokolle analytisch raffte.

4.3

D ATENMATERIAL /S AMPLE

UND

ANONYMISIERUNG

Meine grundlegende Konzeption der räumlichen Samplebildung habe ich prominent an anderer Stelle besprochen (vgl. Kap. 3.5, 3.6, 10.2). In diesem Unterkapitel sollen konkrete Hintergründe zur Feldforschung, zum praktischen Aufbau des Samples und zur Anonymisierung bzw. Forschungsethik angesprochen werden. Details zur Feldforschung Insgesamt habe ich 35 Personen in Jerusalem interviewt. Von diesen hatten 28 (also ca. drei Viertel) ihren dauerhaften Erstwohnsitz in der Altstadt, neun (also ca. ein Viertel) hatten dort eine Wohnung oder hielten sich aufgrund von geschäftlichen, spirituellen oder familialen Verbindungen täglich dort auf. Bei den meisten Interviews stellte ich die Eingangsfrage nach der gesamten Lebens- und Familiengeschichte.4 Die Dauer der Interviews variierte von einer Stunde bis zu acht Stunden, die Mehrzahl der Interviews umfasste mehr als ein Treffen. Zudem habe ich zahlreiche Beobachtungen protokolliert – fokussierte Beobachtungen habe ich neben den bereits erwähnten im erweiterten Jüdischen Viertel und in der Grabeskirche vor allem an Stadttoren, in Jugendclubs sowie in den Souqs der Altstadt durchgeführt. Für die bereits ausführlich eingeführte lang anhaltende Beobachtung habe ich 75 Beobachtungsprotokolle erstellt, die einen Umfang von einer halben Seite bis zu zwölf Seiten haben. Meine vier jeweils sechs- bis zehnwöchigen Feldaufenthalte in Jerusalem fanden zwischen Sommer 2010 und Herbst 2013 statt und wurden durch zwei Kurzaufenthalte 2014 und 2015 ergänzt. Insgesamt hatten diese Aufenthalte eine Dauer von ca. acht Monaten. Die Reisen wurden durch die Semesteraufteilung und die gemeinsamen Forschungsreisen im Kontext des DFG-Projekts beeinflusst. Die zeitliche Verteilung der Forschungsaufenthalte hatte den Effekt, dass Erhebung und 4

Unter den anderen sechs Interviews waren zwei, in denen ich nur nach der Lebensgeschichte gefragt habe, zwei mit einer Eingangsfrage nach der Planung des Umzugs der Interviewpartner/-innen nach Jerusalem und nach ihrem seitherigen Erleben und zwei Interviews, in denen es nicht zum Stellen einer Eingangsfrage kam (sondern im Rahmen des Smalltalks sogleich längere Monologe folgten).

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Analyse als Wechselprozess gestaltet werden konnten, wie es die theoretische Samplebildung entsprechend der Grounded Theory impliziert (Glaser/Strauss 1967: 45). Das erlaubte mir die zwischenzeitliche Auswertung bereits erhobener Daten und die Modifizierung der Forschung anhand des Prinzips der Offenheit. Durch den ›unterbrochenen‹ Aufenthalt im Feld konnte ich die ›Rückkehr‹ in (nicht nur) geographisch vom Feld abgesetzte Strukturen nutzen, um Distanz für die Analyse der bis dato erhobenen Daten zu gewinnen. Damit spannte sich die Erhebungsphase über einen vergleichsweise langen Zeitraum. Die Kombination aus mehreren, aber trotzdem auch zeitlich andauernden Feldaufenthalten hat sich für mich als positiv erwiesen, weil das Forschungsfeld der Altstadt von Jerusalem aus verschiedenen Gründen nicht nur komplex ist, sondern auch der Feldzugang sich als sehr schwierig erwiesen hat (vgl. Kap. 10.7). Zu Beginn hatte ich beabsichtigt, über Mitglieder so vieler Gruppierungen in der Altstadt wie möglich zu forschen, zum Beispiel Bewohner/-innen, Pilger/-innen, andere Besucher/-innen, Geschäftsleute und israelische ›Sicherheitskräfte‹. Diesen Plan habe ich zugunsten der Fokussierung auf drei Forschungsräume aufgegeben, wie ich in den Abschnitten 3.5 und 3.6 ausführlich dargelegt habe. In jenen Unterkapiteln habe ich auch darauf hingewiesen, dass ich trotz der erheblichen Relevanz keinen Forschungsraum der jüdischen Bewohner/-innen in der Altstadt untersuchen konnte. Da ich in verschiedenen Kontexten nach den Gründen hierfür gefragt wurde, sollen sie an dieser Stelle kurz ausgeführt werden: Zu Beginn meiner Feldforschung war es ein wichtiger Teil meines Forschungsplans, jüdische Altstadtbewohner/-innen zu interviewen, doch die Widerstände des Feldes erwiesen sich als zu groß und die Intervieworganisation als zu schwierig. Das lag zum einen daran, dass einige aschkenasische Jüdinnen und Juden im erweiterten Jüdischen Viertel nicht mit Deutschen sprechen wollten, die für sie für den Nationalsozialismus stehen. Zum anderen lag das auch an der strengreligiösen Ausrichtung vieler jüdischer Altstadtbewohner/-innen, die mich als Christen wahrnahmen und sich nicht auf ein Gespräch mit mir einließen. Auf besonders viel Ablehnung stieß aber mein gleichzeitiges Interesse an der palästinensischen Altstadtcommunity, das ich bei der Offenlegung meines Forschungsinteresses erwähnte. So war es mir durch intensive persönliche Vermittlung gelungen, einen nationalreligiösen Rabbiner zu treffen, der nach einem einführenden Gespräch ein Interview ablehnte, weil ich für meine Studie auch die ›Feinde‹, also die Palästinenser/-innen, interviewt hätte. Obwohl ich auch ein sehr positives, offenes Interview führen konnte, beendete ich mein Forschungsengagement in diesem Bereich nach dem zweiten Aufenthalt im Frühjahr 2011, nachdem keine weiteren Interviews zustande gekommen waren, obwohl ich vor allem über persönliche Verbindungen zahlreiche Interviewanfragen ausgesendet hatte. Stattdessen beschäftigte ich mich eingehender mit der verbliebenen palästinensischen Minderheit im erweiterten Jüdischen Viertel (Kap. 8). Aus dem Nachhinein betrachtet, wäre es in der geographischen Enge der

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Altstadt – hätte ich die Forschungen über jüdische und palästinensische Einwohner/-innen des erweiterten Jüdischen Viertels gleichermaßen fortgeführt – wohl kaum möglich gewesen, gute Kontakte auf beiden Seiten zu erhalten, wenn meine parallele Präsenz Mitgliedern einer der beiden Communities bewusst geworden wäre. Wahrscheinlich wäre es außerdem über einen längeren Zeitraum zunehmend schwieriger geworden, sich dem ständigen Perspektivwechsel zwischen den so weit voneinander entfernten palästinensischen und israelischen Positionen auszusetzen. Michael Dumper (2002b: 8) hat in seinem Buch über die Altstadt aufgezeigt, dass Herausforderungen beim Feldzugang nicht nur für meine Forschung gelten: »The ethnic, national, and religious background of a scholar may open doors to one or possibly two of the religious communities, but it will be a fortunate and exceptional scholar who can overcome the caution or suspicion of all three. Gaining access to relevant documents and people of even one community is difficult enough. One needs introductions to key people and a track record of scholarly professionalism.«

Eine weitere Herausforderung der Forschung stellten die etablierten Kanäle dar, durch die Interviewpartner/-innen vermittelt werden und die ich umgehen wollte (vgl. Kap. 10.7.2). Dieses Unterfangen war jedoch zeitaufwändig, da gerade Altstadtbewohner/-innen, die es nicht gewohnt waren, nach außen zu repräsentieren, Interviewanfragen aus verschiedenen Gründen ablehnten oder Treffen mehrmals verschoben. An einem konkreten Beispiel (von vielen) will ich die Probleme der Intervieworganisation erläutern: Ich bat eine Feldassistentin, deren Familie größtenteils noch in der Altstadt verwurzelt ist, dort weitere Interviewpartner/-innen für mich zu finden. Nachdem die Anfragen außerhalb ihrer Familie alle gescheitert waren, fragte sie ihre Tante, die zunächst einem Interview zustimmte, dann ihre Zusage wiederrief und hinzufügte, dass auch ihr Mann kein Interview geben werde. Auch ihre Großmutter lehnte die Interviewanfrage rundherum ab. Eine Schulfreundin ihrer Mutter erklärte sich für ein Interview bereit, sagte dann aber zwei Termine kurzfristig ab. Daraufhin versuchte die Feldassistentin noch einmal, ihre Tante zu einem Interview zu überreden. Diese bot daraufhin überraschend ein Interviewtreffen im Haus der Eltern der Feldassistentin an. Als ich zu jenem Termin kam, war die Tante jedoch nicht da – sie hatte das Interview wieder abgesagt. Letztlich stellte sich der Vater der Feldassistentin für ein Interview zur Verfügung, wohl um seiner Tochter zu helfen. Dies veranschaulicht, dass sich die Organisation der Interviews in vielen Fällen als außerordentlich komplex und als sehr langwierig erwies. Daher waren längere Vor-Ort-Phasen für die Organisation der Interviews unerlässlich. Auch für die ›Sozialisierung‹ in der kleinen Nachbarschaft waren die längeren Aufenthalte essentiell.

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Anonymisierung Die Frage der Unkenntlichmachung der Subjekte meiner Forschung hat sich für die Altstadt als sehr komplex herausgestellt. Erstens kann die Altstadt von Jerusalem nicht als gesamter Ort anonymisiert werden, während zum Beispiel die Darstellung einer Forschung in einem palästinensischen Flüchtlingslager auch in ein anderes Flüchtlingslager verlagert werden kann. Zweitens liegt dies an den sehr kleinen Forschungsräumen: Nur ca. 500 Palästinenser/-innen wohnen im erweiterten Jüdischen Viertel und nur eine dreistellige Zahl an Mönchen sind in Jerusalem. Im dritten Forschungsraum, der kleinen Nachbarschaft, ist es besonders die das Feld bestimmende Großfamilie, die eine Anonymisierung erschwert. Drittens sind durch die medialen und politaktivistischen Repräsentationen der Altstadt einige meiner Interviewpartner/-innen auch in anderen Kontexten recherchierbar – das trifft besonders auf die Mönche, aber auch auf die Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel zu. Die Anonymisierung erfolgte größtenteils nach Abschluss der Analysen und somit nach der Herausarbeitung der relevanten Strukturen, bzw. nachdem klar wurde, welche Daten so verändert werden können, dass diese Strukturen trotzdem noch erkennbar sind. Die Anonymisierung hat mehrere Teile: Zum einen habe ich in der Darstellung zum Teil Bezeichnungen von Wohnorten, Ausbildungsstätten, Arbeitgebern, Organisationen sowie Nachbarschafts- und Familiennamen unerwähnt gelassen. Genauso müssen die Leser/-innen in einigen Fällen auf den intersubjektiven Nachvollzug in Form von Medien- oder Literaturangaben verzichten. Besonders bedauernswert ist das deshalb, weil darunter die historische und gesellschaftliche Einbindung der Biographien und auch der relevanten Orte leidet. Zum anderen werden nicht nur Namen, sondern auch weitere identifizierbare Merkmale wie Alter, Berufe, Familienangaben und weitere Daten verändert. Im Forschungsraum der Mönche habe ich zum Teil sehr rigorose Anonymisierungsmethoden wählen müssen, da der Schutz der Person vor dem der Nachvollziehbarkeit steht. Die Anonymisierung kann generell als eine spezifische Herausforderung für eine stadtsoziologische Perspektive und für die Forschung in einem beengten, ideologisch aufgeladenen Raum begriffen werden.

Geschichte Ostjerusalems seit 1948

Im Folgenden werden in groben Linien wichtige historische Entwicklungen in der Geschichte Jerusalems nachgezeichnet, die für die empirischen Teile dieser Arbeit bedeutsam sind und auf die in den Falldarstellungen verwiesen wird. Da ich mich in den empirischen Kapiteln auf die historischen Abschnitte nach 1948 konzentriere, fokussiert auch meine Darstellung auf die Zeit nach diesem historischen Umbruch. Dabei ist auffallend, dass die Jerusalemer Stadtgeschichte bis zu an-Nakba 1948 – im Zuge derer ca. 700.000 bis 750.000 Palästinenser/-innen aus dem britischen Mandats- und späteren israelischen Staatsgebiet vertrieben wurden oder geflohen sind – sehr gut erforscht ist, während die Periode der jordanischen Herrschaft über den Ostteil der Stadt relativ wenig wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Zu erwähnen ist vor allem die ausführliche Monographie von Kimberly Katz (2005), die sich aber auf politische Aspekte konzentriert und das soziale und kulturelle Gefüge Jerusalems weitgehend außen vor lässt. So wurde Katz’ Buch vorgeworfen, es nehme die »normalen« Jerusalemer zu wenig in den Blick und gehe nicht darauf ein, wie »nearly two decades of Jordanian rule conditioned their lives and prospects« (Khoury 2008: 617).1 Die historiographische Vernachlässigung dieser Periode ist sinnbildlich für den vorherrschenden Fokus auf besonders politisierte Abschnitte der Jerusalemer Geschichte.2

5.1

D IE

JORDANISCHE

H ERRSCHAFT 1948-1967

Jerusalem wurde während der britischen Mandatszeit (1920-1948) immer mehr zu einem nationalen Symbol (Cohen 2011: 2) und spielte vor allem im palästinensischen Nation-Building eine zentrale Rolle (Khalidi 1997). Die Briten hatten die

1

Vgl. zum Westjordanland in dieser Periode Hilal 1976; Mishal 1978; Plascov 1982; Kim-

2

Vgl. zu den folgenden Abschnitten auch Becker/Worm 2015.

merling/Migdal 1993.

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Osmanen im Ersten Weltkrieg besiegt und das Mandat vom Völkerbund erhalten. Bereits ab Beginn des 20. Jahrhunderts, also während der letzten Jahre der osmanischen Herrschaft über Palästina, begannen Teile der palästinensischen Bevölkerung, sich als politische Community zu begreifen. Der lokale Zugehörigkeitssinn zum Beispiel zu Jerusalem war schon zuvor ausgeprägt und trug zur Entwicklung des Nationalgefühls bei: »[A] love of country, and a local patriotism […] were crucial elements in the construction of nation-state nationalism.« (Khalidi 1997: 21, vgl. zur Geschichte Palästinas vor 1948 vor allem Krämer 2002) Vor dem Krieg von 1948, der auf die Staatsgründung Israels folgte, hatte Jerusalem eine Einwohnerschaft von ca. 164.000 Personen – 69.000 Palästinenser/ -innen und 97.000 Jüdinnen und Juden.3 Die Stadtgrenzen waren allerdings sehr eng gezogen und haben bis in die 1950er Jahre zum Beispiel nicht einmal das gesamte neben der Altstadt gelegene Bauerndorf Silwān eingefasst. Durch die Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Kräften 1947/48 und den darauffolgenden Krieg 1948 kam es zu Fluchtbewegungen. Ungefähr 60.000 Palästinenser/ -innen flohen aus den palästinensischen Stadtteilen im späteren israelischen Westteil Jerusalems und aus umliegenden Dörfern westlich von Jerusalem, überdurchschnittlich viele zogen zumindest übergangsweise in die Altstadt. In geringerem Maße flohen Jüdinnen und Juden aus einigen östlich gelegenen Stadtteilen und der Altstadt in den Westteil der Stadt. Auch in der Altstadt kam es seit Dezember 1947 zu täglichen Auseinandersetzungen und einer stärkeren Separation der jüdischen und arabischen Bewohner/-innen. Das Westjordanland und Ostjerusalem (und damit auch die Altstadt) wurden im Laufe des Krieges von 1948 von Jordanien eingenommen. Das damalige Jüdische Viertel der Altstadt wurde nach einer langen Belagerung am 28. Mai 1948 von seiner jüdischen Bevölkerung und den Kämpfern verlassen. Danach siedelten sich palästinensische Flüchtlinge in dem stark zerstörten Viertel an (Davis 1999: 45; Morris 2004: 116-125). Am 3. April 1949 wurde ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Jordanien vereinbart, und 1950 wurden Ostjerusalem und das Westjordanland von Jordanien annektiert. Ostjerusalem, das zu Beginn der 1950er Jahre eine Stadt mit ca. 45.000 Einwohnern war, lag nun an einem entlegenen Eck des haschemitischen Königreichs, weit entfernt von der Hauptstadt Amman. Während Jerusalem in der britischen Mandatszeit die Hauptstadt war, stufte Jordanien 1951 die in der Stadt vorhandenen Regierungseinrichtungen herunter. Wichtige Institutionen wie die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine), verlegten ihr Hauptquartier nach Amman. Zwar waren Palästinenser Mitglieder in verschiedenen jordanischen Regierungen, aber symbolisch und ökonomisch wurde das Westjordanland benachteiligt. Der jordanische Staat bemühte sich, die palästinensische Na3

In verschiedenen Quellen unterscheiden sich die Zahlen zum Teil erheblich. Diese Zahlen gelten für 1946, vgl. Dumper 2014: 42.

G ESCHICHTE O STJERUSALEMS

SEIT

1948

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tionalbewegung zu schwächen, da diese auch die jordanische Herrschaft infrage stellte. Cohen (2011: 5) argumentiert, dass es auch diese Benachteiligung Jerusalems und seiner Bewohner/-innen war, die deren palästinensische Zugehörigkeit am Leben hielt. Obwohl die etablierteren Jerusalemer Familien die Herrschaft der Jordanier tendenziell stützten, war deren Akzeptanz nie gewährleistet, und wenn sie akzeptiert wurde, dann meistens nur in passiver Weise. Obwohl der jordanische König Abdallah im Juli 1951 beim Freitagsgebet in der Masǧid al-Aqṣā (der AqsaMoschee auf dem Tempelberg) von einem palästinensischen Nationalisten ermordet worden war, blieben offene Äußerungen der Opposition gegen die Jordanier zunächst selten. Die 1950er Jahre waren Rezessionsjahre. Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich erst im Laufe des folgenden Jahrzehnts. Viele Jerusalemer zogen ins Ostjordanland (also nach Jordanien in seinen heutigen Grenzen) oder in die Golfstaaten, um dort zu arbeiten und Teile des Lohns zu ihren Verwandten nach Jerusalem zu schicken, weil dort die Arbeitslosigkeit hoch war und die Löhne gering waren. Deswegen wuchs die Jerusalemer Bevölkerung nur langsam. Die Emigration betraf vor allem die ›alteingesessenen‹ Jerusalemer Familien (Benvenisti 1996: 189-190; Dakkak 1981: 143-144). Es gab in Jerusalem zu dieser Zeit eine sehr große Unterschicht: »The wealth of the few stood in sharp contrast to the poverty and miserable conditions in which most members of the Muslim community lived, and this wide gap between the strata of Muslim society in Jerusalem remains one of its conspicuous characteristics to this day.« (Benvenisti 1996: 8-9) Dieser Zustand spiegelte sich in den Bildungskarrieren wider: 70 Prozent der palästinensischen Jerusalemer/ -innen hatten bis 1967 acht oder weniger Jahre Schulbildung genossen, und nur 7 Prozent beendeten die dreizehnjährige Sekundarschule (Romann/Weingrod 1991: 100). Weil die Unzufriedenheit mit der Vernachlässigung der Stadt durch das haschemitische Königreich stieg, ließ König Hussein Ostjerusalem 1959 als symbolischen ›Ausgleich‹ zur zweiten Hauptstadt ausrufen. Er begann mit dem Bau eines Palastes. Dennoch kam es in der ersten Hälfte der 1960er Jahre verstärkt zu öffentlichen antijordanischen Kundgebungen. 1963 starben elf Palästinenser bei Protesten. Kurz vor dem Krieg von 1967 kam es in Folge eines israelischen Angriffes auf ein palästinensisches Dorf zu antijordanischen Großdemonstrationen in Ostjerusalem, bei denen es im November 1966 zahlreiche Tote gab. Bis zum Vorabend des Krieges gingen die Auseinandersetzungen weiter. Gerade zu jenem Zeitpunkt, als Jerusalem von den Israelis erobert wurde, war die antijordanische Stimmung stark ausgeprägt und das palästinensische Zugehörigkeitsgefühl tendenziell im Steigen begriffen (Migdal 1980; Kimmerling/Migdal 1993; Cohen 2011: 5).

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5.2

D IE

ISRAELISCHE

B ESATZUNG

AB

1967

Im Rahmen des Krieges von 1967 (›Sechstagekrieg‹) drang die jordanische Armee am 5. Juni nach Westjerusalem ein, wurde jedoch innerhalb eines Tages zurückgeschlagen, und die israelische Armee ging in die Gegenoffensive. In der Altstadt brach der letzte jordanische Widerstand am 7. Juni zusammen.4 Hunderttausende Palästinenser flüchteten in die Nachbarländer, darunter zwischen 14.000 und 20.000 Einwohner/-innen Jerusalems.5 Ostjerusalem wurde im Anschluss de facto von Israel annektiert (siehe weiter unten in diesem Abschnitt). Ende 1967 gestand die israelische Regierung auf Basis eines Zensus, der allerdings diejenigen Bewohner/ -innen nicht erfasste, die während des Krieges geflohen waren oder die sich ohnehin im Ausland aufgehalten hatten (UN 2011: 10), in Ostjerusalem beschränkte politische Partizipationsmöglichkeiten sowie später Zugang zu Wohlfahrtsleistungen zu.6 Die Ostjerusalemer/-innen erhielten die sogenannte Jerusalem ID, eine Aufenthaltsgenehmigung, die rechtlich dem Status einer ›dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung‹ entspricht, wie sie auch ausländische Staatsbürger/-innen unter gewissen Umständen in Israel erhalten können. Die meisten Bewohner/-innen Ostjerusalems sind bis heute keine israelischen Staatsbürger/-innen – sie besitzen neben der Jerusalem ID einen jordanischen Reisepass. Die Ostjerusalemer/-innen erhielten durch die Jerusalem ID Zugang zu einer begrenzten Anzahl politischer Rechte. Sie können zum Beispiel an Kommunalwahlen teilnehmen, aber nicht an Abstimmungen 4

Für einen journalistisch geprägten Bericht über die Kämpfe um die Stadt während des Krieges von 1967 vgl. Schleifer (1971) und außerdem Special document file: Jerusalem 1967 (2007). In den von mir geführten Interviews sind immer wiederkehrende Motive, dass die jordanischen Soldaten sich dem Kampf durch Flucht entzogen hätten und dass die ältere Generation unfähig gewesen sei, mit der neuen Situation umzugehen. Viele seien unnötigerweise geflohen und hätten sich scharenweise in Busse in Richtung des Ostjordanlandes gesetzt.

5

Laut Dumper (1997: 74) 14.000 Einwohner/-innen in den Stadtgrenzen vor 1967 und 20.000 Einwohner/-innen, wenn die durch Israel direkt nach 1967 erweiterten Stadtgrenzen zur Berechnung herangezogen werden. Das ist grob zwischen 13% und 20% der Bevölkerung.

6

Mit dem Law and Administration Ordinance Law wurde Ostjerusalem ins israelische Rechtssystem eingegliedert. Dabei wurden aber zahlreiche Ausnahmen festgelegt. Dies betraf vor allem Gesundheits- und Arbeitsvorschriften sowie das Schulsystem, das (nach einigen gescheiterten Versuchen der Integration in das israelische System gegen starken palästinensischen Widerstand) weitgehend in der vormals von Jordanien verwalteten Weise weitergeführt wurde. »This has led to a lack of congruity between political borders, the security borders, the consistent application of legal jurisdiction and the varying degrees of service provision in East Jerusalem.« (Dumper 2008: 11).

G ESCHICHTE O STJERUSALEMS

SEIT

1948

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auf nationaler Ebene.7 In Ostjerusalem gilt zudem das israelische Zivilrecht und nicht militärisches Besatzungsrecht wie im Westjordanland, was – wenigstens formal – mehr Rechtssicherheit bedeutet. Ostjerusalemer/-innen haben auch Anspruch auf Sozialleistungen, Gesundheits- und Rentenversicherungsleistungen, und sie besitzen Freizügigkeit in und außerhalb Israels. Die Steuern in Ostjerusalem wurden in den Jahren nach dem Krieg dem Niveau im Westteil der Stadt angeglichen. Da Löhne in Ostjerusalem durchschnittlich viel niedriger waren und sind, ist der palästinensische Bevölkerungsteil durch einkommensunabhängige Steuern stark belastet. Viele Gebiete der Altstadt sind zum Beispiel in die höchste Klasse der im israelischen Vergleich sowieso am höchsten angesetzten Grundsteuer Arnona eingeteilt. Diese berechnet sich – auch bei Mietobjekten – nach den Quadratmetern von Wohnung oder Gewerbe. Für einzelne Teile der Bevölkerung macht sie bis zu 20 Prozent des Einkommens aus (Vitullo 1998). Gleich nach dem Krieg erweiterte Israel die Stadtgrenzen um ca. 70 km² und annektierte dieses Stadtgebiet de facto.8 1980 verabschiedete die Knesset das Basic Law: Jerusalem, Capital of Israel, das Jerusalem zur wiedervereinigten und untrennbaren Hauptstadt Israels erklärte – was die internationale Staatengemeinschaft nicht anerkannte. Durch die Ausweitung der Stadtgrenzen 1967 stieg die Einwohnerzahl Ostjerusalems auf 65.000 (Romann/Weingrod 1991: 19-21). Im erweiterten Stadtgebiet waren einige Flächen städtebaulich unentwickelt. Ungefähr ein Drittel der neuen Stadtfläche, die zuvor in palästinensischem Besitz war, wurde seit 1967 enteignet und für den Bau von neuen, jüdisch geprägten Siedlungen ausgewiesen (Dumper 2008: 10; Romann/Weingrod 1991: 33). Vor allem ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre entstanden zahlreiche, fast ausschließlich von jüdischen Israelis bewohnte Siedlungen/Stadtteile in Ostjerusalem.9 Direkt nach dem Krieg hatte Israel bereits das unmittelbar an die Klagemauer angrenzende Ḥārat alMaġāriba (Marokkanisches Viertel) in der Altstadt zerstört. Später wurden außerdem 6.000 Palästinenser/-innen im südlichen Teil der Altstadt enteignet und durch die generelle Neugestaltung der Bebauung ein erweitertes Jüdisches Viertel definiert (vgl. dazu ausführlich Kap. 8.1). Die Besatzung Ostjerusalems führte trotz der formalen Vereinigung der Stadt nicht zu einer ›gemischten‹ Stadt (Rabinowitz/Monterescu 2008: 217-218). Vielmehr betonen fast alle Autorinnen und Autoren die Trennung von beinahe allen Lebensbereichen; lediglich in gewissen Arbeitskontexten und in einigen öffentlichen 7

Dass die Jerusalem ID auch entzogen werden kann, wurde seit 1995 politisch ausgenutzt, vgl. dazu Kap. 5.4.

8

Zur komplizierten rechtlichen Konstruktion der ›De-facto-Annektierung‹ vgl. Lustick

9

Andere Stadtteile Ostjerusalems gelten noch immer als palästinensisch, auch wenn dort

1997. jüdische Siedlungen etabliert wurden (zum Beispiel aš-Šaiḫ Ǧarrāḥ oder Silwān).

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Einrichtungen (z.B. bis zu einem gewissen Grad in Krankenhäusern) kam und kommt es zu regelmäßigen Interaktionen zwischen Israelis und Ostjerusalemer Palästinensern. Die meisten staatlichen und städtischen Einrichtungen sowie Nahverkehr, Einkaufsviertel, Rettungs- und Bildungseinrichtungen sind weitgehend getrennt. Deswegen wird Jerusalem weiterhin als ›geteilte Stadt‹ eingeordnet (ebd.). Trotz der legalen Ungleichbehandlung und der lebensweltlichen Trennung der Einwohnergruppierungen gab es nach 1967 zunächst wenig Aufbegehren gegen die israelische Besatzung in Jerusalem. Cohen (2011: 8) sieht die Ursache dafür neben dem gut funktionierenden israelischen Sicherheitsapparat in der wirtschaftlichen Lage, die sich für viele Einwohner/-innen nach 1967 spürbar verbesserte: »The Palestinian inhabitants of the city enjoyed, for the most part, economic advantages from living under Israeli government, especially in connection with employment and allowances. So they did not hurry to act against the occupation or even to organize national institutions.« Zwar setzte schon in den 1960er Jahren, vor der Besatzung, eine Besserung der wirtschaftlichen Lage ein. Die Armut während der Zeit der jordanischen Herrschaft blieb für die unteren Schichten der palästinensischen Bevölkerung in Jerusalem aber so erdrückend, dass der wirtschaftliche Aufschwung nach 1967 für viele eine deutliche Verbesserung der Lage darstellte. Sie nahmen in Kauf, dass er vor allem auf der Ausbeutung der Arbeitskräfte im israelischen Arbeitsmarkt beruhte – viele von ihnen verbanden die Verbesserung mit der israelischen Besatzung (die ›Jordanische Generation‹, vgl. Kap. 7.2.4 und Becker 2013). Diese wirtschaftliche Entwicklung ist Gegenstand von Analysen in der etwas älteren israelischen Forschungsliteratur. Joel Migdal (1980: 46) weist auf den Wirtschaftsboom zwischen 1967 und 1973 hin und formuliert etwas apologetisch: »The occupation itself turned out to be more benign than the Palestinians I interviewed dared hope in the early days of June 1967.« Das Bruttosozialprodukt sei im Westjordanland in diesem Zeitraum zwischen 15 und 18 Prozent pro Jahr gestiegen (vorsichtigere Schätzungen gehen von 7% bis 9% aus). Dieser Anstieg sei aber vor allem der Einbindung von billigeren palästinensischen Arbeitskräften in die israelische Wirtschaft zu verdanken gewesen. Durch den Zugang zum jüdisch-israelischen Arbeitsmarkt hat sich das durchschnittliche palästinensische Einkommen in Jerusalem von 1967 bis zum Ende der 1970er Jahre verdoppelt, und es stieg bis 1987 weiter. Das habe an den höheren Löhnen und der sozialen Absicherung gelegen, so Romann und Weingrod (1991: 117). Sie (ebd.: 122) und Benvenisti (1996: 193) betonen aber, dass es vor allem die unteren palästinensischen Einkommensschichten waren, die ihre ökonomische Situation hätten verbessern können. Sie profitierten von den höheren Gehältern für einfache Positionen in Westjerusalem (dort seien selbst die Gehälter für Tagelöhner um bis zu 40 Prozent höher gewesen als in Ostjerusalem). Zudem habe es einige ökonomische Nischen in einfacheren Wirtschaftszweigen gegeben, in denen Selb-

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ständige in Ostjerusalem erfolgreich sein konnten, zum Beispiel Souvenirläden, Taxi- und andere Fuhrbetriebe, die prosperierten (Romann/Weingrod 1991: 113-114). 1970 arbeiteten 5.400 Palästinenser in Westjerusalem, 1980 waren es 8.600. Davon waren die meisten als Arbeiter (60%) und 20 Prozent als ungelernte Beschäftigte im Dienstleistungsbereich angestellt. Das wurde in der israelischen Gesellschaft mit dem Begriff ›arabische Arbeit‹ umschrieben – die Proletarisierung der Ostjerusalemer/-innen (ebd.: 101-103; Benvenisti 1996: 193), von der vor allem die Westjerusalemer Bevölkerung profitierte (Robinson 1997: 29). Andere palästinensische Berufsgruppen hatten gegen die Westjerusalemer Konkurrenz einen schweren Stand. Das Bildungssystem blieb an Jordanien orientiert, nachdem es nach 1967 zu palästinensischen Protesten gegen die Einführung von israelischen Curricula gekommen war. Somit blieb palästinensischen Schulabgängern der Zugang zu bestimmten Berufszweigen und zur israelischen Tertiärbildung weitgehend verwehrt (Romann/Weingrod 1991: 107). Im Laufe der Jahre, so Benvenisti (1996: 193), habe in der Ostjerusalemer Bevölkerung der Vergleich mit der Situation vor der Besatzung nachgelassen und stattdessen habe ein Vergleich mit den inzwischen verbesserten ökonomischen Bedingungen in Jordanien und mit der jüdischen Bevölkerung Israels eingesetzt. Über 500.000 Palästinenser/-innen, vor allem Mitglieder der Mittel- und Oberschichten seien zwischen 1967 und der Ersten Intifada (1987-ca. 1993) aus den besetzten Gebieten ins Ausland migriert (Robinson 1997: 31). Eine ähnlich ambivalente Situation bot sich für die Jerusalemer/-innen in Bezug auf die infrastrukturellen Bedingungen. Ostjerusalem wurde in dieser Hinsicht vernachlässigt: Für die palästinensischen Einwohner/-innen setzte die Stadtverwaltung jeweils nur zwischen zwei und 13 Prozent ihres Budgets an, obwohl diese – je nach Jahr und Statistik – zwischen ca. einem Viertel und mehr als einem Drittel der Jerusalemer Gesamtbevölkerung ausmachten (Benvenisti 1996: 126).10 Doch zu Beginn der Besatzung wurden einige größere infrastrukturelle Projekte verwirklicht, die die Lebenssituation gerade ärmerer Palästinenser/-innen verbesserten. Zuvor bezogen 60 Prozent der Bevölkerung ihr Wasser aus 6.200 Zisternen, häufig waren die arabischen Stadtteile weder an das Abwassersystem noch an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen; gerade in der Altstadt hat die israelische Besatzungsmacht in diesen Bereichen investiert (ebd.: 125; Romann/Weingrod 1991: 60). In politischer Hinsicht war das palästinensische Ostjerusalem bis in die 1980er Jahre hinein von linken politischen Fraktionen dominiert. Nur langsam gewannen andere Gruppen wie die Muslimbrüder oder die Fatḥ (Fatah) an Einfluss. Letztere wurden in den 1980er Jahren zur bestimmenden politischen Partei (Cohen 2011: 810). Ältere Zusammenschlüsse, die besonders auf ›alteingesessenen‹ Jerusalemer 10 Im Jahr 2013 waren es 13% des Budgets, vgl. Association for Civil Rights in Israel (2015).

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Familien beruhten (wie z.B. der Oberste Muslimische Rat), verloren an Einfluss, eine Entwicklung, die sich während der Ersten Intifada noch verstärkte. Zur Integrationsfigur für die Jerusalemer palästinensische Bevölkerung wurde Faisal alHusseini, der PLO-Kader und Mitglied einer angesehenen Jerusalemer Familie war. Er versuchte, über das seit 1983 von ihm geleitete ›Orienthaus‹ alle politischen Fraktionen in Jerusalem in einen Dialog einzubinden und gleichzeitig die Kontakte mit der PLO-Exilführung in Tunis zu pflegen. Insgesamt hatte Jerusalem in den 1980er Jahren eine zentrale kulturelle und politische Stellung für die palästinensische Gesellschaft in den besetzten Gebieten. Das lag zum einen daran, dass es neben dem ökonomischen zu einem Bildungsaufschwung auch für die untere Mittelschicht kam, was mit deren verstärktem politischem Interesse einherging. Zusätzlich konnte sich Ostjerusalem dadurch, dass Zivilgesetze galten, viel stärker als Ort für einen öffentlichen Meinungsaustausch etablieren – zumindest mehr als das Westjordanland. Zahlreiche Medien und Kulturinstitutionen hatten ihren Sitz im Ostteil der Stadt (ebd.: 11). Gegen Ende der 1980er Jahre konnten auch die islamischen Parteien bzw. Organisationen Ḥamās, Hizb at-Taḥrīr und der Islamische Jihad in Jerusalem bis zu einem gewissen Grad Fuß fassen. Das lag auch an der stärkeren Betonung der religiösen Symbolkraft Jerusalems: Die Palästinenser/ -innen sahen Jerusalem verstärkt als durch die Besatzung gefährdetes religiöses Zentrum (ebd.: 11-15).11 Die oben beschriebene relative Ruhe in den Jahren nach Beginn der israelischen Besatzung wurde in Ostjerusalem von Anfang an immer wieder durch Attentate erschüttert. Das zeigte die nur scheinbare Koexistenz auf: 1968 und 1969 gab es Feueranschläge auf die Masǧid al-Aqṣā (al-Aqsa-Moschee); 1982, 1983 und 1984 weitere tatsächliche oder geplante Attentate auf dem Haram aš-Šarīf (Tempelberg). Immer wieder versuchten religiöse jüdische Gruppen seit den 1970er Jahren, gewaltsam Zugang zum Tempelberg zu erlangen. Ab den frühen 1980er Jahren kam es verstärkt zur Aneignung von Wohnungen und Gebäuden durch jüdische Siedler/innen in palästinensischen Wohnvierteln Ostjerusalems (Dumper 1992: 32; Kap. 6.6).

5.3

D IE E RSTE I NTIFADA UND DANACH

Die Erste Intifada (1987-ca. 1993) begann in Jerusalem mit wochenlangen Demonstrationen. Sie wurde unter anderem durch Ariel Scharons Bezug einer Wohnung in der Altstadt am 15. Dezember 1987 ausgelöst. Es folgten ausgedehnte Streiks der Ostjerusalemer Händler, die Bildung von Aktionskomitees, Schulschlie11 Ausländische Organisationen sowie Kirchen und Staaten (wie Jordanien) haben auch Einfluss auf bestimmte Bereiche der Stadtpolitik in Jerusalem.

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ßungen und viele weitere Aktionen. Die Streiks waren für die Händler einschneidend: 24 Tage blieben Geschäfte in Ostjerusalem ganztätig geschlossen. Die Intifada-Aktivisten bedrohten diejenigen, die nicht beim Streik mitmachten. Ende Januar 1988 durften Läden wieder für drei Stunden geöffnet werden (Hunter 1993: 108112; Kelly 2008). Die populär gewordenen Bilder der Ersten Intifada zeigen junge Steinewerfer, die sich gegen bewaffnete Soldaten richten. Viele von ihnen waren noch Kinder oder Jugendliche, und viele von ihnen wurden einmal oder mehrfach für kürzere oder längere Perioden in Israel inhaftiert und auch gefoltert. Die Gefängnisaufenthalte waren das prägende Moment für die Aktivistinnen und Aktivisten dieser Generationseinheit der sogenannten ›Erste Intifada-Generation‹ (Kap. 7.2.4 und Becker 2015). Für andere Kinder und Jugendliche bedeutete die Intifada dagegen vor allem eine Unterbrechung ihrer Bildungskarrieren, da Schulen und Universitäten für längere Perioden geschlossen wurden (Robinson 1997: 101). Die Erste Intifada hatte einen großen Einfluss auf das innerpalästinensische Gesellschaftsgefüge. Die Aktivisten der Erste Intifada-Generation erhielten im Verlaufe des Aufstandes immer mehr Einfluss in der palästinensischen Gesellschaft. Dafür verloren traditionelle Eliten an Einfluss – dazu gehörte zum Beispiel die abnehmende Bedeutung der Position des muḫtār, zu dessen Aufgaben die Regelung von Angelegenheiten in Stadtteilen und Nachbarschaften gehörte und der auch den administrativen Austausch mit den israelischen Institutionen gepflegt hatte (Cheshin et al. 1999: 74). Menachem Klein (2001: 80) merkte an, die Ostjerusalemer Bevölkerung sei weniger aktiv an der Intifada beteiligt gewesen als die Einwohner/-innen Gazas oder des Westjordanlandes: »The political elite led the uprising in East Jerusalem, but there were also elements in the city that sought to restrict and moderate the expression of the Intifada in Jerusalem because of economic interests.« Jerusalemer/ -innen hätten sich weniger stark aufgelehnt, da sie einerseits in einer stärkeren Abhängigkeit von Israel gewesen seien und andererseits mehr Freizügigkeit genossen hätten (ebd.: 79). Während Klein (ebd.: 80) weiter ausführt, dass die palästinensischen Flüchtlingslager und die Jerusalemer Vororte an der Stadtgrenze die aktivsten Orte während des Aufstands gewesen seien, argumentieren Cheshin et al. (1999: 63), die Altstadt sei das Zentrum der Aktivitäten in Jerusalem gewesen: Dort konnte internationale Aufmerksamkeit erlangt werden und die verwinkelten Gassen seien prädestiniert gewesen für politische Aktionen, weswegen die Altstadt als gefährlich gegolten habe.12 Neben den regelmäßigen Zusammenstößen zwischen politisch aktiven palästinensischen und israelischen Kräften gab es in dieser Periode einige herausragende gewaltsame Auseinandersetzungen. Beim sogenannten Tempelberg-Massaker im 12 Daoud Kuttab (1988: 16) geht davon aus, dass die Altstädte nach den Flüchtlingslagern die aktivsten Orte während der Ersten Intifada gewesen seien.

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Jahr 1990 erschossen israelische Soldaten 17 Palästinenser auf dem Haram ašŠarīf. Zuvor seien von dort während einer palästinensischen Demonstration Steine auf den Platz vor die Klagemauer geworfen worden (Dumper 2002b: 84; Special file: The Haram al-Sharif [Temple Mount] killings 1991). Und trotz des ab 1993 beginnenden sogenannten Oslo-Friedensprozesses setzten sich in dieser Periode Auseinandersetzungen, palästinensische Anschläge, Übergriffe durch israelische Soldaten sowie der forcierte Siedlungsbau fort. Bei Demonstrationen gegen die Öffnung des ›hasmonäischen Tunnels‹ – ein Tunnel, der entlang der Tempelbergmauer unter Wohngebieten der Altstadt hindurchführt – wurden im September 1996 86 Palästinenser/-innen und 15 Israelis getötet (Dumper 2002b: 85). In den seit 1993 laufenden Verhandlungen und im Abkommen von Oslo blieb das Thema Jerusalem ausgeklammert, so dass die Vereinbarungen, die auch die Formierung von palästinensischen Quasi-Regierungsinstitutionen vorsahen, dort nicht griffen. Trotzdem versuchten palästinensische Sicherheitskräfte, in Ostjerusalem Einfluss zu gewinnen, zum Beispiel durch eine Art inoffizielle Polizei, die vor allem den Drogenhandel bekämpfen sollte – ein Bereich, in dem der israelischen Polizei immer wieder Passivität vorgeworfen worden war. In den zentralen Ostjerusalemer Stadtteilen wie der Altstadt behielt allerdings die israelische Polizei die Oberhand. Das deutet darauf hin, dass die Ostjerusalemer Einwohner/-innen eine Zwischenstellung zwischen Israel und der 1994 im Zuge des Friedensprozesses gegründeten Palästinensischen Autonomiebehörde sowie zwischen lokalen und nationalen palästinensischen Organisationen eingenommen und einen Zwiespalt zwischen nationalem Befreiungskampf und persönlichen Interessen wahrgenommen haben. Das habe dazu geführt, dass sie gegen Ende der 1990er Jahre zunehmend politisch passiv wurden, so Cohen (2011: 27-30). Parallel zu den Friedensverhandlungen begann Israel das, was es als sein Staatsgebiet begriff (also auch Ostjerusalem), immer stärker vom Westjordanland abzuschotten. Bewohner/-innen des Westjordanlandes fiel es zunehmend schwerer, nach Jerusalem zu kommen, ihre Freizügigkeit wurde weiter eingeschränkt. Ostjerusalem verlor seine Rolle als palästinensisches Zentrum, und der Austausch der Bewohner/-innen mit denen aus dem Westjordanland nahm ab. Cohen (ebd.: 18) sieht darin einen Grund für eine, wie er argumentiert, distinkte Ostjerusalemer Zugehörigkeit: »[T]here is no doubt that excluding Arab Jerusalem from the jurisdiction of the Palestinian Authority increased the distance between Jerusalem residents and the residents of the West Bank, reinforced their status as being connected to Israel no less than to the Occupied Territories, and augmented the creation of a unique Jerusalem Palestinian identity.«

Der Oslo-Friedensprozess kam spätestens mit dem Beginn der Zweiten Intifada Ende September 2000 zum Erliegen. Zwar beruhten die Demonstrationen zu Beginn

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dieser Intifada auch darauf, dass viele Palästinenser/-innen vom Friedensprozess desillusioniert waren, doch einer der kurzfristigen Auslöser war auch der umstrittene Besuch Ariel Scharons auf dem Haram aš-Šarīf. Die Zweite Intifada wurde von den politischen Organisationen (bzw. ihren militärischen Ablegern) und viel weniger von der breiten Bevölkerung getragen als die Erste Intifada; sie war auch bedeutend militanter. Tobias Kelly (2008: 353) argumentiert, im Gegensatz zur Ersten Intifada hätten die meisten Palästinenser/-innen während der Zweiten Intifada versucht, ihr Alltagsleben fortzuführen: zu arbeiten und den Familienunterhalt zu sichern. Doch auch diese Intifada bedeutete tiefe Eingriffe in das palästinensische Alltagsleben wie zum Beispiel durch zunehmende infrastrukturelle Einschränkungen und alltägliche Unsicherheit, Schließungen von palästinensischen Institutionen (in Jerusalem z.B. des Orienthauses) und regelmäßige Demonstrationen, Verhaftungen und Folter (Cohen 2011: 43).13

5.4

Z UNEHMENDE K ONTROLLE DER O STJERUSALEMER P ALÄSTINENSER /- INNEN

Jerusalem galt seit Jahrhunderten als das ökonomische Zentrum des zentralpalästinensischen Gebietes, zu dem auch die umliegenden Städte Ramallah und Bethlehem gehören. Von diesem Hinterland wurde Jerusalem seit Beginn der 1990er Jahre in zunehmendem Maße abgeschnitten. Glass und Khamaisi (2005: 9) bezeichnen dies als den stärksten Eingriff in das Jerusalemer Alltagsleben seit 1967. Seither müssen Palästinenser/-innen ohne Jerusalem ID oder israelische Staatsbürgerschaft Genehmigungen beantragen, um die Stadt zu betreten. Dies behindert den Zugang zu Arbeitsplätzen und religiösen Stätten sowie die Aufrechterhaltung von sozialen und familialen Beziehungen. Viele mediale, kulturelle und wirtschaftliche Einrichtungen wanderten in das Westjordanland ab (IPCC 2009: 6; Dumper 2014: 28; Cohen 2011: 35). Wie unter jordanischer Herrschaft zwischen 1948 und 1967 wurde Ostjerusalem ein randständiges Gebiet. Dieser Prozess wurde durch den Bau der israelischen Sperranlagen seit dem Jahr 2002 noch verstärkt, durch die große Teile Ostjerusalems vom Westjordanland abgetrennt wurden. Im Jerusalemer Stadtgebiet ist die Sperranlage meist als sechs bis acht Meter hohe Mauer ausgeführt. Eine weitere für die Ostjerusalemer/-innen einschneidende Entwicklung begann Mitte der 1990er Jahre. Seit den 1980er Jahren hatten immer mehr Jerusalemer/ -innen eine Wohnung oder ein Haus im Westjordanland bezogen, da Baugenehmigungen für Palästinenser/-innen in Jerusalem extrem schwer zu bekommen sind, 13 Etwa 200 Läden in der Altstadt schlossen während der Zweiten Intifada. Ladenbesitzer selbst nahmen an, dass etwa die Hälfte der Händler ihre Geschäfte verloren (Bell et al. 2005: 16).

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Land teuer ist und im Westjordanland mehr und vor allem günstigeres Land zur Verfügung steht. Allerdings kontrollierten diverse israelische Institutionen seit 1995 verstärkt, ob Inhaber/-innen der Jerusalem ID tatsächlich innerhalb der Stadtgrenzen wohnen. Wenn dies nicht der Fall war, dann wurde ihnen dieser Status entzogen (Vitullo 1998). Der dauerhafte Wohnsitz in Jerusalem muss nun regelmäßig nachgewiesen werden. Zum Teil müssen Palästinenser/-innen im Zuge dieser Center of Life Policy ihre Telefonrechnungen, Mietverträge oder Elektrizitätsrechnungen aus Jerusalem vorlegen. Um ihren Jerusalemer Status nicht zu verlieren, sind zudem viele Palästinenser/-innen wieder in das Stadtgebiet zurückgezogen oder halten dort zumindest symbolisch ihren Erstwohnsitz.14 Dies hat zu einem massiven Bevölkerungszuwachs geführt. Dumper (2014: 30) geht davon aus, dass es alleine zwischen 2003 und 2014 zu einem Zuwachs von 20.000 bis 30.000 Palästinensern kam, wovon ein Drittel in die Altstadt zog. Der Jerusalemer Aufenthaltstitel kann aber nicht nur wegen Wegzug, sondern auch aus politischen Gründen entzogen werden. Immer wieder diskutierte die israelische Regierung, ob er selbst Angehörigen von ›Attentätern‹ und ›Steinewerfern‹ aberkannt werden könnte (Newman 2014; Times of Israel 2014). Die Gefahr des Entzugs ihrer Jerusalem ID, die Jerusalemer/-innen als ständig über sich schwebend wahrnehmen, wird im Laufe dieser Arbeit immer wieder thematisiert, da sie die Lebenswirklichkeit der Bewohner/ -innen der Altstadt erheblich bestimmt und auf biographische Entscheidungen (zum Beispiel politisches Engagement, Bildungs- und Heiratsverhalten, Mobilität) einen starken Einfluss ausüben kann.

14 Nach den Angaben des B’Tselem Israeli Information Center for Human Rights sind von 1967 bis 2011 ca. 14.000 IDs annulliert worden (B’Tselem 2011). Kurz vor der Drucklegung dieses Bandes wurde ein Urteil des Obersten Gerichtes Israels veröffentlicht, in dem der Klage eines Ostjerusalemer Palästinensers stattgegeben wurde, dessen Jerusalem ID annuliert worden war. In einem Zeitungsbericht (Lieber 2017) wird der Richter Uzi Fogelman folgendermaßen zitiert: »When the minister must review a request to restore a permanent residency status to an East Jerusalemite, he must consider the unique situation: these residents – as opposed to immigrants who come to Israel and request the status – have strong ties to where they live, as someone born in this area – where sometimes their parents and grandparents were born – and where they established familial and communal life for years.« Es ist unklar, welche Auswirkungen dieses Urteil auf die weitere politische und rechtliche Situation der Ostjerusalemer Palästinenser/-innen haben wird. Lieber (ebd.) geht in seinem Artikel aber davon aus, dass »[t]he unanimous and precedentsetting ruling in his case established a new legal protection for the residency rights of East Jerusalemites«.

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G EGENWÄRTIGE S ITUATION O STJERUSALEMS

Zur Zeit der Abfassung dieses Manuskripts wohnen in West- und Ostjerusalem ungefähr 900.000 Menschen, wobei die Statistiken zum Teil deutlich voneinander abweichen. Ca. 62 bis 66 Prozent der Einwohner/-innen werden als jüdisch ausgewiesen und zwischen 34 und 38 Prozent als palästinensisch. Dieses Verhältnis entspricht ungefähr der von den israelischen Entscheidungsträgern politisch gewollten Bevölkerungszusammensetzung (Dumper 2008: 4). In Ostjerusalem wohnen ca. 300.000 Palästinenser/-innen und ca. 200.000 Jüdinnen und Juden (Jerusalem Institute for Israel Studies 2016a). In vielen Publikationen wird betont, dass Benachteiligungen der Palästinenser/-innen in Ostjerusalem politisch-administrativ gefördert und diese eindeutig diskriminiert werden. Dafür sei vor allem das politische Interesse verantwortlich, eine stabile jüdische Mehrheit in der ›untrennbaren Hauptstadt Israels‹ zu sichern (Cheshin et al. 1999: 10). Zu den Bereichen, in denen die Ostjerusalemer Palästinenser/-innen gegenüber der jüdisch-israelischen Bevölkerung benachteiligt werden, gehören der Landkauf, der Bau und die Anmietung von Wohnungen. Dazu kommen Benachteiligungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen durch die Nicht-Absolvierung des Militärdienstes, die Kontrolle politischer Partizipation sowie Erschwernisse für das Zusammenleben von Ehepaaren und Familien, wenn nicht beide Eheleute eine israelische Staatsbürgerschaft oder Jerusalem ID besitzen (Rouhana/Sultany 2003).15 Damit verknüpft sind Praktiken der stadtplanerischen Illegalisierung, die die Wohnsituation der Palästinenser/-innen in Ostjerusalem außerordentlich erschweren. Das geschieht, indem Landbesitztitel nicht anerkannt und Bauanträge abgelehnt werden, was den legalen Erwerb und Ausbau von Wohnungen und Häusern für viele Palästinenser/-innen in Ostjerusalem sehr erschwert (Braverman 2007). Zudem ist die Infrastruktur in den vor allem durch Palästinenser/-innen bewohnten Bezirken im Vergleich mit den jüdisch-israelischen Stadtteilen deutlich schlechter – ein Beispiel ist der Bildungssektor (Eitan et al. 2013).16 Um dem Wohnungsmangel zu entgehen, ziehen Palästinenser/-innen inzwischen sogar in jüdische Stadtteile – wenn es die jüdisch-israelischen Eigentümer zulassen (Dumper 2014: 30). Dies war noch in den 1980er Jahren undenkbar (Romann/Weingrod 1991: 38). Eine andere Option, den Wohnungsmangel in Ostjerusalem zu umgehen, ist, in Jerusalemer Stadtteile zu ziehen, die administrativ zu Jerusalem gehören, sich aber auf der ›palästinensi15 Diese Erschwernisse sind ungefähr dieselben, wie sie israelische Araber erfahren, die Staatsbürger Israels sind. 16 Als Beispiel einer Debatte um die Ungleichheit sei auf die Verhandlungen vor dem Obersten Gericht verwiesen, in denen es um die ›Postungleichheit‹ ging – während in jüdisch geprägten Stadtteilen die Post in den Briefkasten geworfen wird, müssen Bürger/ -innen Ostjerusalems diese beim nächsten Postamt abholen, vgl. Miller 2015.

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schen‹ Seite der Sperranlage befinden. Dort greift die Kontrolle der Stadtverwaltung nicht. Doch die wahrgenommenen ›Privilegien‹ der Ostjerusalemer/-innen rufen auch den ›Neid‹ der Bewohner/-innen des Westjordanlandes hervor. Sie haben erkannt, dass Jerusalemer/-innen mehr Rechte und Absicherungen haben als sie. Gerade die Sozialleistungen werden in israelischen Medien immer wieder als Argument genannt, warum Ostjerusalemer Palästinenser/-innen unter israelischer Herrschaft verbleiben möchten. Die Palästinensische Autonomiebehörde habe keine finanziellen Möglichkeiten, ein ähnliches Netz sozialer Absicherung aufzubauen, so Anita Vitullo (1998). Sie argumentiert allerdings auch, die traditionellen palästinensischen Netzwerke für Bedürftige würden durch den israelischen Staat in ihrem Handeln gehindert. Theoretisch haben Palästinenser/-innen mit einer Jerusalem ID das Recht, die israelische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Doch dies ist ein langwieriger Prozess ohne Erfolgsgarantie. Von vielen wird die Beantragung auch aus politischen Gründen abgelehnt. Die wachsende Zahl der Anträge steht im Zusammenhang mit der steigenden Gefahr des Verlustes der Jerusalem ID. Diese Entwicklung ist allerdings mit einer Debatte in Ostjerusalem verbunden, die sich darum dreht, ob die Beantragung der israelischen Staatsbürgerschaft einer Anerkennung der Besatzung und somit einer Schwächung der ›palästinensischen Sache‹ gleichkomme.17 Der Prozess der ›Naturalisierung‹ sei de facto, so Halabi (2008: 18-19), der einzige Weg für Ostjerusalemer/-innen, israelische Staatsbürger/-innen zu werden. Unter anderem müssen Antragsteller/-innen dafür bereits drei der vorangegangenen fünf Jahre in Israel gelebt haben, die hebräische Sprache sprechen und die jordanische Staatsbürgerschaft aufgeben. Zudem kann das Innenministerium Anträge ablehnen. Falls bewilligt, müssen Antragstellende ihre Loyalität gegenüber dem Staat Israel beeiden. Halabi (ebd.) nimmt an, dass 2005 ca. 93 Prozent der palästinensischen Einwohner/-innen Jerusalems die Jerusalem ID besaßen und nur 5 Prozent israelische Staatsbürger gewesen seien. Von diesen hätten wiederum nur 12 Prozent die Staatsbürgerschaft durch ›Naturalisierung‹ erlangt (andere wohnen in den wenigen arabischen Gebieten Westjerusalems oder sind mit ihrem israelischen Pass nach Jerusalem gezogen). Es ist momentan nicht absehbar, welche Auswirkungen die gezielte Benachteiligung der palästinensischen Bevölkerung Ostjerusalems haben wird. Wird sie zu deren zunehmender politischer Meinungsäußerung führen und sich somit deren häufig zugeschriebene politische Passivität verändern oder wird sich das Aufrechterhalten des status quo mit Zugang zu Sozialversicherungen und der Erhalt der Jerusalem ID als wichtiger herausstellen? Cohen (2011: 68) argumentiert, es seien vor 17 Noch zu Ende der 1990er Jahre hatte der damalige Mufti von Jerusalem, Ikirme Sabri, eine Fatwa gegen solche ›Verräter‹ erlassen (Cohen 2011: 57).

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allem die politisch aktiven Kräfte gewesen, die das politische Leben Ostjerusalems lebendig gehalten haben und halten. Es gebe in Jerusalem keine die Bevölkerung einigende politische Linie.18 Das einzige, was die palästinensische Bevölkerung zusammenführen könne, sei eine Bedrohung des Haram aš-Šarīf (Tempelberg) (ebd.: 71). Andere Analysten hingegen sehen eine Entwicklung zu einer stärkeren Öffnung in Richtung der jüdisch-israelischen Gesellschaft. Nir Hasson (2012) schreibt in der Zeitung Haaretz über einen von ihm beobachteten überraschenden ›Israelisierungstrend‹ in Ostjerusalem. Die Zahl der Anträge für die israelische Staatsbürgerschaft sei gestiegen (und das Thema kein Tabu mehr) (Barakat 2012), Palästinenser/-innen seien im öffentlichen Leben Westjerusalems deutlicher wahrzunehmen, und sie seien häufiger in israelischen Bildungsinstitutionen eingeschrieben. Als Einschränkung fügt Hasson allerdings hinzu, dass dieser Prozess auf jene Ostjerusalemer Stadtteile beschränkt sei, in denen es den Menschen ökonomisch besser gehe. Hasson verweist also wahrscheinlich auf Mittelschichtstadtteile wie Šuʿafāṭ oder Bait Ḥanīnā. In den ärmeren Stadtteilen sei diese israelorientierte Entwicklung deutlich schwächer ausgeprägt. Dazu gehört auch die Altstadt, der ich mich nun zuwenden werde.

18 In seiner Typologie erfasst er vier politische Ausrichtungen in Jerusalem: den islamischen Zugang, Fatḥ-Nationalismus, Aktivismus oder Passivität (Cohen 2011: 131).

Jerusalems Altstadt: Stadthistorische Diskussionen, jüngste Geschichte und gegenwärtige Situation

Dieses Kapitel dient der historischen Rekonstruktion der jüngeren Altstadtgeschichte und der Einbettung der empirischen Arbeit in die gegenwärtige soziale Realität in der Altstadt. Zunächst gehe ich allerdings auf die in den historisch ausgerichteten Regional- und Islamwissenschaften geführte Debatte um einen ›besonderen‹ Charakter der ›islamischen Stadt‹ oder der ›nahöstlichen Stadt‹ ein (Kap. 6.1). In auf die Gegenwart oder die jüngste Vergangenheit ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Publikationen wird diese Diskussion selten rezipiert. Ich halte sie jedoch für das Verständnis Jerusalems für essentiell, da sie historische Forschungen zur Altstadt stark beeinflusst hat. Darauffolgend stelle ich in komparativer Weise einige dieser Forschungen vor, speziell jene, die einen historischen Ausblick auf die Communities und deren Zusammenleben in der Jerusalemer Altstadt zum Thema haben (Kap. 6.2). Viele dieser Studien haben dazu beigetragen, diskursiv bis heute wirkmächtige Kategorien zu bestimmen oder zu reproduzieren – zum Beispiel die Einteilung der Altstadt in vier ethno-religiöse Viertel. Inzwischen findet aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Kategorien statt, worauf ich anschließend eingehe. Die Annahme von vier ethno-religiösen Vierteln bestimmt dennoch bis heute die israelischen oder ›westlichen‹ Diskurse über die Altstadt und sogar die israelische Politik (Kap. 6.3). Im darauffolgenden Abschnitt gehe ich dem Prozess des umfassenden Bevölkerungswandels in Jerusalem seit Ende des 19. Jahrhunderts nach, der in der Altstadt einen weitgehenden Austausch der Bewohner/-innen durch innerpalästinensische Migration (vor allem aus Hebron) nach sich zog (Kap. 6.4). Dieser Austausch wurde von negativen diskursiven Zuschreibungen an die zugezogenen Familien durch ›alteingesessene‹ Jerusalemer/-innen begleitet. Ich rekonstruiere diese bis in die heutige Zeit wirksame diskursive Abwertung und bette sie in ähnliche historische Prozesse in anderen Städten des Nahen Ostens ein.

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Weiterhin stelle ich sozialwissenschaftliche Studien vor, die sich mit der gegenwärtigen Realität in der Jerusalemer Altstadt beschäftigen (Kap. 6.5). Ich argumentiere, dass es an Arbeiten fehlt, die die Alltagswirklichkeit der Bewohner/-innen jenseits von festgelegten Kategorien wie Politik oder Religion rekonstruieren und die Lebenswirklichkeit und -geschichten der Bewohner/-innen in ihrer ganzen Breite darstellen und analysieren. Zuletzt führe ich mit Rückgriff vor allem auf statistische Daten die notwendigen Hintergründe für die gegenwärtige Lebenswirklichkeit in der Altstadt ein (Kap. 6.6).

6.1

D IE WISSENSCHAFTLICHE D EBATTE UM EINE › ISLAMISCHE S TADT ‹

Gibt es ›islamische Städte‹? Jahrzehntelang beschäftigte Regional- und Religionsforscher/-innen die Frage, ob es einen Typus ›islamische Stadt‹ gebe, ob also der Islam eine bestimmte Stadtform nach sich ziehe. In diesem Abschnitt soll diese Forschungstradition komprimiert nachgezeichnet werden. Für die vorliegende Arbeit ist die Frage von Relevanz, da verschiedene Antworten auf diese Frage Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Einordnung der Altstadt in jüngerer Zeit hatten, ja, bestimmte Vorstellungen sogar Vertreter/-innen der Jerusalemer Stadtverwaltung in ihrem Denken und Handeln beeinflussten (vgl. Kap. 6.3). Janet Abu-Lughod (1987) und Giulia Annalinda Neglia (2008) zeigen in ihren historischen Rekonstruktionen des Konzepts der ›islamischen Stadt‹ auf, dass dieser Terminus auf empirisch mangelhafter Basis und auf Diskussionen über ›den Orient‹ in Frankreich und Deutschland beruhte. Die Vorstellungen von einer ›islamischen Stadt‹ seien von westlichen Wissenschaftlern im 19. und 20. Jahrhundert begründet worden, hätten aber auf einem beschränkten Sample beruht. So habe es eine ›französische Linie‹ gegeben, die sich vor allem auf nordafrikanische Städte gestützt, die Ergebnisse dann für die islamische Welt verallgemeinert und die sich unterscheidenden sozio-politischen und historischen Hintergründe in anderen Regionen außer Acht gelassen habe. Eine zweite Linie habe sich vor allem theoretisch der ›islamischen Stadt‹ angenähert. Zu letzterer gehörte auch Max Weber mit der idealtypischen Unterscheidung von okzidentaler und orientaler Stadt. In der ›islamischen Stadt‹ habe es keine kommunale Organisationsform gegeben. Dies sei unter anderem durch die Relevanz von Nachbarschaften ausgeglichen worden. Das ist für Weber die Struktur ›islamischer Städte‹, die gegensätzlich zu jener der Stadtgesellschaften in europäischen Städten ist (Weber 1980 [1921/22]: 739-741; Neglia 2008: 3-4). Yair Wallach (2011: 13) führt an, den konstatierten Mangel an städtischer Organisation und damit

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zusammenhängend auch an städtischen Plätzen und Gebäuden hätten nachfolgende Forscher/-innen als Beweis für den primitiven Charakter der ›islamischen Stadt‹ ausgelegt. William Marçais, ein wichtiger Vertreter der ›französischen Linie‹, hat dagegen ›konkrete‹ Charakteristika einer ›islamischen Stadt‹ angeführt: Freitagsmoschee, ein nahegelegener Hauptmarkt, ein öffentliches Bad, die hierarchische Ordnung der weiteren Märkte nach Gütern, Trennung zwischen Wohngebieten und NichtWohngebieten und häufig eine Trennung der Nachbarschaften nach Ethnizität der Bewohner/-innen (Abu-Lughod 1987: 155-156; Neglia 2008: 5-8). Diese Charakteristika, so Wallach (2011: 13), seien von weiteren Autorinnen und Autoren zur Kritik an Weber verwendet worden, da städtische Orte wie Märkte, Badehäuser oder die Zentralmoschee auch als öffentlich gelten könnten. Beginnend mit den Publikationen von Ira Lapidus (z.B. 1969) wurde ein stärkerer Fokus auf die städtischen Gesellschaften gelegt und die Frage nach der idealtypischen Stadtform hintangestellt. Lapidus fragte, welche sozialen Elemente überhaupt in einzelnen Städten des Nahen Ostens und Nordafrikas vorkommen. Dabei ging es ihm um die Rolle von Familien, Nachbarschaften, Staats- und Stadtverwaltung und religiösen Organisationen. Muslimische Städte sind nach Lapidus solche, in denen soziale Prozesse von Muslimen getragen werden (vgl. Eickelman 2002: 101). Es war auch Lapidus, der den Begriff des ›Mosaiks‹ für die ›islamische Stadt‹ einführte. Bereits 1951 hatte Carleton Coon diesen Begriff als Metapher für den Nahen Osten geprägt. Damit wollte Coon herausstellen, dass die Region aus geordneten und statischen Figurationen verschiedener sozialer, ethnischer, religiöser und anderer Gruppierungen bestehe, wobei er der Religion neben dem ›zusammenhaltenden‹ Staat eine herausragende Rolle zuschrieb (Shami/Naguib 2013: 24-25). Coons Ansatz wurde von Lapidus für die Beschreibung der Gliederung von ›islamischen Städten‹ angewendet, zum Beispiel, wenn er eine Stadt als in nach Gruppierungen getrennte Nachbarschaften darstellen wollte.1 Dieses Konzept hat über den Umweg über Stadthistoriker/-innen einen nachhaltigen Einfluss auf die Politik in Ostjerusalem in den 1970er und 1980er Jahren gewonnen (Kap. 6.3), obwohl der 1

Dieser Begriff des Mosaiks wurde aber weder in seiner Konzeption noch in seiner Rezeption zu dem Begriff des urban mosaic in der Chicago School in Beziehung gesetzt. Dort heißt es bei Louis Wirth (1938: 15): »Similarly, persons of homogeneous status and needs unwittingly drift into, consciously select, or are forced by circumstances into, the same area. […] The city consequently tends to resemble a mosaic of social worlds in which the transition from one to the other is abrupt.« Dieses Konzept ist als theoretische Sichtweise weniger essentialisierend als das von Coon zum Nahen Osten, Martina Löw (2001: 51) weist aber aus einer anderen Perspektive darauf hin, dass damit die Beziehungen, die sich zwischen Personen in unterschiedlichen geographischen Räumen der Stadt entwickeln, nicht repräsentiert würden.

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Begriff mit seinem Fokus auf den statischen und homogenen Charakter von Nachbarschaften und der mangelnden Berücksichtigung von innerstädtischen Interaktionen in die Kritik geraten ist (Neglia 2008: 13; Wallach 2011). Janet Abu-Lughod (1987: 162-165) argumentiert in ihrer Kritik der verschiedenen Ansätze zur ›islamischen Stadt‹, die sozialen, politischen und juristischen Aspekte des Islams hätten zwar einen großen Einfluss auf die Entwicklung und Transformation der Städte im Nahen Osten gehabt. Dazu hätten aber auch viele andere gesellschaftliche Einflüsse wie zum Beispiel das Clanwesen gehört. So bedeute die Präsenz von drei Buchreligionen in einer ›islamischen Stadt‹ lediglich die Möglichkeit einer räumlichen Segregation nach Religionszugehörigkeit, auch wenn diese Möglichkeit in Städten häufiger genutzt worden sei. Durch die begrenzte Einflussnahme des Staates im städtischen Bereich bekamen räumliche Einheiten wichtige soziale Aufgaben zugewiesen, vor allem die Nachbarschaften – ob sie nach Religionen getrennt waren oder nicht. Als weitere wichtige Einflüsse des Islams auf die Städte nennt sie die Vorstellung der Trennung des Raumes nach Geschlechtern, die sich auf die Architektur ausgewirkt habe, und die religiöse Verregelung des Landbesitzes (z.B. durch das waqf-Konzept, also die religiösen Stiftungen, vgl. S. 150). Noch in jüngerer Zeit haben einige Forscher/-innen versucht, Charakteristika für ›islamische Städte‹ zu formulieren. André Raymond (1994: 17) zum Beispiel nennt noch den zentralen Markt, die geschlossenen Nachbarschaften und Häuser mit zentralen Innenhöfen als Charakteristika: »Even if these elements are not really ›Muslim‹, they do show an identity of organization that is definitely present from Marrakesh to Herat.« Doch der Begriff ›islamische Stadt‹ verschwindet zunehmend aus der Wissenschaftslandschaft. Durch eine stetig steigende Zahl von Fallstudien sei das einheitliche Bild einer ›islamischen Stadt‹ immer mehr aufgeweicht worden, argumentierte schon Abu-Lughod (1987: 160). Simone Ricca (2007: 13) schreibt, das Konzept »has since been overcome by the researchers and the whole idea of an Islamic city as a defined, specific entity mainly refuted«. Jayyusi et al. (2008) haben den von ihnen herausgegebenen Band bewusst mit The city in the Islamic world und nicht mit ›Islamic city‹ betitelt. An die Stelle der Suche nach den Prinzipien für eine ›islamische Stadt‹ ist die Suche nach Elementen einer ›nahöstlichen‹ bzw. ›orientalischen‹ Stadt getreten. Eugen Wirth (2000) verwirft in seinem voluminösen Werk das Konzept der ›islamischen Stadt‹ vollständig und spricht stattdessen von »orientalischer Stadt«. Nach seiner Überzeugung seien die meisten Elemente einer ›islamischen Stadt‹ tatsächlich Elemente einer geographisch begrenzten »orientalischen Stadt« – lediglich dem zentralen Markt spricht Wirth (ebd.: 12) einen vom Islam beeinflussten Charakter zu.

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Nachbarschaften als Charakteristikum der ›islamischen Stadt‹/der ›nahöstlichen Stadt‹? Da sie für den empirischen Teil der Arbeit erhebliche Relevanz haben, gehe ich im Folgenden kurz auf den Aspekt der Nachbarschaften ein, die die meisten Forscher/ -innen als ein zentrales Charakteristikum für ›islamische Städte‹ oder ›nahöstliche Städte‹ benennen. In seiner Untersuchung von ›mittelalterlichen‹2 muslimischen Städten spricht Ira Lapidus (1967: 95) die zentrale Rolle von Nachbarschaften für die Organisation von Städten an und beschreibt sie als »small, integrated communities«. Diese Integration setze sich aus ethnischer und religiöser Homogenität zusammen und bestehe auch darin, dass Nachbarschaften bis zu einem gewissen Grad ökonomische und administrative Einheiten bildeten. Nachbarschaften hätten dadurch eine Art dörflichen Charakter (ebd.: 85-95). Später wurde, wie bereits angedeutet, diese statische, auf ethnischen und religiösen Kriterien basierende Definition kritisch hinterfragt, ohne dass die zentrale Rolle von Nachbarschaften angezweifelt wurde. So schreibt Janet Abu-Lughod (1987: 163): »One of the most striking features of the cities of the Middle East and North Africa, certainly during medieval times but to some extent persisting feebly to this day in the older residential quarters, is its subdivision into smaller quarters whose approximate boundaries remain relatively constant over time and whose names continue to be employed as important referential terms, even when they do not appear on modern markers of street names, etc.«

Für Abu-Lughod ist die Geschlechtertrennung in Nachbarschaften eine viel wichtigere als die religiöse oder ethnische Funktion: Während für die wohlhabenderen Schichten der Bevölkerung die Trennung in Männer und Frauen innerhalb der Häuser kaum ein Problem darstelle, sei dies für ärmere Familien schwieriger. Deswegen sei die Nachbarschaft zu einem »halbprivaten Raum« geworden. Damit könne das wichtigste Ziel, der Schutz vor äußeren Einflüssen, erreicht werden, indem Nachbarinnen und Nachbarn als Erweiterung der Familie gerahmt würden. Das werde gerade daran deutlich, dass die Kleidung, die Frauen in den Nachbarschaftsgassen trügen, eigentlich nicht für den öffentlichen Raum bestimmt sei. Die Nachbarschaft sei daher ein »spillover space« (Abu-Lughod 1987: 168). Dale F. Eickelman (2002: 103) umschreibt das nachbarschaftliche Leben mit dem in Nordafrika (ebd.) und Palästina (Jean-Klein 2003: 560) verbreiteten Begriff qarāba (Verwandtschaft, Nähe). Damit wird einerseits jene von Abu-Lughod beschriebene erweiterte familiale Sphäre in der Nachbarschaft bezeichnet: »[I]n some 2

Sowohl Lapidus (1967) als auch Arnon (1992) verwenden in ihren Publikationen den Begriff ›Mittelalter‹. Es ist zumindest zu hinterfragen, ob dieser Begriff, der weitgehend auf der europäischen Geschichte beruht, für die Region des Nahen Ostens sinnvoll ist.

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respects social space in the quarter can be regarded as an extension of the households within it.« (Eickelman 2002: 104) Andererseits sei es auch ein weitergehendes System von »practical kinship« (ebd.): Die qarāba beinhalte die gegenseitigen Besuche in der Nachbarschaft und die Unterstützung bei Geburten und weiteren familialen Ereignissen sowie moralische Verpflichtungen. Dazu gehörten auch alltägliche Aushandlungen, was in der Nachbarschaft als privat und was als halbprivat zu gelten habe. Abbildung 2: Eine Gasse in der Altstadt von Jerusalem

Abbildung: Johannes Becker

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Für Eugen Wirth (2000: 325-326) ist ›Privatheit‹ das wichtigste Charakteristikum der Stadt im Orient, die durch Architektur und eben durch abgeschlossene Nachbarschaften hergestellt werden solle. Auf Beispielen aus Marokko aufbauend stellt er dar, dass nur die Durchgangs- und Verbindungsstraßen zwischen dem Zentrum der Stadt und den Stadttoren sowie der Marktplatz als öffentlicher Raum gälten, zum Beispiel für die Kontaktaufnahme mit Fremden. Bereits halbprivat seien die Bäckereien und Kaffeehäuser der Nachbarschaften. In den Nachbarschaften werde das Ideal der Privatheit verwirklicht: »Hier fühlen sich die Menschen zu Hause, hier wachsen die Kinder in die Gemeinschaft hinein, hier ist alles bekannt und vertraut, hier spielen sich viele elementare soziale Interaktionen ab.« (Ebd.: 337) Diese Organisation könne einerseits als unbedingte nachbarschaftliche Solidarität und andererseits als strikte soziale Kontrolle beschrieben werden, die gerade für Jugendliche schwer zu akzeptieren sei (ebd.: 377-378). Damit seien Nachbarschaften die »eigentlichen Ganzheiten der islamzeitlichen Stadt« (ebd.: 340). So sei damit zum Beispiel auch verbunden, dass Kinder Besucher aus den Nachbarschaften nahöstlicher Altstädte auf die öffentlichen Durchgangs- und Verbindungsstraßen zurückführten. Vielleicht ist damit auch verknüpft, dass ich sehr vereinzelt in als traditioneller geltenden Nachbarschaften, in denen ich nicht bekannt war, mit Steinen beworfen wurde – vielleicht wurde ich dort als Eindringling im halbprivaten Raum empfunden. Die hier dargestellten Grundzüge der wissenschaftlichen Diskussion zu Nachbarschaften in der islamischen/nahöstlichen Stadt genügen für das Verständnis der folgenden Abschnitte. Die Diskussion wird in Kapitel 7 wieder aufgenommen, wo auf Basis des empirischen Materials erarbeitet wird, ob die Relevanz von Nachbarschaften in Jerusalem bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist. Dort wird auch auf weitere, noch nicht beschriebene Bestandteile von Nachbarschaften eingegangen: eine relative Raumwahrnehmung der Nachbarschaftsbewohner/-innen (gegenüber der absoluten Raumvorstellung der Bürokratie), die dementsprechende prozessuale Definition von Nachbarschaften (Eickelman 2002: 103), ›große‹ und ›kleine‹ nachbarschaftliche Zusammenhänge (Wirth 2000: 383). Außerdem gehe ich stärker als die in diesem Unterkapitel genannten Autorinnen und Autoren auf gegenwärtige Umbrüche innerhalb der Nachbarschaften ein: Migrations- und Gentrifizierungsprozesse sowie die Politisierung von Nachbarschaften im Falle Jerusalems.

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6.2

V ERSCHIEDENE I NTERPRETATIONEN DES Z USAMMENLEBENS IN J ERUSALEM IN HISTORISCH AUSGERICHTETEN P UBLIKATIONEN

Während es, wie bereits erwähnt, wenig wissenschaftliche Literatur zur Geschichte Jerusalems während der jordanischen Zeit (1948-1967) gibt, beschäftigen sich vergleichsweise viele Veröffentlichungen mit der Geschichte der Stadt vor ihrer Teilung im Jahr 1948. In diesem Abschnitt sollen Studien vorgestellt werden, die sich in intensiver Weise mit der Frage des Zusammenlebens in der Altstadt in den historischen Perioden bis 1948 auseinandersetzen – viele dieser Studien legen ihren Schwerpunkt auf die letzten Jahrzehnte der osmanischen Herrschaft (bis 1917), in denen auch die zionistische Einwanderung nach Jerusalem begonnen hat. Die Darstellung der Jerusalemer Altstadt ist dabei häufig an eine Diskussion gebunden, deren Grundfrage lautet: Wer wohnte wo in der Altstadt und wie stark ›durchmischten‹ sich die Mitglieder verschiedener Ethnien und Religionen? Die jeweiligen Antworten der im Folgenden besprochenen Studien lassen sich vereinfachend und idealtypisch in zwei Kategorien einteilen: Ein Teil geht davon aus, dass das städtische Leben in den vergangenen Jahrhunderten recht eindeutig von den religiösen Zugehörigkeitsgrenzen determiniert war – und dass sich diese auch in den dementsprechend strikten geographischen Grenzen zwischen ethnoreligiösen Vierteln in der Altstadt gezeigt hätten (zumeist sind die heute im dominanten Diskurs verwendeten vier Viertel gemeint – Muslimisches, Christliches, Jüdisches und Armenisches Viertel). Da Jerusalem zudem durch die osmanischmuslimische Herrschaft, die in diesen Studien negativ beurteilt wird, jahrhundertelang in seiner Entwicklung gehemmt worden sei, betonen sie die positiven Auswirkungen des steigenden europäischen Einflusses auf Jerusalem sowie der zunehmenden Zahl jüdischer Bewohner/-innen im Zusammenhang mit der wachsenden zionistischen Bewegung ab Mitte des 19. Jahrhunderts (Ben-Arieh 1984; Kark/OrenNordheim 2001). Diese Studien werden in diesem Unterkapitel zuerst vorgestellt. Die zweite Kategorie umfasst Studien kritischer palästinensischer und jüdischisraelischer Wissenschaftler/-innen, die auf Brüche in diesem glatten Bild hinweisen. Sie betonen, die Altstadt sei nicht so streng in nach ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten eingeteilte Viertel geordnet gewesen. Die von den Autorinnen und Autoren der ersten Kategorie als ethno-religiös definierten Viertel seien im Alltagsund Verwaltungshandeln keine relevanten Einheiten gewesen. Außerdem seien die als religiös einheitlich definierten Gebiete tatsächlich aus vielen kleineren Nachbarschaften zusammengesetzt und deren Einwohnerschaft zudem religiös viel pluraler gewesen, als von den erstgenannten Autorinnen und Autoren angenommen. Darüber hinaus habe es in der Stadt in diversen professionellen, religiösen und auch privaten Zusammenhängen einen regelmäßigen Austausch gegeben. Die Autoren

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sind sich dabei durchaus bewusst, dass das Verhältnis der Gruppierungen nicht in jeder historischen Phase harmonisch war. Sie sehen es aber als wichtig an, die Jahrhunderte währende osmanische Herrschaft nicht zu verallgemeinern, sondern unterschiedliche historische Perioden zu differenzieren (Tamari 2000; Wallach 2011; Arnon 1992). Diese sehr unterschiedlichen Aussagen haben ihre Ursache auch in einer Quellenauswahl, die als beinahe ideologisch bezeichnet werden kann: Während die erste Autorengruppe vor allem aus Berichten von Reisenden und Forschern aus ›dem Westen‹ schöpfen sowie aus den Aufzeichnungen zionistischer Immigranten, fußen die Forschungen der zweiten Gruppe auf arabischsprachigen Chroniken, Reiseführern für arabischsprachige christliche und muslimische Pilger/-innen, osmanischen Wahlverzeichnissen und Selbstzeugnissen palästinensischer Juden oder Christen. Da diese Diskussionen um die Aufteilung der Altstadt in Vergangenheit und Gegenwart auch heute noch lebendig sind – sowohl, wie im empirischen Teil deutlich wird, bei den Alltagshandelnden in der Altstadt als auch in Politik und Medien –, soll im Folgenden beispielhaft auf fünf historiographische Veröffentlichungen eingegangen und beide Positionen vergleichend vorgestellt werden. Eine ausführliche Darstellung der Diskussion ist nicht nur wegen ihrer historischen Signifikanz, sondern auch deswegen vonnöten, da es zwar zahlreiche sozialwissenschaftliche Publikationen zur gegenwärtigen Lage der Altstadt gibt, diese aber einige thematische Lücken aufweisen, gerade was die historische Hintergrundrecherche betrifft. Die Beschäftigung mit der Historiographie kann daher Lücken in der Forschung zur Gegenwart aufzeigen und sagt außerdem viel über die Emergenz der Diskurse über die Altstadt aus, die in meiner Arbeit relevant werden. Ben-Arieh: Jerusalem in the 19th century: The Old City (1984) Yehoshuah Ben-Arieh (1984) beschreibt in seinem recht breit rezipierten Werk die Altstadt im 19. Jahrhundert anhand von zu Jerusalem erstellten Karten und Reiseberichten westlicher Abenteurer und Forscher sowie hebräischen Presseerzeugnissen und auf Hebräisch verfassten Lebenserinnerungen (ebd.: v). Die Quellenauswahl begründet er damit, dass zum Zeitpunkt der Publikation seines Buches zu Beginn der 1980er Jahre wenige osmanische Dokumente und arabische Quellen zum 19. Jahrhundert zugänglich gewesen und viele Materialien noch in den Archiven verschiedener religiöser Institutionen verborgen gewesen seien. Für seinen Zweck, so Ben-Arieh (ebd.: 11), seien »the first maps of Jerusalem, the prolific writings of Western explorers, and the Jewish sources« die wichtigsten Quellen. Trotz der Steinwürfe der feindlich gesinnten Muslime hätten diese Abenteurer die realen Verhältnisse vor Ort abgemessen und aufgeschrieben. Doch diese Quellenanalyse führt zu einer höchst religionsgruppenzentrierten und konfliktorientierten Darstellung, die weitere soziale Zugehörigkeiten weitgehend vernachlässigt bzw. höchstens in einigen Nebensätzen einführt. Das determi-

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niert auch Ben-Ariehs Darstellung des räumlichen Lebens in Jerusalem, das er als statisch aufgeteilt interpretiert: »The social and religious cohesion of various groups resulted in the establishment of residential neighborhoods around religious centers. Thus, the location of religious centers on fixed geographical sites also resulted in fixed residential patterns nearby.« (Ebd.: 398) Obwohl es diese festgelegten Wohnmuster schon lange gegeben habe, seien sie erst im frühen 19. Jahrhundert – was mit dem steigenden westlichen Einfluss korreliert – mit ihren heute noch verwendeten, nach religiösen Zugehörigkeiten benannten Namen bezeichnet worden (Christliches, Jüdisches, Muslimisches und Armenisches Viertel). Zwar erwähnt er am Rande, dass die Bevölkerungen dieser Viertel nicht gänzlich homogen gewesen seien,3 doch »most Jerusalemites preferred to live near members of their own community in distinct neighborhoods« (ebd.: 14). Seine Beschreibung Jerusalems in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts porträtiert einen Zustand des Verfalls. Wegen der schlechten Sicherheitslage seien die Stadttore bis in die 1870er Jahre nachts geschlossen worden, die Stadt sei dunkel gewesen, die Häuser häufig verfallen und die Straßen schlecht (ebd.: 23-26). Das Handwerk sei zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückgeblieben gewesen, es habe keine Aufbruchsstimmung in der Stadt gegeben (ebd.: 53). Für ihn spiegelt diese Situation den Zustand der Stagnation wider, der Jerusalem schon lange vor dem 19. Jahrhundert geprägt habe und der sich erst durch das zunehmende westliche Interesse und die zionistische Einwanderung geändert habe: »The Jerusalem we know today is in many respects the product of developments which began in the nineteenth century. Conversely, many of the features of nineteenth-century Jerusalem that were modified or even swept away by those developments represent a situation which had not changed for centuries.« (Ebd.: v)

Jerusalem, das damals nicht größer war als Akko oder Nablus (zwischen 15.000 und 20.000 Einwohner), war nach Ben-Arieh (ebd.: 104) »a small, miserable city, and the disappointment of its Western visitors was valid and sincere«. Die Schuld an diesem Zustand sieht er sowohl bei der osmanischen Herrschaft als auch bei der lokalen muslimischen Community. Die Osmanen, so Ben-Arieh (ebd.: 138), hätten viel weniger als die anderen Communities gebaut: »The Turks built almost nothing after Suleiman had the city walls repaired.« Und die lokalen Muslime hätten ihre Häuser verfallen lassen, wenn sie sie nicht an Juden oder Christen hätten vermieten können (ebd.: 26). Doch trotz ihrer Untätigkeit hätten die Muslime die wichtigsten 3

Diese seien teilweise zudem in kleinere ›Unterviertel‹ unterteilt worden: »In the Christian Quarter, for example, Latin, Greek, Coptic, Ethiopian and other districts were sometimes distinguished. The Sephardi and Ashkenazi neighborhoods of the Jewish Quarter were more or less distinct.« (Ebd.: 15)

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Positionen in der Stadt eingenommen. Sie hätten auch die wichtigste »Region«, den Tempelberg und seine Umgebung, unter ihrer Kontrolle gehabt (ebd.: 139). Bei der Beschreibung der ethno-religiösen Viertel, die sich um die jeweiligen religiösen Zentren gruppiert hätten, verwendet er eine Art Religionskriegsrhetorik. So seien die Grenzen des Muslimischen Viertels schwer zu bestimmen gewesen, weil es »expandiert«, aber auch von Juden »infiltriert« worden sei (ebd.: 156). Die Christen hätten dagegen beinahe »keinen Fuß« ins Muslimische Viertel setzen können (ebd.: 169). Das Ḥārat al-Maġāriba (Marokkanisches Viertel) vor der Klagemauer, das in seiner Definition außerhalb des Muslimischen Viertels lag, sei »a separate Muslim enclave« (ebd.: 157) gewesen. Dabei berichtet er zumindest für das frühe 19. Jahrhundert von einer teilweise offenen Abneigung der Muslime gegenüber den Juden: »The [Moroccans], like the rest of the Muslims, regarded the Jews as infidels and harassed them.« (Ebd.: 157) Seine generelle Klage über die schlechte gesellschaftliche Stellung von Juden und Christen (ebd.: 107-109) ist deswegen mit einer gewissen Zurückhaltung zu rezipieren, weil er nur auf Eindrücke von Reisenden zurückgreifen kann, ohne Selbstdarstellungen von Einwohnerinnen oder Einwohnern Jerusalems heranzuziehen. Seine Analyse bleibt auch deswegen konturlos, weil er weitere gesellschaftliche Unterteilungen, wenn überhaupt, nur sporadisch und am Rande erwähnt – zum Beispiel die Unterteilung der muslimischen Einwohner in »an upper and a lower class«: in Familien, die repräsentative städtische und religiöse Positionen einnahmen und international vernetzt waren, und solche, denen diese Privilegien gänzlich verwehrt blieben (ebd.: 131). Genauso vernachlässigt er die damals wie heute relevante und vielfältige geographische Herkunft der zum jeweiligen Zeitpunkt in Jerusalem Lebenden.4 Es ist Ben-Arieh wichtig, darauf hinzuweisen, dass Jerusalem trotz der jahrhundertelangen muslimischen Verwaltung keine ›islamische Stadt‹ sei (vgl. Kap. 6.1). Ihre Strukturen seien schon lange zuvor geprägt worden: »[I]t is clear that, in the case of Jerusalem, many features that could be attributed to the so-called Muslim city were actually in existence before the Muslim occupation [sic!], and they are characteristic of the ancient city in general.« (Ebd.: 390) Jerusalem sei seit dem Bau des ersten Tempels eine religiös geprägte Stadt und »[t]he plan of Jerusalem’s buildings and quarters, and its way of life, derived primarily from its being a city of religion: Muslim influence was secondary« (ebd.: 392). Im Gegensatz zu den früheren jüdischen und christlichen Perioden habe Jerusalem während der längsten Zeit der muslimischen Herrschaft im Tiefschlaf gelegen. Mithilfe des Bildes von der Trennung der ethno-religiösen Gruppen kann er das Argument anführen, dass Jeru4

Ben Arieh (ebd.: 131) zählt lediglich kurz die Gruppierungen auf, die er in der Literatur gefunden hat: syrische Araber, osmanische Immigranten, Berber, schwarze Muslime, Äthiopier und Inder.

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salem gerade wegen seines Zustands im 19. Jahrhundert als »a Middle-Eastern, Muslim city« zurückgeblieben gewesen sei: »[T]he Muslims made the smallest contribution to the development of nineteenth-century Jerusalem. There is an explanation for this. In many ways, the Muslim community was the most backward and conservative in Jerusalem.« (Ebd.: 139) Die Aufgabe, Jerusalem zu modernisieren, wurde also, Ben-Arieh zufolge, von den zunehmend einflussreichen westlichen Staaten und Zionisten übernommen – andere Einwohnergruppierungen seien dazu nicht in der Lage gewesen. Kark/Oren-Nordheim: Jerusalem and its environs: Quarters, neighborhoods, villages 1800-1948 (2001) In ihrer ausführlichen Studie Jerusalem and its environs. Quarters, neighborhoods, villages 1800-1948 diskutieren die Geographinnen Ruth Kark und Michal OrenNordheim »the chronological and spatial processes that determined the character of Jerusalem and its rural periphery« bis zur Staatsgründung Israels (Kark/OrenNordheim 2001: 5). Sie beginnen ihre Abhandlung im 19. Jahrhundert, als Jerusalem nur aus der ummauerten Stadt »divided into quarters and courtyard units of its various religious and ethnic groupings« bestanden habe (ebd.). Ihre Diskussion ist insofern differenzierter als die Ben-Ariehs, als sie die Bedeutung von Nachbarschaften und Innenhöfen – also kleineren ›Einheiten‹ als die von Ben-Arieh herausgestellten vier ethno-religiösen Viertel – beachten (ebd.: 21). Ihre Analyse, die auf einem ähnlichen Quellenmaterial wie das von Ben-Arieh beruht, verbleibt letztlich dennoch bei einer Überbetonung religiöser Unterschiede im Gegensatz zu anderen kollektiven Zugehörigkeiten, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass sie einige Argumente dehnen müssen, um trotz ihrer eigentlich feinkörnigeren Analyse letztlich die Existenz von vier ethno-religiösen Vierteln in der Geschichte der Altstadt nachzuweisen. In ihrer etwas statischen historischen Analyse führen sie zunächst aus, einige der heutigen Unterteilungen der Stadt könnten bis in die – wie sie es nennen – talmudische Zeit zurückgeführt werden, um dann für die Periode der »islamischen Stadt« ab dem 13. Jahrhundert zu argumentieren, dass sich während dieser Zeit die Bewohner/-innen beinahe ausschließlich der ethnischen oder religiösen Gruppe in ihrem Viertel zugehörig gefühlt hätten (ebd.: 22). Sie hätten die Institutionen der Zentralregierung in Istanbul als externe Einmischung wahrgenommen. Sie hätten sich mit der Regierung nicht identifiziert, weswegen sich bis weit ins 19. Jahrhundert keine städtische Verwaltung habe etablieren können und es zu einem Rückzug auf ebenjene Viertel gekommen sei. Die Stadtverantwortlichen wiederum hätten die Vormacht der Viertelvorsteher weitgehend akzeptiert (ebd.: 22). Diese räumliche Aufteilung, die der Religion eine wichtige Rolle zuweist, sehen die Autorinnen bis ins 20. Jahrhundert als stabil an: »In addition to the individual’s allegiance to family, residential quarter, or neighbourhood rather than to the city as such, in the 19th

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and the first half of the 20th century Jerusalem was primarily a town of Muslim, Jewish, and Christian sectarian loyalties.« (Ebd.: 25) Im Anschluss holen die beiden Autorinnen weit aus, um ihre Beibehaltung der Unterscheidung in vier Viertel zu begründen: Schon seit der Zeit des ersten Tempels hätten die beiden Täler der Altstadt, nach denen heute die Unterteilung in vier Viertel hergestellt werde, eine Unterteilung der Stadt symbolisiert (ebd.: 43-44). Nun argumentieren sie wie Ben-Arieh in seiner großen Erzählung, jedes der vier Viertel habe ein dominantes religiöses Gebäude und dazugehörige Gemeinschaftsgebäude gehabt. Um diese herum hätten sich die entsprechenden Wohngebiete gruppiert. Die Märkte hätten an den Nahtstellen der Viertel gelegen (ebd.: 61-64). Die Juden hätten bei der späteren Neuaufteilung der Stadt das schlechteste Viertel bekommen, dort, wo der Müll gelegen habe. Diese vier Viertel seien dann jeweils nochmals in »zweitrangige Viertel« eingeteilt gewesen, in denen »Untergruppierungen« jeweils nach Denomination, Ethnie oder Herkunftsort angesiedelt gewesen seien (ebd.: 45). Insgesamt habe die geographische Differenzierung vor allem auf ethnischen und religiösen Einteilungen und weniger auf Klassenunterscheidungen beruht:5 »In Jerusalem, the heterogeneous composition of the population tended to foster segregation of the various groupings. Each community or ethnic grouping was concentrated either in its own separate quarter or in differentiated neighborhoods within quarters, in blocks of courtyard-buildings, or around a particular courtyard.« (Ebd.: 47)

Diese Unterviertel hätten sich aus verschiedenen, funktionalistisch erscheinenden Gründen gebildet: Sicherheitsbedürfnis, Nähe zu heiligen Orten, kulturelle Ähnlichkeiten (ebd.: 46-47). In ihrer Abhandlung wird insgesamt – ähnlich wie bei Ben-Arieh – das Bild einer heruntergekommenen Stadt gezeichnet, die erst durch den westlichen Einfluss wachgerüttelt worden sei und ihren Weg in die Moderne begonnen habe: Die vergessene Stadt Jerusalem habe zuvor unter osmanischer Willkürherrschaft gestanden. Im Gegensatz zu Ben-Arieh allerdings, der vor allem auf die religiösen Konflikte eingeht, sehen Kark und Oren-Nordheim Jerusalem historisch als eine der toleranteren Städte im Nahen Osten und führen dies vor allem auf funktionale Gründe zurück: Der übliche »muslimische Fanatismus« habe wegen der demographischen Gegebenheiten und Abhängigkeiten von jüdischen und christlichen Pilgern nachgelassen (ebd.: 48). Die osmanischen Tanzimat-Reformen (1839-1876), die das Staatswesen modernisieren sollten, und der wachsende westliche Einfluss hätten Je5

Auch die Märkte seien nach Religion getrennt gewesen: »Muslims controlled the groceries business; the Christians, the ritual objects, antiquities, and luxury goods; Sephardi Jews, woven textiles, the wine dealers were Ashkenazi Jews« (ebd.: 65).

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rusalem verändert. Es sei administrativ zur »spiritual and religious capital« aufgewertet worden (ebd.: 30-31). Zudem sei die Stadt der Sitz von politischen und religiösen Repräsentanten geworden. Die neugegründete Stadtverwaltung habe Jerusalem zwar ›aufgeräumt‹ (»clean-up«, ebd.: 33), »Jerusalem’s crowded and disordered appearance« (ebd.: 73) habe aber bis zur britischen Herrschaft bestanden. Daher sei es eine typische orientalische Stadt im Sinne Max Webers gewesen. Die traditionellen Sozialstrukturen hätten im Gegensatz zur Modernisierung gestanden, und das »generelle Chaos« habe zu Anarchie in der Stadt geführt (ebd.: 365-366; vgl. Kap. 6.1). Als Beispiel dafür führen sie das Straßensystem der Altstadt an, das kein »well-ordered layout« habe (ebd.: 371). Die Autorinnen hätten als Kulturgeographinnen durchaus auf andere Erklärungszusammenhänge für die Anordnung des Altstadtstraßensystems hinweisen können, etwa dass sie so gebaut worden seien, um die Durchlüftung der Gassen zu verbessern und Kühlung im Sommer zu fördern. Aber ihrer Einschätzung entsprechend beschreiben sie den Bau der Jerusalemer Stadtteile außerhalb der Altstadt ab den 1850er Jahren und den zunehmenden Wegzug aus der Altstadt, den Pädagogen David Yellin zitierend, als Modernisierungsbemühung: »…all the grace of youth, all those who aspire to light and air, all those fermenting with progress and education, all burst forth in all directions from these depressing walls« (ebd.: 76). Der Wegzug aus der Altstadt und die Entwicklung der modernen Stadt seien durch den europäischen Einfluss ausgelöst worden, durch den Nicht-Muslime eine wichtigere Rolle zugewiesen bekommen hätten. Während die Stärke von Kark und Oren-Nordheim in der Beschreibung dieser Prozesse des Wegzugs aus der Altstadt liegt, reproduzieren sie in anderen Teilen Versuche früherer Studien, das Leben in der Altstadt zu kategorisieren. Ähnlich wie Ben-Arieh verweisen sie vor allem auf Quellen von Reisenden und Zionisten und geraten somit in Schwierigkeiten, wenn sie versuchen, eine Formel für die Aufteilung von Vierteln und Nachbarschaften in der Altstadt zu finden. Das liegt daran, dass die von ihnen verwendeten Quellen der Reisenden vollkommen unterschiedliche Beschreibungen und Kategorisierungen der Altstadt vorlegen – von einer Aufteilung in drei Viertel bis zu einer Aufteilung in 22 Viertel (ebd.: 49). Dies wird von den beiden Autorinnen zwar erwähnt, aber sie reflektieren dabei nicht ihre eigene recht hermetische Sichtweise. Arnon: The quarters of Jerusalem in the Ottoman period (1992) Adar Arnon liefert in seinem äußerst detailreichen und ausführlichen Artikel einen entscheidend unterschiedlichen Zugang im Vergleich zu den beiden soeben vorgestellten Publikationen. Er greift auf ein anderes und sehr breites Quellenmaterial zurück: arabischsprachige Pilger- und Reiseführer für Muslime und Christen sowie osmanische Regierungszensus. Diese analysiert er detailliert für die Zeitspanne von der mamlukischen Eroberung Jerusalems im 13. Jahrhundert bis zum Ende der osmanischen Herrschaft, was ihm die Möglichkeit gibt, in seinen Interpretationen

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auch die Sichtweisen der Verwaltungsbeamten sowie der lokalen Bewohner/-innen zu berücksichtigen. Sein Ziel ist »describing the locations of boundaries of areas in the city with a given name and finding the changes which occurred over the years in the system of quarters« (ebd.: 1). Während die beiden vorgenannten Publikationen von einer Art statischem Zustand Jerusalems in der osmanischen Zeit vor dem beginnenden westlichen Einfluss im 19. Jahrhundert ausgehen, trägt Arnon mit seiner Arbeit dazu bei, diese Sicht zu differenzieren. Er beschreibt, wie es vom Mittelalter (vgl. S. 105, Anm. 2) bis zum 19. Jahrhundert zu einer stärkeren ›Durchmischung‹ der vormals hinsichtlich Herkunftsorten oder Religion recht einheitlichen Nachbarschaften gekommen sei. Mit dem Begriff ›quarter‹, den ich im Folgenden wegen der einheitlichen Benennungspraxis in dieser Arbeit (vgl. S. 15-16, Anm. 7) weiterhin mit ›Nachbarschaft‹ bzw., wie gleich ausgeführt, für Jerusalem mit dem arabischen Begriff ḥāra übersetze, meint er nicht die bereits erwähnten vier großen ethno-religiösen Viertel, sondern eine bedeutend höhere Zahl von Nachbarschaften. Von Beginn seines Artikels an definiert er diese als ḥāra (Pl. ḥārāt) – einer der arabischen Begriffe für das Zusammenleben in der Stadt, der sehr vielfältig als Straße, Gasse, Viertel oder Nachbarschaft übersetzt werden kann. In Arnons Untersuchung wird deutlich, dass dieser Begriff im Alltag und in der Verwaltungspraxis zu verschiedenen Zeitpunkten äußerst unterschiedlich ausgelegt wurde. Das heißt, die historische Alltags- und Benennungspraxis in Jerusalem war stets im Fluss und benötigt eine detaillierte Rekonstruktion – und kann nicht in die vereinfachende und statische Vierteldefinition gezwängt werden. So trägt zum Beispiel zur Verwirrung bei, dass die Wörter maḥalla und ḥay parallel für ḥāra verwendet worden seien: »The double street/quarter meaning of the word hara fitted very well to this unorderly state of affairs in which one or more streets and a nearby area could have been called, in a certain era, by the same name. We might assume that such situations had a part in the formation of the two-sidedness of that word.« (Ebd.: 1-2)

Für das ›Mittelalter‹ begreift Arnon die Stadt als in durch Religion, Kongregation, Viehbesitz oder Herkunftsort unterschiedene ḥārāt getrennt, was die segregative Tendenz dieses Zeitalters ausgedrückt habe. Da Sicherheit ein zentrales Thema gewesen sei, hätten die Bewohner/-innen das Zusammenleben in ihrer Gruppe bevorzugt. Es fällt auf, dass laut Arnon Religion nur eines von mehreren Kriterien der bevölkerungsbezogenen Einteilung war. Im Gegensatz zu den bereits vorgestellten Autorinnen und Autoren bemüht er sich nicht, diesem ḥāra-System das ethnoreligiöse Paradigma überzustülpen, sondern akzeptiert Ambiguitäten und vielschichtige Entwicklungen. Manche ḥārāt seien nach Märkten, andere nach ethnisch-religiösen Gruppen und wieder andere nach geographischen Orientierungspunkten benannt worden. Im Laufe der Zeit seien die ḥārāt dann verstärkt von

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Menschen mit unterschiedlichen Religionen, Herkünften und Berufen bezogen worden (ebd.: 1). Die Grenzen der ḥārāt seien schwierig zu identifizieren, da sie teilweise nicht entlang von Straßen verliefen und manche Gebiete mehr als einem ḥāra hätten zugeordnet gewesen sein können (ebd.: 58). Das folgende Zitat, in dem Arnon auf die Darstellung des Chronisten Mujir ad-Din al-Ulaimi aus dem Jahr 1495 Bezug nimmt, zeigt die komplizierte und nicht einfach abzuleitende Struktur der Stadt: »[Mujir ad-Din] mentioned many streets, in all parts of the city, calling all of them harat. Part of those harat can be defined as quarters, even if consisting of one street, because according to their names they were the dwelling place of a particular sort of population. Few other harat, called after sites, will be defined below as quarters mainly because they appeared as such in the censi held in Jerusalem a few decades later. Some of those streets/quarters appeared in later years as quarters comprising a larger area and were presumably more than mere streets even in Mujir’s days.« (Ebd.: 7)

Zum Beispiel identifizierte Arnon alleine im heute sogenannten Muslimischen Viertel sechs ḥārāt mit zahlreichen ›Unternachbarschaften‹. Dort habe es – nur als Beispiel – das Ḥārat Banī Zaid gegeben, dessen Namensgeber eine beduinische Familie war, wovon wiederum ein kleineres ḥāra abzweigte, das Ḥārat as-Saʿdīyīn, welches später dann den Namen des anderen ḥāra ›verdrängte‹ und bis heute Begriffsgeber für das vergrößerte Ḥārat as-Saʿdīya ist (ebd.: 7-8, 16). Und für die Fläche des heutigen erweiterten Jüdischen Viertels – das im heute dominanten Diskurs als eines der vier ethno-religiösen Viertel der Altstadt bezeichnet wird (vgl. Kap. 8.1) – gibt Arnon für das Jahr 1495 fünf ḥāra-Namen an, wovon das Ḥārat alYahūd (ḥāra der Juden) einer war. Daneben habe es dort das Ḥārat ar-Rīša gegeben, benannt nach einer arabischen Familie, sowie das Ḥārat aš-Šaraf, das Ḥārat al-ʿAlam, das Ḥārat al-Maġāriba und das Ḥārat as-Salāṭīn. Der Name des letzteren habe darauf verwiesen, dass die Bewohner aus der heute jordanischen Stadt as-Salt stammten (ebd.: 7-9). Doch schon in einem wenige Jahrzehnte später durch die dann regierenden Osmanen erhobenen Zensus wurden teilweise andere Namen registriert und außerdem seien zu diesem Zeitpunkt in den meisten der ḥārāt – außer dem Ḥārat aš-Šaraf und dem Ḥārat ar-Rīša – nur Mitglieder einer Religion registriert gewesen (ebd.: 11). Dieser Abschnitt zeigt, dass die Aufteilung der Altstadt in früheren Jahrhunderten keinesfalls statisch war – weder von der Bevölkerungskategorisierung noch der Benennung – und dass auch andere Kriterien als die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit bei der räumlichen Selbst- und Fremddefinition relevant waren. Arnon verglich diese historische Periode mit der des ausgehenden osmanischen Reiches, und hier sollen zwei seiner Quellenanalysen kurz ausgeführt werden. In einer ersten Analyse beschreibt er, dass in einem arabischen Reiseführer für christ-

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liche Pilger im ausgehenden 19. Jahrhundert noch neun der im 16. Jahrhundert im Zensus erwähnten ḥārāt erhalten geblieben seien.6 Die wichtigste Entwicklung sei gewesen, dass viele der kleineren und unbekannteren ḥārāt, die nach arabischen Gruppierungen benannt gewesen waren, in der Zwischenzeit in anderen aufgegangen seien (ebd.: 23). Einige der ḥārāt seien auch im ausgehenden 19. Jahrhundert durchaus recht strikt ethno-religiös eingeteilt gewesen: das christliche Ḥārat alArman (ḥāra der Armenier), das Ḥārat al-Yahūd (ḥāra der Juden) und das Ḥārat al-Maġāriba sowie das muslimische Ḥārat al-Ǧawānā (ebd.: 16).7 Interessanterweise befinden sich diese ḥārāt heute alle in dem als Jüdisches Viertel definierten oder in dem als Armenisches Viertel definierten Gebiet. Auch von einem durchgängig homogenen Muslimischen Viertel habe keine Rede sein können. Im 19. Jahrhundert wohnten 30 Prozent der Altstadtmuslime in dem Gebiet, das heute als Jüdisches Viertel definiert wird, und 25 Prozent aller Christen im heute als Muslimisches Viertel ausgezeichneten Gebiet. Im Verlauf der jüdischen Immigration ab Mitte des 19. Jahrhundert besiedelten Juden verstärkt die an das damalige Ḥārat alYahūd angrenzenden Gebiete – Ḥārat Bāb as-Silsila, Ḥārat aš-Šaraf und Ḥārat alArman. In manchen Gebieten, die heute dem Muslimischen Viertel zugeschlagen werden, gab es zu Ende des 19. Jahrhunderts eine jüdische Mehrheit, zum Beispiel in der al-Wād-Straße (ebd.: 51). Arnon betont deswegen, es habe zum Beispiel nie ein Muslimisches Viertel gegeben (ebd.: 45). Zuletzt führt Arnon einen osmanischen Zensus vom Beginn des 20. Jahrhunderts an, aus dem genauere Bevölkerungszahlen hervorgehen. Doch in diesem Zensus seien die Nachbarschaften wieder anders eingeteilt worden als im gerade eingeführten Reiseführer für Pilger. Die osmanischen Behörden hätten die Namen von zwei traditionellen ḥārāt der südlichen Altstadt – Ḥārat al-Arman (ḥāra der Armenier) und Ḥārat al-Yahūd (ḥāra der Juden) – außen vor gelassen.8 Trotzdem zeigen die Zahlen und die darauffolgende tabellarische und graphische Umsetzung deut6

Die Ḥārat Bāb Ḥuṭṭa, Bāb al-ʿAmūd, Naṣāra, Ǧāwalda (ungesicherte Transkription), Arman, Yahūd, Maġāriba, Qaṭṭānīn und ‘Aqabat at-Takīya. Diese seien seit dem Mittelalter die historischen Jerusalemer ḥārāt (ebd.: 17).

7

Die letzte Umschrift ist nicht gesichert, da ich keine mir zugänglichen Quellen für die arabische Schreibweise habe – die Umschrift basiert auf meiner Interpretation der nicht eindeutigen Umschrift Arnons.

8

Namen von anderen ḥārāt seien ›verschoben‹ worden, um diese Bezeichnungen nicht zu verwenden. Diese veränderte Darstellung habe es der osmanischen Verwaltung erlaubt, eine arabische Vorherrschaft in der Altstadt zu propagieren, womit wohl auch eine Abwertung von potenziell als gefährlich angesehenen Gruppierungen wie die der Armenier oder Bewegungen wie die des Zionismus einherging. Das Ḥārat al-Yahūd ist im Zensus im Ḥārat Bāb as-Silsila enthalten, das Ḥārat al-Arman im Ḥārat aš-Šaraf. In den Zensus wurden nur Familienoberhäupter erfasst. Eingewanderte Juden wurden nicht erfasst.

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lich, wie wenig die Bevölkerungsaufteilung in der Altstadt der von anderen propagierten Aufteilung in vier ethno-religiöse Viertel entsprochen hat (ebd.: 39-40): Tabelle 1: Der Zensus von 1905, Familien nach Religion und Ḥārat Ḥārat as-Saʿdīya Ḥārat an-Naṣāra Ḥārat aš-Šaraf Ḥārat Bāb al-ʿAmūd Ḥārat Bāb Ḥuṭṭa Ḥārat Bāb as-Silsila Ḥārat al-Wād Ḥārat an-Nabī Dāwūd

Juden 1 1 127 15 7 711 388

Muslime 161 10 40 112 595 548 383 85

Christen 124 177 215 469 12 91

Nach: Arnon 1992: 39.

Abbildung 3: Demographische Verteilung in den Nachbarschaften, 1905-1906

Aus: Campos 2011: 14. Die Ḥārāt as-Saʿdīya, al-Wād, Bāb Ḥuṭṭa und Teile von Bāb asSilsila können dem heute sogenannten Muslimischen Viertel zugerechnet werden; die Ḥārāt Bāb al-ʿAmūd und Naṣāra tendenziell dem Christlichen Viertel; die Ḥārāt aš-Šaraf, Bāb asSilsila und Nabī Dāwūd dem erweiterten Jüdischen Viertel; das Armenische Viertel setzt sich aus Teilen des Ḥārat aš-Šaraf zusammen.

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Abbildung 4: Die schematische Einteilung der Altstadt in vier Viertel

Eigene Darstellung auf Basis von https://en.wikipedia.org/wiki/Armenian_Quarter; abgerufen am 19.03.2016.

Arnon bezeichnet das ethno-religiöse Viertelsystem als »completely detached« von den Einteilungen in der spätosmanischen Periode (ebd.: 45). Die Wahrnehmungen der westlichen Reisenden, die von Ben-Arieh sowie von Kark und Oren-Nordheim reproduziert wurden, sieht er dagegen als unhistorisch und nicht auf der Sicht der Einwohner/-innen beruhend an: »If the Old City is divided on today’s maps, in Hebrew as in the European languages, to the four, nineteenth-century introduced, community quarters and not to quarters which existed along centuries, it is because the foundations of its modern cartography were laid by people who came from outside and not from the city itself.« (Ebd.: 60)

Die Vorteile jener sukzessive verfestigten Repräsentation der Altstadt als aufgeteilt in vier Viertel lägen in ihrer Einfachheit und den geraden Linien; der Nachteil allerdings darin, dass gemischte Gebiete genauso ignoriert würden wie Gebiete, die von einer bestimmten Gruppierung bewohnt gewesen waren – wie zum Beispiel die Nordafrikaner/-innen des Ḥārat al-Maġāriba – und die dem jeweils nächstgrößeren der vier Viertel zugeschlagen worden und dementsprechend verschwunden seien (ebd.: 53). Auch Arnon spricht über das, was er Moderne nennt, aber mit einer vollkommen anderen Konnotation als zum Beispiel Ben-Arieh, der die Moderne mit dem westlichen, christlich-jüdischen Einfluss in Jerusalem gleichsetzt. Arnon dagegen interpretiert als Modernisierung den Prozess weg von den ›mittelalterlichen‹ ḥārāt, die von bestimmten Gruppen ähnlicher Herkunft oder gleicher Religion bewohnt

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worden seien, hin zu ḥārāt, die sich insoweit von ihren Namen, die zuvor Hinweise auf die geographische Herkunft der Bewohner/-innen gewesen seien, gelöst hätten, als ihre Bewohner/-innen nicht mehr so homogen gewesen seien, sondern zum Teil sogar stark gemischt: »This change of the Old City from a conglomerate of secluded ethnic-religious territories to one ethnically mixed city (or at least to a city where boundaries among areas settled by different populations were not as stiff as in previous times) can be considered an aspect of its transition from the Middle Ages to the Modern Age.« (Ebd.: 59)

Tamari: Jerusalem’s Ottoman modernity: The times and lives of Wasif Jawhariyyeh (2000) und Wallach: Shared space in pre-1948 Jerusalem (2011) Eine wiederum andere Herangehensweise und eine, die dieser Arbeit näher liegt, wählen Yair Wallach (2011) und Salim Tamari (2000) in ihren in den beiden nächsten Absätzen vorgestellten Artikeln. Mithilfe eines Zugangs über niedergeschriebene Erinnerungen des christlich-palästinensischen Musikers Wasif Jawhariyyeh (Tamari) und des jüdisch-arabischen Anwalts und Richters Gad Frumkin (Wallach), besonders deren Kindheit und Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts, versuchen sie, die auf statistischen Angaben wie Bevölkerungsverzeichnisse beruhenden bzw. die auf Basis von Forscher- und Reiseberichten basierenden Darstellungen aufzubrechen und eine weniger schematische historische Darstellung der Altstadt zu erreichen, die auch die Ebene des Alltagslebens umfasst. Beide nutzen dies außerdem, wie Arnon, zur Kritik an der dominanten Einteilung der Altstadt in vier Viertel und der betont ethno-religiösen Ausrichtung vieler Forschungen. Sie argumentieren anhand ihrer Analysen, dass die ethno-religiösen Grenzen im Alltagsleben keine solch herausragende Rolle gespielt hätten. Der Musiker Wasif Jawhariyyeh wuchs im Ḥārat as-Saʿdīya auf. In seinen Erinnerungen beschreibt Jawhariyyeh das Alltagsleben wie auch die selbstverständliche aktive Teilnahme an Festen anderer Religionen wie an Purim oder Ramadan. Die zahllosen Alltagsgeschichten aus dem ḥāra zeigten, so Tamari (2000: 12), dass es sich beim Zusammenleben nicht um »the tolerant co-habitation of protected dhimmi minorities [gehandelt habe], but the positive engagement in the affairs of neighbors whose religion was coincidental to their wider urban heritage«. Von klein an habe Jawhariyyeh das Musizieren von muslimischen Nachbarn im ḥāra gelernt. Später habe der Musiker in Jerusalem intensiven internationalen Austausch und ein hedonistisches Leben mit Drogen und nächtelangen Feiern genossen. Tamari nutzt dies, um den Ruf Jerusalems im frühen 20. Jahrhundert wenigstens teilweise zu rehabilitieren. Das Bild der religiösen und sozialkonservativen Stadt sei irreführend, denn die Bewohner/-innen seien weniger religiös gewesen als die anderer palästinensischer Städte wie zum Beispiel Nablus oder Nazareth. Tamari schreibt das li-

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bertäre Leben einer bestimmten Bevölkerungsschicht zu, deren Mitglieder die moralischen Vorgaben der Öffentlichkeit missachtet hätten: »[A] world of ceremonial syncretism and cultural hybridity that is difficult to trace in today’s prevailing atmosphere of ethnic exclusivity and religious fundamentalism. It was a prenationalist era in which religious identity embraced the Other in its festivals and rituals.« (Ebd.: 23) Jawhariyyehs Beschreibung der Nachbarschaften in seiner Jugend mache noch einmal deutlich, so Tamari (ebd.: 8), dass die Einteilung in vier ethno-religiöse Viertel im Erleben nicht relevant gewesen und später von außen oktroyiert worden sei: »[It] suggests that there was no clear delineation between neighborhood and religion; we see a substantial intermixing of religious groups in each quarter. The boundaries of habitat, furthermore, were the mahallat, the neighborhood network of social demarcations within which a substantial amount of communal solidarity is exhibited. Such cohesiveness was clearly articulated in periodic visitations and sharing of ceremonials, including weddings and funerals but also active participation in religious festivities. These solidarities undermined the fixity of the confessional system from a pre-modern (perhaps even primordial) network of affinities.«

Dass die religiöse Zugehörigkeit immer relevanter geworden sei, schreibt Tamari zwei historischen Entwicklungen in Jerusalem zu: erstens der Machtübernahme durch die Briten 1917. Die Briten hätten versucht, durch die Überbetonung der religiösen Zugehörigkeiten ein sektiererisches Gleichgewicht im Land herzustellen. Die Mandatsverwaltung habe bei der Trennung der Religionen eine aktive Rolle gespielt und zum Beispiel den Mitgliedern der drei Religionen in Jerusalem den Besuch der religiösen Stätten der jeweils anderen untersagt. Während der palästinensisch-arabische Nationalismus vor und nach der Jahrhundertwende zunächst wenig auf religiöse Barrieren geachtet habe und von breiten Intellektuellenkreisen in Jerusalem gestützt worden sei, sei der spätere palästinensische Nationalismus stärker religiös aufgeladen worden. Mit dem britischen Mandat habe somit der Jerusalemer »Synkretismus« ein Ende genommen (ebd.: 24). Zweitens führt er die höhere Relevanz von religiöser Zugehörigkeit auf den weiter unten beschriebenen Bevölkerungsaustausch in Jerusalem zurück (vgl. Kap. 6.4): Konservative Palästinenser/ -innen aus ländlichen Teilen des Landes seien nach Jerusalem migriert und hätten »exercised the conservative influence on the city’s norms for which it became renowned« (ebd.: 23). Yair Wallach (2011), dessen Artikel im folgenden Absatz eingeführt wird, führt einen weiteren Grund für die stärker werdende religiöse Segregation der Altstadt im 20. Jahrhundert an: Die neugebauten Stadtteile außerhalb der Altstadtmauern seien selbst stark segregiert gewesen, da sie meistens durch Kirchen oder Spenden an einzelne ethnische Gruppen finanziert worden seien. Die Segrega-

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tion der Stadtteile außerhalb der Altstadt habe sich auch auf diese ausgewirkt (Wallach 2011: 12, 21). Bevor Yair Wallach in seinem Artikel auf die Erinnerungen des jüdischen Juristen Gad Frumkin eingeht, entwirft er am Beispiel des Jüdischen Viertels ein Tamari bzw. Arnon ähnliches Argument in Bezug auf die Aufteilung der Altstadt in unveränderliche ethno-religiöse Viertel. Das heutige erweiterte Jüdische Viertel werde als »centuries-old spatial-demographic reality« (ebd.: 8) dargestellt, obwohl der hebräische Begriff dafür vor dem 20. Jahrhundert so gut wie nicht gebräuchlich gewesen sei. Die »Straße der Juden« sei eines der vielen ḥārāt gewesen und lediglich ein eher kleiner Teil des heute als Jüdisches Viertel bezeichneten Gebietes. Allerdings hätten in dieser Straße auch viele Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften gewohnt. Wallach weist darauf hin, dass das Verhältnis zwischen zum Beispiel sephardischen und aschkenasischen jüdischen Communities keineswegs unproblematisch gewesen sei und nicht unbedingt besser als das Verhältnis jüdischer Altstadtbewohner/-innen zu Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften. Als Beispiel führt er an, im Arabischen seien viel mehr Wörter aus dem Jiddischen übernommen worden, als jiddische Wörter Eingang ins Ladino, die romanische Sprache der sephardischen Juden, gefunden hätten (ebd.: 10). Gad Frumkin, auf den sich Wallach beruft (und dessen Erinnerungen auch schon von Ben-Arieh [1984: 381], aber mit einer anderen Lesart analysiert wurden), beschreibt, dass er sich selbst als Kind von al-Wād sehe, der Straße im sogenannten Muslimischen Viertel, in der im frühen 20. Jahrhundert die Mehrheit der Bewohner/-innen Juden waren. Arabische und jüdische Innenhöfe hätten dort nebeneinander gelegen. Natürlich habe es Austausch zwischen den Gruppierungen gegeben, doch auch Konflikte, allerdings nicht nur zwischen Arabern und Juden, sondern auch zwischen aschkenasischen und sephardischen Juden. Die Lebenswelten hätten sich zum Teil stark unterschieden: »[T]he children met and quarrelled with each other: these were two separate worlds lacking any mental or cultural proximity.« (Wallach 2011: 11) Neben dieser Analyse der Wohnverhältnisse fordert Wallach vor allem dazu auf, nicht nur ebendiese oder die räumliche Aufteilung der Gruppierungen zu analysieren. Interaktionen könnten ganz verschiedene Ausprägungen von wirtschaftlichem Handel bis zu Heirat haben. Daher sei ein besonderer analytischer Fokus auf die Bewegung innerhalb des Raumes oder zwischen Räumen notwendig, um die Bewohner/-innen an verschiedenen Orten, an denen sie unterschiedliche Rollen haben, zu begleiten. So seien in Frumkins einführenden Stadttouren die religiösen Stätten kaum erwähnt worden. Stattdessen beschreibe er Gassen und Läden: also das Alltagsleben, das von interreligiösen Interaktionen durchzogen gewesen sei (ebd.: 22).

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6.3

D IE DOMINIERENDE ETHNO - RELIGIÖSE S ICHT P OLITIK UND W ISSENSCHAFT

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IN

Salim Tamari (1999: 4) fasst die ideologische Aufladung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte des Zusammenlebens verschiedener Gruppierungen in Jerusalem prägnant zusammen: »While Arab secular historians tend to create a portrait of exaggerated harmony between Arabs and Jews for the pre-1948 period – Zionist historiography tends to suggest that the conflict is perennial and that Jews, at best, were accorded the status of a protected (›dhimmi‹) community under Ottoman and other Islamic rules.«

Die zweite, von Tamari ›zionistisch‹ genannte Historiographie ist eng mit der Annahme einer Altstadtaufteilung in vier ethno-religiös getrennte Viertel verknüpft, und es ist erstaunlich, wie sehr sie noch in der jüngeren, insbesondere israelischen und ›westlichen‹ Forschungsliteratur reproduziert wird. Der Einfluss von Ben-Arieh hält sich auch in den Werken etablierter Stadtforscher/-innen zum Nahen Osten. So schreibt André Raymond (1994: 68): »In some cities, grouping by community goes to extreme lengths; this is the case in Jerusalem, with its Muslim, Christian, Armenian, and Jewish sectors.« Eugen Wirth (2000: 353) erwähnt, für Jerusalem würden »um 1800 fünf religiös definierte Stadtteile genannt«. Dieses Bild ist also bis in die Gegenwart dominant. So schreibt der sonst recht kritische Ethnologe Glenn Bowman (1993: 444) mit Verweis auf Ben-Arieh: »Traditionally mixed Palestinian towns were cognitively divided in the ›Quarters‹ in which the various religious communities in large part resided; Jerusalem’s Old City, for instance, is still mapped in terms of Jewish, Muslim, Christian and Armenian Quarters.« Und auch Romann und Weingrod (1991: 15) führen in ihrer soziologischen Publikation über Jerusalem an: »In keeping with the classic Middle Eastern pattern, residence was segregated along religious and ethnic lines. Jerusalem’s ancient Old City had for centuries been divided into four separate quarters (Muslim, Jewish, Christian, and Armenian).«9 Dementsprechend haben auch Politikwissenschaftler für ihre Analysen und Statistiker für ihre Einteilung der Altstadt dieses Bild übernommen. Die einflussreiche israelische Juristin Ruth Lapidoth (2006: 35) stellt in dem von ihrem Team ausgearbeiteten ›Lösungsvorschlag‹ für den Konflikt in Jerusalem dar: »The Old City includes four quarters whose population is distinguished on religious and, in some cases, ethnic lines.« Diese Annahme nimmt sie auch als Ausgangspunkt für ihren Friedensplan, denn für diese Viertel schlägt sie eine gewisse autonome Viertelver9

Selbst in jüngeren Publikationen heißt es: »The Old City itself is divided into distinct neighborhoods – Armenian, Christian, Jewish, Muslim.« (Miles 2010: 557).

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waltung vor. Auch im statistischen Jahrbuch Jerusalems wird die Einwohnerschaft nach diesen Vierteln beziffert (Jerusalem Institute for Israel Studies 2015). Doch nicht nur das: Erstaunlicher- und vielleicht tragischerweise wurde die ethno-religiöse Sicht auf die Altstadt auch zur Basis politischer Handlungsweisen. Der langjährige Bürgermeister Jerusalems, Teddy Kollek, griff den in den 1950er Jahren populär gewordenen wissenschaftlichen Begriff des ›Mosaiks‹ auf. Unter anderen Ira Lapidus (1969) definierte, wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 6.1), mit diesem Begriff ›islamische Städte‹ als genau zu bestimmende räumliche, kulturelle und soziale Zusammensetzungen von religiösen und ethnischen Gruppierungen. Diese Mosaike zeigen zwar die Diversität der Gesellschaften auf, sind aber statisch und ahistorisch (Salamandra 2004: 33). Diese ›Mosaiktheorie‹ wurde nach Beginn der Besatzung im Jahr 1967 eine der wichtigsten Prinzipien der israelischen Verwaltung Ostjerusalems. Auf die politische Praxis in Jerusalem gemünzt, besagte sie, dass eine räumliche Trennung der verschiedenen Bevölkerungsgruppierungen der beste Weg sei, ein friedliches und ungestörtes Nebeneinander zu gewährleisten: »[Kollek] advocated the continuation of the ancient model of the Old City – where there are separate quarters for Muslims, Jews, Christians, and Armenians – throughout the city. His argument is that self-segregation is a cultural and historic, rather than a political phenomenon.« (Cheshin et al. 1999: 61; vgl. Dumper 2008: 164). Auf diese Weise ist das Vier-Viertel-Modell aus den europäischen Reiseberichten die Basis für die Verwaltung der Stadt geworden: »The quarters replaced the mahallas, the smaller unit of governance employed by the Ottomans, and further enhanced religion as a marker of national identity« (Tamari 2011: 66). Diese Sichtweise hatte sogar Auswirkungen auf die Rechtsprechung und hat zur Diskriminierung von palästinensisch geprägten Stadtgebieten geführt. Wie weiter unten ausgeführt (vgl. Kap. 8.1), ist heute der Zuzug in das erweiterte Jüdische Viertel de facto Jüdinnen und Juden vorbehalten. Eine Klage gegen diese Praxis wurde unter anderem mit Verweis auf ›wissenschaftliche Forschungen‹ mit folgender Argumentation abgewiesen: »Once the old city was released in the six-day war, the government decided to restore its past glory, i.e., to reconstruct the quarter, build it up from its ruins and inhabit it with a Jewish population, so that it may once again be integrated in the mosaic of the other congregational quarters in the old city, as was the case over the many centuries before the Jewish population was expelled by the Jordanians in 1948.« (Israel Supreme Court 1978, HCJ 114/78: 7; Hervor. J.B.)

Wenige Autorinnen und Autoren, die sich mit dem gegenwärtigen Zustand der Altstadt beschäftigen, reflektieren den Konstruktionsprozess der vier Viertel, deren Existenz sie als natürlich annehmen. Damit bleibt ein wichtiges Element zum Verständnis der Stadt verborgen. Und selbst wenn sie darauf aufmerksam machen, sind ihre Darstellungen nicht immer ohne Missverständnisse. Die Verfasser einer Alt-

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stadtstudie des palästinensischen International Peace and Cooperation Center (IPCC 2009: 9) sehen die Neueinteilung der Altstadt zum Beispiel als plötzlichen historischen Bruch, der mit Beginn der israelischen Besatzung 1967 stattfand. Die lange Vorgeschichte des Konzepts wird von ihnen nicht rezipiert: »Before the Israeli occupation of 1967, a collection of 23 neighborhoods constituted the Old City. They were named in the Ottoman era, and most of them bore the names of the families or groups that inhabited them. However, under Israeli control, the Old City was divided strictly along religious and ethnic lines; this went against the reality of the organic mixed development that had taken place over centuries.«

Michael Dumper (2002b: 13) führt die Einteilung der vier Viertel dagegen auf die Zeit des britischen Mandats zurück: »[I]t is important to make clear that the current delineation of the Old City into four confessional quarters […] is a recent twentieth-century development. The boundaries and nomenclature were instituted by the British during the mandate era (1922-1948) to maintain an equilibrium between the populations of those communities centered on their holy sites. Communal solidarities stretched across geographical and confessional borders, and interactions in the Old City were fluid and unconstrained by administrative demarcations.«

Dumper weist damit zugleich auf die andauernde Gültigkeit der Einteilung in unterschiedliche Nachbarschaften in der Alltagswelt hin. Gerade das sogenannte Muslimische und das Christliche Viertel »comprise many smaller quarters or hara […] which make up the daily discourse in referring to geographical areas in the Old City« (ebd.: 16). Deshalb spricht Dumper auch in Bezug auf die heutige Altstadt von den »Christian quarters« und den »Muslim quarters« (ebd.: 14).

6.4

W IE DIE ALTSTADT EIN O RT AUSSENSEITER WURDE

DER

Der Bevölkerungsaustausch in der Altstadt Die zionistische Einwanderung nach Jerusalem ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert verlief parallel zu einem bedeutend seltener in der Literatur thematisierten Prozess, der in Jerusalem eine besondere Ausprägung hatte, aber in vielen Ländern des Mittelmeerraums stattfand: der Auszug der oberen Bevölkerungsschichten aus den Altstädten und der Einzug von ärmeren Familien, die häufig aus ländlichen Regionen stammten. Im Folgenden zeichne ich diesen historischen Prozess nach, der in Jerusalem bis in die Gegenwart relevant ist, und zeige auf, warum von einer Etab-

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lierten-Außenseiter-Figuration (Elias/Scotson 1993) zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen bzw. Altstadtbewohnern gesprochen werden kann. Schließlich kontextualisiere ich diesen Prozess durch einen Vergleich mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Städten in der Levante und in Nordafrika. Rochelle Davis (1999: 32-36) beschreibt den im späten 19. Jahrhundert beginnenden Auszug aus der Altstadt in großzügigere Häuser in neugebauten Stadtteilen: Viele palästinensische Familien hätten jahrelang oder jahrzehntelang gespart, um sich Land außerhalb der Altstadt zu kaufen. Nur Angehörige der mittleren und oberen Schichten hätten sich das leisten können. Die Trennung der Schichten habe sich verstärkt: Die Armen seien in der ›dreckigen‹ und überfüllten Altstadt zurückgeblieben.10 Dadurch, so schreibt Abdullah Schleifer (1987: 171), sei das Sozialsystem in den Altstadtnachbarschaften ins Wanken gekommen: »[It] reduced the natural leadership role of old family elites within the quarters, and weakened the mutual patronage system or mutual aid exchanges of rich and poor members of extended families and client families which […] did much to offset the differences in wealth.« (Schleifer 1987: 171) Der Umzug in die neugebauten Wohngebiete habe aufgezeigt, dass Teile der Mittelschicht in Jerusalem »aspired to a new, and more ›modern‹ lifestyle outside of conventional living and housing patterns« (Davis 1999: 32). Zu diesem neuen Lebensstil gehörten auch eine Betonung von Bildung und öffentlichem Leben. So gab es in der Neustadt auch Einrichtungen wie Kinos oder Tanzcafés (ebd.: 35). Laut Salim Tamari (1999: 4) seien die Angehörigen der Mittelschichten vor allem ab Ende der 1920er Jahre aus der Altstadt ausgezogen; Angehörige der Oberschicht hätten sich bereits zuvor neue Anwesen in den Stadtteilen aš-Šaiḫ Ǧarrāḥ und Wādī al-Ǧauz bauen können. Im frühen 20. Jahrhundert und in den Jahrzehnten bis 1967 migrierten aber auch Palästinenser/-innen aus ländlichen Gegenden nach Jerusalem. Besonders viele kamen aus Hebron, 30 Kilometer südlich von Jerusalem, und den umliegenden bäuerlichen Dörfern. Die ›Hebroner‹, die als billige Arbeitskräfte nach Jerusalem kamen, verdingten sich meist als Tagelöhner oder in anderen sehr einfachen Tätigkeiten (Klein 2001: 32). Sie mieteten zunächst Zimmer, Wohnungen oder Häuser von ›alteingesessenen‹ Jerusalemer Familien, die aus der Altstadt ausgezogen waren (und auch in einfachen Lagen der neuen Stadtteile11), zum Teil konnten sie die 10 Zudem hat es 1927 ein Erdbeben (das ›Erdbeben von Jericho‹) gegeben, durch das viele Altstadtgebäude beschädigt wurden (Davis 1999: 33). 11 Romann und Weingrod (1991: 65) schreiben zum Beispiel über den Stadtteil Abū Ṭūr: »Toward the crest of the hill, where the air and the view were magnificient, a small number of well-established families had built large homes. These merchants and professionals, in some cases members of old Jerusalem families, enjoyed the emanities of middleclass Jerusalem life. However, as one moved down the hill the dwellings became more

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Gebäude später erwerben. Die Mieten waren zwar günstig, die Bevölkerungsdichte wurde aber immer höher (Cohen 2011: 37). Diese Migrationsbewegung war stark ausgeprägt. Es wird davon ausgegangen wird, dass die überwiegende Mehrheit der heutigen palästinensischen Bewohner/ -innen Jerusalems aus Familien stammt, die aus Hebron und Umgebung nach Jerusalem migriert sind (Glass/Khamaisi 2005: 4). Aber in welchem Zeitraum diese Migration stattfand, beschreiben verschiedene Forscher/-innen uneinheitlich. Meron Benvenisti (1996: 8-10) legt den Beginn auf die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, Daphne Tsimhoni (1983: 57) hingegen behauptet, die Migration habe in den 1950er und 1960er Jahren stattgefunden. Glass und Khamaisi (2005: 4) wiederum verschieben den Beginn der Migrationsbewegung auf die britische Mandatszeit in den 1920er Jahren, weil Servicekräfte für das englische Militär benötigt worden seien; zwischen 1948 und 1967 seien weniger Palästinenser/-innen aus Hebron zugezogen, nach 1967 sei ihre Zahl aber wieder gestiegen. Menachem Klein (2001: 32) stimmt zwar mit Glass und Khamaisi überein, dass es eine Migrationsbewegung während der Mandatszeit gegeben habe. Er geht aber davon aus, dass es nach 1948 eine Zunahme der Migration gegeben habe: Die Zugezogenen hätten den Platz der 1948 teilweise geflohenen Jerusalemer Elite eingenommen. Dass diese Angaben so unterschiedlich sind, deutet bereits das geringe Wissen über diese Migrationsbewegung an. Obwohl es sich um eine der relevantesten Entwicklungen in der jüngeren Stadtgeschichte handelt, wird dieser Prozess in der Literatur nur kurz erwähnt und von keinem Autor weiter ausgeführt, vermutlich da er sich schwer in die Ereignisgeschichte des Nahostkonflikts einfügen lässt und bislang wenige historische Dokumente gesichtet wurden. Als historischer Prozess bleibt er somit im Nebel, obwohl er eine so zentrale Rolle spielt: »[The migrants’] arrival, along with the arrival of a large number of war refugees, changed the city’s character.« (Klein 2001: 32) Außenseiterstellung der Zugezogenen Der Zuzug der ›Hebroner‹ – ḫalāyla, wie sie auf Arabisch in Jerusalem genannt werden – wurde von abwertenden Zuschreibungen durch die ›alteingesessenen‹ Jerusalemer/-innen begleitet, die noch heute wirksam sind. Sie beziehen sich einerseits auf einen wahrgenommenen Sozialkonservatismus und die wahrgenommene Religiosität der Zugezogenen. Andererseits verweisen sie auf eine damit verknüpfte crowded and shabby. For more than a century Arabs from the Hebron region had been migrating to Jerusalem, and some of these ›Haleileh‹ […] rented rooms in Abu Tur. They mainly came from small villages around Hebron, and in Turi they found the kind of low rents and village ambience that suited them. The Arab population was therefore increasingly divided between the more established Jerusalem familes [sic!], near the top of the hill, and the poorer newcomers, mainly from Hebron, who lived farther down the hill.«

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Zuschreibung von eng gestrickten Familienbanden, die zum Teil mit kriminellen oder Mafiastrukturen gleichgesetzt werden. Die Entstehung der diskursiven Abwertung ist mit einem immer wieder beschriebenen Unterschied in der Lebensweise zur ›alteingesessenen‹ Jerusalemer Bevölkerung verknüpft. Gerade solche Jerusalemer Familien, die aus der Altstadt verzogen sind, hätten sich als kosmopolitischer und liberaler gesehen und sich von den neu zugezogenen Familien abgegrenzt (Qleibo 2010: 8). Es gebe eben, so Qleibo (2011b: 17), große Unterschiede zwischen der Lebensweise der ›Hebroner‹ und jener der »relatively secular but highly individualistic indulgent cosmopolitan Jerusalemites«. Und Benvenisti (1996: 8) formuliert prägnant: »Longtime Jerusalem residents had a disdainful and arrogant attitude toward the Khalyleh, as Hebronites are called.« Es ist erstaunlich, dass diese Abwertung der Zugezogenen trotz starker Ähnlichkeiten noch nicht mit dem naheliegenden Bezug zu Norbert Elias’ und John Scotsons Gemeindestudie Etablierte und Außenseiter (1993) diskutiert worden ist, in der es beispielhaft für Etablierten-Außenseiter-Beziehungen um eine Figuration von Neuzugezogenen und Alteingesessenen geht, die auf ungleichen Machtbalancen beruht.12 Die Alteingesessenen schließen sich demnach gegen die Neuankömmlinge zusammen und werten sie aufgrund der schlechtesten Eigenschaften ihrer schlechtesten Teilgruppen ab (ebd.: 13), da sie »unter sich eine gemeinsame Lebensweise und einen Normenkanon ausgebildet« hätten und diese durch die Neuankömmlinge in Gefahr sähen (ebd.: 16). Generell würden, laut Ali Qleibo (2010: 4), als ›alteingesessene‹ Jerusalemer Familien solche verstanden, die bereits »hundreds of years« in der Stadt leben. Als legitime Eigenschaften für den Status als ›alteingesessene‹ Familie gelten entweder die Abstammung vom Propheten oder dessen Gefolgsleuten, von berühmten Theologen oder die Zugehörigkeit zu Familien, die sich selbst als die ›ältesten‹ Jerusalemer Familien sehen. Es ist in Jerusalem eine Statusund Machtquelle, wenn die Großfamilie eine lange Präsenz in der Stadt vorweisen kann. Diese Familien (z.B. die Husseinis, Khalidis, Nashashibis, Nusseibehs oder Dajanis) haben sich während der osmanischen Herrschaft eine Vormachtstellung in der Stadt gesichert. Qleibo (ebd.: 4), der selbst einer Jerusalemer Familie entstammt, schreibt etwas vulgärethnologisch, nach Hunderten von Jahren in der gleichen Stadt sei ein Abkömmling jener Familien nun auch ein »type representing the general traits that identify the different families«. Nur durch die den Jerusalemer Familien gemeinsame Geschichte könne jene Jerusalemer Zugehörigkeit reproduziert werden:

12 Auch für die im übernächsten Abschnitt besprochenen anderen Städte in der Levante und in Nordafrika wurde die Etablierten-Außenseiter-Theorie nicht herangezogen.

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»Only in Jerusalem and with fellow Jerusalemites do we experience that deep mysterious sense of joy produced by the feeling of belonging. […] We also know each other’s mothers and grandmothers, fathers and grandfathers, and family histories. [We have…] endless anecdotal narratives that further cement our sense of commonality.«

Die Differenzierung von ›alten‹ Jerusalemer Familien und den ›Hebronern‹ ist immer noch wirksam, obwohl Abkömmlinge aus migrantischen Familien inzwischen zum Teil in der vierten Generation in Jerusalem leben. Mitglieder ›alter‹ Jerusalemer Familien bezeichnen sie noch immer als ḫalāyla und fassen sie nach ihrer (unter Umständen auch nur angenommenen) Herkunft aus Hebron und Umgebung als Neuankömmlinge zusammen: »They distinguish between authentic and inauthentic Jerusalemites. An inauthentic Jerusalemite is considered an outsider despite the fact that his/her parents and grandparents for generations have lived within the walls of the city.« (Ebd.) In Gesprächen mit mir entrüsteten sich Interviewpartner/-innen aus ›Hebroner‹ Familien, wie man sagen könne, dass es ›die ḫalāyla‹ gebe, schließlich seien die meisten Zugezogenen schon über 40 Jahre da – ob das nicht genug sei, um als Jerusalemer zu gelten, zumal viele Familien inzwischen mit ›den Jerusalemern‹ verbandelt seien. Die diskursiven Abwertungen, die mit der Herkunft der Familien aus Hebron und Umgebung verknüpft sind, lassen sich bis zum Beginn der Migrationsbewegung zurückverfolgen. Bei ihrer Ankunft, so zitieren Kark und Oren-Nordheim (2001: 117) eine historische Quelle, hätten die Armen vom Land auf den Straßen geschlafen. Die lokalen Einwohner/-innen hätten sie nicht nur als sanitäres, sondern auch als Sicherheitsproblem begriffen. Seth Frantzman (2011) weist darauf hin, dass es in den 1940er Jahren einen Verein gegeben habe, der es sich zum Ziel gesetzt habe, die ›Hebroner‹ zu ›erziehen‹ und gegen deren Streitsucht und die organisierten Diebesbanden in ihren Reihen vorzugehen. In der weiteren Forschungsliteratur, so Frantzman (ebd.), werde hingegen die Rolle der ›Hebroner‹ geschmälert. Sie würden als Forschungsgegenstand übersehen, stattdessen würden die ›alten‹ Jerusalemer Familien überforscht, von denen aber die meisten Mitglieder Jerusalem inzwischen verlassen hätten. Tatsächlich kommen die Migrationsbewegungen in den meisten Publikationen nur als kleines Nebenthema vor. Von den israelischen Autorinnen und Autoren reproduziert zum Beispiel Menachem Klein (2001: 32) die Annahme, die ›Hebroner‹ hätten eine konservative islamische Ausrichtung mit nach Jerusalem gebracht, die sich in ihren eigenen sozialen Institutionen und in der Anwendung des Gewohnheitsrechts bemerkbar machen würde.13 Auch Daphne Tsimhoni (1983: 57) verbindet die Zugezogenen mit von ihr als negativ gerahmten Zu-

13 Kårtveit (2012: 99) berichtet, dass Einwohner/-innen Bethlehems eine ähnliche Wahrnehmung derjenigen Familien hätten, die aus Hebron und Umgebung zugezogen seien.

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schreibungen des gesellschaftlichen Konservatismus, der so stark sei, dass er andere Traditionen verdränge: »Christian businessmen who left Jerusalem were superseded by Muslim Hebronites who gradually assumed control of the commerce of the Christian quarter [of the Old City]. As a result, the quarter lost much of its traditional Christian atmosphere, becoming notable for quiet Fridays in contrast to busy Sundays and for the establishment of new mosques with the call to prayer and Qur’án reading sounding day and night. Many of the remaining Christian businessmen say wryly: ›This quarter should be named harag al-khala’ila (the Hebronite quarter)‹.«

In einigen palästinensischen Publikationen werden die ›Hebroner‹ als Seitenthema eingeführt. Die wichtigste Beobachtung, die ich hierbei gemacht habe, ist, dass sie in diesen Publikationen als separate Gruppierung der Bevölkerung behandelt werden, die von derjenigen der Jerusalemer/-innen unterschieden wird. Ihnen wird eine weiterhin starke Verbindung zu ihrem Herkunftsort und eine Betonung des Lebens in der erweiterten Familie zugeschrieben und somit unterstellt, sich von ›modernen‹ Teilen der palästinensischen Gesellschaft abzugrenzen. In einem Bericht des International Peace and Cooperation Center (IPCC 2009: 13-14) zur Altstadt heißt es: »Hebronites who have moved to the Old City still keep their relationship and identity with the ›mother city‹, despite having lived in the Old City for years or sometimes centuries.« Die Zugehörigkeit zu Jerusalem wird in diesem Zitat zumindest in Zweifel gezogen. Es wird immer noch der Akt des Umzugs betont, auch wenn dieser schon vor Jahrhunderten gewesen sein könnte und nicht in Bezug zur Gegenwart steht. Selbst in Texten, die den positiven Einfluss der ›Hebroner‹ auf das Jerusalemer Stadtgeschehen hervorheben wollen, werden diese trennenden Stereotype implizit reproduziert. So wird ihnen darin zugeschrieben, gute Unternehmer zu sein, und dankbar der weitreichende Beitrag für die Pflege der heiligen Stätten vermerkt (Qleibo 2011b; Mohammed Elian in Glass/Khamaisi: 36, Anm. 5). Ali Qleibo (2011b: 12) fasst die vorher genannten ›Eigenschaften‹ der ›Hebroner‹ in seinem Beitrag folgendermaßen zusammen: »Hebronites are patently visible and run most of the business enterprises and shops on Salah el-Din Street and in the Old City. They infuse drama, gaiety, and joy into our melancholic city. Religious and God-fearing, they animate Al-Aqsa Mosque from sunrise to sunset. Tribal and loyal to their kinsman, they plough the highway between Hebron and Jerusalem religiously maintaining family ties, silet el-rahem, in accordance with Muslim injunctions.«

In diesem Zitat ist besonders die Trennung in »our« und »they« hervorzuheben. Damit wird prägnant die diskursive Trennung von Jerusalemer/-innen (zu denen Qleibo gehört) und ›Hebronern‹ ausgedrückt und somit deren Außenseiterstellung

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reproduziert. Die Abkömmlinge der Zugezogenen aus Hebron gehören trotz ihrer langen Anwesenheit nicht selbstverständlicherweise zur Stadt Jerusalem – im obigem Zitat scheint eher die Zuschreibung durch, sie seien nie richtig in Jerusalem angekommen. Diese Aussage, die den Außenseiterstatus der ›Hebroner‹ reproduziert und ihnen eine stärkere Identifizierung mit Hebron als mit Jerusalem zuschreibt, ist damit eine Gegenthese zur These Hillel Cohens, es gebe eine spezifische Ostjerusalemer Identität (vgl. Kap. 5.3). Erweiterung der Außenseiterstellung auf alle Altstadtbewohner/-innen Mit dem starken Zuzug aus Hebron in die Altstadt ist einerseits der fortschreitende Auszug von Angehörigen der mittleren und oberen Bevölkerungsschichten verbunden und andererseits die Erweiterung des Außenseiterstatus der ›Hebroner‹ auf die gesamte palästinensische Altstadtbevölkerung bzw. den Altstadtraum. Die Altstadt, die sich immer stärker zu einem Stadtteil entwickelte, in dem vorwiegend Angehörige niedriger sozio-ökonomischer Bevölkerungsschichten eine Wohnung fanden, wurde verstärkt mit der dortigen Präsenz der ›Hebroner‹ assoziiert und mit den gleichen negativen Diskursen des Konservatismus und der Kriminalität verknüpft, die bereits den Zugezogenen zugeschrieben worden waren. Auch in der Etablierten-Außenseiter-Studie von Elias und Scotson wurde analysiert, wie die Bewohner/-innen eines bestimmten Raumes (in ihrem Fall eines neuerbauten Stadtteils) von den Alteingesessenen stigmatisiert wurden, die sich gegen sie zusammenschlossen. Renate Ruhne (2010: 134) hat aber hervorgehoben, Elias und Scotson selbst hätten die Tatsache, dass es in Winston Parva, der erforschten Gemeinde, auch um eine räumliche Trennung von verschiedenen Stadtgruppierungen ging, zwar benannt, aber nicht in ihrer Tiefe analysiert. Stattdessen hätten sie vor allem auf die Bedeutung des höheren ›sozialen Alters‹ der Alteingesessenen für deren Zusammenhalt verwiesen. Ruhne (ebd.: 136) gibt aber zu bedenken, man müsse nicht nur die »physische Materialität des Raumes« bei einer solchen Analyse berücksichtigen, sondern auch »stets verknüpfte Interaktions- und Handlungsstrukturen, normative räumliche Regulationssysteme und nicht zuletzt auch symbolische ›Aufladungen‹ des Raumes«. Die räumliche und soziale Stellung der Altstadt in Jerusalem ist in vielerlei Hinsicht anders als die der Gemeinde in der Elias’schen Studie. Die Altstadt ist der Ort des arabischen bzw. palästinensischen ›kulturellen Erbes‹, der zudem durch den Nahostkonflikt verstärkte symbolische Relevanz erhalten hat.14 Die Architektur der Altstadt fördert zudem ein enges familiales und nachbar14 Darin besteht auch ein Unterschied zu anderen Ostjerusalemer Stadtteilen, von denen einige in ähnlicher Weise von Zugezogenen aus Hebron und aus anderen Städten bewohnt werden (zum Beispiel Wādī al-Ǧauz) oder von solchen mit einer ähnlich schlechten sozio-ökonomischen Position.

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schaftliches Zusammenleben, das die Bewohner/-innen häufig auch propagieren. Das führt wiederum zu einem Zusammenhalt der Bewohner/-innen, der in der Winston Parva-Studie den Etablierten vorbehalten blieb (Elias/Scotson 1993: 1112) und der in der vorliegenden Arbeit zum Beispiel im Kapitel zur kleinen Nachbarschaft (Kap. 7) nachvollzogen werden kann. Dass die ›Hebroner‹ inzwischen für die ganze Altstadt stehen, lässt sich besonders gut am folgenden Zitat aus der vom palästinensischen Forschungsinstitut International Peace and Cooperation Center herausgegebenen Publikation über die Altstadt ersehen: »Tribal and informal mediation and arbitration laws (oral traditional laws) dominate in the Old City. Most of the Palestinian inhabitants are Muslims who have a Hebronite origin, which includes a clear orientation toward a strong patriarchal, traditional society. Most of the community involvement in the public life of the Old City is based on social and family relations.« (IPCC 2009: 16)

In derselben Publikation (2009: 45) wird darauf verwiesen, dass der schlechte bauliche Zustand vieler Altstadtgebäude auch mit der dörflichen Herkunft ihrer Bewohner/-innen verknüpft sei. Implizit wird dies einem früheren Zeitpunkt entgegengesetzt, an dem auch Mittel- und Oberschichtfamilien in der Altstadt gelebt hätten: »[T]he Palestinians [in the Old City] are villagers still in the process of urbanization and do not act to renovate or revitalize their city center. It should be remembered that a significant part of the population originally came from the Hebron area […]. To be sure, between 1949 and 1967, the Old City was also inhabited by wealthy upper-middle class and elite families but many of these later emigrated. Now, most of the population of the Old City belongs to the middle and poorer classes.«

Typisch für diese Erweiterung des Außenseiterstatus auf alle Altstadtbewohner/ -innen sind auch Zuschreibungen einer migrantischen Herkunft an Familien, die nur darauf beruhen, dass sie in der Altstadt wohnen. So wurde in einer anderen Publikation einer Altstadtfamilie, die sich selbst als ›Jerusalemer Familie‹ versteht und seit einigen Jahrhunderten am Ort wohnt, das Label ›Hebroner‹ verliehen, obwohl deren Mitglieder, die sich mit der Familiengeschichte beschäftigt haben, mir gegenüber argumentierten, sie stammten nicht dorther.15 Und in der oben erwähnten Publikation des IPCC (2009: 20) wird eine weitere Altstadtfamilie als zugewandert beschrieben, aber hinzugefügt, sie sei bereits vor mehreren hundert Jahren nach Jerusalem gekommen: 15 Aus Anonymisierungsgründen wird die Quelle hier nicht näher eingeführt.

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»Before coming to Hebron and thence to Jerusalem, the Dkeidek family is of Kurdish origin […]. The diwan is located in the Old City, because that is the birth place of most of the family members today, and that choice heightens their Palestinian identity and existence within the city. It also lends legitimacy to them as a Jerusalem family that has existed in the city for 500 years. Regardless of this background, by the established norms of Jerusalem they are still considered Hebronites.«

Wie wurde diese generalisierte Außenseiterstellung der Altstadtbewohner/-innen, die in der eben vorgestellten Literatur bereits durchscheint, gegenüber mir während meiner Feldaufenthalte in Jerusalem präsentiert? Der Schimpfklatsch (Elias/Scotson 1993: 9) über die Altstadt wird wegen der Wirksamkeit des harmonisierenden palästinensischen Wir-Diskurses – es wird häufig betont, es gebe keine innerpalästinensischen Konflikte, sondern nur Konflikte mit den Israelis (Rosenthal 2015b) – selten in offener Weise in palästinensischen Medien und gegenüber Außenstehenden thematisiert. Das ist auch an den etwas verklausulierten Formulierungen in den oben stehenden Zitaten erkennbar. In der Tagespresse (wie zum Beispiel der arabischsprachigen Tageszeitung al-Quds) finden sich selten ausführliche Berichte über innerpalästinensische Differenzen. Stattdessen wird der Schimpfklatsch insbesondere von Mitgliedern der Mittel- und Oberschicht mündlich weitergetragen und ausgetauscht. Das macht es aber schwerer, ihn detailliert zu rekonstruieren. Die Altstadt wurde mir gegenüber zum Beispiel als ein Ort der Kriminalität charakterisiert. Es wurde beschrieben, dass es ein hohes Maß an Drogenkonsum und -handel gebe sowie Prostitution, körperliche Gewalt und mafiöse Strukturen. Ein palästinensischer Kollege, der derzeit in Ostjerusalem wohnt,16 entrüstete sich immer wieder über die Altstadtbewohner/-innen. Er besucht die Altstadt privat ausschließlich, um in einem der als traditionell geltenden Schnellimbisse zu Mittag zu essen. Ansonsten meidet er die Altstadt. Er sagte mir, es gebe dort »Drogen an jeder Ecke« und wegen der mafiösen Strukturen seien die Bewohner/-innen gar nicht so arm, wie immer weitergetragen werde; sie bevorzugten aber, in ihren angestammten Familienstrukturen zu verbleiben. Diese Annahme wird auch historisiert: So beschrieb ein Interviewpartner aus einer christlichen Mittelschichtfamilie, ihnen sei in den 1960er Jahren vom Arbeitgeber ein Apartment in der Altstadt angeboten worden, seine Eltern hätten das Angebot aber abgelehnt, da es dort viele Drogenprobleme gegeben habe und die Eltern ihre Kinder nicht in einer solchen Umgebung haben aufwachsen lassen wollen. Mit der Herkunft der Bevölkerungsmehrheit aus Hebron und Umgebung werden weitere Zuschreibungen verknüpft: Diese seien ungebildet, kulturlos, sehr religiös und konservativ. Daher wird angenommen, in der Altstadt sei es schwer, dem Ein16 Aus Maskierungsgründen nenne ich den Namen dieses Kollegen nicht, da er in Ostjerusalem aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit recht bekannt ist.

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fluss der Familie oder der ḥamūla (der erweiterten Familie) zu entkommen. Gerade für Frauen, so die Zuschreibung, sei es schwer oder nahezu unmöglich, in der Altstadt ein ›modernes‹ und selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein Bekannter aus einem Jerusalemer Mittelschichtstadtteil erklärte mir, er könne mir versichern, die Altstadtbewohnerinnen verspürten selbst die Sehnsucht, sich aus den Traditionen zu befreien und diesen »schlechten Ort« zu verlassen. Er habe gehört, diejenigen, die es geschafft hätten, kehrten dann gerne dorthin zurück und trügen die modernste und provokanteste Mode zur Schau. Damit wollten sie betonen, dass sie ein anderes Leben gewählt hätten.17 Diese Zuschreibung der Traditionalität ist zusätzlich mit dem Wissen darüber verknüpft, dass in der Altstadt eine hohe Bevölkerungsdichte herrscht. Daraus wird gefolgert, eine starke soziale Kontrolle sei aufgrund der räumlichen Enge unausweichlich. Die genannten Zuschreibungen tragen dazu bei, dass diejenigen, die außerhalb wohnen, die Altstadt als einen nicht wünschenswerten Wohnort sehen, der besser gemieden werde – ein Ort, den ›moderne‹ und gebildete Palästinenser/-innen, die es sich auch finanziell leisten können, verlassen. Die Bewohner/-innen der Altstadt wissen um die negativen Zuschreibungen, und sie sind sich selbst über gewisse Nachteile ihres Wohnortes im Klaren. So wurde ich beglückwünscht, als ich in der kleinen Nachbarschaft erzählte, dass ich bei einem Feldaufenthalt nicht wie sonst in der Altstadt, sondern in einem Stadtteil außerhalb wohnen würde. Und ein Schüler betonte mir gegenüber, es sei viel besser, außerhalb der Altstadt auf die Schule zu gehen, weil viele Abgänger öffentlicher Altstadtschulen immer noch kaum lesen und schreiben könnten und weil dort eine häufig gewaltvolle Atmosphäre herrsche. Tatsächlich schicken viele Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen, auch wenn einige Hundert Euro pro Schuljahr an Gebühren zu bezahlen sind. Doch obwohl sie sich selbst der teilweise prekären sozialen Lage in der Altstadt und der negativen Diskurse bewusst sind, versuchen Altstadtbewohner/-innen, die pauschale Beurteilung der Altstadt zu kontern und die negativen Diskurse zu differenzieren, wie am folgenden Ausschnitt aus dem Interview mit Hafez, dessen Lebensgeschichte weiter unten ausführlich rekonstruiert wird (vgl. Kap. 7.3), erkennbar ist: »If you tried to to hear what other people from outside the Old City say about the residents or=or eh about people in from the Old City (2) mainly they talk about drugs, that’s are spreading there, bad habits (2) eh, something like mafias almost, sometimes (2) so the (2) the image is so dark (2) what I see now I see it’s a place like a=any other place, has its advantage 17 Ähnliches beschreibt Mills (2008: 343-344) für eine Nachbarschaft in Istanbul: »Changing notions of privacy have begun to influence the desires of Istanbul people of younger generations, as some young women cite the invasion of privacy as a reason to leave the mahalle.«

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and disadvantages and good people and bad people (2) eh poverty is spread of course and it has its own eh, casualties let’s say, but in general I know the Palestinian camps outside Jerusalem have, worse effects, than the the environment inside the Old City.«

In diesem Zitat erscheint die Altstadt als abgeschlossener Raum, da Hafez ein Außen und ein Innen einführt. Damit spielt er einerseits auf die Stadtmauer an – andererseits ist bereits erkennbar, dass mit dem Dasein in der Altstadt ein bestimmter Lebensstil verknüpft sein könnte, der anderen missfällt, weswegen diese Trennung aufrechterhalten wird. Die Altstadtbewohner/-innen werden mit negativen Eigenschaften beschrieben. Doch Hafez relativiert diese, allerdings nicht, indem er die Probleme verleugnet, sondern indem er auf die Diversität der Einwohner/-innen hinweist und darauf, dass es zunächst einmal ein Ort sei wie jeder andere auch. Dadurch differenziert er die uniformen und homogenisierenden Zuschreibungen. Durch Vergleiche mit anderen Orten im Westjordanland, zum Beispiel den Flüchtlingslagern, weist er auf deren strukturelle Ähnlichkeiten mit der Altstadt hin. Die Zuschreibung des migrantischen Status ist für viele Altstadteinwohner/ -innen, deren Familien zugewandert sind, seit Beginn der israelischen Besatzung mit der Befürchtung verknüpft, ihre ›ursprüngliche‹ Herkunft könnte von der Besatzungsmacht aufgedeckt werden und der Diskurs, sie seien keine Jerusalemer/ -innen, dazu führen, dass ihnen ihr Recht auf ein Dasein in Jerusalem streitig gemacht werden könnte. Das wird wiederum in der Fallrekonstruktion von Hafez deutlich, dessen Familie aus Tulkarem stammt.18 Im weiter unten besprochenen Urteil des Obersten Gerichts zu Zuzugsbeschränkungen in das erweiterte Jüdische Viertel (vgl. Kap. 8.1) wurde tatsächlich explizit als Argument ausgeführt, der Kläger wohne ja noch nicht lange in Jerusalem: »Moreover, in light of the nature of the historical quarter, one should wonder that the petitioner deemed fit to bid in the tender and make his demands, when the affiliation to the quarter, of his own and of his family who are from Hebron by origin, derived from paying rent for housing since 1947 at a house of the quarter, one quarter ownership of which was purchased by the family in the years 1947 and 1948 and which, until 1938, was occupied by Jews as aforesaid.« (Israel Supreme Court 1978, HCJ 114/78)

Es ist allerdings eine offene Frage, wie sich der Außenseiterstatus der Familien aus Hebron und der Altstadtbewohner/-innen entwickeln wird. Da die Abwanderung von ›alteingesessenen‹ christlichen und muslimischen Jerusalemer Familien voran18 Die herausragende Stellung der Familien mit Herkunft aus Hebron bedeutet auch, dass andere Migrationsgeschichten der heutigen Altstadtbewohner/-innen selten wahrgenommen werden. So habe ich Familien kennengelernt, deren Vorfahren aus Tulkarem, Nablus, aus Ajloun in Jordanien, aus der heutigen Türkei und aus dem Libanon stammen.

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geschritten ist, haben die Zugezogenen in der Altstadt inzwischen die Aufgabe zugeschrieben bekommen, den arabischen Charakter Jerusalems zu sichern, was der Kern eines gemeinsamen Wir-Bildes sein könnte (Elias/Scotson 1993: 44). Ihnen kommt eine wichtige Rolle zu, die auch andere Jerusalemer/-innen durchaus anerkennen (vgl. Qleibo 2011b).19 Doch in der Gegenwart und für die historischen Perioden, die in den späteren empirischen Teilen relevant sein werden, ist die diskursive Abwertung (der Nachkommen) der Zugezogenen aus Hebron bzw. der gesamten Altstadtbevölkerung ein wichtiger Faktor im Erleben. Vergleich mit anderen Städten im Nahen Osten In diesem Abschnitt stelle ich dar, dass es sich bei dem Austausch der Bevölkerung in der Jerusalemer Altstadt und der diskursiven Abwertung um keinen Einzelfall handelt, sondern dass ähnliche Prozesse auch in anderen Altstädten und historischen Stadtvierteln der Levante und Nordafrikas beobachtet werden konnten. Allerdings haben in den anderen Städten inzwischen Prozesse der Gentrifizierung, Kommodifizierung und kulturellen Wiederaneignung dieser historischen Teile stattgefunden – was in der Jerusalemer Altstadt so nicht festzustellen ist. Christa Salamandra (2004) thematisiert in ihrer Ethnographie über die Altstadt von Damaskus, dass auch dort die Notabeln (also die Angehörigen der sozialen Oberschicht) im frühen 20. Jahrhundert ihre Häuser in der Altstadt für Neubauten in luftigeren Stadtgebieten außerhalb aufgegeben haben.20 Ähnlich wie in Jerusalem seien »poor rural migrants« in die alten Gebäude gezogen und hätten deren Grundriss in kleinere Parzellen aufgeteilt. Vor allem während der Dürren im Ersten Weltkrieg habe die Migration in die Stadt zugenommen (ebd.: 10, 26). In Damaskus seien es vor allem untere Mittelschichten gewesen, die in der Altstadt ein städtisches Proletariat mit hoher Arbeitslosenquote gebildet hätten. Ähnlich wie es für Jerusalem dargelegt wurde (vgl. Bagaeen 2004), zeigt sie, wie staatlich stark regulierte Mieten dafür gesorgt hätten, dass sich der bauliche Zustand der Gebäude kontinuierlich verschlechtert habe, da die Eigentümer nicht in den Erhalt der Häuser investiert hätten. Die zunehmende Trennung in Altstadt und Neustadt »signifies class and regional distinction, an ›urban apartheid‹ of rich and poor, urban and rural« (Salamandra 2004: 29-30). Auch in Damaskus hätten die ›alten‹ Damaszener Familien 19 Vielleicht speist sich aus dieser heutigen Interpretation ihrer Rolle das historische ›Gerücht‹, die ›Hebroner‹ seien einst zur Verteidigung der Stadt vor der zionistischen Besiedelung nach Jerusalem gekommen oder gebracht worden (Qleibo 2011b). Ein Interviewpartner sagte, dass die ›Hebroner‹ von muslimischen Führern wie Amin al-Husseini Geld für den Umzug bekommen hätten (Interview mit Abu Lutfi in Kap. 8.3.1 und Frantzman 2011). 20 Ähnlich wie in Jerusalem sind vor allem einige christliche Altstadtfamilien in ihrem Altstadtbesitz wohnen geblieben (Salamandra 2004: 26).

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die Neuankömmlinge abgelehnt, da sie sich selbst als diejenigen gesehen hätten, die Hochkultur und Traditionsbewusstsein verkörperten (ebd.: 11). Dementsprechend hätten die Mittel- und Oberschichten die Altstadt lange Zeit ignoriert, die für sie mit den Zugezogenen und Rückständigkeit assoziiert gewesen sei (ebd.: 72). Amy Mills (2007) beschreibt eine mahalle (Nachbarschaft) in Istanbul, die früher von Griechen, Juden und Armeniern bewohnt, von diesen aber zwischen den 1940er und 1960er Jahren weitgehend verlassen wurde. An ihrer statt hätten sich türkische Familien aus Dörfern in der Schwarzmeerregion angesiedelt. Mills beschreibt, dass in einer Veröffentlichung über die Nachbarschaft die dörflichen Zugezogenen als »Fremde« oder »komisch« bezeichnet worden seien, was die Einwohner/-innen ihr gegenüber beklagten. Ähnliche Prozesse lassen sich auch in Kairo (Abu-Lughod 1971, in Salamandra 2004: 29) und den Medinas in Marokko (z.B. Marrakesch, Fes und Essaouira) beobachten (Escher 2009). Der städtische Bevölkerungsaustausch lässt sich somit als eine allgemeine Entwicklung in der Region identifizieren: Im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (häufig also die koloniale Periode oder der Abschnitt verordneter Modernisierungen) verließen viele Mitglieder der Mittel- und Oberschicht ihre Familienbesitze in Altbauten und bezogen größere Familienanwesen, die stärker an westlichen Gestaltungsprinzipien ausgerichtet waren. Dies betraf insbesondere die befestigten Altstädte, da diese – wie in Jerusalem – zuvor häufig die einzigen Siedlungsgebiete der Stadt waren und sich durch dichte Bebauung auszeichneten. Sozio-ökonomisch schwächere Schichten blieben in den Altstädten zurück. Zu ihnen zogen daraufhin Familien aus ärmeren Landstrichen, die die Häuser zunächst von den Bessergestellten mieteten und später auch erwerben konnten. Janet Abu-Lughod (1971, zitiert in Salamandra 2004: 29) stellte die These auf, klassenspezifische Communities würden die alten Nachbarschaftszusammenhänge, die auf unterschiedlichen religiösen, ethnischen und lokalen Solidaritäten beruht hätten, ablösen. Salamandra (2004: 2930) zitiert in diesem Zusammenhang den Politologen Sami Zubaida (1989): »Urban growth, changes in the sources of wealth, status, and power, and the adoption of lifestyles based on European models led the middle classes to move out of the old cities and into class-homogeneous residential quarters. The old quarters, where they still survive, have become lower-class areas, heavily populated with waves of rural migrants and maintaining a mix of residence and small-scale commerce and craft.«

Doch Abu-Lughods These von den Altstädten als Unterschichtenorten ist in den meisten Fällen nicht deren letzte Stufe der Entwicklung, wie ich im Folgenden zeige. Stattdessen fand in den vergangenen Jahrzehnten in vielen historischen Nachbarschaften eine nationale oder internationale Gentrifizierung statt. Durch diese erhöhte sich deren Marktwert erheblich. Außerdem kam es häufig zur kulturellen

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Wiederaneignung und zur Kommodifizierung des ›kulturellen Erbes‹ und der Alltagswelten der Altstädte. In Damaskus zogen zwar keine der Damaszener Familien in die Altstadt zurück, aber sie benutzten »a range of new cultural forms invoking Old Damascus« (Salamandra 2004: 2). Dazu gehörten Restaurants, Cafés, Fernsehserien oder Ausstellungen. Diese fungierten als »idioms of exclusion, distinguishing an old urban elite from powerful new rivals«. Das heißt, dass das »authentische Damaskus«, zu dem sich diese Eliten zählten, als Konsumpraxis wiedererfunden wurde (ebd.: 2). Besonders bekannt wurde zudem die jahrelang in der gesamten arabischen Welt rezipierte Ramadanserie Bāb al-Ḥāra, die in einer fingierten Damaszener Altstadtnachbarschaft angesiedelt war. Und Teile der Damaszener Altstadt wurden zu Beginn der 2000er Jahre zu angesagten Unterkünften für internationale Sprachstudierende. Auch die Istanbuler mahalle wurde mit ihrer multiethnischen und -religiösen Geschichte kommodifiziert. Immer wieder wurde sie in den Medien als Beispiel für ein tolerantes und enges nachbarschaftliches Zusammenleben abgebildet – Diskurse, die wiederum Gentrifizierungstendenzen und einen weiteren Bevölkerungsaustausch beschleunigten (Mills 2007: 338-339). Und in Marokko (Escher 2009) sowie Tunesien investierten Europäer in die touristisch beliebten Altstädte und erwarben und renovierten dort Immobilien in großem Stil. In der Altstadt von Jerusalem sind diese letztgenannten Entwicklungen in dieser Weise nicht zu beobachten. Zwar gibt es einige Restaurierungsprogramme und Kulturinitiativen (IPCC 2009: 42), doch das Interesse der Palästinenser/-innen an den traditionellen Nachbarschaften der Altstadt, welche nicht zuletzt die Konstanz der arabischen Besiedelung nachweisen können, ist im Vergleich zum Interesse an den ›heiligen Stätten‹ gering. Trotz der symbolischen Signifikanz der gesamten Jerusalemer Altstadt und einiger Programme, Gebäude in der Altstadt zu renovieren,21 bilden die Wohngegenden einen aufgrund der zugeschriebenen Außenseiterposition ihrer Bewohner/-innen diskursiv vernachlässigten Raum.

21 Zum Beispiel gibt es das Old City Revitalization Programme. Bis 2003 sind 82 Wohnungen, 26 öffentliche und 55 kommerziell genutzte Gebäude renoviert worden (Cohen 2011: 84). In den vergangenen zwei Jahren gab es zudem Versuche, eine palästinensische Ramadanserie im Fernsehen zu etablieren, die in der Altstadt spielt und die an die syrische Serie Bāb al-Ḥāra angelehnt ist. Dieser Serie namens Bāb al-ʿAmūd (Damaskustor) scheint jedoch kein Erfolg beschieden gewesen zu sein.

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6.5

D IE F ORSCHUNGSLAGE UND DER ALTSTADT

ZU

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O STJERUSALEM

Im Gegensatz zu den vorherigen Unterkapiteln, die eine historische Perspektive einnahmen, werde ich in diesem Abschnitt schwerpunktmäßig gegenwartsorientierte sozialwissenschaftliche Literatur vorstellen, in der die Jerusalemer Altstadt behandelt wird. Michael Dumper (2002b: 8), der sich als einer der wenigen Forschenden jahrelang und ausführlich mit der Jerusalemer Altstadt beschäftigt hat, konstatiert »the absence of studies on the Old City itself«. Ausführlicher und in Bezug auf die gesamte Stadt Jerusalem schreibt der Anthropologe Glenn Bowman (2007), dass es erstaunlich wenig sozialwissenschaftliche und vor allem ethnographisch relevante Literatur zu Jerusalem gebe. Die klassischen Überblickstexte der Anthropologen beschäftigten sich vergleichsweise wenig mit der Stadt: »[T]he city in general did not appear particularly to fit the topoi of the anthropologists’ Middle East.« (Bowman 2007: 27)22 Die einzige umfangreiche Monographie, die in jüngerer Zeit über die soziale und politische Lage der Altstadt veröffentlicht wurde, ist die des Politikwissenschaftlers Michael Dumper (2002b). Er versteht es, historische Prozesse und die soziale und institutionelle Realität der Altstadt in seiner Analyse zu integrieren. Weiterhin liegen zur Altstadt zahlreiche Publikationen vor, die Bowman (2007: 28-29) als ›think tank‹-Analysen tituliert, da sie Lösungsvorschläge für den vertrackten Nahostkonflikt aufzeigen wollen und sich daher meistens auf eine detailreiche Darstellung der politischen Lage beschränkten, »abandoning wider perspectives to focus on specific problems«. Doch die anspruchsvolleren dieser Arbeiten liefern eine fundierte, auf quantitativen Erhebungen beruhende Analyse der Lebensbedingungen in der Altstadt und stellen für die vorliegende Studie eine gute Datenquelle dar. Diese Untersuchungen stammen von internationalen, israelischen oder palästinensischen Institutionen und entstanden in ihrer Mehrzahl in der Zeitspanne zwischen der Mitte der 1990er Jahre und dem Ende der 2000er Jahre, als Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des Nahostkonflikts bestand, wozu sie mit ihren Analysen beitragen wollten (Bell et al. 2005; Glass/Khamaisi 2005; IPCC 2009; Lapidoth/Ramon 2006; mit einem weniger politikwissenschaftlich denn architektonischen Fokus zählt dazu auch Jerusalem heritage and life 2004). Aus diesem Zeitabschnitt stammen auch einige Zeitschriftenartikel, die der Lage der Bevölkerung in der Altstadt aus stadtplanerischer Sicht und im Vergleich zu anderen Städten nachgehen (Bagaeen 2004; Safier 2001). Eine wichtige Rolle spielt der Vergleich mit 22 Lila Abu-Lughod (1989: 280) argumentiert in ihrem Rezensionsartikel zur ethnographischen Forschung über den Nahen Osten, dass die bestimmenden »Zonen« der Islam, der Harem und die Segmentation (also Tribalismus) der Bevölkerung seien.

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anderen ›geteilten Städten‹ (Bollens 2001); seit 2003 war unter der Leitung von Wendy Pullan eine große Forschungsgruppe an der Universität Cambridge mit diesem Thema beschäftigt (Conflict in cities and the contested state. Everyday life and the possibilities for transformation in Belfast, Jerusalem and other divided cities23). Zu den für diese Arbeit wichtigen gesellschaftlichen und politischen Analysen zählen außerdem breitere Darstellungen zu Ostjerusalem, in denen auch die Altstadt thematisiert wird. Dazu gehören jüngere Publikationen (Cohen 2011; Dumper 2014; Misselwitz/Rieniets 2006) wie ältere Veröffentlichungen, die für die Rekonstruktion der Lebensbedingungen in Jerusalem zwischen den 1970er Jahren und der Mitte der 1990er Jahre eine wichtige Rolle gespielt haben (Benvenisti 1996; Cheshin et al. 1999; Friedland/Hecht 1996; Klein 2001; Romann/Weingrod 1991). Bowman (2007: 34) hat als einen weiteren Publikationstyp neben den ›think tank‹-Analysen jene Forschungsarbeiten identifiziert, deren politische Fragestellung zu einer »over identification« mit den Forschungssubjekten führe. Es sei wichtig, politische Ungerechtigkeiten herauszustellen, so Bowman weiter, dazu gehöre aber nicht, unkritisch die Sichtweise der jeweiligen Gruppierung zu übernehmen, über die man arbeite. Im Gegenteil: Die Erfahrungen des Forschers aus anderen Orten und Situationen könnten für die Gruppierung hilfreich sein: »[A] self-abasing celebration of the rightness of the other that forbids one from contributing those insights to internal debates damages not only the anthropologist’s integrity but also the possibilities for self-assessment of the community.« (ebd.: 34) Doch das Problem reicht in meinen Augen weiter. Viele Forscher/-innen nehmen an, es sei am wichtigsten, die subjektiven Sichtweisen der unterdrückten Bevölkerung zu porträtieren – also die wenig analytisch durchdrungene Wiedergabe dessen, was die Beforschten die Forscher/-innen hören lassen wollen. Das kann zur Reproduktion eines vereinheitlichenden palästinensischen Selbstbildes führen, ohne dass Brüche oder Ambivalenzen darin angesprochen würden. Der dann häufig in diesen Darstellungen als relevant identifizierte Widerstand gegen die israelische Besatzung (re)produziert ein homogenisiertes ›Volk‹, das es in dieser Einheitlichkeit nicht gibt (vgl. Kap. 10.7.2; Becker 2013; Hinrichsen/Becker/Rosenthal 2015; Rosenthal 2015b). Zu derartigen Publikationen gehören häufig solche, die sich intensiv mit der Frage nach Dominanz und Widerstand beschäftigen (Abowd 2014; Dixon 1999; Lattendresse 1995; McDonald 2006; Shalhoub-Kevorkian 2012). Am Beispiel der letztgenannten Studie soll dies kurz verdeutlicht werden. Nadera ShalhoubKevorkian (2012) hat für ihre qualitative Studie in der Altstadt, aber auch in anderen Stadtteilen junge Palästinenser/-innen befragt. Auf ihre drei offen gehaltenen

23 Vgl. http://www.urbanconflicts.arct.cam.ac.uk/research-projects/conflict-in-cities, abgerufen am 25.05.2016.

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(aber nicht narrativen) Interviewfragen24 scheint sie ausschließlich Antworten bekommen zu haben, die sich inhaltlich stark von den mir erzählten Lebensgeschichten unterscheiden und sich lediglich auf die gegenwärtige politische Lage konzentrieren: »All respondents explained, in various ways, how their bodies, time and space were controlled by the Israeli military structure.« (Ebd.: 9) In ihrer Darstellung reiht Shelhoub-Kevorkian Aussagen ihrer Interviewpartner/-innen aneinander, die bestätigen, dass die israelische Alltagspolitik ein »socio-cide [sei], a severe socio-economic and psychological devastation that leaves no corpses or wounds, but rather results in slow death« (ebd.: 16-17). Gegen die israelische Unterdrückung stellt sie schematisch den Widerstand der palästinensischen Bevölkerung, wie sie in binären Begriffspaaren verdeutlicht: »silence and the scream, obedience and resistance, tears and laughter, activism, agency and suffering« (ebd.: 7). Das wichtigste Ergebnis ihrer Studie ist, dass sich die Ostjerusalemer Palästinenser/-innen häufig als in einer Falle gefangen wahrnehmen (»trappedness«) und sich dadurch traumatisiert und isoliert fühlten (ebd.: 24). Während sie diese Lage als Ergebnis der israelischen Besatzungspolitik definiert, werde ich aufzeigen, dass dieses In-der-Fallesitzen auch ein für zahlreiche Fälle in meinem Sample wichtiges Erleben ist, diese ›Falle‹ aber nicht nur durch politische Diskriminierung entsteht, sondern auch mit teils konfligierenden Aufgaben in Familie, Nachbarschaft und für ›die Nation‹ verknüpft ist. Für die israelische Politik wurde in den genannten Studien eine Reihe von wissenschaftlichen Neologismen produziert, die die Polarisierung zwischen israelischer Besatzungsmacht und palästinensischer Bevölkerung in Ostjerusalem verdeutlichen. Shalhoub-Kevorkian spricht von »necropolitics« (2012: 25), »sociocide« (ebd.: 17) oder »ethnic cleansing« (ebd.: 7-8), andere von »urbanicide« (Bulle 2009: 24) oder »spacioside« (IPCC 2009: 49). Durch diese Begriffe wird die palästinensische Zugehörigkeit tendenziell essentialisiert, da weitere Zugehörigkeiten vollständig darunter subsumiert werden. Es ist notwendig und richtig, auf die diskriminierende Besatzungspolitik des israelischen Staates und der Jerusalemer Stadtverwaltung aufmerksam zu machen, doch muss diese in ihrer Interrelation mit weiteren sozialen Institutionen und Prozessen analysiert und gedeutet werden. Mit dem Mangel an einer solchen ausgreifenderen Analyse ist auch ein limitierter prozesssoziologischer Blick verknüpft, der höchstens in die jüngste Vergangenheit reicht. In dieser Arbeit soll diese Perspektive durch die Betrachtung von Lebensgeschichten und des Alltagshandelns in der Altstadt überwunden und eine offene For-

24 »1. What does it mean to you personally to be a Palestinian from Jerusalem? 2. What are the main issues that concern Jerusalemites today? 3. Could you please share an episode concerning yourself/family or friends in Jerusalem that had a significant impact on you?« (Shalhoub-Kevorkian 2012: 7)

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schungshaltung eingenommen werden. Dies wurde von Diane E. Davis (2005) prägnant gefordert: »Still, we must remember that this city is also a place in which people live, work, shop, worship, and play. Far more than being merely the contested terrain upon which seemingly irreconcilable nation-states struggle for power, the city of Jerusalem has produced its own unique mix of urban cultures, spatial practices, physical connections, economic activities, and political institutions, many of which existed long before twentieth century efforts to classify its peoples in terms of particular national identities.«

Die bislang vorgestellte Literatur wird von jener ergänzt, die sich primär mit dem religiösen Charakter der Altstadt als ›heiliger Stadt‹ und mit der Geschichte und Gegenwart von religiösen Gruppierungen auseinandersetzt. In jenen Publikationen werden, im Gegensatz zu den eben eingeführten, die politischen Rahmenbedingungen häufig vernachlässigt. Am bekanntesten ist wahrscheinlich das Werk der Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong (2002). Sie geht der Frage nach, was die Altstadt von Jerusalem heilig mache. Es sei die Hingabe an einen besonderen Ort, so ihre Antwort, diese sei in der menschlichen Psyche verankert. An einem solchen Ort könnten Menschen näher an Gott sein, »risen above their earthly concerns« (ebd.: 189-190). Armstrong wird zugutegehalten, sie überwinde mit ihrer Konzeption eines ›mythischen‹ Jerusalems »the people, cultures, and politics of the city« (Friedland/Hecht 1998a: 201). Ihre Konzeption ist soweit abstrahiert, dass sie die Gegenwart und die Bevölkerung der Altstadt aus ihrer Analyse ausklammert. Eine solche isolierte Betrachtung von religiösen Gruppierungen lässt sich auch in den Zuschreibungen an die christlichen Altstadtbewohner/-innen durch Daphne Tsimhoni erkennen, die diesbezüglich als Spezialistin gilt. Sie bezeichnet die christliche Altstadt etwas herablassend als »living urban museum« (1984: 352). Zu den Forschungen mit einem Fokus auf Religion gehören auch die von Friedland und Hecht (1998a, b) sowie von Samman (2007), die die Altstadt mit anderen als ›heilig‹ erachteten Städten vergleichen. Die bislang in diesem Abschnitt eingeführten Publikationen beschäftigen sich in allgemeinerer Form mit der Altstadt. Sie werden durch zahlreiche Veröffentlichungen ergänzt, die sich einzelnen Communities, kleineren Gruppierungen oder Orten in der Altstadt widmen und von denen im Folgenden nur einige erwähnt werden sollen. Um zunächst bei religiösen Themen zu bleiben: Mehrere Artikel behandeln die Grabeskirche (Hecht 1994; Marchand 2015) oder den Haram aš-Šarīf (Tempelberg; Burgess 2004) als religiös und politisch umkämpfte Orte; Bowman (1993) bespricht christliche Prozessionen während der Ersten Intifada als Symbol nationaler Einheit. Yitzhak Reiter (1997) hat eine detaillierte Analyse der muslimischen Institutionen in der Altstadt vorgelegt, die zunehmende Relevanz des Islams in der Altstadt wird von Dumper und Larkin (2009) sowie in seinen alltäglichen Auswirkun-

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gen von Pullan (2015) analysiert. Für das erweiterte Jüdische Viertel in der Zeit nach Beginn der israelischen Besatzung von 1967 liegt eine umfassende Arbeit von Simone Ricca (2007) vor, die von der Publikation von Bar und Rubin (2011) ergänzt wird. Eine historische und architektonische Analyse einer der muslimischen Nachbarschaften legte Ghusha (1999) auf Arabisch vor. Auf einzelne christliche und muslimische Gruppierungen (die im folgenden Kapitel 6.6 angesprochen werden) gehen Seitz (2002), Peterson (2003), Abowd (2000), Khalidi (2009), Shalhoub-Kevorkian (1995), Tsimhoni (1984) und Vatikiotis (1994) ein. Weitere, für diese Arbeit nur entfernt relevante Themenkomplexe behandeln archäologische Ausgrabungen in der Altstadt als ideologischen Prozess (Abu El-Haj 2001; Silberman 2001; Ross 2007), urbane Soundscapes (Wood 2013a, b) und die diskursbildende Rolle von touristischen Führungen und Ausstellungen (Bowman 1992; Feldman 2007; Goldstein 2007) bzw. Interaktionen von Händlern und Touristinnen in der Altstadt (Bowman 1989).

6.6

D IE J ERUSALEMER ALTSTADT

IN DER

G EGENWART

Während in den vorangegangenen Unterkapiteln auf den Bevölkerungsaustausch und die längerfristigen historischen Prozesse der Genese der Außenseiterposition der Altstadtbewohner/-innen eingegangen wurde, gehe ich in diesem Abschnitt kursorisch und vornehmlich deskriptiv auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen in der Altstadt in ihren politischen, sozialen und institutionellen Facetten ein. Auf Basis von Sekundärliteratur stelle ich die notwendigen Hintergründe für die Falldarstellungen im empirischen Teil dieser Arbeit dar. Gruppierungen in der Altstadt Die Altstadt umfasst eine Fläche von 0,9 Quadratkilometern. Seit 1967 hat sich die Bevölkerung der Altstadt beinahe verdoppelt. 1967 wurden offiziell 23.000 Einwohner/-innen gezählt, 1983 25.478, 2002 34.689 (Glass/Khamaisi 2005: 3) und 2010 40.600 (UNCTAD 2013: 29). Laut dem Jerusalem Institute for Israel Studies (2016b) wohnten 2014 36.830 Einwohner/-innen in der Altstadt, also eine geringere Zahl als 2010. Gerade die jüngeren Bevölkerungszahlen sind wahrscheinlich zu niedrig angesetzt, da es eine hohe Zahl nicht erfasster Einwohner/-innen gibt (IPCC 2009: 22).25 Dafür, dass die Zahl so schnell gestiegen ist, gibt es verschiedene Gründe: Auf der einen Seite ist die Mortalitätsrate der arabischen Bevölkerung seit dem verbesserten Zugang zum Gesundheitssystem bei anhaltend hohen Geburtenra25 Die Altstadt wird von durchschnittlich zwei Millionen Touristen im Jahr besucht, wenn die politische Lage stabil ist – das sind ca. 5.500 Touristen pro Tag (Glass/Khamaisi 2005: 1, 3).

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ten rapide gesunken, auf der anderen Seite haben die in Abschnitt 5.4 beschriebenen Prozesse der Abriegelung des Westjordanlandes und der Restriktionen beim Wohnungsbau zu einem Rück- bzw. Zuzug in die Altstadt beigetragen (Glass/Khamaisi 2005: 5). Generell bilden Palästinenser/-innen die große numerische Mehrheit in der Altstadt: Im Jahr 2002 galten statistisch 72 Prozent der Altstadtbewohner/-innen als Muslime, 17 Prozent als Christen und 11,5 Prozent als Juden. Die Zahl der Christen ist seit 1983 wegen Umzug und Emigration zumindest relativ im Sinken begriffen (ebd.: 2005: 3). Die Bewohner/-innen können darüber hinaus in weitere konfessionelle und ethnische Gruppierungen unterteilt werden. So werden zur muslimischen Gruppierung auch die Community der ›afrikanischen Muslime‹ gezählt, deren Mitglieder in den vergangenen Jahrhunderten aus Tschad, Nigeria, dem Senegal und dem Sudan nach Palästina gekommen und in die Altstadt gezogen sind (ca. 350 Mitglieder, Seitz 2002), die Mitglieder der Dom, einer Domari sprechenden ethnischen Gruppierung (ca. 1.000 in Jerusalem, davon einige Hundert in der Altstadt, vgl. Peterson 2003: 45), die Gruppierung der aus Nordafrika eingewanderten Muslime (Abowd 2000; Benvenisti 1996: 170; vgl. Kap. 8.1) sowie kleine (Sufi-) Gruppen mit indischer (Khalidi 2009) oder usbekischer Abstammung (Feldinger 2010). Jerusalem war bis ins 19. Jahrhundert ein Zentrum des Sufismus mit über 70 verschiedenen Orden. Diese wurden vor allem durch das inzwischen weitgehend zum Erliegen gekommene muslimische Pilgertum beeinflusst (Schleifer 1987: 166) und sind bis auf wenige Ausnahmen heute nicht mehr in der Altstadt nachweisbar. Die christliche Altstadtgruppierung setzt sich aus Mitgliedern verschiedener Denominationen zusammen. Die zahlenmäßig stärkste Denomination ist die griechisch-orthodoxe Kirche (deren Mitglieder sich selbst auch als arabisch-orthodox bezeichnen), es folgen die griechisch-katholische, die römisch-katholische, die protestantische und die anglikanische Kirche, die armenisch-orthodoxe, die armenischkatholische, die koptisch-orthodoxe, die syrische-orthodoxe und die syrischkatholische Kirche (westsyrischer Ritus) (Tsimhoni 1984) sowie einige Mitglieder der maronitischen Kirche und Angehörige diverser charismatischer Freikirchen (Tsimhoni 1993, 2005). Dabei werden landläufig die armenisch-orthodoxen und die armenisch-katholischen Christen statistisch nicht zur arabischen Altstadtbevölkerung gerechnet. Die syrisch-katholischen, syrisch-orthodoxen und maronitischen Christen hingegen werden darunter subsumiert, obwohl sich auch diese Gruppierungen wie die der Armenier teilweise als eigene Ethnie verstehen,26 doch häufig 26 Daphne Tsimhoni (1984: 361), die ausführlich über die christlichen Communities in Jerusalem geforscht hat, schreibt: »[T]he Syrians did not adopt the Arab nationality and generally remained aloof from the political activities of their neighbourhood. They saw themselves as part of the Syrian ethno-religious minority scattered in the Middle East, India and the West.«

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auch ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu einer palästinensischen Nation haben. In mehreren christlichen Kirchen gibt es zudem interne Streitigkeiten zwischen der lokalen Gemeinde und einer ausländischen Kirchenhierarchie vor Ort (z.B. bei der armenisch-orthodoxen und der griechisch-orthodoxen Kirche; vgl. Vatikiotis 1994). Auch die jüdische Community in der Altstadt ist äußerst divers. So unterscheiden sich ihre Mitglieder durch ihre Herkunft und damit verknüpfte Religionsschulen. Abbildung 5: Blick von einem palästinensischen Wohngebiet auf den Haram ašŠarīf (Tempelberg)

Abbildung: Johannes Becker

Im Folgenden werde ich kurz auf wichtige gesellschaftliche Institutionen der muslimischen und christlichen Communities in der Altstadt eingehen, die in den empirischen Teilen der Arbeit wichtig werden. Vor allem Michael Dumper hat sich in seinem Buch The politics of sacred space. The Old City of Jerusalem in the Middle East conflict (2002b) eingehend mit diesem Thema beschäftigt, auf seine Forschungen werde ich mich in diesem Abschnitt primär stützen. Für die muslimische Community in der Altstadt hat die auqāf-Verwaltung eine zentrale Bedeutung. Mit dem Begriff waqf (Pl. auqāf) werden religiöse Stiftungen bezeichnet, die gemeinnützig sein oder von einer einzelnen Familie eingesetzt werden können (vgl. zum waqf-System weiter unten in diesem Abschnitt, S. 150). Die auqāf-Verwaltung überschaut nicht nur die unzähligen kleineren Stiftungen, sondern ist de facto auch

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für den Haram aš-Šarīf (Tempelberg) und die muslimischen heiligen Stätten verantwortlich.27 Als Stiftungsträgerin verwaltet sie eine Großzahl der Gebäude in vorwiegend muslimischen Nachbarschaften und muslimische Schulen,28 engagiert sich bei archäologischen Ausgrabungen, Renovierungsprojekten, der religiösen Bildung und in der Wohlfahrt (ebd.: 89-90). Ihre zahlreichen Tätigkeiten reichen in das Alltagsleben vieler Altstadtbewohner/-innen hinein. Die auqāf-Verwaltung ist mit ihren über 200 Angestellten, deren Büros auf dem und an den Haram aš-Šarīf angrenzend liegen, zudem ein wichtiger Arbeitgeber in der Altstadt. Von Israel wird die auqāf-Verwaltung aber offiziell nicht anerkannt (ebd.: 86-89; IPCC 2009: 25). Dumper (2002a, 2002b: 105-121) sieht trotz der Emigrationstendenzen die christlichen Communities fest in der Altstadt verankert. Das liege auch daran, dass sich die Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten stärker von der israelischen Regierung abgewandt, in ihre palästinensische Umgebung eingebracht und gleichzeitig ein internationales Unterstützernetzwerk aufgebaut hätten. Die wichtigsten Denominationen sind die römisch-katholische, die armenisch-orthodoxe und die griechisch-orthodoxe Kirche, wobei letztere eine Vormachtstellung hat. Während der britischen Mandatszeit nach 1920 waren der christliche Einfluss in Jerusalem und die Zahl der christlichen Bewohner/-innen stark gestiegen. Christen konnten gesellschaftlich einflussreichere Positionen einnehmen. Mit dem Krieg von 1948 kamen besonders viele christliche Flüchtlinge in die Altstadt, die in den Konventen ihrer jeweiligen Denominationen Zuflucht fanden. Während der Zeit der jordanischen Herrschaft verließen viele Christen die Stadt und zogen wegen der schlechten ökonomischen Lage in andere arabische Großstädte oder andere Weltregionen. Die absolute Zahl an Christen in der gesamten Stadt Jerusalem ist mit ca. 11.000 relativ stabil geblieben, davon wohnen nach unterschiedlichen Angaben zwischen 6.000 und 8.000 in der Altstadt (IPCC 2009: 22). Die christlichen Kirchen sind in der Altstadt in mehrerer Hinsicht auch außerhalb ihrer jeweiligen Kongregationen präsent. So verfügen die Kirchen über umfangreiche Ländereien in der Altstadt und in ganz Jerusalem (jedoch sehr ungleich nach Denominationen verteilt). Sie verwalten zudem eine große Anzahl von Schulen, die häufig als besonders gut oder elitär angesehen werden und auch von vielen Muslimen besucht werden. Zudem unterhalten die Kirchen viele soziale Einrichtungen, deren Reichweite weit über die ihrer jeweiligen Kongregation hinausgeht. Damit bieten sie nicht nur, aber in bevorzugtem Maße Christen Arbeitsgelegenheiten. Zu den wichtigsten Herausforderungen der 27 Im Jahr 1988 gab Jordanien seine Ansprüche auf das Westjordanland offiziell auf, doch es behielt die Zuständigkeit für die auqāf -Behörden (und somit für die muslimischen heiligen Stätten) und die Šarīʿa (Scharia)-Gerichte (Dumper 2002b: 31-33). 28 In der Altstadt gibt es 17 palästinensische Schulen, davon eine Gewerbeschule und zwei städtische Schulen. Insgesamt werden ca. 7.000 Schüler beschult (Glass/Khamaissi 2005: 72).

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christlichen Communities gehört die politische Positionierung der Kirchen. Israel habe versucht, so Dumper (2002b: 105-121), durch die Bevorzugung des christlichen Klerus eine muslimisch-christliche Koalition zu vermeiden und durch die Differenzierung in einzelne Denominationen ein christliches Bündnis zu verhindern. Spätestens mit dem Beginn der Ersten Intifada Ende 1987 verbanden sich die christlichen Communities aber stärker untereinander, und somit wurden auch die Kirchen in den Widerstand gegen die Besatzung eingebunden. Die interdenominationelle Zusammenarbeit fand ihren Höhepunkt in den Statements by the heads of the Christian communities in Jerusalem in den Jahren zwischen 1988 und 1992 und durch mehrere gemeinsame Protestaktionen. Weitere Herausforderungen für die christlichen Communities sieht Dumper in den Auseinandersetzungen zwischen Klerus und Laien in der griechisch-orthodoxen Kirche, in der die Laien mehr Mitspracherecht anstreben, und in den interdenominationellen Auseinandersetzungen zum Beispiel um Vorrechte in der Grabeskirche. Bevölkerungsverteilung, Bevölkerungsdichte, soziale Probleme In diesem Abschnitt gehe ich auf die Bevölkerungsverteilung, Probleme durch die hohe Bevölkerungsdichte sowie weitere soziale und infrastrukturelle Herausforderungen in der Altstadt ein. Zunächst sei allerdings noch einmal auf die Abschnitte 5.2 bis 5.5 verwiesen, in denen ich auf ganz Ostjerusalem betreffende politische Rahmenbedingungen und wichtige historische Entwicklungen aufmerksam gemacht habe, die auch die Altstadtbewohner/-innen betreffen. Dazu gehören in besonderer Weise die Kontrolle der Berechtigung, eine Jerusalem ID zu führen, und die diskriminierende Wohnsituation für Palästinenser/-innen in Ostjerusalem. Da die vorhandenen statistischen Daten für die Altstadt zumeist unterteilt in die vier ethno-religiösen Viertel dargestellt werden, übernehme ich in den folgenden zwei Abschnitten (und nur dort) diese Einteilung, auch wenn ich sie aufgrund der in Kapitel 6.2 ausgeführten historischen Analyse nicht mittragen kann. Dabei folge ich dem von Michael Dumper (2002b: 14) vorgeschlagenen Sprachgebrauch und verwende die Begriffe Jüdisches und Armenisches Viertel, aber im Plural die Begriffe christliche Viertel und muslimische Viertel um auszudrücken, dass darin anders kategorisierbare Nachbarschaften enthalten sind. Die Altstadt hat eine Bevölkerungsdichte von ca. 38.500 Ew./km2; das ganze Stadtgebiet Jerusalems dagegen eine Dichte von ca. 5.400 Ew./km2. Wenn die wenigen offenen Flächen abgezogen werden, dann nähert sich die Bevölkerungsdichte 50.000 bis 60.000 Ew./km2 an. Das jüdische und das armenische Viertel sind am wenigsten dicht, der südliche Teil der muslimischen Viertel am dichtesten besiedelt

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(Glass/Khamaisi 2005: 11-13).29 Verschiedene Aspekte der Bevölkerungsverteilung in der Altstadt wurden bereits in Unterkapitel 6.2 behandelt. Im Folgenden werde ich daher nur auf wichtige Veränderungen und Unterschiede in den Wohnbedingungen zwischen den verschiedenen, idealtypisch identifizierten Vierteln eingehen. In der folgenden Tabelle findet sich die numerische Verteilung der Altstadtbevölkerung nach Religion (bzw. Ethnie) und anhand von vier angenommenen Vierteln auf Basis der jüngsten für alle Viertel verfügbaren Zahlen aus dem Jahr 1998: Tabelle 2: Bevölkerungsverteilung in der Altstadt 1998 Juden

Muslime

Christen

gesamt

christliche Viertel

107

1.025

3.900

5.032

Armenisches Viertel

592

510

1.193

2.295

Jüdisches Viertel

1.723

480

17

2.230

muslimische Viertel

380

20.799

1.460

22.639

gesamt

2.802

22.814

6.570

32.196

Aus: Dumper 2002b: 29. Dieser beruft sich auf die Publikation Jerusalem Old City revitalisation plan (1999).30

Laut Glass und Khamaisi (2005: 3), die sich auf ähnliche Zahlen berufen, ist im Vergleich zu früheren Angaben aus dem Jahr 1983 vor allem die Anzahl der in den christlichen Vierteln wohnenden Muslime um ca. 400 Personen angestiegen und die Zahl der jüdischen Bewohner/-innen in den muslimischen und christlichen Vierteln ebenso um ca. 400 Personen. Seit 1995 gab es aber einen bedeutenden Bevölkerungszuwachs in der Altstadt. Neben hohen Geburtenraten sind besonders die politischen Entwicklungen (die Beschränkungen beim Wohnungsbau, die hohen Mieten in anderen Stadtteilen und der Rückzug von palästinensischen Familien aus dem Westjordanland, vgl. Kap. 5.4) dafür verantwortlich, dass vor allem ärmere Bevölkerungsteile in die Altstadt drängen: »Consequently, thousands of Jerusalem ID holders sought shelter in the Old City where they could stay with relatives, rent cheaply, or even live as squatters in empty or abandoned historic buildings and monuments.« (Glass/Khamaisi 2005: 7; vgl. IPCC 2009: 71) Bereits in der Altstadt wohnende Palästinenser/-innen empfinden außerdem einen durch innerpalästinensische Diskurse hervorgerufenen Druck, ihren Altstadtbesitz zu behalten anstatt von 29 In der Altstadt gebe es 86 Gebäude pro 1.000 m² (=1 Dunum), im auch sehr engbebauten Flüchtlingslager Šuʿafāṭ in Jerusalem dagegen ›nur‹ 32 Gebäude pro Dunum (Bagaeen 2004: 210). 30 Die angeführten Zahlen sind falsch gerechnet. Die Gesamtzahl der muslimischen Bewohner müsste 22.814 statt 22.894 betragen, die Gesamtzahl der Einwohner 32.196 statt 32.186.

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dort zu verziehen. Andere verspüren dagegen den Wunsch, in der Nähe der heiligen Stätten wohnen zu bleiben (vgl. Kap. 7.3, 8.3.2 und IPCC 2009: 42-43). Abbildung 6: In der Nähe des Damaskustores

Abbildung: Johannes Becker

Die hohen Bevölkerungszahlen sind mit einer Überbelegung der zur Verfügung stehenden Wohnungen verknüpft: Die durchschnittliche Wohnungsgröße betrug in den muslimischen Vierteln 40m2, in den christlichen Vierteln 42m2, im Armenischen Viertel 54m2 und im Jüdischen Viertel 75m2. Die christlichen Haushalte hätten im Durchschnitt 3,7 Personen, die muslimischen 5,3 Personen umfasst (Glass/Khamaisi 2005: 13).31 Zur räumlichen Enge trägt auch bei, dass die Hälfte der Altstadtfläche nicht für Wohngebäude zur Verfügung steht; zum Beispiel werden 0,28 km2 der 0,9 km2 von religiösen Gebäuden eingenommen, dabei sind die Freiflächen auf dem Haram aš-Šarīf noch nicht eingerechnet.32 In jüngerer Zeit wird zunehmend verzweifelt versucht, den zur Verfügung stehenden Wohnraum zu vergrößern. Die ehemalige Leiterin des Al Saraya Center for Community Services 31 Beim IPCC (2009: 44) finden sich differierende Angaben zur durchschnittlichen Wohnungsgröße: muslimische Viertel: 41m2, Armenisches Viertel: 42m2, christliche Viertel: 54m2, Jüdisches Viertel: 71m2. In den muslimischen Vierteln wohnten laut diesen Angaben durchschnittlich 6,3 Personen pro Haushalt (ebd.: 71). 32 Glass und Khamaisi (2005: 1) zählen 109 religiöse Institutionen: 19 Synagogen, 25 Moscheen und 65 Kirchen. Laut IPCC (2009: 71) 22 Synagogen und Jeshiwot, 29 Moscheen und 70 Kirchen.

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erklärte mir fünf Praktiken, durch die Wohnraum geschaffen würde: das vertikale oder horizontale Teilen von Räumen (letzteres bedeutet das Einziehen einer Zwischendecke), die informelle Umwidmung von Gewerbeflächen (ein Laden wird nachts oder dauerhaft zur Wohnung), illegales Bauen in der Hoffnung, nicht von der israelischen Stadtverwaltung dafür belangt zu werden, und der Ausbau von Kellern. Das führt zum häufig äußerst engen Zusammenleben von mehreren Familien, was die Aushandlung von Privatheit und Intimität verändert (vgl. Kap. 7). Eine Mehrzahl der Häuser benötigt dringend Instandsetzungsmaßnahmen, besonders Feuchtigkeit und Schimmel sind in beinahe allen Gebäuden vorhanden und gesundheitsgefährdend. Lärmbelastung und Lichtmangel sind enorm (Bell et al. 2005: 9). Meine eigenen Wohn- und Besuchserfahrungen bestätigen diesen Eindruck. Dennoch versuchen einige der privaten Vermieter, die gestiegene Nachfrage nach Wohnraum in der Altstadt auszunutzen und die Mieten stark zu erhöhen, was die Bewohner/-innen mit Angst und Sorge vor zunehmender Armut beobachten (vgl. Kap. 7.2.5). Allerdings spiegeln die Besitzverhältnisse in der Altstadt auch den religiösen und politischen Anspruch an diese wider. Nur 23 Prozent des Altstadtlandes befinden sich in ungebundenem Privatbesitz, 21 Prozent in staatlichem Besitz, 25 Prozent des Landes gehören islamischen Stiftungen, und 31 Prozent sind im Besitz der Kirchen (z.T. ebenfalls in Stiftungen umgewidmet) (IPCC 2009: 71). Hierzu ist eine kurze Erklärung zum waqf-System vonnöten, also den bereits auf Seite 145 kurz angesprochenen christlichen oder muslimischen Stiftungen zur Verwaltung von familialem oder öffentlichem Grundbesitz. Die Institution des waqf komme aus der »old social order«, schreibt Yitzhak Reiter (1997: 23). Dass ihr in Jerusalem nach wie vor eine so große Bedeutung zukomme, sei ungewöhnlich, da diese in der restlichen arabischen Welt eher abnehme. Gerade die muslimischen Stiftungen hätten in Jerusalem die Aufgabe, die Community angesichts der Besatzung zusammenzuhalten. Sie seien »a central and important institution in the lives of the Muslim population« (ebd.: 28). So wird Familienbesitz in einen waqf überführt, weil dadurch garantiert werden kann, dass einzelne Erben keine Teile des Grundbesitzes an Außenstehende (z.B. Siedler oder deren Mittler) verkaufen können. Der waqf wird von einem externen Administrator verwaltet (mutawallī), dieses Amt ist vererbbar (ebd.: 37).33 Die Erwerbssituation der Altstadtbewohner/-innen stärkt die Annahme, dass es sich bei ihnen vor allem um Mitglieder der unteren sozio-ökonomischen Bevölke33 Friedland und Hecht (1996: 438) leiten (vielleicht aus Unwissenheit darüber, dass es dieses Konzept auch bei den christlichen Kirchen gibt) aus dieser Art der muslimischen ›Besitzkontrolle‹ sogar die These ab, dass christliche Familien, die nicht die familiale Absicherung hätten und emigrieren wollten, häufiger als Muslime ihren Besitz an jüdische Gruppen verkauft hätten.

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rungsschichten handelt: Da die offiziellen Statistiken keine gesonderten Zahlen ausweisen, stammen die jüngsten diesbezüglichen Statistiken aus dem Jahr 1996. Ihnen zufolge lag damals die Arbeitslosenquote in der Altstadt bei etwa 20 Prozent. Von denen, die einer Arbeit nachgehen konnten, waren rund 36 Prozent ungelernte Arbeiter/-innen. Dazu kamen 32,1 Prozent gelernte Arbeiter/-innen und 26 Prozent Angestellte (Jerusalem heritage and life 2004: 81). Das heißt, knapp die Hälfte der potenziellen und tatsächlichen Arbeitnehmer/-innen war am prekären, unteren Rand des Arbeitsmarktes angesiedelt oder arbeitslos. Laut dem statistischen Jahrbuch der Stadt Jerusalem lag die Armutsrate in der gesamten Stadt Jerusalem im Jahr 2002 bei 40,8 Prozent, der Spitzenwert im israelischen Vergleich. Daraus schlossen Glass und Khamaisi (2005: 15), dass in der Altstadt mindestens die Hälfte der palästinensischen Einwohner/-innen in Armut leben (Glass/Khamaisi 2005: 15). Laut unkommentierten Angaben des IPCC (2009: 71) leben 64 Prozent der Familien und 76 Prozent der Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Die palästinensischen Altstadtgruppierungen leiden unter einer strategischen Benachteiligung durch die Jerusalemer Stadtverwaltung, die bis zur basalen Grundversorgung der Gebäude reicht. Im Jahr 2002 waren beispielsweise 100 Prozent der Haushalte im erweiterten Jüdischen Viertel an die Wasser- und Abwasserversorgung angeschlossen, aber in den anderen Vierteln verfügten lediglich 71 Prozent der Gebäude über fließendes Wasser und 61 Prozent über einen Abwasseranschluss. Diese Ungleichbehandlung erstreckt sich außerdem auf die infrastrukturelle Versorgung mit öffentlichem Transport und die Abfallentsorgung. Die Steuerbelastung für die Altstadtbewohner/-innen ist dagegen ungewöhnlich hoch. Die Altstadt ist in die höchste Klasse der Grundsteuer Arnona eingeordnet, so dass Bewohner/-innen bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für diese Steuer aufwenden müssen (ebd.: 29). Lange Zeit hatten ärmere Schichten in der Altstadt zwar vom Zugang zu staatlichen Familien- und Krankenversicherungen profitiert, da ihre Beiträge niedrig waren. In den vergangenen zwölf Jahren wurde aber zum Beispiel das Kindergeld stark gekürzt, was besonders für die großen Familien einen bedeutenden Einschnitt darstellte (ebd.: 28).34 Schließlich wird in wissenschaftlichen Studien, meist ohne auf statistische Angaben zurückgreifen zu können, auf die zahlreichen sozialen Probleme in der Alt34 In ökonomischer Hinsicht ist die Rolle der Altstadt als ambivalent zu bewerten. Die früher für die lokale Bevölkerung so wichtigen Altstadtmärkte haben stark an Bedeutung eingebüßt. In früheren historischen Perioden waren die Märkte nach Warengruppen aufgeteilt und auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtet. Heute sind sie in ihrer Mehrzahl touristisch geprägte Mischmärkte. Dieser Handelszweig ist aber sehr stark von der politischen Lage abhängig und musste dadurch regelmäßig starke Einbußen hinnehmen. Andere Formen des Wirtschaftens, wie zum Beispiel das Handwerk, haben inzwischen eine geringe Bedeutung (Glass/Khamaisi 2005: 25-26).

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stadt hingewiesen. Während im Diskurs der ›alteingesessenen‹ Jerusalemer/-innen – wie in Abschnitt 6.4 ausgeführt – meist die zugeschriebene migrantische Herkunft der Bewohner/-innen für diese Probleme verantwortlich gemacht wird, heben diese Studien vor allem die Bedeutung der israelischen Politik hervor. Erwähnt werden Armut, Drogenmissbrauch (vor allem unter Männern), Kinderarbeit und Kindesmissbrauch, Analphabetentum und Bildungsabbrüche, die große Zahl sich auflösender Familien und von Fällen familialer Gewalt, frühe Verheiratungen (ein Viertel der Mädchen würde unter 16 Jahren verheiratet werden; ein Viertel im Alter von 17 oder 18 Jahren), Druck auf verheiratete Frauen, viele Kinder zu gebären (44 Prozent der Frauen in der Altstadt hätten sieben oder mehr Schwangerschaften) (Lapidoth 2006: 15-21; Jerusalem heritage and life 2004: 78). Dazu werden aber auch interethnische und interreligiöse Spannungen gezählt, das schlechte Image der Altstadt und die Emigration bessergestellter Familien und junger Paare (Bell et al. 2005: 10, 19; Glass/Khamaisi 2005: 75; Jerusalem heritage and life 2004: 73, 7778). Dabei sei der Drogenmissbrauch in den christlichen Vierteln am ausgeprägtesten (Glass/Khamaisi 2005: 17). Immer wieder werden – vor allem im Altstadtdiskurs – Gerüchte reproduziert, israelische Kräfte arbeiteten an dieser Schwächung der sozialen Basis der Altstadt mit, indem sie den Drogenhandel unterstützten und Dealer und Kriminelle bewaffneten (Robinson 1997: 118-121; Cohen 2011: 27). Andere Publikationen weisen im Gegensatz dazu darauf hin, dass die Polizei bei der Drogenbekämpfung sogar mit der lokalen palästinensischen Bevölkerung zusammenarbeite (Lapidoth 2006: 18). Diese Aussagen lassen sich nicht überprüfen. Offensichtlich ist jedoch, dass die muslimischen und christlichen Viertel der Altstadt unter ständiger Überwachung stehen. Alleine in diesem Gebiet sind – die Zahlen schwanken – zwischen 200 und 400 Überwachungskameras der Polizei installiert. In der Altstadt gibt es fünf Polizeistationen, und routinemäßig sind dort ca. 700 Polizeibeamte, Grenzpolizisten und andere Militäreinheiten sowie UndercoverEinheiten und der Inlandsgeheimdienst stationiert (Glass/Khamaisi 2005: 14-15). Siedlungen und Besatzungspolitik Die Forscher/-innen über die Jerusalemer Altstadt sind sich uneins darüber, was die Ursachen für das hohe Konfliktpotenzial und die damit verknüpfte prekäre soziale Lage sind: Michael Dumper (2002b: 12) begründet seinen Fokus auf die Altstadt damit, dass sich die dortige Lage vom palästinensisch-israelischen Konflikt dahingehend unterscheide, dass es sich nicht in erster Linie um einen ethnischen oder nationalistischen Konflikt handele, sondern um einen interreligiösen. Obwohl die Altstadt als ideologischer Bestandteil für den Nahostkonflikt wichtig sei, unterscheide sie sich durch die zahlreichen religiösen Institutionen stark vom Rest Jerusalems und Palästinas: »Its ›holiness‹ suggests a special kind of political and geographical entity.« (Ebd.: 8) Andere sehen in der Altstadt dagegen einen »microcosm of the greater struggle« (Bell et al. 2005: 1). Auch Glenn Bowman (1986: 14) betont, der

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| 153

nationale Konflikt sei der dominante. Auch er sieht religiöse Konflikte als weniger relevant an. Bowman argumentiert, lediglich israelische Beobachter/-innen und ausländischer Klerus würden den religiösen Konflikt als den einflussreicheren wahrnehmen. Die meisten Altstadtbewohner/-innen, mit denen ich gesprochen habe, nehmen eindeutig den nationalen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern als dominant wahr. Während meiner Feldforschung war ich ständig mit der Angst der Bewohner/-innen konfrontiert, die Stadtverwaltung wolle langfristig die überfüllte palästinensische Altstadt entleeren (vgl. v.a. Kap. 7.3). Die Bewohner/-innen, so Michael Dumper (2002b: 63-64), gingen davon aus, dass ›Touristifizierung‹ und ›Judaisierung‹ diesem Zweck dienen würden. Diese Angst wird durch die bereits dargestellte infrastrukturelle Mangelversorgung, die politische Unterdrückung, die israelische Siedlungspolitik oder die Angst vor jüdischen Angriffen auf christliche und muslimische Heiligtümer (wie die immer wieder aufkommende Forderung, auf dem Haram aš-Šarīf eine Synagoge zu erbauen oder den Felsendom zu sprengen) gespeist. Dazu hat auch der erste Jerusalemer Stadtentwicklungsplan seit dem Jahr 1959 (also der erste seit der Besetzung Ostjerusalems) beigetragen. Er stammt aus dem Jahr 2004 und formuliert das Ziel, die Enge der Altstadt zu verringern (Glass/Khamaisi 2005: 24). Ebenso verfolgen die Bewohner/-innen die symbolischen Maßnahmen der Besatzungsmacht mit – die ›Hebräisierung‹ von Straßenund Ortsnamen, der einheitlich verwendete Pflasterstein und das Anbringen des Jerusalemer Wappens (des Löwen von Judäa) auf Mülleimern und Kanaldeckeln (Pullan/Gwiazda 2008: 15). Angsteinflößend sind auch israelische Diskurse, die die gesamte Altstadt als jüdisch bzw. israelisch definieren, die Existenz einer anderen nationalen Gruppierung abstreiten, aber betonen, andere Bewohner/-innen dürften aufgrund der Toleranz der israelischen Herrschaft, die ein friedliches Nebeneinander fördere, in der Altstadt bleiben (Goldstein 2007; Benvenisti 1996: 8). Im Alltagsleben nehmen die Einwohner/-innen neben der Präsenz der Sicherheitskräfte die verstreuten jüdischen Siedlungen in den muslimischen und christlichen Vierteln der Altstadt am stärksten wahr. Während der Zuzug in das administrativ definierte erweiterte Jüdische Viertel Mitgliedern anderer Religionen oder Ethnien verwehrt wird (vgl. ausführlich Kap. 8.1), sind in den vergangenen 35 Jahren zahlreiche jüdische Siedlungen in den christlichen und muslimischen Vierteln entstanden. Da die Altstadt völkerrechtlich als besetztes Gebiet gilt, sind dauerhafte Ansiedelungen durch die Besatzer verboten, sie wurden aber von den israelischen Regierungen je nach Periode entweder offensiv unterstützt oder zumindest geduldet. Die jüdischen Bewohner/-innen in den muslimischen und christlichen Vierteln sind eine klare Minderheit (siehe die Tabelle im vorigen Abschnitt), doch die Siedlungen sind durch ausgeprägte Sicherheitsmaßnahmen leicht zu erkennen. In den mehrheitlich palästinensisch bewohnten Nachbarschaften haben sie häufig einen sehr abgeschotteten und wehrhaften Charakter, und ihre Bewohner/-innen (beson-

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ders die Jeschiwa-Studenten) seien durch ihre Aggressivität gegenüber ihren palästinensischen Nachbarn aufgefallen (Dumper 2002b; Glass/Khamaisi 2005; IPCC 2009). Abbildung 7: Blick auf eine stark gesicherte Siedlung in einer der palästinensischen Nachbarschaften

Abbildung: Johannes Becker

Von Ausnahmen abgesehen, begannen die Siedlungsaktivitäten außerhalb des erweiterten Jüdischen Viertels erst gegen Ende der 1970er Jahre. Während sich die Stadtverwaltung unter der Ägide des Bürgermeisters Teddy Kollek offen gegen diese Siedlungsaktivitäten aussprach, da sie der propagierten Politik des ›Bevölkerungsmosaiks‹ in Jerusalem zuwiderliefen (vgl. Kap. 6.3), nahmen spätere Bürgermeister darauf keine Rücksicht. Die Siedlergruppen bekamen außerdem seit den 1980er Jahren teilweise offen Gelder von israelischen Regierungen zugewiesen (Dumper 2002b: 52-67; Dumper 1992). Die Siedler/-innen sind in verschiedenen Organisationen aktiv und versuchen mit der Hilfe von Mäzenen auf unterschiedliche Weisen, Gebäude in den christlichen und muslimischen Vierteln unter ihre Kontrolle zu bekommen. So ist zum einen die Rückforderung ehemals jüdischen Besitzes aus der Zeit vor 1948 nach geltendem israelischem Recht legal (gleichzeitig können Palästinenser/-innen ihren ehemaligen Besitz in Westjerusalem nicht be-

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anspruchen). In manchen Fällen waren die Besitztitel eindeutig, zum Beispiel, weil der Besitz von der jordanischen Behörde für Feindesbesitz verwaltet worden war. Um das ehemalige Eigentum in Besitz zu nehmen, wurden aber auch Mieter/-innen anderer Gebäude mit physischer und psychischer Gewalt angegriffen, um sie aus dem Haus zu vertreiben. Weiterhin versuchten Siedler/-innen, die Kontrolle über Gebäude zu erlangen, die vor 1948 nicht in jüdischem Besitz gewesen waren, sondern von Juden gemietet oder mitbenutzt worden waren, oder sie legten gefälschte Dokumente vor. Vor allem versuchten sie seit Beginn der 1980er Jahre, Gebäude durch Mittler von ihren palästinensischen Besitzern abzukaufen. Dies führte zu gegenseitigen Verdächtigungen der Kollaboration und damit zum Misstrauen der Palästinenser/-innen untereinander. Die Siedlerangebote waren für Palästinenser oftmals lukrativ, weswegen sowohl Jordanien als auch später die Palästinensische Autonomiebehörde die Todesstrafe für Häuserverkauf verkündete und einige palästinensische Immobilienmakler ermordet wurden.35 Dumper (2002b), Glass und Khamaisi (2005) und das IPCC (2009: 39) kommen zu gleichen Schlüssen: Trotz der Bemühungen von Siedlerbewegung, Stadtverwaltung und Regierung, die jüdische Präsenz in der Altstadt zu stärken, sei sie noch immer arabisch geprägt. Zwar ist die Zahl der in den christlichen und muslimischen Vierteln wohnenden Juden von 39 im Jahre 1981 auf 487 im Jahre 1998 gestiegen (Dumper 2002b: 44-45). Insgesamt seien aber nur 1 Prozent der Altstadtgebäude in Besitz von Siedlern und nur 10 Prozent der Altstadtbevölkerung jüdisch (ebd.: 71). Dennoch konstatiert er, dass »the presence of the settler groups adds to the pressures on the Palestinians that already exist in the Muslim [and Christian] quarters« (ebd.: 67). Die Siedlerbewegung habe zum »gradual social and political decline in the Old City« beigetragen (ebd.: 75).

35 Verkäufe von jüdischem Besitz an arabische Investoren kommen hingegen praktisch nicht vor.

Kleine Nachbarschaft

7.1

E INFÜHRUNG

Der erste Forschungsraum, anhand dessen ich verschiedene Verortungen in der Altstadt von Jerusalem empirisch rekonstruiere und diskutiere, ist eine in der Selbstdefinition der Bewohner/-innen konstruierte kleine Nachbarschaft. In dieser habe ich eine lang anhaltende teilnehmende Beobachtung1 in einem kleinen Lebensmittelladen bzw. in dessen direkter räumlicher Umgebung durchgeführt und diese später durch biographisch-narrative Interviews ergänzt, die sowohl durch Bekannte aus dem Laden als auch von außen vermittelt wurden. Die relevante alltägliche Bezugsgröße der Einwohner/-innen ist weder eines der vier ethno-religiösen Viertel noch eine der ›traditionellen‹, historisch nachgewiesenen Nachbarschaften (ḥārāt) (vgl. Kap. 6.2). Letztere sind zwar bekannt, bestimmen aber zumindest in diesem Fall das alltägliche Zusammenleben vergleichsweise wenig. Die alltägliche Verortung findet stattdessen in einer kleineren, durch Face-to-Face-Kontakt geformten Nachbarschaft statt – begrifflich werde ich diese als kleine Nachbarschaft oder mit dem durch die Bewohner/-innen dafür verwendeten arabischen Begriff ḥay bezeichnen. Dieser Begriff wird im arabischen Sprachraum heutzutage hauptsächlich im Sinne von ›Stadtviertel‹ benutzt, verweist aber in seiner Verwendung in Jerusalem auf seine Bedeutung im ungefähren Sinne von ›Wohnblock‹ (Wehr 1977: 198). Eugen Wirth (2000: 383) ist in seiner umfassenden Publikation zur orientalischen Stadt kurz auf diese Bezugsgröße eingegangen: »Weniger klar zu fassen sind demgegenüber zusammengehörige Sackgassenkomplexe und Wohneinheiten, die in vielen Städten die nächst kleinere Raumeinheit unterhalb des Quartiers [der Nachbarschaft] bilden.« Silke Steets (2010: 277) beschreibt in ihrer auf den deutschen Kontext bezogenen Definition des Begriffs ›Viertel‹, dessen Bewohner/-innen würden

1

Beginnend mit einzelnen Beobachtungen im Jahr 2010, dann zwischen 2011 und 2013 in regelmäßigerer Weise während meiner mehrmaligen Feldaufenthalte. Vgl. ausführlicher dazu die Unterkapitel 4.2 und 4.3.

158 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

dessen Grenzen kennen, obwohl diese nicht administrativ festgelegt seien. Doch beim ḥay, also der kleinen Nachbarschaft in Jerusalem, das ebenso keine administrativen Grenzziehungen hat, gab es sehr widersprüchliche Angaben der Bewohner/ -innen darüber, was die geographische oder numerische Größe anbelangt (ein Straßenzug, vielleicht 500 bis 1.000 Personen). Das lässt sich dadurch erklären, dass bei der Verortung im ḥay eine relationale Raumvorstellung (vgl. Kap. 2.3) vorherrscht, die für die Definition von Zugehörigkeit keine genaue geographische Festlegung benötigt. Abbildung 8: Eine Gasse in einem palästinensischen Wohngebiet

Abbildung: Johannes Becker

In diesem Kapitel gehe ich zunächst auf meine teilnehmenden Beobachtungen in diesem Forschungsraum ein (Kap. 7.2). Dabei wird deutlich, wie im halbprivaten Raum, den der Lebensmittelladen und die Straße der kleinen Nachbarschaft bilden, die Bewohner/-innen mir gegenüber ein harmonisches Nachbarschaftsleben präsen-

K LEINE N ACHBARSCHAFT

| 159

tierten und dieses auch sichtbar handlungspraktisch in alltäglichen Interaktionen herstellten. Dieses harmonische Nachbarschaftsleben erwies sich in anderen Zusammenhängen aber als brüchig, und ich konnte auch gegenseitiges Misstrauen beobachten. Die harmonisierende nachbarschaftliche Verortung wurde durch bestimmte Obligationen in den Face-to-Face-Interaktionen, durch die Einforderung eines solidarischen Miteinanders und durch soziale Kontrolle reproduziert. Eine wichtige Rolle spielte die paternalistische Stellung einer ›alteingesessenen‹ großen Familie, deren Mitglieder die Teilhabe der Bewohner/-innen am ḥay-Leben beeinflussten und die als eine Art Gatekeeper auch meine Position und Zugangsmöglichkeiten als Forscher kontrolliert haben (Wolff 2010: 342). Eine prominente Rolle spielten in der kleinen Nachbarschaft zudem generationelle Unterteilungen (im Sinne von historischen Generationen, Mannheim 1928), die häufig die Alltagskommunikation prägten. Anhand dieser generationellen Unterteilungen verhandelten die Bewohner/-innen auch politisch relevante Fragen und gesellschaftliche Positionierungen. Sie reproduzierten die nachbarschaftliche Verortung aber auch durch Ausschließungspraktiken für ›Fremde‹ oder ›Andere‹. Wie bereits erwähnt, wurde die Nachbarschaftsverortung nicht über geographische Grenzen verhandelt, sondern relational über Selbst- und Fremddefinitionen der Zugehörigkeit, die zwar religiöse und politische Gemeinsamkeiten berücksichtigten, aber besonders an Vorstellungen von nachbarschaftlicher Solidarität orientiert waren. Daher betonten die Bewohner/ -innen in der Außendarstellung gegenüber mir, Mitglieder egal welcher Buchreligion seien als Teil der Nachbarschaft willkommen, wovon sie allerdings Zionisten wiederum etwas ausnahmen. Für die erfolgreiche Bewältigung des Alltagslebens war es aber handlungspraktisch notwendig, Außenseiter wie zum Beispiel Drogenabhängige zu inkorporieren und bis zu einem gewissen, allerdings recht geringen Grad auch jüdische Siedler/-innen. Daher legten die Bewohner/-innen die breitestmögliche Definition an und argumentierten, derjenige oder diejenige sei ein Mitglied der kleinen Nachbarschaft, der oder die ein guter Mensch sei. Ihnen unbekannte Personen hielten sie dagegen soweit wie möglich auf Abstand. Die Bewohner/-innen differenzierten nicht nur ihre eigene von anderen Nachbarschaften in der Altstadt, sondern grenzten sich auch von denjenigen ab, die aus der kleinen Nachbarschaft in andere Stadtteile Jerusalems gezogen waren und jene Art der Nachbarschaftsverortung aufgegeben haben. Die Nachbarschaft kann daher als Wir-Ort beschrieben werden. Durch die Erhebung der biographisch-narrativen Interviews im Forschungsraum der kleinen Nachbarschaft konnte ich auf der einen Seite Fälle rekonstruieren, in denen die nachbarschaftliche Verortung die dominante Erlebensebene im Lebensverlauf darstellte – das heißt, dass die zentralen Erlebnisse der Interviewpartner/ -innen mit der kleinen Nachbarschaft verbunden waren und sie im Interview aus ihrer Position als Nachbarschaftsmitglieder sprachen. Auf der anderen Seite wurde aber in weiteren Interviews die Brüchigkeit dieser Verortung deutlich. Dies lag ei-

160 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

nerseits daran, dass es durch lebensgeschichtliche Interviews besser als selbst durch lang anhaltende teilnehmende Beobachtungen möglich ist, einen longue dureeInterpretationsrahmen zu schaffen und somit die Wandelbarkeit und Ambivalenz von Verortungen herauszustellen. Andererseits ermöglichten die Interviews mit mir als Forscher von ›außen‹ den Interviewten, über Probleme mit der nachbarschaftlichen Verortung oder über andere Relevanzen zu berichten, die mir gegenüber im halbprivaten Raum nicht ausgesprochen werden konnten und die vom standardisierten Nachbarschaftsdiskurs abweichen (vgl. Kap. 10.7.1). In der Fallrekonstruktion von Hafez (geb. 1966; Kap. 7.3) wird deutlich, wie die familiale Zugehörigkeit bzw. in diesem konkreten Fall die Abhängigkeit von seinem Vater dazu führte, dass sich der Biograph nicht den durch Gleichaltrige im ḥay getragenen Widerstandsaktionen während der Ersten Intifada (1987-ca. 1993) anschloss und sich deswegen anschließend weniger stark im Alltag der kleinen Nachbarschaft verortete, der immer stärker von diesen Aktivisten bestimmt wurde. Dadurch, dass es aber in seiner Familie trotzdem wichtig war, die Position in der kleinen Nachbarschaft zu halten, versuchte Hafez, diese mangelnde alltägliche Verortung durch sein Engagement in ›formalen‹ NGOs und Verbänden auszugleichen, die auch in der kleinen Nachbarschaft aktiv waren. Seine bereits seit der späten Kindheit oder frühen Jugend bestehende Ambivalenz gegenüber der kleinen Nachbarschaft zeigte sich in einer ›Teilzeitablösung‹ von der Altstadt durch regelmäßige Reisen. Seine geplante vollständige Ablösung – der Wegzug – scheiterte aber an zusammenfallenden familiengeschichtlichen und politischen Ereignissen. Daher lebt Hafez weiterhin in der kleinen Nachbarschaft, wenn auch inzwischen etwas auf seine Kernfamilie zurückgezogen. Schließlich folgen in diesem Kapitel drei kürzere Falldarstellungen (Kap. 7.4). Die Analyse des Interviews mit Karim (geb. 1972; Kap. 7.4.1) zeigt eine ähnliche Ambivalenz in der Verortung wie bei Hafez: Aufgrund eines von ihm nicht offengelegten Erlebnisses in der Zeit der Ersten Intifada verließ Karim Jerusalem und seine dort bestehenden, bis dahin guten nachbarschaftlichen Verbindungen und ging nach Deutschland. Seine Familie holte ihn (wohl gegen seinen Willen) nach sieben Jahren in die Altstadt zurück, was von ihm als Schicksalsschlag interpretiert wurde. Karim gründete eine eigene Familie, gestaltete sein Leben aber nicht mehr intensiv im Nachbarschaftskontext, sondern zog sich weitgehend aus der kleinen Nachbarschaft und auf die Kernfamilie bzw. auf das Familienhaus zurück. Für Muhammad (geb. 1990; Kap. 7.4.2) hatte die kleine Nachbarschaft aufgrund diverser Familiengeheimnisse und der bereits in der Großelterngeneration bestehenden Skepsis gegenüber dem nachbarschaftlichen Umfeld kaum Relevanz; er hat sich nie im halbprivaten Nachbarschaftsraum verortet. Muhammad verteidigte im Interview zwar die Nachbarschaftsbewohner/-innen, sein Alltagsleben gestaltete er aber vollkommen unverbunden zu ihnen und stattdessen vor allem im israelischen Kontext. Dies birgt, genauso wie die Familiengeheimnisse, Konfliktpotenzial für das Dasein in der

K LEINE N ACHBARSCHAFT

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Altstadt, weswegen er sich weitgehend isoliert im Familienhaus verortet hat. Der Fall von Sana (geb. ca. 1969; Kap. 7.4.3) zeigt schließlich einen genau gegenteiligen Prozess auf: Sanas Herkunft aus einer christlichen Familie, in der es physische und psychische Gewalt gab, und ihre konfliktbehaftete Ehe mit einem Christen einer anderen christlichen Denomination haben bei ihr den Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer engeren Gemeinschaft hervorgerufen. Als diese Gemeinschaft identifizierte sie beispielhaft den muslimisch geprägten Nachbarschaftskontext, der Schutz und Solidarität versprach. Doch trotz ihrer Versuche, sich dem islamischen Kontext anzupassen, fühlte sie sich als Christin nicht vollständig in die kleine Nachbarschaft integriert. Diese kurze Übersicht über die folgenden Abschnitte verdeutlicht, dass sich nicht alle Mitglieder der kleinen Nachbarschaft – trotz der Identifikation des Forschungsraumes kleine Nachbarschaft als handlungspraktisch und deutungspraktisch im Alltag relevanter Kontext – in gleicher Weise in dieser verortet haben. Es gab auch Vorbehalte gegen die ausschließliche Verortung in der kleinen Nachbarschaft. In diesem Forschungsraum bestanden parallel unterschiedliche Verortungen und Zuwendungen, diese konnten sich im Laufe des Lebens der Bewohner/-innen auch verändern und modifizieren. Es bestand keine notwendige Übereinstimmung zwischen Ortszugehörigkeit und biographischen Verortungen. Nichtsdestotrotz wurde auch im halbprivaten Raum die Verortung im Nachbarschaftskontext reproduziert – besonders in Interviews mit den Etablierten in der kleinen Nachbarschaft. Sie erwies sich somit als die sozial erwünschte Verortung.

7.2

T EILNEHMENDE B EOBACHTUNGEN KLEINEN N ACHBARSCHAFT

IN DER

Dieses Unterkapitel führt auf Basis meiner teilnehmenden Beobachtungen in die unter anderem im halbprivaten Raum interaktiv hergestellte und reproduzierte nachbarschaftliche Verortung ein. Dabei sollen die relevanten Strukturen dieses Nachbarschaftslebens herausgearbeitet werden, wobei ich besonders auf die handlungspraktische (Wieder-)Herstellung von Nachbarschaft und auf sprachliche Interaktionen eingehe. Das ethnographische Material bildet gleichzeitig den Hintergrund für die Analyse der Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern der kleinen Nachbarschaft in den Folgekapiteln 7.3 und 7.4. Gleichzeitig fließen in das vorliegende Unterkapitel einige Wissensbestandteile aus den Interviews ein. Dies ist insofern besonders relevant, als es zu den Nachbarschaften in der Altstadt wenige zugängliche und informative historische Quellen aus den vergangenen Jahrzehnten gibt. In diesem Unterkapitel reflektiere ich außerdem meine eigene Rolle während der Feldaufenthalte in der kleinen Nachbarschaft. Schließlich ist dieser Abschnitt

162 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT

auch eine Einführung in das Alltagsleben in der Altstadt und ein ethnographisches Portrait einer kleinen Nachbarschaft in einem ideologisch und geographisch engen Raum. Im ersten Abschnitt 7.2.1 stelle ich in sequenzieller Weise meine Beobachtungen aus den Jahren 2010 und 2011 vor. Damit will ich darstellen, wie ich meine Beobachtungen in der Altstadt begonnen habe und wie sich der Rapport zu den Bewohnerinnen und Bewohnern der kleinen Nachbarschaft entwickelt hat (Spradley 2003: 45-48) – also auch, wie ich langsam und in einer ambivalenten Weise in dieses schwierige Feld sozialisiert wurde und wie sich meine Rolle daraufhin verändert hat. Dabei werden Praktiken von Akzeptanz und Ausschluss sichtbar. Es geht weiterhin darum, einerseits Abläufe und Zusammenhänge anzudeuten, die sich mir als Beobachter erst langsam enthüllt haben, die aber später in der Analyse sehr wichtig wurden, und andererseits jene Zusammenhänge und Themen anzudeuten, in die ich nicht eingeführt wurde. Anschließend stelle ich in den Abschnitten 7.2.2 bis 7.2.8 die wichtigsten Themen in der kleinen Nachbarschaft auf Basis meiner Beobachtungen aus den Jahren 2012 und 2013 vertieft dar und arbeite sie als strukturbestimmend in der kleinen Nachbarschaft heraus (die Definition des ḥay, die Familienvorherrschaft, historische Generationen, israelische Besatzungspolitik, Beziehungen zwischen Religionen und Geschlechtern sowie die Intervieworganisation im ḥay).2 7.2.1

Ambivalente Sozialisation in der kleinen Nachbarschaft

Erste Beobachtungen 2010 Yunis, den ich über gemeinsame Bekannte in Jerusalem kennengelernt habe, wollte mir im September 2010 seine »Sicht auf die Altstadt« zeigen, denn er ist dort geboren und aufgewachsen, auch wenn er inzwischen in einem anderen Stadtteil wohnt. Das war am Ende meiner zweiten Feldforschungswoche. Ich hatte Probleme, überhaupt Interviewpartner/-innen zu finden oder in den Straßen, in denen ich mich aufhielt, Bekanntschaften zu knüpfen oder gute Beobachtungen zu beginnen. Die Hektik und ständige Bewegung auf den größeren Altstadtgassen und die abwehrende Haltung der Menschen in den kleinen Nebenstraßen hinderten mich. Im Nachhinein interpretierte ich dies auch als meine eigenen Hemmungen, ohne Unterstützung in das sich abgeschlossen darbietende Feld zu gehen, so dass ich Yunis’ Angebot gerne in Anspruch nahm, wohl verknüpft mit dem Wunsch, an die Hand genommen zu werden und in dieses ›Puzzle‹ eingeführt zu werden. 2

Zur methodischen Vorgehensweise vgl. Unterkapitel 4.2. Ich habe die sequenzielle Reihenfolge der Protokolle weitgehend beibehalten und stark gestrafft in die Darstellung integriert. An einigen Stellen verwende ich den Originaltext meiner Protokolle, wenn ich stärker feinanalytisch arbeite.

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Die Überschrift meines Feldprotokolls an jenem Tag lautete: »Das muslimische Viertel mit Yunis.« Mir erschien es selbstverständlich, dass Yunis, ein Muslim, mir ›sein‹ Viertel zeigen würde. Mit Viertel meinte ich eines der vier bekannten: Muslimisches, Christliches, Jüdisches oder Armenisches Viertel, so wie sie in den Reiseführern eingeführt werden (vgl. Kap. 6.2). Yunis führte mich von der größeren Durchgangsstraße in die kleinen Gassen zwischen zwei Stadttoren, in denen ich mich alleine eher ungern aufhielt, weil ich mich dort fremd und ungewollt fühlte. In dieses Gebiet kommen wenige Touristen, es gibt nur wenige Läden für den täglichen Gebrauch. Der oder die Vorbeikommende ist Gegenstand des Interesses. Bei vorherigen Besuchen war ich skeptisch angeschaut worden, Kinder hatten sich mir in den Weg gestellt oder den einen oder anderen Stein auf mich geworfen. Yunis führte mich zunächst in die Straße, in der er aufgewachsen ist, eine Altstadtgasse von ca. zwei Metern Durchmesser, Steinfassaden zu beiden Seiten, in denen nur wenige Fenster sind, so dass man das Gefühl hat, durch einen Hohlweg zu gehen. In dieser Straße begann ich ein halbes Jahr später meine Beobachtungen in dem kleinen Lebensmittelladen. Yunis zeigte mir die lokalen Orientierungspunkte: eine Moschee, in der ein Heiliger begraben liegt (die aber in keinem Reiseführer zu finden ist), die Grundschule, den Jugendclub und jenen Laden, der von seinem von ihm als konservativ bezeichneten Bruder Mahmud geführt wird. Der Laden befindet sich im Erdgeschoss des Familienhauses aus osmanischer Zeit, das im Laufe der Generationen immer mehr nach oben erweitert worden ist und dessen Dach inzwischen einen weiten Blick über die Altstadt gewährt. Yunis gehört zu einer Familie, die nach seiner Information ungefähr zur Zeit Salah ad-Dins, der Jerusalem 1187 von den Kreuzzüglern eroberte, nach Palästina gekommen sei. Damit gehört sie zu den Jerusalemer Familien, die noch in der Altstadt verblieben sind, während ein Großteil der Häuser inzwischen von Palästinensern bewohnt wird, deren Familien in den vergangenen einhundert Jahren aus Hebron und Umgebung zugewandert sind (vgl. Kap. 6.4). Viele Gebäude in der Straße, in der der Laden liegt, und in der Parallelstraße gehören der Familie. Dass Yunis mir das ganz zu Beginn unserer Stadttour erzählt hat, zeigt bereits, wie wichtig es für die Bewohner/-innen ist, wann jemand nach Jerusalem gekommen ist, wo er/sie wohnt und wie groß die Familie ist. Es kann für Yunis’ Familie eine Machtquelle sein oder aber ein Grund zur Abwertung, weil die Familie noch immer innerhalb der Stadtmauern lebt. Bereits diese spärlichen Informationen deuten also auf den herausgehobenen Status dieser Familie innerhalb der Altstadt hin. Diese Position ist jedoch nicht ohne Ambivalenz: In einer arabischsprachigen Publikation wird Yunis’ Familie auch als aus Hebron zugewandert bezeichnet,3 was die Familienmitglieder mir gegenüber heftig verneint haben – mit dieser Zuschreibung wäre wahrscheinlich eine Änderung ihrer Rolle in der Nachbarschaft verbunden. Gleichgültig, wel3

Aus Anonymisierungsgründen wird die Publikation an dieser Stelle nicht belegt.

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che Version der Geschichte nun stimmen mag, es deutet darauf hin, dass man als wahrgenommene Jerusalemer Familie Einfluss in der Altstadt behalten kann, die Herkunft aus Hebron in der Altstadt aber als naheliegend angenommen wird. Yunis sprach während unserer Tour kritisch über seine Familie: Sie tue so, als hätte sie aufgrund ihres Status als Jerusalemer Familie eine aristokratische Stellung, dabei sei das Vergangenheit und reich sei sie auch nicht. Diese harten Aussagen mögen auch mit Yunis’ eigener Biographie zu tun haben, die einen Gegenentwurf zur unten genauer charakterisierten nachbarschaftlichen Verortung in der Altstadt darstellt. Er hat der Altstadt früh und bewusst den Rücken gekehrt. Noch vor seinem Sekundarschulabschluss (tawǧīhi) ist er zu Hause ausgezogen, hat im Ausland studiert und im israelischen Kernland gearbeitet. Nach seiner Heirat mit einer säkularen Muslima aus gutem Hause in einer israelischen Stadt hat er eine Vierzimmerwohnung in einem sozio-ökonomisch bessergestellten Stadtteil Ostjerusalems gebaut und wohnt dort mit seinen zwei Kindern. Seine Verwandten in der Altstadt besucht er selten. Das deutet darauf hin, was weiter unten breiter ausgeführt wird: Das Lossagen von der Altstadt ist ohne familiale Unterstützung nur mit hohem kulturellen, sozialen und/oder finanziellen Kapital (Bourdieu 1983) möglich. Trotzdem startete Yunis seine Altstadt-Tour in der Straße, in der er aufgewachsen war. Ob das aufgrund seines Wunsches geschah, mir zu helfen, oder ob er bei mir Verständnis für seine Lebensgeschichte wecken wollte, ist mir unklar. Auf jeden Fall wurde ich zu Beginn meiner eigenen Beobachtungen in der kleinen Nachbarschaft durch die Bekanntschaft mit Yunis stets als mit ihm assoziiert wahrgenommen. Das änderte sich zwar später, aber es war klar, dass Yunis’ Verwandten damit eine bestimmte Zuschreibung an meine Wahrnehmung der kleinen Nachbarschaft verknüpften – dass ich eine negative Sicht hätte, die durch Yunis’ kritische Haltung beeinflusst sei und die sie immer wieder argumentativ zu widerlegen suchten. Yunis erzählte mir bei jenem ersten Feldaufenthalt, dass diese Gasse, in der seine Familie wohne, Teil eines der arabischen ḥārāt sei, die nicht dem ethnoreligiösen Vier-Viertel-Schema entsprächen, das von der israelischen Besatzungsmacht verbreitet werde. Mit dieser Information im Hinterkopf begann ich ein halbes Jahr später meine Feldforschung im Lebensmittelladen, und ich erwartete wohl implizit, dass sich die Zugehörigkeit zum ḥāra als wichtigste Verortung bestätigen würde. Bald stieß ich jedoch auf definitorische Schwierigkeiten, die ich in den kommenden Abschnitten ausführe. Teilnehmende Beobachtungen 2011 Bei meinem zweiten Aufenthalt ein halbes Jahr später fragte ich Yunis, ob er mir jemanden als Arabischlehrer empfehlen könne. Er schlug seinen Bruder Mahmud vor, der den Laden in der Altstadt führt, aber morgens an einer Sekundarschule als Arabischlehrer arbeitet. Als ich ihn im Laden besuchte, lehnte Mahmud es ab, mir

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Stunden zu geben, aber lud mich ein, wann immer ich wollte im Laden vorbeizukommen. Angesichts der von mir bereits oben beschriebenen wahrgenommenen Unsicherheit, in der Altstadt zu forschen, war es für mich ein herausragendes Angebot, auf diese unerwartete Weise einen Ort gefunden zu haben, an dem ich Zugang zu alltäglichem Handeln finden konnte. In der Altstadt ist es durch die geographische Enge und die Menschenfülle schwer, einen öffentlich zugänglichen Ort zu finden, an dem man sich konstant aufhalten kann. Mahmud wurde 1971 geboren und ist eines von 13 Geschwistern, der jüngste von acht Brüdern. Fünf weitere Brüder und die unverheiratete der fünf Schwestern wohnen in der Altstadt im Familienanwesen, aber jeweils in separaten Wohnungen. Der älteste Bruder wurde ca. 1951 geboren und die jüngste Schwester 1973. Während der Ersten Intifada saß Mahmud mehrmals im Gefängnis. Er studierte in Jordanien, später im Irak und hat 1996 eine Frau aus der Altstadt geheiratet. Da sein irakischer Abschluss nicht für den Lehrerberuf in Jerusalem ausreichte, arbeitete er zunächst in verschiedenen Berufen und übernahm gegen Ende der 1990er Jahre den Lebensmittelladen. Anfang der 2000er Jahre führte er sein Literaturstudium in Palästina fort und begann nach seinem Studienabschluss, als Lehrer zu arbeiten. Er hat drei Kinder, die 2001, 2002 und 2008 geboren wurden. Mahmud präsentierte sich mir gegenüber von Anfang an als Gastgeber und als hilfsbereit, ohne aufdringlich zu sein. Doch welche Rolle schrieb er mir zu, die zu seinem Angebot geführt hat? Er hat vielleicht durch seine Gastfreundschaft versucht, die negative Repräsentation der Altstadt, die er Yunis zuschrieb, als relativ exponierter Familienrepräsentant zu konterkarieren. Oder er genoss es, mit einem Doktoranden zu sprechen, der ein ähnliches Bildungsniveau wie er hat. Das heißt aber auch, dass ich nun statt Yunis einen ›neuen‹ Gatekeeper hatte. Mahmuds Rolle kann beinahe als die eines tatsächlichen ›Türstehers‹ verstanden werden, als was die nāḍūrǧi in Kairo beschrieben wurden, die dafür verantwortlich sind, das Verhalten der Bewohner/-innen zu beobachten und Fremde zu erkennen. Der nāḍūrǧi sei einer, der in einem Laden am Rande des ḥāra sitze (Nawal Nadim in Abu-Lughod 1987: 169-171). Mahmud und ich konnten uns einigermaßen auf Arabisch verständigen, doch das war so anstrengend, dass meine anfänglichen Feldprotokolle recht statische Beschreibungen waren, weil ich nicht mehr aufzunehmen verstand. Hier ein Ausschnitt aus meinem ersten Feldprotokoll: »In der Auslage liegen zuvorderst die Süßigkeiten zu 50 Agorot, dahinter die Süßigkeiten für 1 NIS4 (selten mehr). Dieser Tisch befindet sich vor einem imaginären Tresen, dort, wo theoretisch die Kasse stünde. Tatsächlich ist dort nur eine Schublade für einen Teil des Geldes 4

Der neue israelische Schekel (NIS) mit seiner kleineren Einheit Agorot (100 Agorot = 1 NIS) ist die israelische Währung. Zur Zeit der Feldforschung betrug der Wechselkurs zwischen 4 NIS und 5 NIS zu 1€.

166 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT (andere Teile gehen in die Hosentasche) und eine Schublade für Zigaretten. Vom Eingang her gesehen auf der anderen, rechten Seite des Ladens hängen Chips, dahinter Kaugummis. Nach hinten sind rechts und links Wandregale für Haushaltswaren (Putzmittel, Glühbirnen, etc. auf der rechten Seite; links: Öl, Konservendosen, H-Milch) aufgebaut. An der hinteren Wand Kühlregale mit einem genau ausgewählten Bestand an Getränken. So viel wie möglich wurde aus palästinensischer Produktion aus Ramallah hierher gebracht. Die Cola-Dose kostet 2,5 NIS im Gegensatz zu 4 NIS aus israelischer Produktion. Joghurt gibt es in vier verschiedenen Ausführungen. Manche der Einkäufe trug Mahmud in ein separates Buch ein, andere nicht. Links neben dem Laden hängt ein Münzfernsprecher an der Tür und auf der rechten Seite ein Fertigkaffeeautomat. Im Innenraum auf der linken Seite ist an der Wand ein Fernseher aufgestellt. […] 80 Prozent der Kundschaft sind Kinder, zum Teil sind sie nicht viel älter als drei Jahre. Sie kaufen für einen Euro oder weniger ein Sammelsurium aus Süßigkeiten oder besorgen etwas im Auftrag ihrer Eltern. Aufgrund der Größe der Familie war die Hälfte der jungen Käufer mit Mahmud entweder verwandt oder ein Nachbar der Familie, und die meisten kannte er beim Namen.«

Die Fixierung auf greifbare materielle Aspekte und den Aufbau des Ladens waren für mich auch wegen den Anstrengungen, in einer nicht sehr vertrauten Fremdsprache zu kommunizieren, anscheinend die einfachste Weise, mich dem recht intim anmutenden Charakter des Ladens zu nähern – jeder kennt jeden, ständige Interaktion und dadurch keine Ruhe- und Nachdenkpausen. Deutlich wird in diesem Abschnitt, dass das Angebot des Ladens auf die ökonomisch schwache Umgebung des ḥay ausgerichtet war und auf die notwendigsten alltäglichen Güter des Alltagslebens beschränkt. Mahmud erklärte mir detailliert, welche Waren er woher bezog und zu welchen Preisen und gewährte mir so einen gewissen Vertrauensvorschuss. Die Gesprächsthemen mit Mahmud und den Nachbarn pendelten sich in der darauffolgenden Zeit zunächst auf Politik und die arabische Sprache ein – Themen, bei denen ich mich auf Arabisch relativ sicher fühlte. Erste Gesichter erkannte ich nach ein paar Tagen wieder, so zum Beispiel Mahmuds älteren Bruder Anis, der ihn oft im Laden besuchte, und den blinden Alten Abu Ali, für den, wenn er kam, gegenüber des Ladeneingangs ein Stuhl aufgestellt wurde, auf dem er stundenlang saß und dem Alltag zuhörte. Im Laden selbst gab es eine unsichtbare Grenze dort, wo sich hinter der Kasse der Laden erweiterte. Davor fanden sich die billigen Süßigkeiten und Chips, dahinter begann die Auslage mit den teureren Artikeln. Die meisten Kinder durften nur bis an diese Linie kommen, dahinter nur solche meist männlichen Verwandten und Nachbarn, die mit Mahmud reden wollten. Mahmud stand nie am Ladeneingang wie die meisten anderen Ladenbesitzer in der Altstadt, sondern saß im Laden hinter dem Tisch, so dass die Menschen, wenn sie sich länger mit ihm unterhalten wollten, ihm entgegenkommen mussten. Auch ich befand mich meist innerhalb des Ladens und lehnte auf der anderen Seite am Eisschrank.

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Meine Unterhaltungen fanden vor allem auf Hocharabisch statt, weil ich den palästinensischen Dialekt ungenügend beherrschte. Dadurch wurde ich von der direkten Kommunikation mit vielen ausgeschlossen, die kein Hocharabisch oder Englisch sprechen konnten oder wollten, weil sie mich als fremd wahrnahmen oder sich nicht trauten. Dass ich nur auf Arabisch (Dialekt oder Hocharabisch) angesprochen wurde und so gut wie nie auf Englisch, war vielleicht auch als Hilfe beim Spracherwerb gemeint, weil Mahmud gegenüber allen betonte, dass ich mein Arabisch verbessern wolle. Das heißt aber, dass ich häufig auch auf die ›Übersetzung‹ vom Dialekt ins Hocharabische und auf zusätzliche Informationen Mahmuds angewiesen war. Dieser spricht – wie ich später herausfand – bruchstückhaftes Englisch, wandte dieses mir gegenüber aber nicht an. Saleh, ein energischer Mittvierziger, zeigte sich gegenüber mir deutlich skeptisch: Wer mich geschickt habe und wer mein Vermieter sei, fragte er mich. Damit wollte er wohl überprüfen, ob ich glaubwürdige Kontakte in der palästinensischen Altstadtcommunity nachweisen konnte. Es gab immer wieder leicht ablehnende und ungläubige Blicke, vor allem von solchen, die Mahmud nicht gut kannten, als ob ich als Fremder nicht in ihre alltägliche Lebenswelt eindringen sollte. Das Feld bot sich mir gegenüber als nicht besonders offen dar und wenn, dann häufig nur über die Vermittlung von Mahmud. Das Feldverständnis wurde hierdurch im ersten Jahr sehr erschwert. Warum erschienen viele Menschen in der kleinen Nachbarschaft so zurückhaltend oder ablehnend? War es wichtig, sich nach außen abzuschließen in einem so umkämpften, engen Raum? Wurden ›Andere‹ durch Nicht-Kommunikation systematisch ausgeschlossen, und betraf das auch solche, die dort wohnen? Sahen die Bewohner/-innen in mir eine Gefahr oder waren sie gelangweilt vom internationalen Interesse an der palästinensischen Sache? Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte vorstellen, durch die ein erster Blick auf diese Fragen geworfen werden kann: Vertrauen und Solidarität sowie Fremdes und Eigenes. Zunächst zum Aspekt Vertrauen und Solidarität. Meist kam ich am späten Nachmittag in den Laden und blieb bis in die frühen Abendstunden. Die vielen Menschen – vor allem Männer –, die grüßten, am Laden stehenblieben und redeten, zeigten, dass dieser als sozialer Ort relevant ist. Der Laden fungierte auch als Postfach, in dem Briefe hinterlegt wurden, und wenn von den morgens herbeigeschafften 250 Brotfladen nachmittags etwas übrig war, wurden sie in Tüten gepackt und an die Nachbarn verschenkt. Jemand bezahlte ein Päckchen Zigaretten, das er vor zwei Jahren hatte aufschreiben lassen. Mahmud vermittelte in kleineren Streitigkeiten oder beriet Eltern in Erziehungsangelegenheiten. Kinder kamen in Scharen, riefen »Onkel Mahmud« und wurden von diesem aktiv zum Konsum angeregt: »yallā ištarī!« (Auf, kauf was!). Manchen Bedürftigen schenkte Mahmud den Einkauf, zum Beispiel jenen drei Geschwistern, deren Vater wegen Drogenhandels im Gefängnis saß.

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Nachbarschaftsbewohner/-innen kamen vorbei und verlangten ein Produkt, das nicht im Sortiment war, zum Beispiel Snickers. Sie gaben sich aber auch mit etwas anderem zufrieden, obwohl sie einhundert Meter weiter in das nächste Geschäft hätten gehen und dort hätten danach fragen können. Diese etwas romantisch verklärt wirkende Darstellung bedeutet, dass der Laden nicht nur als sozialer Ort bezeichnet werden kann, sondern eine weitergehende Funktion hat: Bezahlen und Nichtbezahlen sind gemeinschaftsbildende Maßnahmen. Wer nicht bezahlen konnte, erinnerte sich daran, dass noch etwas zu bezahlen ist, was er oder sie immer wieder dem Ladeninhaber Mahmud mitteilte, wodurch es zu einer ritualisierten Interaktion kam, die dazu beitrug, die ständige Kommunikation in der kleinen Nachbarschaft am Laufen zu halten. Und durch die Interaktionen mit den Kindern half Mahmud ihnen, sich mit dem Laden zu identifizieren und fügte sie in das Fürsorgesystem ein. Dadurch, dass er beinahe alle Namen kannte und diese eingeprägt hatte, wurde auch das weiter unten angesprochene System der sozialen Kontrolle reproduziert. Als Mitglied einer Jerusalemer Familie, Häftling während der Ersten Intifada und studierter Lehrer verfügt Mahmud über hohes soziales und kulturelles Kapital. Für ihn war die Arbeit im Laden nicht nur ein finanzielles Zubrot, sondern sie reproduzierte gleichzeitig seine Stellung in der kleinen Nachbarschaft und die seiner Familie. Jeder, der am Laden vorbeikam, grüßte, und Mahmud erwiderte die Grußformeln. Häufig wurden diese Grußformeln mechanisch und ohne Blickkontakt ausgesprochen. Selbst nächste Verwandte führten sie solcherart mehrmals täglich aus, zum Beispiel beim regelmäßigen Gang in die Moschee. Erst Irregularitäten oder eine ungewohnte Stimme ließen Mahmud aufhorchen. Diese Alltagsregeln zeigten einen essentiellen Teil der gemeinsamen Herstellung der kleinen Nachbarschaft durch die Bewohner/-innen und der Reproduktion der herausgehobenen Stellung der Familie. Diese Rolle des Ladens in der Herstellung von nachbarschaftlichem Vertrauen und Solidarität ließ sich auch am Tagesablauf zeigen, den ich durch Erzählungen nach einigen Wochen rekonstruieren konnte: Mahmud öffnete den Laden morgens um 7.00 Uhr. Sein älterer Nachbar half ihm seit vier Jahren unentgeltlich aus, wenn er um 7.30 Uhr vom Haram aš-Šarīf (Tempelberg) zurückkam, wo er seit 4.30 Uhr gebetet hatte. Seine Hilfe war wichtig, da um diese Zeit die Schüler der Grundschule nebenan Süßigkeiten kauften. Ab 8.30 Uhr übernahm Mahmuds Frau den Laden, bis er aus der Schule zurückkam. Hatte Mahmud nachmittags etwas anderes zu erledigen, passten Familienmitglieder oder Nachbarn auf, die gerade verfügbar waren. Die meisten Waren wurden von seinem Sohn aus einem palästinensischen Geschäftsviertel gegen ein Taschengeld herangekarrt. Zum Transport wurde ein Handwagen benutzt, der so schmal war, dass er durch alle Gassen passte. Mahmud führte nicht vollständig Buch über seine Verkäufe, sondern notierte lediglich die verkauften hochpreisigen Artikel. Im gleichen Buch wurden die Einkäufe jener 15

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Mitglieder der Nachbarschaft und der Familie aufgelistet, die bei ihm anschreiben ließen. Die selbstverständliche Einbindung der Nachbarschaft und der Familie in die Führung des Ladens deuten darauf hin, dass mit diesem gleichzeitig für die kleine Nachbarschaft gesorgt und die Präsenz der Familie gestärkt wurde. In ihrer Ethnographie zu Händlern in Aleppo ist bei Annika Rabo (2005: 69) ein ähnliches ›Profil‹ des Ladeneigentümers und eine ähnliche Einkommensstruktur zu erkennen: »To open a grocery store, or a store for sweets and soft drinks, in your own neighbourhood is a typical venture for many retired public employees. This is also the case for active employees able to put family members in the shop while they are at work. […] The profit margin for such shops is often low and the majority of neighbourhood grocery stores in Aleppo have to extend credit to loyal customers.«

Doch die Funktion des Ladens war auch die eines halbprivaten Ortes für gesellschaftlichen Austausch. Roman Loimeier (2012) hat in seinen Forschungen zu Sansibar auf die gesellschaftliche Bedeutung dieses Austausches hingewiesen, der im dortigen lokalen Kontext in der baraza stattfinde, in der sowohl Politik als auch Alltagsfragen diskutiert würden. Loimeier vergleicht die baraza mit der maǧlis im arabischen Kontext (ebd.: 157) – ein Begriff, mit dem das ›Zusammensitzen‹ von Mitgliedern sozialer, administrativer oder religiöser Gruppen im islamischen Raum bezeichnet wird. Die Interaktionen im Laden hatten eine zumindest ähnliche Funktion, denn dort wurden relevante Geschehnisse des Nachbarschaftslebens diskutiert und durch die Hierarchie in der kleinen Nachbarschaft in die sozial erwünschte Diskursform gebracht. Der Laden war somit, wie Loimeier (ebd.: 175, Anm. 16) Kai Kresse (2005: 623-624) zitiert, eine »zentrale Einrichtung für die ›Verhandlung von Wissen‹«. Der Lebensmittelladen stand für nachbarschaftliches Vertrauen und Solidarität, die durch die oben beschriebenen Mechanismen konstituiert wurden. Weiter unten zeige ich, dass diese aber mit einer starken sozialen Kontrolle verbunden waren. Der zweite Aspekt, auf den ich in diesem Zusammenhang eingehen will, habe ich als Fremdes und Eigenes umschrieben. Immer wiederkehrende Situationen in der kleinen Nachbarschaft: Der blinde Abu Ali tastete sich mit seinem Stock durch die Straße und ließ sich seinen Stuhl bringen. Er verlangte Farid, eine alte palästinensische Zigarettenmarke, die niemand außer ihm rauchte, die Mahmud für ihn aber immer vorrätig hielt. Saleh kam wie jeden Tag vorbei, kommentierte das politische Tagesgeschehen und belehrte mich mit Verschwörungstheorien. Mahmuds älterer Bruder Anis spendierte uns eine Flasche Fanta und schimpfte über die Palästinensische Autonomiebehörde. Die Frauen gingen mit einem bloß übergeworfenen Kopftuch und Jogginghose auf die Straße, wie sie es sonst nur im Innenhof taten.

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Diese Elemente wurden in Studien zu anderen nahöstlichen Städten als Kennzeichen dafür identifiziert, dass der eigentlich öffentliche Raum der Straße halbprivat werde (Abu-Lughod 1987: 168-169). Janet Abu-Lughod (ebd.: 169) schrieb, dass es ihr immer erstaunlich leicht falle zu wissen, wann sie in einem solchen halbprivaten Raum gelandet sei. Dazu gehöre auch die weiter oben angesprochene Skepsis, der fragende Blick oder »the approach of someone wanting to help but clearly also wanting to know«. Damit werde die Straße zum Wohnbereich, der gegen Außenstehende abgegrenzt werden müsse, da er als Ort der Einwohner/-innen wahrgenommen werde. Dieses Halbprivate, so Eugen Wirth (2000: 379), werde auch durch die soziale Kontrolle reproduziert. So gelte für Jugendliche, innerhalb der eigenen Nachbarschaft auf Provokation oder illegale Aktivitäten zu verzichten. Auch mir gegenüber wurde versichert, dass ich innerhalb der kleinen Nachbarschaft »sicher« sei. In Gesprächen mit Jerusalemer Bekannten und einer Forscherkollegin wurde mir gegenüber betont, dass in dem Gebiet der Altstadt, in dem ich forschte, diese soziale Kontrolle noch besonders stark sei und die Abschließung nach außen sehr gut funktioniere. Das ist einer der Gründe, warum die Straße für Fremde – wie für mich zu Beginn – so abweisend erschien: Jüdische Siedler/-innen hetzten vorüber, ohne sich umzuschauen, uniformierte israelische Kräfte patrouillierten mit Gewehr im Anschlag. Die vereinzelten Touristinnen und Touristen, die vorbeikamen, waren häufig verunsichert; einmal flüchteten zwei Touristinnen in den Laden, weil sie von Kindern bedrängt wurden. Eine andere wollte den Weg zum nahegelegenen Stadttor wissen, traute unseren Informationen nicht, lief in einen Innenhof und dann zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Meine Rolle in der kleinen Nachbarschaft zeigt eine ambivalente Position zwischen Einbezug und Skepsis. Mahmud sagte mir zu Beginn, wie bereits erwähnt, eine vierzigtägige Gastrolle zu. Und dementsprechend drehten sich die Gespräche oft um Themen, die wenig mit der kleinen Nachbarschaft zu tun hatten: unsere Familien und das Wetter, Sprachkenntnisse, die Besatzung, die schwierige Schulsituation in Jerusalem oder arabische Literatur. Doch meine Fremddefinition wurde häufiger modifiziert und war nicht einheitlich. Ich war nicht nur Gast, sondern auch Freund, Spitzel, Forscher und Repräsentant der ›westlichen Welt‹. Für Mahmud war ich nach ein paar Wochen auch ein temporärer Helfer, der Waren im Laden auspacken und einräumen und für kurze Zeit alleine im Laden stehen und Kunden bedienen und abkassieren konnte. Während ich mit Mahmud und einigen weiteren Personen in der kleinen Nachbarschaft ein durchaus vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut habe, blieben andere skeptisch. Gerade Mahmuds Bruder Ibrahim, studierter Ingenieur und Aktivist für einen politischen Islam, der eine sehr wichtige Rolle in der kleinen Nachbarschaft spielte, und der bereits genannte Saleh stellten mir immer wieder Fragen, um meine politische Position zu überprüfen. Als Repräsentant der ›westlichen Welt‹ wurde ich adressiert, wenn ich zum Beispiel auf dop-

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pelte Standards der politischen Vertreter ›meines‹ Nationalstaates hingewiesen wurde, egal ob es um Waffenlieferungen an Israel, die Flüchtlingspolitik oder die Situation der Muslime in Europa ging. Ich solle doch Deutschland über die Situation der Palästinenser aufklären, forderten sie mich auf. Als Forscher wurde ich schließlich adressiert, als für einige klarer wurde und ich es offener artikulierte, dass ich mich nicht nur für das Erlernen der arabischen Sprache in der kleinen Nachbarschaft aufhielt, sondern auch, um über diese zu forschen. Daraufhin wurden mir gegenüber immer häufiger stereotype Aussagen über das harmonische Zusammenleben in der kleinen Nachbarschaft gemacht. Und erst durch einige Interviews wurde deutlich, dass bestimmte Informationen über das Zusammenleben in der kleinen Nachbarschaft bewusst vor mir zurückgehalten wurden – zum Beispiel zu Streitereien zwischen Familien oder zum Verstecken von illegalen Arbeitern. Es ist auch davon auszugehen, dass im Hintergrund bzw. während meiner Abwesenheit meine Rolle aktiv diskutiert wurde. Die Analyse meines ersten Aufenthaltes legte Interpretationen einer relativ eng zusammenhängenden kleinen Nachbarschaft nahe. Der Laden erschien als ein Teil des gemeinsam durch die Bewohner/-innen hergestellten Nachbarschaftsortes. Dieser war geprägt durch die interaktive Herstellung sozialer Kontrolle und nachbarschaftlichen Vertrauens und durch die Präsenz einer dominanten Familie. Gegenüber Außenstehenden wurde die Nachbarschaft abgeschlossen. Mir fiel eine gewisse Zwischenstellung zwischen Außenstehendem, Gast und ›halbem‹ Mitglied zu. 7.2.2

Verschiedene Konzepte für das Zusammenwohnen in der Altstadt: ḥāra – ḥauš – ḥay – Altstadt

In diesem Abschnitt werde ich darstellen, wie sich die Bewohner/-innen der kleinen Nachbarschaft sprachlich und in ihrem Alltagshandeln verorten und welche verschiedenen Ebenen es dabei gibt. Bei meinem ersten Feldaufenthalt 2010 war zunächst mein auf den dominanten Diskursen über Jerusalem bestehendes Wissen, die Altstadt bestehe aus vier ethno-religiösen Vierteln, infrage gestellt worden. Doch auch meine darauffolgende Annahme, die Verortung beziehe sich auf die historischen arabischen Nachbarschaften (ḥārāt), hat sich nur teilweise bestätigt. Stattdessen waren auch der Innenhof (ḥauš, gesprochen wie hosh), die Altstadt an sich und vor allem die kleine Nachbarschaft (ḥay) relevant. Auf meine Frage, wie sie sich selbst vorstellen würden, wenn sie von einer Palästinenserin oder einem Palästinenser nach ihrem Wohnort gefragt werden würden, antworteten drei Jugendfreunde von Mahmud, dies komme auf die Herkunft der Person an: Stamme sie aus Jerusalem oder seiner Umgebung, dann würden sie sich mit dem Namen des ḥāra vorstellen, in dem sie wohnten. Gegenüber jemandem,

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der von außerhalb komme, stellten sie sich als aus der Altstadt kommend vor. Von einem ›Muslimischen Viertel‹ erwähnten sie nichts. Ein anderes Mal zeigte ich eine arabischsprachige Publikation über das ḥāra, in dem der Lebensmittelladen liegt, die ein palästinensischer Historiker bei einem kleinen Verlag veröffentlicht hat.5 Keiner kannte das Buch, stattdessen beriefen sich mir gegenüber alle auf das Standardwerk zur Geschichte Jerusalems, Aref al-Arefs Detaillierte Geschichte Jerusalems aus dem Jahr 1961.6 Sie wussten, dass das ḥāra eine lange Geschichte habe, und erwähnten zwei oder drei ältere Bauwerke, doch mehr historisches Wissen konnten sie mir gegenüber nicht abrufen. Wenige Tage später traf ich ein Mitglied der erwähnten einflussreichen Familie. Dieser sah sich aufgrund seiner Familienzugehörigkeit als Experte für das ḥāra. Er habe das von mir angesprochene Buch gelesen, aber es gebe darin viele Fehler. Er hingegen kenne die Wahrheit, denn sie sei ihm von seinem Vater übermittelt worden, der das Wissen wiederum von seinem Vater gehabt habe. Der Autor des Buches habe Unrecht, weil er nicht zu den ›ursprünglichen‹ Familien im ḥāra gehöre, erst seine Ur-Urgroßeltern seien dorthin gezogen. Mein Gesprächspartner leitete seine historische Autorität von seiner familialen Zugehörigkeit und der kontinuierlichen räumlichen Präsenz der Familie ab. Wissenschaftliche Erkenntnis hat für ihn anscheinend einen untergeordneten Wert (vgl. zu jenen ›alten‹ Familien Kap. 6.4). Das historische Wissen über die räumliche Umgebung ist in der kleinen Nachbarschaft unterschiedlich verteilt und generell nicht besonders ausgeprägt. Anscheinend gab es auch keine mündliche Diskussion eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins, sondern nur exponierte Träger bzw. Experten (Berger/Luckmann 1969: 82-83). Zum Beispiel wurde mir auch der Schneider vorgestellt, weil dieser mehr über das ḥāra wisse als andere. Dabei könnten die Bewohner/-innen mit dem historischen Wissen zur lokalen Umgebung eine dauerhafte arabische Besiedelung der Altstadt und die Geschichtsträchtigkeit des ḥāra nachweisen. Die arabische Geschichte der Altstadt wird vor allem im israelischen Diskurs heruntergespielt, was zur Schwächung eines palästinensischen Rechts auf das Dasein in der Altstadt beiträgt. Aufgrund dieser Erkenntnisse über die recht geringe Relevanz des ḥāra habe ich während der folgenden Forschungsaufenthalte verstärkt danach gefragt, welche Einteilungen der Altstadt für die Bewohner/-innen handlungspraktisch relevanter sind. Dazu gehörte zunächst die wichtige handlungspraktische Unterscheidung, ob 5

Das Werk wird aus Gründen der Anonymisierung nicht belegt.

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Aref al-Arefs Buch Detaillierte Geschichte Jerusalems (1961) wird noch öfters in dieser Arbeit erwähnt. Es führt in einfachem Arabisch in die verschiedenen Epochen der Jerusalemer Stadtgeschichte ein. Für viele Jerusalemer/-innen, die ich kennenlernte, ist dieses Buch trotz seines Publikationsjahres immer noch ein wichtiger Orientierungspunkt. Ali Qleibo (2011a: 61) schreibt, dass jenes Buch immer »next to my bed« liege.

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man – wie die meisten Einwohner/-innen der Altstadt – in einem ḥauš (Innenhof) wohnt oder ob sich die Wohnung oder das Haus direkt zur Straße öffnet. Der ḥauš wurde als »the most basic feature of the Palestinian town house« bezeichnet (Fuchs 1998: 166). Der ḥauš ist von der Straße durch einen Durchgang erreichbar. Während einige wenige Innenhöfe in der kleinen Nachbarschaft nur von einer Familie bewohnt werden, wohnen in den meisten vorwiegend arme Familien, die nicht miteinander verwandt sind, in Apartments. Das Erdgeschoss ist eigentlich für Läden und Lager, der obere Stock für Wohnungen vorgesehen (ebd.: 166-167). Doch häufig sind die Häuser in einem Innenhof um mehrere Stockwerke nach oben erweitert und auch die Erdgeschossflächen in Wohnungen umgewandelt worden. Eine wichtige Funktion der Innenhöfe ist die Herstellung von familienähnlichen Bindungen zwischen denen, die darin wohnen (Wirth 2000: 340-341). Der blinde Abu Ali, zum Beispiel, wohnte in Mahmuds ḥauš. Ich fragte ihn, ob es nicht viele Probleme gebe, wenn auch andere Familien dort wohnten und die Wohnungen so dicht nebeneinander lägen. Doch, Probleme gebe es, aber er »bewege sich in allen Wohnungen in seinem ḥauš wie in seiner Familie, und die Frauen würden auch keinen Hijab aufziehen«. Das Leben im Innenhof sei ohne einen engen Zusammenhalt der Bewohner/-innen nicht möglich, man lebe so nahe beieinander, dass es »tödlich wäre, sich nicht zu kennen«, sagte Abu Ali. In dieser Aussage sind zwei den ḥauš prägende Elemente, das Vertrauen und die gleichzeitige soziale Kontrolle, enthalten. In den Innenhöfen in der Umgebung des Ladens wohnten jeweils bis zu 17 Parteien. Sie trugen meist einen historischen Namen nach einer vormals dort wohnenden Familie oder nach einem Berufszweig, der dort ausgeübt wurde. Aber wie beim ḥāra galt auch in Bezug auf die Innenhöfe: Während die Bewohner/-innen häufig wussten, wer in welchem Innenhof wohnte, konnten mir mit wenigen Ausnahmen selbst formal gebildete Bewohner/-innen die historischen Namen der Innenhöfe nicht nennen. Auch diese Beobachtungen zum ḥauš deuten auf die höhere Relevanz von handlungspraktischem Wissen gegenüber formalem Wissen hin. Die Aktualisierung des Alltagswissens und die Vernachlässigung des Wissens um die historischen Zusammenhänge bedeuteten aber auch für diesen Zusammenhang, dass viele Bewohner/-innen Ängste hatten, ihnen könnte dieser Wohnort von den Israelis ›weggenommen‹ werden, was sich auch dadurch erklärte, dass ihnen der Status als Zugezogene oder ›Hebroner‹ (vgl. Kap. 6.4) zugeschrieben wurde. Durch den stets beschworenen nachbarschaftlichen Zusammenhalt wurden diese Ängste bis zu einem gewissen Grad abgedämpft. Während der ḥauš eine eindeutig geographische Einheit ist, ist das bei der für mich wichtigsten räumlichen Kategorie, der kleinen Nachbarschaft (im Forschungsraum wurde dafür das arabische Wort ḥay benutzt), genau umgekehrt. Es ist gleichzeitig die am schwierigsten nachzuvollziehende Zugehörigkeitsbegrifflichkeit. Wie erwähnt, wird der Begriff ḥay im Arabischen hauptsächlich wie ›Stadtviertel‹ benutzt, kann aber – wie in der kleinen Nachbarschaft – eine weitere Bedeutung im

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ungefähren Sinne von ›Wohnblock‹ annehmen (Wehr 1977: 198). Ein ḥay ist größer als ein ḥauš, aber kleiner als das ḥāra, doch die räumliche Ausdehnung ist nicht entscheidend. Der Unterschied zwischen ḥāra und ḥay wurde mir bewusst, als ich mich nach dem geographischen Einzugsgebiet des Ladens erkundigte, das relativ gut die ungefähre Größe des ḥay widerspiegelt. Daraufhin nannte Mahmud einen bestimmten Straßenabschnitt. Allerdings, so fügte er hinzu, würden manche aus der Parallelstraße, die eigentlich zu einem anderen Laden »gehörten«, auch bei ihm einkaufen. Und bei der Frage, wie viele Familien der Laden versorge, gab es große Unterschiede in den Aussagen zwischen Mahmud und seinem Sohn. Mahmud argumentierte, es seien 20, doch ist unklar, ob er an Kern- oder erweiterte Familien dachte. Sein Sohn hingegen nannte eine Zahl von 80 Familien, was eher den Kernfamilien entsprechen könnte. Das ḥay war in der alltäglichen Praxis und Kommunikation als Zugehörigkeitsort verankert. Weiter unten wird deutlich, dass Bewohner/-innen jüdischer Siedlungen, die im gleichen Gebiet wohnten, nur zu einem geringeren Grad als Teil der kleinen Nachbarschaft begriffen wurden. Die Bewohner/-innen bezogen sich eher auf das ḥay als auf das ḥāra.7 Weitere Hinweise darauf, dass das ḥāra nicht der wichtigste Bezugspunkt war, erhielt ich, als ich Mahmud gezielt fragte, ob es im ḥāra einen muḫtār gebe, bzw. wer dieser sei. Ein muḫtār ist ein offiziell legitimierter Nachbarschaftsbeauftragter, der gegenüber der Jerusalemer Stadtverwaltung die Belange der lokalen Bevölkerung vertreten soll.8 Mahmuds Antwort war: »Einen muḫtār benötigen wir nicht mehr, den brauchten wir früher, als alle ungebildet und einfach waren, jetzt sind alle gebildet und selbständig.« Bis zur Ersten Intifada habe der muḫtār mehr Einfluss gehabt, momentan habe zwar ein Mitglied einer Familie aus einem anderen Teil des ḥāra noch offiziell diese Funktion und den Stempel der Israelis, aber er sei so alt, er kenne weder die Leute noch kannten die Leute ihn.9 Inzwischen konsultierten die Be7

Manchmal zerfließt die Unterscheidung zwischen ḥāra und ḥay in Interaktionen. Es wird dann erwartet, dass die jeweils richtige Vergleichsgröße angelegt wird.

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Historisch gesehen war der muḫtār der Familienälteste. Das System wurde von den Briten und später von den Israelis übernommen, dann allerdings wurden die Aufgaben an ein bis zwei Personen in einem ḥāra verteilt und mit einem kleinen finanziellen Ausgleich durch die Jerusalemer Stadtverwaltung bedacht. Die Aufgaben eines muḫtār beinhalten das Schlichten von Streitigkeiten, das Führen von Bevölkerungsstatistiken, die Repräsentation der Einwohner/-innen nach außen: »This is not an especially honored or esteemed position, and it is often assigned to a family member who has modest organizational talents.« (Romann/Weingrod 1991: 198-199)

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In Jerusalem scheint die Bedeutung des muḫtār von ḥāra zu ḥāra verschieden zu sein. So wurde mir gegenüber erwähnt, dass auch in den christlichen Vierteln der muḫtār keine wichtige Rolle mehr spiele, in einem anderen ḥāra dagegen noch eine sehr verantwortungsvolle Position sei.

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wohner/-innen des ḥay in Problemfällen stattdessen die Alten und/oder Besonnenen wie den Schneider oder Mahmuds Bruder Ibrahim und dessen Sohn. Dazu benötigten sie keine offiziell ernannten Repräsentanten oder schriftlich niedergelegte Vereinbarungen. Somit bildete das ḥay den alltäglichen Zugehörigkeitsort vieler Bewohner/ -innen. Es erwies sich als kleiner Wir-Ort, in dem ein gemeinsames Wir-Bild sehr ausgeprägt war (vgl. Kap. 3.2). Das ḥay umfasste zwischen 500 und 1.000 Menschen, sein Zentrum war der Laden. In anderen, wohlhabenderen Stadtteilen außerhalb der Altstadt, sagte Mahmud (und spielte wohl auf seinen Bruder Yunis an), kenne man nicht einmal seine direkten Nachbarn. Im ḥay dagegen sei es wie in einer Familie, schließlich wohne man so eng aufeinander, dass man den Fernseher laut stellen müsse, um die Nachbarn nicht zu hören. Die Zugehörigkeit zum ḥay ging häufig mit der Herstellung eines vertrauensvollen Zustandes mit den Nachbarn einher, der öffentliche Raum wurde halbprivat. Die diskursive und handlungspraktische Herstellung von Harmonie war in einem solch engen Zusammenhang unerlässlich. So betonten mir gegenüber alle Nachbarn im Laden, es gebe überhaupt keine Probleme in der kleinen Nachbarschaft, keinen Hass, keine persönlichen Fehden und kein Sektierertum zwischen den Mitgliedern verschiedener Religionen. Im Folgenden werde ich einige Beispiele aufzählen, welche die alltägliche diskursive und handlungspraktische Herstellung des ḥay als vertrauensvollen und gleichzeitig sozial kontrollierten Nachbarschaftsort veranschaulichen. Ein Neffe Mahmuds wurde zu einem Monat Hausarrest verurteilt, weil er sich Polizisten widersetzt hatte. Doch in den Straßen der kleinen Nachbarschaft hielt er sich wie selbstverständlich auf. Nachbarn, die krankgeschrieben waren und hätten zu Hause bleiben müssen, waren ebenso dort zu finden. Die kleinen Kinder liefen nur in Windeln und alleine um die Häuser. Wenn Mahmud eines von ihnen nicht erkannte, dann fragte er es aus, wo es »hingehöre«. Er fragte nach dem ḥauš (Innenhof) oder dār10 oder nach dem Namen des Vaters. Wenn jemand aus der kleinen Nachbarschaft eine Aussage bei der Polizei machen musste, dann nannten sie Mahmuds Festnetznummer im Laden als Kontakt. Er sammelte auch die Namen aller Betroffenen bei einem Stromausfall und rief für das ḥay bei den Elektrizitätswerken an. Dadurch wurde die Relevanz von und die Bindung an Mahmuds Familie reproduziert, und Mahmud erhielt stets zusätzliche Informationen über die aktuellen Bewohner/-innen der kleinen Nachbarschaft. Wie bereits in Abschnitt 6.2 angemerkt wurde, haben sich die Nachbarschaften in der Altstadt historisch immer wieder verändert. Es ist allerdings in dieser Arbeit nicht zu rekonstruieren, seit wann und in welcher Intensität das ḥay seine Bedeutung als Face-to-Face-Nachbarschaft erhalten hat. Während meiner Beobachtungen wurde öfters zum Ausdruck gebracht, dass das ḥāra inzwischen so viele Einwoh10 Der Begriff dār bezeichnet das einzelne Familienhaus.

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ner/-innen habe, dass man nicht mehr alle kennen könne. Ein etwa 20-jähriger Taxifahrer, der mich eines Abends nach Hause fuhr, wohnte im gleichen ḥāra, vielleicht 50 Meter Luftlinie vom Laden entfernt. Aber er konnte mit den herausgehobenen Familienvertretern Mahmud und Ibrahim nichts anfangen, obwohl ihm der Familienname ein Begriff war. Vielleicht hat die Zugehörigkeit zum ḥāra wegen der hohen Bevölkerungsdichte an Relevanz verloren. Gerade angesichts der israelischen Besatzung ist die Face-to-Face-Kommunikation im ḥay ein wichtiges Element sozialer Kontrolle und auch persönlicher Sicherheit. Die Charakteristika dieser kleinen Nachbarschaft (ḥay) lassen sich auf Basis der eigenen Beobachtungen wie folgt zusammenfassen: − Größer als ein ḥauš (Innenhof), aber (tendenziell) kleiner als ein ḥāra; − keine festgelegten Grenzen bzw. fluktuierende und relative Grenzen (ungleich ḥāra oder ḥauš); − ahistorischer als das ḥāra, in der alltäglichen Interaktion verankert und reproduziert; − Regeln wurden mündlich oder durch Praktiken etabliert, es gab nichts Geschriebenes; − es war nicht administrativ oder formal organisiert und hatte keine offiziellen Repräsentanten, also ungleich des ḥāra, zu dem es gehörte und in dem es nach demselben benannte Vereine, Jugendclubs, Webseiten sowie einen muḫtār (vgl. Anm. 8 und 9, S. 174) gab; − die Zugehörigkeit zum ḥay bedingte einen vertrauensvollen Umgang der Nachbarinnen und Nachbarn; durch die Wohnform in Innenhöfen teils intime Kenntnis der anderen und familienähnliche Verbindungen; − den öffentlichen Raum im ḥay definierten die Angehörigen bis zu einem gewissen Grad als halbprivaten Raum. Die ausgeführten Charakteristika sind in ähnlicher Weise für andere Städte im Nahen Osten und Nordafrika empirisch nachgewiesen worden, wie zum Beispiel von Eickelman (2002: 104) für eine marokkanische Stadt: »[R]esidents divided the town into anything from 30 to 43 quarters. The fact that there is such a discrepancy in how townspeople evaluate space even in such a small setting indicates that space is not conceived entirely in a fixed way. How quarters were evaluated depended on what people knew of the social history of the town, which varied with generation and social position, and formative experiences shared with other people in the community. The demarcation of quarters cannot always be discerned by physical signs. […] For one thing, the social boundaries of many quarters are subject to modification; for another, not all houses are necessarily thought to be part of quarters. Only those clusters of households sustaining a particular quality of life are known as quarters.«

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Neben den bisher vorgestellten räumlichen Organisationsformen der Nachbarschaft (ḥāra), des Innenhofs (ḥauš) und der kleinen Nachbarschaft (ḥay) war eine weitere relevante Zugehörigkeit schließlich die zur Altstadt selbst. Mit dem Leben in der Altstadt wurde generell eine spezifische Lebensweise verknüpft, die sich von jener außerhalb unterscheide. Dies war Teil des Wir-Bildes, mit dem die Bewohner/ -innen die diskursive Abwertung der Altstadt (vgl. Kap. 6.4) bearbeiteten. Oftmals wurde mir gegenüber in Interviews erwähnt, das Altstadtleben sei das »natürliche Leben«. Damit war das eben eingeführte ›gemeinschaftliche‹ Zusammenleben in Nachbarschaften oder Innenhöfen gemeint, das auf gegenseitiger Solidarität und Zurücknahme der eigenen Bedürfnisse für diesen gemeinschaftlichen oder familienartigen Zusammenhang beruht. Dem stand das individualisierte Leben in Neubauwohnungen gegenüber, dem mehr Anonymität bei gleichzeitiger Individualisierung unterstellt wurde. Eugen Wirth (2000: 399) schreibt allgemein für Altstädte im Nahen Osten und Nordafrika: »Der Umzug aus der Altstadt in die Miet- oder Eigentumswohnung eines mehrgeschossigen Häuserblocks der Außenviertel führt zu einer nicht unerheblichen Wandlung des Selbstverständnisses und Lebensgefühls, bzw. er setzt eine solche bereits voraus.«11 Einer meiner Interviewpartner, Abdallah, der selbst mit seinen Eltern aus der Altstadt ausgezogen ist, aber sich wünschte, wieder in das sich in Familienbesitz befindliche Haus zurückzuziehen, formulierte es folgendermaßen: »If you born in the Old City and you are moving outside you can feel the difference between the people and (civilization) everything everything […] I love Old City, and everyone in the Old City has problems to move to the outside.« Für andere hingegen war es eine bewusste Entscheidung, dieses ›natürliche Leben‹ zu verlassen. So ist Yunis, der mich in die kleine Nachbarschaft eingeführt hat, bereits vor seinem Sekundarschulabschluss im Alter von 17 Jahren aus dem Altstadthaus in Familienbesitz ausgezogen. Inzwischen wohnt er in einer nach europäischen Gestaltungsprinzipien geplanten Vierzimmerwohnung. Den ihm zustehenden Anteil am Familienbesitz hat er an seine Brüder verkauft. Für seine Familie galt Yunis als ›anders‹, als einer, der ein Leben ohne soziale Kontrolle außerhalb der Altstadt führen wollte. Damit verknüpft waren Vorwürfe der Dekadenz: Yunis habe von allem mehr haben wollen, vom Geld und vom Wissen, während sie in der Altstadt mit ihren bescheidenen Verhältnissen zufrieden seien. Als mich Yunis 2012 noch einmal in die kleine Nachbarschaft begleitete, wurde die gegenseitige Skepsis deutlich. Yunis begrüßte seinen Bruder Mahmud nur flüchtig. Als Yunis für kurze Zeit die Rolle des Verkäufers im Laden übernehmen musste, wurde an seinem Gesichtsausdruck und den heruntergezogenen Mundwinkeln deutlich, wie schwer ihm die Rückkehr in diese 11 Wirth (2000: 399) geht zwar davon aus, dass es in Neubauwohnungen weniger Anonymität als in einem von einer Familie bewohnten Innenhof gebe, aber, wie dargestellt, ist es in der Jerusalemer Altstadt die Ausnahme, dass nur eine Familie einen Innenhof bewohnt.

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Rolle fiel – auch Yunis hatte früher im Laden aushelfen müssen. Andererseits war Yunis auch in seiner Abwesenheit im ḥay noch präsent: Viele Nachbarschaftsbewohner/-innen sprachen mich auf ihn an und fragten, wie es ihm gehe, weil er so selten »nach Hause« komme. In diesem Abschnitt habe ich herausgestellt, dass die Verortung im ḥay, der kleinen Nachbarschaft, für viele Bewohner/-innen sprachlich und im Alltagshandeln wichtiger war als die Verortung in der Nachbarschaft (ḥāra) oder im Innenhof (ḥauš). Das ḥay war mit einem Wir-Bild verknüpft und stellte einen Wir-Ort dar – der vertrauensvolle und sozial kontrollierte Nachbarschaftsort wurde als ›natürliches Leben‹ gerahmt, das zu verlassen als das bewusste Aufgeben dieser spezifischen Altstadtlebensweise interpretiert wurde. 7.2.3

Der Laden und die Dominanz der einflussreichen Familie

Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass der Lebensmittelladen ein Zentrum des Nachbarschaftslebens war. Damit trug er auch zur Aufrechterhaltung des Einflusses von Mahmuds Familie im ḥay bei. Im Vergleich zu anderen Läden in der Altstadt waren Mahmuds Produkte im Durchschnitt billiger. Das lag zum einen daran, dass der Laden abseits jener Straßen lag, denen die Touristenströme folgten, und er außerdem viele billige Produktschienen aus dem Westjordanland oder der Türkei bezog. Zum anderen musste Mahmud keine hohe Miete bezahlen und hatte als Lehrer ein Zweiteinkommen. Mahmud war stolz auf sein Händlerethos, dass bei ihm die Preise für alle gleich seien: für Einwohner, Touristen und Siedler. Um den Aufwand gering zu halten, verkaufe er als Geschäftsprinzip nur kleine Produktmengen und -größen. Dabei waren die Gewinnmargen sehr unterschiedlich: So machte er bei einem Kilo Reis zu 10 NIS (ca. 2€) einen Gewinn von 3 NIS pro Packung zum Einkaufspreis (15kg für 120 NIS). Ein Paket von 24 Bonbons zu je 50 Agorot kostete ihn 10 NIS, er machte also pro Paket 2 NIS Gewinn. Bei Butterkeksen verkaufte er kleinere Einheiten ganz ohne Gewinn. Er sehe es als seine Aufgabe in der kleinen Nachbarschaft, es allen zu ermöglichen, sich etwas leisten zu können, so Mahmud. Wer wolle, könne in den nächstgelegenen Laden gehen und dort die größeren Packungen kaufen, aber die meisten Nachbarn blieben bei kleinen Einheiten. Diese Offenheit hinsichtlich der eigenen Geschäftsstrategie ist ein weiterer Hinweis darauf, welch wichtige Rolle das Vertrauen im ḥay spielte und wie sehr Mahmud den Lebensmittelladen als Teil des Nachbarschaftslebens begriff und dementsprechend auch kein Geheimnis aus seinen Gewinnen machte. Durch seine Offenheit und die zum großen Teil billigen Waren band er die Nachbarschaftsbewohner/-innen auf eine weitere Weise an die Familie und den Laden. Neben denen, die im ḥay wohnten, waren die Schüler, die morgens und mittags durch die kleine Nachbarschaft tobten, die wichtigsten Kunden. Schon Mahmuds

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Vater hatte den Laden 30 Jahre lang betrieben, aber er hatte ihn nur für zwei Stunden nach Schulende geöffnet. Der Schulleiter hat sich bereits bei Mahmud beschwert, er solle nicht so viele billige Süßigkeiten an die Jungen verkaufen, was dieser mit dem Argument abwehrte, er sei Händler. Da hatte die Beschwerde der Mütter aus dem ḥay mehr Erfolg und mehr Gewicht als die des Schulleiters, der wohl als weniger wichtig erachtet wurde. Die Mütter hatten gefordert, er solle kein Eis mehr anbieten, und Mahmud hielt sich daran. Im Vergleich zu einer so einflussreichen Person wie dem Schulleiter ist es bemerkenswert zu sehen, dass die Beschwerde der Mütter mehr Erfolg hatte. Bei letzterer ging es um den alltäglich herzustellenden ›Frieden‹ auf engem Raum; die soziale Fürsorgefunktion, die der Laden für das Zusammenleben im ḥay hatte, ist deutlich zu erkennen. Diese nachbarschaftsformierende Rolle des Ladens war mit Mahmuds Stellung in der kleinen Nachbarschaft verbunden. Als Mahmud mit Teilen seiner Familie auf die ›kleine Pilgerfahrt‹ nach Mekka (ʿumra) ging, übernahm Mahmuds Schwiegervater den Laden. Dieser räumte dort auf und verteilte das Kleingeld systematisch in Boxen. Doch die Nachbarn gingen am Laden ohne die üblichen Grußformeln vorbei, die Kinder waren sehr zurückhaltend. Andere Male traf ich Mahmuds Sohn Maher im Laden an. Er grüßte die vorbeigehenden Älteren kaum, nur die Gleichaltrigen, mit denen er sich zu messen schien. Als ich hin und wieder für kurze Zeit alleine im Laden stand und verkaufte, waren die Leute erwartungsgemäß sehr zurückhaltend. Zum Beispiel kam ein Mann, der Milch kaufen wollte. Als ich sie ihm einpacken und Geld zurückgeben wollte, wehrte er ab, denn er wollte auf Mahmud warten und mit diesem reden. Die Stellung Mahmuds und des Ladens hingen mit dem Einfluss der Familie im ḥay zusammen. Zu ihr gehörten in der kleinen Nachbarschaft sieben Kernfamilien der älteren Generation und acht weitere Familien von Söhnen und Töchtern. In der Parallelstraße gehörten vier weitere Häuser einem etwas weiter entfernten Familienzweig. Wegen ihrer ›Alteingesessenheit‹ und ihrer quantitativen Stärke (nicht wegen ihrer ökonomischen Stärke) hielten die Familienmitglieder in der kleinen Nachbarschaft die ›Fäden in der Hand‹. Mahmuds Bruder Ibrahim war der erste Ansprechpartner, wenn es Probleme im ḥay gab. Der Laden fungierte als alltägliches Nachbarschaftszentrum, in dem die Zugehörigkeit zum ḥay und dessen Sitten und Gebräuche – die soziale Kontrolle – reproduziert wurden. Eine Interviewpartnerin, die in der kleinen Nachbarschaft gearbeitet hatte, berichtete im Interview positiv über die Stellung der Familie. Zwar gebe es die Abschließung nach außen (»they have their own people they solve their own problems«), aber gleichzeitig sorge die Familie dafür, dass die der Altstadt nachgesagten Klischees – Kriminalität etc. – in der kleinen Nachbarschaft kaum zuträfen. Während des Ramadans kam ein Nachbar, der das Fasten nicht einhielt und darauf bestand, vor dem Laden Wasser zu trinken. Mahmud schloss daraufhin seinen Laden kurzzeitig, um nicht dafür verantwortlich gemacht werden zu können. Als ein neuer israelischer Sicherheitsbeauf-

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tragter für das ḥāra installiert wurde, wurden Ibrahim, Mahmud und einer seiner Neffen vorgeladen. Die Familienmitglieder hätten im Warteraum der Polizeistation öffentlich gebetet, was in der kleinen Nachbarschaft als mutiges Vorgehen gelobt wurde. Während Mahmuds Bruder Ibrahim mir gegenüber sehr zurückhaltend und skeptisch auftrat – Yunis sagte, ich könne es bereits als Erfolg werten, dass ich überhaupt Zutritt zum Familienhaus bekommen hätte, zum Beispiel dorthin zum Essen eingeladen wurde –, verhielt sich Mahmud mir gegenüber stets zuvorkommend und als Repräsentant des Diskurses des harmonischen Zusammenlebens in der kleinen Nachbarschaft: »Hier im ḥay müsse ich nichts befürchten. Erstens, weil mich alle kannten, zweitens, weil hier die Kinder wirklich braver seien. Ich solle doch mal nach [Namen von anderen Nachbarschaften] gehen, da sei alles viel schlimmer. […] Die Nachbarschaft sei von den Zuzügen in den 1990er Jahren relativ verschont geblieben, es sei eine Nachbarschaft, die sehr traditionell sei, hier wohnten alte Jerusalemer Familien, wenig Neuzugezogene. […]. Und wenn [die Kinder] etwas anstellen würden, dann nicht im ḥay, denn hier müsste man ja Nachbarschaft leben. Hier würden alle einander kennen und vertrauen.«

Mahmud stellte mir eine Sicherheitsgarantie aus. Was er nicht offen aussprach: Jeder wusste, dass ich mit der einflussreichen Familie assoziiert war, die auch für das harmonische Zusammenleben im ḥay sorgen wollte. Das machte es im sozial sowieso schon kontrollierten halbprivaten Raum noch wahrscheinlicher, dass mir gegenüber ein erwünschter Diskurs reproduziert werden würde, bzw. dass eine hohe Schwelle überwunden werden musste, damit dieser nicht bedient wurde. Die Probleme, die es in der Nachbarschaft gab, wurden zwar auch im Laden in persönlichen Gesprächen behandelt, aber mir gegenüber, so kam es mir angesichts der fehlenden, verkürzten und stockenden Erklärungen über diese meist im Jerusalemer Dialekt gehaltenen Gespräche vor, kleingeredet. Die Nachbarschaft sollte mir gegenüber von ihren besten Seiten präsentiert werden. Mahmud musste mir gegenüber trotzdem hin und wieder zugeben, dass es Probleme gab, zum Beispiel mit Drogen. Eine alte, sehr gebeugte Frau kam und jammerte über ihren Sohn, der arbeitslos und drogenabhängig sei und sie bestohlen habe, obwohl sie von 2.000 NIS (ca. 400€) im Monat leben müsse. Ein anderes Mal gerieten zwei Männer im Laden in eine heftige Diskussion. Es ging um einen Dritten, der Alkoholiker sei und immer Probleme in der kleinen Nachbarschaft verursache, aber von einigen Jugendlichen bewundert werde und deswegen eine Gefahr darstelle. Nur dann, wenn er dazu gezwungen war, weil andere Kunden bei ihm waren, darüber berichteten und ich das Arabische ungefähr verstand, führte Mahmud solche Geschichten für mich aus. Wie später zu sehen ist (vgl. Kap. 7.4.3 und 10.7.1), war in diesem Zusammenhang die Kombination aus teilnehmenden Beobachtungen

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und biographisch-narrativen Interviews hilfreich, da bei letzteren auch ›Geheimnisse‹ der kleinen Nachbarschaft erzählt wurden, die im halbprivaten Raum vom harmonisierenden Diskurs überdeckt wurden. Gegenüber Außenstehenden und Unbekannten – egal ob sie Arabisch, Englisch oder Hebräisch sprachen – fand im ḥay generell eine Abschließungspolitik statt. Ein Fremder kam und sprach Mahmuds Bruder Anis vor dem Laden auf Arabisch an. Mahmud schaute immer wieder besorgt nach draußen. Anis stand auf und ging mit dem Mann weg, worauf Mahmud aus dem Laden stürmte und ihm etwas Unverständliches hinterherrief. Nach einigen Minuten kam Anis mit dem Mann zurück. Mahmud warf ihm Grimassen zu, die wohl bedeuten sollten, dass er nichts sagen solle. Der Mann fragte nach dem Haus eines Nachbarn, und Anis gab ihm Auskunft. Mahmud stand leidend daneben. Als der Fremde weggegangen war, fragte Mahmud Anis, warum er so viel preisgegeben habe, er solle das nicht machen, der Mann habe schließlich nach Hausbesitzern gefragt. Anis verteidigte sich, der Fremde habe schließlich aufgeführt, welche gemeinsamen Bekannten sie hätten. Mahmud blieb dabei, er hätte ihm nicht vertrauen dürfen. Dann erklärte er mir, alle seien wegen der Besatzung sehr misstrauisch gegenüber Fremden, gerade wenn es jemand sei, der so viele Fragen stelle. Ich warf ein, dass ich auch viel fragte, aber mir unterstellten sie, dass ich harmlos sei – eine Bemerkung, auf die Mahmud nicht antwortete. Meine Interpretation ist, dass die Rolle der künstlichen Naivität des Forschenden, des Alles-Wissen-Wollenden, eine andere ist als die des Spions, der vorgibt, ein Insider zu sein und bereits viel zu wissen. Gleichzeitig wurde aber auch kontrolliert, was mir erzählt wurde. Doch während mir – unter der Kontrolle Mahmuds im Laden – eine Auswahl des harmonischen Zusammenlebens präsentiert wurde, wurden Fremde eher gemieden. Doch nicht alle Bewohner/-innen der kleinen Nachbarschaft nutzten den Lebensmittelladen handlungspraktisch als Treffpunkt und als Herz des Nachbarschaftslebens. Hafez (vgl. Kap. 7.3), der ein ambivalentes Verhältnis zur kleinen Nachbarschaft hat, eilte am Laden genauso vorbei wie Karim (vgl. Kap. 7.4.1), der sich aus dem Nachbarschaftsleben auf seine Kernfamilie zurückgezogen hat. Die Nutzung des Ladens war in der kleinen Nachbarschaft nicht verpflichtend, doch als Symbol des engen nachbarschaftlichen Lebens war er für alle erkennbar. Der Laden erwies sich zusammenfassend als – zum Teil nur bedingtes – Instrument der sozialen Kontrolle, der Reproduktion der Rolle der einflussreichen Familie, aber auch der patronagemäßigen Versorgung der kleinen Nachbarschaft. Auf der einen Seite führte dies zur Absicherung gegenüber Außenstehenden und vor den Einschüchterungsversuchen durch die Israelis. Aber es schaffte auch Abhängigkeiten der Bewohner/-innen gegenüber der dominierenden Familie und führte dazu, dass im öffentlichen Austausch das harmonische Zusammenleben in der kleinen Nachbarschaft rituell (über-)betont wurde.

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7.2.4

Historische Generationen in der kleinen Nachbarschaft

Ein weiteres, die kleine Nachbarschaft definierendes Charakteristikum war das deutliche Hervortreten von verschiedenen historischen Generationen (Mannheim 1928) während der Interaktionen im Lebensmittelladen. Ahmad Sa’di und Lila Abu-Lughod (2007: 19-20) werteten historische Generationen als eine wichtige Kategorie zur Einordnung der palästinensischen Geschichte. In der Forschung zu Palästina wird häufig die Nakba-Generation derer angesprochen, die das Jahr 1948 miterlebt haben, oder die Generation derjenigen, die während der Ersten Intifada der späten 1980er Jahre ihre Jugend erlebt haben.12 Dieser populäre Aufstand wurde von Giacaman und Johnson (1989: 160) unter anderem auch als »internal revolution of children against fathers« begriffen. Diese Einordnung schreibt bestimmten historischen Ereignissen formierende Kraft zu, und vielleicht wurden deswegen andere Generationen vernachlässigt, zum Beispiel die Generation, von der sich die politisch aktiven Kräfte der Ersten Intifada absetzten. Dass die Generationenunterschiede in der kleinen Nachbarschaft so präsent waren, mag zum einen daran liegen, dass das Sprechen darüber nicht so tabubehaftet war wie das Sprechen über die Themen Kriminalität, Streit zwischen Familien oder religiöse Diskriminierung. Zum anderen war mit der Zugehörigkeit zu verschiedenen historischen Generationen und dem generationsspezifischen Erleben der Kollektivgeschichte auch eine unterschiedliche Interpretation der sozialen Wirklichkeit in der Gegenwart verknüpft, die in den alltäglichen Interaktionen in der kleinen Nachbarschaft deutlich hervortrat. In der kleinen Nachbarschaft waren die Mitglieder zweier historischer Generationen besonders einflussreich, wie ich sie in Anlehnung an Karl Mannheim (1928) rekonstruiert habe: die ›Jordanische Generation‹ (Becker 2013) und die ›Erste Intifada-Generation‹. Die jeweiligen konstituierenden Erlebnisse dieser beiden historischen Generationen wurden im halbprivaten Raum der kleinen Nachbarschaft prominent diskutiert. Diejenigen, die zwar vom Alter diesen zugehörten, aber sich beispielsweise nicht an der Ersten Intifada beteiligt haben, können bis in die Gegenwart eine leicht benachteiligte Position in der kleinen Nachbarschaft haben (vgl. die 12 Einen Überblick zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Nakba-Generation liefern Sa’di und Abu-Lughod (2007). Für die Erste Intifada-Generation vgl. Collins (2004) und Bucaille (2004). Lybarger (2005) differenzierte Generationseinheiten für Erste IntifadaAktivisten, deren Geburtsjahre er ungefähr zwischen 1963 und dem Anfang der 1970er Jahre festlegt. Rabinowitz und Abu-Baker (2005) definieren die »stand-tall generation« für solche Palästinenser/-innen in Israel, die ungefähr Mitte der 1970er Jahre geboren und 1999-2000 politisch aktiv wurden. Migdal (1980: 72-73) deutet auf Differenzen in familialen Generationen hin, die er während seiner Interviews im Westjordanland im Jahr 1973 feststellen konnte.

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Fallrekonstruktionen von Hafez in Kap. 7.3 und Karim in Kap. 7.4.1). Die Annahme einer Wir-Gruppe war bei beiden Generationen so stark, dass bei Diskussionen über die Vergangenheit persönliche Erfahrungen in generelle historische Prozesse eingebunden wurden. Das wurde durch Formulierungen wie »wir gehören zu einer Generation …«, »alle von uns …«, »generell …« oder »wir …« ausgedrückt. Die Jahrgänge zwischen 1963 und den frühen 1970er Jahren werden von Lybarger (2005) als Erste Intifada-Generation bezeichnet. In der kleinen Nachbarschaft wurde der Diskurs durch die Generationseinheit13 derer bestimmt, die aktiv an der Intifada mitgewirkt hatten und im Zuge dessen häufig inhaftiert und gefoltert worden waren. Einigen wurden danach herausgehobene Rollen in der kleinen Nachbarschaft und in der Familie zuteil – zum Beispiel Mahmuds Bruder Ibrahim. Die Mitglieder dieser Generationseinheit thematisierten im halbprivaten Raum zuerst die Erfahrung und Gegenwart der israelischen Besatzung, unter der sie litten und gegen die sie Widerstand leisteten. Sie weiteten diese Argumentationen häufig zu allgemeinen Betrachtungen der politischen Lage in der Gegenwart aus und erklärten alle innerpalästinensischen Verwerfungen oder sozialen Ungleichheiten mit der Fremdbestimmung durch die Israelis. Mit der Intifada war auch eine Kritik an der älteren, der Jordanischen Generation verknüpft, die die israelische Besatzung widerstandslos akzeptiert habe: »Youths rebelled against their parents because of their parents’ subservience and surrender to Israeli rule. By defying their parents, they resisted the occupation. By defying Israel, they undermined the authority of the older generation and the values it represented.« (Yair/Khatab 1995: 103)14 Diese Kritik war bis in die Gegenwart meiner Beobachtungen erkennbar, wie ich weiter unten zeige. Die zweite relevante Generation in der kleinen Nachbarschaft bezeichne ich als Jordanische Generation, deren Mitglieder ca. zwischen 1940 und 1955 geboren

13 Karl Mannheim (1928: 311) definierte ›Generationseinheit‹ wie folgt: »[D]iejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene ›Generationseinheiten‹ im Rahmen desselben Generationszusammenhanges.« 14 Die Erste Intifada-Generation war auch in den Interviews nachzuweisen. Ohne weitere Interpretation sei der Anfang eines typischen Interviews angeführt, das ich 2013 in arabischer Sprache geführt habe: »Wir leben hier (2) in einem besetzten Land, wir unterliegen, in unserem ganzen Leben der Besatzung ((J: hm)), wir können überhaupt nichts machen, ohne ohne dass wir die Besatzung billigen=sei es bei der Arbeit bei der Bildung bei der=sogar bei der religiösen Praxis (2) ((J: hm)) ah unser Leben ist sehr schwierig, weil es die Besatzung gibt, ((J: hm)) die Besatzung macht, unser Leben noch schwieriger (

)

basiert auf dem Prinzip, dass es ein rein jüdisches Land ist ((J: hm)), und daher wollen sie alle Nicht-Juden von diesem Land verdrängen.« (Vgl. dazu ausführlicher Becker 2015)

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wurden (Becker 2013).15 Die Jordanische Generation kann im Sinne Mannheims als Generationseinheit gesehen werden, weil sie typisch für den Jerusalemer Altstadtkontext ist und von weiteren Generationseinheiten an anderen Orten auszugehen ist. Die Mitglieder dieser Generation entstammten aufgrund der weiter oben beschriebenen Austauschprozesse (vgl. Kap. 6.4) aus einer ärmeren sozialen Schicht in der Altstadt und haben ihre Kindheit und Jugend während der jordanischen Herrschaft über Jerusalem (1948-1967) verbracht (vgl. Kap. 5.1). Ihre Armut in der Kindheit war ihr formatives Erlebnis. Mit der Besatzung ab 1967 verbanden und verbinden sie bis in die Gegenwart vor allem einen wahrgenommenen wirtschaftlichen Aufschwung in den 1970er und frühen 1980er Jahren und eine verbesserte staatliche Absicherung (vgl. zur Periode nach 1967 Kap. 5.2). Sie zweifelten an der dominanten Argumentation der Mitglieder der Erste Intifada-Generation, dass die israelische Besatzung für alle sozialen Probleme verantwortlich sei. Vielmehr bemängelten sie den aktuellen Zustand der kleinen Nachbarschaft und der Altstadt als Ergebnis einerseits der israelischen Politik, andererseits der Ersten Intifada, die ihren hart erarbeiteten Wohlstand in Gefahr gebracht habe.16 Die Erste Intifada wurde für sie zum negativen Kontrapunkt. Seither habe, so die Interpretation aus der Gegenwart, eine Abwärtsspirale begonnen, die noch anhalte (vgl. Kap. 5.3). Die Angehörigen der Jordanischen Generation priorisierten also ökonomische Argumentationen gegenüber solchen von Besatzung und Widerstand, erhoben Anschuldigungen gegen die Mitglieder der Erste Intifada-Generation und delegitimierten deren Widerstand.17 Außerdem argumentierten sie, die nachbarschaftliche Gemeinschaft sei schwächer geworden, weil die jüngeren Generationen weniger Respekt vor den Älteren hätten.18 15 Beshara Doumani (1989), eigentlich ein Historiker, hat dasselbe Thema während seiner Feldforschung in einer Stadt im zentralen Westjordanland identifiziert. 16 Dass es sich um eine Generationseinheit handelt, wird beim Vergleich mit den von Ali Qleibo geführten Interviews mit Angehörigen aus ›alteingesessenen‹ Jerusalemer Familien deutlich. Qleibos (2014) Artikel trägt die Überschrift Jerusalem 1948-1967. La dolce vita. Darin erzählen die Interviewpartner/-innen vom kosmopolitischen Leben in Jerusalem in eleganten Hotels und Cafés in den 1950er und 1960er Jahren. Allerdings habe dieses ›kultivierte‹ Leben durch die zunehmende Emigration der ›alteingesessenen‹ Familien ein Ende gefunden. 17 Zur Formierung von Generationen durch intergenerationellen Dialog vgl. Rosenthal 2000. 18 Auch diese Generationseinheit konnte in Interviewanalysen identifiziert werden. Ein typischer Beginn eines Interviews, das auf Arabisch geführt wurde: »Die Lage die Stadt war hier war, unter jordanischer Herrschaft […] die Leute waren einfach, yaʿnī ihre Lebenssituation (2) war einfach, ((J: hm)) jeder arbeitete auf einem sehr einfachen Niveau, ein einfaches Leben.« Dann beschreibt der Interviewpartner die Zeit nach 1967 als die ei-

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Die Version, die die Jordanische Generation mit ihrem kollektiven Gedächtnis repräsentierte, war in der kleinen Nachbarschaft weniger mächtig als das kollektive Gedächtnis der Erste Intifada-Generation, was auch während meiner Feldforschung im ḥay sichtbar war. Die Mitglieder der Erste Intifada-Generation verboten zwar den Älteren nicht das Wort, aber die Älteren wurden für ihre Ansichten entweder öffentlich gerügt oder nicht ernstgenommen und kopfschüttelnd verlacht. Beide waren sich jedoch einig darin, dass mit der nachwachsenden jungen Generation noch weniger anzufangen sei – wirtschaftlich, politisch und moralisch. Dies möchte ich anhand meiner Beobachtungen in der kleinen Nachbarschaft verdeutlichen. Dass das Alter eine hohe Relevanz in der kleinen Nachbarschaft hatte, wurde mir bereits früh während meiner Beobachtungen bewusst, als Mahmud mir verschiedene arabische Anreden erklärte, die dem jeweiligen Alter des Gegenübers angemessen seien. Dass die historischen Generationen eine so wichtige Rolle in der kleinen Nachbarschaft spielten, war mir dagegen im ersten Jahr nur latent bewusst. So beschrieb ich in einem Protokoll aus dem Jahr 2011 ein Gespräch mit einem älteren Mann von vielleicht 65 Jahren, der meinte, die palästinensische Jugend sei »voller schlechter Energie«. In einer anderen Gesprächsnotiz habe ich notiert, ein Mann von vielleicht 40 Jahren habe sich beklagt, die Mitglieder jüngerer Generationen seien materialistisch, politisch könne man mit denen »keine Intifada machen«. Ich notierte zudem, dass Mahmud zu mir sagte, die Alten »taugen nichts und halten alles nur passiv aus«. Ich solle doch Abu Ali anschauen, der sage, dass er in Israel bleiben wolle, sollte ein palästinensischer Staat gegründet werden. Aufgrund der zwischen dem ersten und zweiten Aufenthalt erfolgten Analyse nahm ich die Generationenunterschiede beim zweiten Aufenthalt viel deutlicher wahr. So notierte ich gleich im ersten Protokoll, dass Mahmuds Bruder Anis mich sofort auf die ökonomischen Aufstiegsmöglichkeiten meiner Wissenschaftskarriere hinwies, während sich Mahmud beim Wiedersehen zunächst über die Besatzung beklagte. Das ist paradigmatisch, denn es enthält die oben vorgestellten, je wichtigsten Bestandteile der beiden historischen Generationen: Anis wurde 1955 geboren, schloss die Schule nicht ab und arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Gärtner bei nes ökonomischen Aufschwungs: »Ich sage Dir ehrlich yaʿnī ah, zwei drei Jahre danach [nach dem Krieg von 1967] ah öffnete sich die Lage der Tourismus verbesserte sich ((J: hm)) (2) ah gut, der Handel wurde offener ((J:hm)) und es gab Austausch die Leute hatten Geld […], das ökonomische Leben blühte und entwickelte sich […] das goldene Zeitalter, Jerusalems begann 1969 und ging bis 1985, ja.« Dieser Aufschwung endete für den Interviewpartner u.a. mit der Ersten Intifada: »Von da an, kehrten wir=an den Nullpunkt zurück, yaʿnī zu Beginn der Ersten Intifada blieben wir drei Monate ohne Arbeit, ok aber nicht nur ich ((J: hm)), generell es stagnierte alles überall […] und dies war langandauernd yaʿnī ahm, das war ah und das hatte sehr negative Auswirkungen ((J: hm)), auf das Sozialleben, von allen […] die ökonomische Lage verschlechterte sich.«

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der baladiya, wie die Westjerusalemer Stadtverwaltung auf Arabisch genannt wird. Mahmud war dagegen wiederholt während der Ersten Intifada inhaftiert. Er sagte, mehrere seiner älteren Brüder – wie Anis – fänden die Besatzung gut, weil sie wirtschaftlichen Aufstieg gebracht habe. Anis sei der erste gewesen, der nach 1967 ein eigenes Telefon und später eine Satellitenschüssel in der kleinen Nachbarschaft hatte und sei deswegen auch al-malik (König) genannt worden. Im Laden vertrat Anis seine Ansichten Mahmud und mir gegenüber sehr deutlich, was Mahmud teilweise in die Bredouille brachte. Die folgende Interaktion hat in ähnlicher Weise mehrmals zwischen uns stattgefunden: »Mahmud möchte Anis, wie häufig, halb im Scherz, halb ernsthaft überreden, zur sulṭa zu wechseln [zur Palästinensischen Autonomiebehörde als Arbeitgeber], aber Anis sagt, das Geld sei ihm wichtiger. Mahmud sagt, er arbeite lieber fürs Vaterland, als Geld zu verdienen, worauf Anis meint: kus uḫtak waṭani [die Fotze Deiner Schwester, mein Vaterland] – ihm sei es wichtiger, dass es der Familie gut geht und dass Geld reinkomme, er scheiße auf den Rest. Er steht neben den Chips, Mahmud und ich unten und Mahmud kommt näher zu mir und redet auf MICH ein.«

Wie häufig in meiner Gegenwart begann Mahmud mit seinem Bruder die Diskussion um seinen Arbeitgeber, obwohl er wohl wusste, dass seine Argumentationen Anis’ Einstellung nicht verändern würden und dieser seine Arbeit nicht aufgeben würde. Doch wahrscheinlich hatte Mahmud Sorge, dass durch Anis ein falsches Bild der kleinen Nachbarschaft vermittelt werden könnte, das deren Bewohner/ -innen als unpatriotisch und unpolitisch zeigt. Mahmud war rhetorisch dem formal sehr wenig gebildeten Anis deutlich überlegen, der sich aber in seiner provokanten Art gegenüber den jüngeren und gebildeteren Brüdern gefiel und diese deutlich in ihrem Nationalismus angriff. Die historischen Komponenten dieser beiden Generationszugehörigkeiten werden in einer weiteren Situation zwischen den Brüdern und mir im Laden deutlich sichtbar. »Während der jordanischen Zeit sei es hier Müll gewesen, sagt Anis. Das Teeren der Straßen hätten erst die Israelis gemacht. Es habe nur zwei Wasserstellen gegeben, und man habe täglich dort runterlaufen müssen. Das einzige Telefon in der Nachbarschaft sei irgendwo hier in der Straße gewesen. Mahmud kenne ja das nicht mehr, der sei ja erst danach geboren, der könne das nicht nachvollziehen. […Beim Krieg von 1967 hätten] die jordanischen Soldaten immer ein bisschen Brot dabeigehabt, während die israelischen einen ganzen Gürtel mit Essen und Trinken dabei hatten. [Anis argumentiert weiter mit einem Vergleich mit den teuren Preisen in der Gegenwart. Mahmud wirft ein,] dass die Besatzung schuld sei, wenn Palästina ein eigenes Land wäre, dann wäre alles anders. Anis lacht nur. Die Palästinenser müssten erst einmal ihre eigene, innere Besatzung aufgeben. Der Dieb [in der Nachbarstraße wird ein kleines Geschäft zur 2-Zimmer-Wohnung umfunktioniert] verlange für einen Müllhaufen an

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Wohnung 2.000 NIS (ca. 400€). Mahmud sagt, sie hätten eben kein Geld. Räuber seien es, sagt Anis. […] 95 Prozent der Jerusalemer Araber würden die israelische Staatsbürgerschaft bevorzugen, wenn sie die Wahl hätten: ta‘amīn, šaiḫūḫa, bikur holim [die Sozialversicherungen] – das bekomme man nicht im Westjordanland. Als Anis sich warmgeredet hat, läuft sein Bruder Ibrahim vorbei. Anis geht vor den Laden und ruft ihm auf Hebräisch Schalom und Hag Sameach [frohes Fest] hinterher. Ibrahim regt sich auf, dreht sich um und gestikuliert.«

Während Anis die Armut der jordanischen Zeit brandmarkte, die für ihn positive Anfangszeit der Besatzung nach 1967 herausstellte und die Schuld für die Misere der Gegenwart auch Palästinensern anlastete, denen er Wucherei und Korruption vorwarf, hielt Mahmud die dominante Diskursfigur aufrecht, dass die Besatzung für die Probleme innerhalb der palästinensischen Gesellschaft verantwortlich sei. Nicht alle Mitglieder der Jordanischen Generation in der kleinen Nachbarschaft vertraten diese Ansichten so offensiv nach außen wie Anis. Vielleicht lag dessen Offenheit an seiner Zugehörigkeit zur bestimmenden Familie. Aber auch in Gesprächen mit anderen im ḥay traten die Generationszugehörigkeiten zutage. Das wurde bei einer Interaktion zwischen dem blinden Abu Ali, Mahmud und mir deutlich, als Abu Ali vor dem Laden und in meiner Gegenwart von Mahmud, dem deutlich Jüngeren, strikt belehrt wurde. Diese Situation, die zu Beginn meines Aufenthaltes im Frühjahr 2013 stattfand, war für Mahmud ähnlich provozierend wie zuvor die mit seinem Bruder Anis: »Am ersten Tag regnet es sehr. Mahmud erklärt mir, dass die alten Menschen das ›Olivenregen‹ genannt hätten, es sei die Zeit der Olivenernte und gut für den Boden. Er habe gehört, dass die Juden es Pessachregen nennen, so habe jeder seine Erklärung. Abu Ali begrüßt mich euphorisch. Das sei der Regen für die Festtage der Juden. Mahmud unterbricht ihn und sagt, nein, das sei der Olivenregen, er erinnere sich doch sicher daran, dass das so genannt wurde, als er jung gewesen sei. Als Abu Ali seine Seven Up kauft und wieder gehen will, tapst er mit seinem Stock an die Süßigkeitenauslage heran und sagt, dass alles ok sei oder beseder, wie die Juden sagen würden. Das wiederholt er zweimal. Ich frage mich, ob er das mit Absicht gemacht hat. Mahmud springt auf: Das würden die Juden vielleicht sagen, aber er solle doch das arabische Wort benutzen.«

Die Zugehörigkeit zu historischen Generationen (zur Jordanischen Generation und zur Erste Intifada-Generation) gehörte zu den die Alltagsinteraktionen prägendsten Elementen der kleinen Nachbarschaft. Sie formierte sich aus dem jeweiligen historischen Erleben. Die nach historischen Generationen unterschiedlichen Interpretationen der Gegenwart waren aber in der kleinen Nachbarschaft nicht so problematisch wie andere Themen, weil sie zwar Unterschiede der Bewohner/-innen aufzeigten und teilweise auch den harmonischen Diskurs störten, aber das Gemeinwesen und das Zusammenleben in der kleinen Nachbarschaft nicht gefährdeten.

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7.2.5

Umkämpfte Mietverhältnisse, Gerüchte und Siedlungen

Wohnen, Mieten und Grundbesitz in der Altstadt sind häufig äußerst umstritten. Durch diffuse rechtliche Rahmenbedingungen, die durch vier unterschiedliche politische Systeme in den vergangenen einhundert Jahren beeinflusst wurden, sind die bereits zuvor komplizierten Besitzverhältnisse in der Altstadt noch undurchsichtiger geworden und werden von verschiedenen Akteuren zu ihrem privaten und politischen Vorteil ausgenutzt: »[L]and laws are based on an array of Ottoman, British, Jordanian and Israeli legislation, tradition and practice. Unlike other parts of the Jerusalem conurbation, the Old City has no systematic form of ownership registration. Some ›owners‹ have the right to use and bequeath land through a judicial ruling, key money or a mortgage without the property being registered in their name. With no clear proof of ownership for many properties, protracted legal disagreements are common.« (Bagaeen 2004: 12)

Bei meinen Beobachtungen wurde deutlich, wie Besitzverhältnisse und politische Maßnahmen das Wohnen in der kleinen Nachbarschaft beeinflussten – dies zeige ich an unterschiedlichen Beispielen auf. Dabei geht es einerseits um die Präsenz von israelischen Siedlungen und ihre Auswirkungen auf die alltäglichen nachbarschaftlichen Interaktionen und die Definitionen von Nachbarschaft. Die israelische Besatzung hatte Auswirkungen auf die Konstitution der kleinen Nachbarschaft und bildete somit ein zentrales Thema in den alltäglichen Aushandlungen. Andererseits geht es in diesem Abschnitt um Verhandlungen von Eigentum und Miete in der kleinen Nachbarschaft, die verschiedene Vorurteile innerhalb der palästinensischen Gruppierung ans Licht bringen. Gerüchte um Hausverkäufe an die Israelis spielten eine wichtige Rolle und schafften teilweise ein Klima der Angst. Zunächst zu den für viele Nachbarschaftsbewohner/-innen aufreibenden Ereignissen und Erzählungen rund um den schräg gegenüber dem Laden liegenden Innenhofkomplex. In diesem Innenhof wohnten beinahe ausschließlich christliche Familien (unter anderem Sana und ihre Familie, vgl. Kap. 7.4.3). Die muslimische Besitzerin des Innenhofs hatte vor 20 Jahren sogar zwei muslimische Mietparteien über Gerichtsverfahren räumen lassen. Seitdem habe sie und später ihr Sohn – so hieß es – ihren Wohnraum nur an Christen vermietet, weil sie der Ansicht gewesen sei, diese seien ruhiger und bereiteten weniger Probleme. Selbst als Mahmuds Familie eine »sehr ruhige und ökonomisch gut gestellte« Verwandte als Mieterin vorschlug, habe die Vermieterin das nicht akzeptiert. Dies zeigt, wie die negativen Zuschreibungen an die Altstadtbewohner/-innen selbst durch Mitglieder der eigenen Gruppierung in der Altstadt reproduziert wurden. Unter den christlichen Mietern, darunter viele Nonnen, gebe es aber eine relativ hohe Fluktuation, weil sie letztlich

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»doch etwas anderes suchten«, so Anis. Ich habe nur einmal aus jenem ḥauš (Innenhof) zwei Nonnen herauskommen und grußlos auf der Straße verschwinden sehen – ungewöhnlich in der kleinen Nachbarschaft. Obwohl mir gegenüber stets die harmonischen Beziehungen der Nachbarschaftsbewohner/-innen versichert wurden, stellte sich auch die Frage, wie sich eine solche Vermieterpolitik auf das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in der kleinen Nachbarschaft auswirkte (vgl. dazu das folgende Kap. 7.2.6.). Die muslimische Besitzerin selbst hatte bis zum Krieg von 1967 in dem Innenhof gewohnt und war danach in eine mehrheitlich christliche Nachbarschaft gezogen, wo sie vor ungefähr zehn Jahren starb. Obwohl sie zahlreiche Kinder hatte, hat sie den Innenhof in Gänze an jenen ihrer Söhne vererbt, der vor gut 30 Jahren in die USA ausgewandert war. Im Innenhof wohnten auch mindestens eine ihrer Töchter und einer ihrer Söhne, die jedoch die gleiche Miete wie alle anderen zahlten. Die im Innenhof wohnende Tochter agierte als Verwalterin und trieb Miete und Rechnungen ein. Weiterhin wohnte dort ein älteres muslimisches, kinderloses Ehepaar in seinen Sechzigern, das nach 30 Jahren von dem Sohn in den USA die Kündigung erhalten hat, weil eine weitere seiner Schwestern einziehen wollte. Doch sein auch im Haus wohnender Bruder hatte gegen das bereits lange in Kraft getretene Testament bzw. seinen Bruder in den USA geklagt, im September 2013 aber das Gerichtsverfahren in erster Instanz verloren. Nun ging das Gerücht um, der in den USA lebende Bruder habe das Haus bereits an »die Juden« verkauft. Mahmud schimpfte auf die Palästinenser, die »draußen« wohnten, also außerhalb Palästinas. In den USA sei es vielleicht normal, mit Juden zu handeln, aber sie müssten sich in die Lage in Jerusalem hineinversetzen, wo um Quadratzentimeter gerungen werde. Ob dem Besitzer die 500 Dollar Miete pro Partei nicht reichten? Gerüchte machten in der kleinen Nachbarschaft die Runde, dass bereits ein Architekt gekommen sei, um das Haus zu vermessen. Es solle eine Synagoge für 50 bis 60 Gläubige entstehen. Zwei Tage später rief Mahmuds Bruder Ibrahim als Nachbarschaftsvertreter den Bruder in den USA an. Dieser habe abgestritten, das Haus verkauft zu haben. Er habe lediglich seinen Bruder gedrängt, entweder die von ihm ausstehende Miete zu bezahlen oder auszuziehen. Deswegen streue dieser Gerüchte, er habe das Haus verkauft. Aussage stand gegen Aussage und niemand wusste, was passieren würde. Wenige Tage vor meiner Abreise im Oktober 2013 ging ein weiteres Gerücht um: Es habe eine neuerliche Berufungsverhandlung gegeben, bei der festgestellt worden sei, dass das Testament teilweise gefälscht gewesen war. An dieser Begebenheit werden ein weiteres Mal die Strukturen des Nachbarschaftslebens deutlich. Nicht Familienangehörige oder Bewohner/-innen des besagten Innenhofkomplexes traten in Austausch mit dem Eigentümer in den USA, sondern Ibrahim, der sich somit für die kleine Nachbarschaft verantwortlich zeigte bzw. aufgrund seiner Position in Familie und kleiner Nachbarschaft diese Verantwortlichkeit zeigen musste. Eine so große Siedlung in der kleinen Nachbarschaft

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hätte das soziale Leben dort nachhaltig geändert. Die Gerüchte erzeugten Misstrauen und Ängste innerhalb des ḥay und innerhalb der Familien.19 Es war nicht das erste Mal in der kleinen Nachbarschaft, dass Gerüchte um Wohnungsverkäufe gestreut wurden, sei es, um Rufmord zu betreiben oder um zu einer Mobilisierung der Einwohner/-innen beizutragen. Ein ähnlicher Vorfall hatte bereits im Frühjahr 2013 dazu geführt, dass sich die Brüder der einflussreichen Familie in der kleinen Nachbarschaft gemeinsam dazu entschlossen, ihr Familienanwesen als Familienwaqf (religiöse Stiftung, vgl. S. 150) registrieren zu lassen. Mahmud erklärte, man wisse ja nicht, wie die Generation der Kinder einmal denke, deswegen wollten sie sich absichern, dass ihr Besitz in arabischer Hand verbleibe – wieder trat das oben diskutierte Misstrauen zwischen den Generationen zutage, das nicht dem harmonischen Bild der kleinen Nachbarschaft entsprach. Ein oder zwei Jahre zuvor hatte ein Bewohner der kleinen Nachbarschaft nach einem Erbstreit mit seinem Bruder seinen Teil des Hauses an einen Mittelsmann verkauft, der ihn wiederum an eine israelische Siedlerorganisation veräußerte. Inzwischen ist dort eine Siedlung entstanden. Wie ist das Verhältnis der Palästinenser/-innen in der kleinen Nachbarschaft und denen, die ungefähr 25 Meter vom Laden entfernt in der Siedlung wohnen? Eines der zentralen Ergebnisse des DFG-Projektes, in das ich eingebunden war, war die Identifikation eines dominanten Wir-Diskurses innerhalb der palästinensischen Gruppierung zur gegenseitigen Bestätigung ihrer Einheitlichkeit und Konfliktfreiheit (Hinrichsen/Rosenthal/Worm 2013; Rosenthal 2015a, b). Bereits weiter oben beschrieb ich, dass ein ähnlicher Diskurs auch in der kleinen Nachbarschaft griff. Ständig wurde betont, wie gut das Verhältnis der Menschen in der kleinen Nachbarschaft sei; es gebe keinerlei Probleme, und wenn es welche gebe, dann liege deren Grund in der israelischen Besatzung. Doch es gab einen kleinen, aber wichtigen 19 Einige Wochen vor einem kurzen Besuch in der kleinen Nachbarschaft im Herbst 2016 – nach Abschluss meiner Feldforschung – war eine plötzliche Änderung eingetreten: Eine siebenköpfige Familie, die in einem mehrstöckigen Gebäude im hinteren Teil eines anderen gegenüber dem Laden liegenden Innenhofes wohnte, hatte ihren Besitz an eine Siedlerorganisation verkauft und eines Nachts die Nachbarschaft verlassen. Bereits am darauffolgenden Morgen waren mehrere jüdische Siedlerfamilien eingezogen. Welche Auswirkungen diese neue Siedlung auf das Zusammenleben in der Nachbarschaft hat, war bei meinem Besuch noch nicht ganz abzusehen. Nachdem es zu Beginn nach provokantem Auftreten dieser Familien zu mehreren gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen war, hatte sich das Nebeneinanderleben bei meinem Besuch etwas beruhigt. Interessanterweise verknüpften die Bewohner/-innen der Nachbarschaft mit der Übernahme dieses Hauses auch einen Zugehörigkeitskonflikt. Die Familie, die das Anwesen verkauft hatte, sei erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aus einem Gebiet im Irak nach Palästina migriert, habe sich aber nie als palästinensisch verstanden.

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Unterschied zum palästinensischen Wir-Diskurs. Die räumliche Enge ließ es nicht zu, dass einzelne Gruppierungen vollständig aus dem Nachbarschaftsleben ausgeblendet wurden. Die Figuration der Bewohner/-innen der Nachbarschaft und der Siedler/-innen erwies sich als komplex. Man hatte Kontakt, ob man wollte oder nicht. Daher wurden selbst die Siedler/-innen bis zu einem gewissen notwendigen Grad in diesen Nachbarschaftsdiskurs eingeschlossen, wobei ihre Stellung darin fluktuierend war; zwischen einer gewissen Einbindung in die kleine Nachbarschaft und ihrem weitgehenden Ausschluss. Abbildung 9: In einer palästinensischen Altstadtnachbarschaft: palästinensische Kinder links, jüdische Kinder rechts

Abbildung: Johannes Becker

Die Nachbarschaftsbewohner/-innen benannten die Siedler/-innen, die sie kannten, bei ihrem Namen. Einer von ihnen, Udi, komme ursprünglich aus Marokko, weigere sich aber, Arabisch zu sprechen. Mahmud sagte, er würde ihm und seiner Frau regelmäßig etwas verkaufen, schließlich müssten selbst Siedler/-innen Kinder ernähren. Sie würden als Mitglieder des ḥay akzeptiert, argumentierten er und einige andere. Akzeptanz hieß in diesem Fall: Ihre Präsenz im ḥay wurde hingenommen und nicht aktiv bekämpft. Es wurde akzeptiert, dass sie Mahmuds Laden nutzten und dass es zum Austausch von Grußformeln kam. Neulich, so erzählte Mahmud einmal, sei Udi zu ihm gekommen und habe Gas kaufen wollen. Udi habe Mahmud nicht geglaubt, dass Gas nur 110 NIS – das sei sein ehrlicher Preis – koste und nicht

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120 NIS, der Preis, den Udi woanders bezahlen müsse. Deswegen habe Udi sich auf den Arm genommen gefühlt und sei wieder gegangen. Aber anscheinend überschritt Udi auch die unausgesprochenen Grenzen der Nachbarschaftseinbindung der Siedler: Er habe die Nachbarn zur Hochzeit seiner Tochter eingeladen, aber sie hätten absagen müssen – am Ende gehörten die Siedler/-innen nicht hierher und müssten irgendwann gehen, es seien nicht ihre Häuser. Aber sie würden einander nicht hassen. Wichtig hieran ist, festzuhalten, dass verbal immer wieder die minimale Inklusion in die kleine Nachbarschaft angedeutet und somit das harmonische Nachbarschaftsleben als vorrangig vor dem Nahostkonflikt konstruiert wurde. Dieses Bild wurde durch beispielhafte humane Geschichten aufrechterhalten: »Einmal sei ein kleines Siedlerkind, vielleicht vier Jahre alt, gekommen und habe ihn am Hosenzipfel gehalten, weil es Eis kaufen wollte. […] Dann sei der Guard der Siedlung gekommen, weil nach dem Kleinen überall gesucht wurde. Sie hätten nicht gewusst, wie er habe entkommen können. Mahmud sagt, sie würden doch einem Kind nichts tun.«

Durch diese Erzählung wurde ausgedrückt, dass ein Kind aus der Siedlung den gleichen Schutz genießt wie die Kinder anderer Nachbarschaftsbewohner/-innen. Die Siedler/-innen schienen dieses Minimum an Vertrauen zurückzugeben und die palästinensischen Nachbarschaftsbewohner/-innen zu verteidigen: »Er erzählt, dass die Siedler sie gegenüber den Soldaten verteidigt hätten, als die Soldaten gekommen seien. Kinder hätten Steine geschmissen und sich dann versteckt. Die Soldaten seien zu seinem Shop gekommen und wollten die Hände von allen sehen. Er habe gesagt, er sei jetzt vierzig Jahre alt und werfe keine Steine mehr. Die Siedler seien gekommen und hätten gesagt, sie sollen die Araber in Ruhe lassen, denn die würden keine Probleme machen.«

Doch diese Beziehung war, wie weiter oben bereits angedeutet, fragil und konnte stark fluktuieren. Während Mahmud im letzten Zitat aus einem Beobachtungsprotokoll aus dem Jahr 2012 den nachbarschaftlichen Zusammenhalt höher bewertete als die Anordnungen der Organe der Besatzungsmacht, stellte sich dies im Frühjahr 2013 anders dar, als ich folgende Situation bei meinen Beobachtungen aufzeichnete. Die Rolle des Siedlers Udi hatte sich seither vollständig gewandelt: »Anis schreit auf einmal laut durch die Straße und rennt zwei Siedlern hinterher, die ein Kind begleiten. Die Siedler hätten einen kleinen Jungen zu Boden geworfen und seien auf ihn draufgetreten. Anis und andere wollen sie bei der Polizei melden. Ich frage Mahmud, ob das nicht verlorene Zeit sei, schließlich sei die Polizei auf Seiten der Siedler. Er druckst ein wenig rum: Am Ende sei es doch eine Demokratie. So habe es hier Udi gegeben, einen Siedler, der immer brutal gewesen sei. Dieser sei auf Druck der Bewohner/-innen des ḥay von seinen Genossen verstoßen worden.«

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Die Siedler/-innen agierten offenbar mit körperlicher Gewalt gegen andere Bewohner/-innen der kleinen Nachbarschaft. Dieser Vorfall bewegte die Beteiligten zu einer diametral entgegengesetzten Reaktion: Nun waren es die Institutionen der Besatzungsmacht – die Polizei –, die die Siedler/-innen zurückhalten sollten. Zudem wurde Udi, der im Jahr zuvor noch als einer der offeneren Siedler beschrieben worden war, als besonders gewaltvoll dargestellt. Was die veränderte Zuschreibung an ihn hervorgerufen hat, blieb mir verborgen. Gleichzeitig wurden die Bewohner/ -innen als aktive Kraft eingeführt, die einzelne unliebsame Personen durch Ausübung von Druck entfernen können (obwohl es etwas zweifelhaft ist, dass es auf ihren Einfluss zurückzuführen ist, dass Udi aus der Siedlung auszog). Das heißt, auch mit ihrem Bestreben, Udi aus der kleinen Nachbarschaft zu entfernen, ging es nicht darum, alle Siedler/-innen zu vertreiben, sondern um einen, der für die Nachbarschaftsbewohner/-innen die Regeln des Zusammenlebens so stark verletzt hat, dass sie gegen ihn aktiv werden mussten. Es ist also eine Hierarchisierung der Zugehörigkeit zur kleinen Nachbarschaft erkennbar – von passiver Akzeptanz bis hin zur aktiven und gestaltenden Rolle des Nachbarschaftsdiskurses und -lebens. Dass Nachbarinnen oder Nachbarn, selbst nur rhetorisch, vollständig ausgeschlossen wurden, habe ich sehr selten erlebt. Diese breite Minimaldefinition, was die Nachbarschaftszugehörigkeit anbelangt, schien trotz der großen Unterschiede notwendig zu sein, um ein erfolgreiches alltägliches Nebeneinander auf jenem engen Raum zu ermöglichen. Nur der gerade vorgestellte Siedler Udi sowie zwei Palästinenser, von denen einer einen Teil seines Hauses an Siedler verkauft hatte und der andere mir gegenüber als Lügner und Dieb bezeichnet wurde, wurden rhetorisch vollständig aus der kleinen Nachbarschaft ausgeschlossen. Das heißt, es wurden (zumindest in der Interaktion) nur diejenigen vollständig ausgeschlossen, die in den Augen der Nachbarschaftsbewohner/-innen ethisch oder unmoralisch gehandelt haben und die kleine Nachbarschaft dauerhaft hätten schaden können. 7.2.6

Diskursive Verneinung religiöser Diskriminierung

Bereits zu Beginn meiner Beobachtungen war mir die große Bedeutung von Religion in der kleinen Nachbarschaft aufgefallen. Der Haram aš-Šarīf (Tempelberg) sei der Mittelpunkt der Welt, sagte der Hausmeister eines Hotels, gleich als er mich im Laden kennenlernte und zitierte als Beweis einen theologischen Text. Ein weiterer regelmäßiger Gast im Laden, Umar, versuchte, mich in theologische Gespräche zu verwickeln und mich in die Moschee mitzunehmen. Schließlich bat er mich offen zu konvertieren. Die Gebetszeiten und der Haram aš-Šarīf bestimmten das alltägliche Leben vieler Nachbarschaftsbewohner/-innen. Einige der älteren Männer gingen schon morgens bei Sonnenaufgang in die Masǧid al-Aqṣā (al-Aqsa-Moschee)

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und blieben dort bis zum zweiten Gebet. Wenn die Bewohner/-innen mit mir sprachen, dann legten sie stets Wert darauf – Christen und Muslime –, die Heiligkeit Jerusalems für die jeweils andere Religion zu betonen. So erwähnten die meisten Muslime in der kleinen Nachbarschaft, dass sie schon einmal die Grabeskirche besucht hätten, und die Christen verwiesen auf die religiöse und nationale Bedeutung des Haram aš-Šarīf. Diese Anerkennung der religiösen Bedeutung der Altstadt war in der kleinen Nachbarschaft mit einem weiteren Element des Nachbarschaftsdiskurses verbunden: Die Bewohner/-innen betonten mir gegenüber, dass es keine Probleme zwischen Christen und Muslimen gebe, auch die Juden hasse man nicht, sondern nur die Besatzung bzw. den Zionismus. In den christlichen Vierteln würden viele Muslime wohnen und in der eigenen kleinen Nachbarschaft zahlreiche christliche Familien. Sektierertum gebe es in Jerusalem nicht und vor allem nicht im ḥay. Die christlichen und muslimischen Nachbarn würden sich ganz im Gegenteil regelmäßig besuchen. Dieser Diskurs wurde früh eingeübt: Ich unterhielt mich mit Ahmad, Privatschüler und Ringer in der palästinensischen Jugendauswahl. Er, sein Nachbar und dessen Bruder bildeten eine Clique von 14-jährigen. Sie betonten, dass sie mit den Christen ein gutes Verhältnis hätten – in der kleinen Nachbarschaft wohnten sie ja nebenan. Man lebe zusammen, besuche sich zu den Festen und verbringe Weihnachten gemeinsam in Bethlehem, »da feiern wir mit Euch«, sagten sie. Diese Argumentation wurde im Rahmen der Forschungen im DFG-Projekt in sehr ähnlicher Weise auch für die Region Ramallah im Westjordanland aufgezeigt. Dort ist aber deutlich geworden, dass hinter diesem harmonisierenden Diskurs auch Diskriminierungserfahrungen verdeckt sein konnten und er somit brüchig war (Hinrichsen/ Becker/Rosenthal 2015). Waren diese Brüche auch in der kleinen Nachbarschaft zu beobachten? Als ich Mahmud mit der direkten Frage konfrontierte, ob er nicht glaube, dass es Diskriminierungserfahrungen auf Basis der Religionszugehörigkeit gebe, antwortete er mir, dass dies generell eine Frage sei, die man nicht stelle. Ich könne sie ihm nur deswegen stellen, weil ich ihn gut kannte. Beinahe beiläufig formulierte er eine Grenze, die ich in meinen Forschungen besser nicht überschreiten sollte. Diese Warnung bedeutete, dass er das Thema für so heikel hielt, dass es zum Gesprächsabbruch führen könnte. Dazu ist es aber nie gekommen, weder im halbprivaten Raum der kleinen Nachbarschaft noch in Interviews, in denen die Interviewpartner/-innen zum Teil selbst auf dieses Thema eingegangen sind (vgl. Kap. 7.4.3). Aber Mahmuds Warnung deutet darauf hin, wie aufgeladen diese Frage für ihn war bzw. für wie aufgeladen er sie erachtete, was in Jerusalem auch damit zu tun hat, dass extreme Vertreter/-innen der drei Buchreligionen ihrer jeweiligen Religion die Vorherrschaft in der Stadt sichern wollen. Beiläufige Überschreitungen dieser Diskursgrenze hat es immer wieder gegeben. Eine typische ist die sprachliche Trennung von ›Christen‹ und ›Arabern‹ – dass

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also der Begriff ›Araber‹ mit der Bezeichnung ›Muslim‹ gleichgesetzt wurde und die Christen nicht ›dazugehören‹.20 Einen deutlichen Bruch des Diskurses habe ich im halbprivaten Raum der kleinen Nachbarschaft nur einmal erlebt: Der jüngere Bruder des oben erwähnten Eliteschülers Ahmad begegnete mir mit einem Freund auf der Straße und fragte mich, ob ich Muslim oder Christ sei. Die meisten in Deutschland seien Christen, antwortete ich. Das sei mein Pech; sie rezitierten eine Koransure, sagten, dass ich ein kāfir (Ungläubiger) sei und Christen am Ende in die Hölle kämen. Dabei lachten sie und ich entschied mich, nur zu sagen, dann sei dies eben so und weiterzugehen, statt mich auf eine weitere Diskussion einzulassen, die ich auf Arabisch sowieso nicht hätte führen können. Als ich Mahmud diese Begebenheit erzählte, rief er aus: »Das habe er noch nie gehört, das könne nur ein Kinderwitz sein. Er sage immer zu seiner christlichen Nachbarin, dass sie hierbleiben solle, weil sie hier wenigstens ihre Nachbarn kenne. Eine andere Christin namens Lydia habe hier gewohnt, die sei dann weggezogen, sie habe danach zu ihm gesagt, hier sei der schönste Abschnitt ihres Lebens gewesen.«

Mahmud konterte meine Erzählung sofort mit einem Zeugnis, das aussagt, dass die nachbarschaftliche Zugehörigkeit harmonisch sei und auch Christen diese Einbindung als so harmonisch wahrnähmen. Gleich danach fügte er eine weitere Erzählung an: Der Enkel seines Bruders Ibrahim besuche eine christliche Schule, von der ein christlicher Junge suspendiert werden sollte. Der Junge habe daraufhin den ungewöhnlichen Wunsch geäußert, an eine muslimische Schule zu wechseln. Der Rektor stimmte zu. Zuletzt habe die Mutter aber mit der christlichen Schule eine letzte Chance für ihren Sohn aushandeln können. Das sei doch ein klares Beispiel dafür, dass es keine Diskriminierung zwischen den Religionen gebe. Yunis argumentierte in einem Gespräch mit mir über die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in Jerusalem, es seien die mangelnden Interaktionen zwischen Christen und Muslimen, die den ersteren Angst machten. Das kann ich für die kleine Nachbarschaft nicht bestätigen. Dort kam es zu vielen Begegnungen zwischen christlichen Familien, die in der kleinen Nachbarschaft wohnten, und ihren muslimischen Nachbarn. Wie bereits in vorangegangenen Abschnitten festgestellt wurde, sind ständige Interaktionen in der eng bebauten kleinen Nachbarschaft für einen gelingenden Alltag notwendig und werden eingefordert. Doch in meinen Beobachtungsprotokollen scheint auf, dass das Interesse, mehr über den jeweils anderen zu erfahren, gering blieb und dadurch implizite Annahmen und bewusste Zuschreibungen kaum aufgeklärt und revidiert wurden. So wurde mir gegenüber häufiger ausgedrückt, Christen würden ja alle bei christlichen Arbeitgebern unterkom20 In Abschnitt 7.2.8 werde ich auf eine Situation eingehen, in der Mahmud seine Ehefrau in meiner Gegenwart für diesen Sprachgebrauch gerügt hat.

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men, womit die Einschätzung verknüpft war, diese hätten aufgrund des ausländischen Einflusses auf die christliche Community einen besseren Verdienst. Dabei waren zahlreiche Christen, mit denen ich in der Altstadt gesprochen habe, arbeitslos oder verrichteten nur Tagelöhnerarbeiten. Ein weiteres heikles Thema, das zeigen auch meine Interviews, scheint die Zersplitterung der christlichen Gruppierung in mehrere Denominationen zu sein. Manchen Muslimen war nicht bewusst, dass die orthodoxen und die römischen Osterfeiertage häufig terminlich auseinanderfallen. Von denen, die etwas mehr darüber wussten, wurde leicht hämisch über die Streitigkeiten zwischen verschiedenen Denominationen in der Grabeskirche berichtet. Anis wusste, dass die im gegenüberliegenden Innenhof wohnenenden Eheleute Sana und Anthony unterschiedlichen christlichen Denominationen zugehören und schob ihre ehelichen Probleme auf diese Tatsache. Sana selbst dagegen machte sich Sorgen, wie ihre Kinder ihren muslimischen Bekannten in der kleinen Nachbarschaft erklären sollten, dass die Christen teilweise in unterschiedlichen Wochen fasteten und an unterschiedlichen Tagen Ostern feierten. Während diskursiv in der kleinen Nachbarschaft stets betont wurde, dass die nachbarschaftlichen Verbindungen von Christen und Muslimen eng seien, wurde anhand der tabubehafteten Fragen deutlich, dass dieser Diskurs brüchig war. Zwar kam es zu täglichen Interaktionen zwischen Christen und Muslimen in der kleinen Nachbarschaft, aber das gegenseitige Wissen voneinander blieb beschränkt. 7.2.7

Getrennter halbprivater Raum für Frauen und Männer?

Eugen Wirth (2000: 378) schreibt in seinem voluminösen Werk über die orientalische Stadt: »Für Männer sind Nachbarschaftsbeziehungen im Wohnumfeld unbedeutend; die Interaktion zwischen Nachbarn ist eher zufällig und unstrukturiert. Für die Frauen hingegen ist die Nachbarschaft von zentraler Bedeutung; die Netzwerke im nachbarschaftlichen Wohnumfeld strukturieren den sozialen Alltag der Frau ganz entscheidend und tiefgehend.«

Diese stark essentialisierende Annahme hat sich im Kontext meiner Feldforschung insofern als falsch erwiesen, als die kleine Nachbarschaft gerade für ihre männlichen Mitglieder eine wichtige Rolle eingenommen hat. Es ist sogar sehr auffallend gewesen, dass, wenn ich nachmittags in Mahmuds Laden war, die Interaktionen beinahe ausschließlich von Männern bestritten wurden, die sich länger in der Nähe des Ladens aufgehalten haben. Dabei hat sich mir eher die Frage gestellt, warum ich Frauen viel weniger im mir zugänglichen halbprivaten Raum der kleinen Nachbarschaft wahrgenommen habe. Abu Alis alleinerziehende Tochter war neben einigen weiblichen Verwandten Mahmuds die einzige Frau, die für ein kurzes Gespräch

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verweilte. Mahmud sagte in ihrer Gegenwart, sie, die im gleichen ḥauš (Innenhof) wohnte, sei wie eine Schwester und die einzige, von der er Kaffee oder Tee annähme. Es scheint, dass es nur wegen der Zugehörigkeit zum gleichen Innenhof zu diesen Interaktionen im halbprivaten Raum des Ladens kam. Nur selten bin ich morgens am Laden vorbeigekommen, wenn Mahmuds Frau, Umm Maher, den Laden geöffnet hielt. Ich sah, dass dort einige Frauen um den Ladeneingang versammelt standen, erwiderte einige Grußformeln, aber empfand es als nicht angemessen, dort stehenzubleiben und ein längeres Gespräch zu beginnen, was für mich auch durch die längere Pause nach dem üblichen Smalltalk bedeutet wurde. Ich habe also die ›Männertageshälfte‹ im Nachbarschaftsleben ausführlich portraitiert, während die ›Frauentageshälfte‹ mir weitgehend verschlossen blieb. Nur einmal blieb ich morgens länger im Laden, als Umm Maher alleine dort war. Ich half ihr spontan beim Verkauf, weil Mahmud zu spät aus der Schule kam und viele Schüler für Süßigkeiten anstanden. Kurz darauf begann sie, sich gegenüber mir über die ›Männergesellschaft‹ zu beklagen, die es traditionellerweise in den arabischen Ländern gebe. Es gebe bei ihnen keine Selbstverwirklichung wie bei uns, nur die Erfüllung von Pflichten. Schon oft habe sie gedacht, warum sie nach dem ältesten Sohn Maher statt zwei Mädchen keinen zweiten Jungen geboren habe. Mädchen würden zwar als Menschen wahrgenommen werden, aber nicht vollständig ernstgenommen, und das schmerze manchmal. Als sie für die ›kleine Pilgerfahrt‹ (ʿumra) in Saudi-Arabien gewesen seien, hätten Frauen zum Beispiel nur eine Stunde am Tag die Kaʿba umrunden dürfen, bedeutend kürzer als die Männer. Frauen seien einfach weniger wert. Die Unterordnung habe aber auch ihr Gutes: Bei uns im Westen gehe es ja nur um den individuellen Erfolg, zuerst käme ich und dann ich und dann ich. Sie selbst habe sich nur zum Ziel gesetzt, sich weiterzubilden. Als Mahmud eintraf, verstummte sie sogleich, und ich raunte ihr später lediglich noch zu, dass ich sie verstanden hätte. Es war ein Nachteil der teilnehmenden Beobachtungen, dass ich sie nicht tageszeitlich ausdehnen konnte. Doch diese ›Männerlastigkeit‹ zieht sich durch mein gesamtes Sample. Obwohl ich mich in der kleinen Nachbarschaft und auch in anderen Kontexten um Interviews mit Frauen bemüht hatte, wurde es mir häufig erschwert, Interviewtermine zu vereinbaren. Das deutet darauf hin, dass dies ein strukturelles Problem ist und nicht nur eines meiner persönlichen Forschungsweise. Im folgenden Abschnitt, der von den teilnehmenden Beobachtungen zu der Analyse der biographisch-narrativen Interviews überleitet, geht es um diese und andere Schwierigkeiten, in einem sozial stark kontrollierten Umfeld bestimmte Interviews zu organisieren.

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7.2.8

Die Herausforderung, Interviews zu organisieren

Obwohl die teilnehmenden Beobachtungen in der kleinen Nachbarschaft das Verständnis derselben überhaupt erst ermöglicht haben, haben sie mich bei meinem anderen zentralen methodischen Instrument, den biographisch-narrativen Interviews, teilweise behindert. Als ich beginnen wollte, in der kleinen Nachbarschaft biographisch-narrative Interviews zu führen, wurde klar, dass meine Sozialisation dort Einfluss darauf hatte, was mir in Interviews erzählt wurde – vermutlich in Abwägung dessen, was ich in der kleinen Nachbarschaft weiterverbreiten könnte. Noch wichtiger war aber die Erkenntnis, dass die Auswahl der Interviewpartner/-innen, die sich zu einem Gespräch bereitfanden, durch die Gatekeeper in der einflussreichen Familie gelenkt oder zumindest beeinflusst wurde. So wurden mir einige Interviewpartner/-innen nahegelegt, Hilfsgesuche für Anfragen in anderen Fällen dagegen abgewiesen (z.B. muslimische verheiratete Frauen). Im Folgenden analysiere ich, was diese interaktiven Aushandlungen über die Struktur der kleinen Nachbarschaft aussagen.21 Im zweiten Jahr der Beobachtungen habe ich Mahmud und einen seiner Nachbarn erst einmal generell gefragt, ob sie mir helfen könnten, Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Nachbarschaft für Interviews zu gewinnen. Sie antworteten, dass ich inzwischen Teil der kleinen Nachbarschaft geworden sei, daher sei dies kein Problem. Ob sie beispielsweise Said fragen sollen, den älteren Nachbarn, der ein Sufi sei? Doch Mahmud bat Said daraufhin nicht, mir ein Interview zu geben, sondern mich in seinen Sufiorden mitzunehmen. Damit schlug Mahmud mir eine einerseits schillernde Person vor, die andererseits auch als moralisch sehr integer galt. Said nahm mich nicht in den Sufiorden mit, aber willigte in ein Interview ein. Nach dem ersten Interviewtreffen, während dem Said die Fragen knapp und verallgemeinernd beantwortete, kam ein zweites aber nicht mehr zustande: Zweimal bat Said darum, das Treffen um eine Woche zu verschieben, bei einem anderen Termin kam er zwar zum Laden, erwähnte das Interview aber mit keinem Wort. An den Folgetagen war er nicht zu sehen, obwohl seine Haustür offenstand. Es drängt sich die Interpretation auf, dass es sich beim ersten Interviewtreffen um einen Freundschaftsdienst für seinen Nachbarn Mahmud gehandelt hat, Said selbst aber kein Interesse hatte, mit mir zu sprechen. Mahmud führte dessen Ablehnung allerdings darauf zurück, dass jeder aufgrund der israelischen Besatzung und der Gefährdung der Altstadt Angst habe zu sprechen, selbst mit Familienmitgliedern. Vielleicht hätte die Familie etwas zu verbergen – etwa ein Haus im Westjordanland –, was niemand mitbekommen solle. Das Interview mit Abbas nahm einen ähnlichen Verlauf. Es fand 2013 statt, als ich Mahmud noch einmal dringend gebeten hatte, mir bei der In21 Aus einer stärker methodischen Perspektive wird dieses Problem in Abschnitt 10.7.1 analysiert.

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tervieworganisation behilflich zu sein. Mahmud bat daraufhin seinen Nachbarn Abbas, Mitglied einer radikalen islamischen Bewegung, sich mit mir zu treffen. Abbas gab mir ein sehr kurzes Interview vor dem Laden. Es gelang mir weder, Abbas zu irgendwelchen Erzählungen noch generell zu Antworten zu bewegen, die länger als eine halbe Minute waren. Obwohl einige weitere Interviews unproblematisch zu organisieren waren, zeichneten sich die meisten, die durch Mahmuds Vermittlung in der kleinen Nachbarschaft organisiert wurden, dadurch aus, dass sie sehr unpersönlich gehalten waren und kaum über allgemeine Betrachtungen hinausgingen. Nur in einzelnen Fällen konnten die Interviewpartner/-innen über die nachbarschaftliche Kontrolle hinwegsehen und mehr aus ihrem Leben erzählen. Es bleibt aber zunächst insbesondere festzuhalten, dass mir muslimische Männer problemlos als Interviewpartner vorgeschlagen wurden. Es handelte sich um solche, die ein nach außen unbedenkliches, nachbarschaftskonformes Leben führen. Vielleicht sollte damit sichergestellt werden, dass nur erwünschte Informationen über die kleine Nachbarschaft weitergegeben werden. Es ist auffällig, dass mir Mahmud neben muslimischen Männern lediglich Interviews mit Christen aus der kleinen Nachbarschaft vorschlug. So bat er auch seine christliche Nachbarin Sana (vgl. Kap. 7.4.3) um ein Interview mit mir. Mahmud und Sana hatten zunächst vereinbart, Mahmud solle beim Interview dabei sein. Ein Grund sei, dass es in einer östlichen Gesellschaft nicht schicklich sei, dass ein Mann alleine mit einer Frau zusammensitze, mit der er nicht verwandt ist. Abgesehen davon, dass Mahmuds und Sanas Interesse an einer Einhaltung der Konventionen, die besonders in der kleinen Nachbarschaft gültig waren, sichtbar wurde, kann es auch Mahmuds Wunsch gewesen sein, meine Aktivitäten in der kleinen Nachbarschaft etwas zu kontrollieren. Letztlich fand das Interview aber doch mit Sana und ihren beiden Kindern alleine statt. Im Vergleich dazu wurden mir Interviews mit muslimischen Frauen aus der kleinen Nachbarschaft systematisch verunmöglicht. Die Bewohner/-innen und vor allem die Mitglieder der einflussreichen Familie sprachen dies natürlich nicht explizit aus, aber es deutet darauf hin, dass Muslime und Christen in dieser Hinsicht unterschiedlich bewertet wurden. Einmal bot sich die Frau eines von Mahmuds Brüdern als Interviewpartnerin an. Mahmud sagte, das Interviewangebot sei ein »Witz« gewesen. Zwei Tage darauf erklärte er mir, er habe noch einmal mit dieser Frau gesprochen, ein Interview sei kein Problem und seine Schwester könne ins Englische übersetzen. Weitere zwei Tage später war sich Mahmud aber wieder unsicher: Er könne nicht sagen, ob sie es ernst meine. Später bekam ich die endgültige Absage. Es ist mir unklar, was in der Zwischenzeit innerhalb der Familie abgelaufe0n ist, ob es eine Diskussion über mein Anliegen gab und die ›Gefahren‹ ausgelotet wurden. Diese Interpretation erhärtete sich durch weitere Beobachtungen. Als ich im Herbst

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2013 bei Mahmud zum Mittagessen eingeladen war, fragte ich gezielt nach Interviews mit muslimischen Frauen, da sie in meinem Sample noch fehlten: »Er schlägt mir wieder zwei christliche Frauen vor. Dann fällt ihm Fatima ein, eine Frau in ihren Fünfzigern, mit der ich kurz im Laden gesprochen hatte. Ich schlage vor, dass auch meine Chefin das Interview führen könnte. Das sei kein Problem, aber vielleicht wolle Fatima, dass ich es mache, weil sie mich kannte. Mahmuds Frau schlägt mir vor, ich könne auch Mahmuds Schwester Lulu interviewen – die unverheiratet ist und mit der sie mich bereits zuvor ›verkuppeln‹ wollte. Um was es bei den Interviews ginge? Lebensgeschichten? Ja, aber sie wüssten ja nicht, was dann über sie und Mahmud und Ibrahim erzählt werde! Daraufhin schlug sie mir zuerst vor, ich könnte Christinnen aus dem gegenüberliegenden Innenhof interviewen. Dann stellte sie die Nachfrage: ›Willst Du Araber oder Christen?‹ Mahmud greift ein: ›Jetzt scheint es so zu sein, dass Christen keine Araber mehr sind…?‹«

Letztlich sind weder das Interview mit Fatima noch das Interview mit Mahmuds Schwester Lulu zustande gekommen. Wahrscheinlich haben Familienmitglieder in der familieninternen Kommunikation entschieden, die Interviews nicht zustandekommen zu lassen. Bei Mahmuds Schwester hat mich das besonders gewundert, denn zunächst waren Mahmud und seine Frau sowie die Schwester selbst von dieser Interviewmöglichkeit sehr überzeugt. Als ich Mahmud am verabredeten Tag des Interviews traf, eröffnete er mir erst nach einer Stunde, dass Lulu zu einer regelmäßigen Untersuchung ins Krankenhaus habe fahren müssen. Obwohl ich einige Male in der Zwischenzeit im Laden war, hatte das niemand zuvor erwähnt. Zu meiner Frage, was aus dem Interview mit Fatima geworden sei, sagte er nur: Er habe ›vergessen‹, die Frau zu fragen. Es bleibt mir unklar, ob es bei diesem Verunmöglichen darum ging, die moralischen Vorschriften in Bezug auf den Austausch von Männern und Frauen in der kleinen Nachbarschaft einzuhalten, oder ob die Männer in der kleinen Nachbarschaft Angst hatten, dass Frauen ›Geheimnisse‹ über sie oder über die kleine Nachbarschaft weitererzählen könnten. Auf jeden Fall wurden die christlichen Familien von dieser ›Regel‹ ausgenommen; Interviews mit christlichen Frauen wurden mir vorgeschlagen und von mir auch geführt. An Christen wurden also andere Raster der Konformität angesetzt. So konnte sich Sana mit mir alleine treffen, und sie war mir zuvor auch als Interviewpartnerin vorgeschlagen worden, obwohl es Mahmud bekannt war, dass sie familiale Probleme hatte – die Nachbarschaftsrepräsentanz war in diesem Fall anscheinend weniger wichtig. Von dieser Unterscheidung zeugte auch der ›Versprecher‹ von Mahmuds Frau, die die Christen aus der Gruppierung der Araber – für die also jene strikteren Regeln der Kontaktaufnahme gelten – ausgeschlossen hat. Letztlich war es dann tatsächlich Sana, die aus ihrer Position als einer Art marginal woman Hintergrundinformationen über die kleine Nachbarschaft preisgegeben hat, die andere Nachbarschaftsbewohner/-innen während der Interviews oder im Laden bewusst nicht thematisierten.

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Diese Analyse zeigte die Herausforderungen der Intervieworganisation im Kontext der Beobachtungen im ḥay, die stets durch die Struktur der kleinen Nachbarschaft und durch meine Position dort gerahmt wurden. Es hat sich deshalb als wichtig erwiesen, Interviews nicht nur über diesen Beobachtungskontext zu organisieren, sondern auch über die Vermittlung von Bekannten und Verwandten der Bewohner/-innen von ›außerhalb‹ der Nachbarschaft. In den folgenden zwei Unterkapiteln werde ich nun auf die Interviews selbst eingehen.

7.3

H AFEZ F UQAHA: »J ERUSALEM ITS PEOPLE «

DOESN ’ T LEAVE

Die Fallrekonstruktion von Hafez Fuqaha (geb. 1966) verdeutlicht einen biographischen Verlauf des Erlebens einer zunehmenden Einengung der Verortungen in der Altstadt, von ihm als ›Schicksal‹ erlebt. Diese Einengung lässt sich vor allem auf familiale Prozesse zurückführen. Hafez, Enkel eines Migranten aus Tulkarem und Sohn eines Religionsgelehrten, durchlebte seine primäre und sekundäre Sozialisation beinahe ausschließlich im Kontext der Altstadt. Der Familienvater Hafez wohnt noch heute im Familienanwesen in der kleinen Nachbarschaft. Er hat im späten Kindheits- und frühen Jugendalter durch regelmäßige Reisen eine ›Teilzeitablösung‹ von der kleinen Nachbarschaft gepflegt, zu der er bereits damals ein ambivalentes Verhältnis hatte, in der er sich aber trotzdem parallel durch lokales Engagement verortete. Hafez, der einen Bildungsauftrag des Vaters zu erfüllen versuchte, schloss sich nicht den durch Gleichaltrige im ḥay getragenen Widerstandsaktionen während der Ersten Intifada (1987-ca. 1993) an, und während die IntifadaAktivisten danach das Nachbarschaftsleben diskursiv bestimmten, war Hafez’ Stimme dort weniger laut hörbar. Dadurch, dass es aber auch zu seinem familialen Auftrag gehörte, die etablierte Position der Familie zu halten, engagierte sich Hafez in ›formalen‹ NGOs und Verbänden auf Ebene des ḥāra, die somit auch auf der Ebene der kleinen Nachbarschaft aktiv waren. Dennoch versuchte er parallel dazu, vollständig aus der Altstadt wegzuziehen, was durch das Zusammenfallen von nicht beeinflussbaren familialen und politischen Ereignissen unmöglich wurde. Hafez fand sich mit dem Dasein in der Nachbarschaft ab, begann aber nach dem Tod seines Vaters, sich tendenziell auf seine Familie und das Familienhaus zurückzuziehen und die Teilzeitablösung und das Engagement auf einem niedrigeren Niveau aufrechtzuerhalten. Mit Hafez habe ich an drei Terminen ein insgesamt fünfstündiges Interview in englischer Sprache geführt. Es gab zwei wichtige Faktoren, die die Gespräche mit Hafez mitbestimmten: Der erste Faktor war, dass das Interview mit Hafez ›von außerhalb‹ der kleinen Nachbarschaft durch seinen Jugendfreund Yunis und nicht

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durch den Gatekeeper Mahmud organisiert wurde. Es unterschied sich daher von vielen im Nachbarschaftskontext vermittelten Interviews dadurch, dass eben nicht die Bestätigung des harmonischen nachbarschaftlichen Zusammenlebens das Interview bestimmt hat, sondern vielmehr Hafez’ Jugendfreundschaft mit Yunis, die aber weitgehend eingeschlafen ist. Auf Wunsch von Hafez wohnte Yunis den Interviews bei. Hafez zog seine Selbstpräsentation deswegen nicht nur für mich als Gegenüber, sondern auch für Yunis auf. Beide stammen aus in der kleinen Nachbarschaft angesiedelten Familien, die als gebildet gelten. Dass Hafez Yunis bei allen Interviews dabeihaben wollte, kann als Bedürfnis nach einem Zeugen interpretiert werden oder als eine Möglichkeit für Hafez, mit Yunis wieder in Kontakt zu treten. Vielleicht repräsentierte er in Hafez’ biographischer Situation – Hafez’ Vater war zwei Monate vor dem ersten Interviewtermin verstorben – eine Konstante aus früheren Jahren. Der Tod von Hafez’ Vater stellte den zweiten wichtigen Kontextfaktor für das Interview dar. Sein Vater hatte einen sehr großen Einfluss auf Hafez’ biographischen Verlauf, was sich im Interview dahingehend auswirkte, dass es von Reflektionen über ihn durchdrungen war. Auf jeden Fall war es Yunis, der anscheinend Probleme mit der Interviewsituation hatte und der immer wieder themenverändernd und bremsend eingriff. Denn während Yunis (wie in Kap. 7.2.1 ausgeführt) auf die Altstadt herabblickt, sie abwertet und eher ungern dorthin zurückgeht, hat Hafez bis wenige Monate vor dem Interview mit seinem Vater im Familienhaus zusammengewohnt. 7.3.1

Interviewkonstellation und Selbstpräsentation

Hafez hat zwei Gegenüber im Interview: Pendeln zwischen Repräsentation des Altstadtlebens und Abwehr von Kritik daran Es ist für das gesamte Interview die Frage, inwieweit von zwei Präsentationsinteressen gesprochen werden kann. Auf der einen Seite präsentiert sich Hafez in der Haupterzählung gegenüber mir als herausgehobenen Repräsentanten der Altstadt und der kleinen Nachbarschaft, der sowohl eine ›innige‹ Beziehung zu diesen beiden räumlichen Einheiten pflegt als auch einen kritischen Blick auf sie hat. Auf der anderen Seite aber argumentiert Hafez, er habe einen »limitierten« Blick, da er nur »die eine Hälfte« – die Altstadt – kenne, nicht aber die »draußen«, also die anderen Stadtteile Jerusalems, die wohl Yunis repräsentiert. Teilweise spricht er Yunis mit diesen Aussagen – vor allem mit seiner Darlegung der Vor- und Nachteile des Altstadtlebens – bewusst an. Yunis ist für Hafez eine Art Gegenbild, einer, der sich aus der Altstadt ›befreit‹ hat. Wie stark die Interviews auch auf Yunis ausgerichtet sind und wie dieser sich gegen die Präsenz in Hafez’ Erinnerungen wehrt, soll an einer kurzen Analyse der drei Interviewtreffen verdeutlicht werden.

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Als wir uns zum ersten Termin in Hafez’ Büro treffen, wird die frühere Verbundenheit von Hafez und Yunis durch eine selbstgebastelte Uhr ersichtlich, die an der Wand hängt. Yunis hat sie vor wohl 20 Jahren für Hafez gestaltet. Die Zahlen sind gegen den Uhrzeigersinn angebracht, und der Zeiger läuft rückwärts. Die Inschrift lautet: »Think different.« Ich interpretiere die Uhr als Reminiszenz an Hafez’ Jugend, in der er mit Yunis eng in einer Clique verbunden war, eine Zeit, die Hafez noch sehr wichtig scheint. Der angedeutete Unwille Yunis’ angesichts seiner durch Uhr und Erzählungen präsenten früheren Beziehung zu Hafez wird an einer kurzen Interaktion deutlich, als es darum geht, ob man im Büro rauchen dürfe: Y: But [Hafez is] smoker, or are you stopped smoking H: Ten years ago Y: Ten years ago (2) I don’t know you ((lacht)) H: No

Yunis drückt selbst aus, wie sehr er sich aus der Umgebung seiner Jugend entfernt hat, indem er ironisch einwirft, dass er Hafez nicht mehr kenne. Hafez nimmt die Ironie aber nicht auf, sondern bestätigt die objektive Aussage. Diese kurze Interaktion zeigt die Entfremdung der beiden im Kleinen auf. Das zweite Treffen findet in Hafez’ Wohnzimmer statt, das mit schweren Teppichen und Möbeln eingerichtet ist. Yunis sagt, in diesem Zimmer habe sich seit seiner Jugend nichts verändert, als noch Hafez’ Vater darin wohnte. Er schreibt Hafez also eine Fortführung der Traditionen und Vorlieben der ›alten Männer‹ in der kleinen Nachbarschaft zu. Hafez versucht während dieses Treffens noch stärker, wieder eine Verbindung zu Yunis herzustellen. Als sich das Interview Hafez’ Jugendzeit zuwendet, wird Yunis unruhig. Er macht mich in einer Pause darauf aufmerksam, dass man nach dem Kaffee, der gleich serviert werde, als Besucher gehen solle. Er versucht außerdem zu vermeiden, dass Hafez Bilder aus ihrer gemeinsamen Jugendzeit zeigt. Ich sage ihm, dass ich Hafez gerne ein drittes Mal treffen wolle. Yunis antwortet lachend: »I think he he’s not going to open more.« Indirekt fordert er mich auf, mich zu beeilen: »You are you are so patient I guess eh so you can go further with the questions.« Obwohl er zuvor gesagt hat, dass er einen Termin habe, ist es wieder Hafez, der versucht, das Gespräch zu verlängern. Yunis unterbricht aber die anschließende Unterhaltung unsanft und ruft zum Aufbruch. Beim dritten Treffen macht Hafez einen traurigeren Eindruck, als ob er die Hoffnungen auf ein Wiedererstarken der Freundschaft zu Yunis aufgegeben hätte. Das ist auch daran erkennbar, dass mich Hafez nach dem Interview einlädt, ohne Begleitung von Yunis bei ihm vorbeizuschauen. Die unterschiedlichen Perspektiven von Yunis und Hafez werden besonders an einer kurzen Interaktion ersichtlich, in der es um Hafez’ in der kleinen Nachbarschaft gelegenes Haus geht. Hafez berichtet viel über die kleine Nachbarschaft,

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wenn auch aus einer distanzierten, beinahe abgehobenen Perspektive, wenig auf persönliche Erfahrungen rekurrierend. Dass sie trotzdem für ihn wichtig ist, wird deutlich, als Yunis mit ironischem Unterton berichtet, ich sei öfter bei seinem Bruder Mahmud im Laden. Hafez geht auf den humorigen Ton nicht ein, sondern benutzt die Interaktion, um seine Zugehörigkeit zur kleinen Nachbarschaft zu betonen, sich danach aber sofort wieder von ihr zu distanzieren: H: I don’t know if he visited (our) quarter Y: Eh Mahmud started teaching him Arabic ((H: ah ok)) so maybe you can see ((lacht)) him in his dukkān [Laden] bi-šīkil bi-ḥamsa šīkil [für Schekel, für fünf Schekel] H: So you know how my=my neighborhood it’s about twenty meters from Mahmud’s la muškila anā mišīn bil-ḥāra [kein Problem, ich bin nicht im ḥāra], ((Y: le)) I don’t stay here a lot.

Diese Interaktion zeigt nicht nur Yunis’ ironische Distanzierung von den ›traditionellen‹ Lebensgewohnheiten in der kleinen Nachbarschaft, sondern auch die später deutlich werdenden Verortungen von Hafez zwischen Altstadtzugehörigkeit, Teilzeitablösung, Nachbarschaftssolidarität und Rückzug auf das Familienhaus. Die Selbstpräsentation: »I still say that I love inside« Doch zunächst spielt Hafez’ Biographie im Interview keine Rolle. In der Selbstpräsentation bzw. in seiner Präsentation der Wir-Gruppe der Palästinenser/-innen in der Altstadt, die auf meine Frage nach seiner Lebens- und Familiengeschichte folgt, liegt Hafez’ Fokus auf einer allgemeinen und argumentativen Darstellung des Lebens in der Altstadt. Seine Präsentation hebt zunächst stark von der eigenen Lebensgeschichte ab. Das thematische Feld besteht aus einer Analyse der Vor- und Nachteile des gegenwärtigen Lebens in der Altstadt von Jerusalem, das er aus politischer, religiöser und sozialer Sicht beleuchtet, und worin er selbst als typischer Bewohner und als für die Gemeinschaft Engagierter eingesenkt ist. Abgesehen von einigen biographischen Rahmendaten und kurzen Berichten geht Hafez nicht auf sein eigenes Leben ein. Er verweigert sogar explizit Explikationen zu seinem Leben: »So, as you see, ((lacht)) I’m not talking about myself a lot, I’m talking about the environment inside [the Old City], I guess this is better.« Die Haupterzählung ist natürlich nicht so unabhängig von seiner Lebensgeschichte, wie es auf den ersten Blick erscheint. Deren hauptsächlich argumentative Bestandteile werden aber in der Rekonstruktion der Fallgeschichte weiter unten nur bedingt wieder aufgegriffen. Daher stelle ich die Themen der Haupterzählung im Folgenden kurz vor. Bemerkenswerterweise beginnt Hafez seine Erzählung mit seiner Zugehörigkeit zu einer Familie, die aus Tulkarem nach Jerusalem migriert ist. Das steht im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Erste Intifada-Generation (vgl. Kap. 7.2.4), die ihre Lebenserzählung mit den politischen Konfliktlinien in Jerusa-

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lem beginnen (diese Konfliktlinien werden von Hafez erst später im Interview breit erläutert). Hafez beginnt mit dem diskursiv aufgeladenen Thema der Präsenz der ›Zugezogenen‹ in der Altstadt (vgl. Kap. 6.4), indem er sich trotz seiner Familienherkunft auch als ›richtiger‹ Jerusalemer einführt. In Tulkarem habe er sich lange verlaufen. Diese Stadt steht damit unausgesprochen im Gegensatz zum ›vertrauten‹ Jerusalem: »Ok I-I can start from eh, let’s say I’ll=I can start from Tulkarem (2) my family’s roots are from Tulkarem not from Jerusalem (2) ah maybe like eh more than, eighty percent of the current residents of the Old City of Jerusalem, that come from the cities around Jerusalem (2) the (2) people who we who- whom we call Jerusalemians I don’t know if this is, expression can be, (added) are rare today (2) ahm but eh f- since, let’s say about, if=if we came back ten years ago, if I go to Tulkarem, I get lost, I don’t know the the city even though it=it’s my, the place where, my grandpa came from.«

Danach beginnt er, das Leben in der Altstadt und dessen Herausforderungen darzustellen. Er spricht fortan beinahe durchgängig nicht von sich, sondern von ›dem‹ Dasein in der Altstadt. Sein anfangs kontrolliertes Sprechen (abwägende Argumentationen über die guten und schlechten Seiten des Altstadtlebens) verliert sich in der zweiten Hälfte der Haupterzählung zunehmend in verschiedenen Argumentationslinien, die sich um die wiederkehrenden Themen israelische Diskriminierungspolitik, Lebensbedingungen in der Altstadt und Bildung drehen. In Bezug auf sich selbst kokettiert er – offensichtlich Yunis ansprechend – damit, dass er im Gegensatz zu diesem nie außerhalb der Altstadt gelebt habe: »I’ve never, lived, outside the Old City (1) so I don’t know if the, if I can give the=the whole image I have the- this half part I mean I-I’ve tried it inside I didn’t try outside so I can’t give you the the opposite eh the other face, let’s say, for the coin (2) eh I can tell that eh (3) as I always say if I get out of the Old City, as if you’re taking a fish from the sea from the water, that’s what I think now (2) some people say no cause you didn’t try the other side, you say that, it’s easier you can have a lot of thing better.«

Gleichzeitig präsentiert er sich als intimen Kenner der Altstadt-Lebensweise und als Experte für die dortigen sozialen und politischen Prozesse. Das leitet er unter anderem daraus ab, dass er als politischer Aktivist für seine Nachbarschaft tätig war und er sich (und Yunis) als aus einer gebildeten Familie kommend und deswegen auch als besser gebildet ansieht als viele andere Altstadtbewohner/-innen. Zwar definiert sich Hafez selbst als Mitglied einer ›Migrantenfamilie‹. Doch diese ist nicht Teil einer armen Familie vom Land, sondern einer Großfamilie aus Tulkarem. Zudem kann er sich über seinen Vater, einem Imam und Religionslehrer, distinguieren und macht sich somit Yunis gleich, dessen Vater ebenfalls Religionsgelehrter war. Ha-

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fez stellt sich also als eine Art primus inter pares in seiner Nachbarschaft dar. Das ermöglicht ihm, aus seiner Warte abwertend über Zugezogene aus Hebron (und woanders her) zu sprechen. Ihnen wirft er indirekt vor, dass sie von Israel instrumentalisiert worden seien und ihnen der Zuzug in die Altstadt nahegelegt worden sei: »We these days have some, difficulties dealing with some people who came from the southern suburbs, like Sawaḥira (2) some people are encouraged by Israel, to come and have (2) their own eh, part in this cake, they’ve never came as owners, they’ve never came ‘here’ but they are now they are encouraged they have a lot of things, ah this role, was given to people from Hebron in the at the beginning of the occupation (2) the number of people who came from Hebron, they came as workers (1) as very very simple workers (1) now, they own a lot of ah houses and shops and, even monuments in Jerusalem, that was car- encouraged also by the Israelians, and the as I told you, be- the- people who=who roots are from Jerusalem, are very ah rare, a lot of them live outside the Palestine.«

Er spricht immer wieder Yunis an und vergleicht das Leben in der Altstadt mit dem in dessen Neubaustadtteil. Als positiv evaluiert er die Nähe zu Märkten, Schulen und Moscheen (ganz besonders wichtig, so Hafez, sei die Verbundenheit mit der Masǧid al-Aqṣā [al-Aqsa-Moschee], obwohl er an anderer Stelle sagt, er sei selbst nur ein- oder zweimal im Jahr dort). Seine Kinder benötigten keinen öffentlichen Nahverkehr, könnten überall spielen und immer etwas für die Familie besorgen. Yunis wisse ja, dass man in anderen Stadtteilen teils kilometerweit für seine Einkäufe fahren müsse. Als negativ sieht er in der Altstadt die Einwohnerdichte, die mangelnde Privatsphäre und den ständigen Lärm: »It’s a very very, difficult eh atmosphere to live in.« Danach geht er ausführlich auf die von ihm wahrgenommenen politischen Prozesse ein, die die Altstadtbewohner/-innen unter Druck setzten (vgl. dazu besonders Kap. 5.3 bis 5.5): Die israelischen Kontrollen, der Rückzug vieler Palästinenser/ -innen in die Altstadt, deren damit einhergehende Überfüllung und die ökonomische und kulturelle Vernachlässigung sieht er als Teil eines israelischen Plans, die Altstadt zu benachteiligen. Heute sei das »aktive« Leben in den Vororten und in Ramallah zu finden. Der Bevölkerungsanstieg in der Altstadt habe bei ihm aber nicht die Sorge verringert, dass er irgendwann aufgrund der israelischen Politik von dort »hinausgeworfen« werden könnte. Doch im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Erste Intifada-Generation geht Hafez nicht nur auf die israelische Besatzungspolitik ein, sondern schreibt auch den zwei palästinensischen Intifadas eine negative Rolle in der Altstadtgeschichte zu (auf die biographischen Hintergründe für diese Evaluation werde ich später eingehen): »Really the=the two uprisings of- the Palestinian uprisings, really affected, eh negatively our=our young people, a full (1) not one maybe several generations of people.« Heute könnten die Schüler nicht einmal

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mehr ihre eigenen Namen schreiben. Auch der Respekt vor den Älteren sei nicht mehr der, den ihre Väter und Großväter gelehrt hätten. Beinahe am Ende seiner Haupterzählung fasst Hafez seine Diskussion um seinen Wohnort noch einmal zusammen und verortet sich aktiv in seiner kleinen Nachbarschaft und in der Altstadt. Er scheint sich mit seiner näheren Umgebung voll zu identifizieren: »Ah, but if you ask me for for the last line, if I prefer to go outside or inside, I still say that I love inside.« Doch direkt danach kontrastiert er das mit seiner Aussage, dass er das Reisen in Palästina liebe: »I love being outside [the Old City walls].« In einem kurzen biographischen Abriss führt er zuletzt ein in der Rekonstruktion wichtig werdendes Thema ein – sein Erleben als ältester Familiensohn, der angehalten wurde, früh zu arbeiten, früh zu heiraten und früh Kinder zu bekommen: »I=I started- I=I entered life early.« Hafez endet: »Ja, so this is me (3) I guess that’s enough, unless eh (2) maybe we’ll add when you, ask your questions (3) ok.« Die Analyse der Selbstpräsentation zeigt Hafez’ Bemühen, sich deutlich zur Altstadtzugehörigkeit zu bekennen. Die nun folgende Rekonstruktion seines biographischen Verlaufs hebt im Gegensatz dazu aber auch das die Biographie durchziehende Bedürfnis hervor, die Altstadt teilzeitig oder dauerhaft zu verlassen. 7.3.2

Hafez’ Familien- und Lebensgeschichte

Familie väterlicherseits: Die Relevanz der Migrationsgeschichte Die Analyse der bereits erwähnten Eingangssequenz, die stark von der gegenwärtigen Situation des Sprechens bedingt ist, bietet zugleich einen hervorragenden Einstieg in die Darstellung der Familiengeschichte. Der folgende Abschnitt folgte direkt auf meine Frage nach Hafez’ Familien- und Lebensgeschichte: Y: So it’s not directed, ((H: ma)) but also you can start eh from wherever you want H: (2) OK I- I can start from eh, let’s say I’ll=I can start from Tulkarem (2) my family’s roots are from Tulkarem not from Jerusalem (2) ah maybe like eh more than, eighty percent of the current residents of the Old City of Jerusalem, that come from the cities around Jerusalem.

Yunis hat also meine Eingangsfrage von sich aus noch einmal für Hafez erläutert. Unabhängig davon, ob Hafez dies als Aufforderung zu einer Darstellung seiner lokalen Herkunft verstanden hat oder ob er auch ohne Yunis’ Kommentar mit diesem Thema begonnen hätte, hat die geographische, lokale Verortung bereits von Beginn an ihren wichtigen Platz in diesem Interview. Dass Hafez seine Selbstpräsentation mit der Herkunft der väterlichen Familie aus Tulkarem beginnt, erscheint trotzdem im ersten Moment ungewöhnlich, schließlich kreist das thematische Feld seiner

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Haupterzählung stark um sein Dasein in der Altstadt von Jerusalem. Aber: Hafez befindet sich im Moment des Sprechens durch den Tod seines Vaters in einer Umbruchsphase. Dadurch sind die Verbindungen zur Großfamilie nach Tulkarem wieder stärker geworden, was für Hafez einige Bedeutung besitzt, wie weiter unten zu sehen sein wird. Außerdem ist in diesem Zitat bereits ein wichtiges Merkmal seines Verortungserlebens enthalten: auf der einen Seite eine Distanzierung von Jerusalem, auf der anderen Seite eine Einbindung in das ›Wir‹ der Altstadt, die ja, wie aufgezeigt, zumeist aus Zugezogenen besteht (vgl. Kap. 6.4). Er verortet sich im Interviewbeginn gleichzeitig als Jerusalemer und als Migrant. Hafez’ Großvater väterlicherseits wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Tulkarem geboren, einer Stadt im Nordwesten des heutigen Westjordanlandes. Hafez stammt aus einer jahrhundertealten Tulkaremer Dynastie religiöser Gelehrter (ʿulamā´), die bis ins 20. Jahrhundert hinein eine der einflussreichsten Familien der Stadt war (Al-Salim 2011). Diese Familie, die Fuqahas, führt ihren Stammbaum direkt auf den Propheten Muhammad zurück. Eine solche Verbindung wird in vielen größeren Familien aus dem Stammbaum abgeleitet. Die Familie stellte Imame, Religionsrichter, stand religiösen Stiftungen vor und konnte in den vergangenen zwei Jahrhunderten ihren Einfluss auch auf politische und wirtschaftliche Bereiche ausbauen – zum Beispiel hatten Familienmitglieder Verwaltungsposten im Osmanischen Reich inne. Mitglieder der Familie wurden auch zum Studium ins Ausland geschickt. Allerdings konnte ich nicht rekonstruieren, ob der Zweig der Familie, aus dem Hafez stammt, finanziell gut gestellt war – das symbolische Kapital war aber sicher vorhanden. Für Hafez ist dies mit einem gewissen Standesbewusstsein verbunden, einer Abgrenzung ›nach unten‹, außerdem wird durch die Zuschreibung von Religiosität an die Familie eine gewisse Tradition von ›Rechtschaffenheit‹ relevant. Wenngleich nicht so stark wie in Tulkarem, ist der Familienname auch in Jerusalem ein Marker, der für Hafez gewisse Erwartungen bedeutet, den religiösen Traditionen der Familie zu entsprechen. Der Großvater migrierte als junger Mann nach Jerusalem. Damit ist er Teil der Migrationsbewegung von ländlicheren Regionen und kleineren Städten nach Jerusalem, aber auch in andere palästinensische Städte wie Jaffa oder Haifa. Diese Migrationsbewegung hatte häufig mit Arbeitssuche oder Bildungsbestrebungen zu tun (Davis 1999: 37 und vgl. Kap. 6.4). Es ist unbekannt, in welchem Alter und warum Hafez’ Großvater migriert ist – ob wegen Heirat, Bildung, Beruf, Religion, aus wirtschaftlichen Gründen oder um den Einfluss der Familie in Jerusalem zu stärken. Falls Hafez tatsächlich keine weiteren Details über die Migration weiß, dann legt das nahe, dass der Grund für die Migration nicht besonders außergewöhnlich war (wie Heirat) oder unerzählbar ist, weil die Migration zum Beispiel nicht selbstgewählt, sondern auferlegt war. Hafez erwähnt mehrmals, wie wenig innerhalb der Familie über die Familienherkunft berichtet worden sei:

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»Our grandfathers and fathers they didn’t pay a lot of attention for- to=to teach us about our eh, roots ((Y: raunt)) I don’t know why, but ah (2) as I told him the looking for job and for ah (1) earning your daily (2) ah (3) income in general is more important than thinking of that, tha=that could be the reason since, we came from ah (2) relatively, no=not to say poor families but, not that high class, so we have to struggle and our parents had to struggle to get the=the=the earning and so they didn’t pay a lot of attention to, to, search or to check about these things and to, give them to us our- the the=their sons, maybe.«

Hafez kollektiviert seine Erfahrungen argumentativ; mit dem »wir« ist entweder die Gesamtheit seiner Familie, die zugeschriebene gemeinsame Erfahrung mit Yunis oder ein allgemeiner Altstadtzustand gemeint (vgl. Elias 1987: 238-239). Der Grund für die spärlichen Informationen könnte entweder die Angst der älteren Generation sein, ihr Dasein in Jerusalem nicht genügend rechtfertigen zu können, oder aber das Desinteresse der jüngeren Generation an den häufig von Armut geprägten Schicksalen der Älteren. Hafez gleicht in diesem Zitat seinen Familienhintergrund der ärmeren Herkunft vieler Migranten an, ohne auf den Stand der Familie in Tulkarem einzugehen – es ist gut vorstellbar, dass mit der Migration des Großvaters der Verlust von ökonomischen Möglichkeiten einhergegangen ist. Hafez’ Vater wurde 1934 während der britischen Mandatszeit in Jerusalem geboren, er hat einen jüngeren und einen weiteren Bruder, dessen Alter mir unbekannt ist. Hafez erwähnt in einem Nebensatz, dass sein Großvater früh gestorben sei, aber nicht, wann. Die Großmutter erwähnt er nicht. Die ausbleibende Thematisierung der Großmutter – Hafez wird mit den Frauen der späteren Generationen genauso verfahren – findet sich auch in der Aussage, der Vater »built himself by himself« (s.u.). Der Vater habe sich alleine hocharbeiten müssen – diese Aussage verstärkt die Abwertung der Großmutter und deren Familie. Nach dem Tod des Großvaters zog die Familie nicht zurück nach Tulkarem; vielleicht wurde die von Hafez präsentierte ›einfache‹ Herkunft erst durch den Tod des Großvaters herbeigeführt – zum Beispiel durch mangelnde Ressourcen der großmütterlichen Familie. Ich erfahre von Hafez nichts über Kindheit und Jugend seines Vaters, auch nichts über dessen Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich während dessen Adoleszenz abgespielt haben: die zunehmende Zuspitzung des Konfliktes zwischen Zionisten und Arabern sowie der Krieg von 1948 und die anschließende Teilung des Landes (vgl. dazu Kap. 5.1). Stattdessen präsentiert er den Bildungsaufstieg des Vaters. Trotz des frühen Todes des Großvaters und der wahrscheinlich darauffolgenden finanziellen Einschnitte schaffte der Vater einen beachtlichen Aufstieg: Er wurde Religions- und Mathematiklehrer sowie Imam. Durch die Überlieferung des sozialen und Bildungsaufstiegs – verbunden mit der an Imame

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zugeschriebenen ›Rechtschaffenheit‹ – gab es sicherlich Erwartungen an Hafez, diese moralischen und religiösen Werte und den Bildungsstand zu halten.22 Familie mütterlicherseits: Die Handwerkerfamilie in Jerusalem Hafez’ Großvater auf der mütterlichen Seite, Abu Khalil, wurde ca. 1900 geboren und wohnte – wahrscheinlich den Großteil seines Lebens – in der Bāb as-SilsilaStraße in der Altstadt von Jerusalem. Diese Straße führt sowohl zum Haram ašŠarīf (Tempelberg) als auch in Richtung der Klagemauer (Ḥāʾiṭ al-Burāq) und damals zum Ḥārat al-Maġāriba (vgl. Kap. 8.1). Abu Khalil hatte eine kleine Schneiderei und war danach Wächter am Haram aš-Šarīf. Über die Großmutter mütterlicherseits erfahre ich wiederum nichts. Es ist unklar, ob diese Seite der Familie aus Jerusalem stammt, obwohl nach der prominenten Erwähnung der väterlichen Familie Informationen darüber zu erwarten gewesen wären. Ein Jerusalemer Familienteil wäre einerseits etwas Erwähnenswertes, andererseits scheint diese Seite der Familie eher aus einfachen Zusammenhängen zu kommen. Auch wenn sie aus der Stadt selbst stammen würde, könnte das mit der symbolisch höherstehenden Herkunft der väterlichen Familie kollidieren. Auf jeden Fall ist die ›kleine Schneiderei‹ ein Symbol für eine zwar einfache Herkunft, sie ist aber vom damals häufigen Tagelöhnertum abzugrenzen und mit Stetigkeit und Ortsverbundenheit assoziiert. Eine ähnliche Symbolik trägt die Wächterposition am Haram aš-Šarīf: In vielen meiner Interviews wurde dieser Beruf erwähnt. Hierbei handelt es sich um eine ›rechtschaffene‹, wenngleich sehr einfache Position.23 Auch die nicht-rekonstruierbare Aussage, der linke Fuß Abu Khalils sei durch seine Teilnahme am Widerstand abgetrennt worden, erfüllt eine ähnliche Funktion. Es ist aber unklar, ob bzw. wie der Großvater tatsächlich politisch aktiv war und im Kontext welcher Kämpfe der 1930er oder 1940er Jahre er verwundet wurde (also ob es sich um Widerstand gegen die britische Mandatsmacht oder die zionistische Besiedelung handelte). Doch die Assoziationen, die hervorgerufen werden, sind die einer politisch und religiös bewussten Familie, die die Erinnerungen an ihre politischen Aktivitäten weitergegeben hat. In seiner Präsentation stellt Hafez zwar auch die väterliche Herkunft als relativ niedrig dar (erst in anderen Interviewteilen und durch die historische Recherche wird die Stellung der Familie in Tulkarem transparent). Doch obwohl sein Vater durch den frühen Tod des Großvaters vielleicht einen sozialen Abstieg erlebt hat, 22 Finanziell hingegen war der Beruf eines Imams nicht sehr lukrativ: Imame, die auch nach 1967 von Jordanien bezahlt wurden, bekamen noch zu Ende der 1990er Jahre einen für die Ernährung einer Familie nicht ausreichenden Betrag von zwischen 150 und 300 jordanischen Dinar im Monat (Reiter 1997: 56). Wahrscheinlich arbeitete der Vater deswegen parallel als Lehrer. Die Schule wird aus Anonymisierungsgründen nicht genannt. 23 Heute hat dieser Berufszweig eine fast symbolische Bedeutung – die Bewachung der islamischen Heiligtümer im Auftrag der auqāf-Behörden.

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war es für die Familie der Mutter aussichtsreich, die Tochter an einen zwar vaterlosen, aber aufstrebenden und religiösen Mann aus guter Familie zu verheiraten. Für Hafez’ Vater könnte die Heirat in eine Familie aus Jerusalem eine Möglichkeit gewesen sein, sich dort besser zu etablieren. Da Hafez seinen Großvater mütterlicherseits noch erlebt hat, nehme ich an, dass für ihn die väterliche und die mütterliche Familie die Verhandlung von zwei unterschiedlichen Kontexten bedeutet hat: Auf der einen Seite die formale Bildung des Vaters, auf der anderen Seite das handwerklich orientierte Umfeld des Großvaters mütterlicherseits. Wie zu sehen sein wird, war besonders der von seinem Vater forcierte Bildungsauftrag entscheidend. Hafez’ Kernfamilie und die ›Etablierung‹ in Jerusalem Hafez’ Vater wohnte zunächst in der Nähe eines der Tore des Haram aš-Šarīf, wahrscheinlich zusammen mit seinen zwei Brüdern in einem Mietsgebäude, und zog in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in die kleine Nachbarschaft. Auch die Umstände dieses Umzuges erzählt oder weiß Hafez nicht: Sind der Vater und dessen Brüder umgezogen, als er geheiratet hat, oder zuvor oder danach? Das Haus der Großmutter mütterlicherseits und das damalige Wohnhaus der Brüder lagen nahe beieinander; Hafez’ Vater könnte also in der damaligen Nachbarschaft geheiratet haben (was Hafez später mit seiner eigenen Heirat reproduziert hätte) und daraufhin in ein neues Anwesen umgezogen sein. Obwohl der Umzug in die kleine Nachbarschaft einen sehr minimalen sozialen Aufstieg bedeutet hat, ist es unwahrscheinlich, dass er deswegen stattfand. Relevanter ist, dass die Familie innerhalb der Altstadt umzog. Die 1960er Jahre waren die Periode, in der Neubauten außerhalb der Altstadtmauern noch nicht teuer waren und auch manche Mitglieder der unteren Mittelschicht dorthin zogen – bevor diese Bewegung wegen der israelischen Besatzungspolitik in den 1980er Jahren wieder abnahm (vgl. Kap. 5.1 und 5.2). Da Hafez’ Onkel mit in die kleine Nachbarschaft gezogen sind, ist davon auszugehen, dass das Anwesen als Familiensitz erworben wurde. Die Familie nutzte wohl die Möglichkeit, in der sich verändernden Altstadt als Familienverbund zusammenzuziehen. Ihr Verbleib in der Altstadt kann auf die Verbundenheit mit den religiösen Orten hinweisen oder auch darauf, dass für einen Umzug außerhalb der Mauern die finanziellen Mittel fehlten. Der Erwerb des Hauses ist auch eine materielle Verortung in Jerusalem und bedeutet für die nachfolgende Generation, die religiöse und alltägliche Verortung in Jerusalem fortzuführen und zum Beispiel Verantwortlichkeiten in der kleinen Nachbarschaft zu übernehmen. In diesem Haus wurde Hafez 1966 als ältestes Kind der Familie geboren.24 Hafez’ Vater war zu diesem Zeitpunkt Mathematik- und Islamlehrer an einer weiter24 Zumindest gehe ich im analytischen Prozess davon aus. Zwar hat Hafez auf meine explizite Frage hin bestätigt, dass er das älteste aller Kinder sei. Angesichts seiner NichtThematisierung der weiblichen Familienfiguren bin ich aber nicht vollständig sicher, ob

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führenden Schule und Imam an verschiedenen Moscheen. Der Vater war 32 Jahre alt, ein vergleichsweise hohes Alter für das erste Kind in religiösen Familien, in denen geheiratet werden sollte, sobald die notwendigen finanziellen Reserven dafür vorhanden sind. Genau das könnte für Hafez’ Vater als Halbwaise und unter Umständen mit der Aufgabe, mehrere Brüder mitzuversorgen, Schwierigkeiten bereitet und die Suche nach einer Braut erschwert haben.25 Es ist auf jeden Fall anzunehmen, dass Hafez als erstem Kind und ältestem Sohn in einer familienorientierten, traditionellen und religiösen Herkunftsfamilie eine besondere Rolle zukam. Zu den ›typischen‹ Erwartungen, die später an ihn herangetragen werden, gehören die Fürsorge für Geschwister und die Regelung von deren Angelegenheiten, sollten die Eltern verhindert sein, ferner auch die Verantwortung für die Versorgung der Eltern im Alter. In der ersten Jahreshälfte 1967 – kurz nach Hafez’ Geburt – stellte die Familie zudem einen Anbau an den Familienbesitz fertig. Die Familie ging also davon aus, dass sie noch lange in diesem Anwesen bleiben würde. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es ein weiterer Auftrag an Hafez war, sich in der Altstadt und in der kleinen Nachbarschaft zu verorten. Im größeren familienhistorischen Präsentationskontext bildet dies einen interessanten Interpretationshorizont: »My grandfather he died when he [my father] was young, and eh he which means he built himself by himself, e:r, they bought this eh, the house we, we live in right now (1) and built another eh building, a new building relatively new one, since for- at eh, in the ninety sixty seven, just before the war, couple of months I think before the war, I was born in sixty six I was one year old when he built the other part, they used to live in the, ah [Name der Nachbarschaft], also inside the Old City but they bought this bui- this house and eh, built other two apartments to have or each brother have his own apartment, and till now, eh the house is Fuqaha’s family, in=in=in its place right now, where I live right now.«

Durch die Verbindung der ›sich-selbst-bauen‹-Metapher mit dem materiellen Bau des Hauses, in dem, wie er betont, die Familie immer noch wohne, wird die Sozialisation mit der Verortung in der kleinen Nachbarschaft verknüpft und intergenerationell ausgeweitet. Außerdem wird eine Verknüpfung von Familie, familialem Besitz, Hafez’ Geburt und der israelischen Besatzung der Altstadt hergestellt, die betont, dass die erfolgreiche Verortung der Familie bereits vor Beginn der israelischen Besatzung im Juni 1967 abgeschlossen und seitdem kontinuierlich war, und Jerusalem immer noch seinen Lebensmittelpunkt darstellt. Weiterhin ist ein Problem des Bezugspunktes erkennbar: Während Hafez im ersten Teil des Zitats auf die Aufbauleistungen des Vaters rekurriert, schwenkt er dann auf das »they« der erweiterten diese Angabe stimmt. Für die später geborenen Töchter habe ich zum Beispiel keine Geburtsjahre. Auf die Gründe hierfür werde ich in der weiteren Fallgeschichte eingehen. 25 Es ist davon auszugehen, dass in jenem Milieu eine arrangierte Heirat vollzogen wurde.

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Familie um, um schließlich wieder die Anstrengungen des Vaters herauszuheben (»he built the other part«). Das Über-Bild des Vaters – das weiter unten analysiert wird – ist bereits zu erkennen. Es geht damit einher, dass andere Familienmitglieder nicht thematisiert und deren Leistungen nicht erwähnt werden. Die israelische Besetzung der Altstadt am 7. Juni 1967 änderte die Stellung der Familie wahrscheinlich stark (vgl. Kap. 5.2). Es ist davon auszugehen, dass Hafez’ Vater seine familiale Herkunft in der neuen politischen Umgebung dethematisiert hat. Hafez führt aus, dass innerhalb der Familie nicht über diese Herkunft gesprochen wurde. Der Alltag wurde durch das gegenwärtige Erleben in der Altstadt bestimmt: Dort hat sich Hafez’ Familie niedergelassen, und nach 1967 waren sie auf einmal jene, die die heiligen Stätten oder al-Quds al-ʿarabī – das arabische Jerusalem – schützen mussten. Damit erlangte der ›neue‹ Familiensitz in der kleinen Nachbarschaft eine ungeahnte symbolische Bedeutung. Die Familie der Mutter, die ja auch in der Altstadt lebt, könnte ebenfalls an Bedeutung gewonnen haben. Weiterhin wird Hafez’ Vater als Imam und Lehrer in der kleinen Nachbarschaft eine zunehmend wichtige Rolle eingenommen haben. Was bedeutete dieser abrupte Wandel für Hafez’ Kindheit und für die Delegationen an ihn? Der Auftrag, den materiellen Besitz und das symbolische Kapital zu halten, wird stärker geworden sein, was auch den Bildungsauftrag und die Bewahrung der Stellung der Familie in der Altstadt und in der kleinen Nachbarschaft beinhaltet. Kindheit: Ins erweiterte Jüdische Viertel und zurück in die kleine Nachbarschaft Im August 1969 legte ein protestantischer Extremist Feuer in der Masǧid al-Aqṣā (al-Aqsa-Moschee). Dabei wurden wertvolle Einrichtungsgegenstände zerstört (vgl. Kap. 5.2).26 Dass so kurz nach der israelischen Eroberung die heiligen Stätten angegriffen wurden – zuvor hatte die israelische Regierung bereits Nachbarschaften in der Nähe der Klagemauer abgerissen (vgl. ausführlich Kap. 8.1) –, muss einen Religionsgelehrten wie Hafez’ Vater beängstigt haben. Gleichzeitig setzte der bereits diskutierte Wirtschaftsboom ein, der Palästinensern der niedrigeren sozio-ökonomischen Schichten in ihrer eigenen Wahrnehmung einen merklichen Modernisierungsschub brachte und dazu beitrug, den Widerstand gegen die Besatzung zum Stillstand zu bringen (vgl. Kap. 5.2). In Hafez’ Familienerzählung lässt sich kein direkter Einfluss dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erkennen; er spricht wenig über seine frühen Kindheitsjahre und über familiale (Alltags-) Ereignisse. 1968 wurde sein Bruder Muhammad geboren, im selben Jahr wie sein späterer Freund Yunis. Ab dem Schuljahr 1971/72 besuchte Hafez eine islamische Grundschule in der Altstadt. Sein zweiter Bruder Bashir wurde im Jahr 1973 gebo26 Dieser große Anschlag auf die Masǧid al-Aqṣā wird in meinen Interviews nie erwähnt. Es ist fraglich, ob er im palästinensischen kollektiven Gedächtnis verankert ist.

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ren, als Hafez sieben Jahre alt war. Im Laufe der Jahre wurden außerdem sieben Schwestern geboren, deren Geburtsjahre er nicht angab – typisch für Hafez, in dessen Erzählung Frauen häufig unerwähnt bleiben. Je größer die Familie wurde, desto bedeutender wurde die Delegation zur Familienaufrechterhaltung an Hafez. Von früh an wurde angesichts der Besatzung auch deutlich, dass dazu gehört, das Familienanwesen zu halten. Doch gleichzeitig wurde das Zuhause enger und zunehmend weiblich geprägt. Es ist für seine Verortungen wichtig, nachzuvollziehen, ob er im Verlauf der Kindheit verstärkt den Kontakt nach außen, zum Beispiel in der kleinen Nachbarschaft, suchte oder ob er sich überwiegend im (kern-)familialen Kontext aufhielt. Der Alltag in der Kernfamilie wurde im Interview fast nicht thematisiert. Noch überraschender ist allerdings, dass sich Hafez in seiner Kindheit nicht nur nicht im elterlichen Haus verortete, sondern sich sogar von seiner kleinen Nachbarschaft ›abtrennte‹. Im Gegensatz zu Hafez nachfolgenden Generationen, deren Mitglieder in der Kindheit häufig Perioden der Einengung und Einschließung durch die israelische Besatzungsmacht sowie durch eine zunehmende Kontrolle durch die Eltern erlebt haben (vgl. Kap. 7.4.2 und 8.2), scheint das zu Beginn der israelischen Besatzung anders gewesen zu sein. Wie viele andere berichtet Hafez vom Spielen und Herumtoben in den Gassen der gesamten Altstadt. Doch auf meine Frage, ob er mir mehr Erlebnisse aus seiner Kindheit erzählen könne, antwortet Hafez mit einer Beschreibung der Entfremdung: »I wasn’t known, eh traditionally eh in my quarter here, that’s what I remember, I used to spend, my=my eh you know after two- afternoon time, in other quarters bu=but also inside the Old City (1) the I had some friends, eh when I, really spent very very, beautiful days (at this), at the, what we call the Jewish Quarter, in the Southern part of the Old City (2) Arab friends of course.«

Hafez sagt, dass er in der Nachbarschaft nicht gekannt worden sei. Diese Entfremdung kann selbstgewählt sein, weil er sich im Umfeld seiner Kernfamilie oder der kleinen Nachbarschaft nicht wohlfühlte. Es kann aber auch auf den ›Neuzugezogenen‹-Status der Familie hindeuten, die eben noch nicht »traditionally known«, also in der kleinen Nachbarschaft bekannt war, obwohl die meisten ihrer Bewohner/ -innen ja nach Jerusalem ›zugezogen‹ sind. Vielleicht wurde Hafez von anderen Kindern in der Nachbarschaft ausgeschlossen. Hafez bildete seinen ersten Freundeskreis in einem für die palästinensischen Bewohner/-innen damals höchst prekären Raum, dem erweiterten Jüdischen Viertel. Im Zuge des ›Wiederaufbaus‹ des Jüdischen Viertels wurden arabische Bewohner/-innen enteignet und nur wenige Palästinenser/-innen konnten nach 1977 dort verbleiben (vgl. ausführlich Kap. 8.1). Als Hafez die oben erwähnte Frage nach einem Erlebnis aus seiner Kindheit beantwortet hat, übernimmt Yunis unerwarteterweise die Gesprächsführung und fragt, ob

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Hafez »seine« Karte der Altstadt in seiner Kindheit zeichnen könne, also welche Orte ihm wichtig gewesen seien. Hafez erklärt während des Zeichnens: »I told you almost, these three areas, of course the place where I live in [in the neighborhood], this is the house itself (1) all the Old City’s walls, well this is the [Old City gate next to the neighborhood] (2) now, that was the (2) Jewish Quarter, where you can go outside the Old City to Nabī Dāwūd, and Jaffa Gate of course (1) there you go outside to the you know the suburbs the- the fields of a Silwān ((J: mhm)) and aṭ-Ṭūr […] and of course, the other part, is the Eastern, Southern part which is eh al-Masǧid al-Aqṣā (2) not the mosque itself but, the=the yards and eh, some fields.«

Hafez teilt die Altstadt seiner Kindheit in drei Regionen auf, die er jeweils über Tore oder Felder einführt: Zunächst der Teil der Altstadt, in dem er lebt und den er nicht detaillierter einführt; zweitens das erweiterte Jüdische Viertel mit dem Zugang zur Natur, das positiv besetzt ist, und drittens der Haram aš-Šarīf (Tempelberg), wobei er sich vor allem auf die dortigen Grünflächen und nicht auf die religiösen Stätten bezieht. Auffällig ist, dass er diese drei Regionen nicht über ihre Nachbarschaften einführt, sondern jeweils über ihren Zugang zur ›Außenwelt‹ bzw. über die Freiflächen. Es scheint, als ob es für ihn als kleinen Jungen wichtig war – oder auch noch in der Gegenwart –, der Enge der Altstadt entfliehen zu können: »Inside the Old City we don’t have trees and so«, fügt er seiner Beschreibung an. Ähnliche Formulierungen wird Hafez später bei der Argumentation über einen gescheiterten Wohnungskauf in Bethlehem verwenden. Der Haram aš-Šarīf und das erweiterte Jüdische Viertel symbolisieren damit Teile der Altstadt, in denen mehr Bewegungsfreiheit vorhanden ist als in seiner kleinen Nachbarschaft. Der Aufenthalt auf dem Haram aš-Šarīf wird mehrfach von seiner eigentlich religiösen Funktion entkoppelt, obwohl die religiöse Bewandtnis dieses Ortes sicherlich von seinem Großvater mütterlicherseits und vom Vater an ihn weitergegeben worden war – doch die Freiflächen waren wichtiger als die symbolische Bedeutung des Ortes. Die kleine Nachbarschaft, die nicht explizit erwähnt wird, ist also der Gegenpol zum Spielen und zur Kreativität und mit Einengung verknüpft. Über jenen Ort der Einengung kann Hafez nicht erzählen. Auch die Unterscheidung zwischen Altstadt und ›NichtAltstadt‹, die er in seiner Selbstpräsentation so hervorhebt, ist in dieser Aufstellung angelegt. Die begeisterte Beschäftigung mit Natur und Pflanzen, die in anderen Zitaten aufscheint, ist ungewöhnlich im Vergleich mit anderen Interviews, in denen Interviewpartner ihre Kindheit hauptsächlich mit männlich konnotierten Beschäftigungen wie Fußballspielen beschreiben. Auf meine nochmalige Nachfrage nach einem Erlebnis aus jener Zeit erzählt Hafez nur von einer Situation. Es ist beinahe die einzige Erzählung aus seiner Kindheit im gesamten Interview und handelt von einer Begegnung mit seinen Freunden im erweiterten Jüdischen Viertel:

216 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT H: The kids were=were mixed of course no=no Jews with us but we had Armenians Christians Muslims f- from that quarter and me and some others who were came=came from=from other quarters (2) ah one day ah my (cherished) friend who invited me at first, became eh, I mean eh (1) who wanted me to=to to go to there and eh (2) he was called Muhammad, eh he had a small brother who’s deaf (2) so (1) he can’t speak well, I think the percentage fifty sixty percent he’s deaf ((J: mhm)) ah so we were playing one=one (2) one man in the forties I guess, a Jewish one with the kippah on his head, I don’t know how we=we had a some kind of ah (2) ah misunderstanding or so, so that kid started to talk to him (1) now his=his=his speaking was loud and un=no-=un=un-understandabstandable, hayadadadadadadada, that man thought that he was laughing at him, so he ran after him, we tried to=to take him away he hit him that was a little boy, but ah that man thought that he’s-, he’s really laughing at him, hm: shouting on him (1) I can’t forget that- that moment, you know it was ah eh relatively (2) peaceful days not like these days that=that was before the=the second and the first uprising […] we felt that eh, we we tried to=to tell him he’s eh ((Hebräisch)) hu harason hu lo yahol ledaber [er ist taub, er kann nicht hören] as a little kid trying to talk in Hebrew and to make him understand but he didn’t didn’t want to hear what we said, yeah he hit that boy at that time and he started to cry and so (1) AH J: You remember what happened then H: No, ju- just ah when he left him, he went in his way and we took that kid we tried to=to you know (1) to say that it’s okay (and

) nothing.

Hafez beginnt mit einer Bezugnahme auf den Ort, bevor er auf die Handlung eingeht. Er führt das erweiterte Jüdische Viertel ein und macht eine Trennung zwischen »Armenians Christians Muslims« einerseits und Juden andererseits auf und rekurriert somit auf ein einheitliches palästinensisches Nationalbild. Hafez führt sich als passiv ein: Er wurde von seinem Freund aufgefordert, dort hinzukommen, als ob er erklären wollte, warum er die Situation miterlebt hat. Darin erscheint ein als religiöser Jude kenntlich Gemachter als jemand, der behinderte Kinder schlägt. Noch in der Erzählsituation ist Hafez’ Aufregung über dieses Erlebnis erkennbar. Interessanterweise bleibt der Auslöser der Situation relativ offen (»misunderstanding«), und auch der Mann wird für seine Tat bis zu einem gewissen Grad entschuldigt, obwohl er, als der Mächtigere, nicht zuhört, sondern zuschlägt. Das ist die erste von ihm erzählte Begegnung mit jüdischen Israelis und wird sicherlich das Bild, das er von ihnen hat, mitgeprägt haben. Sein eigener Freundeskreis erscheint dagegen als friedfertig und gebildet – seine Freunde sind imstande, sich auf Hebräisch verständlich zu machen. Schließlich ist diese Situation auch im Kontext seines späteren gesellschaftlichen Engagements zu verstehen, bei dem es vor allem um die eigene kleine Nachbarschaft und um benachteiligte Familien und Kinder ging. Dieses wird stellvertretend in dieser Erzählung vorweggenommen und bestätigt das heutige Engagement.

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Hafez’ häufige Aufenthalte im erweiterten Jüdischen Viertel und auf dem Haram aš-Šarīf können auch durch die räumliche Nähe zum Haus des Großvaters begründet gewesen sein. Erst im internen Nachfrageteil beginnt Hafez davon zu erzählen, wie eng das Verhältnis zum Großvater mütterlicherseits war, der nahe am erweiterten Jüdischen Viertel lebte und den er angefangen habe, alleine zu besuchen, als er zwischen sechs und acht Jahre alt war. Sein Großvater sei ein hoch respektierter Mann gewesen. Respekt ist ein Begriff, der auch für Hafez wichtig werden wird und den er beispielhaft an einer Gruppe von Nachbarn einführt, die mit seinem Großvater jeden Abend zusammengesessen haben: »They had their own respect each one of them has his own eh kids, his ah his own people who respect his work, now these days you know it’s it’s very difficult to have that eh (1) that way of social life […] when=when eh one of them shout on the the kids in the street, whoever who were they, the streets gets calm, these days if you shout on your son you may get some trouble by=by your son.«

Hafez erscheint als Verfechter einer konservativen Sozialordnung zwischen den Generationen und eines traditionellen, männlich geprägten Nachbarschaftszusammenhanges. Diese Argumentation passt eigentlich nicht zu der Erste IntifadaGeneration, der Hafez angehört, sondern wurde in meinen Interviews häufiger von Mitgliedern älterer Generationen vorgebracht (vgl. Kap. 7.2.4). Während er durch diese wohlwollende Beschreibung die ›alte Zeit‹ argumentativ mit dem Heute vergleicht, erscheint eine andere Erinnerung mehr an sein damaliges Erleben gekoppelt: Wenn er nach dem Spielen in seinen dreckigen Kleidern bei seinem Großvater aufgetaucht sei, sei er von diesem gerügt und hinausgeworfen worden: »/Why do you come here you know I have my friends I’ve p- people whom I=I, I dislike to see you here like that ah in front of them/ yeah, when I go with my father or with my mother with my good- /yeah here you are now this is my grandson not that one/ […] I saw him a lot, but not as I told you it’s not that traditional sitting with eh, with his grandkids and start to tell them stories or so no it was eh active life, morning afternoon eh at night sometimes when we go t- to=to=to the house.«

Dem Großvater wird beinahe eine Ersatzelternrolle zugewiesen. Während die Mutter überhaupt nicht und der Vater nur als Vorbild auftaucht, wird der Großvater menschlich und lebendig beschrieben. Er war derjenige, der nicht in der kleinen Nachbarschaft wohnte, und derjenige, der sich am ehesten um die Kinder kümmerte und mit dem es ein so unproblematisches Verhältnis gab, dass Hafez leicht darüber sprechen kann (das ist ähnlich zur familialen Position von Hudas Großvater mütterlicherseits, vgl. Kap. 8.2.2).

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Die nächsten Lebensjahre Hafez’ sind schwer zu rekonstruieren. Zunächst seien kurz die wichtigsten biographischen Daten erwähnt: Ca. 1976, als Hafez ungefähr zehn Jahre alt war, starb sein jüngster Bruder Bashir im Alter von zwei Jahren. Im Jahr darauf wurde ein weiterer Bruder geboren, der, das ist in der arabischen Welt durchaus üblich (Eickelman 2002: 179), wieder Bashir genannt wurde und somit als ›Ersatz‹ gilt. Im gleichen Jahr setzte Hafez seine Schulkarriere auf der Mittelschule fort. 1978 starb der eben eingeführte Großvater mütterlicherseits im Alter von ca. 78 Jahren. Mit dieser Periode verknüpft sind ein von Hafez dargestelltes ›Heimkommen‹ in die kleine Nachbarschaft, in der seine Familie wohnt, und der Beginn seines dortigen Engagements. Sein Freundeskreis im erweiterten Jüdischen Viertel verlor zunehmend an Bedeutung. Dass Hafez einen verstorbenen Bruder hatte, war selbst Yunis, einst ein enger Freund im Kontext der kleinen Nachbarschaft, nicht bewusst. Das zeigt, wie wenig Hafez während der Jugendzeit über die Familie gesprochen hat, als der Tod Bashirs noch nicht lange zurücklag, bzw. wie belastend dieses Erlebnis für Hafez gewesen sein muss. Auf meine Nachfrage nach Bashir antwortete Hafez nur kurz: »He died at the hospital eh accidentally he became so hot he- my father I remember that moment when he hold him with his hands and (1) he get eh, a taxi took him to the, hospital, to the nearby hospital at the time and he died there (2) yeah.« Ähnlich wie in der bereits analysierten Situation im erweiterten Jüdischen Viertel befand sich ein jüngeres Kind in Not, auch ihm konnte Hafez nicht helfen. Was mit »accidentally« in diesem Abschnitt gemeint ist, ist ungeklärt, etwa, ob der Tod auf Fremdverschulden zurückzuführen ist. Es ist nicht abwegig, dass Hafez’ späteres Engagement für benachteiligte Kinder auch mit diesem Ereignis im Sinne einer biographischen Bearbeitung zu tun hat. Was der Tod Bashirs für den innerfamilialen Dialog bedeutet hat, ist schwer nachzuvollziehen; Hafez äußert sich auch hierzu nicht. War es etwas, was aufgrund der damals noch bedeutend höheren Kindersterblichkeit27 als gottgegeben hingenommen wurde? Machten Hafez oder seine Geschwister seine Eltern für Bashirs Tod mitverantwortlich? Band dieses Ereignis Hafez stärker an seine Kernfamilie und an die kleine Nachbarschaft? Oder nahm er dort immer noch die Enge wahr, die durch diese familialen Ereignisse verstärkt worden sein könnte? Dann würde das ›Verlassen der Enge‹ als biographischer Bestandteil weiter an Bedeutung gewinnen. Direkt nach der Erzählung über Bashirs Tod berichtet Hafez von einem Besuch bei Verwandten in Tulkarem zwei Tage vor dem Interviewtreffen. Hafez wechselt während des Interviews sehr häufig von der Vergangenheit in die

27 Aufgrund von mangelnden Angaben für Ostjerusalem seien hier die Zahlen für das Westjordanland angegeben, die von der Tendenz her sicherlich ähnlich sind: Im Jahr 1980 lag dort die Kindersterblichkeitsrate bei 50/1000 Geburten, 1995 bei 25/1000 (Diwan/Shaban 1999: 8). Im Jahr 2016 lagen die Schätzungen bei 14,6/1000 Geburten (CIA 2016).

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jüngste Gegenwart, als ob er sich von der Vergangenheit ablenken wollte, wie in diesem Fall von Bashirs Tod. Ein Jahr später, zur 6. Klasse, wahrscheinlich 1976, wechselte Hafez auf die Mittelschule, die drei Jahre lang dauerte. In diesen Jahren begann Hafez, sich vom erweiterten Jüdischen Viertel zu lösen und sich stärker in seiner kleinen Nachbarschaft zu verorten. Er selbst stellt es, wie gleich zu sehen sein wird, als Rückkehr dar. Zum einen könnte diese Rückkehr auf Anweisung der Eltern nach Bashirs Tod geschehen sein, weil diese sich um die weiteren Kinder Sorgen machten. Auch der Großvater, der ja in der unmittelbaren Nähe zum erweiterten Jüdischen Viertel wohnte, starb in jenem Zeitabschnitt. Durch den Schulwechsel änderten sich vermutlich auch seine Bezugspersonen, gleichzeitig machten die politischen Rahmenbedingungen und sozialen Veränderungen das erweiterte Jüdische Viertel schwerer zugänglich. Die meisten palästinensischen Einwohner/-innen sind im Rahmen des politischen Vertreibungsprozesses (bis ca. 1977) verzogen. »When I came back to=to=to the quarter, I came back as a- as a kid we=we’ve always been living here but I didn’t- a they didn’t s- see me ah a lot (2) we tried to, to get back to sport, in the local club here, really some=some kids said w=we don’t believe you’re eh a member of the Fuqaha family we don’t see you here (1) so: I=I=I came back and started my, let’s seelet’s say local activities here (1) when I get eh grew up eh I started to have some=some responsibilities at the club, and eh Yunis was there also, in that days, we needed some committees to you know take care of eh ah social and educational activities side by side with the sport activities, we were known as eh, some educated youngsters and, so, we started to have our place there, and since that time, till now- almost till now, we are working in that ah direction, especially in that, foundation.«

In diesem Zitat wird die Rückkehr »to the quarter« als eigenständige Entscheidung Hafez’ dargestellt und herausgehoben, dass seine Familie schon »immer« dort gewohnt habe. Er habe seine »local activities« begonnen und sich somit in der Nachbarschaft der Familie verortet. Damit meint er aber nicht das Spielen auf der Straße oder in der familialen Umgebung des Hauses, sondern seine Mitgliedschaft im nahegelegenen Jugendclub. Der Jugendclub ist auf der Ebene der Nachbarschaft (ḥāra) angesiedelt – weiter oben wurde bereits angesprochen, dass die kleine Nachbarschaft (ḥay) nicht formal organisiert ist (vgl. Kap. 7.2.2) –, doch der Club liegt gleich neben der kleinen Nachbarschaft und Hafez spricht nur von Freunden, die in der kleinen Nachbarschaft wohnen.28 Die Mitgliedschaft im Club scheint zunächst eher funktional als emotional wichtig gewesen zu sein – Hafez betont die Rolle, die er aufgrund seines familialen 28 Auch der Nachbarschaftsverein, in dem sich Hafez später engagiert, ist auf dem Level des ḥāra organisiert.

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Hintergrundes einzunehmen vermochte. Doch das Zitat zeigt nicht nur die vorangegangene Entfremdung von der kleinen Nachbarschaft, sondern auch von der Familie, wenn die anderen Kinder ihm vorhielten, er sei kein Mitglied der FuqahaFamilie. Hafez machte sich durch die nun folgenden Aktivitäten (wieder) als Teil der Nachbarschaft und der Familie sichtbar. Während des Interviews nimmt er wie an anderen Stellen einen Vergleich zwischen damals und heute vor. Die Zeit seit der Rückkehr in die kleine Nachbarschaft fließt zuletzt mit der Gegenwart zusammen, es ergibt sich ein unveränderliches Kontinuum. Das anfängliche »ich« im Zitat, das mit dem stark definierten »wir« der Kinder in der kleinen Nachbarschaft kontrastiert – die zunächst als von ihm abgeschlossene Einheit definiert werden –, geht immer stärker in ein »wir« über, das Hafez und Yunis im Jugendclub umfasst und eine Art Einheit bildet. Hafez betont die alltägliche Bedeutung des Clubs, der viele Möglichkeiten bot: Zusammenkunft, Sport und Bildung. Auch hatte der Clubzusammenhang eine wichtige Bedeutung für ihn, unter anderem schloss sich Hafez im Club mit jüngeren Kindern zu einer Clique zusammen (u.a. mit Yunis). Den Status seiner Familie in der kleinen Nachbarschaft und seine Stellung als deren ältester Sohn reproduzierte er später wiederum dadurch, dass er gemeinsam mit Yunis, der aus einem ähnlich angesehenen Elternhaus stammt, angefangen hat, Verantwortung im Club zu übernehmen. Die intellektuelle Rolle brachte Hafez und Yunis zügig in hervorgehobene Positionen. Sie seien eher für die anspruchsvollen Aufgaben ausgesucht worden, zum Beispiel ein Magazin zu gestalten, sagt Hafez. Das heißt, der soziale Status wurde reproduziert – die Söhne ihrer bekannten Väter begannen, ihre Stellung in der Nachbarschaft zu sichern. Ob es Hafez’ eigener Wille war oder ob die Familie in die Entscheidung involviert war (»we tried to get back to sport«), ist unklar. Der Club wurde zu einem Freiraum in der zuvor stets als eng beschriebenen kleinen Nachbarschaft. Freitags seien sie über den Zaun geklettert, wenn der Club geschlossen war. Sie hätten sich das Leben ohne den Jugendclub nicht mehr vorstellen können. Hafez’ Jugend: Verhandlung von familialen Aufträgen und räumlicher Erweiterung Direkt nach den oben analysierten Textpassagen zum erweiterten Jüdischen Viertel fährt Hafez ohne Pause fort zu sprechen: »When we were thirteen to sixteen years old or so, we started to take eh, some journeys out.« Er erwähnt Fahrten ins Jordantal und in die Nähe von Jericho, in das Wādī al-Qilṭ und ans Tote Meer – an spärlich besiedelte, aufgrund von extremen Wetterbedingungen auch nicht ganz ungefährliche Orte. Aufgrund der politischen Entwicklungen beginnend mit der Ersten Intifada und der zunehmenden Abschließung des Westjordanlandes sind solche Reisen für Jugendliche in diesem Alter heute nicht mehr vorstellbar, Jugendliche haben inzwischen einen viel geringeren Aktionsraum (wie Hafez auch in Bezug auf seine Kinder feststellt, siehe dazu weiter unten in der Falldarstellung). Er fügt aller-

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dings hinzu, es sei auch damals selten gewesen, dass Kinder in diesem Alter ohne Begleitung zu solchen Orten gefahren seien und dass manche Verwandte das für »verrückt« gehalten hätten. Hafez bietet sich in der Erinnerung an diese Zeit alles an, was vom Alltag der Familie und der Schule ablenkt: So berichtet er viel über den Jugendclub oder über wöchentliche Einkaufsreisen mit seinem Vater ins Westjordanland, die dieser Einengung entgegenwirkten. Hafez spricht zwar über den Alltag nach der Schule, aber er berichtet weder von den Schulstunden noch vom Familienleben. All seine Berichte handeln vom ›unterwegs‹ oder ›woanders‹ sein: im Club, beim Großvater, im erweiterten Jüdischen Viertel, auf Ausflügen – womit er der Familie und der kleinen Nachbarschaft ausweicht. Es wird bereits das deutlich, was ich später als Binarität von Einengung und Erweiterung definiere: dass Hafez dem Verbleib in der Altstadt eine ›Teilzeitablösung‹ von dieser entgegensetzte. Über diese Ausflüge mit Freunden erzählt er in ausführlichen, dramatisch ausgeschmückten Geschichten. So sei er mit vier Kindern, die er aus der Schule kannte, in die Schlucht Wādī al-Qilṭ gewandert, und sie hätten sich verlaufen. Weil sie den letzten Bus verpasst hätten, hätten sie trampen müssen und seien zu spät nach Jerusalem zurückgekommen. Hafez führt ein, dass er in dieser Gruppe wiederum der Älteste gewesen sei, womit er implizit auch die Verantwortung für dieses beängstigende Erlebnis übernimmt. Daher bekommt eine eher beiläufige Bemerkung am Ende dieser Geschichte eine größere Bedeutung. Sein Vater bestrafte ihn für das zu späte Nachhausekommen: »And by the way my father […] he promised me a new watch, when I get the good=good marks at school but when I came back so late that=that day, he canceled that.« Das Abenteuer, das Hafez außerhalb seiner kleinen Nachbarschaft erlebt hat, wird durch den Vater bestraft. Dem Vater ist es ein Anliegen, den schulischen Erfolg des Sohns zu unterstützen, für ihn musste der chaotische Ausflug daher als sanktionswürdig erscheinen. Doch der Vater erscheint auch als nicht berechenbar: Er widerruft sein Versprechen einer neuen Uhr wegen eines mit den schulischen Leistungen eigentlich nicht verknüpften ›Vergehens‹. Es wird insgesamt deutlich, dass sein Vater nicht nur wegen dieser Episode zunehmenden Einfluss auf Hafez’ Leben genommen hat. In der fortführenden islamischen Jungenschule, die Hafez ab der 9. Klasse im Jahr 1979 besuchte, unterrichtete auch sein Vater. Der Fokus auf die schulische Bildung, der bereits am Uhrenbeispiel zu sehen war, setzte sich dort fort; der Vater verlangte Gehorsam: »When he punished the=the kids once I was punished twice or thr=three times a day, ah as student you are the same by the way.« Der Vater bestrafte den Erstgeborenen hart und erklärte, er werde ihn in gleicher Weise wie jeden anderen Schüler behandeln. Von außen wurde der Vater, wie Yunis mir nach einem Gespräch erzählte, als imposante Figur wahrgenommen. Er sei so gläubig gewesen, dass er mit gesenktem Kopf durch die Straßen gelaufen sei, um den Frauen nicht in die Augen schauen zu müssen. Es ist wahrscheinlich, dass er ähnliche

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moralische und schulische Erwartungen an seinen Sohn herantrug. Versuchte Hafez bereits früh zu rebellieren oder versuchte er, gute Leistungen in der Schule zu erbringen? Entwickelte er ›Führungsqualitäten‹ oder wurde er in seiner Altersgruppe eher ausgegrenzt? Die Analyse deutet darauf hin, dass Hafez die Anforderungen seines Vaters auf andere Art und Weise zu erfüllen suchte, als dieser von ihm erwartete: Hafez war weder besonders religiös noch in der Schule besonders herausragend. Stattdessen kümmerte er sich um benachteiligte Kinder, er übernahm Verantwortung im Jugendclub. Zusammen mit seinem Bruder, einem Cousin, Yunis und einem weiteren Freund hätten sie sich beinahe täglich getroffen, mit kleinen sozialen Initiativen begonnen und sich in Komitees engagiert. In dieser Clique war Hafez laut Yunis’ Aussage wieder mindestens zwei Jahre älter als die anderen. Ob er mit seiner Protektion von Jüngeren früh Verantwortung übernehmen wollte und seine Rolle als Erstgeborener reproduzierte, ist unklar. Vielleicht war es auch gerade die Sorge, dass er früh Verantwortung übernehmen werden müsse, die ihn mit Jüngeren zusammenführte. Auf jeden Fall ist der Vater durch seine Aufträge an Hafez bestimmend, die Rolle der Mutter wird von Hafez nur angedeutet: »We loved our mother a lot of course but we can’t e- e- mention her ((Y: mh)), in comparison to our father.« Hafez weist, wie erwähnt, Frauen generell eine geringe Relevanz in seinem Interviewtext zu. Trotzdem bleibt, obwohl diese Aussage sicherlich auch durch seine Gegenwartsperspektive nach dem Tod seines Vaters beeinflusst ist, die Frage, warum die Mutter recht abschätzig beurteilt wird. Sind es die Unterschiede im Bildungsgrad, im sozialen Stand? Oder ist es die Orientierung an Männerfiguren in einem durch die Schwestern immer stärker weiblich dominierten Haus? Vielleicht lag auch darin einer der Gründe für seinen Drang ›nach außen‹. 1980, als Hafez 14 Jahre alt war, haben er und seine Clique ihre Beschäftigung mit benachteiligten Kindern in der Umgebung begonnen. Sie hätten versucht, diese in die Vereinsarbeit einzubinden. Sein Engagement könnte einerseits mit einer Bearbeitung des Todes seines Bruders Bashir zu tun haben und verweist andererseits auf die oben analysierte Situation mit dem tauben Kind im erweiterten Jüdischen Viertel. Was auf den ersten Blick wie ein selbstloses Projekt aussieht, um gesellschaftlich Ausgegrenzten zu helfen, war gleichzeitig für Hafez sowohl eine Möglichkeit, seine Stellung in der Nachbarschaft zu festigen, als auch sich temporär von zu Hause und aus der kleinen Nachbarschaft lossagen zu können: »So even though we had a club here but it wasn’t enough […] ah we found ourselves eh outside.« Im Rahmen der Aktivitäten mit benachteiligten Kindern begann Hafez mit seinen Freunden, regelmäßig eine Jugendbegegnungsstätte in Südisrael zu besuchen, die unter europäischer Leitung steht.29 Dort gab es auch Volontäre aus Europa. Hafez sagt, dass ihre Ambition gewesen sei, die Nachbarschaft und die Altstadt häufiger 29 Die Einrichtung ist im Text stark anonymisiert.

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zu verlassen. Er beschreibt ehrlich, was die Faszination der Jugendbegegnungsstätte ausgemacht hat: »Having three four days there ((J: mhm)) not to pay anything, also this is a considerable reason ((lacht)) yeah, and eh being with a group that includes also other volunteers eh from eh France or Italy or so, ahm, the activities that we thought of, like eh swimming in a pool […], eh so that atmosphere that takes you out of eh, this eh your quarter this area, and eh of course the the time I guess was eh, almost all the time in the summer holiday which is a time for=for=for travel or so, so all these aspects, side by side as I told you with the (2) maybe the need to=to help people this is also, something inside some people not=not anybody can=can cope with that thing, yeah that=that could be the reason (1) and dreaming of this thing from one year to another (2) till now I I don’t remember a year since maybe thirteen fourteen years till now I don’t remember a year, that a year passed without going there once or twice, at least, we feel, I don’t know what=what how how to say that (1) it’s something that you have to do, at least once a year.«

Es geht also nicht nur um das Entferntsein von der räumlichen Enge der kleinen Nachbarschaft, sondern auch um das Entferntsein von der Familie und von den gesellschaftlichen Regeln, die durch den Besuch der Jugendbegegnungsstätte teilweise außer Kraft gesetzt sind. Da Hafez aber einen moralischen Auftrag erfüllt, kann diese Fallhöhe ausgeglichen werden. Hafez erzählt nicht explizit darüber, wie sein konservativer Vater auf dieses Engagement und auf den Aufenthalt im europäischen Kontext reagiert hat, jedoch lässt seine Reaktion auf Hafez’ für ihn ungenügenden Bildungserfolg darauf schließen, dass er mit dessen Lebenswandel unzufrieden war. Im Jahr 1983, als er 17 Jahre alt war, beendete Hafez das tawǧīhi (Sekundarschulabschluss) mit einem Ergebnis von 68/100 Punkten. Was anderswo ein annehmbares Ergebnis und Grund zur Freude gewesen wäre,30 bedeutete im Hause der Fuqahas eine große Enttäuschung: »I didn’t get a good, ah marks at that time, I remember (2) my father was eh so upset, and he said at that time that, eh (1) he was badly affected from that, news that I had- my degree was eh sixty eight=sixty eight percent I got (1) and he expected more than eighty, he said that he

30 Mir liegen keine Angaben für die Prüfungen aus jenem Jahr in Ostjerusalem vor. Durchschnittlich besteht ungefähr die Hälfte aller Schüler/-innen im Westjordanland das tawǧīhi-Examen. Die durchschnittliche Note aller Prüfungen lag z.B. im Jahr 2008 bei 52/100, vgl. Ma’an News Agency 2008. Im Jahr 2016 werden an der al-Quds-Universität in Ostjerusalem für ein Geschichtsstudium 70/100, für ein Ingenieursstudium 80/100 und für ein Medizinstudium 90/100 im tawǧīhi benötigt, vgl. den Internetauftritt der al-QudsUniversität, http://www.alquds.edu, abgerufen am 31.05.2016.

224 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT was upset more than the the news that he lost eh that he lost his son, before, see how much he was affected.«

Der Vergleich seines Schulabschlusses mit dem Tod seines Bruders, den der Vater anstellte, hat Hafez schwer getroffen und sein Erleben stark beeinflusst. Mit der Bemerkung des Vaters stand im Raum, dass Hafez’ Tod einfacher zu verkraften gewesen wäre als dessen – in den Augen des Vaters – miserable schulische Leistungen. Während des Interviews verstärke ich unbewusst diesen thematischen Zusammenhang. Ich beginne die darauffolgende Frage mit dem einleitenden Halbsatz: »You said that your father was, really angry with you«, und nach Hafez’ zustimmender Bemerkung schwenke ich um und beginne einen scheinbar anderen Themenkomplex: »You said that one of your brothers died.« Durch die ungünstige Gesprächsführung lege ich unbewusst einen Finger in die ›Wunde‹, die Hafez offenlegte und auf die er immer wieder Bezug nimmt. Der Tod Bashirs und Hafez’ Engagement für benachteiligte Kinder bekommen eine neue Bedeutung: Seine sich wiederholende Position als Ältester in diversen Freundeskreisen könnte nicht nur mit seiner familialen Stellung als Erstgeborener zu tun haben, sondern auch mit der Bearbeitung von Bashirs Tod, den er nicht verhindern konnte. Des Vaters Bemerkung beim Schulabschluss wird Hafez gezeigt haben, dass seine bisherigen Versuche, eigenes kreatives Handeln in Verknüpfung mit einem an den Vater angelegten moralischen Verhalten zu entwickeln, offenbar ungenügend gewesen waren. Hafez versuchte danach, seinen Vater zu besänftigen – die Rolle seines Vaters zu imitieren und der Rolle eines ältesten Sohnes und kommenden Familienoberhauptes ›gerecht‹ zu werden. Hafez’ räumliche Unzufriedenheit bei der Familie und in der kleinen Nachbarschaft hatte somit mit seiner Stellung in der Familie zu tun und mit der Verantwortung, die ihm zugetragen wurde. Er arbeitete sich während seiner Jugend daran durch die Binarität zwischen sozialem Engagement in der kleinen Nachbarschaft und Teilzeitablösung von Zuhause durch Ausflüge und Reisen ab. Studium: Verspätete Erfüllung des Bildungsauftrages Durch seinen ›schlechten‹ Schulabschluss war es Hafez nicht möglich, direkt ein Universitätsstudium aufzunehmen. Neben einer praktischen Ausbildung, dem Einstieg ins Berufsleben oder einer ›Auszeit‹ standen ihm die Möglichkeiten offen, die israelische Hochschulzugangsberechtigung (psichometri) zu erwerben oder auf eine niedrigere tertiäre Bildung einzuschwenken. Hafez machte Letzteres: Er begann nach dem tawǧīhi – also wahrscheinlich 1983 – mit einem Produktdesign-Studium an einem Community College im Westjordanland. Das Community College ist eine Art Fachhochschule. Das Studium eines der technischen oder kaufmännischen Studiengänge dauert zwei Jahre und wird mit einer Prüfung abgeschlossen, die bis in

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die 1990er Jahre von der jordanischen Regierung und danach von der Palästinensischen Autonomiebehörde anerkannt wurde (World Bank 2006: 6): »I couldn’t get to a high you know, eh university or so because I didn’t have that eh, mark and I didn’t get eh- I didn’t have, the people to help me get in there in a way or another (2) so I (2) entered a community college (1) and at that time I started the=the interest of about design which, turned to to be there for for the rest of my life till now […] it was a good eh (2) a suitable let’s say grade for that stream since it’s a community college and when you get there with=with this mark it’s=it’s good.«

Hafez setzt sich zunächst von solchen ab, die durch persönliche Beziehungen an Universitäten gelangt seien, er nimmt also seine Rechtschaffenheit als Rechtfertigung dafür, dass er keine Universität besucht hat. Das erwachte Interesse an Designfragen wird von ihm beinahe als Berufung gesehen, später bezeichnet er es auch als »way of life« – dies schwächt implizit auch die Bedeutung von Verwandten und Freunden in der Nachbarschaft. Es erscheint zunächst so, als sei aus seiner pragmatischen Entscheidung heraus eine grundsätzliche Lebensänderung erfolgt, was sich jedoch an anderen Interviewstellen nicht belegen lässt. Als Fach kann Produktdesign auch als unideologisch beschrieben werden, als eines, das eine ›eigene Welt‹ eröffnet, die niemand anderes in der Familie und im Bekanntenkreis teilt. Da es in Palästina ein neues Fach war, kamen Gastdozenten an die Schule und er kam in Kontakt mit Produktdesignern aus der ganzen Welt. Damit bedeutete das Studium eine Fortführung der Binarität von Einengung und Erweiterung, von Verortung in der Nachbarschaft und von Versuchen, sich zeitweise davon zu distanzieren. Außerdem scheint am College die Hierarchie wieder umgedreht gewesen zu sein: Durch seinen vergleichsweise guten Abschluss für diese Institution konnte er unter den Studierenden hervorstechen und damit beginnen, die erlebte Bildungsniederlage zu bearbeiten. Trotzdem erfüllte er wohl kaum des Vaters Erwartungen. Zwar ›studierte‹ er letztlich, aber weder an einer Universität noch ein Fach, mit dem sein Vater im Hinblick auf gesellschaftliche Anerkennung etwas verbunden haben dürfte. Zunächst kann das Designstudium daher als formaler Bildungsabstieg gedeutet werden. Zudem beschreibt Hafez die Sorge, ob er mit dem Studienabschluss eine Arbeitsstelle bekommen würde. Das Studium des Fachs Produktdesign war also eine Mischung zwischen Erfüllung und Nicht-Erfüllung der Erwartungen des Vaters. Als Studienfach ist es zwischen Theorie und Praxis angesiedelt und vermittelt zwischen der handwerklichen Tradition der Großeltern mütterlicherseits und dem Anspruch einer akademischen Bildung durch den Vater. Es war auch die Fortführung von Hafez’ Rolle im Jugendclub, wo er als einer der Intelligenteren und als Gestalter galt. Gleichzeitig war die Fachwahl zu der damaligen Zeit ein eindeutiges Symbol für Modernität und gegen das ›Rückständige‹, das er im Elternhaus in der Altstadt erlebte. Dort blieb er trotzdem weiterhin wohnen, was zunächst etwas recht

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Naheliegendes gewesen sein wird. Erst ein bis zwei Jahre später, als Yunis sehr früh aus seinem elterlichen Haus auszog, wurde diese Frage relevant. Hafez erlebte sein Studentenleben als vollen Erfolg, allerdings hatte er während dieser Zeit immer die Bemerkung seines Vaters zum Tod seines Bruders im Hinterkopf: »And I was really- I had to=to prove myself since I, didn’t (1) pay enough attention at high school and that still affects me I mean the words of my father (2) so, I started to=to study there and I was- I had really excellent eh marks, and eh (2) I tried you know, to compensate or so for my father, and eh (4) before I get graduated from there I was accepted to work at the at the same college since I was, really- had=had good=good eh reputation and good marks grades in that eh college.«

Hafez hat die Kritik seines Vaters, er habe in seiner Schulzeit nicht genügend aufgepasst, internalisiert. Die Bemerkung des Vaters – über den Tod seines Bruders – beeinflusst ihn bis heute. Er wollte durch sein Studium die damit verbundene ›Schande‹ seiner nicht befriedigenden schulischen Leistungen wieder ausbügeln. Die Intervention seines Vaters zu seinem Schulabschluss hatte ihn lange im Griff und bestimmte sein Handeln. Doch, so betont er, das Studium habe nicht nur gute Noten gebracht, sondern auch Anerkennung und Respekt, wie er es immer als wichtig erachtet hatte. Hafez konnte nach seinem Studienabschluss als Dozent am Community College weiterarbeiten; er war ca. 19 Jahre alt. Von den neun Absolventen in seinem Bereich sei er einer von nur zweien gewesen, die eine Arbeitsstelle im gleichen Berufsfeld finden konnten: »I (3) considered it as a gift from God to start working that early and not spending one or two three years till I get some=some job here or there.« In dieser Evaluation übernimmt Hafez eine religiöse Sprache, die er sonst nicht benutzt. Das lässt den Schluss zu, dass »start working that early« eine Erwartung war, die von seinem gläubigen Vater an Hafez herangebracht und von ihm erfolgreich umgesetzt worden ist. Er vergleicht sich mit einer ›Normalbiographie‹, die damals und vor allem heute vielen Jugendlichen in Jerusalem droht: Arbeitslosigkeit oder das Verharren in informellen oder illegalen Arbeitsverhältnissen, langfristige Abhängigkeit von der Familie oder einem anderen sozialen Verband. Er stand – zumindest beruflich – früh auf eigenen Beinen. Das heißt aber auch, dass er früh als ältester Sohn mit der Übernahme von verantwortlichen Positionen konfrontiert werden konnte: Aufgaben für die Familie zu übernehmen und selbst eine Familie zu gründen. Hafez hatte zwar nicht den Bildungsstand, aber den ökonomischen Stand seines Vaters in jungem Alter mindestens gehalten. Auch in sozialer Hinsicht war er gut in der kleinen Nachbarschaft eingebunden: Er war engagiert und nahm wie sein Vater eine abgesicherte Lehrerposition ein. Wieder kümmerte er sich um das Wohl von Jüngeren, seiner Studierenden. Sein Arbeitsbeginn korrelierte auch mit

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dem Renteneintritt des Vaters im Jahr 1986. Hafez trug also dazu bei, das für die Familie notwendige Einkommen nach Hause zu bringen. Das war deswegen notwendig, weil seine Geschwister jünger waren, noch versorgt werden mussten und seine Schwestern wahrscheinlich noch nicht verheiratet waren. Bereits in relativ jungen Jahren gelangte Hafez in eine biographische Situation, in der familiale Entscheidungen auch ihm anvertraut werden konnten. Hafez selbst beschreibt das Studium und die ersten Arbeitsjahre als die beste Zeit seines Lebens und führt aus: »It’s the the=the period of time where=where you start to=to build your own personality and eh, having that eh new life rather than restricted school eh lessons and classes, ahm, that=that time, really affected me very, positively I guess, I like that days, now (3) and of course that extends for the first two three years of my job right there in the in the college.«

In diesen ersten Jahren nach seinem Schulabschluss hat wahrscheinlich seine Erleichterung bzw. Befriedigung über den erfolgreichen Weg, den er eingeschlagen hat, gegenüber der weiteren Lebensplanung, zum Beispiel Heirat, überwogen. Zur gleichen Zeit machten die Mitglieder der Clique aus dem Jugendclub, die zwei bis drei Jahre jünger waren, ihre Schulabschlüsse und begannen, sich unterschiedlich zu orientieren. Ich habe während des Interviews nichts über den Bildungsweg der Freunde und von Hafez’ Geschwistern erfahren, doch ein Datum wurde sehr prominent besprochen, das viel über die offenen und versteckten Dynamiken der damaligen Periode aussagt: Ungefähr 1987 zog Yunis vom elterlichen Haus in eine christliche Studentenunterkunft. Hafez berichtet in Yunis‘ Gegenwart: H: We used to go to=to, to the student’s house where he used to live there (2) till today I’m not sure why=why he should do that (2) leave the the- [neighborhood] yeah (2) since it was also- he wasn’t eh I mean his residence at the Old City was not so far from his university ((J: hmm)) but it seems that, he needed some privacy some, independence maybe to to hire a room or so maybe (2) even though he had that=that very nice room over the their house we used to spend a lot of time ((Y: I will tell you what’s that story)) there s’Allāhʿalā haḏīk al-ajām [Das waren Zeiten] Y: (Though) I tell you once why (2) why (I moved) there it’s a it’s a, student’s house there (2) and also you know searching for independence ((H: yeah I guess)) everybody does it in his way (2) do you remember- I don’t know if you remember that’s eh in the last years eh in so I stopped working for the youth club but I became volunteer [der Jugendbegegnungsstätte in Israel] ((H: ah)) ah you didn’t know that […] H: You know what you have to make a this research with some=someone like Yunis […] really yeah, he=he was unique more than and and ah

228 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT Y: I’m=I’m just really- really in the beginning I felt that’s, wha=what am I what am I goingH: He was revolutionary, you know on the (2) the=the habits and the social life of=of ours I mean, he=he’s known as a a, revolutionary, in the quarter, yeah cause he had that courage an eh (2) ah, step forward (1) we were more restricted to our eh (2) habits and eh culture and so (1) but he was really eager in to to go further (1) ahm (1) so that that really affected his eh personality (1) I’m sure (1) I don’t say that it’s good or bad ((lachend)).

Hafez drückt in dieser Interaktion sein bis heute bestehendes Unverständnis darüber aus, dass Yunis die kleine Nachbarschaft und das Elternhaus verlassen hat. Es zeigt sich, dass das Verlassen der Altstadt einem hohen Legitimationsdruck ausgesetzt ist. Bei Yunis zu Hause habe es genügend Platz gegeben, wo sie als Clique viel gemeinsame Zeit verbracht hätten – Zeit, die Yunis durch seinen Wegzug diskreditierte oder als ungenügend markierte. Yunis versucht im Zitat daraufhin, auf doppelte Weise das Thema zu wechseln: Einerseits bietet er mir an, mich »ein anderes Mal« über die »wahren« Gründe aufzuklären, andererseits wechselt er schlagartig zur Gegenwart. Wenig später kommt Hafez allerdings wieder auf das Thema seiner damaligen Freundschaft zu Yunis zurück. Er spricht als Vertreter der kleinen Nachbarschaft, wenn er sagt, Yunis habe als Revolutionär des Soziallebens gegolten. Im Umkehrschluss heißt das für Hafez, dass er kein Revolutionär war, sondern sich den sozialen Anforderungen in der Nachbarschaft untergeordnet hat. Diese Konfrontation zwischen den beiden hat wahrscheinlich bereits häufiger stattgefunden und die Mischung aus Neid und Entfremdung transportiert, die bei Hafez durchschimmert.31 Hafez’ Gefühl der Zersplitterung des Freundeskreises und des Verharrens im Elternhaus und in der kleinen Nachbarschaft wurde durch den Beginn der Ersten Intifada im Dezember 1987 noch verstärkt (zur Ersten Intifada vgl. Kap. 5.3). Einige seiner Freunde aus Schulzeiten (mit denen er die Ausflüge gemacht hat) wurden in dieser Periode für längere Zeit (er spricht von 15-20 Jahren) in israelischen Gefängnissen inhaftiert. Doch Hafez war in einer anderen Situation als viele seiner Freunde und auch Altersgenossen, obwohl er nominell zur ›Intifada-Generation‹ (vgl. Kap. 7.2.4) gehört: Er hatte ungewöhnlicherweise bereits einen festen, angesehenen Job. Er wird sich die Frage gestellt haben, ob er seine Position durch politischen Aktivismus gefährden sollte, und entschied sich, sich während der Ersten Intifada nicht am politischen Widerstand zu beteiligen. Die Erste Intifada zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass die Hierarchie in den Nachbarschaften zugunsten der jungen, aktiven Mitglieder der Erste Intifada31 Noch in der Gegenwart bleibt diese Ambivalenz erkennbar, wenn Yunis es schafft, im Gespräch mit mir innerhalb zweier Zeilen eine unterschiedliche Bewertung ihrer damaligen Freundschaft vorzunehmen: »He’s older than us but eh, we managed because (3) we had a lot […] of, common things we’ve done together.« Kurz danach sagt er: »Yeah actually we were completely different.«

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Generation invertiert wurde. Vom Alter und von seiner Qualifikation wäre Hafez sehr gut geeignet gewesen, eine repräsentative Rolle bei diesem Aufstand zu spielen. Zudem hätte der Aktivismus seine Stellung in der kleinen Nachbarschaft sicherlich noch verbessert, und Nachbarschaften haben während der Intifada generell an Bedeutung gewonnen.32 Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass aktiver politischer Widerstand zu einer generationellen Auseinandersetzung mit seinem Vater geführt hätte, dessen Anforderungen er gerade erst dabei war zu erfüllen. Während für andere Jugendliche in diesem Alter die Eltern an Relevanz verloren haben (Yair/Khatab 1995: 107), nahm für Hafez der Vater weiterhin eine zentrale Stellung in seinem Leben ein, weil er dessen hohen Erwartungen gerecht werden wollte. Auch seine Rolle als Dozent im Community College war schwierig. Auf der einen Seite musste er sich solidarisch mit politisch aktiven Schülern zeigen, die nicht sehr viel jünger waren als er – und viele Anführer waren in dem Alter seiner Schüler (Rouhana 1989). Gleichzeitig musste er seine Autorität als Lehrer wahren. Während Lehrer in der palästinensischen Gesellschaft traditionell hoch geachtet gewesen waren, weil sie als Sinnbild für Modernisierung galten und somit als die zukünftige Gesellschaft mitgestaltend, waren sie – zumindest die an den öffentlichen Schulen – eine der wenigen Gruppierungen der palästinensischen Gesellschaft, die kaum an der Intifada teilnahmen. In der Folge sank ihr Status innerhalb der palästinensischen Gesellschaft beträchtlich (Yair/Khatab 1995: 101-104). Die Lehrer hätten sich nicht mit ihren Schülern verbunden und versucht, sie von der Straße fernzuhalten. Zudem drangen immer wieder Polizei und Armee in die Schulen ein. Diese Faktoren hätten die Autorität der Lehrer delegitimiert (ebd.: 105, 109). Hafez selbst spricht im Interview sehr wenig von der Zeit der Ersten Intifada. Da sie für viele andere Interviewpartner/-innen zentral ist, ist anzunehmen, dass Hafez seine vielleicht nicht diskurskonformen Erfahrungen aus dieser Zeit nicht thematisieren möchte. Bei ihm hat auch die israelische Besatzungsmacht bei der Beschreibung dieser Zeit eine viel weniger zentrale Rolle als in den Interviewtexten der aktiven Kämpfer. Nur einmal spricht er nach mehreren Nachfragen über die Erfahrungen während der Intifada: »[We had] a lot of confrontations almost daily, with the soldiers we had a, a, they had ah a, (spotters) eh station for them, nearby, so the the kids used to throw stones on the street and then the jeeps came (1) so fast and that confrontation started, I remember that almost daily, at that time, and eh, we were affected also since the barrier started to to affect our life indeed we, it was so difficult to=to spend at least two hours going and coming back at least two hours a day.« 32 »With children home all the time, and male family members also spending more time in their homes, families and neighbourhoods were brought closer together.« (Hunter 1993: 129)

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In diesem Zitat beurteilt Hafez die Lage aus Sicht eines beinahe neutralen Beobachters. Die Konfrontationen werden als Aktion und Reaktion von Kindern und Soldaten beschrieben. Anstatt für das Bedürfnis nach Widerstand Verständnis zu zeigen, beklagt er sich darüber, dass auch er betroffen gewesen sei, weil die Straßenkontrollen sein Leben erschwert hätten und er wegen des Pendelns viel Zeit verloren habe. Nach diesem Zitat geht Hafez in einer distanzierten Evaluation vor allem auf die Nachteile der Intifada ein; besonders beklagt er sich über die negativen Auswirkungen auf das Bildungsniveau, detailliertere Erzählungen folgen dagegen nicht mehr.33 Es gibt Hinweise im Interview, dass Hafez sein Augenmerk in dieser Zeit vor allem auf seine professionelle Weiterentwicklung gelegt hat und seine ›normalen‹ Freizeitbeschäftigungen wie die regelmäßigen Aufenthalte in der europäischen Jugendbegegnungsstätte in Israel fortgesetzt hat. Zwar scheint er in dieser Periode – den ersten Jahren seines Dozentendaseins – keine wissenschaftliche Weiterqualifikation verfolgt zu haben. Aber er hat versucht, parallel zur Arbeit im College im privaten Sektor Anschluss zu finden: Er begann, kleine Spielsachen zu entwerfen und an Bekannte zu verkaufen. Hafez beschreibt die Faszination, die er damals für das in Palästina neue Fachgebiet Produktdesign empfand: »So every day I had a new information a new, materials, I=I had eh a registration with some, magazines from the States and Europe at that time […] so I=I=I remember when going to the post office to get the (1) to my books several times at the end of the month to=to waiting for that issue of that month.«

Hafez nahm wahr, durch das Warten auf die Post aus dem Ausland am Puls der Zeit zu sein – ein Tor zur Außenwelt. Diese Designwelt gesellte sich zu der Jugendbegegnungsstätte, und in dieser Lebensperiode waren beides Orte der Teilzeitablösung Hafez’ von seinem Zuhause: Er war weiterhin dort präsent, wohnte in der kleinen Nachbarschaft und bei der Familie, doch große Teile der Zeit war er entweder physisch oder geistig woanders – in Orten, die einen Gegensatz zur kleinen Nachbarschaft bedeuteten. Das, wofür die kleine Nachbarschaft stand (sozialkonservativ, muslimisch, arm), konnte er durch diese Teilzeitablösung bearbeiten, denn in den anderen Orten herrschten andere Regeln. Hafez zog nicht aus oder begann ein Studium im Ausland (wie Yunis). Es ist aber unklar, ob es sein eigener Wille oder der des Vaters war, der ihn davon abhielt.

33 Hafez spricht nicht über die Widerstandsaktionen in der kleinen Nachbarschaft, zum Beispiel gegen israelische Siedlungen, aber auch nicht über singuläre Ereignisse, wie zum Beispiel die blutigen Auseinandersetzungen in Jerusalem im Jahre 1989, bei denen 17 Palästinenser starben (vgl. Kap. 5.3).

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In seinen Studienjahren hat Hafez ein Maß an ›Freiheit‹ erreicht, das es ihm ermöglichte, trotz seines Verbleibs in der kleinen Altstadtnachbarschaft eine ›Teilzeitablösung‹ zu verfolgen, die durch Studium/Arbeit und durch die Aufenthalte in der europäischen Jugendbegegnungsstätte getragen wurden. Damit brachte er es zu einem finanziell, beruflich und sozial relativ eigenständigen Leben unter dem Dach seines Vaters. Dafür verlor er aber den Anschluss an die politisch relevante Bewegung der Ersten Intifada, an der viele seiner Altersgenossen in der Nachbarschaft teilhatten. Beginnende Einengung: Heirat und Familiengründung Bereits kurz nach Beginn der Intifada in Jerusalem forderte sein Vater Hafez auf, »to really start to think of marriage«. Im Interview entwirft Hafez zwei Hypothesen, warum sein Vater ihn so früh verheiratet wissen wollte: »Maybe my father thought that, I’m now, teaching at the community college, a lot of girls and kids around me maybe I guess, this eh marriage might be a very good eh, ahm, step to do to=to to protect my son fo- from, going here and there maybe maybe that could- and eh you know the, religious (base) is also of having your son being married if, if he has the ability, the financial and the personal ability I mean, and he thought that I had both of these things.«

Dass Hafez im Nachhinein diese Interpretationen vornimmt, deutet darauf hin, dass er sich nicht mit seinem Vater ausgetauscht und dieser die Heirat als natürlichen Schritt verstanden hat. Der erste Grund, den er hypothetisch für die Aufforderung des Vaters entwirft, bezieht sich auf seine Tätigkeit: Er sei von vielen »girls and kids« umgeben. Es ist wenig überraschend, dass ein konservativer muslimischer Geistlicher koedukativen Aktivitäten skeptisch gegenüberstand und dass der Vater Angst um Hafez’ Prozess des Erwachsenwerdens und dessen sexuelle Identität hatte. »From going here and there« kann daher einerseits die seinem Vater bekannten Freizeitbeschäftigungen Hafez’ umschreiben, die nicht unter seinem Radar oder dem der kleinen Nachbarschaft stattfanden, und andererseits dessen Sorge vor außerehelichen Kontakten. Hafez gehorchte und hat sich auf die Aufforderung des Vaters hin nach ›passenden‹ Ehefrauen umgeschaut. In seinem Fall kann davon ausgegangen werden, dass der Konflikt, der zwischen den Generationen während der Ersten Intifada bestand (vgl. Kap. 7.2.4), nicht ausgetragen wurde, da Hafez daran interessiert war, die Beziehung zu seinem Vater zu stabilisieren. Damit wurde aber auch er ein Vertreter der ›alten Ordnung‹. Vielleicht hat das seine Stellung in der kleinen Nachbarschaft zunächst negativ beeinflusst. Er lehnte sich nicht wie viele andere in der kleinen Nachbarschaft gegen die Besatzung und die ältere Generation auf, sondern folgte dem Rat seines Vaters, eine Frau zu suchen:

232 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »I guess it was a, traditional marriage, at that time, and it was eh close to my mind rather than my heart, I thought of a wife to be en, from a similar eh (4) f-, family or so (1) so her father was my=my father’s colleague, they were teachers at the school, they lived in the, quarter just by, our house, ah they were known as a calm people (2) that’s almost the thing I thought of rather than the the girl herself (2) when we married.«

Hafez hat also – wenn man der Darstellung glauben möchte – seine Ehefrau durch das ›Schachtelprinzip‹ gefunden. Weil er eher an den Kontext denn an die Frau selbst gedacht habe, nennt er es eine »traditional marriage«. Hafez scheint auch bei dieser Aufgabe vor allem versucht zu haben, seinen Vater zufriedenzustellen, was er auch auf mehreren Ebenen schafft: Der Vater sei sehr interessiert gewesen, sagt er an anderer Stelle, was bei der Wahl der Tochter eines Freundes aus einer ›rechtschaffenen‹ Familie nicht verwundert. Hafez’ Wahl entsprach also dem Stand der Familie. Sie kam zudem aus derselben kleinen Nachbarschaft – durch die Heirat wurde also die Stellung der Familie dort reproduziert oder sogar gestärkt. Hafez heiratete 1989, am Tag seines 23. Geburtstages. Der Intifada-Kontext schränkte die Feier stark ein: »It was prohibited to make these eh celebrities (1) by the you know the uprising guys who (2) who could have entered your house and dis- eh and frightened you fo=fo=for that or blame you for that.« Es wird deutlich, dass Hafez verärgert über diese Einschränkung war, aber dass es keine andere Möglichkeit gab, als den Bedingungen der Intifada-Aktivisten zu folgen.34 Das zeigt, dass Hafez eher den religiösen Vorgaben der Elterngeneration folgte (Heirat so schnell wie möglich), diese nicht politisch rahmte und dass er eben nicht Teil dieser »uprising guys« war. Aus der Gegenwart betrachtet, so Hafez, sei es nicht so weise gewesen, so früh zu heiraten: »I guess emotionally and eh f- eh: (1) thinking of being eh: mature enough, that wasn’t at that time.« Und kurz in eine Vergangenheitsperspektive übergehend, sagt er: »When I get married I’m=I’m sure that I get into some new life that will restrict my=my eh, my movement my eh, ambition maybe my eh, freedom let’s say, that’s what people think, but I used to be eh, and Yunis knows that I=I used to be that guy who’s really, ahm (2) loyal to=to the house to the manners of our eh community let’s say, so I didn’t feel a lot of change when I was married, and that might have been the the point of view since I didn’t, I=I used to go for a journey maybe once or twice a month a year and that eh continued, I didn’t eh have to stop eh going with my friend twelve or so at midnight because I didn’t use to=to be like that.«

34 »Weddings did not often materialize under the conditions of occupation. Big gatherings were occasionally prevented by curfews, and Palestinians themselves made political statements by suspending ostentatious celebrations.« (Jean-Klein 2003: 573, Anm. 30)

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Hafez drückt manifest aus, was bereits in den Interpretationen zu seinem bisherigen Lebensverlauf herausgearbeitet wurde: Er hatte Angst, die von ihm erarbeitete Freiheit zu verlieren, obwohl er der kleinen Nachbarschaft und seiner Familie gegenüber stets loyal gewesen sei. Doch er nennt diese Angst unbegründet. Unter diesen Vorzeichen kann auch die Partnerinnensuche anders gelesen werden: Die Wahl einer Frau innerhalb der kleinen Nachbarschaft bedeutete die räumliche Nähe beider Familien und Unterstützung im Fall, dass er nicht vor Ort ist. Auch Verwandtschaftsbesuche wurden unnötig. Hafez präsentiert seine Ehefrau im Interview fast durchgängig sehr unpersönlich. Sie taucht nur als Frau auf, die sehr talentiert in den »häuslichen Dingen« sei. Wahrscheinlich wurde in der Ehe eine rasche Familiengründung angestrebt, da Kinder den Erwartungen in der Familie und der kleinen Nachbarschaft entsprochen haben dürften. Das Ehepaar blieb in der kleinen Nachbarschaft wohnen, doch es deutet sich an, dass sich Hafez verstärkt in seine Arbeit und den Aktivismus gestürzt hat. Relativ kurz nach der Hochzeit machte er seinen Führerschein: »When I started to work eh wi=with people I mean selling my products and so, I needed to to go fo=for several places in=in, one day, so I started to to learn and get my driving license, so it was my first test mh, yeah I remember (2) YEAH that’s eh- that’s the idea (2) ah, as I remember.«

Er selbst stellt diese Verbindung nicht her, aber die Interpretation ist naheliegend, dass er durch die Erlangung des Führerscheins versuchte, mehr Unabhängigkeit von der Familie zu bekommen und die kleine Nachbarschaft bzw. die Altstadt verlassen zu können, wann immer er wollte. Sein Zögern am Ende dieses Zitates deutet darauf hin, dass es mehrere Beweggründe für diesen Schritt gegeben haben könnte, eben auch den Wunsch nach verstärkter Unabhängigkeit vom Altstadtkontext, was er aber nicht explizit ausspricht. Diese binäre Struktur von weiterbestehender Verortung in der Altstadt und Teilzeitablösung setzte sich fort. 1992, im Alter von 25 Jahren, kaufte er von seinem Onkel dessen Wohnung innerhalb des Familienhauses. Der Onkel zog mit seiner Familie in einen palästinensischen Stadtteil außerhalb der Altstadt. Hafez war bereit, die Wohnung zu übernehmen und eine neue Generation im Familienanwesen und in der kleinen Nachbarschaft zu etablieren, womit er größere Verantwortung für seine Familie übernahm. Hafez’ erster Sohn, Fadi, wurde 1992 geboren, als er 26 Jahre alt war. Im Jahre 1993 brachte seine Frau eine Tochter zur Welt. Hafez und seine Frau haben somit erst im vierten Jahr ihrer Ehe ein Kind bekommen. Ob das freiwillig oder unfreiwillig geschah, ist unklar, aber die Geburt wird für das Ehepaar eine Erleichterung gewesen sein, den Erwartungen der Umgebung nach Familiengründung entsprochen zu haben. Hafez spricht im Interview wenig über diese Periode. Daher bleibt es

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weitgehend unklar, als wie einengend oder wie befriedigend Hafez das Familienleben in der kleinen Nachbarschaft erlebt hat. Nur an einzelnen Textstellen finden sich Hinweise darauf. So erwähnt er in Bezug auf seine Kinder: »The eh older ones, I don’t know how to say it but I didn’t think that I’m a, really a good father and who, pays a lot of a- enough attention for them.« Er sei noch nicht reif genug gewesen, fügt er hinzu. Man kann annehmen, dass er seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zugewandt hat. Hafez hat seine regelmäßigen Aufenthalte in der Jugendbegegnungsstätte fortgeführt. Außerdem hat er sein Engagement verstärkt. 1994 wurde er Mitglied in einem palästinensischen Sozialverband. Sein Engagement im Nachbarschaftsjugendclub hatte er nie aufgegeben. Zudem war er in mehreren Nachbarschaftsorganisationen aktiv. Auch beruflich veränderte sich Hafez in jener Periode: 1996, im Alter von 30 Jahren, kündigte er seine Beschäftigung als Dozent und machte sich auf dem freien Markt selbständig. Nebenher gab er weiterhin Kurse für »something like prestige«. Die Suche nach »something like prestige« zeigte sich auch in seinem gesellschaftspolitischen Engagement. Dieses diente seiner weiteren Verortung in der kleinen Nachbarschaft und in Jerusalem. Vielleicht war es auch seine Antwort darauf, dass ihm jenes Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft abgesprochen worden sein könnte, weil er während der Ersten Intifada passiv und eher auf persönliche Bereiche konzentriert geblieben war und ihm somit ein »record of resistance« (Lybarger 2007: 134) fehlte. Engagement und deutliche Verortung in der kleinen Nachbarschaft können so interpretiert werden, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Das gesellschaftspolitische Engagement bedeutete die säkulare Fortführung der religiösen Arbeit des Vaters. Gleichzeitig aber bot ihm das berufliche und gesellschaftliche Engagement auch die Möglichkeit, eine größere Distanz zu seiner Familie und – durch die Mitgliedschaft im palästinaweiten Sozialverband – zur kleinen Nachbarschaft aufzubauen. Er konnte das Engagement als Fortführung seiner ›guten Zeit‹ vor der Heirat sehen: der Teilzeitablösung. Seine zwei kleinen Kinder werden die Wohnsituation in der Dreizimmerwohnung in der Altstadt beträchtlich beengt haben – eine Umgebung, die Hafez schon zuvor als eingeengt erlebt hat. Sein Engagement muss zudem vor dem Hintergrund der politischen Lage Jerusalems und deren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in der Altstadt interpretiert werden. Hafez spricht im Interview argumentativ immer wieder die in Unterkapitel 5.4 eingeführten schleichenden politischen Prozesse an, vor allem die zunehmende Kontrolle der Jerusalem ID. Wahrscheinlich wurde bei ihm bereits in den 1990er Jahren die Wahrnehmung von Einengung und Unsicherheit in der Altstadt, die in der Selbstpräsentation so wichtig ist, stärker. Wie gleich zu sehen sein wird, verstärkte sich Hafez’ Hadern mit dem Dasein in der Altstadt, seine Wahrnehmung einer zunehmenden Einengung und sein Wunsch, nicht nur eine Teilzeitablösung zu erreichen, sondern vollständig aus der Altstadt wegzuziehen.

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Die einschneidende Periode um das Jahr 1999 Die Jahre um 1999 – rund um seinen 33. Geburtstag – waren für Hafez mit zahlreichen einschneidenden Ereignissen verbunden. Gegen Ende der 1990er Jahre stiegen Hafez und seine Frau in ein Hausbauprojekt in Bethlehem ein, unweit der Jerusalemer Stadtgrenze; sie kauften eine der zu bauenden Wohnungen. 1999 wurde Hafez’ drittes und im Jahr 2000 sein viertes Kind geboren. Ebenfalls im Jahr 1999 hatte ein jüngerer Bruder seines Vaters einen schweren Unfall, und eine Großnichte starb, was den Vater hart traf, weil er sie großgezogen hatte. Doch vor allem starb Ende des Jahres 1999 Hafez’ Mutter. Sein Vater verfiel daraufhin in eine schwere Depression. Im Oktober des Jahres 2000 begann die Zweite Intifada. Die Sicherheitslage in der Altstadt verschlechterte sich, es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die Bewegungsfreiheit für Palästinenser/-innen wurde eingeschränkt, die Wirtschaft in Ostjerusalem kam weitgehend zum Erliegen (vgl. Kap. 5.4). Wahrscheinlich 2001 zog Hafez seine Beteiligung an dem oben erwähnten Wohnungsbauprojekt zurück. Es ist unklar, ob die ›zweite Phase des Kinderbekommens‹ eine Erfüllung eigener Wünsche war oder Ergebnis von familialem Druck. Es ist aber naheliegend, dass die Geburt weiterer Kinder im Zusammenhang mit dem Hausbauprojekt in Bethlehem zu sehen ist. Hafez erzählt darüber: »Well frankly speaking I=I’m thinking of a (2) eh several times encouraged by my wife, you know to to buy a piece of land or to buy (1) a house in=in the West Bank of course why is that since we can’t afford something here in Jerusalem […] so eh we had that ambition to have our own house, outside the=the, the walls of this little house we’re living in=in the Old City, we eager to see some some trees some birds around, which we we don’t see in the Old City of course especially these days, so we we planned several times to=to- and we started really, steps on=on=on, on land as they say, but we once we decided to buy a an apartment in some buildings that eh a f=foundation started to=to to build in Bethlehem I remember a very nice area in Bethlehem […] then ((hustet)) the (4) the Israelis started something ab- against the Palestinian Authority there (2) and eh, it was, converted into something like war which started eh the second Palestinian uprising, you know it was military very dangerous […] and so so to attack them and so, we I remember me- myself and other five who bought at that area, started bu- you know paying for=for=for that project, other five from Jerusalem we withdrew and eh, we had to cancel this eh dream.«

In diesem Zitat schreibt Hafez die Idee zum Wohnungskauf seiner Frau zu, die zum einzigen Mal im Interview eine aktive Rolle spielt; sie habe ihn dazu ermuntert. Zwar nennt er das Projekt ihren gemeinsamen Traum, aber es erscheint trotzdem so, als habe er zunächst einen inneren Widerstand, zuzugeben, dass es auch sein Wunsch gewesen war, woanders zu wohnen, ein Wunsch, den er aufgrund seiner Position in der Familie bislang nicht umzusetzen gewagt, verbalisiert oder forciert

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hatte. Erst in der letzten halben Stunde des Interviews kann Hafez in obigem Zitat über diesen gescheiterten Hauskauf sprechen. Diese mit vielen Argumentationen durchsetzte Erzählung steht im Interview für sich, unverbunden mit anderen biographischen Ereignissen. Das deutet darauf hin, dass er versucht, diese biographische Enttäuschung wenig zu erinnern. Wenn man bedenkt, dass nicht einmal Yunis bis zum Interview von diesen Plänen Hafez’ gewusst hat, dann steht im Raum, dass Hafez sie sogar verheimlicht hat. Und die Erzählung steht im Widerspruch zu seiner Präsentation, in der er sich als engagierter Nachbarschaftsbewohner definiert. Außerdem wird im Zitat deutlich, dass es sich nicht um eine spontane Idee handelte, sondern um einen lange gehegten Plan, der nach mehreren Anläufen schließlich zu funktionieren schien und dann doch scheiterte. Hafez verlor viel Geld durch verspätete Rückzahlungen. Interessanterweise spricht er von den Mauern des kleinen Hauses in der Altstadt, wobei die Mauern die persönliche Einengung sowohl durch das Familienhaus als auch die engbebaute Altstadt symbolisieren. Schließlich beklagt Hafez die fehlende Anbindung an die Natur, was die Erinnerungen an seine Kindheit wieder hervortreten lässt, als er in den Feldern spielte und Ausflüge unternommen hat. Diese Erinnerungen waren offenbar im Laufe seines Lebens immer präsent. Hafez erzählt mir über diese Periode auf meine Frage nach einem Erlebnis, als ihm klar geworden sei, dass er Angst vor der Zukunft habe, worauf er zuvor angespielt hatte. Der Hausbau und auch die für ihn schwieriger werdende wirtschaftliche Lage evaluiert er mit einer resignierenden Formulierung: »Yeah so eh that that eh time makes me really think a thousand time […] since it=it’s not (steady) it’s not things if=if you look at the future you see only fog you can’t plan anything.«35 Diese Geschehnisse passen nicht in sein ursprüngliches Präsentationsinteresse und konnten deswegen erst nach einer geraumen Zeit eingeführt werden. Das kurze Zitat zeigt das von Hafez seit dieser Niederlage empfundene Zurückgeworfensein auf das Alltagsleben in der Altstadt in einer als stagnierend erlebten politischen Situation, die keine Träume zulässt. Der gescheiterte Hausbau wird von ihm als Blaupause für sein Erleben der vergangenen 20 Jahre verwendet, doch tatsächlich waren es in dieser Periode nach 1999 auch die tiefen Einschnitte in Hafez’ Familienverhältnissen genauso wie in seinen finanziellen und den politischen Verhältnissen, die diese Evaluation hervorgerufen haben. Mit Beginn der Zweiten Intifada stieg in der palästinensischen Öffentlichkeit der gesellschaftliche Druck auf die Bewohner/-innen Jerusalems. Bekenntnis zur räumlichen Zugehörigkeit, familiale Solidarität und das Schützen des Altstadtbesitzes sind wichtige diskursive Figuren, denen Hafez kaum hat ausweichen können. 35 Die Textstelle zum Hausbau und ihre Rahmung könnte aber auch auf ein finanziell riskantes Abenteuer hindeuten, da sie direkt auf Hafez’ Bericht vom Auffliegen eines Jerusalemer Geldbetrügers im Jahre 2009 (vgl. dazu unten, S. 239) folgt.

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Hafez hätte im Falle eines Umzugs wegen der zunehmenden Kontrolle der Wohnsituation zudem riskiert, die Jerusalem ID für sich und seine Familie aufs Spiel zu setzen (vgl. Kap. 5.4). Vielleicht wurde von ihm in jener Situation in der kleinen Nachbarschaft stattdessen sogar erwartet, dass er sich mit seiner Expertise stärker einbringt, schließlich hatte er sich schon zuvor für die Nachbarschaft engagiert. Es ist wahrscheinlich, dass er – nachdem sein Vater wegen seiner Erkrankung diese symbolische Rolle nicht mehr ausfüllen konnte – eine repräsentativere Position einnehmen sollte, wie es ja in seiner Selbstpräsentation auch aufscheint. In Übereinstimmung mit der bisherigen Analyse ist es eher die Krankheit des Vaters als der Tod der Mutter, von der Hafez am meisten erzählt. Das mag einerseits daran liegen, dass sein Vater weiterhin körperlich zugegen war und Pflege benötigte. Es deutet aber auch auf die hohe Relevanz von Hafez’ Vater und dessen wichtige Stellung als Familienoberhaupt hin. Der Tod der Mutter wird nur beiläufig eingeführt: »My mother died em, at the end of nineteen ninety nine ((J: mh)), eleven years ago, ah it was accidental.« Auch in diesem Fall werden die Hintergründe des »accidental« Todes – wie bei seinem Bruder Bashir – selbst auf meine Nachfrage nicht eingeführt. Hafez stellt die Erkrankung des Vaters als Folge des Todes der Mutter dar. Dieser sei nach ihrem Tod apathisch und entscheidungsunfähig geworden. Als vierfacher Familienvater, nun Oberhaupt einer Familie mit neun Geschwistern und Verantwortlicher für ein Haus in der Altstadt von Jerusalem wird Hafez auf die familiale Verantwortung zurückgeworfen: »When you have your father and mother, you have something to=to: to stand by, but eh when I really lost both of them, in a short period of time, and I had my some of my sisters and brothers, were at my responsibility since eh two sisters were not married and one brother, ehm I felt responsible for something that I’ve never thought of (1) and that five years were really very difficult and critical for me, not financially of course, but I had to (2) to deal with a lot of things that I=I=I didn’t think I could.«

Diese Situation wird das familiale Zusammenleben noch stärker ins Zentrum gerückt und ihm die als schicksalshaft oder als ›Wink Gottes‹ interpretierte Eingrenzung seines Daseins noch stärker vor Augen geführt haben. Da er im Alter von 34 Jahren sehr jung für so eine Aufgabe war, wird er seine Position als Erstgeborener und die damit einhergehende Einengung bedauert haben. Die Option des Wegzugs stand nun nicht mehr zur Verfügung. Es blieb das Gefühl der Ohnmacht, in der Altstadt bleiben und sich dort in Nachbarschaft und Haus verorten zu müssen. Die persönlichen Schicksalsschläge können in ihrer Spiegelung auf der politischen Ebene analysiert werden: Die Aufgabe des Wohnungsplans und der spätere Rückzug aufs Altstadthaus gehen einher mit dem beginnenden Bau der israelischen Sperranlagen zwischen Teilen Ostjerusalems und dem Westjordanland im Jahr

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2002.36 Die Krankheit seines Vaters kann interpretatorisch mit dem Tod Faisal alHusseinis am 31. Mai 2001 verglichen werden, den Hafez selbst einführt. AlHusseini war beliebter Repräsentant der PLO in Jerusalem und Leiter der semioffiziellen Repräsentanz, dem Orienthaus. Zweieinhalb Monate nach seinem Tod wurde die Repräsentanz durch die israelische Polizei geschlossen. Damit war auch ein Macht- und Repräsentanzverlust für die Jerusalemer Palästinenser verbunden (vgl. Kap. 5.3). Hafez hatte bei der Schließung des Orienthauses das gleiche Empfinden wie bei der Depression seines Vaters: »[The Orient House] used to be ah, really a gateway people can (2) ah, show their complaints, and have ah, a wall to, to rely on let’s say, since it was closed, eh, people really now suffer, since they don’t have the, maybe the knowledge or the ability to face all these eh, foundations and=and=and offices.«

Hafez leitet in der Haupterzählung aus den Ereignissen rund um das Orienthaus sein gesteigertes gesellschaftliches Engagement in der Altstadt ab. Um das Jahr 2000 begann er vermehrt, Aufgaben im Nachbarschaftsverein zu übernehmen. In den folgenden Jahren wurde er Teil des Vorstands. Damit verortete er sich nach dem gescheiterten Wohnungskauf stärker in der kleinen Nachbarschaft, vielleicht auch, weil sein Vater dort nicht mehr präsent war. 2004 wurde er in den Vorstand des palästinensischen Sozialverbandes gewählt. Das deutet darauf hin, dass er die soziale Stellung seines Vaters durch ehrenamtliches Engagement in verschiedenen Positionen zu halten versuchte. Abgesehen davon erfahre ich wenig aus der Zeit zwischen ca. 2002 und 2008. Ich nehme an, dass Hafez’ Arbeitsalltag, sein ehrenamtliches Engagement und seine Aufgaben in Klein- und Großfamilie seine volle Aufmerksamkeit benötigt haben. Ab dem Jahr 2004/2005 scheint sich die Situation etwas entspannt zu haben: Hafez’ Vater sei aus seinen Depressionen »aufgewacht« und habe wieder begonnen, fünfmal am Tag zur Masǧid al-Aqṣā zu gehen. 2008 absolvierte sein ältester Sohn Fadi das tawǧīhi (Sekundarschulabschluss) und begann, an der al-QudsUniversität Informatik zu studieren. Parallel dazu arbeitete er als Aushilfe für eine große israelische Supermarktkette. Mit dem Universitätsstudium erfüllte Fadi zumindest formal den Bildungsauftrag, den sein Vater nicht hatte erfüllen können. Dass der Sohn zusätzlich arbeitete, deutet entweder auf ein begrenztes Budget der Familie hin oder auf den Versuch des Vaters, den Sohn zur Eigenständigkeit zu er36 Dies und die Armeeeinsätze machten auch das Reisen in die alte Heimat Tulkarem beschwerlich. Es war sein Vater, der sich, bevor er in Depressionen verfiel, immer wieder gewünscht hatte, dort hinzufahren. Dann waren Reisen wegen der Krankheit und der Intifada kaum mehr möglich, deswegen »I stopped eh going there for about maybe seven eight nine years«.

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ziehen. Oder es ist Fadis Versuch, mehr Freiheit vom Elternhaus zu erlangen, wie es Hafez durch seine Reisen und sein soziales Engagement gemacht hatte. Die Interpretation zu den finanziellen Belastungen wird davon gestützt, dass Hafez im gleichen Jahr begann, das Fach Technik an einem palästinensischen Gymnasium zu unterrichten »to have a you know, a job or so that gives you a fixed income at the end of the month«, gleichzeitig aber sein eigenes Geschäft behielt. Dass finanzielle Sicherheit ein relevantes Thema ist, zeigt sich auch an Hafez’ langer Erzählung über den Geldwechsler Ali al-Kurd, bei dem viele Jerusalemer/ -innen viel Geld verloren hatten. Dessen betrügerische Aktivitäten wurden im Frühjahr 2009 aufgedeckt, als Hafez wieder zu arbeiten begann (Günther 2010). Mehrere seiner Verwandten hatten bei al-Kurd Geld eingelagert, »as I told you it it’s something that eh affected every peo- every person who lives in Jerusalem whether he was involved or not«. Diese Begebenheit, die »jeder in Jerusalem kenne«, deutet darauf hin, dass er zumindest über seine Verwandten in diesen Skandal hineingezogen wurde und daher vielleicht zu finanzieller Solidarität gezwungen war. Seine Einbettung der Geschichte in von ihm als undurchschaubar wahrgenommene Machenschaften passt zu seiner Rahmung Jerusalems als unsicherem, stets im Explodieren begriffenen Ort, den er nicht verlassen könne. Hafez verweist auf lokale, ihn betreffende gesellschaftspolitische Begebenheiten, aber wiederum webt er seine Biographie nicht in den großpolitischen Kontext ein. So erwähnt er weder den Libanonkrieg von 2006 noch den Gaza-Krieg von 2009. Sein eigenes lokales Engagement kam im Jahr 2008/09 zu einem Höhepunkt. Mit der Nachbarschaftsorganisation erkämpfte er eine bessere Telefonzuleitung für die Bewohner/-innen. Dass sein Engagement biographisch gerahmt ist, wird nirgends deutlicher als an dieser Stelle: Ich frage ihn nach der Geschichte des Familienhauses und wer dort gewohnt habe. Daraufhin antwortet Hafez zuerst mit einer kurzen Erwiderung, dass man als Kinder in der kleinen Nachbarschaft gespielt habe, diese Atmosphäre sei das »natürliche Aufwachsen« (wie es in der kleinen Nachbarschaft immer wieder genannt wurde, vgl. Kap. 7.2.2) gewesen. Daraufhin fährt er unmittelbar mit einer detaillierten Geschichte fort, die folgendermaßen beginnt: »Eh there is a touch that I, myself would like to talk about it eh (2) eh since my, a position in the, foundation I told you about ((J: ja)) we used to struggle against the municipality for several, rights of=of=of us and=and, one of the things that we achieved and it’s a good thing for myself but I don- I dislike to talk about myself but this is was a real thing, eh was when they installed the new cable.«

Es zeigt sich, wie sehr Hafez trotz seiner Bemühungen, die Nachbarschaft zu verlassen, dennoch das ›Wir‹ der Nachbarschaft zu verkörpern sucht und für seine Bemühungen Respekt bekommen möchte. Und diese Verortung versucht er, seinen

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Kindern mitzugeben: Seine Tochter unterrichtete während des Studiums im selben Jugendclub wie er. Doch es gab dahingehend einen Konflikt zwischen ihm und seinem ältesten Sohn Fadi, der 2010 sein Informatikstudium an der al-QudsUniversität abgebrochen hat. Er, Hafez, habe schon zuvor gesagt, dass es an jener Universität keine Zukunft gebe. Daraufhin habe Fadi ein Designstudium an einem israelischen College begonnen. So wurde auf der einen Seite der Lebensweg Hafez’ eine Generation weitergetragen (Designstudium, aber nicht an der Universität), auf der anderen Seite lässt sich mit der Orientierung hin zur israelischen Seite, den manche Beobachter für ganz Ostjerusalem konstatieren (vgl. Kap. 5.5), ein Bruch beobachten. Hafez selbst scheint auf diesen Wechsel hingewirkt zu haben. Fadi erfüllte aber die Erwartungen seines Vaters weiterhin nicht genügend, weil er sich nicht sozial engagierte. Vielmehr deutet Hafez an zahlreichen Stellen im Interview seine Besorgnis darüber an, dass Fadi ständig zu Hause »herumhänge« und sonst nichts mache. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn scheint (zumindest altersbedingt) schwierig zu sein. Tod des Vaters kurz vor dem Interview Ende des Jahres 2010 oder zu Beginn des Jahres 2011 starb Hafez’ Vater im Alter von 78 Jahren. Während der Interviewtreffen ist Hafez klar bewegt von diesem Ereignis; im Verlauf des Interviews kehrt er immer wieder dazu zurück. Das war auch davon beeinflusst, dass mein Vater ein halbes Jahr zuvor verstorben war, was im Interview eine gemeinsame Reflektionsebene herstellte. Zur Beerdigung von Hafez’ Vater sei (so seine Übertreibung) die Hälfte der Jerusalemer Bevölkerung gekommen. Sein Cousin habe zu seinen Kindern gesagt: »See all these people came […] just because he was good and he- all people appreciate his manners.« Bis in den Tod hinein wird also der Vorbildcharakter des Vaters hervorgehoben: »I really miss him a lot I, he teached us a lot, I’ve learned from him a lot of things, he used to, read, a lot, more than we do.« So schwingt in Hafez’ Würdigung seines Vaters immer noch der Bildungsauftrag mit, an dem er sich so lange abgearbeitet hat. Der Tod des Vaters führte zu einer Wiederannäherung an die Familie in Tulkarem, vielleicht weil sein Vater dem nicht mehr im Wege stand. Eine Gruppe der wichtigsten Familienvertreter sei gekommen und habe kondoliert. Die Jerusalemer Fuqahas hätten ein kleines Haus in Tulkarem geerbt, aber es der dortigen Familie überlassen. Ihm seien beinahe alle Familienmitglieder in Tulkarem unbekannt gewesen, doch diese hätten sie sehr herzlich aufgenommen. Er habe nun mehr über seine Familie gelernt: »Really as if I am- I was just born there, eh so, unfortunately I’m now forty five years old and ah unfortunately this=this information I guess I had to know, so much earlier.« Hafez wurde nun mit der ›stolzen‹ Familienvergangenheit der Fuqahas konfrontiert. Enthusiastisch erzählt er, wie aktiv die Tulkaremer die Internetseite der Familie pflegten und historische Quellen studierten. Derzeit werde ein Buch über die Familie zusammengestellt, und sein Vater erhalte da-

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rin einen Platz neben anderen berühmten Familienmitgliedern. Das Wissen um die Familienvergangenheit, das bis dahin höchstens latent vorhanden war, ist dabei, sich in ein aktives umzuwandeln. Dieses Wissen kann aber auch die Verortung in Jerusalem gefährden: »I don’t know how much dangerous to=to=to talk about eh our roots, since as I told you we are considered the the=the owners of the- of this place I mean the Old City now, if some s- eh besides try- a decided to=to=to dig in these roots and to to try to to say something else […] so, as I told you these information are not so=so=so important, are not something to=to- I’m I live in Palestine, I consider all Palestine as a unit, Tulkarem Jerusalem, I was born in here I I get lost in Tulkarem I=I’m not sure if=if=if they want to- me to compare between Jerusalem and Tulkarem of course, Jerusalem a thousand times before Tulkarem I think of Tulkarem later, some place to go there and have some fun and go- get back to my, life here.«

Trotz der Faszination, die von den neuen Familienverbindungen ausgeht, ist Hafez vorsichtig oder sogar ängstlich und rahmt diese Kenntnisse als gleichzeitige Gefährdung seines Daseins in Jerusalem. Er betont, dass er letztlich Jerusalemer sei und die erweiterte Herkunft ein interessantes Beiwerk. Hafez leitete schnell Schritte ein, um den Nachlass seines Vaters zu regeln. Aber er ging noch weiter: Kurz nach dem Tod des Vaters trat er als Vorsitzender der Nachbarschaftsorganisation zurück. Die Aufgabe des Nachbarschaftsamtes lockerte das enge Geflecht, das ihn mit der kleinen Nachbarschaft verband. Hafez verfolgte schon immer parallel eine Teilzeitablösung von der kleinen Nachbarschaft – jetzt wurde sichtbar, dass er die erste Gelegenheit nutzte, um sich etwas aus der Nachbarschaft zurückzuziehen. Er argumentiert entweder resigniert oder entschuldigend, sein Vater habe eine große Lücke hinterlassen, die »you and your brothers will never close it, it’s a big gap he left, even in the neighborhood«. Die Nachbarschaft ist mit dieser »großen Lücke« verknüpft. Wie bereits weiter oben deutlich wurde, sagt Hafez, dass er nicht mehr oft in der kleinen Nachbarschaft zu sehen sei. Hafez ist dabei, sich von der Nachbarschaft auf sein Familienhaus zurückzuziehen, was mit einer weiteren Einengung der Verortung einhergeht. Die Wahrnehmung von Einengung in der Jerusalemer Altstadt hat in Hafez’ biographischem Verlauf stets zugenommen. Nach der Darstellung der Fallgeschichte kann dies vor allem auf die Dominanz der Familie und auf politische Ereignisse zurückgeführt werden, die Hafez vor allem in seiner Selbstpräsentation betont hat, die aber auch immer wieder in der Fallgeschichte deutlich wurden. In Jerusalem sei es, so Hafez, ein großer Kampf, dass das alltägliche Leben weitergehe, aber »Jerusalem doesn’t leave its people«. Die Personalisierung der Stadt drückt seine starke emotionale Verbundenheit aus. Und er fährt fort, indem er die Bedeutung der politischen Diskriminierung für seine gegenwärtige Einengungswahrnehmung in Jerusalem betont: »We can’t leave Jerusalem, we can’t leave it anyway, not- or- or- maybe be-

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cause of al-Aqṣā and-, we feel that we are now the the only guard that have to protect our, eh city let’s say, so we can’t leave it.« Besonders klar wird diese Einengung bei der Antwort auf meine Frage, ob es eine Situation gegeben habe, in der er gedacht habe, dass er lieber in Bethlehem und nicht in Jerusalem wohnen wolle. Hafez antwortet mit deutlicher Konsternierung: »Now frankly speaking this is the feeling that we all feel every day, every day.«

7.4

K URZE F ALLDARSTELLUNGEN

7.4.1

Der unglückliche Heimkehrer: Karim

Die Analyse des Interviews mit Karim (geb. 1972) verdeutlicht einen biographischen Verlauf von einer selbstverständlichen, unhinterfragten Verortung im Nachbarschaftskontext über eine zeitweise vollständige Ablösung von der kleinen Nachbarschaft bis hin zur Rückkehr in diese, die aber mit einem zunehmendem Erleben von Einengung und Fremdsein verbunden ist. Die Analyse zeigt also eine ähnliche Ambivalenz in der Verortung wie im Fall von Hafez. Nach einem von Karim nicht offengelegten, problematischen Erlebnis im Kontext der Ersten Intifada verließ er nach seinem Sekundarschulabschluss die kleine Nachbarschaft, mit der er bis dahin eng verbunden war. Der folgende achtjährige Auslandsaufenthalt in Deutschland prägte ihn stark und hat zur Entfremdung von seinen Freunden in der kleinen Nachbarschaft beigetragen. Seine Familie holte ihn wohl gegen seinen Willen 1999 in die Altstadt zurück, was von ihm als Schicksalsschlag interpretiert wurde. Karim gründete eine Familie in der kleinen Nachbarschaft, verortete sich aber nicht mehr dort, sondern zog sich weitgehend auf die Kernfamilie zurück. Karims Rückkehr nach Jerusalem – ein zentrales biographisches Ereignis – unterschied sich von der Definition des Heimkehrers bei Alfred Schütz (1972 [1945]), die nur freiwillige Rückkehrer einschließt. Karims Position ist trotzdem der von Schütz beschriebenen ähnlich: »Dem Heimkehrer bietet die Heimat – zumindest am Anfang – einen ungewöhnlichen Anblick. Er glaubt selbst, in einem fremden Land zu sein, ein Fremder unter Fremden, bis die Göttin den verhüllenden Nebel zerstreut.« (Ebd.: 70) Dieser »Nebel«, mit dem Schütz beschreibt, wie fremd dem Zurückkehrenden das Zuhause und den Zuhausegebliebenen der Rückkehrer zunächst erscheint, hat sich bei Karim allerdings in den folgenden Jahrzehnten nur bedingt verzogen. Karim lebt als Familienvater in der kleinen Nachbarschaft und fühlt sich dort seit seiner Rückkehr fremd. Seine Zurückhaltung gegenüber dem Nachbar-

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schaftsleben ist der von Hafez ähnlich (vgl. Kap. 7.3), aber zudem in starkem Maße von seiner Position als Rückkehrer geprägt.37 Karims zurückhaltende Art hatte ich lange Zeit als eher ablehnend mir gegenüber interpretiert. Obwohl er früher enger mit Mahmud, der jetzt den Lebensmittelladen führt, befreundet gewesen war, hielt er, wenn er dort vorbeikam, nur, um ein paar Phrasen auf Deutsch mit mir auszutauschen – dafür, dass er seit 14 Jahren nicht mehr in Deutschland war, beherrschte er die Sprache noch hervorragend. Auch nachdem ich ihn nach einem Interview gefragt hatte, war er sehr zurückhaltend, willigte schließlich ein, sagte einen Termin ab und tauchte bei einem weiteren Termin nicht auf – als sei er sich unklar darüber gewesen, ob er sich auf das Interview einlassen sollte. Schließlich trafen wir uns zu zwei zwar kurzen, aber intensiven Interviewtreffen. Sie fanden im Wohnzimmer seiner Zweizimmerwohnung statt, in der er mit seiner Frau und vier Kindern lebt. Die beiden Treffen zeigen exemplarisch, wie durch wiederholte Begegnungen mehr Vertrauen und Offenheit hergestellt werden kann (Rosenthal 2016: 40; Rosenthal 2015b: 29): Während ich beim ersten Treffen den Eindruck hatte, ihn zum Sprechen zu ›nötigen‹, ließ er beim zweiten Interviewtreffen sogar die Gebetszeit, für die er das erste Treffen noch beendet hatte, verstreichen, um das Interview weiterzuführen. Ähnlich wie Hafez beginnt Karim seine mit sechs Minuten vergleichsweise sehr kurze Haupterzählung mit einer groben Einbettung in die familiale Herkunft: Er entstammt einer bekannten ›Hebroner‹ Großfamilie in Jerusalem. Dann führt Karim die wichtigsten Geburts- und Heiratsdaten seiner Geschwister an. Nur kurz erzählt er von seiner Schulzeit und seiner anschließenden Ausbildung als Uhrmacher in Deutschland, bevor er auf seine Partnerschaft mit einer syrischen Frau eingeht, die in Deutschland geboren wurde und die er dort kennengelernt hat. Die beiden hatten heiraten wollen, »aber es hat nicht gepasst zwischen ihrer und meiner Familie«. Danach spricht er über seine Rückkehr nach Jerusalem, seine Heirat dort, seine vergeblichen Versuche, in seinem beruflichen Bereich eine Arbeit zu finden, was dazu führte, dass er als Pfleger im jüdisch-israelischen Kontext arbeitet. Er endet: »Das war mehr oder weniger die Geschichte.« Es ist die Thematisierung der gescheiterten Liebe, die die Haupterzählung von Karim von anderen unterscheidet. Sie deutet bereits zu Interviewbeginn darauf hin, dass er über dieses Kapitel seines Lebens mit mir sprechen möchte. Doch das bedeutet nicht, dass die Interviewführung einfach ist, da sich Karim trotzdem als schweigsam gibt. Er beantwortet Fragen selten ausführlicher, häufig bringt er Erklärungen, warum er sich nicht erinnern könne (z.B.: wegen seiner vier Kinder habe er keine gute Erinnerung), wobei mir aber klar wurde, dass er sich an bestimmte Erlebnisse nicht erinnern möchte. Häufig füllt er In37 Vgl. zu einer ähnlich prekären ›Zwischenstellung‹ einer Rückkehrerin, die nach einem längeren Auslandsaufenthalt wieder in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland lebt, Hinrichsen/Worm 2012 und Hinrichsen/Rosenthal/Worm 2013.

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terviewpausen mit generellen Argumentationen wie zum Beispiel: »Ja es ist nicht einfach das Leben ist auch nicht einfach.« Diese deuten darauf hin, dass seine Darstellungen zum Leben in Jerusalem von Resignation durchdrungen sind. Doch trotz dieses eher stockenden Interviews antwortet er auf meine Abschlussfrage, wie er das Interview empfunden habe, gegen mein Erwarten, dass ihm das Interview Spaß gemacht habe. Niemand anderem außer seiner Frau habe er ausführlich die Geschichte seiner Liebe in Deutschland erzählt. Es ist allerdings unklar, wie detailliert er sie eingeweiht hat. Das Interview bot ihm die Möglichkeit, etwas loszuwerden, über das er in der kleinen Nachbarschaft nicht spricht. Vielleicht hat Karim mir durch meine Herkunft aus Deutschland ein gewisses Verständnis für seine Erlebnisse dort zugeschrieben, was er seinen Nachbarn in der Altstadt nicht zuschreibt – ich wurde für ihn für kurze Zeit zu einer Vertrauensperson. Karims Großvater kam um 1910 als kleines Kind mit seinen Geschwistern aus Hebron nach Jerusalem (vgl. Kap. 6.4) und festigte das Dasein der Familie in der kleinen Nachbarschaft und in Jerusalem in den 1950er und 1960er Jahren durch den Ausbau des Familienhauses und den Erwerb eines weiteren Hauses. Sein Großvater unterschied sich von vielen anderen Migranten in der Altstadt dadurch, dass er bereits während der jordanischen Zeit ökonomischen Erfolg hatte. »Mein Großvater hatte Glück Anfang der Sechziger war er einer der reichen Leute.«38 Wie viele, die es sich leisten konnten, kaufte der Großvater vor 1967 ein Haus außerhalb der Altstadt, gab das Altstadtanwesen aber nicht, wie andere es taten, auf (vgl. Kap. 5.1), sondern baute es noch aus. Als Karim 1972 als zweiter Sohn geboren wurde, lebte die Familie im Neubau. Der Vater habe gesagt: »[Altstadt] ist für Ramadan und für die, für Frei- für Freitag und solche Sachen hier ist ein andere Atmosphäre, dort ist für die Sommer.« Das heißt, die Altstadt wurde mit ihrer religiösen Relevanz assoziiert, während der Neubau für die ›Moderne‹ stand. Vielleicht ging es der Familie auch um die Pflege der nachbarschaftlichen Zusammenhänge. 1978 zog die inzwischen weiter gewachsene Familie in die Altstadt zurück. Karim geht nicht auf die Gründe dafür ein, aber es war für ihn ein einschneidendes Erlebnis: »Ich hab keine Erinnerungen von [der Zeit außerhalb der Altstadt] nichts, und das ist dumm für mich ((lacht)) dass ich dass ich war sechs Jahre alt und ich kann mich überhaupt nicht erinnern was ist wi- wie war unser Leben [außerhalb der Altstadt] aber das erste Nacht hier [in der Altstadt] kann ich mich erinnern.«

Es ist an dieser Stelle nicht zu rekonstruieren, was genau diesen Unterschied zwischen den beiden Wohnorten ausgemacht hat. Feststeht allerdings, dass den Orten

38 Karims Mutter und deren Herkunftsfamilie werden dagegen während des Interviews nicht erwähnt.

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Altstadt und kleine Nachbarschaft besondere Einflüsse zugesprochen werden, sie sein Erinnerungsvermögen stimuliert haben. Karim ging auf die gleiche fortführende Schule wie die meisten Kinder aus der kleinen Nachbarschaft. Seine Eltern hätten ihn kontrolliert und versucht, vor Drogen und den »schmutzigen Sachen« zu schützen, »und das war gut finde ich«, so Karim. In der Jugend habe er mit Mahmud, der nun den Lebensmittelladen führt, und einem anderen eine Clique gebildet, Sport getrieben, Karten gespielt. Er betont die entspannte Jugend, die »guten dummen Sachen«, die man gemacht habe – also eher ›Lausbubenstreiche‹ als eine Auflehnung gegen die sozialkonservative Umgebung: »Wir als, junge Leute, wir haben keinen Blödsinn gemacht ((J: mh)) wir waren nicht von die junge Leute dass sie Blödsinn so mit Mädchen und trinken und rauchen […] wir haben nicht so viel ah dumme Sachen gemacht […] nicht schlechte dumme Sachen gemacht, ah, es war gute.« Karim absolvierte seinen Sekundarschulabschluss (tawǧīhi) im Jahr 1990, während der Ersten Intifada (vgl. Kap. 5.3). Dies war eine für ihn sehr einschneidende Periode. Er weigert sich beharrlich, mehr darüber zu erzählen. So folgt auf meine Nachfrage Karims maximale Distanzierung von dieser Zeit: »Das ist ein Zeit das man ah das ich nicht mag über, zu ihn zu erinnern oder zu erzählen über diese Zeit, das ist kein, ah kein Zeit dass ich=ah mich=ah erinnern ((J: mh)) will oder ah mag (2) ((J: ja)) u es gibt Zeiten dass man sagt […] dass du sagst wenn diese Zeit ist gelöschen von meinem Leben ist dann ist dann ist besser und ich sag das, wenn diese Zeit ist gelöschen, ((J: mhm)) dann ist mir lieber.«

Karim sagt außerdem: »(Ich will) über die Zeit nicht viel erzählen weil es gehört zu andere Leute, das=ah das war mit andere Leute.« Damit könnte gemeint sein, dass er in dieser Zeit nicht im Widerstand aktiv gewesen ist, die von ihm an mich zugeschriebene Erwartung an seine generationale Zugehörigkeit zur Erste IntifadaGeneration somit nicht erfüllen kann bzw. damit nicht assoziiert werden wollte oder andere Aktivisten ohne ihr Einverständnis nicht benennen will. Das deutet also einerseits auf unausgesprochene Erlebnisse im Freundesumfeld der kleinen Nachbarschaft hin. Auf meine Nachfrage erwähnt er andererseits aber auch, er sei zwei Tage im israelischen Untersuchungsgefängnis Muskūbīya in Jerusalem gewesen. Dort »konnte man ah, n- n-, konnte man nicht sein ah Rechte kennen, ((J: mh)) dass sie dürfen das machen nicht machen das nicht machen und das und jenes«. Diese Aussage deutet im Zusammenhang mit seinem Hinweis, dass man heute Gefangene nicht mehr anfassen dürfe, darauf hin, dass es bei dieser Verhaftung zu Folter gekommen ist. Die Erlebnisse im Kontext der Nachbarschaft und im Gefängnis, die aber nicht detaillierter rekonstruiert werden können, waren wahrscheinlich eng mit seinen kurz darauf beginnenden Vorbereitungen für den Auslandsaufenthalt verknüpft.

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Die harmonisch dargestellte Jugend wird in Karims Darstellung durch die Erste Intifada zerstört. Er fühlte sich nicht mehr als Teil der Altstadtjugendlichen. Es scheint etwas Unaussprechliches gegeben zu haben, was ihn hindert, mehr über diese Zeit preiszugeben. Auf jeden Fall gründete sich in der Zeit der Ersten Intifada ähnlich wie bei Hafez eine leichte Außenseiterstellung Karims, die sich bei ihm durch den Auslandsaufenthalt verstärkte und bis in die Gegenwart in der kleinen Nachbarschaft relevant ist. 1990, als er 18 Jahre alt war, belegte er Deutschkurse in Jerusalem und arbeitete parallel. 1992 zog er in die norddeutsche Stadt Flensburg und begann bei einem mit seinen Eltern befreundeten Uhrmacher eine Ausbildung, die er 1996 erfolgreich beendete. Nach anfänglichen Sprachschwierigkeiten lebte er sich, seiner Aussage nach, gut ein. Er reiste extensiv durch Deutschland und besuchte Jerusalem in dieser Periode nur einmal.39 Bereits im Jahr 1995 hatte er eine Beziehung mit einer Frau begonnen, deren Eltern aus Syrien stammten. Sie seien verlobt gewesen und hatten heiraten wollen. Er habe nach der Lehre sogar eine Arbeit in einer exklusiven Uhrenmanufaktur in Freiburg gefunden, was er als seinen Traumjob bezeichnet. Trotzdem kehrte er 1996 zurück nach Jerusalem, wahrscheinlich auf Druck seiner Familie. Nach der Rückkehr arbeitete er zunächst als Mechaniker und in einem Hotel. 1998 ging er noch einmal zurück nach Deutschland. Ende 1999 kam es jedoch zur endgültigen Auflösung der Beziehung und zu Karims abermaliger Rückkehr nach Jerusalem. Karim sucht im Interview die Begründung für das Scheitern der Beziehung: Einmal sagt er, ohne es weiter zu spezifizieren, dass seine Partnerin als Syrerin nicht habe nach Jerusalem kommen können, und er habe letztlich wieder dorthin zurück gewollt. Später führt Karim seine Familie als Hinderungsgrund an. Diese habe gefordert, »dass ich hierher komme (3), und ich wollte das auch«. Und er fügt an: »Und ich glaube sie haben recht (3) wenn man denkt nach.« In einem anderen Interviewabschnitt führt er weiter aus: »Nein, nicht meine Familie, nein das war, ah, die Familie sie ah sie hat zu mir gestanden, ich das war ich wollte das, wenn ich das nicht wollte dass ah wenn ich wollte dass ich in Deutschland ah bleibe dann=a bis jetzt ah das ist mein Standpunkt nicht meine Familie, ((J: mhm)) sie sie wollten das auch (hinter mir) ((J: mhm)) aber wenn ich das nicht wollte dann ah ist mein Leben […] aber sie ah zufällig dass sie wollten das ich das ich und meine Familie dasselbe, Meinung waren, aber ich wollte das nicht meine Family (4) und ihre Family auch [nicht].«

39 Wahrscheinlich war es auch notwendig, zeitweilig nach Jerusalem zurückzukehren, um die Jerusalem ID zu erneuern (vgl. Kap. 5.4).

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Sein Lavieren in dieser Interviewpassage deutet auf die komplexen Aushandlungen innerhalb der Familie hin, die seiner Rückkehr vorausgingen. Wenig verhüllt ist die Warnung der Familie zu erkennen, dass er, wenn er in Deutschland geblieben wäre, nicht auf die Unterstützung der Familie hätte hoffen dürfen. Die Familie kontrollierte ihn also noch im Erwachsenenalter. Karim versucht zwar in obigem Zitat, die Entscheidung auch als die seinige darzustellen, was ihm aber nur bedingt gelingt. An anderer Stelle fasst er zusammen, wie belastend die Entscheidung zur Rückkehr in die Altstadt für ihn war: »Man glaubt am Anfang ah (2) das Leben wird=a: stoppen auf diese, auf diese Ereignis aber das Leben geht weiter und, alles geht weiter.« Karim blieb in Jerusalem, und nach einer Weile brach der Kontakt zu seiner syrischen Ex-Freundin ab. Kurz nach seiner endgültigen Rückkehr bewarb er sich im Jahr 2000 um ein Arbeitsvisum für die USA, wo er in einer Uhrenfabrik hätte arbeiten können. Das Visum wurde jedoch abgelehnt, und nach dem 11. September 2001 habe er es nicht noch einmal versucht, so Karim. Das deutet darauf hin, dass bei seiner vorherigen Rückkehr die Familie primär seine Partnerin nicht akzeptierte, nicht aber eine dauerhafte Migration nach Deutschland ablehnte. In der Zwischenzeit hatte die Zweite Intifada begonnen (vgl. Kap. 5.4). Karim versuchte erfolglos, die Stadt Jerusalem, mit der er offensichtlich negative Erlebnisse verknüpfte, wieder zu verlassen. Doch nach dem erfolglosen Versuch habe er »vergessen ah mit Fliegen und hin und her«, und eine Familie gegründet. Auf meine Frage, ob er enttäuscht gewesen sei, antwortet er: »Manchmal sitzt du in deinem Zimmer kommst du nicht raus zwei drei Tage.« Karim drückt hier seine Resignation aus, vielleicht hat es sich auch um eine depressive Phase gehandelt. Und dann evaluiert er – und hier erinnert er in seiner Resignation an Hafez: »Ich glaube an die Schicksal mein Schicksal, ist dass ich muss hier in Jerusalem bleiben ich heirate hier ich bekomm hier Kinder deswegen, ich hab nicht in Deutschland geblieben ich hatte kein Visum bekommen zur USA.« Karim fügt an: »Und es ist nicht leicht.« Der Stadt Jerusalem wird – wie in anderen Fällen in meinem Sample – eine schicksalsbestimmende Rolle zugeschrieben, die auch als Erklärung für belastende Lebensverläufe herhalten muss. Karims Lebenssituation in Jerusalem wurde dadurch erschwert, dass er das, was er sich in Deutschland beruflich aufgebaut hatte, in Jerusalem nicht weiterführen konnte. Weil in den palästinensischen Gebieten die Bezahlung zu schlecht gewesen sei und er in Israel aufgrund von rassistischen Vorurteilen abgelehnt worden sei, verließ Karim sein Arbeitsgebiet und begann, mit älteren Menschen in einer israelischen Siedlung zu arbeiten. Mit diesem beruflichen Abstieg wurde er Teil des Ostjerusalemer ›Serviceproletariats‹. Im Jahr 2001 verlobte er sich auf Vermittlung eines Freundes mit dessen Cousine, einer weit entfernten Verwandten. Auch in diesem Lebensbereich entschied er sich – oder es wurde ihm von der Familie nahegelegt – zur Rückkehr zu ›traditionellen‹ Arten der Partnerinnenfindung im Gegensatz zur romantischen Liebesbezie-

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hung in Deutschland. Nach der Heirat zog das Ehepaar zunächst in eine andere Altstadtnachbarschaft, kehrte im Jahre 2005 mit ihren Kindern aber zurück in das Familienhaus, wo Karim heute noch wohnt. Vor dem Hintergrund der Erlebnisse mit seiner Familie und den negativ konnotierten Erlebnissen während der Ersten und kurz nach seiner Rückkehr während der Zweiten Intifada steht er seiner Gegenwart in Jerusalem mit Angst und Resignation gegenüber: Man wisse in diesem Land nicht, ob man von der Arbeit zurückkomme, und sein Sohn habe Angst, alleine in die Schule zu gehen: »Man ist nicht ah kann man sagen ist nicht glücklich, wenn man hier lebt in die Nahen Ost is ah man ah (2) wenn man Mensch ist dann er ist nicht glücklich weil ah das Tod ist, überall, es hat kein Ende.« Karim verortete sich also auf verschiedene Weise in Jerusalem: Ähnlich wie Hafez während seiner Jugendjahre hat sich Karim zunächst in der kleinen Nachbarschaft verortet und verbrachte die Zeit in einer Clique mit Nachbarskindern. Durch die Erste Intifada kam es zum Bruch. Karim reagierte darauf, indem er sich vollständig von der Nachbarschaft ablöste und Jerusalem verließ. Doch er musste dorthin zurückkehren, was vor allem auf den familialen Druck zurückzuführen ist. Wie bei Hafez gab es bei Karim nach seiner Rückkehr die Tendenz, sich auf die Kernfamilie zurückzuziehen und weniger Kontakt und Austausch in der kleinen Nachbarschaft zu pflegen. Karim verallgemeinert seine gegenwärtige Lebensphase, in der er sich auf seine Kernfamilie zurückgezogen hat, in einer Argumentation für seine gesamte Lebensgeschichte, obwohl weiter oben die frühere Einbindung in die Nachbarschaftsclique und die Verortung in der kleinen Nachbarschaft klar erkennbar geworden sind: »Ich war ich als Karim ich bin ein (2) zurückhaltender Mensch ((J: hm)) ich geh nicht zu Leute (2) deswegen ah wie ich so klein war ich hatte nicht viel Freunde, ich bin nicht in die, in die ah, ḥāra ich war nicht so, ein=a: ein (2) ein Mensch das, das die Leute ihn kennen bis jetzt, wenn du kommst von draußen und=a fragst Du Leute Karim Abu Khalili, wer ist Karim wir kennen keinen Karim, ich bin so ein zurückhaltender Mensch als ich klein war, ich bin nicht=ah die Mensch das er zu ((J: mh)) Leute geht ich bin so so zurückhaltender Mensch deswegen, ah, ich liebe immer, zu Hause zu bleiben ich mag nicht, draußenzusitzen ich sitze manchmal draußen aber nicht so, viele Zeit […] die, Nachbarn hier die in diese in dieses Haus [gegenüber] wo ist, ah Majd und diese Familie, jetzt=ah bevor ah zwanzig Jahren es gab dort eine Familie […] sie waren unser Freunde aber jetzt nach dass er ihr Haus verkauft jetzt von einer Familie kam zehn Familien […] ich kenne keine von denen.«

Karims Lebenserzählung verweist so auf seine Schicksalsergebenheit; gleichzeitig vermittelt er das Gefühl, in der Nachbarschaft nicht sein eigenes Leben zu leben. Im Hintergrund sind die Erinnerungen und Versprechungen eines erfolgreichen und selbständigen Lebens in Deutschland präsent, die im Gegensatz zur Gegenwart in der engen Nachbarschaft, zu einer vermittelten (aber stabilen) Ehe, einem ausbeute-

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rischen Job und der politischen Situation stehen. Die Lebensgeschichte verweist auf die mögliche Macht der Familie in Palästina auch über große geographische Distanz hinweg und auf die Schwäche von Karim, sich von ihr zu lösen. Dementsprechend hält er sich mit Beschuldigungen an seine Familie zurück und beschreibt die Nachbarschaft als sein Zuhause – obwohl er sich dort nur wenig verortet. Eine der Erklärungen, warum er sich in der kleinen Nachbarschaft fremd fühlt und kaum am Nachbarschaftsleben teilnimmt, ist, dass sein Leben in Jerusalem und in der kleinen Nachbarschaft nicht – wie die Liebe in Deutschland – frei gewählt ist. Die Nachbarn sind immer da, aber sie sind für ihn keine Vertrauenspersonen. So ist auch Karim in der Altstadt gefangen. Das »niemand kennt mich« im oberen Zitat kann auch so gelesen werden: Niemand kennt meine Geschichte. Das entspricht wiederum der Schütz’schen Konzeption des Heimkehrers: dass die Zurückgebliebenen nicht seine »individuellen Erfahrungen verstehen, die aus ihm einen anderen Menschen gemacht haben« (Schütz 1972: 79). Damit zeigt der Fall von Karim auch auf, dass die im ḥay dominante nachbarschaftliche Verortung nicht alle Bewohner/-innen in der gleichen Weise erfasst. Außerdem gibt es parallel oder im Lebensverlauf verschiedene Verortungen – diese sind wandel- und modifizierbar. Und die diskursive Beschwörung des nachbarschaftlichen Zusammenhanges – man ›kenne‹ alle – bedeutet zunächst lediglich, dass man die Bewohner/-innen Familien oder Innenhöfen zuordnen kann; nicht aber, dass man viel über sie weiß. 7.4.2

Der von der Nachbarschaft Zurückgezogene: Muhammad

Für Muhammad (geb. 1990) hatte die Verortung in der Nachbarschaft im biographischen Verlauf wenig Bedeutung. Das lag an viel relevanteren Familiengeheimnissen und an der Zugehörigkeit zu einer Jerusalemer Familie, in der das nachbarschaftliche Umfeld mit Skepsis betrachtet wurde. Muhammad verbrachte und verbringt sein Alltagsleben vollkommen unverbunden zum halbprivaten Raum der Nachbarschaft vor allem im israelischen Kontext. In der Altstadt verortete er sich weitgehend im Familienhaus. Daher hätte ich Muhammad nie kennengelernt, wenn ich nur über Nachbarschaftskontakte Interviewpartner/-innen gesucht hätte. Vor dem Interview im Frühjahr 2012 habe ich ihn dort nie gesehen, obwohl er in der Nähe des Lebensmittelladens aufgewachsen ist. Muhammad wurde mir durch einen Bekannten vermittelt, der außerhalb der Altstadt im gleichen Haus wie Muhammads Eltern wohnte – Muhammad wohnte dagegen bei seinen Großeltern mütterlicherseits in der Altstadt. Bei unserem Treffen sind von Anfang an einige habituelle Unterschiede zu anderen Nachbarschaftsbewohnern sichtbar: Muhammads Kleiderstil orientiert sich eher am ›westlichen‹ oder israelischen Geschmack als am in den palästinensischen Gebieten vorherrschenden. Sein Auftreten ist am ehesten als ›intellektuell‹ zu be-

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zeichnen: Hornbrille, langer schwarzer Mantel, modische Mütze. Diese äußerlichen Unterschiede zu anderen Altstadtbewohnern und die Tatsache, dass er im halbprivaten Raum der kleinen Nachbarschaft nicht zu sehen ist, werden sich als typisch für die Verortungen von Muhammad erweisen: Zeit seines Lebens hat er sich aus verschiedenen Gründen in das Haus der Familie zurückgezogen und war nicht in das Nachbarschaftsleben eingebunden. Räumliche Fragen nehmen trotzdem eine wichtige Rolle in seinem Leben ein: Das hat zum einen mit seiner Teilzeitablösung vom Großelternhaus und seiner gewünschten Einbindung in den israelischen Kontext zu tun, auf der anderen Seite mit der Relevanz des Wohnhauses als Zuhause. Bei unserer Begegnung will er zuerst wissen, wo ich in Jerusalem wohne. Als ich erwähne, dass ich auch in der kleinen Nachbarschaft gewohnt habe, fragt er mich, wie ich von meinen dortigen Nachbarn behandelt worden sei. Er fragt aber mit einem Unterton, als habe er Angst, mir hätte dort etwas zustoßen können – womit er eine gewisse Skepsis gegenüber dem nachbarschaftlichen Umfeld ausdrückt. Nach dem Interview, das in meiner Wohnung stattfindet, besteht er darauf, dass ich das Wohnhaus seiner Familie in der Altstadt besuche. Das Haus liegt nicht in einem Innenhof, sondern ist von der Straße aus zugänglich, wohin sich auch die Fenster öffnen. Das Haus ist für eine relativ kleine Familie in Ostjerusalem ungewöhnlich geräumig, es gibt zwei voneinander getrennte Hausteile: In einem Teil ist das Schlafzimmer der Großeltern, Muhammads Zimmer liegt etwas abgeschottet im anderen. Die Lage des Hauses bedeutet sicherlich weniger soziale Kontrolle durch die Nachbarn als in einem Innenhof und kann einen gewissen Rückzug von diesen begünstigen. Die Analyse des Interviews mit Muhammad verdeutlicht, dass die Familie der vorherrschende Bezugspunkt in seinem Leben war und ist, er sich aber von der kleinen Nachbarschaft abgekapselt hat bzw. zuvor von ihr ferngehalten wurde. Das hat zum einen damit zu tun, dass es in der Familie einen Bildungsauftrag gibt, für den die Großeltern die – von ihnen als weniger gebildet eingeschätzten – Nachbarschaftskinder als hinderlich ansahen. Zum anderen gibt es in der Familie einige Geheimnisse, die nicht durch die kleine Nachbarschaft aufgedeckt werden sollten, weil sie nicht den dominanten Vorstellungen dort entsprechen: religiöse Konversion, Sympathien für den israelischen ›Feind‹, ›unmoralisches‹ Leben und die Annahme der israelischen Staatsbürgerschaft. Muhammads Mutter und sein zwei Jahre jüngerer Bruder sind wie seine Tante heimlich zum Christentum konvertiert, und er ist in der Familie der einzige Mitwissende. Muhammad selbst erzählt mir im Interview aber nichts davon; ich habe diese Informationen aus anderer Quelle.40 Die Famili40 Aus Gründen der Anonymisierung kann diese der Familie sehr nahestehende Quelle nicht offengelegt werden. Muhammad wollte mir seine Tante als Gesprächspartnerin vermitteln, doch diese lehnte dies genauso ab wie seine Großmutter, was vielleicht auch an den schwierigen Familienverhältnissen liegt. Interviews mit seinen Eltern liegen hingegen vor.

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engeheimnisse beeinflussen auch sein Erleben des vorherrschend muslimischen Kontextes der kleinen Nachbarschaft und tragen dazu bei, dass sich Muhammad zum Zeitpunkt des Interviews außerhalb des Altstadtkontextes sozialisiert: Er studiert in Israel, verbringt dort seine Freizeit und besitzt den israelischen Pass. Es handelt sich wie bei Hafez um eine Teilzeitablösung von der Altstadt und vom Großelternhaus. Diese Familiengeheimnisse bestimmen sein Erleben stark und tragen dazu bei, dass er während des Interviews nicht in einen Erzählfluss kommt. Das Interview verläuft sehr schleppend und ist mit 50 Minuten vergleichsweise kurz. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um einen Freundschaftsdienst für den Bekannten handelt, der mich an ihn vermittelt hat – wahrscheinlich wusste Muhammad, was ihn beim Interview erwartet. Ähnlich erlebnisprägend wie diese Familiengeheimnisse war sein Aufwachsen in einer etwas ungewöhnlichen Familienkonstellation. Diese ist zwar sicherlich mit den Familiengeheimnissen verknüpft, im Gegensatz zu diesen kann sie aber von Muhammad im Interview präsentiert werden: Während seine Eltern zwei Jahre nach seiner Geburt das Altstadthaus der Familie von Muhammads Mutter verlassen haben und mit seinem Bruder außerhalb der Altstadt gezogen sind, ist Muhammad mit seinen Großeltern mütterlicherseits in der Altstadt geblieben und weitgehend bei ihnen aufgewachsen. Die Großeltern wiederum hielten ihn von klein auf vom Nachbarschaftsleben fern. Seine Vereinzelung lässt sich bereits auf seine Kindheit zurückführen und ist ein strukturelles Merkmal seiner Biographie. Sie zeichnet sich durch vergleichsweise große Mobilität durch Auslandsreisen und die Liberalität der Großeltern als Privileg aus, aber auch durch ein Zurückgeworfensein auf die engere Familie, die Abhängigkeit von ihr (besonders von der Großmutter) und durch das häusliche Dasein bei den Großeltern in der Altstadt. Muhammads Haupterzählung ist lediglich drei Minuten lang, kreist aber um damit verbundene Fragen. Er beginnt das Interview auf meine familien- und lebensgeschichtliche Eingangsfrage: »Oh wow ((lacht)), ok, so e about ma-the (2) the my family life I don’t know a a lot, so I prefer to take=to talk about my life, em (2) I didn’t live=e I didn’t grand up with my parents, I grand up with my=e grandmother and grandfather grandparents.« In diesem Anfang ist das zentrale Thema angelegt: das Verhältnis seiner Lebensgeschichte zu der Geschichte seiner Familie. Er setzt seine Haupterzählung mit einer Situation fort, als seine Großmutter gesagt habe, er solle bei ihr aufwachsen. Nach der Erklärung dieser Konstellation erwähnt er lediglich, dass er mit seinen Großeltern viel gereist sei und beendet die Haupterzählung mit den Worten: »That’s my life.« Auf meine Nachfrage erzählt er danach kaum etwas über seine Familiengeschichte; er wisse darüber nicht viel und bevorzuge, über sein Leben zu berichten. Lediglich so viel: Muhammads Mutter stammt aus einer ›alteingesessenen‹ Jerusalemer Handwerkerfamilie in der Altstadt; ihr Vater ist Schreiner. Muhammad betont, dass dieser Familienteil aus Jerusalem komme, was er wohl mit einem größe-

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ren kulturellen oder sozialen Kapital verknüpft: »I know that=e they’re a gr- they’re Jerusalem they are live in Jerusalem they they didn’t came fr- from outside no.« Er setzt diesen Familienteil von jenen Familien ab, die woanders herkommen – dazu gehören auch die Familie seines Vaters und die der meisten seiner Nachbarn. Muhammads Vater stammt aus einer ›Hebroner‹ Familie, die bis in die 1970er Jahre im erweiterten Jüdischen Viertel gewohnt hat und im Zuge der Räumung der palästinensischen Familien in einen Stadtteil außerhalb der Altstadtmauern gezogen ist (vgl. Kap. 8.1). Muhammad betont, dass er sehr eng mit der mütterlichen Seite der Familie verbunden sei. Bei der väterlichen Seite ist er hingegen zögerlich und geht auf meine Nachfrage nicht weiter auf sie ein, was auf ein distanzierteres Verhältnis hindeutet. Als Muhammad geboren wurde, lebten die Eltern noch im Haus der Großeltern mütterlicherseits, zogen aber zwei Jahre später mit seinem Bruder nach außerhalb der Altstadt. Auf meine Nachfrage nach dem Auszug antwortet Muhammad in ambivalenter Weise: Einmal sagt er, die Eltern seien ausgezogen, weil seine Mutter als säkulare Frau die Sitten in der kleinen Nachbarschaft als zu konservativ empfunden habe und kein Kopftuch habe aufziehen wollen – womit er die Vorurteile über die konservative, von ›Hebronern‹ dominierte Altstadt reproduziert (vgl. Kap. 6.4). Ein anderes Mal antwortet er, die Eltern hätten eine eigene Wohnung beziehen wollen. Der Auszug kann auch an der schwierigen Familienkonstellation gelegen haben, die Muhammad selbst aber nicht anspricht: Die Konversionen von Mutter und Tante fanden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre statt. In diesem Zeitraum zogen Muhammads Eltern mehrmals innerhalb Jerusalems um. Auch die Frage, warum er bei seinen Großeltern geblieben sei, beantwortet Muhammad an zwei verschiedenen Punkten im Interview auf zwei unterschiedliche Weisen. Er erinnere sich selbst nicht daran, aber ihm sei gesagt worden, dass er eines Nachts im Haus seiner Mutter hohes Fieber bekommen habe und mit dem Taxi in die Altstadt gefahren worden sei. In dieser etwas mythisch formulierten Erzählung wird dann die Großmutter zitiert, die gesagt habe: »Just when you coming to your mother house you become sick so I I took a taxi at twelve ah twelve AM and I took you from your mother and when you back to the Old City house to my house you became=a feel well.« In dieser Erklärung wird Muhammad durch die Großmutter zugeschrieben, dass er sich, zumindest unterbewusst, für die Altstadt entschieden habe. Die Altstadt wird durch ›seine Wahl‹ familial aufgeladen, und die Mutter steht im Gegensatz dazu für das Leben außerhalb der Altstadt. Dabei schwingt eine gewisse Ambivalenz gegenüber der Mutter mit, da Muhammad nicht anspricht, ob diese versucht hat, ihn zurückzuholen. Die zweite Erklärung handelt davon, dass seine Großmutter angeboten habe, auf ihn aufzupassen, wenn die Mutter arbeiten musste. Doch er habe geweint, als die Mutter ihn abholen wollte. Daraufhin habe die Großmutter angeboten, dass er bei ihr bleiben könne. Ob weitere Gründe dazukamen, ob die Großmutter etwas von den Konversionen ahnte oder sie Muhammad vor anderen von ihr wahrgenommenen Gefahren schützen wollte,

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bleibt unklar. Auf jeden Fall vermischt Muhammad beim Erzählen (und wahrscheinlich auch im Erleben) immer wieder Eltern- und Großelterngeneration, weil die Großeltern die Elternrolle übernommen haben. Seine Großeltern seien wie seine Eltern. Er fühle sich mit seinen Eltern und seinem Bruder wie mit Freunden, »but I don’t sleep there, I prefer to sleep in the Old City«. Außerdem betont Muhammad, dass er nur innerhalb des großelterlichen Hauses Austausch pflege und nichts mit anderen in der kleinen Nachbarschaft zu tun habe. Als ich ihn nach seinen Kindheitserlebnissen in der Altstadt frage, sagt er: »It’s like ah I wasn’t go out and to play in the bil-ḥāra, ((J: hm)) I wasn’t go out to play, I just always at home, I didn’t go out to play with the neighbors and the children ((J: hm)) I-wa all the time I was at home, so I don’t know, I don’t know ah I don’t know anything about my neighbor about a about my age I don’t anything about them because when I saw them I said hi hi ahm that’s it and I I stay all the time in the home I don’t go out to play in.«

Das ähnelt strukturell dem heutigen Erleben von Karim (vgl. Kap. 7.4.1) und der Fallgeschichte von Huda im erweiterten Jüdischen Viertel (vgl. Kap. 8.2). Der Rückzug auf Haus und Familie führte zur Wahrnehmung von Fremdheit und auch des Ausgeschlossenseins in der räumlichen Umgebung der kleinen Nachbarschaft und steht im Gegensatz zu der in Erzählungen anderer so erlebnisprägenden Kindheit im öffentlichen oder halbprivaten Raum der Altstadt. Wie bei Huda wird die Verantwortung dafür der engsten weiblichen Bezugsperson zugewiesen: »Ya I preferred to stay at home ya to to read, as my grandmother told me to read.« Die räumliche Einengung ist also mit einem Bildungsauftrag verknüpft. Auch auf die Frage nach seiner ersten Erinnerung wiederholt Muhammad, seine Großmutter habe immer gewollt, dass er lese, und fordere ihn bis heute dazu auf. Sie selbst habe Geschichtsbücher gelesen (Aref al-Arefs [1961] Detaillierte Geschichte Jerusalems, vgl. S. 172, Anm. 6). Dabei wird die Großmutter als etwas repetitive Leserin vorgestellt: »When she finished the book she starts reading it again.« Vielleicht versuchte sie, sich und ihren Enkel durch die Lektüre ihrer Jerusalemer Herkunft zu versichern. Für ihren Enkel ist sie Vorbild und Negativbeispiel zugleich: Seine Großmutter habe zwar keine formale Bildung, aber sie sei schlau und habe ihm viele Hilfestellungen fürs Leben gegeben. Er selbst lese nicht gerne, betont er mehrmals: »I don’t like to read I don’t like but I think it I have to because she always told me read read read.« Und so wird auch die Schulzeit nur über eine verdichtete Situation eingeführt, in der Muhammads täglicher, von der Großmutter angeleiteter Lernmarathon dargestellt wird. Auch die Distanz zu seinen Nachbarn wird über Bildung eingeführt, wie sie ihm von seiner Großmutter eingetrichtert worden ist. Auch wenn er aus der Gegenwartsperspektive mehrmals versichert, dass er sehr ungern lese, argumentiert er auf meine Frage, was denn an den anderen in der Altstadt anders sei als an ihm, er glaube, dass die anderen nicht läsen. Weiter unten in der Darstellung

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wird klar, dass diese Unterschiede eher in der Lebensführung liegen, aber dass er die Unterschiede über den Bildungsauftrag herleiten muss. Wahrscheinlich weigert sich Muhammad aufgrund der Familiengeheimnisse, weitere Erlebnisse aus seiner Kindheit zu erzählen: Auf meine Frage, ob er sich an ein Erlebnis aus seiner Kindheit erinnere, überlegt er zehn Sekunden und sagt: »I remember but I don’t«, bricht ab und wiederholt lediglich, dass sie eine enge Familie seien. Das einzige andere Thema, das er aus seiner Kindheit anspricht, sind die vielen Reisen, die er mit seinen Großeltern unternommen hat. Dies war sicherlich in seiner räumlichen Umgebung sehr ungewöhnlich und separierte ihn ebenso wie die Familienkonstellation und der Bildungsauftrag von vielen anderen Kindern in der kleinen Nachbarschaft. Ab einem Alter von ca. acht Jahren ging er mit seinen Großeltern auf regelmäßige Auslandsreisen nach Europa. Diese Reisen endeten im Jahr 2009: Nach der Pilgerfahrt nach Mekka (haj) erlitt der Großvater einen Herzinfarkt, seine Großmutter legt seither das Hijab an. Dabei bleibt unklar, ob die Großmutter nun ein frommes Leben führt oder ob sie, wie Muhammad an einer Stelle sagt, sich dem sozialen Druck der kleinen Nachbarschaft beugt. Muhammad legte im gleichen Jahr seinen Sekundarschulabschluss (tawǧīhi) ab. Danach begann er, ein Jahr lang Hebräisch zu lernen mit dem Ziel, das psichometri-Examen zu absolvieren, das notwendig ist, um an einer israelischen Universität zu studieren. Allerdings fiel er beim entscheidenden Sprachtest durch. Er begann daraufhin ein Studium der Stadtplanung an einer Fachschule in Westjerusalem, für das man dieses Examen nicht benötigt. Diesem Studium geht er zum Zeitpunkt des Interviews nach. Es scheint aber sein Erleben vergleichsweise wenig zu bestimmen, denn statt von seinem Studium zu berichten, kommt er immer wieder auf die Frage zu sprechen, was ihn, der sich stark in Richtung Israel orientiert, von den Altstadtbewohnern unterscheidet. Wie bereits erwähnt, hebt er den Bildungsunterschied hervor, an anderer Stelle führt er allerdings auch differierende Vorstellungen und seinen abweichenden Lebenswandel ein: »We don’t have the same brain that the same thing to think together I don’t know they’re thinking something else I don’t know how but they are not similar like me ((J: ja)) I have my own my own life my own books (4) I love going a lot to to pub.« Er wirft seinen Nachbarn vor, dass sie zu religiös, ungebildet und unfreundlich seien, denn das Gegenteil sei wichtig, wenn man mit Israelis verkehren wolle. Außerdem würden die Nachbarn nur miteinander verkehren: »They are living together ((J: ja)) and they don’t go out at all that what I know.« Seine Nachbarn wüssten dementsprechend auch nichts von seinen Aufenthalten im israelischen Kontext. Damit reproduziert er die abwertenden Diskurse, die in Ostjerusalem über die Altstadtbewohner/-innen zirkulieren, und setzt sich von diesen ab. Doch während er seinen Nachbarn Intoleranz und Eingefahrenheit vorwirft, verteidigt er die Altstadt vor dem oft geäußerten Vorwurf des Drogenhandels und der Prostitution. Das habe er zwar gehört, aber noch nicht erlebt. Muhammad erzählt, dass er mo-

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mentan noch in der Altstadt wohnen bleiben wolle, aber es sich später noch einmal überlegen müsse. Als ich ein Jahr darauf seinen Bekannten treffe, erzählt dieser, dass Muhammad nachts, wenn er aus israelischen Clubs kommt, nun öfters bei seinen Eltern schlafe. Er habe Angst, dass die Jugendlichen in der kleinen Nachbarschaft ihn schlecht behandeln könnten. Auch sonst hat er sich noch weiter von der palästinensischen Gesellschaft entfernt und arbeitet nun für die Jerusalemer Stadtverwaltung. Muhammads gegenwärtiges Erleben ist – und war schon länger oder sogar immer – vom Rückzug auf die Familie und von der Distanzierung von der kleinen Nachbarschaft geprägt. Das hat er mit dem gegenwärtigen Erleben von Karim und mit dem von Huda im erweiterten Jüdischen Viertel gemein. Doch im Gegensatz zu diesen hält sich Muhammad häufig in israelisch geprägten Kontexten auf. Davon zeugen seine Disko- und Kneipenbesuche in Israel und sein Studium in Westjerusalem. Ausführlich berichtet er von seinem handlungspraktischen Wissen, welche Clubs Araber einlassen und welche nicht. An einer Stelle während unserer Unterhaltung ruft er aus, dass er doch viel lieber Israeli sei als Palästinenser. All dies konstituiert, genauso wie die Familienkonstellation und die Familiengeheimnisse, sein Fremdheitserleben in der kleinen Nachbarschaft. Muhammad steht als ein besonders deutliches Beispiel dafür, dass sich der Forschungsraum kleine Nachbarschaft zwar als handlungspraktisch und deutungspraktisch im Alltag relevant herausgestellt hat, was aber nicht bedeutet, dass sich alle Bewohner/-innen darin verorten. Vielmehr konnte die kleine Nachbarschaft, wie im vorliegenden Fall von Muhammad, auch wenig Einfluss auf biographische Verläufe haben, und sie kann somit nicht als verpflichtend definiert werden. 7.4.3

Die Gemeinschaftssuchende: Sana

Die Analyse des Interviews mit Sana (geb. ca. 1969) zeigt im Gegensatz zu den anderen Interviewanalysen in diesem Kapitel einen sich verstärkenden Wunsch nach Verortung in einer engeren Gemeinschaft auf, wofür beispielhaft die muslimisch geprägte kleine Nachbarschaft steht. Doch trotz Sanas Versuchen, sich dem islamischen Kontext anzupassen, nimmt sie wahr, dass sie als Christin nicht vollständig in die kleine Nachbarschaft integriert wird. Sana, die bereits in der Analyse der teilnehmenden Beobachtungen kurz erwähnt wurde (vgl. Kap. 7.2.5 und 7.2.6), wohnt mit ihrer Familie direkt neben dem Lebensmittelladen. Sie wurde mir dort als Christin vorgestellt und als Beispiel dafür, dass das interreligiöse Zusammenleben in der Nachbarschaft problemlos sei. Sana war im Frühjahr 2012, als wir die Interviews führten, 43 Jahre alt. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter im frühen Teenageralter. Sana stammt aus einer ärmeren christlichen Familie, die als sich auflösend bezeichnet werden kann (vgl. Wirsching/Stierlin 1983: 606-608)

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und in der es während ihrer Kindheit innerfamiliale Gewalt und Alkoholmissbrauch gab. Ihre Heirat mit einem Christen aus einer anderen Denomination war der Versuch einer Flucht aus dieser Familie, doch auch die Ehe ist stark problembehaftet. Sana ist auf der Suche nach einer alternativen Zugehörigkeit: Sie ist als Christin einerseits von der sunnitischen Glaubensrichtung angezogen, weil diese aus ihrer Perspektive ein kohärentes und nicht in verschiedene Denominationen zerstückeltes Gemeinschaftsbild propagiert. Andererseits ist sie zum von ihr als solidarisch wahrgenommenen Zusammenleben in der kleinen Nachbarschaft hingezogen, die außerdem auch stark muslimisch geprägt ist. Doch gerade wegen des muslimischen Charakters der Nachbarschaft fühlt sie sich dort als Christin letztlich nicht vollständig aufgenommen. Beide alternativen Zugehörigkeitsangebote (Islam und Nachbarschaft) sind mit der Zuschreibung von Schutz vor gewaltvollen Ehe- und Familienzusammenhängen verknüpft. Der Fall von Sana repräsentiert somit einen Typ, der nach einer stärkeren nachbarschaftlichen Verortung strebt, diese jedoch nicht erreicht. Das unterscheidet den Fall von den bisherigen biographischen Analysen, in denen auf verschiedenen Ebenen eher eine Distanzierung von der kleinen Nachbarschaft deutlich wurde. Insgesamt habe ich Sana dreimal besucht; bei den ersten beiden Malen mit dem Versuch, ein biographisch-narratives Interview zu führen. Die Audioaufnahmen haben insgesamt eine Länge von viereinhalb Stunden, obwohl ich deutlich mehr Zeit mit ihr und ihren Kindern verbracht habe und immer zum Essen eingeladen wurde. Alle drei Treffen hatten unterschiedliche Schwerpunkte, aber sich wiederholende Themen – ihre gesundheitliche und finanzielle Situation, ihre brüchige religiöse Zugehörigkeit, die kleine Nachbarschaft und ihre unglückliche und gewaltvolle Ehe. Bevor ich auf die einzelnen Treffen kurz eingehe, einige zentrale biographische Daten. Sana wurde ca. 1969 in eine römisch-katholische Familie in einer christlichen Altstadtnachbarschaft geboren. Der Vater war Anwalt und zucker- und wohl auch alkoholkrank. Sana hat zwei ältere Schwestern und drei ältere Brüder. Als sie drei Jahre alt war, stürzte sie und verletzte sich am Auge. Die Verletzung wurde nicht behandelt, was einige Jahre später mehrere Augenoperationen nach sich zog. Ungefähr zum fünften Schuljahr besuchte sie ein christliches Internat. In jener Periode heiratete ihre älteste Schwester einen Muslim und emigrierte mit ihm nach Australien. Ihre mittlere Schwester hingegen brach die Schule ab und heiratete in Jerusalem. Auch Sana brach ungefähr 1985 die Schule zwei Jahre vor dem Sekundarschulabschluss (tawǧīhi) ab, womit ein Bildungsabstieg einherging. Sie hat danach über die Kirche Italienisch-Sprachkurse in Italien belegt. Parallel dazu hat sie als Touristenführerin ausgeholfen. Doch die zehn Jahre nach ihrem Schulabschluss bleiben in den Interviews weitgehend im Dunkeln, es scheint zahlreiche nicht weiter definierte familiale Probleme gegeben zu haben. Während des Interviews wird ihre Lebenssituation ab Mitte der 1990er Jahre wieder klarer: Sie arbeitete drei Jah-

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re lang in einem christlichen Krankenhaus, als Putzkraft in einer kirchlichen Institution und als Babysitterin. Ungefähr im Jahr 1999 heiratete Sana Anthony, der aus einer griechisch-orthodoxen Familie aus der Altstadt stammt. Anthony, stark schwerhörig, ging und geht keiner regelmäßigen Arbeit nach, sondern übernahm nur Tagelöhnerarbeiten. Ungefähr zur Zeit der Heirat – kurz zuvor oder danach – wurde die wahrscheinlich unehelich gezeugte Tochter geboren. Die Familie zog daraufhin im Jahr 2000 in eine der christlichen Nachbarschaften – in eine Wohnung, die über kein fließendes Wasser verfügte. Im Frühjahr 2001 kam ihr Sohn zur Welt. 2002 mietete die Familie die jetzige Zweizimmerwohnung mit geteiltem Bad in der kleinen Nachbarschaft. Zunächst hat einer ihrer Brüder direkt nebenan gewohnt, ist dann allerdings verzogen; zwei weitere Brüder wohnen inzwischen in der Umgebung von Bethlehem. Sana arbeitet immer noch als Putzkraft. Bereits an diesen biographischen Daten wird deutlich, wie Sanas Biographie von familialer Unstetigkeit, gescheiterten Bildungsabschlüssen und prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen geprägt ist. Ihre Heirat mit einem Mann mit ähnlichem sozio-ökonomischen Hintergrund ist zudem möglicherweise von dem unehelich gezeugten Kind überdeckt, was die Frage aufwirft, inwieweit es sich um eine geplante Heirat gehandelt hat. Beim ersten Treffen empfangen mich Sana und ihr Mann mit ihren beiden Kindern im Wohn- und Schlafzimmer der Familie. Sana spricht vor der Erzählaufforderung ausführlich von ihrer Gesundheit: Sie habe seit ihrer Kindheit Augenprobleme, und Ärzte hätten ihre Erblindung vorausgesagt. Sie zeigt mir Medikamente und verschiedene Arztdokumente. Diese Leidensgeschichte bildet somit den Rahmen für ihre Haupterzählung, die sie folgendermaßen einführt: »But this please don’t make it report, because it’s bad.« Nach dieser Einleitung – bei der es ihr wohl darum geht, dass ich ihre Geschichte nicht in die kleine Nachbarschaft weitertrage – reißt sie in weniger als zehn Minuten und mit einem häufigen Sprachenwechsel von Arabisch zu Englisch viele verschiedene Themen an, ohne erzählerisch eines davon genauer einzuführen: Zunächst ihre Herkunftsfamilie (eine »normale« Familie), in der sie aber viel habe arbeiten müssen. Daraufhin folgt, ausgehend vom Vater, eine Darstellung der Krankheiten in der Familie: Alle seien an Krebs gestorben.41 Ein weiteres Thema ist der Geldmangel. Sana betont, dass sie bald ihren Kreditrahmen überschreiten werde. Ihr Leben sei eine Tragödie, sie wolle nicht, dass ihre Kinder so leben müssten wie sie. Dann beendet sie die Haupterzählung mit der Feststellung, sie habe aber zum Glück einen Mann, der nicht schlage und nicht trinke. Er habe außerdem ähnliche Krankheiten wie sie. Später wird sich allerdings herausstellen, dass diese Beteuerung in seiner Gegenwart eher zu Anthonys Beruhigung diente.

41 Neben einer momentan an Krebs erkrankten Tante habe sie einen Onkel in Syrien gehabt, der jung an Krebs gestorben sei und dessen zwei Kinder dann zu einer ihrer Verwandten im Westjordanland gekommen seien.

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Ihre unglückliche Ehe ist einer der zentralen Gründe für ihre schwierige biographische Lage. Die weitere Interviewsituation ist durch Sanas sprunghafte Erzählweise geprägt. Dies war, so wird später deutlich, durch die Anwesenheit ihres Ehemannes mithervorgerufen. Er unterbricht sie an einem bestimmten Punkt und berichtet aufgeregt, wie er eines Abends Streitende in der kleinen Nachbarschaft getroffen und sie in ihrem Tun unterbrochen und sie beschimpft habe. Sein Nachbar Mahmud (aus dem Lebensmittelladen) habe ihm gedankt, dass er sie gestoppt habe, was niemand anderes außer ihm getan hätte. Anthony hat ein äußerst schlechtes Bild von der kleinen Nachbarschaft und argumentiert: »I really fighting under the the window of my hear- home.« Anthony lenkt das Interview in Richtung der negativen Erfahrungen, die er mit anderen Nachbarschaftsbewohnern gemacht hat, die aber von seiner Frau gleich abgewehrt werden: »You know it is difficult it’s not been like this.« Sie fährt stattdessen, auf den ersten Blick unverständlicherweise, zunächst fort, über ihre Kindheit und Jugend zu sprechen, über Alkoholprobleme und physische Gewalt; sie deutet an, dass sie im Internat Essstörungen gehabt habe, als Straßenkind bezeichnet worden sei und ihre Schule nicht habe beenden können. Sie habe geheiratet, um unabhängig von ihrer Familie zu sein, doch nun sei sie nervös und habe kurz vor einem Herzinfarkt gestanden. Auf meine daraufhin folgende Nachfrage, mit der ich auch auf die Bemerkungen ihres Mannes eingehen will, ob sie denn bevorzugen würden, in einer christlich geprägten Nachbarschaft zu wohnen, beginnt Sana, die von Anthony erwähnten Vorkommnisse in der kleinen Nachbarschaft umzuinterpretieren und sie seiner Unberechenbarkeit zuzuschreiben. Dadurch diskreditiert sie ihn und entlastet die kleine Nachbarschaft, die so in einem besseren Licht dasteht: »I, live, years here suffering a lot from, Anthony because when s- when he was, came evening at nine ten o , clock and the boys was gi- ((J: mhm)), ah two or three til now they make problems but now they are not here but til now and you maybe he told you he told you Mahmud sometimes the big mans Abu Fuad one time he told them he make Anto- he make a fire the home, for this reason I was suffering a lot and always I make problems=Anthony always each day I make and sometimes I (2) and one day you will you go or maybe I will go one day you will you go, or maybe I will go.«

Gerade die älteren Nachbarn, so fügt sie nach ihrer Differenzierung von Anthonys Erzählungen an, seien wie Geschwister, wenn jemand Probleme habe, dann stünden sie zusammen, egal ob Christen oder Muslime. Man besuche sich gegenseitig bei Festen. Von ihren bisherigen Wohnorten sei dies der angenehmste. Sanas vorherige negative Darstellung ihrer Herkunftsfamilie und ihrer Kindheit folgte also auch deswegen auf Anthonys negative Beschreibung der kleinen Nachbarschaft, um letztere im Vergleich zu Sanas Familie in vergleichsweise gutem Licht stehen zu lassen.

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Kurz darauf verabschiedet sich Anthony. Dies führt zu einer kompletten Änderung der Interviewsituation. Zwar hat Sana zuvor schon kritisch über Anthony gesprochen, doch nun berichtet sie sehr offen über die unglückliche und gewaltvolle Ehe. Sie habe nie wie ihre emigrierte Schwester vor ihrer Familie wegrennen wollen. Obwohl jeder abgeraten habe, sei sie an Anthony interessiert gewesen. Inzwischen habe sich ihr Vater mit der Tochter in Australien versöhnt, doch nun werde sie, Sana, nicht mehr zu Familienfesten eingeladen. Sana zählt eine lange Reihe von Erlebnissen auf, als Anthony sie und die Kinder vernachlässigt habe. Er schreie sie an. Zudem habe er Probleme mit seinen sexuellen Vorlieben und seinem Umgang damit. Seine Kinder hörten, wie er sich selbst befriedige und Pornos schaue. Man höre, dass die Nachbarn ›tuschelten‹. Er habe mit anderen auch über ihre innereheliche Sexualität gesprochen: »To go and to tell, ( ) I make this this with my wife this is a secret things even you do it […] when somebody you don’t know call you how it was, this man how do you see yourself you don’t have karāma [Ehrgefühl].« Schließlich deutet sie an, dass Anthony sie körperlich misshandelt habe und sie deswegen seit zehn Jahren keinen sexuellen Umgang mit ihm pflege: »Cause one time, he has something, and from this, time, I swear, till the end of my life, never I will be with him never.« »When I came here when I burn, but I will not tell you about this I burn in my heart the fire but it’s not me it’s the season of the meat on my back, when I went to Hadassah they told me (2) from where this I said, it’s fell I fell (

) they said tell the truth I say no, I fell,

and til now nobody know, til now nobody know what is the story and nobody will know.«

Sie kümmere sich nur um ihre Kinder und würde diese nie mit ihm alleine lassen. Es ist erstaunlich, dass ihre beiden Kinder – zum Zeitpunkt der Interviews war der Junge ca. neun und die Tochter ca. zwölf Jahre alt –, die beide gut Englisch verstehen, während dieser Ausführungen im Raum bleiben und die Erzählung ihrer Misshandlungen schweigend anhören. Aus diesen Bruchstücken ihrer Lebensgeschichte leitet sie zum Ende des ersten Interviewtreffens eine Sehnsucht nach einem funktionierenden Gemeinschaftsleben wie in der muslimisch geprägten kleinen Nachbarschaft ab, in der die Rolle der Familie hochgehalten werde (im Gegensatz zu ihrer und der Familie ihres Ehemanns) und in der die soziale Kontrolle sich auch positiv auf die Behandlung der Frauen auswirke. Gleichzeitig erkennt sie aber an, dass sie selbst nicht vollständiger Teil dieser Nachbarschaftsgemeinschaft ist. Beim dritten Treffen erzählt sie vom Sektierertum einzelner Nachbarschaftsmitglieder, mit dem vor allem ihre Kinder konfrontiert worden seien. Im folgenden Zitat ist diese Bearbeitung von biographischen und familialen Themen durch die Sehnsucht nach einer Nachbarschaftsgemeinschaft und islamischen Gemeinschaft erkennbar:

260 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »Why always I like the Muslim people I like them a lot, really I love the they behave here of a family, ((J: mhm)) the brother, especially the daughter or the lady it’s something, not like us and always they are together, always they go together in share, in life, in happiness, in sadness, this we don’t have it here, we don’t have it, really we don’t have it yaʿnī when they have feast in Ramadan, all together, ((J: mh)) and if somebody one lady she is (2) she is not good or she is, upset or something, they take care […] here if somebody want you knock to the door, no (

), to help him or to make him something or to, never he knock your door to

see if you are ok.«

Der Gegensatz der als Einheit betrachteten muslimischen Community wird von ihr auch mit der Trennung der Christen in westliche und östliche Riten und in verschiedene Denominationen erklärt. Sana beklagt, dass ihre Kinder gefragt würden, ob Jesus zweimal gekreuzigt worden sei, weil es zwei Osterfeste gebe. »I like the Qu- the religion Muslim and when in Ramadan, if I told you, something now you said she’s anā baṣūm [ich faste] always thirty days one month, like them I like, it’s not mean (2) yaʿnī I like Muslim religion.«42 Sie erzählt, wie sie immer nachts vor der Wohnung sitze, bis morgens der Muezzin rufe, weil sie vom Islam so angezogen sei. Die Gemeinschaftssehnsucht wird beim zweiten Treffen noch deutlicher. Darin konstruiert sie eine Begegnung mit einem muslimischen Mann als einen zweiten möglichen Ausweg aus ihrer misslichen Situation. Genauso wie der kleinen Nachbarschaft schreibt sie ihm die Fähigkeit zu, sie zu schützen oder zu ›erretten‹, ohne dass sich diese Versprechungen einlösen.43 Kurz nach der Geburt ihres jüngeren Kindes habe sie über eine Freundin einen Mann aus dem Westjordanland kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt saß er im israelischen Gefängnis (aus mir nicht bekannten Gründen). Sie habe ihn dort besucht, weil seine Verwandten nicht hätten dorthin kommen können. Danach habe er jeden Tag bei ihr angerufen. Sie habe auf die Meinung dieses Mannes und nicht auf die von Anthony gehört. Deswegen habe sie auch angefangen, den Koran zu lesen. Aber sie habe zu ihm gesagt, dass sie Kinder habe und keine Fehler machen wolle, um sie nicht weggeben zu müssen. Inzwischen ist der Kontakt weitgehend abgebrochen, der Freund hat geheiratet. Sie spreche aber immer noch die Gebete, die er sie gelehrt habe. Sie konstruiert ihn als ihren Retter und ihren ›wahren‹ Partner: »I feel that he’s the father of my children, even it’s not.« Diese Erlebnisse mit dem muslimischen Mann und ihre Konversi42 Auf diese innerchristlichen Trennungen durch die verschiedenen Kalender ist auch schon Glenn Bowman (1993: 436) gestoßen: Einer seiner Interviewpartner argumentierte, dass es das Schlimmste sei, dass »we do not have one Christmas. All over the world Christmas is the twenty fifth except here.« 43 Auch an mich hat Sana unausgesprochen Erwartungen herangetragen, dass ich ihr in ihrer misslichen Situation helfen könnte.

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onsträume kontrastiert Sana in der Interviewsituation etwas abrupt mit der Vernachlässigung in ihrer Herkunftsfamilie, die sie beispielhaft mit der nicht behandelten Augenverletzung im Alter von drei Jahren gleichsetzt. Dem Islam wird also sowohl in Bezug auf die kleine Nachbarschaft wie in Bezug auf ihren muslimischen Freund – trotz der teilweise negativen Erfahrungen mit beiden – als positives Gegenstück zu ihrer familialen und religiösen Herkunft stilisiert. Im folgenden Zitat wird deutlich, dass sie dem Islam zuschreibt, er könne ihre wahrgenommene Vereinzelung als Christin überwinden und die von ihr gewünschte Geborgenheit zu bieten: »One time I was maiyta [tot] and all they are Muslim and me the Christian, and the Šaiḫ saʾlnī ṭalab ṭalab minnī iqraʾ Qurʾān, Sūrat Ibrāhīm [der Sheikh fragte mich verlangte verlangte von mir les den Koran Sure Ibrahim], ((J: mhm)) and I make it, and one time I dream bil-Haram [aš-Šarīf – der Tempelberg] I was sitting out one lady she wear white and she come she put her hand in my hand and she cover ((J: mhm)) I don’t know why, these things I dream it a lot.«

Aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen in der nach Denominationen getrennten christlichen Gruppierung in Jerusalem, in ihrer sich auflösenden Herkunftsfamilie und in einer gewaltsamen Ehe steht für Sana die muslimisch geprägte kleine Nachbarschaft als Beispiel einer funktionierenden Gemeinschaft. Sie verspricht Zugehörigkeit und Vertrauen und einen Ausweg aus ihrer Außenseiterposition in der Altstadt. Der Versuch ihrer Verortung in der kleinen Nachbarschaft gelingt aber nur teilweise, da sich trotz der diskursiven Offenheit dieses Nachbarschaftszusammenhangs der Zusammenhalt der muslimischen Familien nicht in gleichem Maße auf die christlichen Bewohner/-innen ausweitet.

Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel

8.1

E INFÜHRUNG

Es ist durch die Jerusalemer Stadtverwaltung genau definiert: Die Fläche des erweiterten Jüdischen Viertels, das als Teil der Altstadt im Krieg von 1967 durch Israel erobert wurde, wird begrenzt von der Klagemauer im Osten, von der Altstadtmauer im Süden, vom ›Armenischen Viertel‹ im Westen und vom ›Muslimischen Viertel‹ im Norden. In diesem festgelegten Gebiet wohnten 2014 ungefähr 2.900 Menschen (Jerusalem Institute for Israel Studies 2016b). Die genaue Begrenzung des Viertels definiert einen ›Containerraum‹ (vgl. Kap. 2.3) und damit einen maximalen Kontrast zur nicht strikt geographisch und administrativ festgelegten kleinen Nachbarschaft, die weitgehend auf einer relativistischen Raumsicht beruht. Daher habe ich das erweiterte Jüdische Viertel als ersten kontrastiven Forschungsraum definiert. Die Vergangenheit und Gegenwart dieses ethno-religiös definierten Containerraumes sind aber viel komplexer und verwirrender als es die scheinbar klare räumliche Einteilung suggeriert. Das Gebiet bestand vor 1948 aus mehreren Nachbarschaften, von denen eines das ḥāra der Juden (Ḥārat al-Yahūd bzw. im Folgenden Jüdisches Viertel1) war. Im Jahr 1948 vertrieb die jordanische Armee dessen jüdische Bevölkerung und zerstörte viele Gebäude. Knapp 20 Jahre später, nach dem Krieg von 1967, wurden die Palästinenser/-innen aus diesem Gebiet und aus den anderen Nachbarschaften, aus denen sich das heutige erweiterte Jüdische Viertel zusammensetzt, zum größten Teil vertrieben oder sie sind von dort geflüchtet oder weggezogen. Die Bauten dieser arabischen Nachbarschaften wurden im Jahrzehnt 1

Bereits in der Einleitung habe ich darauf hingewiesen (vgl. S. 15-16, Anm. 7), dass ich abweichend vom sonstigen Sprachgebrauch die im Deutschen eingeführten Begriffe ›Jüdisches Viertel‹ und ›Marokkanisches Viertel‹ beibehalte, obwohl im Sinne der Stringenz das Ḥārat al-Yahūd als ›Nachbarschaft der Juden‹ und das Ḥārat al-Maġāriba als ›Nachbarschaft der Marokkaner‹ übersetzt werden müsste.

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nach dem Krieg von 1967 fast alle zerstört und neue Gebäude als Teil des erweiterten Jüdischen Viertels erbaut. Somit fanden zwischen 1948 und dem Ende der 1970er Jahre ein nahezu vollständiger Austausch der Bewohner/-innen und ein weitgehender Neuaufbau des baulichen Bestandes statt. De facto ist seitdem der Zuzug in das erweiterte Jüdische Viertel nur Jüdinnen und Juden gestattet (s.u.), doch wohnen und arbeiten vor allem an den Rändern noch über 500 Palästinenser/ -innen, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt (Zahlen für 1998: 480 Muslime und 17 Christen, Dumper 2002b: 29; Ricca 2007: 213, Anm. 32). In den folgenden Abschnitten dieser Einführung erläutere ich zunächst die für das Verständnis der Lebens- und Familiengeschichten der Bewohner/-innen notwendigen historischen Prozesse im erweiterten Jüdischen Viertel. Danach führe ich anhand von Beobachtungen aus meiner Feldforschung ein, warum die ehemaligen palästinensischen Nachbarschaften einen weitgehend verschütteten Aspekt im palästinensischen kollektiven Gedächtnis darstellen. In der darauffolgenden Fallrekonstruktion von Huda (Kap. 8.2) vollziehe ich nach, wie ein isoliertes palästinensisches Familienleben im erweiterten Jüdischen Viertel familiale Konflikte mitproduziert und zu einer einengenden Verortung im Haus der Familie führen kann. Huda versucht, diese mithilfe einer bewussten symbolischen Verortung im historisch und politisch aufgeladenen Raum der Altstadt zu bearbeiten, sich als Botschafterin Jerusalems zu individualisieren und sich mittels dieser Verortung in der palästinensischen Gesellschaft zu distinguieren. Schließlich stelle ich in zwei kürzeren Falldarstellungen von Abu Lutfi und seiner Mutter Amal (Kap. 8.3.1) sowie von Subhi (Kap. 8.3.2) dar, dass einerseits die bereits bei Huda aufgezeigten individualisierenden Verortungen im erweiterten Jüdischen Viertel durch die Strukturen in diesem Raum unterstützt werden und daher auch fallübergreifend zu beobachten waren. Andererseits wird deutlich, dass das Leben der Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel keinen nachbarschaftlichen Charakter hat. Dadurch, dass zum Beispiel die soziale Kontrolle nicht greift, konnte ich auch Bewohner/-innen interviewen, die mir in der kleinen Nachbarschaft vorenthalten worden wären (vgl. Kap. 7.2.8): Huda als unverheiratete muslimische Frau oder Subhi, der kein Geheimnis daraus macht, dass er mit einem Alkoholproblem kämpft. Historischer Abriss Was in dieser Arbeit als erweitertes Jüdisches Viertel bezeichnet wird, waren früher verschiedene historisch gewachsene, aber stets in Veränderung begriffene Nachbarschaften (ḥārāt).

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Abbildung 10: Nachbarschaften/ḥārāt vor 1967 im Gebiet des heutigen erweiterten Jüdischen Viertels

Ausschnitt einer Karte in: Dumper 1992: 34. Dazu gehörten das ›eigentliche‹ Jüdische Viertel (Ḥārat al-Yahūd), das um die Synagogen im Herzen des heutigen erweiterten Jüdischen Viertels angesiedelt war; das mehrheitlich von nordafrikanischen Muslimen besiedelte Ḥārat al-Maġāriba (ḥāra der Marokkaner bzw. im Folgenden Marokkanisches Viertel), das an die Klagemauer angrenzte; das gemischte, aber mehrheitlich muslimische Ḥārat aš-Šaraf sowie weitere kleine Nachbarschaften, deren Grenzen sich zum Teil mit den gerade erwähnten überlappten (vgl. Kap. 6.2).

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Abbildung 11: Das erweiterte Jüdische Viertel in seinen nach 1967 definierten Grenzen

Quelle: http://www.passia.org/palestine_facts/MAPS/images/jer_maps/old_city.html, abgerufen am 19.04.2016.

Dadurch, dass in wissenschaftlichen und politischen Veröffentlichungen die Ausmaße und Geschichte des Jüdischen Viertels vor dem Hintergrund der israelischen Besatzungspolitik nach 1967 immer wieder diskutiert werden, soll im Folgenden zunächst ein kurzer historischer Überblick geschaffen werden. Das Jüdische Viertel galt jahrhundertelang als sehr armes Gebiet. Das lag sowohl an der phasenweise restriktiven und diskriminierenden Politik der osmanischen Regierung als auch an der Zusammensetzung der jüdischen Community. In Jerusalem lebten vor 1850 vor allem sephardische Juden, die meist von Halakha (Spenden) der europäischen jüdischen Communities lebten. Die erste organisierte aschkenasische Zuwanderung begann ungefähr zwischen 1810 und 1820 (Ben-Arieh 1984: 281). Viele der eher ärmlichen Gebäude wurden erst im 19. Jahrhundert gebaut, da die Anzahl der Bewohner/-innen stark anstieg. Zudem differenzierte sich die Community nach verschiedenen Herkünften (Ricca 2007: 20). Die alten sephardischen und die neu zuziehenden aschkenasischen Communities hatten nicht notwendigerweise enge Beziehungen, da sich Sprache, Rituale und Kultur unterschieden (Wallach 2011: 8). Die Bewohner/-innen des Jüdischen Viertels begannen – weil die Fläche immer beengter wurde – auch auf andere Straßen und Nachbarschaften der Altstadt auszuweichen und dort Häuser zu mieten. Nachdem in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Stadtviertel außerhalb der Altstadt gebaut worden waren, zogen sozio-ökonomisch

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stärkere Schichten aus der Altstadt aus (vgl. Kap. 6.4).2 Von Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1948 war das Jüdische Viertel daher mehr als zuvor »associated with the old, poor, and weak«, so Bar und Rubin (2011: 776). Während der britischen Mandatszeit und im Zuge der zunehmenden zionistischen Einwanderung nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen religiösen oder ethnischen Bevölkerungsgruppierungen in der Altstadt zu. 1929 begannen Unruhen, eine deren Ursachen unterschiedliche Ansichten über die Gestaltung des damals sehr engen Raums vor der Klagemauer waren. Wegen diesem und weiteren Konflikten innerhalb der Altstadt zogen immer mehr Juden von dort in neuerbaute Stadtviertel außerhalb der Stadtmauern. In der Altstadt selbst zogen die jüdischen Bewohner/-innen, die in anderen Gebieten der Altstadt gewohnt hatten, in das damalige Jüdische Viertel und seine Umgebung – das heißt, es fand auch dort vor den kriegerischen Handlungen 1948 eine ethnische Segregation nach Nachbarschaften statt (Dumper 1992: 42). Infolge des Krieges fiel das Jüdische Viertel nach langer und verlustreicher Belagerung durch die Arabische Legion an Jordanien. 1.500 jüdische Bewohner/-innen flohen oder wurden vertrieben. Das Ausharren der Kämpfer/-innen und Bewohner/-innen des Jüdischen Viertels während der Belagerung wurde in Israel verklärt und der kreative Widerstand betont (z.B. die Versorgung des Viertels durch eine improvisierte Seilbahn). Damit wurde das Jüdische Viertel, das lange nur für Religiosität und ärmliche Lebensumstände stand und diskursiv abgewertet wurde, Teil der zionistischen Geschichtsschreibung. Die Synagogen und viele Häuser des Jüdischen Viertels wurden durch die Kämpfe 1948 beschädigt oder später durch die jordanische Armee und lokale Einwohner zerstört (Bell et al. 2005: 18; Dumper/Larkin 2008: 5). Die Altstadt sei »judenrein« (Deutsch im Original) gemacht worden, schreibt Ben-Arieh (1984: 401) in einem provokanten historischen Vergleich mit den antisemitischen Sprachkonventionen in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In die leerstehenden Häuserruinen wurden palästinensische Flüchtlinge aus dem neugegründeten israelischen Staat einquartiert, außerdem siedelten sich dort viele vorwiegend ärmere Zugezogene aus Hebron an (vgl. Kap. 6.4; Ricca 2007: 52; Bar/Rubin 2011: 778). Wiederum zogen also arme Schichten in das Jüdische Viertel. Viele dieser Flüchtlinge waren allerdings bereits in den Jahren 1965 und 1966, vor der israelischen Eroberung der Altstadt 1967, von der jordanischen Polizei ins neugegründete Flüchtlingslager Šuʿafāṭ im Norden Jerusalems umgesiedelt worden. Die Motivation dafür wird zum Teil bis in die Gegenwart diskutiert (Abowd 2000: 8-9). Israel eroberte die Altstadt im Krieg von 1967. Doch eine der ersten Handlungen der Besatzungsmacht war nicht die Wiederaneignung des ehemaligen Jüdischen 2

So hatte das Jüdische Viertel im Jahr 1870 ca. 11.000 Einwohner, 1922 ca. 5.600, und 1940 ca. 3.000 Einwohner, eine Zahl, die bis 1946 auf ca. 2.000 gesunken ist. Es blieben vor allem ärmere und religiösere Schichten im Jüdischen Viertel (Ricca 2007: 22).

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Viertels. Eine Woche nach Kriegsende beschlossen Stadtverwaltung und Regierung, das neben der Klagemauer liegende Ḥārat al-Maġāriba (Marokkanisches Viertel) zu zerstören. Die ungefähr 700 Jahre alte Nachbarschaft bestand aus einfachen und dicht aneinandergebauten Häusern mit einer selbst für Altstadtverhältnisse recht armen Bevölkerung. Das Marokkanische Viertel war ursprünglich vor allem von sesshaft gewordenen Pilgern aus Nordafrika besiedelt worden, die Einwohnerschaft hatte sich im 19. Jahrhundert aber diversifiziert (ebd.: 7).3 1967 wurden ungefähr 650 bis 700 Einwohner vertrieben und 135 Häuser und zwei Moscheen abgerissen (Dumper 2002b: 78). Während einige der Einwohner/-innen in dieser Situation das Angebot des marokkanischen Königs Hassan II. annahmen und nach Marokko zogen, wurden die anderen Flüchtlinge im Flüchtlingslager Šuʿafāṭ untergebracht. Die Fläche der Nachbarschaft wurde geräumt und eingeebnet. Das ehemalige Marokkanische Viertel ist heute der großflächige Platz vor der Klagemauer. Der vordere Teil, der sich direkt vor der Klagemauer befindet, wurde als Synagoge geweiht, dahinter ist ein Versammlungs- und Aufmarschplatz (Abowd 2000: 12-13). Abbildung 12: Der Platz vor der Klagemauer, bis 1967 das Marokkanische Viertel

Abbildung: Johannes Becker

3

Aufgrund von Einwohnerlisten schließt Abowd (2000: 9-11), dass 1967 noch etwa die Hälfte der Einwohner/-innen marokkanische Wurzeln hatte. Einer seiner Interviewpartner nimmt an, dass etwa die Hälfte der Einwohner/-innen die von Israel angebotene, als gering bezeichnete Kompensation von 200 Jordanischen Dinar angenommen habe.

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Nach der Eroberung der Altstadt 1967 wurde aber auch der ›Wiederaufbau‹ des Jüdischen Viertels geplant, beworben und durchgesetzt. Aus israelischer Sicht war dies ein großer Erfolg: »Now that the Old City is once again open to the Jews – as to all others – the citizens of Israel are striving to restore its former glory and to rebuild its private homes and public institutions of the rosy Jerusalem stone with which this beloved city has been built and rebuilt throughout the ages.« (Ben-Arieh 1984: 401)

Dieser insgesamt mehr als 15 Jahre dauernde Prozess war politisch und ideologisch höchst aufgeladen und wurde inzwischen detailliert in der Publikation von Simone Ricca (2007) aufgearbeitet. Beim ›Wiederaufbau‹ spielten unterschiedliche Vorstellungen von der vorherigen Lage, Größe und Beschaffenheit des Jüdischen Viertels eine wichtige Rolle. Viele Wissenschaftler/-innen nahmen, wie in Unterkapitel 6.2 dargestellt, objektiv bestehende vier Viertel in der Altstadt und nicht sich wandelnde, kleinere Nachbarschaften an – und das wird bis heute im israelischen Diskurs reproduziert. Yehoshuah Ben-Arieh (1984: 315) geht von einem unveränderlichen Kern des Jüdischen Viertels aus, zu dem eine »natürliche« Fläche der Erweiterung gehört habe, die wieder mit der Fläche eines der vier Viertel übereinstimmt. In diesem Erweiterungsgebiet habe es aber, wie er es nennt, »alien structure[s]« gegeben, zum Beispiel einen griechisch-orthodoxen Konvent: »In the 1850’s the Jews began to settle on Habad street, thereby strengthening the nucleus’ expansion to the west (towards the Armenian Quarter) and to the north (towards the Muslim Quarter).« (Ebd.: 320) Diese Interpretation lässt sich nur halten, wenn er von vier faktisch bestehenden ethno-religiösen Vierteln ausgeht und nicht von der im 19. Jahrhundert bestehenden Ansammlung verschiedener Nachbarschaften, von denen eine das Jüdische Viertel war. Dumper und Ricca schlagen dementsprechend andere Töne bei der Definition des historischen Jüdischen Viertels an. Sie betonen, dass es im Gebiet des heutigen erweiterten Jüdischen Viertels mehrere christliche, muslimische und gemischte Nachbarschaften gegeben habe. Dumper (2002b: 80) erinnert daran, dass es schwierig sei, »to be precise about the exact location of the traditional Jewish Quarter because […] the borders between all the quarters of the Old City fluctuated according to immigration and political circumstances of a given period«. Simone Ricca (2007: 19) sekundiert und nennt das Jüdische Viertel »a constantly shifting area with its boundaries expanding from continuous Jewish immigration«.4 4

Dumpers (2002b: 80-81) Definition für das ausgehende 19. bzw. beginnende 20. Jahrhundert setzt die Begrenzungen aus Richtung Westen beim armenischen St. JakobusKonvent und den syrisch-orthodoxen und maronitischen Konventen sowie vier kleinen Nachbarschaften an, die nach muslimischen Familien benannt gewesen seien. Nach Norden hin sei das Jüdische Viertel vom Ḥārat Bāb as-Silsila, nach Osten vom Ḥārat aš-

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Der ›Wiederaufbau‹ nach dem Krieg von 1967 begann im April 1968. Das israelische Finanzministerium enteignete eine Fläche, die nach verschiedenen Schätzungen mehr als das Doppelte oder sogar das Sechsfache (IPCC 2009: 11: von 20 auf 120 Dunum [entspricht 12 Hektar]) des angenommenen früheren Jüdischen Viertels betrug, und ließ Räumungsbescheide zustellen (Dumper 1992: 37-38). Das heutige erweiterte Jüdische Viertel erstreckt sich somit auf die frühere Fläche des Marokkanischen Viertels, des Ḥārat aš-Šaraf, der Nachbarschaften Darǧ alTābouna, Ḥārat Abū Sa’ūd, Abū Maidūn und des Jüdischen Viertels sowie auf Teile des Armenischen Viertels (Ḥārat al-Arman) und des Ḥārat Bāb as-Silsila (Ricca 2007: 48-50). Daher wird es von Dumper (2002b: 14) auch das »enlarged Jewish Quarter« genannt – eine Sprachkonvention, der ich in dieser Arbeit folge: »The area set apart by the Israeli Expropriation Act included many small clusters and entire ›quarters‹ that had never belonged to the traditionally Jewish-inhabited part of the city. It mostly followed the simplified and alien subdivision that nineteenth-century Western cartographers had proposed for the city, namely dividing it into four clearly defined religiously and ethnically homogeneous quarters.« (Ricca 2007: 48)

1969 begannen die Konstruktionsarbeiten, die ›Wiederaufbau‹ genannt wurden. Dafür wurde die staatliche Company for the Reconstruction and Development of the Jewish Quarter (CRDJQ) gegründet. Die meisten alten Gebäude wurden abgerissen, um einen Masterplan im historisierenden Stil zu verwirklichen, der auf westlichen Bauprinzipien beruhte. Ein weiterer Fokus wurde auf die archäologische Ausgrabung älterer geschichtlicher Epochen der jüdischen Geschichte Jerusalems gelegt (Bar/Rubin 2011: 785; Ricca 2007: 7). Die Räumungen zogen sich von 1969 bis mindestens 1977 hin (Hinweise in den Interviews und in Abowd 2000: 11). Die CRDJQ bot staatlich geregelte Kompensationszahlungen an, die einige Mieter akzeptierten (und die höher waren als im Falle des Marokkanischen Viertels 1967). Es kam aber auch zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten und zu Beeinträchtigungen im Leben derer, die sich gegen die Räumung wehrten. Zum Beispiel wurden Zugangswege blockiert oder archäologische Ausgrabungen unmittelbar neben Häusern begonnen, die deren Bausubstanz beschädigten. Weil sich viele Besitzer (besonders Šaraf und nach Süden durch die Stadtmauer und die Nachbarschaft Abū Maidūn begrenzt gewesen. Die Gebäude hätten zumeist palästinensischen Hausbesitzern oder zu einem waqf (religiöse Stiftung, vgl. S. 150) gehört. Rashid Khalidi (1992: 137-139) betont, dass die meisten damals von Jüdinnen und Juden bewohnten Häuser von den muslimischen oder christlichen Stiftungen gemietet gewesen seien. In ihrem eigenen Eigentum seien vor allem die jüdischen religiösen Institutionen, Synagogen und Jeshiwot gewesen. Die Bevölkerungsstruktur sei auch innerhalb des Jüdischen Viertels – wie in anderen Nachbarschaften – gemischt gewesen.

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die öffentlichen und privaten Stiftungen) weigerten, die Eigentumstitel zu überschreiben, änderte die Knesset 1973 ein Gesetz: Wenn ein Mieter eine Kompensation akzeptierte, dann gingen die Rechtstitel der Wohnung oder des Hauses an die CRDJQ über, auch wenn der Mieter nicht der Eigentümer war (Dumper 1992: 38). Insgesamt betrafen die Räumungen zwischen 5.500 und 6.000 Personen. 700 Gebäude wurden enteignet. Von diesen enteigneten 700 Gebäuden waren im Jahr 1948, also bevor die jüdischen Einwohner/-innen aus der Altstadt flüchteten und bevor die Altstadt unter jordanische Verwaltung fiel, 105 in jüdischem und 130 in privatem palästinensischem Besitz, 354 waren als private und 111 als öffentliche Stiftungen registriert (Ricca 2007: 50-52). In den Regularien der CRDJQ wurde festgeschrieben, dass Pächter/-in der neuen Gebäude nur ein »Israeli citizen [sein könne] who is a resident thereof and has served in the IDF (or has been exempted from IDF service, or has served in one of the Jewish organizations prior to 14 May 1948), or a new immigrant who is an Israeli resident« (Israel Supreme Court 1978, HCJ 114/78). Ein ehemaliger Mieter eines der abgerissenen Gebäude, Muhammad Said Burkan, ein jordanischer Staatsbürger, klagte gegen diese Regelung beim israelischen Obersten Gericht. Das Oberste Gericht bestätigte aber die Rechtmäßigkeit der Regelung der CRDJQ und begründete dies mit einem Bündel von Argumenten (die folgenden Zitate beruhen auf dem Urteilstext).5 In ihren Kommentaren erkannten die Richter in der Formulierung der CRDJQ keine Diskriminierung. Zwar habe diese staatliche CRDJQ selbst die Formulierungen so interpretiert, dass sie nur Jüdinnen und Juden als Pächter/ -innen akzeptieren wolle, doch der geschriebene Text selbst sage etwas anderes, da auch »Nicht-Juden« in Israel wohnten. Die Beschränkung auf Personen, die in der Armee gedient haben, sei wiederum aufgrund der Sicherheitslage notwendig. Die Richter führten in ihren Kommentaren aber auch die historische Notwendigkeit des Wiederaufbaus des schon seit ›undenklichen Zeiten‹ bestehenden Viertels an, das von ›den Jordaniern‹ zerstört worden sei – weswegen auch eine Diskriminierung jordanischer Staatsbürger gerechtfertigt sei. In diesen Ausführungen, die auf einer Annahme der Existenz von vier ethno-religiösen Vierteln beruhen, wird deutlich, dass auch die Richter eine Beschränkung des Zuzugs auf Jüdinnen und Juden implizit billigten:

5

In der Sekundärliteratur wird dieses Urteil in zahlreichen Publikationen erwähnt, aber meistens nur mit einem Teil der Begründungen ausgeführt, weswegen der Rückgriff auf den Urteilstext an dieser Stelle erforderlich war. Vgl. aber zudem insbesondere Ricca 2007: 53-54 und darüber hinaus Abowd 2000: 13; Khalidi 1992: 141, Anm. 22; Glass/ Khamaisi 2005: 36, Anm. 4 und Cheshin et al. 1999: 91-92: »The Israeli Supreme Court has upheld the policy of allowing Jews-Only neighborhoods in Jerusalem for UltraOrthodox and secular Jews.«

272 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »Naturally, the reconstruction is aimed at restoring the former glory of the Jewish settlement in the Old City, so that the Jews will once again, as in the past, have their own unique quarter, alongside the Muslim, Christian and Armenian quarters. There is no wrongful discrimination in distinguishing these quarters, each quarter and its congregation.«

Und in einem weiteren Kommentar heißt es, dass aufgrund von Forschungen die genaue historische Lage des Jüdischen Viertels habe bestimmt werden können: »There are grounds to the conjecture that residence in the old city has been divided into quarters according to congregation, each congregation with its own quarter, since the beginning of the 11th century, although some quarters took shape earlier (for example, the Armenian quarter and the Jewish quarter).«

Die Planungen des CRDJQ sahen vor, dass die neuerbauten Wohnungen zur Hälfte an säkulare und zur Hälfte an orthodoxe Juden vergeben werden sollten. Nach Abschluss des ›Wiederaufbaus‹ zogen zunächst tatsächlich bis zu 40 Prozent säkulare Israelis ins erweiterte Jüdische Viertel. Viele von ihnen verließen das Viertel jedoch wieder, da die orthodox-jüdischen Einwohner/-innen den öffentlichen Raum immer stärker bestimmten. In den 2000er Jahren wurden 95 Prozent der Bewohner/-innen als religiöse Juden definiert (Bar/Rubin 2011: 780; Glass/Khamaisi 2005: 5). Es ist unklar, warum einige palästinensische Familien in der definierten Fläche des erweiterten Jüdischen Viertels wohnen bleiben konnten. In einem Artikel einer israelischen Architekturzeitschrift findet sich die unbestätigte Annahme, dass der damalige israelische Ministerpräsident Menachem Begin dies 25 Familien als Geste des guten Willens zugestanden habe (Hattis Rolef 2000). Der Begriff ›Jüdisches Viertel‹ wurde von Beginn des ›Wiederaufbaus‹ an für eine streng definierte geographische Fläche verwendet, wie ich sie bereits zu Beginn des Kapitels erläutert habe. Simone Ricca (2007: 12) kritisierte den Neubau des Stadtviertels für eine Bevölkerungsgruppierung als »partial reading of the diverse history of a multiethnic city«. Und während im 19. und 20. Jahrhundert das Jüdische Viertel in innerjüdischen Diskursen als arm und dreckig abgewertet worden sei, sei es nach 1967 zu einem Symbol der ›nationalen Erneuerung‹ und der jüdischen Kontrolle über die Altstadt geworden (Bar/Rubin 2011: 776; Ricca 2007: XI). Dafür sei, so Ricca (2007: 36), die Geschichte des Jüdischen Viertels beschönigt bzw. als ruhmreich umgedeutet worden: »The effectiveness of this strategy, and its grip on the Israeli public, might be inferred by the widespread and continuous references to the supposed ›splendour‹ of the ›original‹ neighbourhood that was destroyed in 1948. Such references dot almost all publications about the reconstruction of the Jewish Quarter as well as Israel’s Supreme Court ruling that excluded Palestinians from the reconstructed area.«

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Zu diesem Bild des nationalen Symbols passt auch, dass der Neubau nicht auf einer detailgetreuen historischen Rekonstruktion beruht. Zum einen hätte das wohl eher ärmliche Bauten wieder hervorgebracht, zum anderen habe den Architekten, so Ricca (2007: XI), die ›orientalische‹ Bauweise nicht zugesagt. Sie hätten deswegen versucht, durch ihre Bauweise eine »Western rationality« zu verkörpern (ebd.), wie sie auch dem zionistischen Gedanken entspreche. So sei das sich unterscheidende Ambiente des neugebauten Viertels zu erklären, das gerade für Touristen einen Hort der Ruhe und Sauberkeit im Vergleich zu den arabisch geprägten Gegenden der Altstadt suggeriere: »Most of them, uncomfortable with the Old City’s ›oriental‹ and ›foreign‹ features – an obviously Arab environment often perceived as aggressive – look for a space to rest and relax, to eat and to buy souvenirs. The Jewish Quarter, as a reshaped, transformed, cleaned up and Judaized part of the Old City, offers them all they want: English-speaking shopkeepers, Jewish and Israeli souvenirs and clean and aseptic cuisine.« (Ebd.: 96)

Damit habe das erweiterte Jüdische Viertel etwas Künstliches, verheiße jedoch für viele Israelis und für Außenstehende Authentizität. Diese Konstruktion eines klar identifizierbaren ›jüdischen Raumes‹, der sich vom Rest der Stadt unterscheide, sei stärker von der Ghetto-Erfahrung als von der historischen Realität Jerusalems inspiriert, da es historisch nie ein religiös oder ethnisch so abgeschlossenes Jüdisches Viertel gegeben habe (ebd.: 14). Doch nicht nur Israelis und Außenstehende, auch viele Palästinenser/-innen akzeptieren und reproduzieren das erweiterte Jüdische Viertel als Begriff und Realität. Die Namen der oben erwähnten historischen Nachbarschaften sind weitgehend aus dem Gebrauch verschwunden, stattdessen verwenden sie wie selbstverständlich den in Israel gebräuchlichen Begriff ›Jüdisches Viertel‹, das sie als von den anderen Nachbarschaften abgetrennt begreifen. Das ist auch durch die architektonische Distinguierung beeinflusst. Das erweiterte Jüdische Viertel wird verbesondert und dadurch den dort wohnenden Palästinenserinnen und Palästinensern eine besondere Wohnsituation zugeschrieben. Für viele Palästinenser/-innen ist das erweiterte Jüdische Viertel zudem ein Vorbild für ein moderneres Stadtleben, wie ich während meiner Gespräche immer wieder heraushören konnte und wie es von Simone Ricca (ebd.: XIII) pointiert ausgedrückt wurde: »[T]o many Palestinians it is seen to be a successful model of urban reconstruction, to be eventually copied and imitated.« Dieses ambivalente Verhältnis zu den Zerstörungen und dem Neubau wird zum Beispiel in einem Zitat aus dem Interview mit Hafez (vgl. Kap. 7.3) treffend ausgedrückt:

274 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »These days if you go there as if you=you’re walking through streets in Europe or America (2) ah, it is distinguished really ((J: mhm)) indeed, I don’t know if it’s for positive or negative […] they’re trying to=to, not only neglect or, or leave, even ruin and collapse all that (2) eh not only buildings but eh memories and stories (2) ah what to say (1) ḥarām.«

In diesem Zitat wird die Sorge deutlich, dass das palästinensische kollektive Gedächtnis zu den ehemaligen Nachbarschaften verschüttet werden könnte. Und tatsächlich kommt es sowohl in Israel als auch in Palästina zu so gut wie keiner Aufarbeitung der Geschichte des erweiterten Jüdischen Viertels. Eigene Beobachtungen im erweiterten Jüdischen Viertel Diese Herausforderung – also die adäquate Darstellung der komplexen Geschichte des erweiterten Jüdischen Viertels – verdeutlichte eine historische Stadtführung, an der ich im März 2012 teilnahm. Sie wurde vom Center for Jerusalem Studies (CJS) der palästinensischen al-Quds-Universität veranstaltet, sollte eine alternative Sicht auf die Geschichte dieses Raumes darstellen und konzentrierte sich auf die Geschichte des Ḥārat al-Maġāriba (Marokkanisches Viertel).6 Im Folgenden werde ich diese Führung in knapper Form analysieren. Der Referent, ein palästinensischer Historiker, der bei der auqāf-Verwaltung angestellt ist, leitete die Führung auf Arabisch – sie richtete sich also an ein arabischsprechendes Publikum, obwohl sie auch auf Englisch angekündigt gewesen war. Die Teilnehmer/-innen waren neben mir zwei Palästinenserinnen in ihren Zwanzigern, die sich später als Journalistinnen entpuppten, zwei junge Mitarbeiterinnen des CJS, die T-Shirts mit politischen Slogans trugen, und zwei NGOMitarbeiter aus Europa. Notdürftig wurde eine Übersetzung für diese beiden organisiert. Das heißt, dass eigentlich keine interessierten palästinensischen Privatleute vertreten waren. Das mag einerseits an der ungewöhnlich hohen vorgeschlagenen »Spende« von 120 NIS pro Person (damals ca. 24€) gelegen haben, die viele Palästinenser/-innen abgeschreckt haben dürfte. Andererseits kann es aber an einem generell mangelnden Interesse an diesem geschichtlichen Thema in der palästinensischen Öffentlichkeit liegen. Die Beschäftigung mit der palästinensischen Geschichte im erweiterten Jüdischen Viertel bleibt – zumindest in diesem Rahmen – auf eine gebildete und vermögende Schicht beschränkt. Der Titel der Führung lautete knapp The Moroccan Quarter. Der Historiker führte zahlreiche Dokumente an, um die lange arabische Ansiedelungsgeschichte im Marokkanischen Viertel zu beweisen, und analysierte die Einwohnerlisten aus dem auqāf-Archiv, um zu zeigen, welche Familie wo in der Nachbarschaft gewohnt 6

Die Führung findet in sehr unregelmäßigen Abständen statt, es war das einzige Mal, dass sie während meiner Feldaufenthalte angeboten wurde. Vgl. http://www.cjs.alquds.edu/ en/al-quds-tours-events/al-quds-weekly-tours.html; zuletzt abgerufen am 12.8.2016.

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hat und uns somit dabei zu unterstützen, die Fluchtgeschichten von 1967 nachzuvollziehen. Mehrmals verwies er detailliert auf die Ereignisgeschichte der Zerstörung des Viertels. Mit dramatischer Geste zeigte er uns die zwei einzigen vom Marokkanischen Viertel übriggebliebenen Gebäude. Er warnte vor den Gefahren der von den Israelis geleiteten archäologischen Ausgrabungen. Schließlich argumentierte er gegen die seiner Ansicht nach übertriebene Bedeutung der Klagemauer in der Gegenwart und dass deswegen die mit ihr ebenso assoziierten muslimischen Traditionen verloren gegangen seien.7 Er selbst gab sich Mühe, nie den Begriff ›Jüdisches Viertel‹ zu verwenden, sondern Umschreibungen. Auf jeden Fall entspreche alles, was nach 1967 in diesem Raum entstanden sei, nicht dem Völkerrecht, weil es auf Land gebaut worden sei, das religiösen Stiftungen gehört habe. Daher sei alles seither Gebaute militärisch. So rechtfertigt er implizit wohl auch gewaltsamen Widerstand in diesem Raum. Nach der ersten halben Stunde der Führung verließen wir das Gebiet des ehemaligen Marokkanischen Viertels und gingen in das des (oben bereits erwähnten) Ḥārat aš-Šaraf, eine weitere ehemalige Nachbarschaft, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt war, deren Bewohner/-innen aber erst im Zuge des Neubaus des erweiterten Jüdischen Viertels in den 1970er Jahren vertrieben wurden. Die Teilnehmer/-innen der Führung schienen verwirrt zu sein, denn schließlich hatten sie eine ausführliche Tour zum Marokkanischen Viertel erwartet. Sie fragten immer wieder, wo sie sich denn im Moment nun eigentlich befänden. Auf dem Hauptplatz des erweiterten Jüdischen Viertels wies der Historiker auf ehemalige palästinensische Gebäude hin und zeigte uns zuletzt fünf oder sechs Häuser mit der Bemerkung, dass aus diesen das ursprüngliche Jüdische Viertel bestanden habe. Warum war die Führung mit einem Fokus auf das Marokkanische Viertel angekündigt, obwohl wir mehr als die Hälfte der Zeit in anderen ehemaligen Nachbarschaften zubrachten? Das Marokkanische Viertel ist stärker im kollektiven Ge7

Die Klagemauer wurde erst in den vergangenen Jahrhunderten zu einer zentralen Stätte für jüdische Gläubige. Michael Dumper (2014: 9) und Rashid Khalidi (1997) geben an, dass erst seit dem 17. Jahrhundert an der Klagemauer gebetet worden sei und zuvor der jüdische Friedhof auf dem Ölberg diesen Platz eingenommen habe. Auch Yehoshuah Ben-Arieh (1984: 314) geht davon aus, dass die Klagemauer ihre Relevanz erst im 19. Jahrhundert erhalten habe: »At the beginning of the century, worshippers were few and prayers there lacked any special distinction. But, as time went on, and particularly after 1840, prayers began to assume a fixed character, first on Fridays and holidays, and then on week-days and throughout each day.« In der zionistischen Ideologie spielte die Klagemauer keine große Rolle. Im Islam ist die Klagemauer als Ḥāʾiṭ al-Burāq bekannt. Der Prophet Muhammad soll bei der sogenannten Nachtreise (al-isrāʾ) vom Haram aš-Šarīf (Tempelberg) eine Reise in den Himmel angetreten haben. Das pferdeähnliche Tier (Burāq), mit dem er in die Stadt geritten sei, sei an jener Mauer angebunden gewesen.

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dächtnis der Palästinenser verankert als die anderen Nachbarschaften, die erst in den 1970er Jahren geräumt worden sind. Das hat wahrscheinlich mit dessen spektakulärer und öffentlichkeitswirksamer Zerstörung wenige Tage nach dem Krieg von 1967 zu tun. Das Marokkanische Viertel steht im palästinensischen Diskurs für die Ruchlosigkeit der Besatzungsmacht, die eine gewaltsame Vertreibung und Zerstörung von historischer Substanz innerhalb kürzester Zeit zu organisieren imstande ist. Wahrscheinlich hatten die Organisatoren antizipiert, dass sie mit einem solchen Titel mehr Teilnehmer/-innen für die Führung gewinnen könnten als wenn sie diese zum Beispiel mit einem Titel wie ›Die ehemaligen Nachbarschaften im heutigen Jüdischen Viertel‹ umschrieben hätten. Wie erwähnt, fanden die Umwandlungsprozesse im Ḥārat aš-Šaraf und den anderen Nachbarschaften langsamer statt. Dadurch, dass viele der Bewohner/-innen dort die von Israel angebotene Kompensation annahmen, unter anderem weil sie als relativ großzügig eingeschätzt wurde (vgl. Subhis Familie in Kap. 8.3.2 und wahrscheinlich auch die Familie von Amal und Abu Lutfi, Kap. 8.3.1), taugen diese Nachbarschaften weniger als eindeutiges Symbol für das Besatzungsunrecht. Das Marokkanische Viertel ist für das Erinnern deutlich zugänglicher. Wenige Palästinenser/-innen, die ich außerhalb der Altstadt getroffen habe, kannten neben dem Marokkanischen Viertel weitere ehemalige palästinensische Nachbarschaften im erweiterten Jüdischen Viertel, und beinahe alle sprachen über das Jüdische Viertel in seiner von den Israelis geschaffenen Raumdefinition. Diese Interpretation wurde auch durch andere Beobachtungen in diesem Forschungsraum gestützt. Eine junge palästinensische Studentin unterstützte mich bei meiner Feldforschung. Ihre Eltern sind in der Altstadt aufgewachsen. Doch sie selbst wusste nichts über die palästinensische Geschichte im erweiterten Jüdischen Viertel. Als sie mich zum ersten Mal dorthin begleitete, sagte sie mir, dass sie dort noch nie gewesen sei. Das ḥāra in einem anderen Gebiet der Altstadt, aus dem ihre Mutter stammt, kannte und nannte sie dagegen beim Namen. Doch die eigentliche Überraschung folgte für mich bei der Begegnung mit ihrem Vater: Er erzählte mir, dass er im erweiterten Jüdischen Viertel – eben im Ḥārat aš-Šaraf – geboren worden sei und dort die ersten 13 Jahre seines Lebens verbracht habe, bevor er wegen der Räumung mit seiner Familie weggezogen sei. Seine Tochter wusste dies nicht. Daraus kann man die Hypothesen bilden, dass es erstens eine bewusste Entscheidung des Vaters war, nicht über seine Kindheit und frühe Jugend im Ḥārat aš-Šaraf zu sprechen, oder zweitens dass seine Tochter kein Interesse an der Biographie ihres Vaters hatte. Ersteres wäre insofern verwunderlich, als er auf seinem Handy Dutzende Bilder des erweiterten Jüdischen Viertels gespeichert hat, die er seiner Tochter bei Interesse sofort hätte zeigen können. Auf jeden Fall ist diese Begebenheit sinnbildlich für das Vergessen, das sich langsam über die meisten ehemaligen palästinensischen Nachbarschaften im erweiterten Jüdischen Viertel legt. Sie unterscheiden sich damit von vielen der ehemaligen palästinensischen Dörfer innerhalb

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der heutigen Staatsgrenzen Israels, aus denen die palästinensische Bevölkerung vertrieben worden ist und die in den Flüchtlingslagern, durch Forschungsprojekte und durch die Arbeit diverser NGOs im kollektiven Gedächtnis gehalten werden. Im erweiterten Jüdischen Viertel hat sich dagegen weitgehend die israelische Raumdefinition durchgesetzt.

8.2

H UDA: »I CH SEHE AUS WIE J ERUSALEM T RAURIGKEIT , G EBROCHENHEIT UND SEINEN N IEDERLAGEN «

8.2.1

Interviewkontext und Selbstpräsentation

MIT SEINER

Mein Kollege Yahya erzählte mir bei einem Forschungsaufenthalt im Jahr 2012, dass er eine Frau kenne, die seit 40 Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen habe, damit es nicht »den Juden« in die Hände falle. Die Frau, die er meinte, ist Hudas Mutter. Huda, 2012 25 Jahre alt, hatte Yahya in, wie sich weiter unten herausstellt, dramatisierender Weise von ihr erzählt. Bereits die Notwendigkeit einer solchen Überbetonung weist auf die Relevanz des Wohnortes hin. Huda wohnt im Haus ihrer Familie im erweiterten Jüdischen Viertel, zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern. In enger räumlicher Nähe leben jüdische Bewohner/-innen des Viertels. Huda selbst spricht wie viele andere an keiner Stelle vom früheren Namen der Nachbarschaft, in der sie lebt, sondern benutzt den Begriff ›Jüdisches Viertel‹. Dies zeigt anschließend an das vorige Unterkapitel, wie selbst die palästinensischen Bewohner/-innen dieses Forschungsraums die israelische Raumdefinition inzwischen übernommen haben.8 Dazu kommt, dass Huda, die angibt, dass zahlreiche Häuser der Familie im erweiterten Jüdischen Viertel durch die Israelis »abgerissen« worden seien, nur rudimentär davon und von der Besatzungsgeschichte berichtet und auch ereignisgeschichtliche Daten verwechselt, obwohl sie sich selbst als historisch sehr informiert begreift. Das Haus von Hudas Familie steht im erweiterten Jüdischen Viertel an einem von anderen palästinensischen Gebäuden sehr isolierten und stark frequentierten Platz. In der Nähe des Hauses stehen ständig Sicherheitsbeamte. Aus Anonymisierungsgründen kann ich auf die genaue Lage des Gebäudes nicht eingehen. Die Familie wohnt dort schon seit mindestens zwei Generationen, sehr wahrscheinlich ist das Haus schon bedeutend länger in Familienbesitz. Huda bezeichnet es als größtes

8

Huda benutzt zur genauen Beschreibung der Lage ihres Hauses auch eine ›Neuerfindung‹ eines ḥāra-Namens, der wahrscheinlich nur innerhalb der Familie benutzt wird – er ist historisch nicht besetzt und wurde mir auch in anderen Interviews nie zugetragen.

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Haus in Jerusalem – ein deutlicher Hinweis darauf, dass das häusliche Leben eine hohe Relevanz für sie hat, aber auch darauf, dass ein gewisser Status mit diesem Besitz verbunden ist. Das Haus ist im Privatbesitz der väterlichen Familie, einige Bemerkungen Hudas deuten darauf hin, dass es nicht als waqf (religiöse Stiftung, vgl. S. 150) registriert ist. Die Lage an einem stark frequentierten und wegen seiner Lage sehr begehrten Platz im erweiterten Jüdischen Viertel hat wahrscheinlich zwei miteinander verwobene belastende Auswirkungen auf die Familie: Auf der einen Seite werden sie sich Versuchen jüdischer Siedler/-innen erwehren müssen, das Haus auf die eine oder andere Weise in ihren Besitz zu bringen, auf der anderen Seite ist es Teil des palästinensischen Konsenses, dass von der Familie erwartet wird, das Gebäude als palästinensischen Besitz zu bewahren. Huda ist studierte Grundschullehrerin und arbeitet in einer Mädchenschule in der Altstadt. Yahya war ihr Dozent am College und hatte ein kurzes Projekt an ihrer Schule begleitet. Auf meine Initiative bat er Huda um ein Interview, in das diese auch einwilligte. Dabei stellte sie allerdings die Bedingung, dass dieses während ihrer Arbeitszeit, also vor 16.00 Uhr stattfinde. Sie müsse danach wieder nach Hause, weil ihre Eltern darauf bestünden, dass sie zu einer bestimmten Uhrzeit zurück sei. Das ist ein erster Hinweis auf eine problembehaftete Familienkonstellation. Daher trafen wir uns zu insgesamt drei Interviewtreffen (eines im Frühjahr und zwei im Herbst 2012) in ihrer Schule. Yahya übersetzte vom Arabischen ins Englische.9 Insgesamt dauerte das Interview ungefähr fünfeinhalb Stunden. Yahyas Präsenz war nicht nur für die Übersetzung notwendig oder weil es wegen der vorherrschenden Konventionen schwer gewesen wäre, dass eine Mann und eine Frau alleine in einem Zimmer zusammensitzen, sondern Yahya war auch eine Art ›Back-up‹, weil er bereits mit Hudas, von ihr als schwierig analysierten gegenwärtigen Lage vertraut war. Auch die Schule stellte für Huda wahrscheinlich einen sicheren Raum dar. Die Haupterzählung von zwei Stunden, die auf meine Frage nach ihrer Familien- und Lebensgeschichte folgte, machte das erste Treffen aus, der Nachfrageteil die zwei folgenden eineinhalb- bzw. zweistündigen Treffen. Anders als viele andere Interviewpartner/-innen in der Altstadt antwortet Huda häufig lange und mit vielen Erzählungen. Die Selbstpräsentation ist sehr persönlich gehalten und durchdrungen von detaillierten Geschichten. Hudas Selbstpräsentation wirkt beinahe vorbereitet, da sie zu Beginn in lebensgeschichtlicher Reihenfolge auf Ereignisse in ihrer Kindheit eingeht, als ob sie diese Art zu sprechen eingeübt hat. Gleichzeitig ist das Interview sehr selbstzentriert – erkennbar ist dies zum Bei9

Yahya stenographierte Hudas Interviewteile auf Arabisch, seine Übersetzungen waren sehr genau, wie der Abgleich mit dem arabischen Transkript ergab. In der folgenden Falldarstellung werde ich daher häufiger das zum Lesen geglättete englische Transkript zitieren und nur dann, wenn es Abweichungen gibt, auf von mir aus dem Arabischen detailliert ins Deutsche übersetzte Zitate zurückgreifen.

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spiel daran, dass sie nur sich selbst, ihren Vater und ihre ehemals beste Freundin mit Namen einführt, andere Personen hingegen ausschließlich mit ihren Rollen (die Mutter, der Bruder…) und auch wenig Rückschlüsse auf deren Erleben trifft. Dass sie so detailliert erzählt, kann mehrere Gründe haben: Einerseits hat sie zeitweise als Geschichtenerzählerin in Theaterprojekten mitgewirkt. Andererseits hat Huda aufgrund der später detailliert auszuführenden Probleme in ihrer Kernfamilie eine professionelle Therapie gemacht, wo sie vielleicht zum langen Erzählen über sich selbst aufgefordert worden war. Gerade in Bezug auf das zweite Interviewtreffen, das stark von belastenden Erfahrungen mit ihrer Familie bestimmt war, ist es denkbar, dass Huda eine Therapiesituation angenommen bzw. bereits im Rahmen der Therapie Aufgearbeitetes präsentiert hat. Das thematische Feld der Haupterzählung lässt sich als Emanzipationsgeschichte bestimmen. Sie stellt einen Lebensverlauf von Einengung (durch Mutter, Bruder, Siedler/-innen und die Stadtmauer) hin zu langsam entwickelten Strategien der Horizonterweiterung dar (Bekämpfung der Einengung durch Kreativität, aktive Beschäftigung mit der räumlichen Umgebung und einen – allerdings ambivalenten – Bildungsauftrag). In diesem Fall hat das thematische Feld gewisse Ähnlichkeiten mit der rekonstruierten biographischen Struktur. Diese Struktur habe ich betitelt als ›Lavieren zwischen dem (geographischen, sozialen) Raum der Familie – hier das Haus im erweiterten jüdischen Viertel – und der Einbindung in den (geographischen, sozialen) Raum in der muslimisch-palästinensischen Öffentlichkeit‹. Die Gemeinsamkeit der Ergebnisse auf den beiden Untersuchungsebenen besteht also darin, dass die gleichen Elemente thematisch sind: Die Familie, das Familienhaus, die räumliche Umgebung und Versuche der Distanzgewinnung. Der Unterschied besteht darin, dass in der Haupterzählung ein ständig fortschreitendes ›Selbständigwerden‹ von der Familie thematisch ist, während sich in der erlebten Lebensgeschichte rekonstruieren ließ, dass Huda es tatsächlich geschafft hat, sich eine ›selbständige‹ Position in der palästinensisch-muslimischen Öffentlichkeit zu erarbeiten und somit von einer Erweiterung gesprochen werden kann – die retardierenden Momente der eingreifenden Familie aber immer noch sehr präsent und wirksam sind. Die Rekonstruktion des gesamten Interviews zeigt als Präsentationsinteresse Hudas, dass sie sich als Palästinenserin und als Frau darstellen will, die gelernt hat, sich gegen ihre andauernde Unterdrückung in ihrer räumlichen Umgebung zu wehren und dies mit einer kreativen Stimme nach außen tragen will. Es ist auffällig, dass sie mit starkem Jerusalemer Dialekt spricht, was ihre grundlegende Beziehung zu dieser Stadt verdeutlichen kann oder soll. Ein wichtiger Teil ihres Präsentationsinteresses ist die Darstellung einer (allerdings auch erlebten) symbolischen Verortung in der Altstadt. Da die Rekonstruktion dieser Verortung oft auf langen, argumentativen Bestandteilen in den Interviewtreffen beruhte, wird sie in der folgenden

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chronologischen Rekonstruktion der Fallgeschichte nur unzureichend in ihrer Relevanz sichtbar, und deswegen gehe ich an dieser Stelle kurz gesondert darauf ein. Hudas Bewusstsein, an einem ›speziellen‹ Ort innerhalb der aufgeladenen Altstadt zu wohnen, führt dazu, dass sie diesen Ort auch symbolisch in ihre Biographie einordnet, so dass ihr Dasein dort besonders relevant erscheint. Dazu gehören die religiöse Aufgeladenheit der Altstadt als Grundkonstante ihres Lebens und sich durch das Interview durchziehende Bemerkungen zur Bedeutung der religiösen Stätten (des Haram aš-Šarīf, der Klagemauer und der Grabeskirche). Die symbolische Umgebung der Stadt wird Teil ihrer biographischen Sinnstiftung: »The (nicest) part of my life when I wake up in the morning on the ah the call for pray in the early morning, it’s not out of belief but I love it and at the same time watching the rabbis somewhere from the window of my house they are preparing for the the (

) and preparing

for the ah pray.«

Doch die symbolische Verortung geht noch weiter. Huda stellt sich mit der Stadt gleich oder sogar als Einheit mit der Stadt dar. Sie nutzt die Metapher ›Jerusalem‹ zur Darstellung ihrer Lebenssituation, ihrer eigenen Subjektivität und Geschichte. Damit verbesondert sie sich als herausgehobene Repräsentantin der Stadt, deren Leben Ähnlichkeit mit deren Geschichte hat: »Als sie mich danach fragten wer ich sei sage ich, ich bin Jerusalem […] mit allen Details mit seinen Gassen mit deren Windungen mit seiner Einfachheit mit seiner Geschichte mit seiner Altehrwürdigkeit.« Dann führt sie dies weiter aus: »Ich sehe aus wie Jerusalem mit seiner Traurigkeit, Gebrochenheit und seinen Niederlagen (2) und sogar in meinem Unterbewusstsein habe ich manchmal gedacht (2) damit es mich tröstet dass die Leute die um mich sind wie die Stadtmauer sind, durch die Geschichte wurde die Mauer sechzehnmal zerstört yaʿnī nein nicht zerstört geändert […] die Leute die um mich sind sind einfach, Steine man fühlt aber diese wertvolle Stadt, aber diese wertvolle Stadt ah als (3) bleibt aber niemals ohne Steine deswegen habe ich immer gesagt ich brauche die Leute die um mich sind, weil sie wie die Jerusalemer Stadtmauer sind, die ist Schutz Sicherheit […] niemals habe ich die die verschiedenen Leute in Jerusalem gehasst ich mag es die Touristen zu sehen ich mag den Anblick der Nonnen sogar die gläubigen Juden ich mag ihren Anblick ich hasse es wenn ich einen ängstlichen Siedler mit Waffe in der Hand sehe weil Jerusalem uns Sicherheit gegeben hat, ich ging auch öfter einmal ging ich in die in die Grabeskirche es gibt eine Behauptung die sagt dass, die Grabeskirche im Zentrum Jerusalems sei in einem Kreis und die Kirche sei im Zentrum dieses Kreises ah und die gleiche Behauptung sagt dass dieses Zentrum im Felsendom sei genau Zentrum der alten Welt und ich ging zum Zentrum der alten Welt damit ich im Zentrum der alten Welt stehe.«

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Huda setzt sich mit Jerusalem gleich und führt die Metapher weiter, indem sie relevante Bezugspersonen als die sie stützende und schützende Stadtmauer rahmt – Huda steht als angegriffene Stadt im Zentrum. Durch diese Gleichung ihrer selbst mit der Stadt und der sie umgebenden Nächsten mit der Stadtmauer kann sie ihre biographisch schwierige Position dem Schicksal der Stadt einpassen – sie wird selbst Teil der nationalen und religiösen Relevanz der Stadt. Dies wird im zweiten Teil des Zitates dadurch deutlich, dass sie die religiöse Singularität der Altstadt durch ihre heiligen Stätten heraushebt. Die Rahmung der Altstadt als ›Zentrum der Welt‹ deutet, wenn man die Gleichsetzung Jerusalems und Hudas betrachtet, wieder darauf hin, dass durch diese symbolische Verortung eine Sinnstiftung in ihrem Leben erfolgt. Diese Positionierung und Symbolik hilft ihr bei der Bearbeitung biographischer und familialer Probleme, die ich im Folgenden beginnend mit der Familiengeschichte rekonstruieren werde. 8.2.2

Hudas Familien- und Lebensgeschichte

Familie väterlicherseits: Die auseinanderdriftende Jerusalemer Familie Über größere Familienzusammenhänge spricht Huda während ihrer Haupterzählung nicht. Erst auf meine narrative Nachfrage zu ihrer Familiengeschichte führt sie diese ein, allerdings erst nach ihrer Rückfrage, ob ich etwas über die »große« oder die »kleine« Familie wissen wolle. Wie weiter unten deutlich wird, erscheinen Huda Großfamilie und Kernfamilie als getrennte Einheiten. Außerdem separiert sie väterliche und mütterliche Familienzusammenhänge und führt diese geordnet nacheinander ein, zunächst die väterliche Familie. Ihr Großvater väterlicherseits starb, als sie ca. zwei Jahre alt war, ungefähr um das Jahr 1989 (sein Geburtsdatum ist nicht bekannt). Sie hat das meiste Wissen über ihn von Verwandten außerhalb der Kernfamilie erhalten – Huda schiebt der Sequenz über ihn eine Bemerkung voran, dass sie im Alter von elf oder zwölf Jahren alle Verwandten nach der Familiengeschichte ausgefragt habe; als ob diese in der Kernfamilie nicht thematisiert oder sogar verdrängt worden wäre, wandte sie sich an ›Experten‹ aus dem erweiterten Familienkreis. Ihr Vater Suleiman stammt aus einer ›Jerusalemer Familie‹, womit, wie in Abschnitt 6.4 beschrieben, eine ›alteingesessene‹ Jerusalemer Familie und eine Abgrenzung von Familien gemeint ist, die erst in den vergangenen ca. einhundert Jahren nach Jerusalem gezogen sind. Hudas Familienname ist kein bekannter, sie betont aber dennoch die ›originale‹ Jerusalemer Zugehörigkeit. So sagt sie, ihr Vater »belonged to these families of Husseinis, Nashashibis«. Die Bezugnahme auf die beiden wohl bekanntesten Jerusalemer Großfamilien soll vermutlich einen ähnlich hohen Bekanntheitsgrad und Status suggerieren. Es deutet sich an, dass die Familie

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über bestimmtes soziales Kapital verfügen könnte und darüber die historische Berechtigung herleitet, in Jerusalem zu leben. Es ist eher ungewöhnlich, dass – sollte der Familie tatsächlich der Status einer Jerusalemer Familie zugeschrieben werden – sie noch in der Altstadt wohnt, dies hat sicherlich auch mit der Lage des Familienhauses zu tun. Hudas Großvater war eine Art Entrepreneur, besaß Land und hatte verschiedene Gewerbe, darunter ein größeres Restaurant im Süden von Jerusalem. Das meiste Land verkaufte er, »but he did not sell it to Jews, he sold it to ah Arabs«. Dass Huda dies auf meine Nachfrage nach ihrer Familiengeschichte sogleich betont, bedeutet die hohe Relevanz des Themas Land- und Grundbesitz, das sich in Bezug auf das Haus im erweiterten Jüdischen Viertel bis heute durchzieht. Vielleicht ist damit die Sorge vor Gerüchten verknüpft, nicht entsprechend nationaler Interessen der Palästinenser zu handeln, so dass man immer betonen muss, dass in der Familie nichts an ›die Juden‹ verkauft worden sei. Warum der Großvater das Eigentum verkauft hat, erfahre ich nicht. Der Großvater hatte insgesamt 15 Kinder, von denen sechs starben (es ist unklar, ob alle Kinder von der gleichen Partnerin stammten). Auf den erstgeborenen Sohn folgten fünf Mädchen, darauf wurde 1947 Hudas Vater Suleiman geboren und danach zwei weitere Söhne. Der Großvater scheint in der Familie eine eindeutige Rolle zugewiesen bekommen zu haben. Er galt als ein »Sī-Saiyid«, was mit ›HerrMann‹ übersetzt werden kann. Das heißt, dass er die absolute Autorität besaß. Im Haus habe aus Angst Stille geherrscht; er habe besonders die Frauen erniedrigt – ihnen sei alles verboten gewesen. Allerdings durften die Töchter ohne Kopftuch das Haus verlassen, »behave in unreligious way«. Huda beschreibt in ihrer Darstellung eine gewisse Flexibilität bei der religiösen Praxis bei gleichzeitiger Betonung der patriarchalischen Rollenverteilung. Den Vergleich mit einem ›typischen‹ Mann aus dem alten ägyptischen Film, den Huda in diesem Zusammenhang bemüht, zeigt, wie sehr der Großvater für sie eine Figur der Vergangenheit, einen Patriarchen alter Schule symbolisiert, der für sie nur noch über diesen Vergleich zu beschreiben ist. Der Großvater wird von ihr als Gegensatz zu ihrem Vater und zur Herkunft der mütterlichen Familie konstruiert (s.u.). Die Großmutter wird dagegen lediglich über ihre Mutterrolle eingeführt, die ein Kind »nach dem anderen« zur Welt gebracht habe. Wie später zu sehen ist, hat Huda auch Angst, dass an sie durch die Familie, sollte sie heiraten, eine ähnlich reduzierte Rolle als Mutter herangetragen werden könnte. Ich erfahre nichts zur Kindheit des Vaters und seiner acht Geschwister; ich nehme aufgrund einiger Andeutungen im Interviewtext aber an, dass die väterliche Familie in jenem Haus im erweiterten Jüdischen Viertel gelebt hat, in dem Hudas Kernfamilie immer noch wohnt. Suleimans Brüder und Schwestern führt Huda lediglich über ihr Heiratsverhalten ein. Die meisten Geschwister heirateten innerhalb der erweiterten Familie. Neben Hudas Vater heirateten lediglich zwei Schwestern

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›außerhalb‹ der Familie – in eine andere Jerusalemer Familie bzw. in der Nachbarschaft. Es handelte sich um traditionelle Eheschließungen. Der familiale Zusammenhalt war ein Wert, der vom Großvater als soziales Kapital hochgehalten wurde. Es war anscheinend für die Familie nicht notwendig, außerhalb des Familiennetzwerkes zu heiraten, zum Beispiel, um einen sozialen oder ökonomischen Aufstieg zu erreichen. Auch das deutet auf eine gesicherte familiale Umgebung hin. Es ist anzunehmen, dass Suleiman als erstem Sohn nach der Geburt von fünf Töchtern in einer familienorientierten palästinensischen Herkunftsfamilie eine besondere Rolle zukam – Huda wurde berichtet, dass ihre Großmutter von Suleimans Geburt geträumt habe, bevor er zur Welt gekommen sei. Sie beschreibt ihren Vater als einen, der wegen seiner Position in der Familie verwöhnt worden sei, aber dann rebelliert habe. Er hat sich wohl von seinen Geschwistern bzw. den Eltern zunächst distanziert. Die anderen Söhne arbeiteten für den Großvater, während Suleiman derjenige gewesen sei, »who did not want to ah who did not work in this business«. Und auch hinsichtlich des Heiratsmusters unterscheidet sich Suleiman von seinen Geschwistern: Er war bei seiner Hochzeit mindestens 35 Jahre alt und der einzige Sohn, der nicht innerhalb der Familie heiratete. Hudas Vater wird also auf der einen Seite als ›Rebell‹ eingeführt, der sich nicht an die vom Großvater vorgegebene Autorität hielt; die Aussage kann aber auch bedeuten, dass er antriebslos war. Huda deutet auch an, dass ihr Vater Widerstände habe erfahren müssen: »He’s not lucky, and ah the time always ah ahm came against him but ah he has ah intention.« Weitere Informationen habe ich zum Lebensweg Suleimans nicht, außer dass er zur Zeit des Interviews einen Laden (wahrscheinlich eine Art Kiosk) in der Altstadt gepachtet hat. Das deutet darauf hin, dass er aus Hudas Sicht keine erzählenswerte Berufsbiographie hat.10 Inzwischen wohnt Suleiman als letztes seiner Geschwister im väterlichen Anwesen im erweiterten Jüdischen Viertel, laut Huda dem einzigen Haus ihrer Familie, das dort nicht abgerissen wurde. Der Bruder und die Schwester des Vaters, die zuvor im gleichen Haus gewohnt hatten, sind in andere Stadtteile Ostjerusalems gezogen. Huda sagt, dass die beiden Geschwister aus dem Haus ausgezogen seien, weil ihre Familien zu groß geworden seien, doch das ist keineswegs selbstverständlich. Sie selbst beschreibt das Familienhaus an anderer Stelle als »das größte« in Jerusalem. Auch wenn das symbolisch zu verstehen ist, ist es eine hervorstechende Aussage in der Altstadt, wo extreme Raumknappheit die Normalität ist. Der Auszug der beiden Geschwister und ihrer Familien kann deswegen durchaus entweder als Produkt der Familiendynamik oder als Ergebnis des Drucks auf dem Leben im er10 Es kann nicht rekonstruiert werden, ob Hudas Vater ein Vertreter der oben vorgestellten Jordanischen Generation ist (vgl. Kap. 7.2.4), weil dafür das niedrige finanzielle Kapital in den 1950er und 1960er Jahren die wichtigste Determinante war und dahingehend die Besitzverhältnisse von Hudas Familie nicht ausreichend bekannt sind.

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weiterten Jüdischen Viertel interpretiert werden. Die Geschwister haben also die Nähe zu ihrer Kindheit und Jugend aufgegeben, während der, der sich am wenigsten den familialen Mustern entsprechend verhielt, nun die Aufgabe hat, das familiale Erbe zu bewahren. Auf der einen Seite separierte sich Suleiman von seiner Familie, auf der anderen Seite übernahm er die Verantwortung für den Familienbesitz, die auch viele Entbehrungen bedeutet. Einmal deutet Huda an – wie es ihr wahrscheinlich von anderen Familienmitgliedern kolportiert wurde – dass ihr Vater vor seiner Hochzeit ein »wärmerer« Mensch gewesen sei und versucht habe, stärkeren Kontakt zur väterlichen Familie zu halten. Das heißt, dass die Familie des Vaters indirekt Hudas Mutter dafür verantwortlich macht, dass die Familienbeziehungen schlechter geworden seien. Huda selbst berichtet davon, dass die Beziehungen innerhalb der Familie väterlicherseits nicht eng seien und sie sich nur hin und wieder an Feiertagen sähen. Sie selbst führt den Unterschied zwischen ihrer Kernfamilie und den Familien ihrer Tanten und Onkel vor allem über die vernachlässigte Bildung ihrer Cousinen und Cousins ein. In diesem Sinn setzt sie ihren Vater positiv von der restlichen Familie ab, weil dieser sich um die Erziehung seiner Kinder gesorgt habe. Die gebundene ›Hebroner‹ Familie mütterlicherseits Über die mütterliche Familie berichtet Huda weit weniger. Sie stamme nicht aus Jerusalem, sondern aus Hebron. Obwohl sie in Jerusalem leben, werden ihre Großeltern von ihr als ›Hebroner‹ eingeführt, was auf die Relevanz dieser Distinktion und der bereits eingeführten Abwertung dieser Familien im Diskurs über die Altstadt hinweist (vgl. Kap. 6.4). Hudas Großeltern haben drei Töchter und vier Söhne – der Großvater ist bereits verstorben, die Großmutter lebt noch in der Nachbarschaft Bāb al-ʿAmūd (eines der muslimisch geprägten ḥārāt) der Altstadt, mit der diese Seite der Familie weiterhin assoziiert wird, da die meisten Verwandten dort wohnen. Ihr ältestes Kind ist Hudas Mutter (geboren ca. 1960), eine gelernte Schneiderin. Ein Bruder der Mutter starb den »Märtyrertod«, als er 17 Jahre alt war. Das heißt wahrscheinlich, dass er von den Israelis getötet wurde und deswegen im Familiengedächtnis eine wichtige Rolle einnimmt. Die Mutter hat als ältestes Kind der Familie viel Verantwortung für ihre Geschwister übernommen. Von Hudas Warte stellt sich das so dar: Die Mutter wird als Bindeglied der Familie eingeführt, allerdings ohne dass die Gründe hierfür näher erläutert werden: »My mother has really good relations to the wives of my uncles, because of her status in the family they respect her, ya they respect her ahm thoughts and they ask her if there are problems faced them.« Huda stellt die Familienbeziehungen als eng dar und beschreibt somit eine im Vergleich zur väterlichen eher als gebunden zu bezeichnende Familie (Wirsching/Stierlin 1983: 602-603). Sie sagt: »They care for each other and they help each other, if somebody fell down they try to help him get up they come and visit in

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the feasts for them feasts is a holy thing they try to keep, and also they come to visit in the normal occasions.« Das heißt, dass Hudas Eltern aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen: auf der einen Seite der Vater aus einem Jerusalemer Elternhaus, bei dem vieles auf einen generellen Statusabstieg hindeutet. Auf der anderen Seite die erheblich jüngere, aber in ihrer Herkunftsfamilie stärker eingebundene Mutter. Was heißt das für die Machtverhältnisse innerhalb der Kernfamilie? Auf jeden Fall bedeutet die Heirat mit einer ›Hebroner‹ Schneiderin (die von Huda nicht mit ihrem Namen benannt wird) für Suleiman keine Heirat ›nach oben‹, gerade innerhalb einer ›Jerusalemer Familie‹. Es bleibt eine offene Frage, ob seine Frau die exponierte Lage des neuen Familienhauses in Kauf genommen hat bzw. als politische Aufgabe angenommen hat – genau wie wohl einer ihrer Brüder im Kampf gegen Israel aktiv war.11 Auf jeden Fall hat Hudas Kernfamilie nach dem Auszug der Geschwister einen besonders herausgehobenen und zugleich isolierten Stand im erweiterten Jüdischen Viertel. Als ›Übriggebliebene‹, alleine gelassen von der väterlichen Familie, steigt der gesellschaftliche Druck auf sie, das große Haus zu halten. Wie sich zeigt, ergeben die familialen und politischen Verhältnisse eine Mischung, die für Hudas biographischen Verlauf eine große Herausforderung darstellt. Hudas Kindheit: Einengung des ›Spiel‹raums Huda wurde 1987 in Jerusalem geboren, sie hat einen um ein Jahr älteren Bruder. Im darauffolgenden Jahr 1988 wurde ihre jüngere Schwester geboren, und in den Jahren 1989 und 1992 folgten zwei weitere Brüder. Kurz nach ihrer Geburt – im Dezember 1987 – begann die Erste Intifada, die in der Altstadt einerseits mit gewaltvollen Auseinandersetzungen verknüpft war, andererseits eine Periode zunehmender Solidarisierung innerhalb der palästinensischen Community darstellte. Palästinensische Aktivisten hatten zu Streiks aufgefordert, deren Einhaltung erzwungen wurde; die israelische Seite forderte dagegen, die Geschäfte wieder zu öffnen. Dies hatte – genauso wie der Rückgang der Touristenzahlen – eine wirtschaftliche Krise gerade für Kleinhändler zur Folge. Für Hudas Vater, den Kiosk-Pächter, kann es daher eine einschneidende Zeit gewesen sein, verknüpft mit einer verschlechterten ökonomischen Situation der Familie (vgl. Kap. 5.3). In dieser Phase einer teilweise erzwungenen Solidarität zum palästinensischen Widerstand nahm auch der innerpalästinensische Druck auf die Altstadtbewohner/-innen zu, Besitz angesichts einer steigenden Zahl von Siedlungen zu halten (Hausverkäufe an Israelis stellte 11 Hier sei daran erinnert, dass den ›Hebronern‹ in der Altstadt inzwischen auch die Aufgabe zugeschrieben wird, den arabischen Charakter Jerusalems zu bewahren (vgl. Qleibo 2011b und Kap. 6.4) und dass Huda ihre Mutter gegenüber Yahya mit der Bemerkung eingeführt hat, sie habe seit 40 Jahren das Haus nicht verlassen, weil sie Angst habe, Siedler/-innen könnten es ansonsten übernehmen.

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zunächst Jordanien, später die Palästinensische Autonomiebehörde unter Todesstrafe). Aber auch von Seiten der jüdischen Bewohner/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel gab es ständigen Druck auf die Familie, als ›Fremde‹ das Viertel zu verlassen.12 Es ist davon auszugehen, dass das Unsicherheitsgefühl für die Familie als Außenseiter in ihrer räumlichen Umgebung zugenommen hat. In der Zeit der Ersten Intifada musste Hudas Familie zugleich auf familiale Ereignisse reagieren. Nach dem Tod des Großvaters väterlicherseits – des ›Patriarchen‹ – im Jahr 1989 wurde dessen Erbe geregelt bzw. aufgeteilt. Es gibt Hinweise, dass der Auszug der Geschwister aus dem Familienbesitz damit verknüpft gewesen sein könnte. Unabhängig davon, wann und aus welchem Grund der Auszug stattfand, ist anzunehmen, dass die familialen und politischen Entwicklungen dazu geführt haben, dass das Gefühl der Isolation und des Alleinseins im erweiterten Jüdischen Viertel aufgrund der weiter unten analysierten Ausgrenzungserlebnisse bei den Mitgliedern der Kernfamilie zugenommen hat und deswegen auch das innerfamiliale Konfliktpotenzial wuchs. Hudas erste Erzählung gleich zu Beginn des Interviews geht auf die Wahrnehmung von zunehmender Fremdheit bzw. Isolation in der eigenen Umgebung des erweiterten Jüdischen Viertels ein: »I remember the voices and the pictures when I was four years old (2) ah one of the examples I remember was when my brother was=when I was five he just ah, carried in his hand a Palestinian flag, by the way I live near […] (2) and when he was five just was playing with the with the flag and a settler woman just shouted at him and fought him so he ah hided himself in the house=when my mum just took him inside, in a moment soldiers came and asked for the flag (2) and at that time just the child the small child said it’s our flag why you want to take f- to take it from us, and at that moment you start feeling that you are strange among strangers and those who are around you they are very strange, people for you.«

Diese Erzählung dient Huda als Einführung in ihre frühe Erinnerung und in die besonderen Lebensbedingungen im erweiterten Jüdischen Viertel. Der ›Held‹ in dieser Geschichte ist ihr älterer Bruder, später taucht ihre Mutter auf. Huda präsentiert auf einem oberflächlichen Level die nationale Ausrichtung der Familie in einer feindlichen Umgebung – ein kleiner, unschuldiger Junge wird von einer Frau angegriffen, nur weil er friedlich mit einem nationalen Symbol spielt. Das öffentliche Zeigen palästinensischer Flaggen war bis zum Jahr 1993 verboten (Nassar 2006: 224). Hudas Erzählung transportiert die schon damals aufgeladene Situation in der Altstadt. Im arabischen Interviewtranskript heißt es: »Dein Bruder wird geschlagen und die 12 Im Folgenden und weiter unten auf S. 294-295 werden einige von Hudas diesbezüglichen Erlebnissen dargestellt. Sie sind im Interview meist nicht auf ein bestimmtes Jahr festlegbar; es kann davon ausgegangen werden, dass immer wieder solche Einschüchterungsversuche unternommen wurden.

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Mutter kann nichts machen.« Huda selbst bleibt in dieser Geschichte passiv. Außerdem spricht sie im arabischen Text weit häufiger von »der Junge« oder sogar von »dein Bruder«. Das deutet darauf hin, dass es sich um eine Fremderzählung handeln könnte, die sie selbst für ihre eigene Lebensgeschichte als formativ transformiert hat (vgl. Hinrichsen/Rosenthal/Worm 2013: 161-162). Es ist auch recht unwahrscheinlich, dass Huda in diesem Alter die Bedeutung der Intifada und so abstrakter Symbole wie einer Fahne erkannt hat. Wie Kate Rouhana (1989: 119) formuliert: »The children are too young to grasp cognitively what the intifadah means […]. Their thinking is entirely concrete; they cannot yet grasp abstract concepts such as nation, occupation, land, and so on.« Das Zitat oben – Hudas Erzählung – kann aber auch so gelesen werden, dass darin nicht nur eine Distanzierung von der Siedlerumgebung, sondern auch von der eigenen Familie stattfindet. Bald wird sich zeigen, dass gerade ihre Mutter und ihr Bruder in ihrem Leben eine von ihr häufig als negativ interpretierte Rolle einnehmen. Damit gewinnt das Zitatende vor allem wegen der (auch im arabischen Text so verwendeten) Personalpronomen im Singular eine neue Bedeutungsdimension. So kommt Hudas Distanzierung von Mitgliedern der Kernfamilie zum Ausdruck. Das Zitat kann so interpretiert werden, dass sie mit »stranger« auch ihre Familienmitglieder und ihr Verhältnis zu ihnen bezeichnet und dies mit der Erzählung über die Siedler/-innen rahmt. Es wird also eine prekäre Wir-Ich-Balance angedeutet (Elias 1987). Dieser Spagat zwischen der Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe der Familie, der schwierigen Position im erweiterten Jüdischen Viertel, der Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe der Palästinenser und einer Betonung der eigenen Individualität wird in der Falldarstellung immer wieder angedeutet und manifest. In ihrer Kindheit spielten Huda und ihre kleinen Geschwister auf dem Platz vor der Hurva-Synagoge, was heute aufgrund der im öffentlichen Raum aufgeladenen politischen Situation schwer vorstellbar ist. Doch Huda erzählt, dass ihnen das plötzlich verboten worden sei. Im arabischen Text heißt es: Es wurde »uns verboten aus der Haustür zu treten wir müssen (immer) im gleichen Haus sitzen und darin spielen«. Nun wäre es naheliegend, diese Verbote auf die politische Situation im Viertel zu schieben. Doch das geschieht nicht. Die Kraft, die hinter dieser Einengung in das eigene Haus steckt, wird als ihre Mutter erkennbar – Huda macht sie für die Einengung im Kindesalter verantwortlich. Diese Einengung des ›Spiel‹raumes muss von Huda als dauerhafter Zustand empfunden worden sein, denn innerhalb weniger Zeilen überspringt sie Jahre, die sie mit diesem Zustand verbindet, und erzählt dann von der unveränderten Situation, als sie bereits zur Schule ging: »Wir gingen pünktlich [zur Schule] und kehrten pünktlich zurück es gab keine Zeit zu zu spielen und keinen Platz auf den wir, gehen konnten wir kehrten zurück und nach einer Weile kam die Nacht auch in den Sommerferien gab es kei-keinen Ort […] zu dem wir gehen konnten meine Mutter hatte sogar Angst vor den Jugendclubs vor jedem Ort Ort, kein Ort.«

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Aus Hudas Kindheit sind mir nur wenige Daten bekannt, häufig gibt es im Text verdichtete Situationen und detaillierte Erzählungen, die chronologisch nicht genau bestimmbar sind. Die meisten handeln von Einengung durch die Familie oder durch die feindliche Umgebung im erweiterten Jüdischen Viertel. Diese Interviewstellen bekräftigen, dass Huda sich als zu Hause Eingeengte wahrgenommen und sich dort mit ihren Bedürfnissen allein gefühlt hat. Das Spielen in den autofreien Gassen der Altstadt gehört für die meisten meiner Interviewpartner/-innen zu den positiven konstituierenden Erlebnissen in ihrer Kindheit. Huda sagt im Gegensatz dazu, dass sie als Kind Jerusalem gehasst habe: »I hated the streets and the Old City maybe because we were e outsiders in a way- in, in other words I was not really involved in the life of the city.« Der ›Hass‹ auf die Stadt wird von ihr vor allem dadurch begründet, dass sie nicht in das alltägliche Leben der Stadt eingebunden gewesen sei. Wiederum ist der (auch in Hudas arabischem Text in dieser Reihenfolge verwendete) Wechsel der Personalpronomen aufschlussreich: Worauf bezieht sich das »we were outsiders«? Sind die Familienmitglieder innerhalb ihres Viertels Außenseiter in der Figuration mit den jüdischen Siedlern? Sind sie in der palästinensischen Community Außenseiter, weil sie im erweiterten Jüdischen Viertel und dadurch etwas vom palästinensischen Stadtleben separiert wohnen? Oder geht es um Huda und ihre Geschwister, die durch die Kontrolle der Mutter nicht den ›Spiel‹raum mit anderen Kindern der Altstadt hatten? Die Außenseiterposition lässt sich in der biographischen Rekonstruktion für alle angesprochenen Bereiche erhärten. Hudas formative Stadterfahrungen unterscheiden sich von jenen vieler in der kleinen Nachbarschaft, für die der halbprivate Raum für ihre Sozialisation positiv besetzt war (vgl. Kap. 7). Bei Huda stehen dagegen Vereinzelung und Alleinsein. Es wäre nun zu erwarten, dass die Eltern versuchen, diese Einengung durch den Wohnort aufzufangen und den Kindern eine annehmbare ›häusliche‹ Kindheit zu ermöglichen. Wie bereits erwähnt, wäre es für Huda dann ein Leichtes, die Verantwortung für die Einengung auf Polizei und jüdische Bewohner/-innen des Viertels abzuwälzen. Doch Hudas Erinnerung an ihre Mutter als Überwacherin überschreibt die negativen Erfahrungen, die sie mit anderen im erweiterten Jüdischen Viertel machte. Wie ging Huda damit um? Hier im Vorgriff eine Erzählung Hudas, als sie bereits neun Jahre alt und zur Schule ging: »Staying all the time at home just I felt bored and I had just one sister, and I had a choice ( ) stay, playing with her, at home or go to play with my brothers who is using the space, a big space behind our house where is also a Jewish children play in, but the only thing they did is just play with their bikes and when I told my mum that I want to go outside and play with the bikes so my mum said ok you can go, but she had a bet that when I was, if I go there and start cycling I will fall down, then I will not ask her again, so anyhow she was betting that I’ll stay at home after the first time (off) but ahm I hurted myself many times till I learn how to ride a bike […] at that year the Jewish children start beating us and I didn’t understand why but me

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and my, brother start to fear from them […I remember] after that I spent more time with my in in at home and my mum was a tailor, tailor, a su- she was sewing and at that time I learnt from her how to sew and I made the first (dolls) I had Barbies and and in one day just my mom took all of my older dolls that I made and just throw them in the rubbish container, and I was just you know crying all the time and ask mys- my God why he created us and why he created me as a girl because I (couldn’t) leave the house […] and that day when ahm dad saw me crying because of my dolls just he went down and started searching in all the rubbish containers you know trying to get me my my to get for me back my dolls.«13

An dieser Sequenz lässt sich ersehen, wie Huda versucht hat, die räumliche Einengung zu überwinden. Erstens durch die Überschreitung von zugeschriebenen Genderrollen; im arabischen Text heißt es, die Mutter habe ihr zuvor gesagt, dass »kein Mädchen Fahrrad fahren« könne. Die Brüder – ich nehme an, vor allem der ältere – hatten dementsprechend mehr räumliche Freiheiten als Huda. Das ist eine innerfamiliale oder milieuspezifische Hürde, die sie zunächst überspringt, nur um dann von der ›Konfliktlinie‹ der Siedler/-innen wieder Einengung zu erfahren: Ein Konflikt löst den anderen ab. Daraufhin setzt sie auf ihre kreative Imagination bzw. die kreative Aneignung der Fähigkeiten der Mutter, aber wird wiederum von ihr daran gehindert. Huda führt das Handeln der Mutter und die Einengung im familialen Bereich auf Genderrollen zurück. Erneut lässt sich ihr Neid auf den großen Bruder erkennen. Da taucht ihr Vater in der Erzählung auf. Er setzt sich für die Tochter ein. An vielen anderen Interviewstellen beschreibt Huda ihren Vater als eher passiv und ohne eigenen Antrieb. Doch an dieser Stelle ist sein Engagement für die Tochter positiv besetzt. Die Erzählung verdeutlicht, dass für Huda die Einengung durch die stadträumliche Umgebung und die familiale Einengung als Konfliktebenen eng miteinander verwoben waren, sie bedingten einander, auch wenn am Ende die Einengung im Familienzusammenhang die Oberhand behielt. Beinahe jeder kleine Erfolg oder Widerstand endete in Hudas Wahrnehmung mit einer Niederlage in der Kernfamilie. Dieses Gefühl des Eingeschlossenseins und der dauernden Niederlagen im häuslichen Umfeld und im Umfeld des Viertels scheint sich durch ihre Kindheit gezogen zu haben, denn es bleibt in den vielen ähnlichen Erzählungen relativ unklar, in welchem genauen Alter sich die Ereignisse abgespielt haben oder in welcher chronologischen Reihenfolge. Aneinandergereiht, wie die bis jetzt angeführten Erzählungen bei ihr sind, zeugen sie von ihrer dauernden und determinierenden Erinnerung an Niederlagen und Einschränkungen, die sie lediglich durch die kreative Beschäftigung bis zu einem gewissen Maß (bis zum Einschreiten der Mutter) ausgleichen konnte.

13 Dieses Zitat wurde durch die Übersetzung ursprünglich dreigeteilt.

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Rundum positiv besetzt ist einzig ihr Großvater mütterlicherseits. Er wird in den Nachfrageteilen als Familienmitglied gezeichnet, zu dem sie als Kind eine enge Bindung hatte. Er bot einen Freiraum, den sie in ihrer Kernfamilie nicht bekam. Huda beschreibt ihn als menschlich, als warmherzig und dass er gut zu Frauen gewesen sei, zum Beispiel habe er die Frauen in der Familie zusammen mit ihren Kindern eingeladen und mit ihnen gesprochen: »He was not authority.« Er habe ihr bei Problemen zur Seite gestanden. Damit baut sie einen unausgesprochenen Gegensatz zu anderen Figuren in ihrer Familie auf: dem Großvater väterlicherseits und ihrer Mutter. Sie habe ihren Eltern gegenüber gedroht, ihrem Großvater zu erzählen, wenn sie etwas Falsches getan hätten. Interessanterweise führt sie die Person des Großvaters erst im Nachfrageteil ein und auch erst mit dessen Tod, so dass die Verlusterfahrung wieder die konstituierende wird. Die Figur scheint nicht zu ihrem Präsentationsinteresse der bis heute versuchten Einengung zu passen, von der sie sich in einem Emanzipationsprozess befindend darstellen will. Im Gegensatz zu Erzählungen über die Einengung in der Familie scheint bei Erzählungen über Erlebnisse mit jüdischen Siedlerinnen und Siedlern – das wird auch an späteren Erlebnissen deutlich – die Angst vor ihnen zwar durch, allerdings sind ihre Erzählungen über sie viel mehr mit Handlungsmacht verbunden als solche über die Kernfamilie. Das ist zum Beispiel an folgender Erzählung über eine eigentlich sehr beängstigende Situation zu sehen, in der sie ihre und ihrer Schwester starke Reaktion betont: »We forgot the door open so (4) we saw many people entered and they start climbing the stairs up I told my my sister it looks like the war starts so (you) should be armed so I took the ja (

) the ( ) and she took the broom and we were shouting at the Jews to leave the house

[…] so after they were, they left the house I felt victory but at that time we were very scared (4) my father did nothing just he was shouting at my mother and my ah sibl- my siblings because they left us alone at the house, I was telling this story to everyone so I felt again that I won ah this time.«

Huda verspürt ein Erfolgsgefühl, weil sie es schaffte, die Eindringlinge aus dem Haus zu jagen und somit ihren Willen durchzusetzen. Ich nehme an, dass Huda in der Kindheit die Einengung durch die Familie als schwerwiegender und belastender erlebt hat als jene durch die als feindlich wahrgenommene Umgebung. Auch versucht sie im Interview nicht, die von ihr damals als einschränkend wahrgenommene Familienkonstellation in der Präsentation durch die Erzählung von Übergriffen durch die jüdischen Bewohner/-innen des Viertels zu überdecken.

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Erste Schuljahre: Reproduktion der Abgetrenntheit 1992 wurde Hudas jüngster Bruder geboren, und zum Schuljahr 1993/1994 wurde Huda in eine christliche Mädchenschule in der Altstadt eingeschult, ein Jahr später auch ihre jüngere Schwester. In der Schule, die von ausländischen Kirchenvertreterinnen geleitet wird, kommen viele Schülerinnen aus eher armen sozialen Verhältnissen.14 Im Gegensatz zu elitäreren christlichen und internationalen Schulen wird nach dem Lehrplan der Palästinensischen Autonomiebehörde unterrichtet. Besonders wichtig sei dieser Institution, laut einer Quelle, ein gutes Verhältnis zwischen Christinnen und Musliminnen. Zwar wird in der Quelle betont, dass die Schule benachteiligten Kindern eine Basis für Bildung bieten solle, weil die Mehrheit der Eltern hierfür nicht bezahlen könne, doch Huda stellt heraus, dass ihre Eltern Schulgeld gezahlt hätten. Somit kann die Einschulung in die christliche Schule als Symbol gewertet werden. Denn trotz der in dieser Schule betonten Förderung benachteiligter Schülerinnen gelten christliche Schulen generell als ›besser‹. Das heißt, die Schule sprach nicht nur arme Schichten an, sondern auch Eltern, die nicht reich sind, aber auf Bildung Wert legen. Der von Huda im Arabischen verwendete Ausdruck »Privatschule« verspricht zugleich einen gewissen Status. Da die Schule aber das Curriculum der Palästinensischen Autonomiebehörde verwendet, birgt der Besuch dieser Schule nicht die Gefahr, dass ihn andere Palästinenser/-innen als ›unnational‹ wahrnehmen – wie es dem Besuch anderer Schulen, die nach ausländischen Lehrplänen unterrichten, zugeschrieben werden kann. Es ist nicht außergewöhnlich, dass eine muslimische Familie ihre Kinder auf eine christliche Schule schickt. Trotzdem lässt es Rückschlüsse auf die Aufgeschlossenheit der Eltern zu: Obwohl es islamischen Religionsunterricht gibt, ist der Islam weniger präsent als in anderen Schulen. Mich erinnert die Schulwahl an die Prinzipien von Hudas Großvater väterlicherseits, der zwar streng zu seinen Kindern war, aber ihnen erlaubte, das Haus ohne Kopftuch zu verlassen. Religiöses hatte auch in Hudas Leben keinen zentralen Stellenwert, so trug sie zum Beispiel kein Kopftuch. Es ist zu fragen, ob der Besuch einer christlichen Schule in ihr die Wahrnehmung verstärkte, im erweiterten Jüdischen Viertel vom muslimisch-palästinensischen Umfeld getrennt zu sein und ob sie den Bildungsauftrag als weitere auferlegte Einengung erlebte. Von wem die Initiative zu diesem Bildungsauftrag ausging, ist schwer zu sagen. Während Huda ihrem Vater – wie oben erwähnt – immer zugutehält, dass er sich im Gegensatz zu seinen Geschwistern um die Erziehung seiner Kinder gekümmert habe, scheint eher ihre Mutter die treibende Kraft gewesen zu sein (s.u.).

14 Aus Anonymisierungsgründen kann ich die von mir recherchierten Hintergründe und Quellen zu dieser Schule wie zu allen folgenden Ausbildungsinstitutionen nicht präzisieren.

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Huda berichtet wenig von schulischen Angelegenheiten. Sie habe die Schule nicht gemocht, sei von einer guten Schülerin zu einer schlechten geworden. Dank einer engagierten Arabischlehrerin habe sie neuen Auftrieb bekommen und schließlich sei es ihr gelungen, in der 7. Klasse, also 1999, die volle Punktzahl in Arabisch zu erreichen. Nach der 8. Klasse sei sie eine gute Schülerin geworden. Die Schulleistungen sind aber nicht Teil des Präsentationsinteresses, Schule wird lediglich als weitere einengende Institution relevant. Bis auf die eben erwähnte Periodisierung fließen die ersten zehn Schuljahre im Interview weitgehend ineinander. Huda konzentriert sich im Interview stattdessen weitgehend auf Beschreibungen der häuslichen Einengung im Haus der Familie im erweiterten Jüdischen Viertel. Sie berichtet, wie ihre Mutter ihren Tag eingeteilt habe: eine Stunde pro Tag zum Spielen, eine Stunde zum Fernsehen und den Rest der Zeit für Hausaufgaben. Es waren Kreativität und Imagination, die Huda immer wieder verwendete, um ›virtuell‹ aus dem Haus auszubrechen. So berichtet sie, wie sie mit ihrer Schwester Figuren aus Stiften gebastelt habe, diese »were for us people who come from the other world, from the space«. In einer anderen verdichteten Situation erzählt Huda, wie sie mit ihrem Vater Fernsehen schaute, insbesondere die Reden des jordanischen Königs Hussein. Sie habe den König gemocht und deswegen seine Reden nachgespielt. Wieder präsentiert sie den Vater, mit dem sie anscheinend gern Zeit verbracht hat, als friedliebend, sich selbst dagegen als Mädchen mit politisch noch sehr wenig ausgeprägtem Bewusstsein. Dadurch, dass Unterricht und Schulleben im Interview weitgehend außen vor bleiben, ist es schwierig, die Schulzeit Hudas genauer zu rekonstruieren. Wiederum hängen die Erzählungen chronologisch in der Luft und sind häufig ambivalent. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der Beziehung zu ihrer Schwester. Im ersten Interview kommt sie kaum, im zweiten Interview, in der sie eigentlich sehr viel über ihre Kernfamilie sprach, gar nicht und im dritten Interview sehr prominent vor. Man könnte davon ausgehen, dass ihre Schwester nur in bestimmten Erzählkontexten von Relevanz ist oder dass das Verhältnis der beiden zueinander zu den Zeitpunkten der Interviewtreffen differiert. Auf jeden Fall ist diese ambivalente Position der Schwester ein weiterer Hinweis auf problematische Beziehungen innerhalb der Kernfamilie, die nicht nur auf das Verhältnis von Huda zu ihrer Mutter beschränkt sind. Auch die Beziehung zu ihrem älteren Bruder ist sehr konfliktbehaftet und war es sicher schon während ihrer Kindheit (und auch die Figuration der Geschwister insgesamt), wie ich an anderer Stelle zeige. Im Folgenden aber konzentriere ich mich auf die Beziehung zu ihrer Schwester während der Schulzeit. Dafür parallelisiere ich zwei Zitate aus dem zweiten und dritten Interview und lege sie anschließend aus:

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»I was lucky having my sister in, it was (3)

»The road, the track from my school to to,

the most beautiful days of my childhood,

from house to the school was somehow

specially when we are going to the schools

painted, designed from Bāb Silsila to the

and come back, we used to play many

Bazaar, […] to the Holy Sepulcher and from

games in the way to the school and also on

there to the school (3) […] when I was walk-

the way back, it’s like ah (2) when we were

ing ah this road I was watching all the (4)

walking in the streets so we should not ah,

icons (3) and the pictures in the tourist shops

we should not walk on the lines the pave-

Mary, last supper and (as) I was just watch-

ments or we were making we were running

ing and it this this these pictures were very

like horses and sometimes we were (3)

inspiring to me, I was spending spending

making assumptions what the time is and

minutes just to watch these these pictures in

we were asking people what is the time and

my way to the school sometimes I asked

we see exactly what which one of us was

myself why I love, ah f- from where I got

close to the time she gave.«

this artistic sense, and maybe it’s from there because none of my parents and my family is really artistic.«

In beiden Zitaten geht es um eine positiv besetzte Erinnerung: Spielen und der Schulweg als Auswege aus der Einengung. Der Schulweg, der durch verschiedene palästinensische Nachbarschaften führte, bot als Alternative zu den Pflichten und der Langeweile zu Hause und in der Schule Gelegenheit zur kreativen Beschäftigung. Die Straße symbolisierte den räumlichen Gegensatz zur Einengung im Haus im erweiterten Jüdischen Viertel: palästinensische Öffentlichkeit, quirliges Leben auf der Straße, Möglichkeiten, öffentlich zu spielen. Ein Grund, warum Huda sich später mit Geschichte und Gegenwart der Altstadt beschäftigen wird, ist bereits in dieser Faszination für den öffentlichen Raum angelegt. Vielleicht hat die Lebendigkeit des öffentlichen Raumes ihr die Isolation im Familienhaus im erweiterten Jüdischen Viertel verdeutlicht? Doch die beiden gegenübergestellten Zitate stammen aus zwei verschiedenen Interviewtreffen; in der einen Passage formuliert Huda eine verdichtete Situation, in der ihre Schwester erlebniskonstituierend ist, und in der anderen Passage eine verdichtete Situation, in der das Erleben vollkommen auf sie selbst fixiert ist. Es ist bemerkenswert, dass sich ihr in den Interviews diese ähnlichen Alltagssituationen so unterschiedlich darbieten.15 Das liegt meiner Einsicht nach daran, dass Hudas Schwester auch für die Einengung im Familienhaus stehen konnte, da sie mit ihr sogar ein Zimmer teilen musste. Gleichzeitig hatte sie mit ihr ein äußerst enges Verhältnis, das als geradezu »pathologisch« bezeichnet worden sei, wie Huda sagt, 15 Auch im Zusammenhang mit der oben erwähnten Geschichte mit den Stiften erzählt Huda einmal, dass sie diese alleine verkleidet habe, in einer anderen Version war ihre Schwester dabei.

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»because we were stuck to each other and we did not really leave each other«. Aus der Erinnerung kann ihre Schwester somit – je nach Rahmung – als engste Bezugsperson erscheinen oder als Teil des einengenden Familiensystems im erweiterten Jüdischen Viertel. Huda charakterisiert diese »pathologische« Beziehung im dritten Interview genauer: »In the school we did not have many friends, we were just going to school and come back in time my mum also she somehow did not encourage us to have have friends maybe she was scared to that we are getting close to the people, we were somehow strange in her eyes (3) I was friend to my sister and my sister was friend to me, she was smart student she had high grades and they all the time were looking at me and they asked me to be like her (3) but we didn’t have friends, we were all the time we spent times with each other.«

Huda verknüpft ihre Schwester nicht nur mit den Freiheitserlebnissen, sondern auch mit ihrer Einengung, weil die Mutter oder die Lehrerinnen einen künstlichen Konkurrenzdruck zu ihr aufbauten und die Mutter sie vor anderen abgeschottet und somit die Isolation erhöht habe. Huda sucht im obigen Zitat nach Ausreden für ihre Isolation und endet wieder bei ihrer Mutter – in deren Augen die Geschwisterbeziehung »komisch« gewesen sei. So wird die enge, eigentlich gute Beziehung zur Schwester auch als Einengung interpretiert. Statt die ›Weggefährtin‹ aus dem einen Zitat von oben zu sein, wird sie eine Schwester, die dem Willen der Mutter oder der Schule entsprach, die Spiele mit Huda verweigerte und das Bildungsideal erfüllte, das Huda als rigide wahrnahm. Huda versucht aus ihrer heutigen Perspektive, sich durch ihre Stärken in einem anderen Bereich abzugrenzen, der ihr allerdings bei ihrer Mutter keine Pluspunkte einbringen konnte – im kreativen Bereich, den sie als ihr Alleinstellungsmerkmal begreift: »I beated her in all games I was very skillful more than her, I was the queen of the game.« Obwohl Huda es abstreitet, deutet die Aussage doch darauf hin, dass sie gegenüber ihrer Schwester Neid empfunden hat, da diese in ihren Augen von der Mutter bevorzugt wurde. Ich gehe davon aus, dass die Beziehung Hudas zu ihrer Schwester darunter litt und Hudas Gefühl der Isolierung verstärkt hat. Während all dieser von Huda nicht stärker differenzierten ersten zehn Schuljahre in der christlichen Schule (1993/94-2003/2004) stand ihre Familie unter hohem Druck: Die Familie des Vaters arbeitete darauf hin, dass das Haus verkauft wird bzw. versuchte selbst, einen Teil davon zu veräußern (was die Familie zu Millionären gemacht hätte). Das palästinensische Umfeld hätte sofort mitbekommen, wenn ein Teilverkauf vonstattengegangen wäre, und Hudas Familie wäre im Gesamten dafür verantwortlich gemacht worden. Die jüdischen Nachbarn übten psychische und körperliche Gewalt aus, um die Familie zum Auszug zu bewegen. Ihr Bruder wurde von mehreren Siedlern körperlich angegriffen, und Huda bekam im Alter von 14 Jahren von einem von ihnen einen starken Schlag auf die Brust. Außerdem

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bestand ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Behörden, die in diesen Fällen die Familie nur unzureichend unterstützten. An jüdischen Feiertagen benutzten die Nachbarn auch das Dach ihres Hauses für Feierlichkeiten, und die Familie wurde von der Polizei aufgefordert, in einem Raum zu bleiben – das für Huda sowieso als Symbol der Einengung erscheinende Haus wurde somit auf ein Zimmer verkleinert. Wenn die Familie in einem Raum übernachtete, funktionierte der familiale Überwachungsmechanismus noch besser. Diese Art der räumlichen Einengung übt bis zum heutigen Tag einen Schrecken auf Huda aus, wie ich weiter unten an einer Erzählung über das Jahr 2011 verdeutliche. Immer wieder erwähnt Huda zudem Versuche von Siedlern, Kontrolle über das Haus zu erlangen. Diese Geschichten sind ohne Datum, wahrscheinlich, weil sie häufig passierten: So wurde die Unterschrift des Vaters gefälscht; ein Fotograf kam vorbei, um Bilder vom Hausinneren zu machen und ihre Mutter zu fotografieren; ein anderer mit einem »Sack voll Geld« als »Vorauszahlung«. Ein Mann habe eine Überwachungskamera an ihrem Hauseingang anbringen und dafür Miete bezahlen wollen. Das sollte, so Huda, beweisen, dass die Familie bestechlich sei. Huda argumentiert, dass solche Vorfälle bei ihren Eltern jedes Mal eine »psychologische Krise« auslösten. Der Druck im Viertel ist einerseits ein Element, das die Familie entzweit, auf der anderen Seite scheint aber das Haus und das Beharren daran trotz allem ein gemeinsames Band in der Familie darzustellen. Wenn Huda über die Siedler/-innen argumentiert, wechselt sie (auch im arabischen Text) zum Personalpronomen »wir«: »We were thinking that (how) they want to take the house they (can) just kill all of us and bury bury us in front of the gate and they can take it, but we’re not goi- going to leave this house.« So nahm und nimmt die Familie das Haus als ihre Form des Widerstandes wahr. Hudas Eltern sehen sich wahrscheinlich mit ihrer Beharrlichkeit in der Tradition des sogenannten ṣumūd – wörtlich Standfestigkeit –, in dieser Fassung auch ›statischer ṣumūd‹ genannt, womit das Festhalten am Land und das Beibehalten eines normalen Lebens trotz widriger Umstände ausgedrückt wird (Farsoun/Landis 1990: 28); ein Konzept, das Huda an anderer Stelle implizit kritisiert. In der Periode zwischen ihrem sechsten und sechzehnten Lebensjahr scheint in ihrem Erleben Einengung durch die Familie im Familienhaus, in besonderer Weise durch die Mutter, wesentlich relevanter gewesen zu sein als die Schule einerseits, die lediglich als hinzukommende einengende Institution verstanden wurde (und über einen Bildungsauftrag mit den Eltern verknüpft war), aber andererseits auch als die Anfeindungen durch die jüdischen Bewohner/-innen des Viertels. Ihre Schwester nahm dabei eine in der Erinnerung wechselnde, ambivalente Position ein: entweder als zum familialen Einengungssystem gehörend oder als solidarisch mit ihr.

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Der Schulwechsel: Beginn der Erweiterungsversuche Ein entscheidendes Datum in Hudas Erleben war ihr Wechsel auf eine öffentliche Schule zur 11. Klasse im Schuljahr 2003/2004, als sie 16 Jahre alt war. Huda begab sich durch diesen Schulwechsel auf den Weg zu einer Positionierung in einer von ihr als ›normal‹ angesehenen muslimisch-palästinensischen Mehrheitskultur. Das ermöglichte ihr mittelfristig, eine gewisse Unabhängigkeit von der Familie zu erlangen, die aber gleichzeitig zu verstärkten Konflikten innerhalb dieser führte, wie ich im Folgenden aufzeige. Diesem Schulwechsel gingen zwei wichtige Ereignisse voraus, die zu dieser Entscheidung mehr oder weniger latent beigetragen haben: der Tod des Großvaters mütterlicherseits und die Zweite Intifada. Ungefähr zu Beginn der 2000er Jahre starb Hudas geliebter Großvater mütterlicherseits. Seinen Tod nennt sie – allerdings erst im Nachfrageteil – die schlimmste Erinnerung ihres Lebens und verbindet ihn mit einer verklärenden Geschichte: »He was very sick and ah as in the hospital but he did not die in the hospital, when he left the hospital he went once to a restaurant and the restaurant is exploded, so he did not die from the explosion but he died from the smell and smoke, they tell that he tried help ah a child to bring him out of the ah place and he passed away, he passed away in nineteenth of February, for me this month is ah the month of life and death, that’s what I call it.«

Huda betont mit diesem Bericht die Menschenfreundlichkeit ihres Großvaters, in diesem Fall als Lebensretter. Ihre Schilderung seines Todes verdeutlicht die Rolle, die er für Huda spielte, und was ihr durch seinen Tod verlorengegangen ist. Das Ereignis könnte auch metaphorisch verstanden werden: Huda wünscht sich auch oft, aus dem ›Ort‹, also ihrem Haus, ›gerettet‹ oder ›befreit‹ zu werden, vor allem, wenn es wieder ›Explosionen‹ innerhalb der Familie gibt. Sie erinnert sich an ihren Großvater als die einzige unterstützende Kraft innerhalb der Familie, die wegfiel. Es entstand eine Leerstelle, die Huda anders füllen musste. Die Zweite Intifada, die Ende September 2000 mit wochenlangen Auseinandersetzungen in der Altstadt begann (vgl. Kap. 5.4), thematisiert Huda recht wenig. So berichtet sie beispielsweise, wie sie beim Spielen mit Freundinnen im Jahr 2002 oder 2003 von Siedlerkindern angegriffen worden sei, ohne allerdings den politischen Kontext zu erwähnen. Als Folge dieses Ereignisses hat Huda vor allem in Erinnerung, dass sie danach zu Hause eingesperrt wurde. Die politisch aufgeladene Situation der Zweiten Intifada engte den ›Spiel‹raum der sich im Jugendalter befindlichen Huda wiederum ein. Vor allem, weil Huda betonte, sie habe wenige Freundinnen gehabt, hat diese Periode die Wahrnehmung ihrer Außenseiterposition noch verstärkt. Es war die Struktur, die sie seit ihren ersten Lebensjahren erlebte: Aggression der Siedler, Einengung durch die Eltern. Während der Zweiten Intifada reagierte Hudas Mutter anscheinend wie bei vorhergehenden gewaltsamen Ereignissen: »They used to ask us to come back home, there was nothing to do.« Doch an

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dieser Stelle deutet Huda schon an, dass eine Änderung anstand: »I had nothing after that to do until I was sixteen years old.« Obwohl wenig manifest thematisiert, waren die politischen Entwicklungen nicht spurlos an Huda vorübergegangen; sie begann verstärkt, sich für Politik zu interessieren. Die folgende Stelle zeigt diesen Übergang in der Adoleszenz von ihrer Rolle als Kind zu einer politisch interessierten Jugendlichen – was für ihre Eltern schwer zu akzeptieren war. Huda verweist auf den Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag im Jahre 2003 wegen des Baus der israelischen Sperranlagen: »At that time I didn’t know what’s Lāhāy [Den Haag] means I thought […] it’s a toy […] but suddenly we start to be interested in politics and I remember dass I wrote a ah poem about the situation I read it for my sister she liked but when I read it to my mum and dad they told me go it’s just stupid thing that you write, bilā siyāsa bilā tiyāsa it’s a you should not speak politics because it’s just bullshit.«

Obwohl Hudas Eltern durch ihre Persistenz im erweiterten Jüdischen Viertel ›Widerstand‹ (der erwähnte statische ṣumūd) leisteten, wandten sie sich gegen offene politische Betätigung und versuchten wohl, so unauffällig wie möglich zu leben. Hierin lag Hudas Vorwurf der unpolitischen Haltung gegenüber ihren Eltern begründet. Gerade in einer Situation wie der Zweiten Intifada musste die isolierte Lage der Familie verbunden mit der Ängstlichkeit der Eltern vor Politik für die in ihrem politischen Bewusstsein erwachende Huda ablehnungswürdig gewesen sein. Noch mehr wird ihr klar geworden sein, wie sehr sie ihre Eltern bis dahin eingeengt haben – ein Gedanke, der ihre Erinnerungen daran bis in die Gegenwart bestimmt. Sie war von den ›mobilisierten‹ Teilen der palästinensischen Bevölkerung getrennt und besuchte zudem eine christliche Schule, die von kirchlichen Vertreterinnen eines anderen Landes geleitet wurde. Sie sah sich dort zunehmend als am falschen Ort. Huda wechselte zu Beginn der 11. Klasse 2003 auf eine öffentliche Sekundarschule, in der sie sich auf Naturwissenschaften spezialisieren konnte und die außerhalb der Altstadtmauern lag. Sie selbst nannte dafür unter anderem die Gründe, dass sie in ihren Fähigkeiten verkannt worden sei und dass sie vom humanistischen Zweig der christlichen Schule auf eine Schule mit naturwissenschaftlichem Zweig wechseln wollte. Ich nehme an, dass diese Gründe nicht die entscheidenden waren und dass dahinter vielmehr die Flucht vor der Einengung stand. Meine Interpretation ist, dass Huda durch diesen Schulwechsel ihren Versuch der Eingliederung in die muslimisch-palästinensische Mehrheitskultur begonnen hat, der sich auch durch die nachfolgenden Schul- und Studienjahre zog. Damit stieß sie ihre politisch zurückhaltenden Eltern vor den Kopf. Eine von Ausländern betriebene christliche Privatschule sah sie für die Entwicklung eines palästinensischen Nationalbewusstseins

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als nicht so günstig an wie eine muslimisch geprägte öffentliche Schule: »[In the Christian school] we could not celebrate the Nakba we could not talk about this.« Dies sei zunehmend ein Problem für ihre »politische und nationale Identität« geworden. Durch den Schulwechsel kämpfte Huda gegen ihre Verbesonderung. Sie separierte sich zudem von ihrer Schwester, die auf der christlichen Schule blieb. Huda setzte ihren Willen durch und trat viel stärker als Gestalterin ihres eigenen Lebens auf. Das ist im Interviewtext auch daraus zu interpretieren, dass ihre Handlungen ab diesem Zeitpunkt viel leichter rekonstruiert werden können, während sie für die Zeit zuvor kaum Jahreszahlen angeführt hat. Dieser Schritt bedeutete auch eine geographische Entfernung vom Familienhaus. Im folgenden Zitat wird die symbolische Bedeutung dieses Begriffs des ›Ortes‹ deutlich: »[I] was not allowed to express my feelings at home but also it was not allowed to express my feelings at school (1) so=so anyhow it was difficult to discover yourself not being in the right place because I felt that it was not my environment and I wanted to be in an environment where I belong to, so I decided to go, a to move to other school, a lot of pressure made by my parents that you should stay in your school and your school wants you, and for me it was strange because my old school was in the Old City, but the school that I wanted to move to it was outside the walls and it was not easy for me and was not easy for the parents because it was the first time that I moved out of the walls.«

Hudas Kindheit wird von ihr mit räumlichen Metaphern zusammengefasst: Sie fühlte sich am falschen Ort und in der Polarität Zuhause-Schule gefangen, wo sie keinen ›Spiel‹raum hatte. Das mündet in der Aussage, sie habe zum ersten Mal die Stadtmauern verlassen, die metaphorisch zu verstehen ist bzw. ausdrückt, dass zum ersten Mal ein relevanter Teil ihres Alltags außerhalb der Altstadt stattfand. Auch an anderen Interviewstellen verwendet Huda die Mauer-Metapher: Für sie ist es eine Metapher des Schutzes, aber gleichzeitig auch der Einengung; mit dem Ausbrechen daraus fing für sie sozusagen ein neues Leben an. Ihr Schulwechsel bedeutete eine veränderte Herangehensweise an die palästinensische Gesellschaft – Emanzipation und Sich-Einfügen statt Separation. Huda verband hiermit vermutlich die Vorstellung, sie könne bis zu einem gewissen Grad ihr Leben alleine meistern und Handlungsautonomie gewinnen – paradoxerweise gerade dadurch, dass sie sich dem ›Mainstream‹, der muslimischen Mehrheitsgesellschaft zuwendete. In der neuen Schule habe sie anfangs keine Freundinnen gehabt, sagt Huda. Aus der christlichen Schule kommend wurde sie als jemand gesehen, die sich für etwas Besseres hielt. Es bestand also die Gefahr, dass ihre Sonderstellung bestehen blieb. Äußerlich macht sie das daran fest, dass alle außer ihr und zwei weiteren Schülerinnen den Hijab getragen hätten. Im Verlauf des ersten Schuljahres entschied sie sich, gegen den Willen ihrer Eltern auch das Kopftuch anzulegen. Diese hätten wahr-

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scheinlich bevorzugt, wenn Huda im erweiterten Jüdischen Viertel unauffällig geblieben wäre, aber Huda setzte sich durch, womit sie auch die Konfrontation mit ihnen steigerte. Sie hatte dafür keine religiösen Gründe. Einmal macht sie ihre neue Schulfreundin Leila für ihre Entscheidung mitverantwortlich. Bei einem anderen Gespräch führt sie die Entscheidung auf den klasseninternen Druck zurück. Das Anlegen des Kopftuches bedeutete in diesem Zusammenhang vor allem ein symbolisches Bekenntnis der Zugehörigkeit zur muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Mit Leila hatte sie außerdem eine Freundin außerhalb der Familie. Leila kam aus dem Stadtteil aṭ-Ṭūr, nicht weit von der Altstadt entfernt. Sie ersetzte als Bezugsperson den toten Großvater und ihre Schwester, die Huda immer fremder wurde. Dazu haben der Schulwechsel und das Kopftuch erheblich beigetragen. So meint Huda selbst: »When I went to the new school and I put on my veil, things start to be different and [my sister] felt that I felt that we are really different from each other.« Im folgenden Zitat wird Leila beinahe im Vergleich mit ihrer Schwester eingeführt. Mit ihr erlebte sie Spiele auf dem Schulweg wie mit ihrer Schwester. Huda bekam Einblick in aus ihrer Sicht besser funktionierende Familienstrukturen. Wichtig ist es Huda zu betonen, dass sie sich natürlich nicht um Leilas Intelligenz gekümmert habe, das war ja ihrer Schwester vorbehalten: »She was very good in her education, she was a smart girl, I did not really care for her smartness (3) I cared more ah for her support, she also was the reason why I put a vei- why I put a veil on my hair, her family they are a really good family (3) she was supportive in a way that when she saw me depressed, frustrated she was listening to me and sit, sit with me (5) we were coming home from school, walking in the city, passing through the Haram aš-Šarīf and buying some stuff, some sweets, we were playing.«

Leila wurde für Huda eine Vertrauensperson, die ihre Situation zu verstehen suchte. Ihre Freundschaft war Teil des Prozesses, der zu einer gewissen Abnabelung von der Familie führte. Die neue Schule außerhalb der ›Mauern‹, das Kopftuch, der Wechsel der Bezugsperson, das alles verschaffte ihr größeres Selbstvertrauen: »From that time I felt that I don’t really need my family and also I became less scared from facing things.« Huda konstruiert dies in ihrer Erzählung als Wendepunkt, obwohl es sicher ein länger andauernder Prozess der Selbstgewahrwerdung in der mittleren Adoleszenz war. Dieses Selbstbewusstsein zeigte sich während ihrer verbleibenden Schulzeit: In den Sommerferien 2004, vor dem Beginn des zwölften und letzten Schuljahres, besuchte Huda Ferienkurse im palästinensischen Burǧ al-Laqlaq-Jugendzentrum in der muslimisch geprägten Altstadt. Sie belegte Kurse in ›Make-Up‹ und ›Frisieren‹, aber auch einen in ›Leadership‹. Diese diversen Kurse sind Ausdruck für eine gewisse Zerrissenheit, die Huda wegen ihrer Zukunft verspürte. Hätte Huda nach ihrer Schulzeit eine Ausbildung zur Friseurin begonnen, wie sie es sich hatte vorstellen

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können, dann hätte sie den Bildungsstand ihrer Mutter gehalten. Sie hätte einen Beruf ergriffen, bei dem es nicht auf die intellektuellen Leistungen ankommt. Und so betont Huda mehrere Male während des Interviews, dass sie eigentlich nicht habe studieren wollen. Es ist auch die Frage, ob Hudas Eltern für sie eine Studienqualifikation wollten oder ob sie mit einem guten Sekundarschulabschluss (tawǧīhi) heiraten sollte – ob also der Bildungsauftrag auf die Erreichung einer bestimmten Qualifikation beschränkt war. Die Frage lag auf dem Tisch, in welche der beiden Richtungen Huda mit einem guten Schulabschluss gehen sollte. Im ›Leadership‹-Kurs erkannte sie sich als gute Rednerin, aber sagt, sie sei ins Stocken gekommen, als sie von einem anderen Mädchen gefragt worden sei, was sie in ihrem Leben für Palästina getan habe. Dies sei für sie ein »not easy feeling« gewesen. Sie habe schließlich geantwortet, dass »staying in Palestine (2) it’s doing something for Palestine«. Im Interview fügt Huda hinzu, sie habe inzwischen ihre Meinung darüber geändert und dass dies nicht genug sei. Das ist folgerichtig: Diese Einstellung des statischen ṣumūd, des Ausharrens, klang aus ihrem Mund für sie wie den Eltern nachgesprochen und somit als die ›einfache‹ Herangehensweise, die sie nicht übernehmen wollte. In einer Erzählung aus der Zeit ihres Sekundarschulabschlusses 2005 (s.u.) wird deutlich, dass sie die Passivität der Eltern – deren von Huda implizierte Haltung, dass es genüge, in Palästina zu bleiben – auch handlungspraktisch überwinden wollte. Polizisten hätten von ihrem Zimmer aus die Straße kontrolliert, als ein berühmter Gast ins erweiterte Jüdische Viertel kam: »I told [my father] that I need to take my things from my room and he said no, you are not allowed to go up, I said ok you know they are the guests not we, so they come to our house not we came to so it’s it’s my room and I want to get (

), after argument ah, the commander

just asked my father what’s going on, he said that she wants to take her things from her room so he said okay she can (3) climb up, take things and leave and Huda decided to stay in the room and she slept in her bed and she refused to give the, and the commander just said okay she can stay there, what I love I mean hate in my father that he’s scared and he doesn’t do things against the security people when they come and use, use our house.«

Huda macht indirekt durch diese Geschichte deutlich, dass die schwierige Situation der Familie auch auf die Passivität des Vaters zurückzuführen ist, der es nicht versteht, sich gegen ›den Feind‹ zu wehren. Die Passivität des Vaters wurde ihr zum negativen Gegenhorizont zu ihrem erwachten Nationalstolz. Im Frühjahr 2005 absolvierte Huda die tawǧīhi-Prüfungen. Nur ungefähr knapp über 50 Prozent der palästinensischen Oberstufenschüler/-innen schaffen durchschnittlich diesen Abschluss (Ma’an News Agency 2008; Anm. 30, S. 223). Huda absolvierte das tawǧīhi mit einem guten, aber nicht sehr guten Schnitt von 79/100 Punkten. In dieser Zeit schien Huda ihrer Mutter, die sonst eher als konfliktverursa-

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chende Person dargestellt wurde, nähergekommen zu sein: »It was the first time I felt that’s my mum, she really, a great mum and she really loved me.« Es war der Bildungsauftrag der Mutter, diesen Schulabschluss zu schaffen, das wird deutlich. Hudas Mutter organisierte ein maulid, als ihre Tochter den Abschluss geschafft hatte. Ein maulid ist eine Art religiöses Fest in der Anwesenheit von Sheikhs, die aus dem Koran rezitieren. Es wird meistens gefeiert, wenn ein alter Wunsch oder Plan in Erfüllung gegangen ist.16 Hudas älterer Bruder war im Jahr zuvor durch das tawǧīhi gefallen und wiederholte 2005 die Prüfungen. Auch er hat das tawǧīhi im zweiten Versuch bestanden. Es ist aber unklar, ob das maulid auch für ihn organisiert wurde. In diesem Zusammenhang führt Huda eine neue Variation der familialen Figuration ein, die im weiteren biographischen Verlauf zentral wird: Zwar war der Bruder im Interview auch im Hinblick auf frühere Perioden gelegentlich erwähnt worden, aber erst mit der Sekundarschulabschlusszeit bekommt er die Rolle zugeschrieben, seine Schwestern zu kontrollieren und sie gleichzeitig zu beneiden – an dieser Stelle erwähnt Huda es zum ersten Mal ausdrücklich. Obwohl er ein eigenes Zimmer im Haus hatte, habe er sich zum Lernen im Zimmer von Huda und ihrer Schwester eingenistet: »He was bothering all the time.« Huda präsentiert sich als selbstbewusst genug, sich davon nicht provozieren zu lassen: Sie ging tagsüber mit Leila in die Masǧid al-Aqṣā (al-Aqsa-Moschee) und lernte dort. Diese familiale Konstellation zieht sich als wichtiges Element ihres Erlebens durch die folgenden Jahre. Es ist anzunehmen, dass ein gewisser Neid des Bruders auf die ›intelligenten‹ Schwestern dabei eine Rolle spielte. Genauso könnte es seine Absicht gewesen sein, auf die selbständiger werdenden Schwestern zu achten, wie es Suad Joseph (1995) als Teil der komplexen Beziehung von Schwestern zu Brüdern in der Adoleszenz im arabischen Familienkontext analysiert hat. Seit ihrer Spätadoleszenz verschlechterte sich Hudas Verhältnis zu ihrem älteren Bruder deutlich. Erste Studienhälfte: Die Entdeckung der Relevanz Jerusalems Wenigstens viermal im Interview wiederholt Huda, dass es ihr eigentlicher Plan gewesen sei, ihre akademische Ausbildung nicht fortzusetzen, sondern die Ausbildung als Friseurin und Kosmetikerin zu absolvieren. Sie sagt, sie habe zum Teil nicht einmal die Motivation gehabt, die Sekundarschule abzuschließen. Hier spie16 »There is a wonderful Palestinian custom, still preserved in Jerusalem and the West Bank, that whenever there is some special goodness in our life – the birth of a child, his memorization of the first subdivision of the Quran, his graduation, an important promotion – it is at precisely that moment that is the Prophet’s birthday (mulid al Nebi), and the recitation in his honor vividly recalls his miraculous journey to Jerusalem.« (Schleifer 1987: 167) Das Fest blieb in Jerusalem nach 1967 einflussreich, obwohl ansonsten der ›Volksislam‹ (z.B. die Sufikultur) stark nachgelassen hat (Reiter 1997: 97).

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gelt sich ihre bereits erwähnte Ambiguität gegenüber dem Bildungsauftrag: »Sometimes I have the feeling that I hate the schools, sometimes I have feeling that I love it.« Eine Lesart ist, dass Huda den Bildungsauftrag der Mutter, das tawǧīhi zu bestehen, zeitweise nicht erfüllen wollte und dass es ihr so vorkam, als ob ein ›mehrheitsfähiger‹, moderner Beruf wie Friseurin für sie ausreichend sei. Aber warum entschied sich Huda doch für ein Studium? Huda selbst führt an dieser Stelle in der Haupterzählung und im Nachfrageteil eine Person ein, nämlich ihre Cousine mütterlicherseits, die ihr mit Ratschlägen in dieser Zeit zur Seite gestanden habe. Sie stellte sie somit in eine Reihe mit ihrem Großvater mütterlicherseits und ihrer Freundin Leila, die als externe Ratgeber bei wichtigen biographischen Entscheidungen eine einflussreichere Rolle gespielt zu haben scheinen als ihre Eltern. Die Cousine, die einen MBA-Studienabschluss hat, hat durch ihr Gespräch mit Huda deren Sichtweise verändert. Sie habe gesagt: »The perception is that they [Friseurinnen] are uneducated women and whatever they do their community will perceive them as uneducated […this] is a question that needs to be asked how I wanted to be perceived as a woman.« Diese Interpretation ihrer Cousine zeigte Huda, dass sie mit ihrer ursprünglichen Berufswahl den Wunsch, dass ihre Stimme in einer größer gefassten palästinensischen Mehrheitsgesellschaft gehört werde, gefährdet hätte. Huda entschied sich, Grundschulpädagogik zu studieren. Ihre Klassenkameradinnen und ihre Familie seien überrascht gewesen, dass sie kein naturwissenschaftliches Studium aufnahm – weil sie ja scheinbar deswegen die Schule gewechselt hatte – doch wie zu sehen sein wird, hatte die Entscheidung für Pädagogik für Huda hinsichtlich ihrer räumlichen Verortung innerhalb Jerusalems Vorteile. Als eigene Begründung für ein Studium nennt sie den positiven Einfluss jener Lehrerin im Jugendzentrum, die den ›Leadership‹-Kurs geleitet hat. Die Studienwahl war aber auch eine Entscheidung für die aktive Beschäftigung mit der eigenen Gesellschaft, die die vorherige Entwicklung konsequent weiterführte. Huda berichtet nicht über die Reaktion des Vaters auf ihre Entscheidung, lediglich die der Mutter scheint relevant zu sein. Vor vollendete Tatsachen gestellt akzeptierte sie trotz ihres Schocks Hudas Entscheidung. Laut Hudas Bericht war es auch ihre Mutter, die Teile ihres Goldes verkaufte, um die Studiengebühren (ca. 700 Jordanische Dinar pro Jahr, dies entsprach ca. 875€) für zwei Kinder zu bezahlen. Huda sagt, die finanzielle Situation der Familie sei während des Studiums »more difficult than before« gewesen. Das könnte wiederum an der Zweiten Intifada und der stagnierenden Wirtschaft gelegen haben, die das Geschäft ihres Vaters negativ beeinflusst haben. Es wird jedoch noch etwas anderes deutlich: Huda erwähnt kein einziges Mal, dass sie sich hätte vorstellen können, außerhalb Jerusalems zu studieren. Dies scheint nicht diskutiert worden zu sein. Auch bei der Studienwahl wird der Bruder, der, wie bereits eingeführt, verstärkt ins Zentrum ihres Erlebens rückte, als neidisch und eifersüchtig beschrieben. Huda argumentiert, er habe Angst gehabt, sie könne

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etwas Besseres als er studieren. Er habe Informatik zu studieren begonnen, aber sie habe nicht mit ihm konkurrieren wollen, weil sie gewusst habe, was sie wolle. Sie rekurriert auf die Ernsthaftigkeit in ihrer Studienwahl und drückt gleichzeitig selbstbewusst aus, dass sie mit ihm hätte konkurrieren können, wenn sie dies gewollt hätte, aber den Kampf mit ihm bewusst nicht eingegangen ist. Huda begann im Alter von 18 Jahren im Wintersemester 2005/2006 ein Bachelorstudium der Grundschulpädagogik. Ihre Beschreibungen der vierjährigen Studienzeit drehen sich – neben weiterhin häuslichen Problemen – vor allem um zwei Themen: ihre praktischen Arbeitserfahrungen sowie ihr (Selbst-)Studium der palästinensischen und vor allem Jerusalemer Geschichte und Kultur. Weit weniger erzählt sie über soziale Beziehungen oder über Studieninhalte, den Aufbau des Faches oder Spezialisierungen. Stattdessen – ein Anklang an ihre Schulzeit – beschreibt sie, was sie während der längeren Pausen getan habe. Das Studium an sich scheint nicht so relevant gewesen zu sein. In der Haupterzählung gliedert sie es grob nach Universitätsjahren, wobei aber auch Unstimmigkeiten auftauchen. In den ersten zwei Jahren ihres Studiums beschäftigte sie sich unter anderem mit dem palästinensischen Nationaldichter Mahmud Darwisch, der für seine politische Dichtung berühmt wurde und eine Integrationsfigur für viele Palästinenser/ -innen ist. Huda fühlte sich von Darwischs oft patriotischen Gedichten angesprochen, sie sagt, er habe sie und ihre Gefühle verstanden. Ja, Darwisch sei ihr »Heiliger Koran« gewesen. Darwisch nahm eine Rolle ähnlich der ihres verstorbenen Großvaters ein. »Sich-verstanden-wissen« war für Huda wichtig, denn das ist etwas, das sie in ihrer Kernfamilie nicht zu haben meinte. Sie kontrastiert die Männerfigur Darwisch, wenn nicht mit ihrem Vater und dessen Passivität, so doch mit ihrem Bruder, der ein weiteres Mal zur Abgrenzung benutzt wird: »I hated boys and because you know the example I have is my oldest brother (2) but at the same time you know I was thinking about Mahmud Darwisch he was for me an example.« Die durch den Vergleich mit dem Koran deutlich werdende religiöse Überhöhung von Darwischs Werk deutet darauf hin, wie stark Huda versuchte, sich als Teil einer palästinensischen Nation zu begreifen – ein Schritt Hudas zur Verortung in der palästinensischen Gesellschaft und eine weitere Anklage des fehlenden Nationalbewusstseins der Familie. Neben dieser Faszination für Nationaldichtung besuchte Huda im ersten Semester einen Kurs über palästinensische Geschichte. Diese Konzentration auf Literatur und Geschichte ist als weiterer Versuch zu werten, sich gerade in Richtung nationale Zugehörigkeit zu orientieren. Huda argumentiert, sie habe damals noch nicht weitergehen können und sei an einer aktiven Positionierung gescheitert. Zum Beispiel besuchte sie im ersten Jahr einen Kommunikationskurs: »I was a shy girl […] but anyhow you know maybe I needed to be a girl and behave as a girl in this course.« Es ist die Frage, ob es nur um ihre Rolle als Frau ging oder auch um ihre noch unsicheren Schritte in ihrer persönlichen Meinungsfindung. Bei Dichtung und

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Geschichte habe sie sich kompetenter gefühlt und sei von den Personen, die dieses Metier verkörperten, stark angezogen gewesen. Der Dozent, der palästinensische Geschichte unterrichtet habe, habe sehr viel über die Altstadt gesprochen, und in ihn habe sie sich »verknallt«. Gerade das Interesse des Lehrers an Jerusalem versprach Verständnis für ihre persönlich verzwickte Lage. Auf jeden Fall beeindruckten sie Männerfiguren, die mit ihrer aktiven patriotischen Einbindung im Gegensatz zu ihrer Familie standen. Die Schwärmerei für ihren Lehrer trug dazu bei, dass sie sich stärker mit Jerusalem beschäftigte. Dieses Engagement beeinflusst noch ihre Gegenwartsperspektive und auch die Rückblicke auf ihre Kindheit. Obwohl sie an manchen Stellen bereits über faszinierende Aspekte des öffentlichen Raumes in der Altstadt in Bezug auf ihre Kindheit gesprochen hat (zum Beispiel über ihren Schulweg), erwähnt sie an verschiedenen Stellen im Interview, dass sie als Kind und Jugendliche Jerusalem gehasst habe und nennt negative Diskurse über Armut und Rückständigkeit in den palästinensisch geprägten Gebieten der Altstadt als Grund. Das erweiterte Jüdische Viertel sei demgegenüber auch bei ihr vergleichsweise positiv konnotiert gewesen (vgl. Kap. 8.1): »I want tell you that at that time I hated Jerusalem, I was looking for the rubbish containers for chil- look at the children who dressed very badly and who has no shoes in their feets, watching children shouting using cursing each other and suddenly I start to compare what I see with the place where I live, which is in the Jewish Quarter which is clean and people somehow treat each other in a good manner (3) at that time I start also being very interested in the history of Jerusalem.«

Dann, so stellt es Huda dar, begann sie mit der Lektüre des bereits oben angesprochenen Buches Detaillierte Geschichte Jerusalems von Aref al-Aref (1961) (vgl. S. 172, Anm. 6). Das Buch habe sie bei ihrem Vater gefunden, der in seinen jungen Jahren manchmal darin geblättert habe. Huda begann, die historische Bedeutung Jerusalems wahrzunehmen, der Stadt, für die, wie sie sagt, sich so viele Menschen bekriegt und getötet hätten. Auch der israelisch-palästinensische Kampf um die Vorherrschaft über die Archäologie wurde ihr zum Zeichen ihrer Bedeutsamkeit: »I discovered that the stones of this Old City speaks.« Sie habe die Steine nun verstehen können. An dieser Stelle wandelte sich ihr Blick auf die Altstadt wie in einem Kippbild (vgl. Kap. 3.3). Sie hat sich ihrer materiellen Umgebung mit ihrer Geschichte in neuer Weise zugewendet und die Welt, in die sie eingeschlossen war, neu für sich entdeckt. Sie hat einen Weg gefunden, die Umwelt, die sie gehasst, gleichzeitig bewundert und als Freiraum begehrt hat, neu zu entdecken. Huda konnte nun beginnen, ihr räumliches Dasein zu rechtfertigen und symbolisch zu deuten, wie es bereits weiter oben als ihre symbolische Verortung eingeführt worden ist (vgl. Kap. 8.2.1). Zwar ändert sich ihre reelle Einengungssituation nicht wesentlich,

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aber in ihrem Bewusstsein nahm die Altstadt eine andere symbolische Bedeutung an. Damit schaffte sie die Verbindung von ihrem persönlichen Schicksal zu dem der Nation und der Stadt und entwickelte ein Selbstbewusstsein zur räumlichen Herkunft: Huda verortete sich in der Altstadt aufgrund von deren symbolischer Relevanz. Im ersten oder zweiten Semester nahm Huda an einer Feldforschung über die Lebensverhältnisse in einem sehr ärmlichen Innenhof in der Altstadt teil. Für sie, so erzählt Huda, seien die schlechten Bedingungen – 13 Familien wohnten dort unter unerträglichen hygienischen Verhältnissen – sehr erschreckend gewesen. Im Anschluss an dieses Projekt engagierte sie sich als Freiwillige in einem Community Center in Jerusalems Altstadt. Sie nennt dafür zwei Gründe: Einerseits habe sie den Kindern in solchen Innenhöfen helfen wollen, andererseits »sich selbst von ihrer Attitüde gegenüber der Stadt und diesen Kindern heilen«. Hier echot ihre vorherige Aussage, das Bleiben in Jerusalem sei nicht genug, um etwas für Palästina zu tun. Huda versuchte, den statischen ṣumūd ihrer Eltern zu überwinden. Durch ihre veränderte Wahrnehmung Jerusalems fand sie ein Mittel, ihre Isolation im erweiterten Jüdischen Viertel zu bearbeiten. Nachdem der Kontakt zu ihrer engen Schulfreundin Leila nachgelassen hatte, die verlobt worden war, berichtet Huda, habe sie keine engen Freundinnen mehr gehabt. Sie sei stattdessen zur »Freundin Jerusalems« geworden, was ihre neue Präferenz ausdrückt. Doch gleichzeitig erfuhr sie im Alltagsleben, dass sich ihre Isolation fortsetzte: Sie sei weiterhin von ihrer Mutter kontrolliert worden, habe lediglich für professionelle Tätigkeiten das Haus bis 16.00 Uhr verlassen dürfen. Sie betont ihre damalige Angst, durch die Isolation weiterhin wie als Kind räumlich und im Denken eingeengt zu werden. Während die oben genannte Aussage »Freundin Jerusalems« metaphorisch in ihren Erzählstrang passt, waren ihre Aussagen zu tatsächlichen sozialen Kontakten während ihrer ersten Studienhälfte sehr ambivalent. An einer Stelle spricht sie davon, dass sie viele, an einer anderen davon, dass sie zwei bis drei Freundinnen gehabt habe. Fest steht, dass im Gegensatz zu ihrem selbstbewusster werdenden Umgang mit ihrer Zugehörigkeit zu Jerusalem und Palästina das Thema soziale Beziehungen für sie selbst nicht einfach zu beantworten war. So tritt zum Beispiel in ihren Erzählungen zu ihrem Studium ihre Schwester, die auch ein Studium aufgenommen hat und von Huda als ihre beste Freundin bezeichnet wird, wieder verstärkt auf. Unter Umständen war die Konkurrenz zu ihr wieder abgeebbt, und ihre Schwester ersetzte nun Leila. Wie wichtig und wie konfliktbehaftet das Thema soziale Kontakte für sie ist, zeigt sich auch, als sie einen Preis für ihre guten Studienleistungen erhielt, der sie für die zweite Hälfte ihres Studiums von den Studiengebühren befreite: »It was something makes you happy but I didn’t feel that because I was thinking about being successful student it makes that the people around you will misuse, ah, this relation and they

306 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT will misuse, somehow this, your status as a good student so they’re going to refer to you and ah (2) all the time asking you for helps and I didn’t want to be in that in that situation, so I asked my mum, ah, not telling anyone, that’s how say I’m I will be honored that day for my achievement.«

Zweite Studienhälfte: Fortführung der Erweiterung Im Alter von knapp 20 Jahren begann für Huda mit dem fünften Semester 2007/2008 die zweite Studienhälfte. In diesem dritten Studienjahr absolvierte sie Praktika und kam in Kontakt mit ihrer jetzigen Schule. Durch die Praktika wurde es für ihre Familie schwieriger, Huda ständig zu kontrollieren; der Praktikumsverantwortliche der Universität wusste um ihre familiale Situation und schickte sie im Herbst und Winter 2007 bewusst in einen weiter entfernten Stadtteil Jerusalems. Parallel dazu half sie auf freiwilliger Basis in einer Mädchenschule in einer der muslimischen Nachbarschaften der Altstadt. Durch ihre professionellen Aktivitäten bekam Huda einen Freiraum, den sie zuvor nicht gehabt hatte. Huda sah die damit verknüpften Probleme mit der Familie voraus, aber der Praktikumsverantwortliche habe darauf bestanden, dass sie als Lehrerin stark sein und Grenzen überschreiten müsse. Daher suchte sich Huda – wie in früheren Situationen auch – externe Hilfe, in diesem Fall bei der Supervisorin an der Universität, die sie ermunterte, mit ihrer Familie zu sprechen. Innerhalb von Hudas Familie scheinen jedoch die Spannungen in diesem Jahr enorm zugenommen zu haben. Es ist unklar, ob das mit der zunehmenden ›Unkontrollierbarkeit‹ Hudas zu tun hatte. So erzählt Huda, die Eltern und ihr Bruder hätten sie »bedroht und erniedrigt«, wenn sie spät nach Hause gekommen sei. Insofern Hudas wachsende Unabhängigkeit der Familie und besonders der Mutter Angst machte, dann bedeutete das, dass Hudas Studienerfolge, die sie ja ihrer Mutter widmete, für diese eher eine Bedrohung denn eine Bestätigung waren. Obwohl die Familie das Studium unterstützte, wurde von Huda auch erwartet, dass sie weitgehend in der sicheren familialen Umgebung verbleibt. Ihre Selbständigkeit machte der Mutter Angst, was aus der Tochter einmal werden solle. Für Huda war es verletzend zu sehen, dass ihre Mutter ihren Bildungserfolg nicht würdigte. Es ist schwierig, nachzuvollziehen, wann innerhalb der Familie bzw. vor allem bei der Mutter der Umschwung von der Unterstützung der Ausbildung ihrer Tochter und ihrem Stolz darauf zu einer Ablehnung ihrer studienbezogenen Aktivitäten begann. Vielleicht war es eher die von Huda angeeignete kritische Denkweise, die auch das Familienleben und die Erziehung in Frage stellte, die innerhalb ihrer Familie zu Konflikten führte. Auf jeden Fall begann die Mutter, von Heirat zu sprechen, wahrscheinlich verbunden mit der Annahme, dass durch eine solche Drohung die Konformität der Tochter wieder hergestellt werden könnte: »Why you are studying, I wish tha- I wish the day that a bride [groom] come and take you out of this home.« Zur gleichen Zeit – Ende 2007, Anfang 2008 – hielt ein Mann um Hudas Hand an.

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Der potenzielle Bräutigam kam auch aus der Altstadt und hatte einen ähnlichen sozialen Hintergrund. Ihre Eltern hätten ihr abgeraten, weil er nicht schön und gebildet sei – doch Huda bestand nach eigenen Angaben darauf, ihn zu heiraten. Daraufhin habe ihr Vater die Entscheidung vertagt. Huda selbst suchte wieder die Supervisorin auf. So habe sie herausgefunden, dass sie sich selbst der Heirat nicht sicher sei und schließlich nach einigen Monaten ihre Entscheidung revidiert. Huda selbst nennt als Beweggrund für ihre überstürzte Forcierung der Heirat, dass sie dem Familienstress habe entfliehen wollen. Sie scheint damit eine wunde Stelle bei den Eltern getroffen zu haben, denn diese versuchten, ihr die Heirat liebevoll auszureden. Die Wahl des Bräutigams unterlief ihre Erziehung: Die Heirat hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass der Bildungsauftrag keine Funktion gehabt hätte, ja, Huda protestierte mit dieser Wahl latent dagegen, aber auch gegen die Anklage der Mutter, warum sie noch studiere. Anstatt zu heiraten, verstärkte Huda im Jahr 2008 ihre professionellen Aktivitäten, zum Beispiel ihre Zusammenarbeit mit der oben erwähnten Mädchenschule in der Altstadt. Im Sommer 2008 wurde sie gefragt, ob sie beim Schulfest einen Clown mimen wolle. Huda nähte ihre Clowns-Kleider selbst und schöpfte somit ihr kreatives Potenzial aus, das sie seit ihrer Kindheit als vernachlässigt begriff, und setzte es professionell ein. Das darauffolgende Wintersemester 2008/2009 schob sie auf und besuchte stattdessen einen mehrwöchigen Theaterworkshop in Ostjerusalem. Dabei wurde ihr ein Talent als Schauspielerin und Komikerin bescheinigt. Sie wurde ausgewählt, immer freitagmorgens in verschiedenen Mädchenschulen Ostjerusalems ein kleines, von ihr eingeübtes Programm über die Stadt Jerusalem vorzuführen. Darin präsentierte Huda auf humoristische Art und Weise typische Jerusalemer Charaktere aus verschiedenen Epochen und verschiedenen Nachbarschaften der Altstadt. Ihre symbolische Verortung vorantreibend, stilisierte sie sich als kreative Stimme Jerusalems, die den Kindern den palästinensischen Teil der Stadt nahebringt. Somit inkorporierte sie die sich selbst zugeschriebene Kreativität genauso wie das von ihr propagierte Engagement für Palästina und für Jerusalem. Sie übernahm eine Sprecherinnenfunktion für die palästinensische Wir-Gruppe in der Altstadt (vgl. Wundrak 2012). Im Interview stellt sie die Schauspielerei in einen Kontrast zu ihrer Kindheit und gibt an, sie habe ihre Jerusalemer Kindheit nachgeholt: »Acting was all the time my dream, when I was child als- all the time I was thinking about.« Symbolisch wurde sie doch noch Teil der palästinensischen Kinder, die auf der Straße spielen, und konnte ihre symbolische ›Jerusalemer Stimme‹ über die Grenzen des nächsten Umfeldes hinaus erheben. Ihren Eltern verschwieg Huda ihre Schauspielaktivitäten und schob ihre längeren Abwesenheiten auf einen dringenden Universitätskurs. In der vierten Woche der Vorführungen fand ihr Bruder über einen Bekannten heraus, dass sie in Schulen auftrat:

308 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »He said how it’s it’s not allowed because acting women are ḥarām (2) and so it was a big argument between him and his father, but after that he wanted to make me feeling bad so he asked all the whole family he told them about that and he asked the whole family to see the video of the program which he received, just to make a pressure on me, but what [I] got was, wow, it’s really nice, so he was pissed from this reactions and he wanted to forbid me.«

Während sich die Eltern – es ist wieder der Vater, der Huda in Schutz nahm – auf ihre Seite stellten, zeigte sich ihr Bruder als derjenige, der in seiner Reaktion die Mutter an Strenge übertraf. Er war derjenige, der nach Hudas Verbleiben fragte und somit die kontrollierende Instanz darstellte. Mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem öffentlichen Auftreten von Frauen vertrat er eine strenge Auslegung des Korans oder eine sehr sozialkonservative Interpretation des Alltagslebens. In diesem Fall schaffte es Huda, die Familie zu überzeugen, und der Bruder blieb als ›Verlierer‹ zurück. Sein Bedürfnis, die Schwester zu kontrollieren, hat durch die Zurechtweisung des Vaters aber nicht nachgelassen. Nachdem das Theaterprojekt beendet war, absolvierte Huda ihr viertes Studienjahr 2009/2010 und beendete im Sommer 2010 mit 22 Jahren ihr Studium. Danach half sie zunächst einem palästinensischen Mädchen in der Altstadt gegen geringe Bezahlung bei der Schularbeit. Hudas Unterricht stellte sich als großer Erfolg heraus: »Today when I see her she’s really successful in the school.« Ihr professionelles Engagement mit Kindern ist für Huda mit Erfolgserlebnissen verknüpft. Für sie bedeutete die Nachhilfe eine Reise zurück in ihre Kindheit: »I worked with her because she reminds me of myself when I was a child.« Dass die Nachhilfe unter Rückbindung an die eigene Familie dargestellt wird, zeigt, dass ihre eigene Einengung in der Kindheit durch die Arbeit mit Kindern biographisch bearbeitet wird. Nach Studienende: Erweiterung bei zunehmend brutalen Versuchen der familialen Einengung Nach Studienende fragte der Schulrektor Huda, ob sie nicht als Lehrerin in der Mädchenschule in der Altstadt angestellt werden wolle, in der sie auch das Praktikum absolviert hatte. Sie arbeitet auch zum Zeitpunkt des Interviews dort. Ihr Arbeitstag endet aber spätestens um 16.00 Uhr, dann muss sie nach Hause gehen. Huda beschreibt das Kollegium in der Grundschule weniger als Arbeitsumfeld denn als Auffangbecken, als Gegenpol zum Familienleben, als ›Spiel‹raum: »Part of what I'm doing here in the school is playing with the young kids.« Und das erinnere sie an sich selbst: »It’s linked me to myself.« Die Schule nimmt immer mehr die Funktion eines zweiten Lebensmittelpunktes für Huda ein; ihre Kolleginnen sind beratende Instanz und Freundinnen. Seit sie dort arbeite, habe sie einen engen Freundeskreis aufgebaut. Eine ältere Kollegin nennt sie ihre große Schwester, und den Rektor führt sie so ein wie zuvor ihren Großvater, Mahmud Darwisch oder den Geschichtslehrer: »He’s a man and he’s really caring and he’s strong per- he has a

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strong personality, for me he was a good model for a man that I did not have in my house.« Damit kritisiert sie ihren häufig von ihr als passiv wahrgenommenen Vater und ihren Bruder. Der Unterschied zwischen Schule und Haus erscheint riesig: Auf der einen Seite die palästinensische Umgebung in der Schule, die für Nation, Arbeit, Freunde, Kreativität und Zuneigung steht. Auf der anderen Seite das Haus im erweiterten Jüdischen Viertel, das feindliche Umgebung, Familie, Enge, Unterdrückung, Eifersucht, Tradition und Gewalt bedeutet. Wie ich in den folgenden Abschnitten zeige, wird Hudas Verständnis einer Dichotomie zwischen Familie und Arbeit von der Familie zunehmend als Bedrohung gesehen, da sie hierdurch unberechenbarer erscheint. Die Mutter hat Angst, dass eine Heirat aufgrund von Hudas persönlicher Unabhängigkeit in weite Ferne gerückt ist, der Bruder Sorge um die selbstbewusst im öffentlichen Raum auftretende Schwester. Durch die Schule, die hinter ihr steht, kann Huda aktiver und selbstbewusster mit dieser familialen Bedrohung umgehen – so scheint es. Doch aus der Einengung ist es kein Ausweg. Dies wird besonders während des zweiten Interviewtreffens deutlich, in dem Huda über die physische Gewalt innerhalb ihrer Familie berichtet. Ab dem Frühsommer 2011 und bis zum Frühjahr 2012 wurde das Familienhaus renoviert. Anhand der langen Interviewpassage über diesen Zeitraum lassen sich die Konfliktlinien und Rollenverteilungen innerhalb der Familie deutlich herausarbeiten. Für Huda war diese Periode im Erleben sehr belastend, da die gesamte Familie ein halbes Jahr lang in einem Zimmer habe übernachten müssen. Das heißt, dass sich die familiale Einengung wie bei den jüdischen Feiertagen ins Extreme steigerte und Huda keinen Rückzugsort hatte. Schon diese Konstellation erhöhte die Konfliktwahrscheinlichkeit erheblich, da die unterschiedlichen Lebensauffassungen in der räumlichen Enge heftiger aufeinandertrafen und Hudas Gefühl des Eingeschlossenseins erheblich verstärkt haben. Es folgt eine detaillierte Erzählung zur familialen Gewalt und ihrer Interdependenz mit der Wohnsituation. Die Erzählsituation ist schwierig für Huda: Sie bricht in Tränen aus, schafft es aber im Verlauf unseres Interviews, sich aus dem Nacherleben ›herauszusprechen‹. Die Erzählung setzt in dem Moment ein, als drei der Zimmer beinahe fertiggestellt worden waren, darunter auch das ihres Bruders. Doch wie bereits während der Zeit des tawǧīhi (Sekundarschulabschluss) wollte er nicht in sein Zimmer zurückkehren, sondern bei den Schwestern bleiben. In dieser Situation kam es zum gewalttätigen Übergriff des Bruders: »Ich habe das Frühstück für meinen [kleinen] Bruder gemacht und Käse auf den Toaster, dann kam [der große Bruder] ah von draußen, ich weiß nicht, was mit ihm passiert, und er nahm den Toaster und warf ihn mir an den Kopf, ich sagte ah zu ihm wieso machst Du das meine Mutter kam und sie hat mich einfach gescholten es waren Arbeiter es waren Arbeiter im Haus ohne mich zu fragen was der Grund war ich wurde immer gescholten als meine Mutter schrie, ha- habe ich nichts gesagt als meine Mutter wegging weiß ich nicht was ich gesagt habe mein Bruder ich habe etwas erzählt es ist eine schwere Situation für mich und er hat

310 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT mich geschlagen, und ich habe geschrien (5) also neben uns am Haus stehen häufig Polizisten (2) ich bin ins Viertel geflüchtet weil er mich sehr sehr, auf mein Auge und meinen Kopf geschlagen hat (2) und (2) Polizei plötzlich war alles Polizei (5) das ist das erste Mal erste Mal erste Mal, dass ich fühle dass dass mein Feind, mich vor meiner (2) Familie Bruder ist auch Familie beschützt hat, schweres Gefühl, mei- meine Situation war sehr schlimm, die Stellen Stellen, an denen er mich geschlagen hat waren sehr offensichtlich, meine Mutter hat gesagt (5) ((weinend)) sag nicht dass Dein Bruder Dich geschlagen hat sondern dass ich gestürzt bin oder so (10) natürlich habe ich gehorcht.«

Der Bruder erscheint als nicht rational handelnd und gewaltorientiert; er warf ihr grundlos den Toaster an den Kopf, die Mutter ist dagegen in ihrer ersten Reaktion nur auf den Ruf der Familie bedacht. Huda schaffte es daraufhin, durch Worte ihren Bruder noch einmal so aufzubringen, dass dieser in blanke Wut geriet. Er konnte nicht mehr sachlich argumentieren, sondern schlug zu. Gegen die physische Gewalt war sie wehrlos. Das Erscheinen der Polizei, die in dieser Erzählung beschützend auftrat, war etwas, was für Huda besonders schwierig war. Noch während der Erzählung schämt sie sich für ihre Wahrnehmung. Während Huda die Gewalt in ihrer Familie als alltäglich beschreibt, war es in dieser Situation sowohl die Schwere des Übergriffs als auch die Vermengung zweier sonst nebeneinander wirkender einengender Bereiche – jener der Familie und jener des Viertels –, die diese Situation besonders belastend gemacht haben. Dass die Polizei als Repräsentantin des politischen Feindes sie vor den Schlägen des Bruders geschützt habe, das sei für sie furchtbar gewesen. Sie fragt sich im Erzählfluss, warum die Polizei überhaupt gekommen sei, als sie aus dem Haus gerannt sei. Diese zwei Bereiche, Familie und Jüdisches Viertel, haben bei vorherigen Erlebnissen unabhängig, nebeneinander auf Huda gewirkt, zwar verknüpft, aber nicht gleichzeitig. Auf meine Nachfrage erzählt Huda, wie sich diese Situation weiterentwickelte: »Als die Polizei reingekommen ist hatte ich keine Ahnung was um mich herum passiert ich hatte sehr sehr sehr Angst und ich saß da und weinte ich hatte (so etwas wie) einen Nervenzusammenbruch, und ich habe der Polizei erzählt /nicht, mein Onkel, in der Zeit der ǧāhilīya [vorislamische heidnische Zeit] haben sie die Mädchen lebendig begraben/ und ich fragte mich worauf sie noch warten (12) (weinend) sie wollten den Bruder festnehmen aber meine Mutter machte ihre Sachen aber sie entfernten ihn für fünfzehn Tage aus dem Haus und er ging in das zweite Haus.«

Während Huda in dieser Situation statt mit ihren Familienmitgliedern mit der Polizei sprach und in einer Art Schock in einem historischen Vergleich verklausuliert ihre schlimme familiale Situation thematisierte, arbeitete ihre Mutter daran, die Festnahme des Bruders zu verhindern, was ihr auch weitgehend gelang, da er nur für zwei Wochen das Haus der Familie verlassen musste. Auch im Nachhinein

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wurde Huda für das Geschehen verantwortlich gemacht: Ihr Vater habe geschworen, dass sie mit dem ersten Mann verheiratet werde, der um ihre Hand anhalte. Um den Bruder hingegen, so beklagt sie sich, habe man sich gekümmert wie um einen Helden. Die Eltern hätten ihm Essen, Bettwäsche und Kleidung gebracht. Huda fühlte sich umso mehr als das Opfer. Für die Familie wäre die Verhaftung des Sohnes durch den Feind das Schlimme, für Huda jedoch, dass er nicht verhaftet und stattdessen geschützt wurde. Mit der Erwähnung der Rolle von Mädchen in der vorislamischen Zeit setzt Huda ihre Familie mit einer ›vorzivilisatorischen‹ Zeit in Verbindung. Das ist das erste Mal, dass sich die Familie so uneingeschränkt gegen sie stellte, sonst war es wenigstens der Vater, der als ausgleichendes Element wirkte. Der Grund hierfür mag vielleicht darin liegen, dass sie sich in ihrer Verzweiflung an den Feind – die israelische Polizei – gewandt hat und somit eine von der Familie wahrgenommene Grenze überschritten hat. In ihrer Wahrnehmung wird Huda nun nicht nur im Familienhaus im erweiterten Jüdischen Viertel isoliert, sondern auch in ihrer Kernfamilie. Huda steht nun im Interview wieder zurück und betrachtet die Entwicklungen innerhalb der Familie distanzierter. Das ist vielleicht auch durch die Aufarbeitung begünstigt, die sie mit einem Psychologen zusammen unternahm. Huda betont wieder die Bedeutung der externen Ratgeber: Sie brauche diese Art der »Führung« oder Hilfe. In langen argumentativen Passagen versucht sie, sich der Bedeutung dieser Erlebnisse bewusst zu werden und das Verhältnis zu ihrer Familie für sich zu klären. Sie habe auch Gedichte geschrieben und an Online-Magazine geschickt. Diese hätten sich oftmals um ein trauriges Mädchen gedreht, das von vielen Schicksalsschlägen getroffen worden sei. Sie habe in den Gedichten dazu aufgefordert, Ungerechtigkeiten und falsche Anschuldigungen offen zu benennen. Niemand habe geahnt, dass sie über sich selbst gesprochen habe, aber viele Leser/-innen hätten ihr ermutigende Nachrichten zukommen lassen, dass sie weiter Gedichte schreiben solle. Huda zieht aus dieser Krise wiederum die Berechtigung, eine Stimme im palästinensischen Umfeld zu erheben. An mich gewandt argumentiert sie, dass sie vielleicht auch ein Beispiel für die palästinensische Frau allgemein sein könne: »Maybe I try also say to tell the story of the Palestinian women what they are facing and the importance of strenghtening them.« Sie wolle ein Vorbild für andere Frauen werden, die den gleichen Hintergrund wie sie hätten. Hieran ist zu sehen, dass Huda hofft, dass die familiale Krise ihr professionelles Selbstbewusstsein und ihre Lokalisierung in der palästinensischen Gesellschaft verstärkt und dass sie somit ihre Biographie der Einengung erfolgreich weiter erweitern kann. Je stärker die Einengung durch ihre Familie wird, umso wichtiger wird das Außen als Gegengewicht und umso mehr hat Huda das Gefühl, eine Bereicherung im palästinensischen Umfeld zu sein. Im Wintersemester 2011/2012 begann Huda ein Masterstudium der Pädagogik. Es ist unklar, wie bzw. ob die Familie dieses Studium akzeptierte oder ob es von ih-

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rer Schule unterstützt wurde. Im Zuge des Studiums besuchte sie eine Konferenz zum Thema ›Schulische Leistungen und innerfamiliale Konflikte‹. Huda ist überzeugt, dass ihre Präsentation aufgrund ihrer mit diesem Thema verknüpften Erfahrungen die beste gewesen sei, obwohl auch Wissenschaftler/-innen mit 25-jähriger Forschungserfahrung vorgetragen hätten. Das bestärkt die Interpretation, dass Huda Professionalität aus ihrer biographischen Erfahrung speist und sie sich aufgrund persönlichen Erlebens als Expertin sieht. Doch auch dieser Erfolg ist für Huda mit der sich fortsetzenden Einengung in der Familie verknüpft. Am letzten Tag des Seminars sei sie zu spät nach Hause gekommen. In der Folgezeit seien zahlreiche potenzielle Bräutigame aufgetaucht, um sich ihr vorzustellen, auf Rat der Mutter auch an ihrem Arbeitsplatz in der Schule. Damit bedroht die Familie die Freiräume Hudas und versucht, Druck auf sie auszuüben. Hudas Eltern haben Angst, so nimmt Huda an, dass eine starke Frau nur schwer verheiratet werden könne. Doch für Huda kollidiert eine mögliche Heirat mit ihrem beruflichen und gesellschaftlichen Engagement; eine Heirat gefährdet ihre sorgfältig aufgebauten, sich erweiternden ›Spiel‹räume, befürchtet sie – wahrscheinlich auch aufgrund der ihr in der Familie bekannten Muster. Somit reproduziert Huda aber selbst ein Rollenverständnis, das ihr von der Familie beigebracht wurde und das die Fortführung des in ihrem Sinne beruflich und aktivistisch aufgeklärten Lebens bei gleichzeitigem Verlassen der noch einengenden Umgebung der Kernfamilie im erweiterten Jüdischen Viertel verhindert. Das ist deutlich an einem Zitat erkennbar (das ich teilweise bereits weiter oben eingeführt habe), in dem sie davon erzählt, wie sie als 16-jährige zum ersten Mal über ihr Engagement in der palästinensischen Altstadt-Community nachdachte: »Which make me ah feeling that really I’m doing something for Palestine (2) but you know it’s all the time my mum told me that you know you are you are a girl you are weak (2) there’s nothing you can do and that’s what’s ah scared her very to very much that I become a strong woman, then being strong woman it’s mean, that I have no chance to marry, but anyhow that’s what’s happening (2) that I’m not married.«

Es ist die Frage, ob sich für Huda dieser Gegensatz zwischen Heirat und Engagement in der Zukunft auflösen lässt und ob es Wege gibt, den Einengungen zu entkommen, ohne jegliche gewonnene Erweiterungen und Selbstbestimmungen im Leben vollständig aufgeben zu müssen. Die Fallrekonstruktion von Huda hat einen Verlauf aufgezeigt, in der die Biographin versucht, ihre als einengend wahrgenommene Verortung im Familienhaus zu erweitern. Diese Einengung wird durch innerfamiliale Figurationen und die damit verknüpften Prozesse der Verinselung innerhalb des erweiterten Jüdischen Viertels hergestellt – die Familie ist dazu verpflichtet, dieses Haus gegenüber feindlich eingestellten Nachbarn zu halten und ist somit ständig auf sich zurückgewor-

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fen. Da es kein Erleben von Nachbarschaft gibt, findet ein Rückzug auf die Familie statt, der sich auch in der innerfamilialen Kontrolle und den innerfamilialen Problemen ausdrückt. Huda hat durch verschiedene biographische Entscheidungen versucht, diese Einengung zu bearbeiten: Angefangen mit ihrem Schulwechsel über ihr Studium bis zu ihrer Arbeitsstelle hat sie begonnen, sich stärker in Richtung einer palästinensisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu bewegen. Dies ging einher mit einer symbolischen Verortung in Jerusalem, mit der sie ihre besondere Wohnsituation symbolisch aufladen und sich als Botschafterin Jerusalems individualisieren konnte. Während sie in ihrer Selbstpräsentation vor allem den Erfolg dieser Erweiterung darstellt, wird in der Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte die trotz der Erweiterung weiter greifbare Kontrolle durch die Familie sichtbar.

8.3

K URZE F ALLDARSTELLUNGEN

Bei meiner Feldforschung im erweiterten Jüdischen Viertel begegnete mir diese ›Verinselung‹ oder Isolation in Familienhäusern, die ich im Fall von Huda rekonstruiert habe, immer wieder. Zwar wussten die Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel voneinander, und sie wussten vor allem auch, wer von ihnen bereit ist, einem Wissenschaftler ein Interview zu geben. Doch die soziale Kontrolle war bedeutend weniger stark als in der kleinen Nachbarschaft. Wie bereits in der Einführung erwähnt, interviewte ich Menschen, die mir in der kleinen Nachbarschaft als Interviewpartner/-innen verwehrt worden wären (z.B. Subhi, der alkoholabhängig ist). Außerdem bestätigten die weiteren Interviews im erweiterten Jüdischen Viertel vorherige Interpretationen: Die Verortung in der Nachbarschaft wird ersetzt durch die grundlegende ›Verortung im eigenen Haus und der Familie‹. Amal, eine Interviewpartnerin (vgl. folgender Abschnitt 8.3.1), berichtete, dass es noch elf von Muslimen bewohnte Häuser im erweiterten Jüdischen Viertel gebe und daneben weitere, von Christen bewohnte Häuser. Der Austausch beschränke sich aber auf festliche Anlässe, sonst stehe man nicht miteinander in Kontakt. Die Verinselung des Daseins der Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel bringt zudem eine Änderung des gesellschaftlichen Lebens mit sich – und somit auch eine Änderung der Wir-Ich-Balance, hin zu einer forcierten stärkeren Individualisierung (vgl. dazu Elias 1987: 238-239, 270-271). Diese geht häufig mit einem Wunsch nach symbolischer Rückverbindung in einem anderen Kontext einher (z.B. im nationalen Umfeld oder der historisch und religiös aufgeladenen Altstadt). Daher ist die daraus folgende ›symbolische Verortung‹ die zweite vorherrschende Weise der Verortung. Zwar ist – wie ich weiter oben (Kap. 8.1) gezeigt habe – zum ehemaligen Ḥārat al-Maġāriba (Marokkanisches Viertel) ansatzweise ein kollekti-

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ves Gedächtnis vorhanden, doch zu den anderen ehemaligen Nachbarschaften nicht, weswegen die symbolische Verortung zusätzliche Relevanz erlangt. Abbildung 13: Eingang zu einem Haus im erweiterten Jüdischen Viertel, in dem Palästinenser/-innen wohnen; Aufschrift: »Tod den Arabern«

Abbildung: Johannes Becker

Die Feldforschung im erweiterten Jüdischen Viertel gestaltete sich auf andere Weise als in der kleinen Nachbarschaft schwierig: Meine Feldassistentin und ich gingen von Haus zu Haus, aber die meisten Bewohner/-innen weigerten sich, mit uns zu sprechen. Bei einigen hatte ich den Eindruck, dass unsere Frage nach einem Gespräch beinahe Angst auslöste. Als ich eine Interviewpartnerin, die im erweiterten Jüdischen Viertel bekannt ist als eine Person, die Interviews gibt, fragte, ob sie mir helfen könnte, weitere Interviewpartner/-innen zu finden, entgegnete sie, dass sie niemanden wüsste, da sich selbst bei ihr im Haus niemand für Gespräche zur Verfügung stellen würde. Früher habe es eine weitere Frau gegeben, doch diese sei nun krank – und sie könne auch niemanden fragen, da sie dann selbst skeptisch angeschaut werde. Alle hätten Angst, ihnen könne etwas passieren; was, das führte sie nicht weiter aus. Ähnlich war es, als wir in einige von den wenigen palästinensischen Läden im erweiterten Jüdischen Viertel gingen. Ein Besitzer begann auf unsere Frage nach Interviewpartnern sofort, über die Vergangenheit zu sprechen, brach aber kurz darauf ab und sagte, er wolle nicht weiter reden. Es gebe einen anderen, der das besser könne, an den er uns verweist und der uns dann tatsächlich ein Interview gab (vgl. zu diesem ›Interviewverweisprinzip‹ Kap. 10.7).

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Unsere Suche hatte damit begonnen, dass wir zu einer Bäckerei im erweiterten Jüdischen Viertel gingen, von der mir aufgrund eines Internetforums bekannt war, dass sie palästinensische Besitzer hat. Auf unsere Frage nach Forschungsinterviews schickte uns der Bäcker zu zwei Häusern am ›anderen Ende‹ des Viertels, da, wo es an die muslimischen Nachbarschaften grenzt. Mir waren die Häuser schon bekannt. Im Jahr zuvor waren sie mir aufgefallen, weil auf die Mauern auf Hebräisch »Tod den Arabern« gesprüht worden war. Ein Familienvater in einem der Innenhöfe dieser Häuser erklärte sich zu einem Interview bereit, das im folgenden Abschnitt 8.3.1 analysiert wird. Auch in diesem Innenhof war bekannt, wer mit uns sprechen würde. Als ich den Interviewpartner fragte, ob er weitere potenzielle Gesprächspartner/ -innen in seinem Innenhof wüsste, antwortete er mir, das bräuchten wir hier nicht versuchen, alle anderen hätten Angst und würden nicht reden, das hätten bereits andere Wissenschaftler versucht und seien gescheitert. Angst ist im Erleben der palästinensischen Bewohner/-innen des erweiterten Jüdischen Viertels eine zentrale Kategorie. Das konnte sowohl eine konkrete Angst vor Vertreibung sein, wenn es zu Versuchen durch Siedler/-innen kam, das Haus zu besetzen. Es konnte auch ein Grundgefühl angesichts erlebter Diskriminierung und Übergriffen im erweiterten Jüdischen Viertel sein. Schließlich konnte die Angst auch ein diffuses Gefühl sein, das mit anderen biographischen Problemen, wie zum Beispiel familialen Problemen, verknüpft war. Ich nehme an, dass nur solche Bewohner/-innen mit uns sprachen, die ihr rechtliches Dasein im erweiterten Jüdischen Viertel als relativ wenig gefährdet erlebten. 8.3.1

Abu Lutfi und Amal: »Millionen werden hier sterben«

Die Analyse des insgesamt dreistündigen Interviews mit Abu Lutfi, geboren 1965, und seiner Mutter Amal, Jahrgang 1945, lässt nur sehr bedingt Rückschlüsse auf das erlebte Leben zu, da die beiden nur selten eine Vergangenheitsperspektive einnahmen. Es lässt sich aber auf Basis des Interviews darstellen, wie der Druck, unter dem Palästinenser/-innen, die im erweiterten Jüdischen Viertel wohnen, stehen, im Laufe der Jahre zugenommen hat und dass dieser gegenwärtige Zustand mit einer früheren, vermeintlich besseren Zeit kontrastiert wird. Das Interview, das wir zuerst nur mit der Mutter und später auch mit dem Sohn führten, war durchdrungen von Argumentationen, die ihre Wahrnehmung der Isolation und ihre Verbitterung ausdrückten. Abu Lutfi und Amal bewohnen mit weiteren Familien einen sehr engen Innenhof. Neben Abu Lutfi, der mit seiner Frau und fünf Kindern in eineinhalb Zimmern wohnt, lebt ein weiterer Sohn Amals hier. Amal, die Witwe ist, wohnt im Souterrain des Innenhofs in einem einzigen Zimmer, das sehr modrig riecht und feuchtkalt ist. Zu ihr werden wir geführt und beginnen mit ihr ein Interview, bevor Abu

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Lutfi nach einer Weile dazustößt. Zuerst lehnt Amal eine Aufzeichnung ängstlich ab, und erst nach meiner mehrmaligen Versicherung, die Daten vor Abflug vom Gerät zu löschen, stimmt sie zu. Während ihrer Antworten schüttelt Amal immer wieder den Kopf und lässt die Hände fallen. Sie lässt sich kaum darauf ein, irgendetwas zu sagen. Es kommt mir so vor, als habe sie starke Angst vor dem Interview und davor, etwas über sich mitzuteilen. Auf die Erzählaufforderung hin stellt Amal die Rückfrage, ob wir etwas über die Zeit hören wollten, als sie noch bei ihren Eltern gewohnt habe, also vor ihrer Heirat im Alter von 15 Jahren? Doch nach zwei Sätzen bricht sie ihre Präsentation ab. Ob ich sonst noch etwas wissen wolle? Auf weitere Erzählaufforderungen nennt sie nur die Zahl ihrer Kinder und Enkel und deren Bildungsstand sowie, dass zwei ihrer Söhne bei ihr wohnten und der Rest »draußen« vor der Altstadt. Ähnlich kurz antwortet sie auf die Frage nach ihren ersten Erinnerungen und nach den Ereignissen im Jahr 1948. Ich frage, wie das Leben in der Nachbarschaft vor 1967 war. Sie scheint dies misszuverstehen und 1948 zu hören. Sie könne das nicht sagen, aber ihr Vater habe ihr viel vom harmonischen Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden erzählt. Erst als ihr Sohn Abu Lutfi dazukommt, entspannt sich die Situation. Abu Lutfi scheint einen Auftrag zu verspüren, uns zu helfen und konzentriert sich auf unsere Fragen, versucht, in seine Erinnerungen einzutauchen, bricht aber immer wieder ab. Amal lässt sich ein wenig davon mitziehen, aber beklagt sich vor allem über die gegenwärtige Situation. Die Eltern Amals sind wie viele Familien aus Hebron nach Jerusalem migriert, sie wohnten im heutigen Westteil der Stadt. Dort wurde Amal 1945 geboren. Die Familie flüchtete 1948 in die Altstadt (ca. zwei Kilometer entfernt) und zog in die Nachbarschaft al-Wād in der Nähe des Tempelberges. Ihre Beschreibungen von Kindheit und Jugend sind kurz und von nostalgischen Betrachtungen über ein harmonisches Nachbarschaftsleben geprägt (das es heute nicht mehr gebe). Amal wurde 1961 im Alter von 15 Jahren verheiratet und zog mit ihrem Mann in einen Innenhof im damaligen Ḥārat aš-Šaraf, in dem zahlreiche weitere Familien wohnten. Die Familie ihres Mannes wohnte in der gleichen Nachbarschaft, sie hatte ein Haus von der griechisch-orthodoxen Kirche gemietet, das an der Grenze zum Ḥārat Bāb as-Silsila lag. Amals Ehemann arbeitete als Busfahrer und war öfters im Ausland unterwegs. 1962, im Alter von 17 Jahren, gebar Amal ihre erste Tochter und 1965 Abu Lutfi. Teile der Familie sind wahrscheinlich während des Krieges von 1967 geflüchtet. Dabei ist Amals eigene Wahrnehmung von der frühen Besatzung eher positiv: 1967 hätte es Frieden zwischen den Bevölkerungen geben können. Am Anfang seien die Beziehungen gut gewesen. Ihr Mann habe nach 1967 bei einer israelischen Spedition gearbeitet, und man sei von arabischen Juden zum Essen eingeladen worden. Mit ihnen habe man Gemeinsamkeiten verspürt. Abu Lutfi sekundiert: Seine Kindheit sei schöner gewesen als heutzutage, weil die Besatzung am Anfang »schwach« gewesen sei. Man habe »draußen« spielen können und zusammengelebt – die räumliche Freiheit, die auch Hafez (vgl. Kap. 7.3) aus seiner Kindheit berich-

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tete. Sie seien arm, aber glücklich gewesen – es sei schön gewesen im Viertel. Diese Aussagen wiederholen beide mehrmals und machen dadurch einen scharfen Kontrast zum Heute auf. Abu Lutfi sagt: Damals hätten die Jungen aller Religionen im Viertel – Christen, Muslime und Juden – bis zum Sonnenaufgang zusammengesessen. Im Winter hätten sie Feuer auf den Dächern gemacht und gegrillt und im Sommer Eis zusammen gegessen. Egal, was davon einer nostalgischen Reinterpretation entstammt, für die Verortung bedeutet dies: Auch diese Familie nimmt die Gegenwart als bedrohlicher und einengender als die Vergangenheit wahr. Zwischen 1973 und 1975 zog die Familie aus ihrer Wohnung in das oben bereits erwähnte Haus des Schwiegervaters, in dem sie in der Gegenwart noch lebt. Zuvor hatten dort die Schwestern von Amals Ehemann gewohnt, diese waren aber in einen Stadtteil außerhalb der Altstadt gezogen. 1975 kaufte die Familie außerdem ein Stück Land in einem Jerusalemer Vorort. Dieser Prozess ist wahrscheinlich mit diesem Umzug verknüpft: Amal und ihr Mann mussten ihre Wohnung verlassen, da das Haus von den Israelis für den Neubau des erweiterten Jüdischen Viertels enteignet worden war. Der Familie wurde Kompensation angeboten. Abu Lutfi sagt, dass einige der Familien in jenem Haus umgehend der Räumung zugestimmt hätten, andere seien zunächst geblieben. Ihre Familie sei die letzte gewesen, die ausgezogen sei. Die Baumaschinen seien bereits gekommen, um das Haus zu zerstören, alle seien nervös geworden und letztlich seien sie umgezogen. Sie hätten aber kein Geld genommen, betont er. Obwohl Abu Lutfi, der damals höchstens zehn Jahre alt war, dies verneint, deutet der kurz darauf erfolgte Landkauf darauf hin, dass die angebotene Kompensation akzeptiert wurde. Wahrscheinlich würde er, wenn er das Annehmen der Kompensation zugäbe, von anderen Palästinensern dafür noch heute gerügt werden. Das gekaufte Land konnte aber nicht bebaut werden, da israelische Behörden Sicherheitsbedenken anmeldeten. Während bis hierhin Abu Lutfi und seine Mutter gemeinsam erzählt haben, übernimmt nun Abu Lutfi immer mehr die Antworten und berichtet auf meine Nachfragen von seinem Leben. Seine zunächst als glücklich beschriebene Schulzeit endete 1979 mit dem plötzlichen Abbruch der Mittelschule in der 7. Klasse. Auf meine Nachfrage verknüpft er den Schulabbruch mit politischen Ereignissen und mit seinem Engagement für die Bewahrung des Haram aš-Šarīf (Tempelberg). Er berichtet davon, dass jüdische Extremisten versucht hätten, einen Eingang zur Masǧid al-Aqṣā (al-Aqsa-Moschee) zu versperren und Gläubige mit Waffen bedrohten.17 Er sei an jenem Tag zwar zur Schule gegangen, habe diese aber beinahe

17 Das Ereignis ist nicht leicht zu rekonstruieren. Wahrscheinlich handelte es sich darum, dass am 25. März 1979 Gerüchte, der Rabbiner und nationalistische Politiker Meir Kahane versuche mit seinen Gefolgsleuten, auf dem Haram aš-Šarīf zu beten, dazu führten, dass 2.000 palästinensische Jugendliche zur Sicherung des Geländes herbeieilten. Diese

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leer vorgefunden, weil bereits alle zum Tempelberg geeilt seien. Als der Rektor darauf bestanden habe, dass der Unterricht weitergehe, habe er diesem vorgeworfen, ein israelischer Spion zu sein. Daraufhin sei er von der Schule geflogen. Er sei dann zur Verteidigung der Masǧid al-Aqṣā gestoßen und habe dort drei Tage und Nächte verbracht. Diese etwas konstruiert wirkende Begründung für seinen Bildungsabbruch führt ihn als Jugendlichen ein, der politisch engagiert und seine lokale Umgebung vor Feinden zu schützen bereit ist. Dieses Ereignis steht für ihn außerdem stellvertretend für die schlechter werdenden Beziehungen im erweiterten Jüdischen Viertel. Dabei ist die Frage, ob seine abgebrochene Schulkarriere auch damit verknüpft war, dass er der Zweitälteste von inzwischen neun Kindern war. Vielleicht war es den Eltern nicht möglich, so viele Schulkinder gleichzeitig zu versorgen, und sie drängten darauf, dass Abu Lutfi dazu beiträgt, die Familie finanziell zu unterstützen. Abu Lutfi absolvierte daraufhin eine Fensterbauerlehre in einer israelischen Fabrik. Sichtlich stolz ist er auf die späten 1980er und frühen 1990er Jahre, als er auf Baustellen in ganz Israel arbeitete, zum Teil in renommierten Projekten. 1993 machte er sich selbständig, fügte einen Anbau an das Haus im erweiterten Jüdischen Viertel hinzu und heiratete 1995. Angebote der Familie, in ein Haus außerhalb der Altstadt zu ziehen, habe er abgelehnt und stattdessen das Familienhaus renoviert und erweitert. Danach kamen seine insgesamt fünf Kinder zur Welt. Doch in den Folgejahren ging das eigene Unternehmen Bankrott. Das Handwerk sei darnieder gegangen, weil viele Billigprodukte aus dem Ausland importiert worden seien und weil die Checkpoints und die israelischen Sperranlagen Absatz- und Produktionsgebiete abgeschnitten hätten. Abu Lutfi begann, als Teil des Ostjerusalemer ›Serviceproletariats‹ als Verkäufer in einem israelischen Supermarkt zu arbeiten. Dieser Beschäftigung geht er noch in der Gegenwart nach. Seit diesem Zeitpunkt scheint ihm seine Biographie nicht mehr erzählenswert, zumindest folgen keine persönlichen Lebensstationen mehr. Stattdessen ist das restliche Interview von den Klagen und Anklagen Abu Lutfis und seiner Mutter bestimmt: Lange argumentieren sie abwechselnd über die unerträglichen Schwierigkeiten des Lebens in der Altstadt, die hohen Kosten für Steuern, Elektrizität usw. und über die Schwierigkeiten, in einer solchen Lage Kinder zu verheiraten. Im erweiterten Jüdischen Viertel würden die Araber von den Juden regelmäßig körperlich angegriffen, die Polizei wälze aber alle Probleme auf die Araber ab. Das sei die Besatzung: Den Palästinensern werde alles genommen. Abu Lutfis Begründung dafür, dass er äußerst beengt mit sieben Personen in eineinhalb Zimmern im erweiterten Jüdischen Viertel ausharrt, zeigt schließlich deutlich die von ihm erlebte symbolische Verortung, mit der er, ähnlich wie Huda Angabe ist auf einer privaten Webseite zu finden: http://www.ldolphin.org/chron.html, abgerufen am 26.05.2016.

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(vgl. Kap. 8.2), seine jahrelange Treue zur Altstadt erklärt: Er würde alles tun, um in der Altstadt zu leben. Es sei ehrenwert, für Jerusalem zu kämpfen und zu sterben. Jeder wisse, wie heilig dieses Land sei, jeder ziehe seine Schuhe aus, wenn er in die Stadt komme. Er sei unter der Besatzung geboren und werde unter der Besatzung sterben. Im Koran stehe, dass Jerusalem immer umkämpft sein werde; weil jeder im Heiligen Land leben wolle, seien aber alle neidisch auf die Palästinenser. Abu Lutfi erzählt vom Blut, das die Straßen Jerusalems durchfließen werde, wenn Millionen von Menschen dort sterben werden; das Blut würde dann wie beim Stampfen von Wein bis zu den Knöcheln stehen. Wenn man nur eintausend Menschen töte, dann stünde das Blut nicht so hoch, aber bei Millionen stünde das Blut bis zu einem halben Meter hoch. Auf meine Frage nach den schönsten und schwierigsten Erlebnissen in seinem Leben werden sowohl noch einmal die Desillusionierung und die Verbitterung der Familie deutlich als auch die Feindschaft gegenüber Israel. Das Schlimmste, sagt Abu Lutfi, und hier hebt er wieder die symbolische Verortung hervor, sei, wenn in der Zukunft etwas mit dem Haram aš-Šarīf passiere. Im Vergleich dazu sei es am schönsten gewesen, als Saddam Hussein im Zuge des Golfkrieges 1991 Raketen auf Israel geschossen habe. Da habe er gedacht, dass es nun aus mit ihnen sei – seine Mutter lacht im Hintergrund. 8.3.2

Subhi: »I can’t leave the Old City«

Subhis von seiner Familie übertragene Aufgabe ist es, das Souvenirgeschäft der Familie im erweiterten Jüdischen Viertel geöffnet zu halten und dadurch vor Inbesitznahme durch Siedler/-innen zu schützen. Das Haus grenzt zwar direkt an das ›Armenische Viertel‹, doch die formale räumliche Zugehörigkeit zum administrativ definierten erweiterten Jüdischen Viertel bedingt für Subhi einen wichtigen Unterschied: Gemeinhin wird das Gebäude als Teil des erweiterten Jüdischen Viertels wahrgenommen. Siedler/-innen sprechen Subhi immer wieder darauf an, ob er den Besitz nicht für einen Preis von mehreren Millionen Dollar über den Umweg über palästinensische Mittler verkaufen wolle. Um Versuchen, ihm das Eigentum streitig zu machen, zu entgehen, hat er den alten Kaufvertrag als Beweis stets eingeschweißt parat. Zwar wohnt Subhi nicht dort, aber in dem geräumigen Souvenirgeschäft, das er von seinem Vater übernommen hat, hält er sich an sechs Tagen in der Woche von morgens bis abends auf. Für ihn ist das Halten des Ladens sicherlich zunächst ein an ihn manifest gerichteter Familienauftrag, aber in gewisser Weise wohl auch die Fortführung der von ihm zuvor betriebenen, aber inzwischen aufgegebenen politischen Karriere. Subhi, der zum Zeitpunkt des Interviews 57 Jahre alt war, ist immer noch ein politischer Mensch und hat über seinen Familienbesitz schon mehrere Interviews gegeben, die auch im Internet angeschaut werden können. Dass er sich als eine Art Sprecher für die ganze Gruppierung der Palästinenser

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sieht (vgl. Wundrak 2012), wird besonders an zwei seiner immer wiederkehrenden Formulierungen deutlich. Häufig unterbricht er meine narrativen Fragen oder fragt von sich aus: »What you want to know?« Diese Formulierung, die darauf hindeutet, dass er mir zu dem Wissen verhelfen will, das ich wünsche, war typisch für solche Interviewpartner/-innen, die es gewohnt waren, Interviews über die politische Situation in der Altstadt zu geben (vgl. Kap. 10.7.2). Außerdem ruft Subhi immer wieder aus: »We know everything«, wenn er über die politischen Entwicklungen in Jerusalem und im Westjordanland spricht. Damit will er wohl zum Ausdruck bringen, dass er die Mechanismen der Besatzung begriffen habe und dieses Wissen an seine Landsleute weitergeben wolle. Doch gleichzeitig ist Subhi ein Beispiel für die geringe soziale Kontrolle im erweiterten Jüdischen Viertel: Als Alkoholabhängiger und aufbrausender Mensch ist er wohl einer derjenigen, die mir in der kleinen Nachbarschaft nicht als Interviewpartner vorgeschlagen worden wären. Zu Subhi wurden meine Feldassistentin und ich durch seine Nachbarn gelenkt, die wussten, dass er mit uns sprechen würde. Er bittet uns in sein Geschäft und beginnt, uns die Geschichte des Gebäudes zu erzählen – sofort stimmt er unserer Interviewanfrage und unserem Wunsch nach Audioaufnahme zu.18 Er habe nichts zu verbergen und keine Angst mehr, sagt er. Damit unterscheidet er sich insbesondere von Amal, der verängstigten Mutter Abu Lutfis. Subhi stellt sich uns mit seinem vollen Namen vor. Dass er sich als Experte für das erweiterte Jüdische Viertel und seine Geschichte sieht, ist daran zu erkennen, dass er der einzige Interviewpartner ist, der uns von sich aus die Geschichte des Viertels erklärt und die alten palästinensischen Nachbarschaftsbezeichnungen verwendet. Damit hebt er sein Wissen hervor. Um sicherzugehen, dass ich alles verstehe, spricht er sehr langsames Arabisch und, als er merkt, dass es mir schwerfällt, wechselt er ins Englische. Die Interaktion mit Subhi gestaltet sich dennoch als sehr schwierig. Zwar nehmen wir an zwei Interviewterminen drei Stunden Material auf, doch einerseits wird das Gespräch regelmäßig durch Kunden unterbrochen und andererseits ist Subhi sehr unterschiedlich bereit, auf meine Fragen zu antworten und mit uns zu interagieren. Zweimal ist er an vereinbarten Terminen nicht im Laden. Beim dritten Interviewtreffen blockt er meine Fragen vollständig ab, antwortet ausweichend und bruchstückhaft. Diese Unberechenbarkeit mag auch daran liegen, dass er (wie er selbst einführt) alkoholabhängig sei, was man auch an seiner schlechten körperlichen Konstitution erkennen kann und was vielleicht auch der Grund dafür ist, dass wir ihn mehrmals getroffen haben, als er mit Nachbarn oder Bekannten laut stritt. Subhis Selbstpräsentation dauert gerade einmal drei Minuten. In dieser kurzen Zeit betont er aber die gleichen Themen, die später seine Antworten bestimmen werden: seine Herkunft aus dem erweiterten Jüdischen Viertel, die Räumung des 18 Auf die Lage des Gebäudes und auf seine Geschichte kann aus Anonymisierungsgründen nicht näher eingegangen werden.

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Wohnhauses der Familie nach 1967, seine Zeit als Kämpfer für eine palästinensische Organisation in den 1970er und 1980er Jahren und seine daraus resultierenden langen Haftzeiten. Subhi gehört von seinem Alter und von seiner sozialen Herkunft zur Jordanischen Generation (vgl. Kap. 7.2.4). Allerdings wurde er im Gegensatz zu den Angehörigen dieser Generationseinheit früh nach 1967 politisch aktiv – vielleicht motiviert durch den frühen Verlust des Wohnhauses der Familie. Subhi wurde 1955 im Ḥārat aš-Šaraf geboren. Seine erweiterte Familie wohnte in den Städten Hebron und Amman, aber der größte Teil in Jerusalem. Sein Vater war aus wirtschaftlichen Gründen von Hebron nach Jerusalem migriert und kaufte 1933 zu günstigen Konditionen das Gebäude, in dem er ein Restaurant eröffnete, das dann in den 1970er Jahren wegen der besseren Geschäftschancen in ein Souvenirgeschäft umgewandelt wurde. Der Vater wurde während der britischen Mandatszeit mindestens einmal kurzzeitig von den Engländern inhaftiert, Subhi nennt aber keine Gründe hierfür. Er berichtet außerdem, dass viele palästinensische politische Führer das Restaurant frequentiert hätten, um seinen Vater zu besuchen. Bereits mit diesen Informationen stellt er eine symbolische Verbindung zwischen dem präsentierten Widerstand seines Vaters, seiner eigenen Lebensgeschichte und dem ihnen gemeinsamen Ort, dem Haus im erweiterten Jüdischen Viertel, her. Der Vater hatte mehrere Frauen und zwei Hausstände, die relativ nahe beieinander im Ḥārat aš-Šaraf lagen. Subhi ist das neunte Kind der Familie. Um das Jahr 1961 wurde er in der Altstadt eingeschult. Weitere Geschwister kamen danach zur Welt. Insgesamt hat er sechs Brüder und acht Schwestern. Er erzählt von seinen Kindheitserinnerungen an jenes »Ḥārat aš-Šaraf, what they call the Jewish Quarter«. Seine Freunde, die er noch heute treffe, lebten wegen der Vertreibung nach 1967 überall in Jerusalem verstreut. Doch die Kindheit stellt sich für Subhi vor allem als Periode der Angst dar. Er habe Angst vor den jordanischen Soldaten und Polizisten gehabt und sich nicht gut gefühlt. Er erinnere sich, dass alle Leute die jordanische Herrschaft wie eine Besatzung wahrgenommen hätten, obwohl es keine gewesen sei. So hätten auch Familienmitglieder wie sein Vater, sein großer Bruder oder sein Nachbar gesprochen: »I hear them, always no good no good.« Und so habe auch er sich nicht gut gefühlt: »I don’t know exactly what’s going on but I don’t feel good.« Es sei zwar nur ein »Kindergefühl« gewesen, aber er habe sich nach Beginn der israelischen Besatzung besser gefühlt. Dieses ›Gefühl‹ hat er mit der Jordanischen Generation gemein. Doch Subhi war – im Gegensatz zu anderen – direkt nach 1967 unmittelbar von der Besatzung betroffen. Er spricht sehr detailliert über seine Erlebnisse während und nach dem Krieg. Nach dem Ende der Kämpfe im Juni 1967 habe ihn seine Familie mit einer weißen Fahne zu Verwandten außerhalb der Altstadt geschickt, um zu sehen, wie es ihnen ergangen ist. Am Damaskustor habe er gesehen, wie viele Leichen in Autos verladen wurden. Daraufhin sei er zu seiner Familie zurückgerannt. Aus heutiger Perspektive erscheint es unverständlich, wa-

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rum der Junge, der gerade einmal zwölf Jahre alt war, auf diese gefährliche Erkundungstour geschickt wurde. Vielleicht wollte die Familie vermeiden, dass ältere Jugendliche oder Erwachsene verhaftet oder angegriffen würden. Vier Tage später habe die israelische Armee der Familie Räumungsbescheide für ihre Wohnung zugestellt. Damals hätten seine Eltern Angst vor den Israelis gehabt, er dagegen wisse heute, wie man sich gegen sie verteidigen müsse. Weil sein Vater Angst gehabt hätte, habe zunächst seine Mutter mit den Soldaten gesprochen. Die Familie sei dann im Restaurant untergekommen. Täglich hätten sie zwei Stunden gehabt, um die Sachen aus ihren Wohnungen zu holen. Subhis Erzählung ist sehr detailliert, doch historisch schwer zu belegen. Ich habe keine Angaben gefunden, dass bereits 1967 Häuser im Ḥārat aš-Šaraf geräumt wurden. Dadurch, dass er sich an jener Stelle auf seinen Erinnerungsfluss einzulassen scheint, die Erzählung sehr detailreich ist, gehe ich davon aus, dass es sich um eigenerlebte Bestandteile handelt.19 Wahrscheinlich war die Enteignung Teil der späteren Räumungen im Ḥārat aš-Šaraf, die ab 1968 begannen, die Subhi in der Erinnerung aber unmittelbar mit dem Krieg von 1967 verknüpft. Darauf deutet hin, dass er sagt, dass seine Familie Geld von den Israelis bekommen habe – wahrscheinlich die Kompensation, wie sie an diejenigen gezahlt wurde, die das Ḥārat aš-Šaraf verließen. Zunächst habe sein Vater eine Wohnung gemietet. Durch das israelische Geld hätten sie nach drei bis vier Jahren (Anfang der 1970er Jahre) das gemietete Haus kaufen, abreißen und neu bauen können: »They threw money to us until, m:, yes and we buy our home in Abū Ṭūr.« In einer Beschreibung von Fremderlebtem erwähnt Subhi, dass die Israelis ›alles‹ angeboten hätten: »Take food take money take clothing take woman, since this time we haven’t womans I I don’t talk about myself no I was still child.« Es bleibt unklar, worauf er rekurriert, doch in der Familie scheint die israelische Besatzung zunächst zum finanziellen Gewinn genutzt worden zu sein: »We have a lot of money since this time.« Sein Vater habe ihm, Subhi, vor dem Beginn seines Studiums im Ausland (s.u.) so viel Geld gegeben, dass er dort ein Jahr lang ein luxuriöses Leben habe leben können. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde er während seiner Gymnasialzeit in einer christlichen Altstadtschule politisiert und Mitglied in einer palästinensischen Partei. Er habe schon in der 11. Klasse beschlossen, wie ein Nachbar seiner Eltern ein Kämpfer zu werden. Vielleicht hatte die Politisierung auch mit einer gewissen Scham über die finanziellen Vorteile zu tun, die die Besatzung der Familie eingebracht hatte. Nach seinem Abitur ging er 1974 zum Geschichtsstudium ins arabische Ausland. Die Organisation, der er sich dort anschloss, schickte ihn zum para19 Unter anderem wegen der Erwähnung der Kompensation ist es unwahrscheinlich, dass es sich um Erlebnisse im Zusammenhang mit der oben erwähnten Umsiedelung von Flüchtlingen aus dem früheren Jüdischen Viertel (Ḥārat al-Yahūd) durch die Jordanier im Jahr 1966 handelte (vgl. Kap. 8.1).

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militärischen Training in ein Lager. Auf ihre Anweisung kehrte er ca. 1976 nach Jerusalem zurück und beteiligte sich an geheimen Widerstandsaktionen im Westjordanland. Diese Zeit scheint noch in der Gegenwart eine Quelle seines Selbstbewusstseins zu sein und neben seiner Altstadtzugehörigkeit seine Selbstdefinition stark zu beeinflussen. 1978 wurde er im Hause seiner Eltern von israelischen Soldaten gefangengenommen, bei den Verhören gefoltert und für vier Jahre inhaftiert. Seine Mutter, die bei der Verhaftung neben ihm gesessen habe, habe zu den Soldaten gesagt: »Ok take him, so what.« Und zu ihm: »Go.« Subhi sagt, dass die Haltung der Mutter symptomatisch für die palästinensische Gesellschaft sei, womit er wahrscheinlich deren Leidensfähigkeit oder sogar Abstumpfung meint. Mit den Interpretationen von weiter oben wäre aber auch zu fragen, ob seine Familie seinen Widerstandshandlungen vielleicht eher skeptisch gegenüberstand. Subhi scheint bis heute stolz auf seine Verhaftung zu sein. Er malt auf, wie viele Soldaten gekommen seien, um ihn zu inhaftieren, und dass diese sich nicht getraut hätten, ihn bei der Verhaftung zu schlagen. Nach seiner Freilassung kehrte er 1982 an seine Universität im Ausland zurück und legte die Abschlussprüfungen ab. Kurz nach seiner abermaligen Rückkehr nach Jerusalem verübte er auf Anweisung seiner Partei ein (nicht tödliches) Attentat auf einen israelischen Richter. Dafür wurde er zu neun Jahren Haft verurteilt. Während seines Gefängnisaufenthaltes übernahm sein älterer Bruder das frühere Restaurant vom Vater, es war inzwischen in ein Souvenirgeschäft umgewandelt worden. Nach seiner Freilassung 1989 heiratete Subhi die Schwester eines Parteifreundes, mit der er mindestens fünf Kinder bekam, und arbeitete als Manager für eine israelische Sicherheitsfirma. Durch sein gutes Einkommen konnte er sich ein Haus in Abū Ṭūr bauen. Somit hat er die Struktur seiner Eltern reproduziert und begonnen, von der Besatzung zu profitieren, dafür hat er wohl die Ideale seiner politischen Zeit missachtet. Gegen Mitte der 1990er Jahre wurde eine Prostituierte aus dem Westjordanland von ihm schwanger,20 und er ging mit ihr eine Art ziviler Ehe parallel zu seiner ersten Frau ein.21 Damit hat er auch die familiale Situation seines Vaters reproduziert: Mit zwei Frauen hat er insgesamt sechs Kinder. Nach diesem Vorfall wurde er von der Familie aufgefordert und damit beauftragt, das Souvenir20 Subhi formuliert dies als eine Art Wohltätigkeit: Die Frau wäre ohne seine Hilfe entweder »shit« oder »Shin Bet« geworden, sagt er. Shin Bet ist der israelische Inlandsgeheimdienst. Robinson (1997: 117-118) berichtet zum Beispiel über die Rekrutierung von Kollaborateurinnen. In Ostjerusalem seien diese vergewaltigt und ihnen daraufhin angedroht worden, dass dies an die Familie herangetragen werde, wenn sie nicht kollaborierten. 21 Als ‘urfī-Heirat wird in vielen Ländern des Nahens Ostens und Nordafrikas eigentlich eine Heirat bezeichnet, die nur durch religiöse Vertreter und ›am Staat vorbei‹ geschlossen wird (Hasso 2011: 70-71). Subhi bezeichnet in diesem Zusammenhang auch seine durch einen Anwalt vertraglich geschlossene Zweitheirat als ‘urfī.

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geschäft von seinem älteren Bruder zu übernehmen. Vielleicht wollte die Familie dafür sorgen, dass Subhi durch diese Aufgabe zu einem regelmäßigeren Lebenswandel gelangt und Stabilität in sein Leben kommt. Die von der Familie forcierte Verortung im Souvenirladen ist für ihn mit einer stärkeren Fokussierung auf die Herkunftsfamilie und deren räumliche Umgebung verbunden. Subhi konnotiert die Übernahme des Ladens ambivalent. Einerseits interpretiert er es als Auftrag, das Erbe seiner Familie zu sichern. Gleichzeitig bedeutet der Zeitpunkt der Übernahme für ihn vor allem das Ende seiner ›eigenen‹ Geschichte und ist somit strukturell ähnlich zu dem Fall Karim und dessen Rückkehr nach Jerusalem (vgl. Kap. 7.4.1). Als er im Zuge von unseren Nachfragen bei der Zeit seiner Übernahme des Ladens angekommen ist, konstatiert er, dass er eben jetzt hier sei, dies andauere und dass das alles sei, was er erinnere. Dies war am Ende des dritten Treffens und Subhi rief aus: »And this is my story, the end.« Ich fragte ihn, ob ich zu einem weiteren Interviewtreffen kommen könne, worauf er erstaunt fragt: »Why, I told you everything.« Mit seiner Verortung im erweiterten Jüdischen Viertel der Altstadt ist für Subhi seine individuelle Lebensgeschichte stagniert. Seither erfährt er die Gegenwart als gleichförmig und vom Dasein im Souvenirladen determiniert. Die Altstadt ist in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen zentral, sie bildet gleichzeitig das Gegenstück zu seiner Zeit als Kämpfer in den 1970er und 1980er Jahren. Nun ist er wieder dort zurück und in der Altstadt, mit der seine Familiengeschichte verknüpft ist, gefangen. Er gibt der Altstadt seine Lebenszeit, sagt Subhi im folgenden Zitat. Das ist für ihn zwar nicht nur negativ, aber gleichzeitig ausweglos: »All my life is in the Old City and I can’t leave the Old City, I CAN’T I try but I can’t, but daily I give here more than 12 hours, (3) yes (2) yaʿnī Abū Ṭūr as my hotel, yes, but here my life my neighbors, my family my friends my, everything.«

Mönche in der Jerusalemer Altstadt

9.1

E INFÜHRUNG

Der Forschungsraum Mönche in der Altstadt In der Grabeskirche stehen am Eingang zur Gruft Jesu ein älterer und ein jüngerer griechisch-orthodoxer Mönch. Die Aufgabe des jüngeren besteht darin, abzuschätzen, wie viele der anstehenden Besucher/-innen in die Gruft hineingelassen werden können. Ich sitze gegenüber des Eingangs zur Gruft auf einer Kirchenbank (in meinem Rücken die große griechisch-orthodoxe Kapelle, eine von mehreren Kapellen in der Grabeskirche) und beobachte den Anfang der sicherlich 50 Meter langen Wartereihe, die sich seitlich an der Gruft entlangschlängelt. Der ältere Mönch geht in die Gruft und kommt nur hin und wieder zu dem jüngeren heraus und redet kurz auf ihn ein. Er scheint eine Art Kontrollfunktion innezuhaben. Ein Reiseführer wendet sich an den älteren Mönch, er wolle noch die drei letzten Mitglieder seiner Reisegruppe in die Gruft mitnehmen, obwohl der jüngere Mönch den Fluss der Touristen gerade stoppen wollte. Der ältere Mönch stimmt zu, daraufhin öffnet der jüngere das Absperrgitter. Doch statt der drei gehen vier weitere Touristen in die Gruft. Daraufhin entrüstet sich ein Mann, der weiter hinten in der Schlange ansteht, verlangt, auch eingelassen zu werden, wird aber vom jüngeren Mönch am Arm festgehalten. Nach einigen Momenten beruhigt sich der Mann und entschuldigt sich, nachdem der ältere Mönch damit gedroht hat, die israelische Polizei zu rufen, die vor der Grabeskirche postiert ist. Die beiden orthodoxen Mönche sprechen hin und wieder kurz mit Touristenführern oder mit griechischen Touristinnen und Touristen, die in der Reihe stehen; Fotos weichen sie nicht aus. Generell wird der ›Betrieb‹ vor allem durch ihre Befehle »stop« und »go« geregelt. Bereits zuvor hat in der kleinen römisch-katholischen Kapelle, die aus meiner Sicht rechts des Grabes liegt, ein Gottesdienst der Franziskanermönche stattgefunden. Zwei von ihnen stehen links neben mir und schauen zum Grab. Sie haben Ohrstöpsel in den Ohren. Vielleicht wollen sie nicht angesprochen werden oder nichts von der horrenden Geräuschkulisse mitbekommen, die in der Kirche herrscht und

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einem Bahnhof ähnelt. Sie warten wahrscheinlich auf die nach dem Gottesdienst gestartete Prozession ihrer Mitbrüder, die zurück in die Kirche kommen wird, sie ist inzwischen schon vom Kirchenvorhof zu hören. Die beiden griechischorthodoxen Mönche am Grab nehmen von der anstehenden Prozession scheinbar keine Notiz und auch nicht von den anderen Mönchen, die sich im Kirchenraum aufhalten. Sie scheinen ›im Dienst‹ zu sein, ganz damit beschäftigt, den Betrieb zu managen. Dann kommt ein weiterer griechisch-orthodoxer Mönch und gibt den beiden im Vorbeigehen ein Handzeichen, woraufhin sie die Zahl der eingelassenen Besucher/ -innen verringern und kurz darauf ganz stoppen. Ein weiterer Franziskanermönch eilt heran und stellt sich rechts von mir am Eingang der gegenüber dem Grab liegenden griechisch-orthodoxen Kapelle auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Nach einigen Minuten dreht er sich um, greift an der Kapellenseite in eine Art Schrank, nimmt ein Absperrband heraus und schließt die Kapelle damit ab. Zur gleichen Zeit schicken die griechisch-orthodoxen Mönche die letzten Besucher/-innen aus der Gruft. Wortlos verschwinden sie an eine Seite der Gruft und warten dort. Griechischen Gästen, die zu ihnen kommen und fragen, erklären sie etwas, von dem ich nur den Ausdruck »die Katholiken« verstehe. Derweil muss der zuletzt hinzugekommene Franziskanermönch den Weg freiräumen und schickt, sich jeweils um 180 Grad um die eigene Achse drehend, die im Weg stehenden Besucher/-innen weg. Er macht dies ohne Worte, nur mit den Bewegungen seiner Arme, die er weit ausladend nach außen wirft. Das ist beinahe eine Sisyphos-Aufgabe, weil vor allem die Touristinnen und Touristen mit ihren Kameras sofort wieder in den Weg laufen, aber er erfüllt sie resolut. Die Prozession der Franziskanermönche kommt näher, sie sind am Kircheneingang. Da löst sich aus der Prozessionsgruppe ein weiterer Franziskanermönch. Kaugummi kauend und mit herabgezogenen Mundwinkeln steht er zwischen den herankommenden Mönchen und dem Grab und vertreibt die Besucher/-innen anscheinend nur durch seine Blicke. Eine junge Besucherin mustert er so lange von oben bis unten, bis sie von selbst geht. Überall blitzen die Fotoapparate, als die Prozession vorüberzieht. Die Grabeskirche ist der wichtigste christliche Kulminationspunkt in Jerusalem, sie soll sowohl die Stelle der Kreuzigung Jesu als auch die seiner Grablegung umfassen. Der Bau wird von sechs Denominationen verwaltet. Er ist ein zentraler Anlaufpunkt für christliche Jerusalemer Einwohner/-innen, für Pilger/-innen und andere Reisende. In der eben geschilderten Beobachtung habe ich einen Fokus darauf gelegt, das alltägliche Handeln von Mönchen in Interaktionen mit ihren Glaubensbrüdern und mit Besucherinnen und Besuchern in der Grabeskirche zu analysieren. Es lässt sich deutlich erkennen, dass die Rollen der Mönche in der Kirche eingeübt sind – es gibt den Manager, den Kontrolleur, den Prozessionsteilnehmer etc. – und

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dass sich jeder der Rolle des jeweils anderen bewusst ist.1 Das Verhalten scheint so standardisiert zu sein, dass die Interaktionen zwischen den Mönchen formalisiert und häufig wortlos sind. Die kurzen Zurufe und Zeichen sind die einzige beobachtbare Kommunikation zwischen ihnen. Die ritualisierten Interaktionen sind auch Teil eines interkirchlichen Überwachungsauftrages an diesem symbolisch aufgeladenen Ort – zu kontrollieren, dass die Kleriker anderer Denominationen nicht mehr Einfluss in der Grabeskirche gewinnen, als ihnen zusteht, wie es Michael Dumper (2014: 112) beschreibt. Dass Kleriker zum Beispiel die Prozessionen einer anderen Denomination anschauen, sei »a form of ecclesiastical surveillance to ensure that established and agreed practices are adhered to and no advantage has been surreptitiously gained by the celebrating sect« (ebd.). Abbildung 14: Griechisch-orthodoxe Zeremonie in der Grabeskirche

Abbildung: Johannes Becker

In der Grabeskirche sind die Mönche während der Prozessionen, Gottesdienste und während des Gebets nicht nur den Blicken ihrer Glaubensbrüder ausgesetzt, sondern werden ständig beäugt, fotografiert, bewundert oder belacht. Der grimmige Blick oder die Ohrstöpsel in der oben stehenden Beobachtung können auch als Versuch gesehen werden, sich gegenüber dem Außen abzuschließen. In diesem ›Herz‹ 1

Für eine Darstellung der komplexen Regeln zwischen den verschiedenen Denominationen in der Grabeskirche, die heute als Status Quo bekannt sind, vgl. Hecht 1994.

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des Christentums wird die mönchische Tugend der Spiritualität erschwert. Das heißt, die Grabeskirche, die sich als konkreter geographischer und als symbolischer Wir-Ort (vgl. Kap. 3.2) der Mönche in Jerusalem anböte, wird von entpersonalisierter Kommunikation, interdenominationalem Misstrauen und vielfältigen Mustern gegenseitiger Beobachtung geprägt. In der Grabeskirche scheinen die einzelnen Denominationen wichtiger zu sein als die Herstellung eines gemeinsamen christlichen Daseins in Jerusalem. Bereits diese Beobachtungen zeigen auf, dass der ›geschützte‹ christliche Ort der Grabeskirche kein verbindender Wir-Ort für Mönche unterschiedlicher Denominationen zu sein scheint. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass der dritte Forschungsraum – jener der Mönche in der Altstadt2 – für die Mönche selbst handlungspraktisch wenig relevant ist und nicht zur Herstellung von Wir-Orten für die Mönche in Jerusalem führt. Die einzelnen Orden bzw. Denominationen erscheinen hingegen als viel handlungsbestimmender. Das widerspricht dem international verbreiteten Diskurs, der suggeriert, dass es in Jerusalem mehrere Orte gebe, die allen Kirchen heilig seien und somit vereinend wirkten. Warum habe ich dann zunächst einen solchen Forschungsraum formuliert? Der Versuch, einen Forschungsraum der Mönche in der Altstadt zu definieren, basiert auf verschiedenen Beobachtungen und Überlegungen: Erstens sehen die palästinensischen Bewohner/-innen der Altstadt und Außenstehende (z.B. Touristinnen und Touristen) die Mönche im Fremdbild als eine unterschiedslose Gruppe (dadurch, dass die Unterschiede der Denominationen in ihrem Habitus schwer wahrzunehmen sind bzw. nach außen als gering erscheinen). Gegenseitig nehmen sich die Mönche unmittelbar als Vertreter ihrer jeweiligen Denominationen wahr – also als ähnlich und verschieden zugleich. Der Forschungsraum der Mönche konstituiert sich zweitens durch ähnliche biographische Erfahrungen ihrer Sozialisation im klösterlichen Kontext und mit der ›Platzierung‹ in Jerusalem, die nicht von ihnen (allein), sondern (vor allem) von Orden und Kirchen entschieden wurde, also von ›besitzergreifenden Institutionen‹ (Coser 1974; vgl. dazu den folgenden Abschnitt). Den Begriff der Platzierung habe ich von Martina Löw (2001: 198-202) übernommen, um zu bezeichnen, dass die Mönche von der Institution nach deren Interessen positioniert werden können. Die Gruppierung der Mönche hilft drittens, dem dominanten Angebot essentialisierender Zugehörigkeitskonstruktionen in der Altstadt – die Annahme, dass Palästinenser oder Juden diejenigen seien, die durch ihre ›Abstammung‹ das alleinige Recht auf das Dasein in der Altstadt haben – entgegenzuwirken. Die Interviewanalysen zeigen auf, was es heißt zu lernen oder zu akzeptieren, Teil eines Ortes zu werden. Sie demonstrieren zudem, inwieweit es 2

Die Benennung dieses Forschungsraums ist auch durch die Kritik Martina Löws (2001: 51) daran inspiriert, dass als Räume häufig nur geographische Zusammenhänge begriffen würden und nicht zum Beispiel auch eine Gemeinschaft von Personen, die über mehrere Stadtteile hinweg besteht.

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notwendig ist, die vorherrschenden Interpretationsmuster in der geographisch beengten und ideologisch dichten Altstadt zu übernehmen. Abbildung 15: Koptisch-orthodoxe Prozession in der Altstadt

Abbildung: Johannes Becker

Es ist schwierig, einzuschätzen, wie viele Mönche in Jerusalem leben.3 Lauren Gelfond Feldinger (2004) schreibt von hunderten Mönchen in Israel, aber auch in Jerusalem bewegt sich die Zahl sicherlich nicht im unteren dreistelligen Bereich. In diesem Zusammenhang ist es von Beginn an wichtig, genau zu fassen, wer überhaupt ein Mönch ist. Bei einer Konferenz in Jerusalem im Jahr 2014 wurde mir in Reaktion auf meine Präsentation vorgeworfen, die Mönche, die ich interviewt hätte, seien gar keine, da ihre Aufgaben sich nicht auf ›beten und arbeiten‹ beschränkten und sie nicht zurückgezogen in Klöstern lebten. Doch ausschlaggebend für das Mönchsein ist formal genommen ausschließlich das Ablegen der Gelübde. Wie das mönchische Leben ausgefüllt ist, ist unterschiedlich – oft wird das eher aktive Leben vom eher kontemplativen Leben unterschieden, es gibt ›Betmönche‹, sozial engagierte oder in der Kirchenhierarchie aufgestiegene Mönche.4 In Jerusalem reichen die Aufgaben 3

Es gibt keine verlässlichen Angaben über die Zahl von Mönchen, die in der Altstadt von Jerusalem – oder in ganz Jerusalem – wohnen. Ben Arieh (1984: 194) zitiert aus einer Quelle, dass 1843 bereits beinahe einhundert fast ausschließlich aus anderen Ländern stammende Mönche in Jerusalem lebten.

4

In der westlichen Kirchentradition wird zwischen vita activa und vita contemplativa unterschieden (Ruh 1990: 157-163). Diese Begriffe können jedoch für die Ostkirchen in Jerusalem nicht verwendet werden.

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der von mir interviewten Mönche vom einfachen Gemeindepriester über den Dozenten, den Sozialarbeiter und den Tourguide bis hin zu solchen, die hochstehende theologische oder administrative Positionen in ihren Kirchen bekleiden. Die mönchischen Traditionen sind aber in den zahlreichen in Jerusalem vertretenen Kirchen sehr unterschiedlich und können nicht vereinheitlichend betrachtet werden. Mir waren besonders Mönche, die nach außen wirken, für die Feldforschung zugänglich.5 Die Interviewpartner wohnen seit zwischen acht und 35 Jahren in Jerusalem. Fast alle von ihnen haben einen universitären Theologieabschluss, sind ordinierte Priester und übernehmen weitere berufliche Aufgaben (s.u.).6 In den folgenden zwei Abschnitten dieser Einführung gehe ich zunächst auf die Herausforderungen von biographisch-narrativen Interviews mit Mönchen angesichts deren Zugehörigkeit zu besitzergreifenden Institutionen ein und zeige einige grundlegende Ergebnisse zu den Unterschieden innerhalb dieses Samples auf. Diese liegen in der Sozialisation der Mönche in Orden und der Stärke ihrer Abhängigkeit von diesen begründet. Außerdem führe ich drei Motive ein, die in den Interviews mit Mönchen vorkamen und zur Selbstversicherung ihrer Rolle und zur Bestätigung der Erwartung der Zuhörenden dienen. Im nachfolgenden Abschnitt werde ich kurz einige, für das Verständnis der analysierten Fälle notwendige Hintergründe des Lebens von Mönchen in Jerusalem ausführen und aufzeigen, welche Herausforderungen sich den Mönchen im Hinblick auf Verortungen dort stellen können. In der ausführlichen Fallrekonstruktion von Bruder Michel (Kap. 9.2) wird ersichtlich, wie die durch die besitzergreifende Institution forcierte Platzierung in Jerusalem gegen den Willen und gegen eigene Zukunftsvorstellungen zur Unzufriedenheit in der Stadt und zur Wahrnehmung der Einengung führen kann. Michel überdeckt diese im Interview durch stereotype Aussagen über die Heiligkeit Jerusalems. Bei ihm wird sich auch zeigen, wie er die durch die Platzierung wahrgenommene Einengung in der Stadt durch eine Teilzeitablösung in Form von transnationaler Mobilität bekämpfte. Zudem veränderte sich sein Deutungsmuster des Daseins in Jerusalem im Laufe seiner Zeit dort: Er begann, die Stadt nicht nur als einengend, sondern auch als Basis für die Etablierung eines großen Freundeskreises (bzw. sozialen Kapitals) und somit als Ressource oder Gegengewicht zur besitzergreifenden Institution zu betrachten. Diese Fallrekonstruktion kontrastiere ich mit drei kürzeren 5

Bruder Michel (vgl. Kap. 9.2) bezeichnet sich in einem gedruckten Interview selbst als

6

Zu Mönchen in Jerusalem vgl. auch Wood 2013a und 2013b. Ich habe mein Sample auf

Mönch. Die Quelle kann aus Anonymisierungsgründen nicht genannt werden. christliche Mönche der verschiedenen katholischen und orthodoxen Denominationen der westlichen und östlichen Riten beschränkt. Es wäre wünschenswert, dieses Sample auch auf Nonnen, protestantische Pastorinnen und Pastoren, Missionare, charismatische Christen, Rabbis, Imame und selbsternannte Propheten, von denen es in der Altstadt von Jerusalem genügende gibt, zu erweitern.

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Fallanalysen. Der Fall von Bruder Haqoub (Kap. 9.3.1) ist oberflächlich betrachtet ähnlich zu dem von Bruder Michel. Die biographische Struktur ist von Unzufriedenheit mit der Fremdbestimmung durch den Orden und mit der lang anhaltenden Platzierung in Jerusalem geprägt. Ähnlich wie Michel hat Bruder Haqoub das Reisen als Teilzeitablösung etabliert. In der Analyse wird aber deutlich, dass bei ihm das Gefühl der Einengung in Jerusalem unverändert geblieben ist und er lediglich einen utopischen Karriereaufstieg oder einen Ausstieg aus dem Orden als Auswege sieht. Auch Bruder Macarius (Kap. 9.3.2) hadert mit seiner von ihm durchgängig als einengend wahrgenommenen Platzierung in Jerusalem und verortet sich in der Stadt so wenig wie möglich. Er ist im Gegensatz zu den beiden anderen Interviewpartnern erst nach seiner Schulzeit und sehr bewusst in den Orden eingetreten und hat damit ein abgeschiedenes, kontemplatives Leben in einem Kloster seines Heimatlandes Ägypten assoziiert. Er sehnt sich nach einem solchen zurückgezogenen Leben und nach seinem Heimatland, in dem er sich stark verortet. Seine Jerusalemer Alltagsrealität als kirchenpolitischer Netzwerker bildet das Gegenteil dieser Vorstellung. Allen drei Fällen ist die zentrale Rolle des Ordens als besitzergreifender Institution gemeinsam, die die Platzierung in Jerusalem und in den Häusern der Orden weitgehend gegen den Willen der einzelnen Mönche forcierte. Der Fall von Bruder Jean (Kap. 9.3.3) stellt einen maximalen Kontrast zu den drei anderen Fällen dar. Seine Platzierung in Jerusalem erfolgte in enger Abstimmung mit seinen Oberen und mit seiner ausdrücklichen Zustimmung. Er ist der einzige der Mönche, der sich aktiv und emphatisch nicht nur in seinem Orden, sondern in Jerusalem und besonders in der muslimischen Nachbarschaft seines Klosters verortet. Lebensgeschichtliche Interviews mit Mönchen in ›besitzergreifenden Institutionen‹ Mönche und die monastische Lebenswelt wurden von zwei bekannten Soziologen behandelt. Erving Goffman (1957: 84) beschreibt Klöster als einen seiner fünf Typen von ›totalen Institutionen‹, als »establishments designed as retreats from the world or as training stations for the religious«. Diese totalen Institutionen sind durch die Einschränkung der sozialen Interaktionen ihrer Mitglieder mit der Außenwelt charakterisiert, durch deren räumliche, physische Abgeschiedenheit und auch dadurch, dass im Alltagsleben die Differenzierung zwischen schlafen, arbeiten und Freizeit (»play«) wegfällt. Im Falle Jerusalems jedoch sind die Mönche kaum in Konventen oder Klöstern ›weggesperrt‹, sondern leben häufig nach außen gewandt und haben daher vergleichsweise mehr Freiheiten als zum Beispiel Mönche in einem ländlich abgeschiedenen Kloster – sie leben das eben benannte eher aktive Leben. Lewis A. Coser (1974) bindet die monastische Erfahrungswelt in sein theoretisches Konzept der ›besitzergreifenden Institutionen‹ (»greedy institutions«) ein.

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Diese sind anders gerahmt und akkurater zur Beschreibung des Lebens von Mönchen in Jerusalem als Goffmans ›totale Institutionen‹. Coser (ebd.: 4-5) definierte besitzergreifende Institutionen als solche, die allumfassende Anforderungen an ihre Mitglieder stellen und die ganze Persönlichkeit einzubeziehen versuchen. Damit stünden sie modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften entgegen, von deren Mitgliedern keine exklusive Bindung erwartet werde (ebd.: 3). Die besitzergreifenden Institutionen hingegen »seek exclusive and undivided loyalty and they attempt to reduce the claims of competing roles and status positions on those they wish to encompass within their boundaries. Their demands on the person are omnivorous.« (Ebd.) Zu Außenstehenden würden starke Grenzen errichtet, »so as to hold the insider in close bonds to the community to which he owes total loyalty« (ebd.). Bei besitzergreifenden Institutionen sind es üblicherweise nicht wie bei Goffman die physische oder räumliche Kontrolle, die ›Insider‹ und ›Outsider‹ separieren, sondern vor allem symbolische Grenzen, psychologischer Druck und soziale Kontrolle. Das heißt, die Mitglieder der besitzergreifenden Institutionen können in ständigem sozialen Austausch mit ihrem Umfeld stehen und werden von diesem nicht durch äußeren Zwang getrennt: »On the contrary, they tend to rely on voluntary compliance and to evolve means of activating loyalty and commitment.« (Ebd.: 5-6) Ihre Mitglieder haben eine Lebensweise gewählt, die auf ihrer eigenen vollständigen Einbringung beruht. Für Mönche hat Kurt A. Bruder (1998: 92) dies folgendermaßen zusammengefasst: »In all matters, the monastic must demonstrate total submission to spiritual authority, cultivating an attitude of instant and unquestioning obedience.« Im Folgenden stelle ich zwei mit dieser Zugehörigkeit zu einer besitzergreifenden Institution verbundene Analyseergebnisse vor. 1. Die biographisch-narrativen Interviews mit Mönchen waren durchgängig davon bestimmt, wie persönlich bzw. wie offen sie mit mir über ihr Leben sprechen wollten. Auf der einen Seite erzählten diejenigen Mönche, deren eigener Entschluss es war, einem Orden beizutreten – nach dem Sekundarschulabschluss oder nach dem Studium – wenig über sich, und ihre Antworten auf meine Fragen waren meist sehr kurz. Zudem kollektivierten sie ihre Erfahrungen für den Orden, die Denomination oder das Mönchstum im Allgemeinen.7 Das heißt, sie unterwarfen sich bereitwillig den Anforderungen nach einer gefälligen Außenpräsentation der besitzergreifenden Institution. Auf der anderen Seite waren jene Mönche, welche bereits einen großen Teil ihrer Schulzeit (seit der späten Kindheit oder frühen Adoleszenz) im Kontext ihres Ordens verbracht bzw. dort von ihren Eltern untergebracht wur7

Das wurde nur von einem Mönch durchbrochen, der zwar auf eigenen Wunsch in den Orden eingetreten war. Dieser Entscheidung lag aber eine Konversionserfahrung zugrunde. Angrosino (2004: 24-25) argumentiert, dass ältere Mönche eher über ihre Erfahrungen sprechen als jüngere. Für mein Sample kann ich diese Einschätzung nicht bestätigen.

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den. Sie durchliefen streng geführte Knabenseminare, die wie Internate organisiert sind und für wenig Geld vielversprechende Bildungsmöglichkeiten bieten. Nach dem Sekundarschulabschluss schlossen sich für sie als naheliegendste Optionen das Noviziat und die Ablegung der Gelübde an. Meistens waren dies Mitglieder von Ostkirchen aus Ländern, in denen streng geführte Klosterschulen in den christlichen Gruppierungen der Gesellschaft noch stärker präsent waren. Diese Mönche mäanderten in den Interviews zwischen einer durch ihre Institution geprägten Präsentation und diese ›durchbrechenden‹ persönlichen Erfahrungen. Das heißt, sie waren mehr oder weniger bewusst dazu bereit, ihre Lebensgeschichten mit mir zu teilen, auch, um die das Leben durchziehende und als Fremdbestimmung erlebte Kontrolle durch die besitzergreifende Institution zeitweise zu überwinden und über sich erzählen zu können. Die persönlich gehaltenen Interviews brachten aber negative Erfahrungen mit der besitzergreifenden Institution zum Ausdruck, die wiederum durch allgemeine Bekundungen zum Beispiel zur Heiligkeit Jerusalems konterkariert wurden (vgl. dazu weiter unten im Kapitel, S. 335 und S. 341-342). 2. Die Verortungserfahrungen von Mönchen in Jerusalem waren davon abhängig, ob es ihr Wunsch war, dort platziert zu werden, oder nicht. Es war nie ihre Entscheidung, aber wenn die besitzergreifende Institution – also die Kirche oder der Orden – ihre Wünsche erfüllte, dann konnte die Platzierung und die Verortung positiv erlebt werden. Wenn es nicht (mehr) ihr Wunsch war, dann war die Platzierung in Jerusalem negativ konnotiert. Letzteres führte in vielen der Fälle auch dazu, dass sich die Mönche kaum mit der Stadt ihres Aufenthalts beschäftigten oder diese mit negativen Zuschreibungen versahen. In Bezug auf Jerusalem setzten diejenigen, die Probleme mit ihrer Platzierung dort hatten, für die Außenpräsentation, aber vielleicht auch zur Selbstversicherung allgemeine Bekundungen ein, die die Gnade betonen, in der ›heiligen Stadt‹ und neben den heiligen Stätten wohnen zu dürfen. Diese Ergebnisse sind auch durch die Art und Weise der Interviewführung ermöglicht worden. In den mir bekannten sozialwissenschaftlichen Studien zu Mönchen, die auf Interviews basieren, beschränkten sich alle Forscher/-innen – außer den Studierenden des Lehrforschungsprojekts von Gabriele Rosenthal (1995: 109113) – darauf, Mönche nach ihren Erfahrungen seit ihrem Eintritt ins Kloster zu befragen und eben nicht nach ihrer gesamten Lebens- und Familiengeschichte.8 Die Fragen, die sie behandelten, fokussierten also deren ›spirituelles‹ Leben.9 Es ging darum, wie Mönche dieses einüben, welche Rituale und ›selbstreinigenden Praktiken‹ sie anwenden und wie sie versuchen, die eigene ›Subjektivität‹ herunterzuspielen. Kurt A. Bruder (1998: 87) konzentrierte sich zum Beispiel auf den Prozess des 8

Angrosino (2004: 20) hat dagegen seine Interviewfrage auf das klösterliche Erleben der Mönche beschränkt: »I’d like you to tell me about your personal experiences here at Cassian [monastery].«

9

Vgl. auch Gruber 2003; Paganopoulos 2010.

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»deconstructing and reconstructing« des Selbst durch rituelle Praktiken. Er stellte fest, dass das Sprechen von Mönchen durch »a constant spiritual orientation and ritualistic structure« (ebd.: 95) bestimmt sei. Doch, wie Gavin Flood (2004: 2) ausführt, ist das mönchische Ziel eines passiven, »asketischen Selbsts« nur durch ein körperliches, vergeschichtlichtes Selbst mit einem Namen und Willen möglich, was notwendigerweise zu einer Spannung führt. Michael Angrosino (2004: 28) thematisiert das als der Mönche »pride about the process of having had their egos ›tamed‹«, obwohl dieser »process has not been fully completed in most cases«. Diese Ambiguität wird deutlich, »[if you] interact with the monks as real people« (ebd.). Dies gilt umso mehr, wenn das Leben der Mönche vor dem Ablegen der Gelübde und außerhalb der ›Klostermauern‹ in die Untersuchung eingeschlossen wird. Abbildung 16: Griechisch-orthodoxer Gottesdienst in der Grabeskirche

Abbildung: Johannes Becker

In den biographisch-narrativen Interviews habe ich nach der gesamten Lebens- und Familiengeschichte gefragt. Das eröffnete den befragten Mönchen überhaupt einen Rahmen, entlang eigener Relevanzen über ihr eigenes Leben zu sprechen und persönliche Erfahrungen manifest zu thematisieren, auch solche, die nicht mit den Vorgaben der besitzergreifenden Institution in Einklang stehen. Implizit war diese Eingangsfrage sogar eine Einladung, religiöse Themen beiseite zu lassen. Sie stellte meine Interviewpartner daher vor große Herausforderungen. Während ein Teil der Mönche in ihrer Rolle als Repräsentanten ihrer Kirchen und Orden verblieben und

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persönliche Erzählungen zu vermeiden suchten, mäanderten andere zwischen sehr persönlich gehaltenen Interviewteilen und allgemeinen Bekundungen zu – wie bereits angesprochen – der Relevanz des Lebens in der heiligen Stadt, aber auch zu ihrer spirituellen Praxis und zu ihrem Priestertum. Michael Angrosino (2004: 22) schreibt für seine Interviews mit Mönchen in einem US-amerikanischen Kloster von der »image control« der Mönche. Dieser Begriff ist auch für die Interviewsituationen in Jerusalem wichtig, dabei darf aber nicht angenommen werden, dass diese images durch die Mönche aktiv gestaltet werden oder es sich um deren bewusste Entscheidung handelt, diese ›einzusetzen‹. In meiner Analyse erscheinen die allgemeinen Bekundungen zwar als eingeübt, aber in der Situation des biographischnarrativen Interviews eher als implizit eingesetzt, um ihre persönliche Öffnung zu konterkarieren. Sie erfolgten gerade nach dem Thematisieren von negativen Erfahrungen mit der besitzergreifenden Institution, um wieder innerhalb deren Grenzen zurückzutreten. Im Folgenden benenne und charakterisiere ich drei typische Bekundungen, die in solchen Kontexten des ›Mäanderns‹ immer wieder vorkamen: 1. Die Betonung der Gnade, in der heiligen Stadt Jerusalem und neben den heiligen Stätten leben zu dürfen. Diese Argumentation erfüllt die Erwartungen der Gesprächspartner/-innen an ein christliches, gemeinschaftliches Leben in Jerusalem, vor allem, wenn dieses nicht durch eigene Erfahrungen des Interviewpartners belegt werden kann. Sie dient aber auch der Selbstversicherung der Relevanz des eigenen Lebens angesichts von biographischen Enttäuschungen. Diese Argumentationen werden besonders von den hier vorgestellten Mönchen Haqoub und Macarius sowie von Bruder Michel benutzt, von dem das folgende Zitat stammt: »I am happy and I have the luck the luck and the chance and the mercy to be here [in Jerusalem], for a second time and that is, well, and, I am in service of, the church and God’s people in this holy city.« 2. Die allgemeine, vom persönlichen Erleben abstrahierte Betonung priesterlicher Aufgaben und der Seelsorge. Die generalisierten Argumente dienen neben der bereits angesprochenen Abwehr von persönlichen Erfahrungen in der Interviewsituation dazu, dass sich Mönche trotz institutioneller Beschränkungen des Selbstlobs als erfolgreich einführen können. Dafür steht beispielhaft das folgende Interviewzitat, wiederum von Bruder Michel: »That was my experience in pastoral work, so, as said the the secret (2) of the a priest’s success is really near to the people.« 3. Die Reduktion mönchischen Lebens auf religiöse Praktiken: Beten, Askese, Spiritualität, Selbstperfektionierung, Abgeschiedenheit. Dass diese Art der Bekundung in meinen Interviews relativ selten vorkam, liegt sicherlich daran, dass ich nicht mit Mönchen gesprochen habe, die ein eher zurückgezogenes Leben führen, sondern vor allem mit solchen, die ein eher aktives, nach außen gewandtes Leben führen (müssen). Bei Bruder Macarius scheint die spirituelle Figur häufig durch. Besonders beispielhaft ist aber der folgende kurze Zeitungsausschnitt (Feldinger

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2004), der einen Mönch aus meinem Interviewsample folgendermaßen charakterisiert bzw. zitiert: »[He] reflects on the liturgy, the Gospels, the psalms and his personal prayers in his ›cell,‹ a private bedroom fit for a monk: small and Spartan. He also works to confess and purge himself of ego-driven impulses […] rarely leaves the monastery and knows few of his neighbors. He has no TV or radio, and doesn’t go to movies, restaurants or social gatherings.«

Relevanz und Erleben der Mönche in Jerusalem Obwohl die absolute Zahl der Mönche in Jerusalem nicht groß ist, ist ihr Beitrag zur Formierung des weltweiten christlichen Jerusalem-Bildes beachtlich, denn sie kommen aus einer großen Anzahl verschiedener Länder und repräsentieren unterschiedliche westliche und östliche Kirchen.10 Viele von ihnen sind nach außen gewandte Repräsentanten mit Aufgaben als Kirchendiplomaten, Reiseführer oder Wissenschaftler. Sie sind im Gespräch mit den Medien geübt und oft kosmopolitische Weltbürger mit hervorragenden sozialen transnationalen Netzwerken. Daher agieren sie häufig als Mediatoren zwischen einem ›kirchlichen Jerusalem‹ und der ›Außenwelt‹, sie erlangen also eine breitere Bekanntheit, was einer der Gründe ist, warum die Falldarstellungen in den folgenden Unterkapiteln umfangreich anonymisiert sind.11 Zu ihren Aufgaben gehört auch die Betonung der Bedeutung Jerusalems für das Christentum. Wenn ihre eigenen Erfahrungen in Jerusalem nicht diesem positiven Bild entsprachen oder nicht die gleiche Relevanz entfalteten (in den Fallrekonstruktionen bei allen bis auf Bruder Jean) und sie in keinen Erzählfluss über ihre Erlebnisse in der Stadt kamen, dann waren sie gezwungen bzw. hatten das Bedürfnis zu bekunden, dass es eine Gnade sei, in der heiligen Stadt zu leben, traten also als ›Botschafter‹ des christlichen Jerusalems auf – besonders dann, wenn es nicht ihr eigener Wunsch war, in Jerusalem platziert zu werden. Es war überraschend, hinter den diskursiven Beteuerungen zu entdecken, dass sich viele Mönche auf einem Erfahrungslevel der ›heiligen Stadt‹ weit weniger zugehörig fühlten und weniger leidenschaftlich für sie ›brannten‹, als ich erwartet hatte. Dies wurde in der Analyse besonders dann deutlich, wenn im Interview das Thema aufkam, wo sie lieber wären als in Jerusalem: Manche hatten Heimweh, andere planten ihren nächsten Auslandsaufenthalt, einige bereuten vorübergezogene Karrieremöglichkeiten. Einer wäre lieber in einem ›westlichen‹ Land, ein anderer bei einer erträumten Ehefrau, ein dritter würde lieber in einem abgeschiedenen 10 Zur Einführung in die Denominationen im Nahen Osten vgl. Martin Tamckes (2008) Christen in der arabischen Welt. Für eine Nennung christlicher Communities in der Altstadt vgl. Kap. 6.6. 11 Zahlreiche Merkmale wie zum Beispiel Namen, Denominationen, Namen der Orden, Herkunft, Studium etc. können verändert erscheinen oder nicht erwähnt sein.

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Kloster meditieren. Diese Träume der Mönche, woanders zu sein als in Jerusalem, wurden von Bruder Macarius auf passende Weise metaphorisch eingeführt. Er sagte, dass er sich wie der Prophet Jona fühle, der versucht habe, von Gott wegzurennen, doch von einem großen Fisch wieder dort ausgespien wurde, wo er zuvor gewesen sei. Macarius hatte einige Male seine Oberen vergeblich gebeten, Jerusalem verlassen zu dürfen. Doch seine Kirche platzierte ihn noch firmer dort, von wo er versucht hatte zu fliehen. Viele der interviewten Mönche deuteten an, Jerusalem sei für sie kein spiritueller Ort. Dazu trugen ihre negativen Erfahrungen mit der sozialen Umwelt in der Altstadt bei. Bruder Jean argumentierte, viele Mönche kämen mit der politisch aufgeladenen Umgebung nicht zurecht. Andere dachten vor allem an die sich wandelnden Machtverhältnisse und an den Konkurrenzkampf zwischen den drei religiösen Gruppierungen in Jerusalem und der damit verbundenen Angst, zwischen den dominanten und zum Teil als zunehmend extremer eingeschätzten muslimischen und jüdischen Religionsgruppierungen eingequetscht zu werden. Viele sprachen das schlechte Verhältnis zu den Jerusalemer Laiencommunities vor allem in der Altstadt an, deren Mitglieder sie oftmals als problematisch, arm und manchmal als gewalttätig beschrieben. Damit reproduzierten sie die gängigen Diskurse über die Altstadt (vgl. Kap. 6.4).

9.2

B RUDER M ICHEL : »ALL MY PLANS G OD HAD FOR ME «

9.2.1

Interviewkontext und Selbstpräsentation

PLANS WERE NOT THE

Interviewkontext Bruder Michel, der 1957 im Libanon geboren wurde und dort aufgewachsen ist, arbeitet und lebt im Haus seines Ordens in der Jerusalemer Altstadt. Der Fall von Michel steht beispielhaft für einen biographischen Verlauf, in dem die vom Orden forcierte Platzierung in Jerusalem zunächst zur Wahrnehmung einer starken Einengung führte. Er bearbeitete diese durch eine Teilzeitablösung, die regelmäßige und häufige kürzere Auslandsaufenthalte nach sich zog. Außerdem kam es zu einer Änderung seines Deutungsmusters: Er begann, sein Dasein in Jerusalem als Möglichkeit zur Formierung eines großen sozialen Netzwerkes zu begreifen, mit dem er die Einengung durch die ›besitzergreifende Institution‹ (Coser 1974) teilweise überwinden konnte. Ich habe mich mit Michel im Jahr 2014 viermal getroffen und auf Englisch ein insgesamt fünfstündiges Interview geführt. Der Kontakt zu ihm wurde durch einen mir bekannten englischen Priester hergestellt, der uns via Facebook verknüpfte. Auf

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seiner öffentlich zugänglichen Seite war Bruder Michel auf Bildern mit prominenten britischen Politikern und bei Reisen in Großbritannien zu sehen – seit seinen Studientagen ist er eng mit dem Land verbunden. Sein Profilbild zeigte ihn, wie er vom Ölberg auf die Altstadt blickt. Bruder Michel präsentiert somit auf Facebook das Bild eines weltläufigen Menschen, der Kontakte in aller Welt pflegt und der fest mit der ›heiligen Stadt‹ Jerusalem verbunden ist. Auf meine Interviewanfrage antwortete er: »Dear Mr Becker, Thank you for your trust. In fact, I myself am no Jerusalemite even though I have worked here as priest for many years and I feel very close to the people here. For your topic, you have to meet local inhabitants resp. Christians. I could guide you in this field…« Auf der einen Seite distanzierte sich Michel in dieser Email selbst von Jerusalem, indem er schrieb, dass er kein ›Einheimischer‹ sei, auf der anderen Seite betonte er das Vertrauen, das er dort genieße. Somit sah er sich selbst in der Rolle eines Vermittlers, der mir helfen könnte, mich mit der lokalen christlichen Bevölkerung in Kontakt zu setzen. Später ist zu sehen, dass dieses in der Email bereits dargestellte, auch mir zugeschriebene ›Vertrauen‹ in ihn ein wichtiges Element seiner Selbstpräsentation ist, die er auch benutzt, um seine Präsenz in Jerusalem und seine sozialen Kontakte dort nach außen und für sich selbst positiv zu rahmen. Beim ersten meiner Besuche, die allesamt im Ordenshaus stattfanden, versuchte Michel noch, mich von einem Interview mit ihm dadurch abzulenken, dass er mich mit einem christlichen Nachbarn bekanntmachte und mir einen familiengeschichtlichen Band eines Jerusalemer Christen zeigte. Danach konnte ich Michel gegen seine anfängliche Skepsis doch dazu bewegen, mir ein Interview zu geben. Er schien bei den nächsten Treffen Gefallen am Interview und an meinem Interesse an ihm zu finden. Am Ende fragte er mich, ob ich ihm eine Audiokopie des Interviews schicken könnte, er habe noch nie so viel über sein Leben gesprochen. Das verweist auch auf sein Dasein in einer besitzergreifenden Institution, in der individuellen Erfahrungen wenig Raum zur Entfaltung gegeben wird. Michel war während der Interviews immer wieder recht nervös und trippelte unter dem Tisch mit den Füßen. Außerdem entschuldigte er sich für Telefongespräche oder wurde für die Erledigung anderer kleiner Aufgaben von unserem Gespräch weggeholt. Michel war beschäftigt oder bemühte sich, beschäftigt zu erscheinen. Ich interpretiere dies als spezifische Form, mit der für ihn schwierigen Frage umzugehen, wieviel Zeit er zur Darstellung seines Lebens und seines ›individuellen‹ Ichs im Interview verwenden kann – also Zeit, in der er nicht für die Institution zur Verfügung steht. Wie weiter unten in der Analyse deutlich wird, war unsere Interaktion auch dadurch geprägt, dass ich ihm als Interessierter und Regionalkundiger gegenübertrat. Seine Zuschreibung, dass ich ohne enge Verbindung zur Kirche lebe, erleichterte es ihm auch, bis zu einem gewissen Grad über Lebensabschnitte und Begebenheiten zu sprechen, die nicht in einem typischen monastischen Lebenslauf vorgesehen sind. Dazu kam, dass ich durch mein Promotionsstudium eine akademische

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Ausbildung eingeschlagen habe, die ihm trotz seines expliziten Wunsches von der Kirche verwehrt worden war. Von ihm wurde ich dadurch als intellektuell ›ebenbürtig‹ angesehen. Für Michel war es im Laufe des Interviews zunehmend erleichternd, offen über seine individuelle Lebensgeschichte sprechen zu können, auch wenn er versuchte, sein Sprechen weiterhin zu kontrollieren (vgl. dazu S. 341-342, S. 349). Thematisches Feld der Haupterzählung und Präsentationsinteresse Michels Haupterzählung, die auf meine Frage nach seiner Lebens- und Familiengeschichte folgt, kann in zwei Teile getrennt werden. Der erste Teil der Haupterzählung steht im thematischen Feld ›Ein erfolgreiches Leben als libanesischer Priester im Nahen Osten‹. Dieser Teil dauert zehn Minuten und wird von Michel knapp gehalten, er selbst nennt ihn »CV«. Nach diesem Teil fordere ich ihn auf seine Nachfrage hin auf, weiter über das zu sprechen, was ihm wichtig sei. Im nun folgenden längeren Teil der Haupterzählung wird das thematische Feld brüchig. Während er zuerst das thematische Feld weiter differenziert und immer wieder darauf hinweist, wie wichtig es sei, als Priester nahe an den Menschen zu sein, scheinen immer stärker seine negativen lebensbestimmenden Erfahrungen mit dem Orden auf, die er allerdings während des Sprechens wieder ›unter Kontrolle‹ zu bekommen versucht. Das thematische Feld des ersten Haupterzählungsteils entspricht auch weitgehend seinem Präsentationsinteresse: Michel versucht während des gesamten Interviews zu präsentieren, dass er wegen seiner Demut und Flexibilität, seiner sozialen Kompetenz und seinem Geschick viele Erfolge für seinen Orden erzielt habe – manchmal ähnelt seine Rahmung der eines Bewerbungsgesprächs. Häufig kommt er während des weiteren Interviews auf einzelne erfolgreiche Handlungen zurück, in denen er als Vermittler und Organisator auftrat. Im Folgenden gehe ich auf den Beginn der Haupterzählung ein, in der das Lavieren zwischen Selbstpräsentation und Präsentation seiner Institution sehr deutlich aufscheint: J: As I said thanks again once more for your time, and ahm, as we’ve said already last week I’d like I’d like to ask you about your, family and life story (2) and if, you can tell me about it, and in a first part of the interview, I will not interrupt you at all (2) but I let you talk, and only in the end when you’re finished, when you say that you are finished I will ask some questions about what you have told me M: Ok so one- one cannot always ah the questions are always important, with an interviewer can’t ta- talk from one word to the other and everything spins in the head, so the best is ah to limit the questions ha you know, ok what shall I now I come from I am, ah my name is Michel, I am priest Father in an order religious order, Father Michel, my family name is Zaccour zet a ce ce o u er I am born nineteen fifty seven, ahm ah I am Lebanese by birth (2) and ahm ah pf ja ahm my I have all my studi- all complete in the beginning in

340 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT the village my I come from a village […] a biblical village if one, goes back to the semantics and the terminology […] we are all religious people […] in this environment in this who- I grew up there and was raised and then ah, until twelve years old, ah when I as I entered here in this in the priest- um minor seminary.

Michel beginnt im Zitat damit, sich über meine breite Eingangsfrage zu wundern und erinnert sich selbst daran, dass er sich auf das konzentrieren solle, was er mir erzählt, und nicht von Thema zu Thema springen solle – er fordert sich also selbst zur Gesprächskontrolle auf. Er will nicht in einer Weise erscheinen, die er nicht intendiert und ihn Dinge zum Vorschein bringen lassen könnte, über die er in seiner Position in der Kirche nicht sprechen sollte. Vielleicht hatte er mit seiner Bemerkung auch gehofft, dass ich meinen ›subversiven‹ Fragestil ändern und konkretere Fragen stellen würde. Daraufhin fragt er sich selbst, was er nun tun solle, was darauf hindeutet, dass es Schwierigkeiten bereitet, als Angehöriger einer besitzergreifenden Institution auf Fragen nach ihm als Subjekt und seinem Leben und nicht zur Mitgliedschaft in der Institution zu antworten – tatsächlich könnten dies auch einander entgegenstehende Referenzpunkte sein. Michel versucht daraufhin, sich zu definieren – zuerst geographisch (»I come from«), sich selbst unterbrechend dann mit seiner Berufung (»I am«) und schließlich beginnt er mit seinem Vornamen, der ihm von seiner Familie gegeben wurde, den er aber (im Gegensatz zu anderen Mönchen) immer noch trägt und welcher daher die Lücke zwischen seinem biographischen Hintergrund und seinem Status als Mönch überbrücken kann. Danach führt Michel seine beiden institutionellen Zugehörigkeiten ein – als Priester in der Kirche und als Mönch im Orden – und führt dies mit seinem Vornamen zusammen. Allerdings kehrt er wieder auf die Ebene seiner Herkunftsfamilie zurück und führt sein Geburtsjahr, seine Nationalität und seinen Familiennamen ein, den er sogar buchstabiert. Somit positioniert er sich mit seinem biographischen Zugehörigkeitsgefühl außerhalb der institutionellen Ebene. Bereits an diesem kleinen Abschnitt ist zu erkennen, wie schwer es für Mönche sein kann, die Frage nach einer Lebensgeschichte zu beantworten, oder sogar nur die Frage: Wer bist du. Nachfolgend beginnt Michel mit einem später noch zu klärenden Fokus auf sein Studium, der aber schnell von der Beschreibung seines Herkunftsdorfes abgelöst wird. Mit dieser Beschreibung (die im obigen Zitat bereits gekürzt ist), hat er ein Terrain gefunden, auf dem er über seine Kindheit und die Familie reden und trotzdem wegen der angeblichen biblischen Erwähnung des Dorfes eine religiöse Rahmung aufrechterhalten kann, die ihm dann den Hintergrund für die Beschreibung seiner kirchlichen Karriere liefert. Im zweiten Teil der Haupterzählung, die auf Michels Zwischenfrage, was er denn noch erzählen solle, folgt, beginnt er eine längere Argumentation, die sich um seine erste Berufung nach Jerusalem 1981 dreht. Dieses Erlebnis wird später noch ausführlich in der Rekonstruktion zitiert und ausgelegt. An dieser Stelle ist nur

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wichtig zu betonen, dass er in seiner langen Argumentation zunächst in seinem sehr allgemein gehaltenen Präsentationsinteresse bleibt (die Relevanz, ein guter Seelsorger zu sein; sich einzusetzen für die Gemeindeglieder). Dieses wird dann untergraben, als er als Belegerzählung einführt, wie er von seinem Orden als Priester in eine soziale Einrichtung in Jerusalem platziert wurde. Seine Enttäuschung über die Platzierung in Jerusalem, die er zu jener Zeit empfunden hat, übermannt die eingeübte Präsentation in der Gegenwart. Die Perspektive ändert sich vom Präsentationsinteresse des Seelsorgers hin zur persönlichen Demütigung, in seiner damaligen biographischen Situation nach Jerusalem geschickt worden zu sein anstatt seine Wissenschaftskarriere fortsetzen zu können – das beeinflusst ihn bis heute stark. Das erlebte Leben fordert die lang eingeübte Präsentation des erfolgreichen Priesterdaseins heraus. Er versucht immer wieder, der Vergangenheitsperspektive zu ›entkommen‹: Zweimal wirft er in leicht abgewandelter Form die Bemerkung ein, dass er nicht über sich selbst erzählen könne. Zudem verwendet er häufiger das Pronomen »one« (›man‹) zur Distanzierung von sich selbst. Schließlich gelingt es ihm, sich aus dieser Situation ›herauszuerzählen‹ und sich wieder in die Präsentation eines erfolgreichen Seelsorgerlebens zu retten. Wenn man das gesamte Interview betrachtet, fällt auf, dass Michel über wenige konkrete Erlebnisse aus seiner Zeit in Jerusalem erzählt. Argumentativ spricht er immer wieder über seine seelsorgerischen Qualitäten und in Berichtform über von ihm initiierte Spendenaktionen oder Auslandsaufenthalte. Viel ausführlicher spricht er jedoch über seine Kindheit und sein Studium. Das hat sicherlich mit der Qualität der Erlebnisse zu tun: Michel erinnert sich vor allem an von ihm selbst initiierte Handlungen (Reisen, Kindheitsabenteuer, Studienerlebnisse, Spendenaktionen) und weniger daran, was er als ›Diener‹ des Ordens tun musste. Das gilt auch für die meisten Erzählungen aus seiner Zeit in Jerusalem. Sie ähneln denen aus den anderen Orten, an denen er platziert war, und werden bis zu einem gewissen Grad austauschbar, da sie beinahe nur von seinen Erfolgen handeln. Die lokalen Communities werden zu ›Füllmaterial‹ in seiner nahöstlich transnationalen Lebensgeschichte. Der Unterschied an seiner Darstellung von Jerusalem ist, dass allgemeine Bekundungen zum Dasein in der heiligen Stadt eine große Bedeutung haben. Sie helfen ihm, gegenläufige Erfahrungen zu überspielen und die von ihm angenommenen Erwartungen des außenstehenden Hörers, im folgenden Zitat von mir, zu erfüllen: »I am happy mainly to be here in holy places, the very holy places where I was at very firfrom the very beginning as priest here, that was probably my power in life, now I am thirtyone years priest, hm already but really the power which one ah here receives next to the holy places is also important fo:r the whole life, hm, hmhm and=ah, and I pray again and again, that God gives me power and endurance and patience and=ah mercy that I, that I can continue with this church task continue to carry out ahm for, for ahm how do you say glory, the glory of his name (2) ok, alright (2) I- probably talked a lot.«

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Michel präsentiert die heiligen Stätten als Kraftquelle für sein ganzes Leben. Die materielle Umgebung in Jerusalem wird mit Akteursqualitäten ausgestattet, und er beschreibt sie sogar als existenzbestimmend. Er dankt Gott, dass er seine ›Mission‹ als Priester habe weiterführen können. Am Ende des Zitats kommentiert er seine eigene Präsentation, als ob sie ein eingeübter Text gewesen sei. In einem anderen Zitat berichtet er hingegen, wie er entgegen dem Anraten einer Schwester ohne den vorherigen Besuch der Grabeskirche in den Libanon gefahren sei, weil es dort eine Notlage in seiner Familie gegeben habe: »Then I definitely wanted to go back to Lebanon, and the the the, the woman the sister says, but, go to the church of the Holy Sepulcher at least ah visit, I say yes, I don’t care, Holy Sepulcher, that’s a church, I want to go to Lebanon desperately, I am not the first time in Jerusalem, then I was never in the Holy Sepulcher, seven o´clock, off with the bus, directly to the border four hours then to Lebanon.«12

Erstaunlich ist nicht, dass Michel nicht die Grabeskirche besucht hat. Erstaunlich ist, dass er es im Interview offen anspricht, obwohl es vielen anderen Stellen im Interviewtext entgegensteht, in denen er allgemeine Bekundungen zur heiligen Stadt gebraucht, also eine Art symbolische Verortung. Hier nimmt er eine näher am Erleben liegende Perspektive ein. Das zeigt die häufig mögliche Spannung zwischen Erleben und Präsentationsinteresse während der Interviewtreffen auf, die mithilfe von allgemeinen Bekundungen zum Beispiel zur Heiligkeit Jerusalems, also durch eine betonte symbolische Verortung, überwunden werden soll. Und obwohl es anderen Mönchen besser gelang, ihre biographischen Erfahrungen zu dethematisieren, sind alle Interviews bis zu einem gewissen Grad von dieser Spannung bestimmt. Aber auch in Interviewteilen zu anderen Lebensabschnitten versucht Michael, sich zu kontrollieren. So führt er seine Kindheit generell so ein, dass er anfangs betont, wie fromm und gläubig er bzw. die Verwandten und Dörfler gewesen seien, auch wenn die danach erzählten Begebenheiten damit nichts zu tun haben oder diese Aussage sogar konterkarieren. Hin und wieder merkt er während des Interviews an, dass er »zu viel geredet« habe und versucht, sich durch Einschübe selbst zu kontrollieren: »enough now«, »that will do« »yes that’s enough« »talked a lot« oder ähnliche Formulierungen. Das ist auch an manchen seiner Versuche zu erkennen, das Thema zu wechseln: »Yes but that are the questions of course we narrate, but you, questions are for orientation, ((J: for orient-)) they are there they also narrate something special private and ahm, very private.« Damit beklagt er, dass seine eigene Person in der Darstellung dieser Lebensabschnitte zu sehr in den Mittelpunkt geraten könnte. 12 Während der israelischen Besatzung von Teilen des Libanons konnte die Grenze zwischen beiden Ländern bis zum Jahr 2000 beim sogenannten Fatima Gate passiert werden.

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Michels Familien- und Lebensgeschichte

Familiengeschichte und frühe Kindheit: Sozialisation ins christliche Dorfleben Michel Zaccour wurde 1957 in eine christliche Familie im Libanon südlich von Beirut geboren.13 Politisch gesehen war der Libanon seit 1943 ein formal unabhängiges Land, und 1946 verließen es die letzten Soldaten der französischen Mandatsmacht. De facto war der Libanon von Beginn an von vielen anderen Staaten und ihren Interessen abhängig, vor allem weil die Organisation des Staates und die Verteilung der Posten auf konfessioneller Ebene zwischen Christen, Sunniten und Schiiten (so ist der Präsident immer ein Maronit) geregelt ist. Infolge des arabischisraelischen Krieges 1948 kamen ca. 120.000 palästinensische Flüchtlinge ins Land (Traboulsi 2007: 109-115). Während den meisten muslimischen Flüchtlingen volle Bürgerrechte verweigert wurden – sie wurden als Gefahr für die libanesische Bevölkerungsbalance gesehen –, wurde vielen christlichen Flüchtlingen und privilegierten Muslimen im Laufe der 1950er und 1960er Jahre die Staatsbürgerschaft verliehen (Haddad 2004: 477-478). Muslime bevölkerten auch die zahlreichen Flüchtlingslager vor allem in der südlichen Landeshälfte, in der auch die Familie Zaccour lebte. Die väterliche und die mütterliche Familie Michels kommen aus eher christlich und ländlich geprägten Kontexten. Das väterliche Dorf (der Wohnort der Familie) war sehr klein (noch heute weniger als 500 Einwohner). Das Herkunftsdorf der Mutter liegt in der gleichen Region und hat heute 1.800 Einwohner.14 Michel weist darauf hin, dass sein Urgroßonkel, der um 1940 starb, Mönch im gleichen Orden wie er gewesen sei. In dieser väterlichen Linie wurde über zwei Generationen nur jeweils ein männlicher Nachkomme geboren. Aus der Ehe seines einzigen Großonkels entstammten zwei Töchter, und sein Großvater hatte nur einen Sohn: Michels Vater. Sowohl Großvater als auch Vater waren Landwirte, die Vieh und Ländereien besaßen, der Großvater handelte auch mit Land. Michels Mutter war das älteste Kind ihrer Eltern und hat noch mindestens einen Bruder und eine Schwester. Sie wurde 1929 geboren und heiratete 1950 Michels Vater. Michel ist das vierte Kind der Eheleute; seinem ältesten Bruder Daoud folgten seine Schwester Maria und sein

13 In der Fallrekonstruktion stelle ich auch die Abschnitte vor Michels Platzierung in Jerusalem relativ ausführlich dar, da sie für die Rekonstruktion seines Erlebens von Jerusalem notwendig sind. 14 Bei meiner Recherche habe ich keine statistischen Daten aus den 1950er Jahren gefunden. Die hier angegebenen aktuellen Zahlen dienen lediglich zur Orientierung für die Größe der Dörfer. Weitere Angaben können aus Anonymisierungsgründen nicht gemacht werden.

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drei Jahre älterer Bruder Anton, nach Michel folgten noch die jüngeren Schwestern Suha und Anna. Dieser Familienhintergrund deutet auf eine starke Verwurzelung in der christlich-ländlich geprägten Region hin. Die christliche Zugehörigkeit wird auch durch die Vornamen deutlich. Damit stellte sich die Frage des Verhältnisses von christlicher, arabischer und libanesischer Zugehörigkeit in der Familie und nach dem Verhältnis zu den ›Anderen‹ – einerseits zu den räumlich nahen palästinensischen, mehrheitlich sunnitischen Flüchtlingen und andererseits zu den sunnitischen, schiitischen und drusischen Libanesen in der näheren Umgebung. Während der 1950er Jahre gab es im Libanon zahlreiche innenpolitische Konflikte, die teilweise gewaltvoll ausgetragen wurden. Bereits in Michels Kindesalter war der Libanon politisch instabil (Traboulsi 2007: 128-137).15 Schließlich waren in dieser Periode eine zunehmende Verstädterung und die Unterschiede von Stadt und Land dominante gesellschaftliche Themen, ein Wegzug in die Stadt wurde auch in Michels Familie diskutiert. Das ist verbunden mit der Frage, ob der männliche Nachwuchs nach zwei ›spärlichen‹ Generationen die bäuerliche Existenz im Dorf weiterführen würde oder andere, lukrativere Karrieren in der Stadt anstreben sollte (ebd.: 159-164). Michel berichtet aber vor allem von einer ruhigen Kindheit, eingebunden in die Familie und christliche Dorfgemeinschaft. Seine Erzählungen aus seiner frühen Kindheit werden dominiert vom Großvater väterlicherseits, von seiner Mutter und vom religiösen Leben im Ort. Es ist unklar, ob der Vater nicht thematisiert wird, weil er eine eher schwache Rolle spielte oder eher negativ besetzt ist. Die zahlreichen durch Religion und Kirche geprägten Erinnerungen sind sicherlich auch seiner gegenwärtigen Position geschuldet. Jeder seiner Verwandten wird über Religiosität eingeführt. Beispielhaft ist Michels erste Antwort auf eine Frage nach seinen Kindheitserinnerungen: »Yeah of course there are memories well I remember for example the church, ha, I was very pious ah child very pious child well I I go-, ah I always got up so early und my mother told me go fast to the church the priest is coming you have to go to church, to open the doors and then read serve (what) small child of four five years I think, there I had and I was happy to get to church.«

Erst nach mehreren Nachfragen zu seiner Kindheit bricht Michel mit seinem Präsentationsinteresse und berichtet in einer langen Erzählung von ›ganz normalen‹ Kinder- und Jugendspielereien: wie er mit Altersgenossen ›ausgebüchst‹ ist und Zigaretten geraucht hat. 15 Die 1950er Jahre waren zudem eine Hochzeit des arabischen Nationalismus unter Führung von Gamal Abdel Nasser, was auch die kurzzeitige Vereinigung von Syrien und Ägypten Ende der 1950er Jahre zur Folge hatte (Freitag 2003).

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Michel deutet in Bezug auf seine Familie immer wieder an, dass sie finanziell nicht gut gestellt gewesen sei, weswegen seine Mutter als Aushilfe in einer Fabrik gearbeitet habe. Er beschreibt, wie sie sich für die Familie aufgeopfert habe und resümiert: »So we really lived a shi- hard life.« Besonders deutlich wird diese Darstellung bei der Erzählung vom Tod seiner Großmutter mütterlicherseits, die zuletzt bei der Familie gelebt hat. Diese habe, weil sie um die Armut der Familie gewusst habe, eine Krankheit verschwiegen, die Familie habe dies zu spät entdeckt, und sie sei an dieser Krankheit gestorben. Damit präsentiert er sowohl ihre Demut als auch die Armut der Familie. Doch gleichzeitig berichtet er davon, dass die Familie Land- und Viehbesitz gehabt habe, und Michels Erzählungen zu seinem Großvater, der mit ihnen unter einem Dach gelebt hat, konterkarieren seine Argumentationen zu Armut und Religiosität. Der Großvater wird als schillernde, gut rechnende und dem Leben zugewandte Händlerfigur geschildert. Auf Basis von mehreren familiengeschichtlichen Ereignissen liegt die Interpretation nahe, dass er den Zugang der Familie zu ihrem Besitz reglementiert hat. Im folgenden Textauszug wird deutlich, dass er einer der führenden Männer im Dorf war, der riskante Handelsgeschäfte abwickelte, vielleicht korrupt und vielleicht ein Spieler war und dabei gegen den Willen seiner Ehefrau handelte: »He has sold all this the watches the rings and the arm rings and everything made of gold, my grandmother has screamed with, her ah, ah she didn’t want, and with the money he bought land, so, and until today we are probably the the, we have a hundred families in the village, we are probably the how do you say the, the wealthiest when it comes to property […] he has also bought other pieces of land, with with=ah between friends, he has such a bunch of banknotes, with (fifty thousand) for sure, I was, we had no ( or in the village, (

), no electricity back then sixty-six,

) oil lamp and so on, they came the young the the, the the men (his) ha

and they also played cards, and I was sitting with school ah homework, I watched them from far, I was young, I saw my my grandfather, gives, give the other man, ten times three thousand Lebanese pound and the following year we have bought parcels in the village.«

Während die Erzählung über den Widerstand seiner Großmutter auf Fremderzählungen beruht, da diese schon kurz vor seiner Geburt gestorben war, sind Michels beinahe ›geheimen‹ Beobachtungen beim Deal für ihn sehr eindrücklich. Dabei hatte der Großvater schon im Jahr vor Michels Geburt eine große Niederlage einstecken müssen: Im Juli 1956 ereignete sich das Chim-Erdbeben, dessen Zentrum im Süd-Libanon war.16 Michels Großvater musste Land für Opfer zur Verfügung stel16 Bei diesem Erdbeben (das Chim-Erdbeben), das von Michel auch angesprochen wird, wurden 136 Personen getötet, 6.000 Häuser zerstört und 17.000 beschädigt (Brazee/ Cloud 1958: 50).

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len, die aus einer anderen Region ins Dorf umgesiedelt wurden; die Hälfte seines Besitzes wurde enteignet. Das könnte die finanzielle Basis der Familie empfindlich gestört haben, oder zumindest könnte es der Großvater so wahrgenommen haben. Aufgrund der Familientradition könnte die Überlegung, Kinder zur billigen Versorgung in das Knabenseminar zu geben, wieder eine größere Rolle gespielt haben. Das Verschontwerden vom Erdbeben könnte auch zu einem Gefühl der Dankbarkeit geführt haben und zum Versprechen, den im Jahr des Erdbebens gezeugten Sohn ins Kloster zu geben. Diese beiden Hypothesen werden relevant, weil, wie gleich zu sehen ist, zwei von drei Söhnen der Familie in die Klosterschule geschickt wurden. Zunächst wurde Michel 1963 in der staatlichen Grundschule in einem Nachbarort eingeschult. Zu dieser Zeit oder im Jahr danach wurde seine jüngere Schwester Suha geboren. Ab 1965, als Michel acht Jahre alt war, besuchte sein älterer Bruder Anton nach bestandenen Aufnahmeprüfungen das Knabenseminar. Wie stark der Großvater die Geschehnisse in der Familie bestimmt hat, ist daran ersichtlich, dass dieser selbst – so sagt Michel – Anton ins Knabenseminar gebracht hat. Das Knabenseminar war Teil desselben Klosters, in dem Michels Urgroßonkel Mönch gewesen war und das gleiche Kloster, in das sein Vater einen Teil der Ernte brachte und in das später auch Michel ging.17 Kurz darauf wurde Michels jüngste Schwester Anna geboren. Im Kontext der Thematisierung seiner Kindheit kommen seine Schwestern und sein älterer Bruder außer mit ihren Geburtstagen nicht vor. Sein Bruder Anton wird erst über dessen Einschulung ins Knabenseminar eingeführt. Während dies bis dahin ein nachvollziehbarer Vorgang für eine religiöse dörfliche Familie war, die sich selbst als nicht besonders einkommensstark verstand (obwohl sie über viel Landbesitz verfügte), waren die weiteren Entwicklungen eher ungewöhnlich. 1968, im Alter von elf Jahren, fiel Michel durch die Aufnahmeprüfungen für das Knabenseminar. Ein Jahr später wiederholte er die Prüfungen und wurde im September in das Seminar aufgenommen. Seine Erzählungen zu dieser Zeit und seine Argumentationen über die Gründe des Schulwechsels sind mannigfaltig, wie ich im Folgenden darstelle. Sie deuten darauf hin, dass Michel bis heute selbst nicht weiß, warum er auf das Knabenseminar geschickt worden ist, was bei ihm eine tiefe Unsicherheit darüber hervorrief, die bis heute spürbar ist, da diese Entscheidung sein ganzes Leben beeinflusst hat. Es ist nicht vollkommen klar, wer die treibende Kraft hinter seiner Einschulung ins Knabenseminar war, aber vieles deutet auf den Großvater hin, der vermutlich die Kontrolle über die Familie hatte. Michel selbst nennt zum einen rein »ökonomische Gründe«, die dem Großvater vorgeschwebt hätten: »There the monastery it can mh can as boarding school yes, care for and probably save a little bit, for the family.« Für die Knabenseminare, an deren Absolventen vom Orden die Erwartung 17 Der Orden kann aus Anonymisierungsgründen in seiner Größe und Befasstheit nicht näher eingeführt werden.

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gesetzt wurde, dass sie eine Priesterausbildung beginnen, musste nur ein nominales Lehrgeld bezahlt werden, das viel geringer war als das der angeschlossenen Klosterschule. Ein weiterer Grund scheint in einer prominent platzierten verdichteten Situation auf, in der Michel beschreibt, wie er sich vor der Arbeit auf dem Feld gedrückt habe, die sein Großvater angeleitet habe, weil er schon immer die bäuerliche Lebensweise verachtet habe. Vielleicht hat der Großvater entschieden, dass Michel als Landwirt ungeeignet sei und hat ihn deswegen in das Knabenseminar gegeben. In einer anderen Begründung gibt Michel die Gottesfurcht des Großvaters als Grund an: »Because my grandfather he also knew that he and his son, had only one son, my father and so on, and if both of us also go in the priest in the ( ) in the monastery, that means not married, but he has left it, has trusted ah God.« Hiermit ist bereits angesprochen, dass die meisten Priester in dieser Kirche Mitglieder des Ordens werden und unverheiratet bleiben. Weiter oben war es bereits eine Interpretation, dass Michel aus Dankbarkeit, nicht im Erdbebengebiet gewohnt zu haben, an die Kirche gegeben wurde, obgleich schon ein anderer Sohn der Familie dort war. Natürlich ist es auch möglich, diesen Schritt so zu lesen, dass Michel hierdurch eine besondere Delegation übergeben wurde – die finanzielle oder intellektuelle Weiterentwicklung des Familienstatus –, die nur durch eine gute Ausbildung, die das Knabenseminar bot, zu verwirklichen war. In diesem Sinne wäre der Eintritt in das Knabenseminar ein Bildungsauftrag. In einer weiteren Begründung argumentiert Michel, dass er von seinem Bruder durch die Darstellung der ›weltlichen‹ Aktivitäten im Kloster dazu überredet worden sei, dorthin zu kommen. Oder, wenn man den biblischen Vergleich im folgenden Zitat ernstnimmt, dass er von seinem Bruder durch dessen Überredungskunst verraten wurde: »Say, ah, Judas has also turned in Jesus and but it has ah what that that, normal course, normal course, of life, (but) that was in God’s plan, he, and now was ah, turned in and then went turn- ah crucified, ah, was he right or not that is- and so it also happened with me, my brother was the very first, they have him, and my brother was also intelligent also hm, and have him and when I=I and has told me of course has only inspired me, yes in the monastery, special here we do trips (we also use) cinemas film we always have films here specially […] and that was the reason back then I came a first and a second time I told you ah and then I was in the, in the monastery.«

Michel spricht von seiner »Auslieferung«, es bleibt aber unklar, welche weiteren innerfamilialen Verhandlungen damit zusammenhingen. Dass alle Aspekte seiner Lebensgeschichte religiös gerahmt und aufgeladen werden, ist aber auch an diesem Vergleich seines Schicksals mit Jesus deutlich. Auf jeden Fall gehe ich davon aus, dass bereits das der Einschulung vorausgegangene Scheitern bei den Prüfungen ein Jahr zuvor eine starke Kränkung oder Belastung für den mit ca. zwölf Jahren sich in

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der frühen Adoleszenz befindlichen Michel bedeutet hat. Aus dieser Niederlage könnten mangelndes Selbstbewusstsein, Konkurrenzwahrnehmung (zum Bruder) oder übersteigerte Leistungsorientierung resultiert haben. Verschlimmert wird diese Niederlage dadurch, dass sowohl Anton als auch er bei seinem ersten Versuch vom Großvater selbst ins Kloster gefahren worden seien. Bei Michels zweitem Versuch aber, so betont er, sei nur der Dorfpriester mitgekommen. Damit wird ein Unterschied zwischen ihm und seinem ›intelligenteren‹ Bruder aufgemacht. Das erste Bild, an das er sich von sich selbst erinnere, sei eines, das ihn ein Buch lesend zeige, so Michel. Diese Überbetonung der formalen Bildung und der Wunsch, dass diese gewürdigt werde, ist sicherlich mit der Zeit dieser biographischen Niederlagen und der daraus resultierenden Unsicherheit beim Wechsel auf das Knabenseminar verknüpft. Dies beschäftigt ihn bis in die Gegenwart im Interview: In der Haupterzählung, aber auch im Nachfrageteil betont er, ein intelligenter Schüler gewesen zu sein (s.u.) und immer alle Prüfungen bestanden zu haben. Die Verknüpfung der Familie mit dem Orden hatte einerseits einen familiengeschichtlichen Hintergrund, andererseits war es ungewöhnlich, dass mit Michel ein zweiter Sohn in diesen kirchlichen Kontext gegeben wurde. Michel selbst war und ist sich der Gründe dafür nicht bewusst. Kurz vor dem Beginn der Pubertät fand sich Michel in einer starken Abhängigkeitssituation im Knabenseminar wieder, die das Dorfleben bzw. seine bisherige Kindheit als ›frei‹ erscheinen ließ und die auch mit dem negativen Erlebnis des gescheiterten Aufnahmetests verknüpft war. Jugend im Knabenseminar: Relevanz von schulischen Leistungen Michels Berichte über die erste Zeit im Knabenseminar spiegeln eine starke Kontrollsituation wider, in ihnen wird aber auch Positives hervorgehoben. So berichtet Michel, nach den ersten drei Monaten im Knabenseminar sei er zu Weihnachten nach Hause gekommen, »and I I really gained weight, I came a bit slim and we ate well in the=in the seminary, and my mother was surprised, ((ahmt Erstaunen nach)) /you really, ( )/ then was there three months ((lacht)) everything was always regulation so according to the regulation and everything eaten ah, duly.« Dieses Zitat lässt sich unterschiedlich deuten: Wenn das erste Ziel der Einschulung auf das Knabenseminar darin bestand, Kosten zu sparen, so hat sich die Entscheidung als richtig erwiesen. Eine weitere Interpretation ist, dass Michel ins Knabenseminar geschickt worden ist, weil er zu Hause zu wenig gegessen hat (was auf physische oder psychische Ursachen hindeuten kann). Die Familie hat seinen Schulaufenthalt in beiden Fällen als Erfolg gesehen. Michel hingegen berichtet nicht über seine Sicht, wie sich das Verhältnis zu seiner Kernfamilie, zu seinen Mitschülern und Oberen und zu seinem Bruder entwickelt hat und ob er zum Beispiel Heimweh empfunden hat. Er erzählt aus seinen ersten Jahren im Knabenseminar nur eine detailreiche Geschichte, wie er im Alter von 13 Jahren bei einem Badeunfall während eines Zeltlagers beinahe ertrunken sei:

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»And then I have played, with water with the, with the, teacher, ah, and he has pushed me a little, in the water and I fell so my feet, didn’t touch the- the ground anymore, and I cannot swim, so I have also swallowed water, and I, I- I d- drowned so I have, ((amüsiert)) sunk so and the ((ahmt Erschrecken nach)) /where is he/ and I remember someone took me out by the head, so ah I could not breath anymore really I, and that was a short way from the water- waterfall hm […] that was bad expe- maybe I get now then problem, of that I have now ((lachend)) now I have when I cannot swim now, probably because of that.«

Michel erscheint als schwach und hilfsbedürftig – wie zum Zeitpunkt, als er in die Klosterschule kam –, als einer, der bei einer kleinen Berührung untergeht, handlungsunfähig ist und gerettet werden muss. Diese ›Schwäche‹ könnte für Michel auch eine schwache Stellung in der männlich geprägten Knabenseminargemeinschaft bedeutet haben und ein schon vorhandenes Unsicherheits- oder Minderwertigkeitsgefühl verstärkt haben. Im unmittelbaren Interviewverlauf wird diese Negativerfahrung mit seinen schulischen Leistungen konterkariert, die auch im weiteren Interview ein Ankerpunkt seiner Darstellung sind. Die meisten seiner Erzählungen und Argumentationen über jene Zeit handeln von seiner intellektuellen Überlegenheit. Er berichtet zum Beispiel von den Brevet-Prüfungen – die Abschlussprüfungen zu Ende der 9. Klasse – im Jahr 1971 im Alter von 14 Jahren. Die schulischen Leistungen sind für Michel offenbar das einzig Erzählbare – sie rechnen seine Schwächen in anderen Gebieten auf. Freundschaften, Adoleszenz oder Hobbies werden nicht erwähnt. Am folgenden Zitat wird dies deutlich; darin drückt er aus, er sei – abgesehen von den ersten Jahren, als es einen weiteren guten Schüler gegeben habe – immer der Klassenbeste gewesen. Darin wird aber auch deutlich, wie sehr er versucht, andere Erinnerungen abzuwehren. Dies wird an dem Ausruf »ah my goodness«, dem vielfachen »no« und der längeren Pause deutlich: »Many things in the seminary and in the studies with teachers with a lot of things to tell ( ) whole life ( ), ah my goodness no=no=no=no=no that (3) I was, but in short, I can say I was really intelligent student I have also made competition to firs- to the first position in class from (sixieme) unte- until A-levels, six years we have always, always one time he the first one time I the first in class ((spricht Arabisch)) awwal awwal ṣaff bi-ṣaff yaʿnī šayʾ muhimm [first first class=in class, yaʿnī an important thing] ((J: hm)) so, from until Brevet he he left, the the school then I always was only alone.«

Er erzählt detailliert, wie er bei einer Protestaktion gegen einen schlechten Lehrer führend mitgewirkt habe. Der Rektor habe viele Schüler bestraft, ihn aber nicht, weil er der Klassenbeste gewesen sei. Seine Betonung dieser Erfolge deuten sowohl auf die Relevanz dieser in der Situation des Erlebens hin; dadurch, dass sie das Interview durchziehen, sind sie aber auch ein relevanter Teil seiner Selbstpräsentation in der Gegenwart. Er berichtet zudem noch, dass er ein »leader« gewesen sei, der

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Gruppen habe führen können. In der 11. Klasse habe er einen Preis gewonnen für die »activation of the community«, was bereits auf die Argumentationen zu seiner seelsorgerischen Begabung als Priester verweist. Michels Bruder Anton hat nach seinem Abitur ca. 1972 sein einjähriges Noviziat begonnen. Nach dem Ablegen seiner Gelübde nahm er ein Theologiestudium auf. Das heißt, dass er sich für ein zölibatäres Leben entschied, obwohl die meisten Ostkirchen auch das Konzept des verheirateten Priesters kennen. Zwar leben die meisten Priester zölibatär, aber gerade Gemeindepriester sind hin und wieder verheiratet – so wie zum Beispiel jener in Michels Herkunftsdorf. Wenn ein Priester heiraten will, dann kann er dies nur tun, wenn er noch nicht seine Gelübde als Mönch abgelegt hat und nur vor seiner Ordination als Priester. Allerdings werden die in der Hierarchie höherstehenden Funktionsträger (z.B. Bischöfe) ausschließlich aus den Reihen des zölibatären monastischen Klerus ausgewählt.18 Das heißt für Michel, dass für ihn sowohl der Weg offen gestanden hätte, die kirchliche Laufbahn wie viele Mitschüler aus dem Knabenseminar ganz zu verlassen, als auch, verheirateter Priester zu werden. Aus seiner jetzigen Warte scheint dies noch immer ein Thema zu sein, das ihn beschäftigt. So urteilt er über den von ihm geliebten Gemeindepriester seiner Kindheit: »Even though he had a family with eight children, but he was very very really very holy.« Von den 39 Schülern seiner Klasse begannen lediglich drei ihr Noviziat. Es ist unklar, ob Fragen der beruflichen Zukunft innerhalb der Kirche in der Familie offen angesprochen oder als latente Aufträge verhandelt wurden. Sein Bruder hatte bereits die ›Aufgabe‹ übernommen, der Kirche zur Verfügung zu stehen, und es ist die Frage, ob Michel von vornherein Priester werden sollte oder lediglich die billige Ausbildung in Anspruch nehmen und danach einen ›zivilen‹ Lebenslauf einschlagen. Im Text findet sich jedoch in Bezug auf die Schulzeit keine manifeste Auseinandersetzung mit diesen Fragen, obwohl das Thema ›verheirateter Priester‹ von ihm relativ häufig angedeutet wird. Stattdessen diskutiert er prominent eine Art Erweckungserlebnis während eines Gottesdienstes in der 11. Klasse: »It was for me a=a, a, disentcha- ah, ecstasy, I have not felt anymore, like in heaven, a few seconds I was like in heaven, so then, so then I have decided afterwards it was really we have (2) spirituality to Jesus, ha, one is young and one is ah (2) really have all possibilities, the Christ our belief, our belief, our knowledge, our relations ahm spiritual relation, and as and is also very ah good and very, pastoral and very, yeah (2) and afterwards I have decided to write my journal (2) ah journal.«

Während das Zitat wie eine ›typische‹ Erweckungserzählung beginnt, ist die Konklusion untypisch. Zwar liefert er mit der Erzählung dieses Erlebnisses eine spiritu18 Auch an dieser Stelle wird aufgrund der Anonymisierung kein Beleg angeführt.

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elle Begründung für sein Mönchstum. Es wäre aber zu erwarten, dass Michel seinen Entschluss zur Priesterlaufbahn auf dieses Erlebnis zurückführt, stattdessen mündete der Gottesdienst in die relativ triviale Entscheidung, eine Art geistliches Tagebuch zu führen, was die Relevanz dieses Ereignisses etwas entkräftet. Abitur und Studium: Bildungsversprechen und Fremdbestimmung Es ist schwierig, die Jahre zwischen Michels Abitur und dem Ende seiner Studienzeit zu rekonstruieren. Das liegt daran, dass es eine Vielzahl an wichtigen biographischen Ereignissen gab und dass der Libanon seit 1975 in den Wirren des Bürgerkrieges versank. 1975 begannen die Auseinandersetzungen vor allem mit Kämpfen zwischen maronitischen und palästinensischen Gruppen.19 Linke und panarabische Anhänger solidarisierten sich mit den Palästinensern. Am ›Schwarzen Samstag‹, dem 6. Dezember 1975, begannen christliche Phalange-Milizen, christlich geprägte Gebiete Beiruts zu kontrollieren und töteten ca. 200 Muslime. Daraufhin gab es Gegenangriffe. Am 18. Januar 1976 verübten maronitische Milizen ein Massaker an ca. 1.000 Palästinensern, das umgehend gerächt wurde (Traboulsi 2007: 191193). Beirut wurde zunehmend in einen christlichen und einen muslimischen Teil getrennt. Der Einfluss säkularer Kräfte schwand, der Krieg nahm sektiererische Züge an. Der Libanon wurde in wechselnde Einflusssphären geteilt, wobei die sogenannte Grüne Linie in Beirut die bekannteste und wichtigste Trennlinie war. Der Bürgerkrieg war ein komplexer Prozess, der bis zu den Ta’if-Friedensverhandlungen von 1989 in unterschiedlicher Intensität andauerte. Die Allianzen zwischen den verschiedenen Fraktionen waren instabil und veränderten sich erheblich (ebd.: 187-239). Sein Christsein ist für Michel in dieser Periode sicherlich bedeutender geworden – und er wird als Mönch in Alltagskonstellationen stärker als Christ wahrgenommen worden sein. Seine Universität befand sich in einem mehrheitlich christlich geprägten Gebiet, während seine Herkunftsregion stark gemischt war – durch das Studium begab er sich also an einen vergleichsweise sicheren Ort im Kontext des Bürgerkrieges, während große Teile seiner Familie im Dorf zurückblieben. 1975, als er 18 Jahre alt war, absolvierte Michel einen ›ersten Teil‹ des Abiturs und trat ins einjährige Noviziat in seinem Orden ein. Er spricht selbst von der Zweiteilung des Abiturs, wobei nicht genau rekonstruierbar ist, was er damit meint. Die Prüfungen, die er 1975 ablegte, seien nicht zertifiziert worden. Michel konnte aber ein Jahr später an der Universität seine Abiturprüfungen noch einmal ablegen und daraufhin mit dem Studium beginnen. Es ist nicht zu rekonstruieren, ob diese Teilung des Abiturs bereits mit dem Libanesischen Bürgerkrieg in Verbindung stand 19 1970/71 war die PLO nach dem ›Jordanischen Bürgerkrieg‹ aus Jordanien in den Libanon geflohen und begann, West-Beirut zu ihrer Einflusssphäre zu machen. Auch im Süden des Landes hatte die PLO einen starken politischen Einfluss (Harris 2012: 222-227).

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oder ein Problem in Michels Schule war. Vor Studienbeginn 1976 hat Michel nach Ende des Noviziats die Gelübde auf Keuschheit und Gehorsam dem Orden gegenüber abgelegt. Nach dem darauffolgenden ›zweiten Teil‹ des Abiturs begann er, in Beirut Geschichte und Theologie zu studieren. Auch das Ablegen des Abiturs stellt er als herausragenden schulischen Erfolg dar: »And then I have really repeated everything and wrot- and al- and with complete success ah passed so, first I was also the first of fifty in my class (2) was the first of all.« Michel folgte also seinem Bruder und wurde Mönch. Abgesehen von der oben erwähnten ›Erweckungserzählung‹ gibt es im Interview keinen Hinweis darauf, wie es zur Entscheidung hierfür kam – ob es familial gewollt war, dass er im Orden bleibt, oder ob er selbst darauf drängte. Wahrscheinlich hatte Michels ältester Bruder Daoud zu dieser Zeit noch keine männlichen Kinder, so dass sich die Frage nach männlichen Nachkommen weiterhin stellte. In der damaligen politischen Situation war das Kloster allerdings eine vergleichsweise gesicherte Umgebung in zunehmend unsicheren Zeiten. Die Studienfinanzierung war garantiert, Michel konnte also seinen Bildungsaufstieg fortsetzen – für ihn wahrscheinlich gerade deshalb wichtig, da einiges darauf hindeutet, dass die schulischen Erfolge ihm ein gewisses Selbstbewusstsein verliehen haben. Ein allzu ausgeprägter Drang nach mehr Bildung konnte aber mit dem Willen der Oberen im Orden kollidieren und zu Konflikten führen, vor allem wenn er mit einem gewissen Karrierebewusstsein verknüpft war. Vielleicht hat Michel bei seiner Entscheidung aber keine langfristigen Strategien entwickelt, sondern aus Begeisterung für die Kirche, einer wahrgenommenen Sicherheit im Glauben oder aufgrund von kurzfristigen Versprechen gehandelt. Michels Universitätszeit begann mit einem grundlegenden Konflikt mit seinen Oberen, in dem für Michel sichtbar wurde, dass er im Orden keine eigenständigen Entscheidungen treffen kann und die besitzergreifende Institution mit einer Fremdbestimmung verknüpft ist, gegen die Michel im Laufe dieses Konflikts protestierte. Der Konflikt beeinflusste seine Wahrnehmung dauerhaft und wirkte sich später auf sein Erleben der Platzierung in Jerusalem aus. Im Interview spricht Michel darüber in einer langen und viele Jahre überbrückenden Erzählung. Im Absatz zuvor – noch während des ersten Interviewtreffens – berichtet er von seinen durchgängig herausragenden schulischen und universitären Leistungen, um dann eine Geschichte zu beginnen: »After half a year one had to, had to decide ((J: to decide yes)) in which direction, and I wanted I also got to know a woma- a girl wanted to I wanted to continue studying with her also yea, but he was, no the rector was really strict even though he was a theologian and had always taught history at university ((J: hm)) and theology, but he wanted that I only do one kind of study, ahm ((Räuspern)) only fifth years, five years says ten terms, not more, so three years history (3) three years […] introduction fundamental ah knowledge, so history and then theology, altogether five years then you must be priest you can be ordained priest.«

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Michel widerspricht dem Rektor und verlangt von ihm, dass er ein eigenständiges Geschichtsstudium absolvieren dürfe, denn schließlich sei er ein intelligenter Student, er sei in »no rush to become priest«. Er erzählt weiter: »And then I wanted to continue studying history four years separately (2) ((klopft)) and then there are the five years theology, I have said ((klatscht)) no, I want to stu-, no you do as I want ((klatscht)) and I already was, had already taken my vows ((klopft)) and had to be obedient and everything, I said no, I do not want, then (2) I have said ((klatscht)) I will history, like this, like this girl and anyhow ah I was, was also, we have, ah, no (2) but I also wanted anyhow st- study history because I knew history is important for the study of theology, especially the old history of biblical times (2) out of=of=of of course out of scientific reason I wanted to continue studying for everything, why should I start now, and it was morning and afternoon that means ((amüsiert)) /I couldn’t even see my friend/ when I come afterno- morning, then she also comes afternoon and that is, no more-, but I have, said no I will also ((klopft)) study history, then said no you don’t stay in seminary then you are expe- expelled, leav- left, dismissed (2) said no then I go, away (2) but I know this is my vocation but I ((klatscht)) want to study but where you are not, I am from- ah all my colleagues come, come with the seminarians and say ah stay Michel, said no I want to do what I want (2) I, I go.«

Michel wollte sowohl ein gesamtes Geschichts- als auch ein gesamtes Theologiestudium absolvieren.20 Der Rektor des Priesterseminars gestand ihm aber nur ein fünfjähriges Theologiestudium mit einem Grundstudium in Geschichte zu. Als Michel das ablehnte, wollte der Rektor ihn aus dem Priesterseminar entlassen, und Michel stimmte dem zu. Bereits ein Jahr nach dem Ablegen seiner Gelübde geriet Michel in einen grundlegenden Konflikt, in dem es um seine Sexualität und um die Gehorsamspflicht dem Orden gegenüber ging. Es wird an dieser Stelle deutlich ersichtlich, dass seine Argumentationen über seine schulischen Leistungen, die er bis heute regelmäßig vorträgt, nicht notwendigerweise nur mit seinem Bildungsauftrag und seiner Position im Knabenseminar zusammenhängen, sondern von ihm erfolglos auch als Argumentationsschablone verwendet wurden, um seinen Studienwillen durchzusetzen. Jener Studienwille war auch mit dem Wunsch nach der Möglichkeit verknüpft, das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, zu sehen. Im zweiten Teil des Zitats verfällt Michel in die Vergangenheitsperspektive, spricht mit erhobener Stimme und durchlebt das Gespräch mit dem Rektor; darin erläuterte er gegenüber ihm – vielleicht nur aus taktischen Gründen –, dass es ihm um die wissenschaftliche Weiterentwicklung gehe und dass er keine Eile habe, Priester zu werden. Es ist unklar, ob Michel bereits zuvor Interesse gezeigt hatte, Geschichte zu studieren, doch ist es fraglich, ob nur sein Wissensdurst ihn so konfrontativ in diese 20 Andere von mir befragte Mönche in Jerusalem haben Archäologie, Psychologie, Soziologie, Sprachen, Islamwissenschaften oder Philosophie studiert.

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Unterredung gehen ließ. Ein Geschichtsstudium bedeutete vielleicht auch, dass er es schaffen könnte, den Bruder, der nur Theologie studiert hatte, intellektuell zu überflügeln und Distinktion zu schaffen. Michel deutete damit zusätzlich an, dass er sich für ›höhere‹ Aufgaben als für die eines einfachen Gemeindepriesters berufen sah. Es ist die Frage, ob er von vorneherein die Vorstellung hatte, den Orden zur Förderung eines Studiums zu nutzen, das ihn zu einem anderen Ziel als dem des einfachen Ordensmanns führen sollte. Zwar äußerte er, dass es weiterhin seine Berufung gewesen sei, Priester zu werden. Doch in diesem Moment war es für ihn sicherlich eine Frage, ob die Entscheidung für ein monastisches Leben die richtige gewesen war oder ob er sich besser hätte als verheirateter Priester ordinieren lassen sollen. An Seitenbemerkungen ist zu ersehen, dass Michel sich mit seiner möglichen Zukunft intensiv auseinandersetzte. So erwähnt er, dass er sich beim Abfassen seines Tagebuchs viele Gedanken über das Heiraten und »of=ahm joint life« gemacht habe. Zwei Wochen nach dem Konfliktgespräch hat der Rektor ihm nach Intervention des Generaloberen, also des Vorstehers des Ordens, und eines Bischofs ein Kompromissangebot gemacht: Er dürfe ein gesamtes Geschichtsstudium absolvieren, darauf aufbauend allerdings kein ganzes Theologiestudium, sondern lediglich ein Einführungsstudium. Michel ging schließlich auf diesen Kompromiss ein, der seine ursprüngliche Studienidee um zwei Jahre verkürzte, aber ihm ein vollständiges Geschichtsstudium ermöglichte. Von nun an erwähnt Michel im Interview seine ›Freundin‹ nicht mehr. Vielleicht haben sie sich aus den Augen verloren, als klar wurde, dass er seine ›Berufung‹ nicht aufgeben würde. Michel erzählt von seiner restlichen Studienzeit beinahe nur noch von der Energie, die er in seine Studien gelegt habe. Der Kriegsverlauf und seine damit verknüpften Erlebnisse führt er nicht aus, in dieser Phase des Krieges scheint das Studium am sicheren Ort der Universität wichtiger gewesen zu sein. Der Orden hat Michel sicherlich als ›Problemstudent‹ deklariert, und er wird unter besonderer Kontrolle gestanden haben. Vielleicht versuchte er, sich durch seinen Eifer bei seinem Orden zu beweisen oder die Oberen zu beschwichtigen. Die Studienjahre zwischen 1976 und 1979 beschreibt er in einer verdichteten Situation: »I went, every morning ((klopft)), got at six o´clock, service until seven o´clock then breakfast brief fast, and then ((klopft)) to university (quarter) hour with the car, and then starting half past eight until ((klopft)) twelve or, yes new- four ah two ((klopft)) one and a half hours every séance class and then half hour hour and break, so three hours yes and then I came back drove home […] then we had, lunch, short rest a little probably five minutes and then off again to the university ((klopft)) history, morning was theology history ((klopft), so ah, lasts fo- four years, five ((klopft)) (2) four years I have done this story […] ((klopft permanent)) […] and I have succeeded in all exams to the last dot ((klopft)).«

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Mit dieser verdichteten Situation kehrt er zur Beschreibung seiner Leistungen und Erfolge zurück, die nur unter Berücksichtigung der früheren und späteren Niederlagen interpretiert werden kann. An der auch haptischen Begleitung seiner sprachlichen Ausführungen im oberen Zitat ist bereits erkennbar, dass die Studienleistungen noch in der Gegenwart für ihn Relevanz haben. 1980 veröffentlichte er einen wissenschaftlichen Artikel über die frühe Kirchengeschichte. Nach außen identifizierte er sich also stark mit der Kirche – aber über die wissenschaftliche Beschäftigung und nicht als einfacher, demütiger Mönch. Zur ungefähr gleichen Zeit wurde sein Bruder Anton ordiniert und von seinem Orden als Priester in die USA geschickt. Seine Schwester Maria wohnte zu jener Zeit schon in Beirut, war verheiratet und hatte Kinder. Sein älterer Bruder Daoud zog gegen Ende der 1970er Jahre ebenfalls in die Stadt und arbeitete für eine Lebensmittelfirma. Daoud heiratete und bekam einen ersten Sohn. In der Familie gab es also eine klare Trennung zwischen ›gebildeten‹ Klerikern einerseits und unstudierten Kindern mit Familie andererseits. Während die einen die ›physische‹ Reproduktion auf sich nahmen, kümmerten sich Michel und Anton um das kulturelle Kapital. Die Ordination des einen und die Hochzeit des anderen Bruders und der Schwester erwähnt Michel genauso beiläufig wie die politischen Entwicklungen im Libanon, in dem sich der Bürgerkrieg Ende der 1970er Jahre zuspitzte und internationalisierte. Doch Michel bietet sich im Interviewkontext in seiner Erinnerung nur seine Universitätskarriere an. 1979 beendete Michel sein Geschichtsstudium und fuhr mit dem Theologiestudium fort. Parallel dazu begann er, Englischkurse zu belegen. Er begründet die Wahl wiederum mit theologischen und wissenschaftlichen Relevanzen: »I said, maybe I do liturgy, specialization I said I said to myself liturgy is life and praying […] but I have myself best, learn English ((J: hm)), I have studied English (2) because as that I think I sai- already mentioned, because all new theological literature is in English.« Es ist die Frage, ob diese Wahl mit dem Orden abgesprochen war oder ob er auf ›eigene Faust‹ handelte. Seine Begründung, die Entscheidung sei wegen der theologischen Literatur gefallen, hört sich wiederum so an, als ob es die offizielle Version für den Orden gewesen sei. Es könnte ihm auch um die Verbesserung seiner Chancen auf eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung gegangen sein oder um eine gezielte Internationalisierung seiner Arbeitsmöglichkeiten. Den Sommer 1980 verbrachte er auf Einladung der Catholic Church in England and Wales in Leeds und absolvierte dort weitere Sprachkurse, das heißt, er nutzte die Ressourcen und Verbindungen der Kirche für seine persönliche Weiterbildung. Auf Michels Studienende im Spätsommer 1981 folgte Anfang Oktober desselben Jahres seine Ordination zum Priester. Michel kommt während des Interviews ständig auf seine beiden Studienabschlüsse zu sprechen. Diese sind ein Teil seiner Individualisierung, sie sind aber, wie zu sehen sein wird, auch Ausdruck eines verletzten Stolzes, da er die Ziele, die er mit seinem Studium im Auge gehabt hatte,

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nicht erreichen konnte. Er hadert im Interview mehrere Male damit, dass der Theologieabschluss nicht als vollwertig interpretiert wird. Im Folgenden eine der zahlreichen argumentativen Stellen, in der dies deutlich wird: »Six years, counted for eight years, ((J: hm)) so eight years instead of four and four I will have, six (2) but not completely so say five […] seventy-six until eighty-one five years ((J: yes)), I have, the the orie- o normally it is five, five, he ((J: hmhm)) I have hm I have four separately, but meanwhile it was, I was eighty with eighty-one were two additionally ((J: yes)) I had already done four, or three before then, and then the two remaining, well=well (2) […] and I have still received, a (2) M, BA ((J: hmhm)) said to us back then that we (

) for

until MA ((J: hm)) back then, hm (2) BA in history, I still have the certificate, and theology also M ah BA theology also separately and additionally very good English language and also many human friendships and acquaintances and contacts and so.«

Die Studienjahre waren für Michel prägende Jahre, während derer er auf der einen Seite ein relativ selbstbestimmtes Leben führen konnte und sich in Richtung einer wissenschaftlichen Karriere orientierte, auf der anderen Seite bereits massiv die kontrollierende besitzergreifende Institution des Ordens verspürte. Mit der Ordination wurde unter dieses Leben ein Schlussstrich gezogen, er begab sich vollständig unter die Kontrolle des Ordens. Das wird bei ihm Unsicherheit, aber auch die Hoffnung ausgelöst haben, dass sich die Investition in seine Bildung trotz des frühen Dissenses mit dem Orden gelohnt hat und er seinen Bildungs- und Karriereweg mit einer Promotion wird fortsetzen dürfen. Das war es, wie zu sehen sein wird, was er sich erhofft hatte und was ihm gleichzeitig weitere Freiheiten gegeben hätte. Michels Platzierung in Jerusalem 1981: Gebrochenes Versprechen des Ordens und Michels Bearbeitung der Enttäuschung Nach seiner Ordination brach Michel zu einer weiteren sechswöchigen Sprachreise nach England auf. Mitte November 1981 kehrte er in sein Heimatkloster im Libanon zurück. Wenige Tage danach eröffnete ihm der Generalobere, dass er nach Jerusalem berufen werde. Als Begründung führte er unter anderem an, dass Michel sehr gut Englisch spreche und so jemand dort gebraucht werde. Am 28. Dezember 1981 zog er mit 24 Jahren nach Jerusalem. Dort erklärte ihm der Vorsteher des Ordenshauses, dass er Priester für ein großes kirchliches Sozialzentrum in der Umgebung werden solle. Diese Berufung nach Jerusalem war für Michel eine äußerst große Enttäuschung und Demütigung; ein großer Schock. Zum einen wurde er plötzlich aus der universitären Umgebung entfernt, und er hatte, das wird deutlich, sehr auf eine wissenschaftliche Karriere gehofft. Diese Hoffnung hatte sicher auch den Ansporn für sein anstrengendes Studienpensum gegeben. Wie ich ausgeführt habe, war seine Bildungskarriere die wichtigste Quelle für sein Selbstbewusstsein während der Schul-

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und der Universitätszeit. Die Enttäuschung über die Platzierung in Jerusalem trägt noch heute zur Überbetonung seiner Studienleistungen bei. Wie weiter unten zu sehen ist, wirkte diese Enttäuschung damals so stark, dass Michel noch heute immer dann, wenn er über seine Platzierung in Jerusalem redet, diesbezüglich argumentiert, hadert und sein Präsentationsinteresse, sich als erfolgreichen Priester darzustellen, verlässt. Michel hatte sich erst kurz vor seiner Platzierung in Jerusalem durch die Ordination an die Kirche gebunden. Vielleicht hatte er dafür die Anerkennung seiner Wünsche und der von ihm geleisteten Anstrengungen an der Universität erwartet. Stattdessen wurde Michel – wie zu Beginn des Studiums – von seinem Orden enttäuscht. Vielleicht waren sich die Verantwortlichen dessen nicht bewusst, vielleicht haben sie es aber auch als Disziplinierungsmethode für einen potenziell Widerspenstigen gewählt. Das Schreiben seines spirituellen Tagebuchs, das er zehn Jahre lang geführt hatte, gab Michel mit der Ankunft in Jerusalem auf. Michel betont im Interview, wie schwer es ihm zunächst gefallen sei, in Jerusalem mit der Seelsorgearbeit, die vor allem mit Kranken und Jugendlichen zu tun hatte, zu beginnen. Dann argumentiert er aber, wie viel Spaß ihm diese Aufgabe gebracht habe und dass er am Ende traurig gewesen sei, als er Jerusalem wieder habe verlassen müssen. Die Interpretation liegt nahe, dass er sich über die Jahre in diese Akzeptanz ›hineingekämpft‹ hat und dass er am Ende seines Aufenthaltes tatsächlich den Priesterberuf und Jerusalem für sich akzeptiert hat. Das hat auch – wie weiter unten zu sehen ist – mit einer Änderung seines Deutungsmusters zu tun. Er sah seine Position in Jerusalem später insofern als ›Segen‹, als er dort ein soziales transnationales Netzwerk aufbauen und seiner Familie während des libanesischen Bürgerkrieges helfen konnte, als sich die Kriegssituation nach 1982 noch einmal zuspitzte. Trotzdem schwingt bei jeder Thematisierung seiner ersten Jahre in Jerusalem die ursprünglich starke Enttäuschung mit. Sie konstituiert somit nachhaltig seine Wahrnehmung der Stadt. Dies wird bereits in der Haupterzählung (vgl. Kap. 9.2.1) deutlich: Nachdem Michel seine kurze ›Erfolgsgeschichte‹ des erfolgreichen Priesterlebens erzählt hat, kommt seine Haupterzählung ins Stocken, und er fragt mich, was er noch erzählen solle, worauf ich ihn ermuntere, weiterzuerzählen. Daraufhin führt er das thematische Feld des ersten Haupterzählungsteils weiter, nämlich dass er immer »near to the people« gewesen sei – also das erfolgreiche Priestertum. Nachdem er einige Zeit darüber argumentiert hat, versucht er, diese Argumentation in einen chronologischen Rahmen zu bringen. Er beginnt, von seiner ersten Einsetzung in Jerusalem 1981 zu sprechen. Doch umgehend präsentiert sich ihm die konfligierende Erlebnisebene der Enttäuschung und des Gefühls der Niederlage. Er betont, wie gut er an der Universität ausgebildet worden sei und dass er sich gewünscht habe, seine Karriere dort fortsetzen zu können und zu promovieren:

358 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT J: As I said at first I’d like to give you the chance to talk about what you would like to talk about M: Ah, ahm (3) yeah, so, so my experience, on pastoral level, ah for us ah, for our church, it is important, ah, if you are a priest and a pastor, and this was my, my experience from the beginning, ah, that one is near to the people, ah, has to be near […] I could get to know all their problems well and ah I was so the people trusted me [stark gekürzt; er argumentiert weiter…] when I […] I came, my first, my foot was first time in the holy country here, then I was priest, and of course I had no experience I was here a=a student at university and no previous no experience I was good of course, and I even wanted also to continue studying to specialize do a PhD, hm I was the one, I had good mar- I was like among the first at the university one cannot speak about oneself but like that one has two two specializations morning afternoon eights hours and always working all things all things to the end, finish, completed and finish, with, ah, with success, I then really had, ah, a the desire to continue studying some specialization, but ah I cannot say unfortunately but that was God’s way […] that I come here because I spoke English […] hm, ah unfortunately ahm I was then here for two years as priest, and I then wrote to my Superior General I want now after this experience in the local congregation to continue studying, I cannot well I I if one ahm away from=from=from the studies then goes with many activities here, it was a full time (

) ha, also it was really full time also I was

so=so active was first when one is young priest, freshman, works day and night with youth many activities, many many.

Ganz am Ende des Zitats wird deutlich, wie sich Michel in der Interviewsituation wieder aus der Enttäuschung ›herausarbeitet‹, indem er seinen vollen Zeitplan erwähnt und somit wieder die Seelsorgerrolle fokussiert. In diesem Zitat klingt an, dass seine Oberen ihm Hoffnungen gemacht haben, dass seine Platzierung in Jerusalem nur für kurze Zeit sein solle. Im Nachhinein erfüllt es ihn mit besonderer Bitterkeit, dass er von ihnen angelogen wurde und dass daraus zehn Jahre geworden seien. Immer wieder kommt er darauf zurück und hadert noch selbst in der Gegenwartsperspektive über andere Möglichkeiten, die ihm vielleicht offen gestanden hätten. Aus dem folgenden Zitat sprechen die Eingriffe der besitzergreifenden Institution in die Handlungsmacht von Michel. Der Generalobere des Ordens »said to me, you go for one-n, for one year, and ( ) for one year and one year every year, he has renovated, renewed, renewed ((J: hmhm)) and then if I had known and then, one year were ten years ((lacht)) if I had known that, from the beginning then I had different, but I I, I could not go to university to teach something«.

Als Priester in Jerusalem wurde er in eine neue und ihm unbekannte Aufgabe gestürzt, die er nicht mit dem gleichen Selbstbewusstsein angehen konnte wie die Rolle als Akademiker. Außerdem nahm er nur eine unbedeutende Randposition ein –

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ohne die Reputation, die er sich von seiner Universitätskarriere erhofft hatte. Greifbar wird sein anfängliches Verlorensein in der unvertrauten Umgebung in einer Erzählung über den Beginn seiner Jerusalemer Zeit. Der Hauptpriester habe ihn am ersten Sonntag im Gottesdienst vorgestellt: »I looked at the people, new new, new faces, nothing, I knew- I had no experience what to do ah, and=ah I was so young, and I still remember an old lady […said] you are very young, to become um and to be priest in Jerusalem, I was so shocked, I am so young, ah I am really young of course, one looks so young ne, yes but Jerusalem is, Jerusalem is the city a young priest, they usually had probably the, the the, the custom probably to have older priests, I was the first pries- young priest.«

Die Ungeduld und sein nachhaltiger Wunsch, woanders zu sein, werden daran deutlich, dass Michel 1983 dem Generaloberen im Libanon einen Brief schrieb und um seine Versetzung bat – für einen Mönch schon ein relativ deutlicher Akt des Widerstandes –, was dieser aber ablehnte. Er war gezwungen, sich unterzuordnen. Wiederholt klagt er über sein vergebliches letztes Aufbäumen nach seiner Platzierung in Jerusalem: Nach zwei Jahren »one has not tru, tru=ah, consid- allowed, mh, I probably had become doctor or so a bit but, that was my service in, then I was really obedient, in this moment, in this shi- ah«. Es ist denkbar, dass die Oberen seinen Wunsch nicht nur deswegen ablehnten, weil er bereits eine Position ausfüllte, sondern auch weil sie Michel entweder mangelnde Erfolgsaussichten im wissenschaftlichen Bereich zuschrieben oder es ein weiterer Versuch war, sein Ego zu ›zähmen‹. Michel dagegen hebt hervor, dass er ja gehorsam gewesen sei – dabei ist ihm, insofern er nicht seine Karriere oder Zukunft im Orden aufs Spiel setzen wollte, auch nichts anderes übriggeblieben. Mit der Ablehnung seiner Platzierung ist auch verbunden, dass Michel recht wenig über seine Erlebnisse in Jerusalem in jener Periode erzählt. Er thematisiert weder den Stadtraum noch die Gruppierungen, die damalige politische Lage in der Stadt oder religiöse Ereignisse und Feste. Er berichtet nichts über Begegnungen (außer der generellen Aussage, dass die Leute Vertrauen in ihn hatten). Zudem spricht er nicht über das Sozialzentrum, in dem er arbeitete, andere Mitglieder des Ordens oder überhaupt Mönche in Jerusalem. Die Alltagswelten Jerusalems hatten anscheinend keine Relevanz für ihn. Das heißt, Michel verortete sich in der Altstadt so wenig wie möglich. Seine Orientierung war eindeutig – wie ich auf den folgenden Seiten ausführe – nach außen und nicht auf Jerusalem gerichtet. Doch Michels Deutungsmuster begann, sich im weiteren Verlauf seiner Zeit in Jerusalem nach der negativen Antwort auf seinen Brief 1983 zu verändern. Das hatte mit dem vorerst unwiederbringlichen Ende des Traums einer akademischen Karriere zu tun und mit seiner Akzeptanz, dass seine Stärke in der Seelsorgearbeit gesehen wurde. Ein weiterer Grund war aber, dass er begann, seine Platzierung in Je-

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rusalem als eine Ressource zur Bildung eines umfangreichen sozialen transnationalen Netzwerkes und für seine Teilzeitablösung von der Stadt zu reinterpretieren. Mit diesem Netzwerk konnte er zudem seiner vom Bürgerkrieg betroffenen Familie im Libanon helfen. Im Nachhinein verankert Michel die Akzeptanz seiner Platzierung in Jerusalem symbolisch auf die Zeit zwei Jahre nach seiner Ankunft – als er die negative Antwort der Oberen erhalten hat. Es ist nicht so wichtig, ob dies genau seinem Erleben entspricht – das wird ein gradueller Prozess gewesen sein. Er konstatiert, er habe dann »many friends« durch seine Seelsorgearbeit gefunden: »With two years you have, gotten to know the people you have relationship (3) ah, it was, yes, it was a very good time for me.« Dieser Wandel macht sich auch in seiner Beziehung zur Stadt Jerusalem bemerkbar. Zwei Jahre lang hat er sich anscheinend kaum mit dem Stadtraum und den Menschen beschäftigt: »Two years, I didn’t know where I, how are the directions, I thought but how is this the New Gate there, Jaffa Gate and Damascus Gate, how does one get to there, but really, one has to around around around the wall, so it was really for me quite difficult, to arrange myself, to to orient, in the Old City when I visited peo- families […] there was always someone with me who always guided me.«

Michels zunehmende Akzeptanz seiner Platzierung in Jerusalem hat auch damit zu tun, dass sich die libanesische Kriegssituation stetig verschärfte und er seiner Familie von Jerusalem aus helfen konnte. Sechs Monate nach seiner Ankunft in Jerusalem, am 6. Juni 1982, griff Israel PLO-Basen im Libanon an, rückte auf Beirut vor und nahm mit dem stillen Einverständnis der maronitischen Milizen West-Beirut ein.21 Die kriegerischen Allianzen, zum Beispiel zwischen Maroniten und israelischer Armee, werden bei ihm Divergenzen zwischen der nationalen und religiösen Zugehörigkeit hervorgerufen haben. Es ist zudem die Frage, wie oder ob sich der Krieg auf seine Wahrnehmung der Palästinenser ausgewirkt hat, weil palästinensische Kämpfer die Gegner christlicher Einheiten waren, Michel aber gleichzeitig in Jerusalem weitgehend in einen palästinensischen Kontext eingebunden war. Wegen der wechselnden Kriegskonstellation mussten seine Eltern und zwei jüngere Schwestern zu einem Zeitpunkt zwischen den Jahren 1983 und 1985 aus ihrem Dorf nach Beirut zu seiner Schwester Maria fliehen. Ich habe die genauen historischen Hintergründe rekonstruiert, mir ist sogar der Tag der Flucht bekannt, die Details können aber aus Anonymisierungsgründen nicht dargestellt werden. 1983 21 In diesem Zusammenhang kam es zu den Massakern von Sabra und Shatila, bei denen christliche Milizionäre unter den Augen der israelischen Armee ein Massaker in zwei palästinensischen Flüchtlingslagern mit Hunderten oder Tausenden von Toten verübten (Traboulsi 2007: 218-219).

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verfolgten Drusen im sogenannten South Mountain War die lokalen Christen am südlichen Mount Lebanon. 1.500 wurden getötet, 62 Dörfer zerstört, und die Mehrzahl der Christen verließ das Gebiet (Traboulsi 2007: 224). Im Februar 1985 zog sich die israelische Armee aus Teilen des Libanon zurück und übergab das Gebiet der libanesischen Armee. Wegen der damaligen Koalitionen flohen im April ca. 50.000 Christen aus dem Gebiet östlich von Sidon, nachdem von dort aus monatelang palästinensische Flüchtlingslager beschossen worden waren. Viele Dörfer wurden geplündert und zerstört (Harris 2012: 249). Für Michel war es schwer, in dieser Situation nicht bei seiner Familie zu sein, und er hat sich gefragt, wie er ihnen von Jerusalem aus helfen könnte. Die Nachricht der Vertreibung seiner Familie schockte ihn. Er besuchte seine Familie im Libanon, aber blieb die meiste Zeit in Jerusalem, wo er am Radio die Nachrichten verfolgte: »I was tense, always to hear, they have always counted the dead and ah, ah the names also their names and ( ) that was really difficult difficult days back then.« Doch sein Aufenthalt in Jerusalem bot Michel die Basis für praktisches Handeln – was aus dem Libanon nicht in gleicher Weise möglich gewesen wäre. Michel hatte sich schon in seinen ersten zwei Jahren in Jerusalem immer wieder in Großbritannien aufgehalten und den Kontakt zu zahlreichen Pilgergruppen, die er durch das Gebäude des Ordens führte und vor denen er Vorträge hielt, etabliert und gehalten. In dem Jahr, in dem seine Familie vertrieben wurde, organisierte er zum ersten Mal einen Jugendaustausch mit Kirchengemeinden im Erzbistum Liverpool. Ursprünglich, so ist meine Lesart, war die wichtigste Funktion dieser immer zahlreicher werdenden Austausche die Teilzeitablösung von Jerusalem. Ähnlich wie Hafez (vgl. Kap. 7.3) versuchte Michel, durch temporäre Reisen eine Alternative zum Dasein in der Altstadt zu schaffen, da es ihm nicht möglich war, dauerhaft aus der Altstadt wegzuziehen. Die Reisen konnte er nach außen als Jugendarbeit und somit als mit seinem Auftrag vereinbar definieren. Er benützte sie aber vor allem zur Vergrößerung seines sozialen Netzes. Nach der Flucht seiner Familie begann Michel, dieses Netz jedoch nicht nur für seine eigene Teilzeitablösung einzusetzen, sondern auch für das Wohlergehen seiner vertriebenen Familie. Er startete eine massive Spendenkampagne, durch die er so viel Geld sammeln konnte, dass er für seine Familie eine Wohnung in Beirut kaufen konnte. »I thank God, probably, probably he had ah already planned for me, to come here, I don’t know that’s if one thinks, now thirty thirty five years back, one says it has really been the right place ((J: hm)) and I have written so many letters to all friends and every friend in England everywhere, has an- answered really positively to me, always has send a cheque, in it […] with the money I received, I was really able to buy a a flat, for my family my brother in Beirut (3) and ah, and really=ah, thank God after a year or so, the- they had really already live

362 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT in a flat in Beirut where now until now keep ((J: hmhm)) where the whole family still lives, hmhm, that was really, if I, as I said if I, did never did not come here, or did not have so many friends (2), ha, then really but God, knows exactly (2) I never wanted, back to rather than to come here I, I so wanted to continue studying I am also I was the first in class (2) ah with=with two BA, and ah, and with many languages, and I was willing to continue studying ((J: hm)) ahm PhD and so on in this area academia […] (3) and=a, so beautiful that well I was there to help my family at least (2) in their most difficult living conditions during the war back then.«

Michel begann also, seine Zeit in Jerusalem positiv umzudeuten. Es fand als langsamer Prozess eine Änderung des Deutungsmusters statt – soweit das durch die nicht sehr erzählungsreiche Darstellung der weiteren Jahre in Jerusalem zu rekonstruieren ist. Anstatt der verlorenen Wissenschaftskarriere definierte er seine Verortung in Jerusalem als eine, die ihm viele soziale Kontakte einbrachte, Bestätigung durch seine seelsorgerische Betätigung verschaffte und Freiräume und Möglichkeiten, seiner Familie zu helfen, eröffnete. Das heißt, er interpretierte Jerusalem immer noch nicht als Heimat, und die alltägliche Verortung in der Altstadt war nicht sehr relevant für ihn. Aber er konnte seiner Platzierung in Jerusalem immerhin einen Sinn zuschreiben (den er im Zitat zuvor als einen Plan Gottes rahmt), den er zuvor darin nicht gesehen hatte. Doch trotzdem blieb sein Verhältnis zu Jerusalem ambivalent. Auf meine Frage nach seiner schönsten Erinnerung an seine erste Periode in Jerusalem antwortet er ohne Zögern, dass dies die Jugendreisen nach England seien, die er organisiert habe. Dann fügt er hinzu, dass dazu auch die Ausflüge mit Jugendgruppen nach Westjerusalem oder Ausflüge ins Umland gehörten – womit ja auch eine Teilzeitablösung aus der Altstadt verbunden ist. Zwischen 1984 und 1987 organisierte er mindestens einmal jährlich längere Austausche nach England, 1987 sogar drei Reisen in einem Jahr, nach Birmingham, Lancaster und Leeds. Die Pflege seiner immer wichtiger werdenden internationalen Kontakte nahm beinahe die Funktion einer ›Ersatzkarriere‹ an. Auch wenn die ursprüngliche Bewandtnis hinter dem englischen Sprachstudium eine Verbesserung der Karrierechancen innerhalb der Kirche bzw. der Universität war, verhalf es Michel später wenigstens zu einer Nische der Handlungsmacht, zur temporären Selbstgestaltung seiner Biographie und zu einer Quelle sozialen und finanziellen Kapitals in einer ansonsten in Bezug auf selbständige Entscheidungen eingeschränkten Umgebung der besitzergreifenden Institution. Es ist die Frage, ob Michels nur ungenügend verborgenes, von seinem eigenen Willen bestärktes Handeln seine offensichtlich mangelnde Demut exponierte und wie die Ordenshierarchie darauf reagierte. Ende 1987 begann in Palästina die Erste Intifada. Zwar erzählte Michel mir auch von den gewalttätigen Auseinandersetzungen während der Intifada, aber im Vergleich zu seinen Reiseerzählungen nehmen diese nur einen kleinen Raum im In-

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terview ein. Neben anderen Auslandsreisen organisierte er 1988 bis 1990 mehrere Austausche pro Jahr nach England. Seine Eltern im Libanon hatten inzwischen in ihr Haus im Heimatdorf zurückkehren können.22 Bereits 1989 lud Michel sie nach Jerusalem ein und bereiste mit ihnen Großbritannien, Irland und Schweden, wo seine Mutter längere Zeit bei ihrer Schwester blieb, die inzwischen dorthin migriert war, während Michel alleine durch Großbritannien reiste. Er war stolz darauf, dass er seinen Eltern die heiligen Stätten zeigen konnte und dass er wegen seiner guten Kontakte ihnen unter der Hand ein Visum für Großbritannien von der britischen Botschaft in Tel Aviv hatte besorgen können. Er konnte seinen Eltern sein erfolgreiches neues Lebensmodell präsentieren. Sein Vater habe gesagt: »Michel, my son, you have friends everywhere, everyone is inviting you and us and you know all people and everywhere […] probably yes I think I I have not really specialized in a subject scientific […] but I really have ah, good contacts and encounters.« Das Zitat verdeutlicht Michels gewandeltes Deutungsmuster, das auch seine Verortung in Jerusalem beeinflusst: Während sein ursprüngliches (und vielleicht noch insgeheim gehegtes) Ziel die ›Selbstverwirklichung‹ in der Wissenschaft war, betonte er gegenüber seinem Vater seine Rolle als aufopferungsvoller Seelsorger, Freund und Netzwerker – also sein soziales Kapital. Auch durch seine Oberen wurde Michels neue Seelsorgerrolle zunächst reproduziert: Er betreute in den späten 1980er Jahren zusätzlich zu seiner eigentlichen Stelle einige vakante Pfarreien – Michel wurde zu einer Art ›seelsorgerlicher Feuerwehrmann‹. Im Sommer 1989 versetzte ihn der Generalobere des Ordens nach Jaffa (er wohnte aber weiterhin in Jerusalem). Dort wurde er Gemeindepriester. In Jaffa arbeitete er auch auf Basis dieses neuen Deutungsmusters. Die Gemeindemitglieder seien von ihm begeistert gewesen, weil er sich seelsorgerisch engagiert und an allen Ecken und Enden der Pfarrei eingerostete Strukturen aufgebrochen habe (Kinder- und Jugendarbeit und Neubau eines Gemeindesaales). 1991 wurde Michel vom Generaloberen aus Jerusalem und aus Jaffa abberufen. Inzwischen hatte er die Anerkennung erhalten, die er sich gewünscht hatte. So hätten die Gemeindeglieder auf seine Abberufung reagiert: »It was really a shock they they=they couldn’t believe it was so, so beautiful so, ah they have cried so much.« Er bekam Anerkennung als Priester, Seelsorger und Organisator – Anerkennung hatte er sich zuvor für seine intellektuellen Fähigkeiten gewünscht, aber nicht bekommen. Nun hat das soziale Kapital das kulturelle Kapital (bzw. Bildungskapital) als Referenzrahmen abgelöst, seine Präsentation als ›erfolgreich‹ in dem, was er tut, bleibt aber bestehen.

22 Mit dem Abkommen von Ta’if 1989 wurde der erste Schritt zum Ende des Bürgerkrieges gemacht. Im März 1991 wurden alle Milizen außer der Hisbollah aufgelöst (Harris 2012: 255-256).

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Für Michel ist damit im Nachhinein auch verknüpft, dass seine (Lieblings-) Schwester Suha seine ›Mission‹ übernommen und durch seine Vermittlung in England ein Promotionsstudium begonnen hat. Suha schloss 1986 ihren BA im Libanon ab. Michel lud sie daraufhin ein, ihn bei einem der Jugendaustausche nach Großbritannien zu begleiten. Seine Schwester habe bereits da den Wunsch geäußert, weiter zu studieren, was im Libanon damals schwierig gewesen sei. Suha stand also vor dem gleichen Problem wie er: die Fortsetzung der wissenschaftlichen Karriere zu planen. Michel schlug ihr vor, in Großbritannien zu bleiben. Sie sei bei einem Ehepaar in Lancaster untergekommen und habe innerhalb eines Jahres so gut Englisch gelernt, dass sie sich an der dortigen Universität habe einschreiben können. Dann habe es aber Probleme mit der Anerkennung ihres libanesischen Studiums gegeben – genauso wie Michel Probleme mit seinen Vorgesetzten bei der Studiengangswahl hatte –, und die Zulassungsstelle habe damit gedroht, dass sie beinahe ihr gesamtes erstes Studium wiederholen müsse. Doch dann habe die Stelle diese Hürde erlassen: »Ha: she jumped, out of joy, kissed all icons at home then ((mit hoher Stimme)) you are lucky, unbelievable.« Somit begann die wissenschaftliche Karriere seiner Schwester, die später promovierte und noch heute an einer Universität in London lehrt (s.u.). Michel hat die Wahrnehmung, seiner Schwester durch seine Kontakte zu einem Bildungsaufstieg verholfen zu haben, der ihm selbst verwehrt geblieben war. Es ist also festzuhalten: Nach einer Zeit der ›Verzweiflung‹ folgte bei Michel eine graduelle Akzeptanz seiner Platzierung in Jerusalem. Dies war mit einer Änderung seines Deutungsmusters verknüpft. Er interpretierte Jerusalem dann als Möglichkeit, ein soziales transnationales Netzwerk aufzubauen, mit dem er seiner Familie im Bürgerkriegsland Libanon helfen konnte und mit dem er eine Teilzeitablösung erreichen konnte. Er fügte sich den Entscheidungen des Ordens, so konnte er bestimmte Handlungsspielräume erlangen – auch wenn er seine ursprüngliche Vorstellung einer wissenschaftlichen Karriere nicht mehr durchsetzen konnte, was ihm noch in der Gegenwart präsent ist. Der wissenschaftliche Erfolg wird vom Erfolg als Seelsorger abgelöst, was zumindest teilweise auf tatsächlichen Erfahrungen beruht und was er benutzt, um sich in einem anderen Bereich als der Wissenschaft als erfolgreich präsentieren zu können. In Großbritannien war er etwas ›Besonderes‹, dort wurde er als Vertreter des orientalischen Christentums überall herzlich empfangen und bekam somit den Zuspruch, der ihm von seinem Orden verwehrt geblieben war. Trotzdem bleibt seine erste Platzierung in Jerusalem für ihn weiterhin das Symbol für die Willkür seines Ordens, der nicht auf seine biographischen Wünsche Rücksicht nahm und die Versprechungen, die das Ordensleben für Michel gehabt hat, nicht eingelöst hat.

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Michels Platzierungen in Jordanien und im Libanon Anfang 1991 verließ Michel Israel bzw. Palästina. Er wurde in einer christlich geprägten Stadt in Jordanien als Schulleiter und später als Gemeindepriester eingesetzt. Sein Präsentationsinteresse – seine Erfolge als Priester – determinieren auch die Erzählungen aus jener Zeit: Er organisierte Stipendien für arme Gymnasialschüler und sammelte 80.000 britische Pfund für die Renovierung einer Kirche. Zudem organisierte er wieder Gemeindeaustausche mit Großbritannien. Das habe dazu geführt, dass er im Ort sehr beliebt gewesen sei: »Now all of them are happy and remember Father Michel.« Er scheint keine Probleme damit gehabt zu haben, Jerusalem ›zu vergessen‹: Zwar habe er zwischen 1992 und 1995 noch drei- oder viermal Jerusalem besucht, aber »I have forgotten, of course, Jerusalem is forgotten quickly«. Damit überschreitet er wiederum die von ihm sonst gemachte symbolische Verortung, die Beteuerungen der ›Heiligkeit‹ Jerusalems (s.o.), indem er zeigt, dass die Stadt für ihn trotz seiner partiellen Akzeptanz sekundär geblieben war. Ansonsten erzählt er wenig über seine Zeit als Priester in Jordanien. Auch wichtige familiale Ereignisse erscheinen nur kurz: Der Tod des Vaters 1993/94, der seine Mutter mit seiner unverheirateten jüngsten Schwester im Dorf zurückließ. Ein Thema, das hingegen viel Raum in seinen Erzählungen über diese Periode einnimmt, ist die weitere wissenschaftliche Karriere seiner Schwester Suha. Sie begann ihre Doktorarbeit, was wiederum auf seine Intervention zurückzuführen gewesen sei. Bei einem Besuch in England habe ihn eine Frau angesprochen, die er kannte und deren Mann in London Arabistik unterrichtete. Die Frau habe ein Treffen zwischen Suha und ihrem Mann organisiert, der dann ihr Betreuer wurde. Während seine jüngere Schwester durch seine Unterstützung den Weg einschlug, den er selbst gerne gegangen wäre, führte ihn der Orden – als er für sich die Seelsorge als Erfolg definiert hatte – wiederum in einen anderen Bereich: 1995 vermittelte ihn der neue Generalobere an seine Mutterkirche im Libanon, er sollte als Sonderbeauftragter aller Bistümer die Renovierung von beschädigten Kirchen nach dem Bürgerkrieg überschauen. Das war formal ein deutlicher Aufstieg in seiner Kirche, weil er Assistent eines Bischofs wurde, und trotzdem wirkte es wie eine Degradierung. Für die Arbeit habe er keine Erfahrung mitgebracht, da er immer in der Gemeindearbeit tätig gewesen sei. Michel wurde plötzlich wieder eine ihm unbekannte Tätigkeit zugewiesen. Das einzige Vorbild, das er gehabt habe, sei sein Großvater gewesen, der auch Besitz verwaltet, der aber, wie oben dargestellt, auch eine etwas zwielichtige Rolle gespielt hatte. Michel akzeptierte die Herausforderung und rekurriert im Interview wieder auf sein Netzwerk und seine zwischenmenschlichen Fähigkeiten, die ihm geholfen hätten: »I had many friends who also very, they are boss of banks, architects, they are investors, they they are friends of mine, and I sat for hours with them, they helped me a lot.« Die einzige Konstante zu zuvor waren die Austausche, die er weiterhin mit britischen Kirchengemeinden organisierte. Er selbst behauptet von sich, dass er in den vier Jahren, in denen er

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diese Funktion ausübte, gute Arbeit geleistet habe: »Very good and pre- precise and very wise, ah very wise and ah I have so ah led these churches and rebuilt a lot.« Doch vielleicht haben die Oberen diese Einschätzung nicht geteilt, denn nach vier Jahren wurde Michel 1999 von einem wiederum neuen Generaloberen als Priester nach Syrien berufen. Während andere Priester sehr lange an einem Ort bleiben, wurde Michel immer mehr zu einer Art Feuerwehrmann, der überall hin abgestellt werden konnte, ohne einen wirklichen beruflichen Aufstieg zu machen. Michel wurde zum Beispiel nicht zum Bischof ernannt, obwohl er das erhoffte. Wieder betont er in Bezug auf seine syrische Pfarrei das, was er erreicht habe: Er habe viele Freunde gewonnen, gute Seelsorge betrieben und Reisen organisiert. Was im Erleben von Michel zu diesem Zeitpunkt aber wichtig war und mit Erwartungen verbunden, in der Hierarchie des Ordens und der Kirche aufzusteigen, war, dass ein ihm bekannter Bischof 2001 Generaloberer seines Ordens wurde. Zunächst schienen sich seine Hoffnungen bis zu einem gewissen Grad zu erfüllen, denn im Jahr 2003 wurde er wieder als Sonderbeauftragter in das Amt berufen, das er bis 1999 innegehabt hatte. Auch über seine zweite Periode als Beauftragter für die libanesischen Kirchenbauten berichtet er nicht viel. Stattdessen konzentriert sich Michels Bericht aus dieser Zeit wiederum auf Ereignisse, in denen er selbst als Seelsorger und Netzwerker im Vordergrund steht. Das ist in diesem Fall vor allem seine in seiner Freizeit wahrgenommene Aufgabe als Aushilfspriester in einem christlichen Dorf, dem längere Zeit kein ständiger Priester zugewiesen war. Die Gemeindeglieder nahmen ihn in seiner Rolle als einer, der sich um die Menschen kümmert, wahr. Das entspricht seinem Präsentationsinteresse: »They were, I was very enthusiastic, they loved me, I loved them, and I was always also to them (if only) although once per week with them, but I spe- spent the whole Sunday with them, mh, I also ate with them, I was just near to the people.« Michel erzählt eine Geschichte aus der Zeit nach dem Ende des Libanonkrieges 2006 (der von ihm sonst nicht erwähnt wird) und führt sie als »a very beautiful story« ein. Er erzählt sie zweimal ausführlich während des Interviews, was deren Relevanz für ihn verdeutlicht. Michel habe sich entscheiden, für die Kinder der Gemeinde einen Kindergarten zu bauen. Er habe von Freunden in England 35.000 Pfund zusammengebracht. Als bereits mit dem Rohbau begonnen worden war, habe der Krieg begonnen, Israel habe viele Dörfer zerstört. Die Gemeindeglieder hätten ihn nach Kriegsende um weiteres Spendensammeln gebeten, doch er sei erfolglos geblieben. Vertreter einer iranischen Stiftung, die die Schiiten im Südlibanon beim Wiederaufbau ihrer Dörfer unterstützen sollten, hätten ihnen auf sein Drängen hin angeboten, auch den Kindergarten für sie fertigzubauen. Nur ist es unwahrscheinlich, dass Michel selbst diese Geschichte so erlebt hat, denn an anderer Stelle berichtet er, dass bereits 2006 ein ständiger Priester in jenes Dorf abgesandt worden und er nicht mehr dort gewesen sei. Sie passt jedoch hervorragend in sein Präsentationsschema der Darstellung von Erfolgen.

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Rückkehr nach Jerusalem Im Jahr 2011 schickte der Orden Michel, inzwischen 54 Jahre alt, wieder nach Jerusalem zurück. Es habe Pläne gegeben, ihn als Priester nach Nordamerika zu entsenden, doch er habe sich gewünscht, im Orient bleiben zu dürfen, und zumindest in diesem Fall haben die Oberen seinem Willen stattgegeben. Zwar könne er sich überall einleben, aber ihm sei die Mentalität im ›Orient‹ näher, und das entspricht auch dem Präsentationsinteresse: »There=there are human relations with the people, there you are (2) you knock on the door at every time, but please and you are welcome they are happy, at ten o´clock at night too.« Nachdem seine Ernennung auf drei Stellen gescheitert war, wurde er in der zweiten Jahreshälfte 2010 nach Jerusalem zurückbeordert. Michel kam dort Anfang 2011 an23 und lebt seither dort. Er vertrat zunächst den vakanten Posten des Oberen des Ordens in Jerusalem. Auf der einen Seite kehrte Michel unter anderen Vorzeichen nach Jerusalem zurück: Er hatte sich dem Orden untergeordnet und als ›Feuerwehrmann‹ viele Erfahrungen in Seelsorge- und Verwaltungsaufgaben gemacht. Und er hatte sein Deutungsmuster nochmals modifiziert: Nicht nur, dass er die Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere aufgegeben hatte und seine seelsorgerischen Fähigkeiten in Zusammenhang mit seiner Netzwerktätigkeit als seine eigene Stärke definiert hatte – er hat begonnen, seine wiederholten Berufungen auf neue Positionen als seine besondere Anpassungsfähigkeit zu rahmen; dass seine Stärke darin liege, jegliche Aufgaben zu übernehmen, die der Orden ihm zuweist. Dadurch konnte er auch seine neuerliche Platzierung in Jerusalem als Erfolg rahmen. Gleichzeitig beinhaltet diese Interpretation auch ein Gefühl der Desillusionierung. Doch die neue Stelle bedeutete für ihn zunächst die Hoffnung, in Jerusalem längerfristig ein höheres Amt zu bekleiden – nicht nur Vakanzvertretung des Oberen zu bleiben, sondern dauerhaft als Oberer berufen zu werden. Michel führt seine zweite Platzierung in Jerusalem damit ein, es habe im Jerusalemer Ordenshaus »bad and dark times« gegeben. Der Generalobere des Ordens habe daher zu ihm gesagt: »/Michel you know the situation in, the difficult situation in Jerusalem, and I thought about you that you there, do you want to, ah go there and, and as ahm stand-in of the free Superior General (say) (

)/ [I said] that’s my dream, I have so much, I have several times tried to

come back to here for a visit and then I didn’t make it.« 23 Er musste sechs Monate auf sein israelisches Visum warten. Tsimhoni (2005: 406) verdeutlicht hierzu: Für Kleriker wurden seit 2000 die Visumsbestimmungen verschärft. Zuvor gab es ein drei Jahre gültiges, erneuerbares Kleriker-Visum und die ›permanent citizenship‹, wenn Kleriker 15 Jahre oder länger in Israel gewohnt hatten. Kleriker aus arabischen Staaten mussten seit 2000 ein Sicherheitsscreening bei einem speziell eingerichteten Komitee über sich ergehen lassen, bevor ihr Antrag bearbeitet wurde. In der Zeit nach 2003 gab es eine Periode, in der keine Visaanträge bearbeitet wurden.

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An dieser Stelle ist die Frage, ob sich Michel tatsächlich so gefreut hat, nach Jerusalem zurückzukommen, oder ob die Freude eher der vielversprechenden Position galt. Auf jeden Fall verbleibt Michel in seinem Präsentationsinteresse des erfolgreichen Priestertums und betont, wie herzlich ihn die Jerusalemer aufgenommen hätten, als er zurückgekehrt ist: »These were really very moving moments with many families, they cried so much, the young people which I, with who I worked, back then so much time with the youth, exchanges to England many travels.« Er habe es nach seiner Rückkehr durch seine Erfahrung geschafft, das Ordenshaus zu beruhigen. Doch im August 2013 folgte die ›Degradierung‹: Ein neuer Generaloberer wurde nach Jerusalem berufen, und Michel wurde dessen Sekretär und Verwalter des Hauses und des Jerusalemer Ordensbesitzes: »I was I am no Superior but a Superior has been appointed here.« Michel bleibt also der ›Feuerwehrmann‹. Seine neue Aufgabe ähnelt wiederum dem, was sein Großvater geleistet hat: Er verwaltet Häuser und Ländereien. Die Erfahrungen bei seiner Rückkehr nach Jerusalem sind nicht so, wie er sie sich bei seiner zweiten Platzierung vorgestellt hat; wieder setzte ihn der Orden nur als Zwischenlösung ein. Vielleicht gerade deswegen betont er die vielen Erfolge, die er habe feiern können – die Präsentation seiner beruflichen Erfolge entspricht wieder der Präsentation des von ihm selbst so genannten ›CV‹ in der Haupterzählung. Er kümmert sich nun um Sponsoren für die Renovierung von Gebäuden in der Altstadt – zum Beispiel für die umfangreiche Renovierung des Ordenshauses. Er ist eher Manager und macht »the financial actual and ah factual things and how to put it concrete things«. Die Entdeckung neuer Fähigkeiten und seiner Anpassungsfähigkeit ersetzt bis zu einem gewissen Grad den nicht erfolgten hierarchischen Aufstieg. Er habe entdeckt, dass er ein guter Verwalter sei, nicht nur ein guter Priester. Trotzdem sucht er sich in Jerusalem wieder eine seelsorgerische Aufgabe. So kümmert er sich darum, einige christliche Familien in kleine Wohnungen im Ordenshaus unterzubringen: »Our church has five people, five families, they wait, they want desperately because they live, in their corner and they are always also threatened by Muslim owners, to leave the land or the house or so on, a young man with three children, he is always like a nomad from one place to another, he lives in the middle of the Muslims there in=n behind the gate and so on ((J: hmhm)) ( ) what’s the name of the place there ((J: al-ʿĪzariya)) al-ʿĪzariya there in that direction ((J: yes)) behind the, so and=ahm a:m I have offered him today that he can live in our house for a couple of years, tell me what you pay there and pay it to the church and you are here in safety.«

Abgesehen davon, dass Michel in diesem Zitat eine deutlich negative Einschätzung der Figuration von Christen und Muslimen in Jerusalem vornimmt, wird auch sein trotz allem noch ambivalentes Verhältnis zu der Stadt deutlich. Das Unwissen über

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die Lage eines nahen Stadtteils, bei dessen Benennung ich ihm helfen musste, und sein Hinweis, dass diese Unkenntnis damit zu tun habe, dass dieses Viertel hinter dem Stadttor liege, deutet darauf hin, dass er, obwohl er durch seine Arbeit nun sehr gegenständlich-materiell mit verschiedenen Teilen Jerusalems verknüpft ist, dem stadtgeographischen Wissen – oder dem städtischen Wissen allgemein – über Jerusalem keine hohe Relevanz einräumt. Jerusalem ist immer noch bis zu einem gewissen Grad negativ besetzt. So unterscheidet sich seine Antwort auf die Frage nach seinem schönsten Erlebnis während seiner zweiten Periode in Jerusalem von der Antwort auf die Frage nach der ersten Periode: Während er damals die Reisen und die Jugendgruppen nannte, verweist er nun – mit einem leicht resigniert erscheinenden Zusatz – darauf, dass er sich nicht an einzelne Erlebnisse erinnern könne, sondern dass es nur Gutes gebe, was somit genau auf die gegensätzliche Erfahrungsebene verweist: »There I have nothing, experiences all beautiful ((J: yes)) (5) yes=yes=yes that’s the way it is (6).« Und wieder kommt direkt anschließend in Bezug auf Jerusalem eine Globalevaluation. Dabei wird die symbolische Verortung mit dem Motiv der ›heiligen Stadt‹ benutzt, um die eigene Unzufriedenheit durch eine Hervorhebung der religiösen Bedeutung der Stadt zu überdecken: »I am happy, I’m doing well, great if one in Jerusalem his chance, next to the Holy Sepulcher, oh I know it well, but you’re here you meet so many people, lectures in the evening when groups are with us, it is a, it is the whole world in Jerusalem, it is really, everyone dreams of coming here to Jerusalem, and the Lebanese and the Syrians who also, who cannot come here at all at all.«

Auf der einen Seite steht Michels Präsentationsinteresse des demütigen Priesters, wie in beinahe jeder Sequenz des Interviews deutlich wird. Er habe nie ›nein‹ gesagt, betont Michel »because I am convinced the priest the pastor reli- he mh-, has to go in every direction, and there where he is to where he comes ((klopft)) then he receives friends«. Das wird inzwischen durch die Interpretation des ›Feuerwehrmanns‹ ergänzt, der sich auf das Nomadentum eingelassen hat, zu dem ihn sein Orden gezwungen hatte: »I was always going forward, ha, I have never ah looked, ah ba- looked back.« Stattdessen lebe er nach dem Sprichwort, dass es dort am schönsten sei, wo man momentan wohne: »You know that’s my way of life ((J: hm)) ha the place where I am at there I am, near to the people ha.« Seine Betonung von »friendship, relations this social ah disposition« liest sich einerseits als Enttäuschung über die nicht erreichten anderen Lebensziele und deutet gleichzeitig darauf hin, dass bei ihm – wie erwähnt – der Wunsch nach kulturellem Kapital (bzw. Bildungskapital) durch ein Streben nach sozialem Kapital ersetzt wurde. Doch Michel kämpft mit seiner ambivalenten Position: Keine positive Aussage ohne fatalistischen Klang und keine negative Aussage ohne den Versuch, sich wieder aus dem Fatalismus emporzuziehen.

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In Bezug auf Michels Verortungen in der Altstadt von Jerusalem bedeutet dies, dass er es während seines ersten Aufenthalts vermochte, durch eine Änderung des Deutungsmusters und durch die Teilzeitablösung die anfängliche radikale Ablehnung der Stadt zu überwinden und eine Erweiterung seiner Verortungen zu erleben. Er sah sein Dasein in Jerusalem nun als eines, das ihm zu sozialen Kontakten verhalf, durch sein seelsorgerisches Engagement Bestätigung erhielt und durch das er seiner Familie helfen konnte. Das heißt, die alltägliche Verortung war nicht sehr relevant für ihn, aber die Platzierung in Jerusalem wurde für ihn dennoch bedeutungsvoll. Angesichts der sich fortsetzenden Fremdbestimmung durch den Orden, die nur mit veränderten Aufgaben, aber nicht mit einem hierarchischen Aufstieg verknüpft war, erwies sich dieses Deutungsmuster der sozialen Kontakte für seine Selbstdefinition als wichtig. Seine neuerliche Platzierung in Jerusalem war mit der Hoffnung auf einen beruflichen Aufstieg verknüpft, der ihm aber wiederum versagt blieb. Wieder ist das Erleben Jerusalems durch berufliche Enttäuschungen bestimmt, die er aber beginnt, positiv als weitere ›Fähigkeit‹ der Anpassung umzudeuten. Dieses ambivalente Verhältnis zu Jerusalem wird auch im abschließenden Zitat deutlich: Trotz des positiven Umdeutens ist zu ersehen, dass seine gesamte kirchliche Karriere für ihn mit dem Erlebnis seiner ersten, negativ konnotierten Platzierung in Jerusalem verknüpft bleibt, die die Basis für alle weiteren Erfahrungen im Orden darstellt: »Everything what I had planned, was not what God has planned for me, he (2) therefore we say, if we really listen to, the will of the, Superior what we have always learnt (2) ah that is God’s voice, sometimes it is also the voice of God (2) he has said you stay and ((klatscht)) I stayed (2) yea (3) and now I meet ((klatscht)) Johannes if I then ah we had never met ((lacht leise)) (4) so finish, I am ((klatscht)) cannot talk anymore.«

9.3

K URZE F ALLDARSTELLUNGEN

9.3.1

Bruder Haqoub: »Bis jetzt habe ich hier gedient, und ich diene hier noch immer«

Der Fall des armenisch-orthodoxen Mönchs Haqoub hat auf der Ebene der erlebten und der Ebene der erzählten Lebensgeschichte oberflächlich viele Ähnlichkeiten mit dem von Bruder Michel. Haqoub, der in Syrien in eine eher arme Familie geboren wurde, wurde genauso wie einer seiner Neffen nach Jerusalem ins Knabenseminar geschickt – Haqoub war damals im gleichen Alter wie Michel. In Jerusalem absolvierte er den Sekundarschulabschluss und entschied sich für ein Leben als

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Mönch. Haqoubs frühe Enttäuschungen in seinem Orden beruhten darauf, dass ihm ein versprochenes Studium im Ausland verwehrt blieb und diverse Angebote, in armenischen Gemeinden in Europa und den USA zu arbeiten und Jerusalem zu verlassen, vom Orden abgelehnt wurden. Doch während bei Bruder Michel seine Bearbeitung durch die Veränderung des Deutungsmusters und die Teilzeitablösung mit einer zunehmenden Akzeptanz seiner Platzierung in Jerusalem verknüpft war, war die Teilzeitablösung, die Bruder Haqoub ebenfalls als Verortungspraxis betrieb und betreibt, nicht mit einer Änderung der Wahrnehmung Jerusalems verknüpft. Jerusalem wird als Ort konstanter, unwandelbarer Einengung seit seiner Platzierung dort begriffen. Mir wurde der Kontakt zu Haqoub von einem armenischen Souvenirhändler vermittelt, der im ummauerten St. Jakobus-Patriarchat wohnt24 und mit den dortigen Mitgliedern des St. Jakobus-Ordens vertraut ist. Dieser besteht je nach Quelle aus 40 bis 60 Mitgliedern. Ich führte das zweistündige Interview mit Haqoub im Empfangszimmer des armenischen Patriarchats auf Deutsch. Nachdem er die Interviewfragen konzentriert beantwortet hatte, musste ich am Ende mit ihm drei Gläser Cognac trinken, wie jeder Gast, sagt er. Als jüngstes von fünf Kindern wurde Haqoub 1950 in Homs geboren. Weitere Teile der Familie wohnen im Libanon. Er hat drei Schwestern und einen Bruder. Der Vater starb, als er noch ein kleines Kind war. Wahrscheinlich deswegen zog die Familie kurz darauf nach Damaskus, wo die Mutter als Putzkraft im Bischofssitz tätig war, was auf den eher niedrigen sozio-ökonomischen Status der Familie hindeutet.25 Als Haqoub acht Jahre alt war, wurde sein älterer Neffe, mit dem er eine sehr 24 Ein Großteil der armenisch-orthodoxen Christen Jerusalems wohnt im ›Armenischen Viertel‹ der Altstadt, zahlreiche Mitglieder dieser Gruppierung aber auch in anderen Stadtteilen. Shalhoub-Kevorkian (1995: 187) geht davon aus, dass beinahe 50% der Mitglieder der Community im Armenischen Konvent im ›Armenischen Viertel‹ der Altstadt wohnen, der von Klostermauern umgeben ist. Zwischen der dort lebenden armenischen Community und dem Klerus gibt es einen »subtle divide«, weil der Klerus größtenteils von außerhalb Palästinas kommt (Der Matossian 2011: 26). Dieses Problem besteht in stärkerem Maße zwischen griechisch-orthodoxem Klerus und Laiengemeinde, vgl. Vatikiotis 1994 und Katz/Kark 2005. 25 Die armenisch-orthodoxe Kirche verfügt über zwei Katholikate – eines (heutzutage) im Libanon und das andere in Armenien. In Istanbul und in Jerusalem gibt es zudem Patriarchate. Die meisten Bistümer des Nahen Ostens gehören inzwischen zum Katholikat im Libanon, nur die Bistümer Kairo, Bagdad und de facto Damaskus zum armenischen Katholikat. Das Jerusalemer Patriarchat ist nur noch für die Bistümer Jerusalem und Amman zuständig. Beide Katholikate haben zudem zahlreiche Bistümer in anderen Weltgegenden. Das Bistum Damaskus gehörte bis 1929 zum Patriarchat Jerusalem, danach gehörte es zum Katholikat im Libanon. Nach einer Kirchenteilung im Jahr 1956 ist seine admi-

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enge Beziehung pflegte, als Seminarist in das Knabenseminar im Armenischen Konvent von Jerusalem geschickt; ein Jahr später migrierte eine Schwester nach Deutschland. Im Oktober 1960/1961 folgte Haqoub nach dem Werben des Knabenseminars seinem Neffen nach Jerusalem und ließ seine Mutter mit noch einer Schwester und einem Bruder in Damaskus zurück. Im August 1969 wurde Haqoub im Alter von 19 Jahren zum Priester ordiniert und Mitglied des St. Jakobus-Ordens. Dieser Orden hielt ihn in Jerusalem, obwohl er während der 1970er Jahre Angebote bekam, nach Paris oder nach Amerika zu gehen. Dies wurde jedoch vom Jerusalemer Patriarchen abgelehnt. Sein Neffe hingegen entschied sich gegen die Möglichkeit einer innerkirchlichen Karriere, heiratete und wurde Gemeindepriester (vgl. zur Heirat in den Ostkirchen auch die Erläuterungen bei Bruder Michel, Kap. 9.2.2, S. 350). Zum Zeitpunkt des Interviews betreute er eine Gemeinde in Australien. Haqoub, der sich während seiner Schulzeit bereits mehrere moderne Fremdsprachen, darunter nahezu perfekt Deutsch, angeeignet hatte, wollte Ende der 1970er Jahre zum Studium an das H. Acharian-Spracheninstitut nach Jerewan, damals Teil des Armenischen Sozialistischen Sowjetstaats, gehen, was ihm zunächst gewährt wurde. Nachdem ihm ein neu gewählter Patriarch dieses Studium jedoch verboten hatte, studierte er nach 1980 Armenologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Haqoub erwarb sich einen Ruf als Armenologe und beendete seine Promotion, empfand aber das Verbot, im Ausland zu studieren, als schwere Niederlage. Von 1975 bis zu Beginn der 1990er Jahre war die militante Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens (ASALA) international aktiv. Eines ihrer Mitglieder, das im Jahr 1983 ein Bombenattentat in Frankreich verübte, war acht Jahre lang Schüler im Jerusalemer Knabenseminar. Zudem wurde im Jahr 1980 der Vizerektor der Schule und Mitglied des Ordens, Manuel Yergatian, in der Türkei gefangengenommen, als er neue Klosterschüler nach Jerusalem begleiten wollte. Ihm wurden Aktivitäten gegen die Sicherheit des türkischen Staates vorgeworfen, und er wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Beim Prozess hatte ein Jerusalemer Klosterschüler gegen ihn ausgesagt (Gunter 2011: 106-108). Es ist unklar, ob Haqoub politisch aktiv war, doch das politisierte Umfeld wird ihn in dem kleinen Rahmen des Patriarchats sicherlich stark beeinflusst haben. Im Jahre 1987 begann er eine Beziehung zu einer Anwältin aus Deutschland, beendete diese allerdings wieder. 1995 wurde er Verantwortlicher für das Museum im Armenischen Konvent und für die Kontakte zur Laiencommunity. Seit dem Beginn der 2000er Jahre widmete er sich wieder verstärkt seinen Sprachstudien und reiste für Archivrecherchen regelmäßig nach Armenien, Frankreich und Großbritannien. Die ähnliche familiengeschichtliche Konstellation und der ähnliche biographische Verlauf, verbunden mit der als negativ erlebten Fremdbestimmung im Kloster, nistrative Zugehörigkeit formal ungeklärt, es wird de facto von Armenien aus betreut (Pashayan 2009).

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das Hadern mit verbotenen Karriere- und Ausbildungswegen und Beschränkungen des Mönchslebens sowie die Teilzeitablösung – in seinem Fall durch die wissenschaftliche Beschäftigung – deuten bei dieser kurzen Darstellung der biographischen Daten auf die strukturellen Ähnlichkeiten mit Bruder Michel hin. Ähnlichkeiten lassen sich auch bei der Analyse der erzählten Lebensgeschichte feststellen. In der Selbstpräsentation bleibt Haqoub zunächst auf der Ebene seiner institutionellen Zugehörigkeit, um im weiteren Verlauf stärker auf seine persönliche Lebensgeschichte und sein Hadern mit seiner Platzierung in Jerusalem einzugehen. Er beginnt seine Selbstpräsentation: »Ich bin fast fünfzig Jahre hier (2) ich kam aus Syrien aus Damaskus (2) obwohl ich sage ich kam aber ich wurde gewählt weil, sogar heute, beim armenischen Patriarchat von Jerusalem (2) wo wir das Patriarchat und unseren Orden haben […] ist es die Auf- die Aufgabe des Patriarchats die heiligen Stätten und die Präsenz im Heiligen Land zu sichern.«

Haqoub beginnt nicht mit seiner Familiengeschichte, sondern führt seine lange Aufenthaltsdauer in Jerusalem ein, betont aber bereits zu diesem frühen Punkt im Interview seine Passivität bei dieser Platzierung und begibt sich danach auf die Ebene der symbolischen Verortung durch seine Betonung der Rolle der armenischen Kirche in Jerusalem. Er fährt fort, das Knabenseminar habe darauf hingearbeitet, Mönche statt verheiratete Priester zu fördern. Sein Neffe sei trotzdem nach Australien gegangen und habe geheiratet. Er hingegen habe sich nach dem Schulabschluss dazu entschlossen, zölibatärer Priester zu werden, weil damals die wissenschaftliche Beschäftigung mit der armenischen Sprache das Wichtigste für ihn gewesen sei und er sich dafür im richtigen Umfeld gewähnt habe. Vielleicht war diese Bindung an die Kirche aber auch durch die dort möglichen Aufstiegsmöglichkeiten bestimmt. Haqoub stammt aus einer armen Familie. Diese Argumentation verknüpft er mit seinem Karriereweg und deutet implizit an, dass er sich Hoffnungen macht, eine Rolle bei zukünftigen Wahlen des Patriarchen zu spielen, der aus den Reihen der zölibatären Ordensmitglieder bestimmt wird: »Ich sage nicht dass ich der sein sollte nur einer von uns wird berufen oder wird ausgewählt oder der Orden wählt es ist kirchlich, ein Teil von unseren Mitgliedern dient in Amerika in Europa in Frankreich in Argentinien (2) daher wird einer von uns ahm: Patriarch und Du weißt was es heißt Patriarch zu sein.«

Haqoubs derzeitige Rolle leitet er aus der Verantwortung ab, die er durch seine Gelübde übernommen habe: »Als ich mein Leben geopfert habe war es eine große Verpflichtung.« Diese ›Verpflichtung‹ beschreibt er in Aufzählungen der ihm verwehrt gebliebenen Karriereoptionen. Weil es zu wenige Mönche in Jerusalem ge-

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geben habe, habe er nicht in Armenien, Italien und in den USA arbeiten dürfen: »Aber natürlich wollte der Patriarch er hat mir nicht erl- er wollte dass ich hier bin darum haben sie mich, so jung ordiniert ahm: und bis jetzt habe ich hier gedient und ich diene hier noch immer.« Wie Bruder Michel erinnert er sich an Erlebnisse, als er der besitzergreifenden Institution gehorcht hat, diese seine Möglichkeiten beschnitten hat und er in Jerusalem ›festgehalten‹ wurde. Genauso wie Michel überspielt Haqoub seine Enttäuschung durch allgemeine Bekundungen, die symbolisch das Bild des Heiligen Landes reproduzieren: »In meinem Fall könnte ich sagen dass es eine einzigartige Erfahrung ist ununterbrochen hier zu dienen im Heiligen Land es hat viele weißt Du, Herausforderungen und gleichzeitig ist es ein Privileg könnte ich sagen.« In seiner Haupterzählung mäandert er zwischen Argumentationen über die heiligen Stätten, über das Zusammenleben verschiedener christlicher Denominationen und über die alltäglichen Probleme in Jerusalem, um zum Ende wieder zu einer symbolischen Verortung zurückzukehren: »Es sind schon beinahe fünfzig Jahre dass ich das Gleiche mache natürlich wir als Menschen wir können manchmal manchmal Probleme haben, aber wir glauben dass wir hier sind wir sind schon so viele Jahrhunderte hier gewesen seit dem vierten Jahrhundert existiert die armenische Kirche hier ohne Unterbrechungen.«

Haqoub führt die historische Rolle der armenischen Kirche in Jerusalem detailliert aus und betont, dass ihre Präsenz viel länger andauere als die anderer Kirchen, was auch zur Wahrnehmung der Relevanz seines Daseins in Jerusalem beitrage. Er beendet seine Haupterzählung: »Ich bin glücklich also (2) dass wir hier Geschichte machen weißt Du die so alt ist und so wer- wertvoll und kostbar.« Im Nachfrageteil kommt seine Unzufriedenheit wegen der konsequenten Ablehnung aller seiner beruflichen Möglichkeiten durch den Orden noch stärker zum Ausdruck. Auf meine Nachfrage nach seiner Familiengeschichte stellt Haqoub zunächst die kleine armenisch-orthodoxe Gemeinde in Homs vor, um sogleich wieder in eine Anklage zu verfallen, dass ihm niemand gesagt habe, was mit ihm geplant werde – wobei unklar bleibt, wer dies gegenüber ihm nicht offengelegt hat, die Verantwortlichen des Priesterseminars, des zugehörigen Ordens oder seine Familie: »Heute bin ich Kleriker ohne zu wissen dass ich Priester werden würde es war nicht meine Wahl zu kommen zu stu- a ein Priester zu sein es war für die Schulbildung dass ich gefragt wurde hierherzukommen und zu studieren weißt du.« Damit bricht er die Antwort ab. Auch, als ich nach dem Grund des Umzugs der Familie nach Damaskus frage, erwähnt Haqoub nur, dieser sei aus familialen Gründen geschehen und kommt sofort wieder auf sein Schicksal, nach Jerusalem geschickt worden zu sein, zurück: »Es scheint nach dem Hierherkommen (3) vielleicht war das der vielleicht Gott will mich Gott wollte dass ich hier bin um hm: ein Instrument von etwas zu sein meiner Nation meiner Kirche zu dienen.« In diesem Zitat drückt sich eine

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Art von Resignation mit der vorher noch betonten Übernahme von Verantwortung durch sein Bleiben in Jerusalem aus. Die Abhängigkeit von der Institution kann nur durch die Gleichsetzung dieser mit dem ›Willen Gottes‹ akzeptiert werden – diese rhetorische Umformung war auch schon bei Michel zu erkennen. Auf meine Nachfrage nach seiner Übersiedelung nach Jerusalem rahmt er diese einerseits als seinen Wunsch, seinem Neffen nahe zu sein, andererseits aber als Ergebnis des Drucks durch den Damaszener Priester, der seiner Mutter gesagt habe, dass es für Haqoub besser sei, zum Studieren nach Jerusalem zu gehen, weil er dort eine größere Chance auf eine bessere Zukunft habe. Doch von dieser Erzählung geht er direkt zu einer Darstellung der Nachteile Jerusalems über. In den 1970er Jahren, nach Beginn der israelischen Besatzung der Altstadt, sei seine Mutter in Damaskus beschattet worden, weil er in Spionageverdacht geraten sei. Auch die Seminaristenzeit beschreibt er in diesem Zusammenhang als von Zwängen geprägt und nur unterbrochen durch einige erleichternde Freizeitaktivitäten wie Fußball oder Musik. Wie stark diese Darstellung von der Gegenwart beeinflusst ist, wird klar, als er direkt darauf sagt: »Vielleicht könnten mich einige Leute fragen bist Du glücklich hier oder nicht, natürlich sage ich natürlich bin ich glücklich.« Diese Struktur der Antworten setzt sich fort: Auf meine Frage nach seiner Entscheidung, Priester zu werden, antwortet er mir stattdessen mit einer Erzählung über eine Bekanntschaft, die beinahe zu seinem Ausstieg aus dem Orden geführt hätte. Doch letztlich hat Haqoub seiner Karriere den Vorrang vor einer Rückkehr in das bürgerliche Leben gegeben: »Nachdem ich Priester war ich kann ehrlich mit dir sein da gab es eine Zeit vielleicht vielleicht hab ich gedacht (3) als ein Mensch weil wir diese Höhen und Tiefen haben, es war dreiundzwanzig Jahre her, ich hab jemanden getroffen und vielleicht habe ich gedacht vielleicht (3) könnte heiraten und so […] im Moment ich denke nicht so sehr an so etwas weil ich wie ich gesagt hab ich glaube dass ich hier einen sehr wichtigen Auftrag habe (2) nach all diesen Jahren Erfahrung und so weiter und so weiter, also ich meine dass ich nicht Angst davor habe, weißt du, all diese Jahre die ich hier war, in dem Moment wenn du hier weggehst ist es zu Ende, weißt Du (

) weil gemäß der ah Kirchenverfassung obwohl in letzter Zeit,

unsere Patriarchen oder die obersten, Kirchenbehörden sie könnten Deine Anfrage berücksichtigen wenn Du zu Beisp- ich bin ah ich bin nicht verheiratet vielleicht wenn Du nur, ein verheirateter Priester sein und Deine Wir- Aufgabe weitermachen (1) die Art wie ich bin ich meine die Position die ich bin es könnte automatisch (es zu) sein, es ist nicht garantiert aber, ich könnte ein Kandidat sein Bischof zu werden und Patriarch aber in dem Moment wenn du verheiratet bist, kannst du nicht befördert werden.«

Ich nehme an, dass in diesem Interviewabschnitt meine Fragen für Haqoub eine Herausforderung dargestellt haben, sein Dasein in Jerusalem zu begründen oder zu hinterfragen und dass sie ein Auslöser zur Rekapitulation aller Erlebnisse waren,

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die seine mangelnde Selbstbestimmung zeigen oder nicht gewählte Auswege aus seinem andauernden Dasein in Jerusalem. Vielleicht wurde ihm auch erst mit seiner Beziehung zu der im Zitat erwähnten Frau seine Unzufriedenheit in Jerusalem gewahr – oder sie wurde dadurch erst hervorgerufen. Auf jeden Fall erscheint die von ihm zuvor erwähnte »Verantwortung« nun recht eindeutig als Karriereplan. Dieser hilft Haqoub, sein weiteres Dasein in Jerusalem gegenüber sich selbst zu rechtfertigen. Sein Opfer, so ist seine Aussage wohl zu interpretieren, wurde von seiner Kirche noch nicht genügend durch einen Aufstieg auf der Karriereleiter gewürdigt. Dieses Deutungsmuster ist also die Aufgabe des persönlichen Willens im Gegenzug zur erhofften Beförderung. Zwar geht Haqoub regelmäßig seiner wissenschaftlichen Beschäftigung nach, die ihn zu Konferenzen und Archivrecherchen nach Europa, Armenien und Russland führt. Diese ›Parallelkarriere‹ hat auch eine ähnliche Funktion wie die Jugendaustausche für Bruder Michel: eine Teilzeitablösung. Doch im Gegensatz zu Bruder Michel hat diese nicht zu einer größeren Akzeptanz seiner Platzierung in Jerusalem beigetragen. In der Antwort auf eine Frage nach seinen internationalen Wissenschaftskontakten betont er wieder seine Negativerfahrungen mit dem Patriarchen, der ihm zunächst ein Sprachenstudium in Jerewan versprochen und dann verboten hat: »Manchmal wollen deine Vorgesetzten manchmal wollen sie dich benutzen.« Von dort aus kehrt er wiederum zum Thema Zölibat zurück, das für ihn manchmal schwierig einzuhalten sei. Selbst den armenischen Cognac, den ich mit ihm am Ende trinke, führt er auf dieses Thema zurück: Es erinnere ihn an die Hochzeit einer Verwandten, die einen armenischen Priester geheiratet habe, bei der derselbe Cognac ausgeschenkt worden sei, den wir trinken. Ähnlich wie Michel kann Haqoub meine abschließende Frage nach dem schönsten Erlebnis in Jerusalem nicht beantworten – wohl, weil für ihn in seiner jetzigen Situation die negativen Erinnerungen eindeutig überwiegen und ein Kontinuum darstellen. Stattdessen wertet er zuletzt auch die armenische Laiencommunity ab, die er bislang nicht erwähnt hatte. Ihnen wirft er mangelnden Respekt vor. Während Michel durch die Änderung des Deutungsmusters und die Teilzeitablösung eine Akzeptanz seiner ersten Platzierung in Jerusalem gewonnen hat, bleibt die Einengung bei Haqoub konstant, was die Akzeptanz seines Daseins in der Stadt erschwert. Die Kritik an der besitzergreifenden Institution erscheint bei ihm daher noch viel unverhohlener. So ist es lediglich die Hoffnung auf einen Karrieresprung, die ihn in Jerusalem hält. Ansonsten ist das Erleben von Jerusalem für Haqoub konstant einengend und mit negativen Erinnerungen verknüpft.

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Bruder Macarius: »I like to go to another place«

Auch Bruder Macarius wurde gegen seinen Willen in Jerusalem platziert, und das prägt sein Erleben der Stadt als einengend. Der koptisch-orthodoxe Mönch aus Ägypten hatte für sich eher ein zurückgezogenes, spirituelles Leben in einem ägyptischen Wüstenkloster entworfen, das die Oberen ihm nicht ermöglichten. Das Interview mit Bruder Macarius fand in einem Büro des koptisch-orthodoxen Patriarchats in Jerusalem statt. Beim ersten Treffen verabschieden sich gerade, als ich ankomme, drei Mitarbeiter der ägyptischen Botschaft von Macarius. Während des gesamten Interviews sitzt er hinter seinem großen Schreibtisch auf einem sehr großen Stuhl, während ich auf einem eher kleinen Sessel ihm gegenüber Platz nehme. Macarius trägt Kutte und einen langen Bart. Auf seinem Schreibtisch steht eine große ägyptische Flagge. Macarius betont während des Gesprächs, dass der Kaffee, der uns angeboten werde, ägyptischer Kaffee sei und nicht der ›weniger gute‹ »Kaffee von hier«. Macarius spricht mit starkem ägyptischem Dialekt. Seine EmailAdresse ist [email protected]. Diese Beobachtungen sind sinnbildlich: Macarius ist viel stärker in Ägypten verortet, seine Platzierung in Jerusalem empfindet er als eine Art Test oder Demütigung. Dem Treffen ging eine längere Aushandlung voraus, um welche Art von Interview es sich handele und welche Fragen ich ihm stellen würde (dass ich keine politischen Fragen stelle, war eine Bedingung). Dieser Aushandlungsprozess setzt sich während des Interviews fort: Bruder Macarius weigert sich, auf meine biographische Fragestellung einzugehen, worauf ich ihm die Möglichkeit eröffne, generell über das zu reden, was er wolle. Danach kommt es zu einer weiteren Verhandlung über die Frage, ob ich das Aufzeichnungsgerät verwenden dürfe. Insgesamt saß ich mit Bruder Macarius bei drei Treffen sechs Stunden lang zusammen, aber nur zwei Stunden sind auf Band aufgenommen. Die Organisation der zweiten und dritten Interviewtreffen war kompliziert und benötigte zahlreiche Terminabsprachen. Beim zweiten Treffen verweigert er ein Interview, weil der koptische Papst Schenuda wenige Tage zuvor gestorben ist. Beim dritten Treffen nimmt er mich zunächst zu einem kurzen Besuch eines Gemeindemitglieds mit, vielleicht ein weiterer Versuch der Ablenkung, ein Angebot, in seinen Alltag zu schauen oder sich als beschäftigt zu zeigen. Als es doch noch zu einer Interviewsituation kommt, antwortet er auf meine Frageversuche lachend: »My life story is not very important.« Kurz fasst er die gleichen Stationen seines Lebens, die er im ersten Interview bei einer anderen Eingangsfrage erwähnt hat, noch einmal zusammen und widmet sich dann ausgedehnten Ausführungen zu spirituellen Fragen. Diese Aushandlungen zeigen bereits eine bestimmte Struktur auf: Macarius hat die Pflicht der Rücknahme des Selbst (vgl. Kap. 9.1) viel stärker verinnerlicht als Bruder Michel oder Bruder Haqoub. Das entspricht auch seinem ursprünglichen

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Wunsch nach einem spirituell geprägten, zurückgezogenen Klosterleben. Er war viel weniger bereit, über sich und Eigenerlebtes zu sprechen, und diese Struktur änderte sich auch im Laufe des Interviews nicht. Der biographische Unterschied zu den beiden vorherigen Fällen liegt vor allem darin, dass er erst als Erwachsener und ganz bewusst dem Orden beigetreten ist und seine Gelübde abgelegt hat. Aus den wenigen erzählten Erlebnissen kann zwar geschlossen werden, dass er seine Erfahrungen der Platzierung in Jerusalem als genauso negativ wahrgenommen hat wie die beiden anderen Mönche, dass er es aber viel stärker verinnerlicht hat, nicht über diese negativen Erfahrungen zu sprechen. Einzelne negative Argumentationen werden sogleich von allgemeinen Bekundungen zur Rolle der Spiritualität und der heiligen Stadt überdeckt. Das einzige biographische Datum, das Macarius mit einem Jahr verknüpft, ist das seiner Platzierung in Jerusalem, das war 2001. Ansonsten sind mir nur äußerst grobe Angaben bekannt. Macarius wurde in Alexandria als Sohn eines Arztes geboren, der eine gutgehende Praxis betrieb. Er hat zwei Schwestern. In seiner Jugend unterrichtete er vor dem Abitur in der Kinderkirche. Nach dem Abitur begann er ein Medizinstudium und arbeitete danach in der Praxis seines Vaters. Mit 25 Jahren entschied er sich gegen dieses Leben, trat ins Kloster ein und arbeitete dreieinhalb Jahre als Sozialarbeiter in seiner Heimatstadt. Dann wurde er nach Jerusalem entsandt. Eine seiner Schwestern ist schwer krank, die andere unverheiratet. Selbst diese wenigen Angaben habe ich nur durch eine schriftliche Quelle (die ich aus Anonymisierungsgründen nicht näher charakterisieren kann) oder durch geschlossene Interviewfragen erhalten, die ich eingesetzt habe, als Macarius auf meine offenen Fragen nicht mehr antworten wollte. In dieser Schweigsamkeit zum Persönlichen ähnelt er Bruder Jean (Kap. 9.3.3), der ähnlich wenig über sich preisgab. Doch auf der anderen Seite beklagt sich Macarius zum Teil bitterlich über seine Platzierung in Jerusalem, ohne jedoch direkt seine Kirche zu beschuldigen. Diese Unzufriedenheit ähnelt einerseits der von Michel und Haqoub, ist aber andererseits von jener verschieden, da Macarius nicht am mönchischen Dasein an sich zweifelt, dieses Leben war ja seine eigene Entscheidung. Nein, Macarius wäre vielmehr gerne ein ›richtiger‹ Mönch in einem abgeschiedenen Wüstenkloster – um dort im Gebet zu leben. Zumindest in seinem Entwurf ist das Dasein an einem für ihn spirituell geprägten Ort – der Jerusalem für ihn nicht ist – wichtiger als der repräsentative Ort, den Jerusalem für ihn verkörpert. In Jerusalem fühlt er sich ständig zur Repräsentation nach außen gedrängt. Bei seinen Ausführungen im Interview wird deutlich, dass auch er gelernt hat, seine Platzierung in Jerusalem symbolisch zu überhöhen, um diese Unzufriedenheit zumindest teilweise zu überdecken. Die allgemeinen Bekundungen zur Heiligkeit Jerusalems werden aber immer wieder durch seine abfälligen Äußerungen über die Stadt durchbrochen. Macarius beginnt auf die ausgehandelte Frage, über das zu sprechen, was er möchte, mit einer generellen Darstellung des koptischen Mönchstums. Antonius,

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der geistige Vater des Bettelmönchtums, habe, wie er, seinen reichen Vater zurückgelassen. Antonius habe aber alleine in der Wüste gelebt und habe anderen als Ratgeber gedient. Er argumentiert, dass sein Leben in der Jerusalemer Altstadt keine Parallele mehr mit dem von Antonius habe: »We are here as a in Old City, is a different life, than in Egypt cause in Egypt there is monasteries in in desert and the the monks had a a different life, not touch it to the the other, to the other communities to the the the people like here in the Old City […] here ah we open to all the world through the the foreigners coming to visit the holy places.«

Doch nicht nur die Gäste störten das geistliche Leben in der Altstadt, die Kopten würden gerade auch durch die anderen christlichen Denominationen angegriffen. Man müsse in der heiligen Stadt nebeneinander leben: »But sometimes it’s it it’s out of our control to fight with the other, the this other is a is a as a also the Christian, but the- they not respect you they not like to live with you in peace, and we: we: try=try=try=try many time to be in the peace with with them […] but you know we are as as Egyptians we are the peace-makers, the first people is make a peace with Israel with, all the Arab countries ah also in ah in in the reason of the Egyptian is the is the genius ah we not like many wars, in Egypt.«

Wie an beinahe allen Stellen im Interview ist sein Argumentationsgang von seiner Zugehörigkeit zur koptisch-orthodoxen Kirche, seiner Nationalität und einer Abgrenzung zu anderen durchsetzt. Während sich Michel transnational vernetzt, bildet für Macarius Ägypten den wichtigsten Referenzrahmen. Ständig rekurriert Macarius auf sein Heimatland. So bemüht er immer wieder die populäre Figur des »Genius der Kopten«, der direkt von den Pharaonen stamme. Er grenzt sich eindeutig vom westlichen Christentum ab und positioniert sich als ›arabischer Christ‹ (vgl. Sabra 2006). Zum Beispiel belehrt er mich mehrere Male, dass Homosexualität Sünde sei und greift die vermeintliche Geschlechterdebatte an, die die westliche Öffentlichkeit bestimme. Nachdem er anschließend etwas über seinen Alltag berichtet hat, beendet er diese ›Haupterzählung‹ nach einer halben Stunde mit einer weiteren Abgrenzung – dieses Mal von anderen Religionen: »We are the the son of God the real God we not have something prophets or something else.« Als Ergänzung sei erwähnt, dass er sich im dritten Interviewtreffen zudem von der koptischen Community in Palästina absetzt. Deren Mitglieder seien anders als die Kopten in Ägypten. So entspreche die liberale Sexualmoral der palästinensischen Kopten nicht seinen Vorstellungen. Er evaluiert: »Here it’s good here is ah but you know sometimes e: not feel good with the community but thanks to God.« Als ich ihn explizit frage, ob die Jerusalemer Community schwierig sei, antwortet er lediglich mit einem Stöhnen. Doch nach solchen Klagen über die Situation in Je-

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rusalem ändert Macarius seinen Duktus schleunigst und leitet zu einer routinierten Bekundung der religiösen Relevanz der Altstadt über: »Old City is very unique place, very beautiful place a because the place where Jesus set steps of eh witness to the steps, of the feet of Jesus Christ, he is walking through this wa- through this streets he he in the end he crucifixion in the in the cross, in the Holy Sepulcher.« Auch im Nachfrageteil erhalte ich kaum Berichte, die über das bereits Erwähnte hinausgehen. So deutet Macarius zum Beispiel an, dass seine Entscheidung zum Mönchstum starke familiale Konflikte nach sich gezogen habe, weil er als einziger Sohn nicht mehr die männliche Linie der Familie fortführen könne. Doch weitere Nachfragen blockt er komplett ab. Lediglich in Bezug auf seine Platzierung in Jerusalem ist er bereit, in Andeutungen und Argumentationen einzusteigen, was wiederum auf die zentrale biographische Stellung dieser Platzierung hindeutet. In Ägypten spreche man immer nur von den Wüstenklöstern und nicht von solchen Orten wie Jerusalem. Ihm sei einfach mitgeteilt worden, dass er dorthin gehen müsse. Anstatt meditierend in der Wüste zu leben, kümmert er sich nun um die sozialen Belange der koptischen Community in Palästina und Israel, was überhaupt nicht seinen Vorstellungen vom Mönchsleben entspricht. Deswegen rahmt er seine Platzierung in Jerusalem als Bewährungsprobe oder Opfer: »I must to come here to: to Jerusalem because testing the life here because I tell you all the youth now about the the the life in Egypt, the the monasteries in Egypt but not about the life here the life here is a mix between the monastic and the social life.« Immer wieder betont er, wie sehr er seinen Herkunftskontext vermisse und Heimweh habe. Häufig, so erläutert er eine Metapher, fühle er sich wie der Prophet Jona: »I feel eh, very warmly to the Egyptian monasteries, ((J: hm)) but=eh, in the same time, as ah (2) as ah Jonah you know Jonah ((J: with the with the fish)) yes with fish he’s he’s escape from the the God from the face of the God […but] he bring him again to the same point, the same point […] and sometime I like to skip from here to to be in the another places but, I believe that a God knows who- who’s for me I don’t know for for the other (2) many time I like to I like to go to another place but I feel something here is is difficult=different so- I feel with here than the other places.«

Macarius findet in Jerusalem nicht die Spiritualität, die er sich von seinem Mönchsdasein erhofft hat und muss nach außen gewandt statt in sich zurückgezogen leben. Er setzt sich von der Stadt und den dortigen anderen Religionen, Denominationen und von der koptischen Laiencommunity ab, weswegen er in Jerusalem nur die koptische Mönchsgemeinschaft gelten lässt. Am liebsten würde er Jerusalem schnell verlassen. Wie Michel oder Haqoub versucht er, mit allgemeinen Bekundungen zur Heiligkeit Jerusalems die Enttäuschung über seine Platzierung zu überdecken, was aber nicht über seine Desillusionierung hinwegzutäuschen vermag. Im Gegensatz zu diesen ist die ›transnationale Verortung‹ für ihn kein Ausweg – er ist

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stattdessen stark in seiner ägyptischen Kirche und in seinem Heimatland Ägypten verortet. Obwohl Macarius häufig so erscheint, als sei er an einem Interview mit mir desinteressiert, bin ich wohl doch – ähnlich wie in den beiden Fällen zuvor – der richtige Ansprechpartner, um seine Unzufriedenheit relativ offen anzusprechen. Macarius wartet weiterhin auf seine Verortung, ›seinen‹ Auftrag in Jerusalem: »I believe that Jesus Christ bring me here specially in Jerusalem to something ((J: hm)) I don’t know what is this but there is one here monk died now, he said to me (3) tell me that you have the the the message from God to you in this place and I I remember all the time what what he said message what is the message I am not read it not read it yet ((lacht)) this=a, this all can I tell you about myself.«

9.3.3

Bruder Jean: »Ich weiß, wie man in so einem Umfeld leben kann«

Der Fall von Bruder Jean Bernard unterscheidet sich von den bislang vorgestellten: Jean hat sein Dasein und seine Platzierung in Jerusalem als durchweg positiv erlebt und verortet sich aktiv in der Altstadt und in der mehrheitlich muslimischen Nachbarschaft, in der sein Kloster gelegen ist. Einer der zentralen Gründe hierfür ist sicherlich, dass Jean in enger Abstimmung mit seinem Orden gemeinsam über seine Karriere und seine Platzierung in Jerusalem entschieden hat. Diese entsprach seinem Wunsch und seinen wissenschaftlichen Interessen. Jean ist ein französischer römisch-katholischer Mönch in einem Kloster, das in einer mehrheitlich muslimischen Nachbarschaft liegt. Er wurde 1962 in Grenoble geboren. Nach seinem Abitur trat er ins Kloster ein, verbrachte ein Jahr in Ruanda, war im Alter von 20 oder 22 Jahren zu Arabischstudien in Algier und studierte und promovierte danach in Ostkirchenwissenschaften in Paris, Toulouse und Rom. Ende der 1980er Jahre besuchte er weitere Arabischkurse in Jerusalem und engagierte sich parallel in der Sozialarbeit. Zwischen 1995 und 1999 hielt er sich für Promotionsstudien in Rom auf, um 1999 endgültig nach Jerusalem zu ziehen. Mit ihm führte ich 2010 ein ungefähr einstündiges Gespräch auf Deutsch. 2010 hat Jean somit schon über 20 Jahre konsekutiv in Jerusalem gewohnt, insgesamt aber schon über 25 Jahre. Bruder Jean spricht exzellentes PalästinensischArabisch und klassisches Arabisch sowie sehr gut Deutsch und Italienisch. Er ist Mitglied eines Ordens, der besonderen Wert auf den Kontakt mit dem lokalen Umfeld legt. Seine Aufgabe ist der Austausch mit der muslimisch geprägten Nachbarschaft genauso wie die Betreuung von Touristengruppen. Wie mit beinahe allen anderen Mönchen war es schwierig, mit Jean einen Termin festzusetzen, was auch daran ersichtlich war, dass er mir ein genau einstündiges Zeitfenster für unser erstes Interviewtreffen gab und seine Informationen und Antworten so dosierte, dass sie

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diese Stunde genau füllten. Er schien eine genaue Erwartung oder Erfahrung zu haben, was während des Interviews passieren sollte. Somit verkörpert er das Gegenteil von Bruder Michel, der zum Teil die von ihm gewünschte Kontrolle über das Interview verloren hat. Von Bruder Jean erhielt ich, ähnlich wie bei Bruder Macarius, nur sehr wenige Berichte und Erzählungen über persönliche Erlebnisse – die oben eingeführten Stationen sind bereits so gut wie alle relevanten biographischen Daten, die er erwähnte. Von seinem Leben vor dem Eintritt ins Kloster berichtete er so gut wie nichts. Sein erzählbares Leben ist also Teil der besitzergreifenden Institution, der er sich verschrieben hat und als deren Repräsentant er in den Antworten auch weitgehend agiert. Jeans Selbstpräsentation ist von seinem Dasein in Jerusalem und von seiner Aufgabe dort durchdrungen. Sie ist gegenwartsorientiert und vergleichsweise wenig spirituell. Jean muss seine Verortung nicht wie die anderen Mönche durch allgemeine Bekundungen zur symbolischen Relevanz der Stadt oder seiner seelsorgerischen Arbeit ›künstlich‹ herstellen. Zudem spricht er, ähnlich wie Bruder Macarius, wenig über sein persönliches Erleben. Dies, so meine Interpretation, liegt an einer lebensgeschichtlichen Ähnlichkeit: Wie Macarius ist auch Jean – im Gegensatz zu Haqoub und Michel – erst im Erwachsenenalter und auf eigene Entscheidung ins Kloster gegangen und hat dort die Gelübde abgelegt. Auch an weiteren, hier nicht diskutierten Fällen wurde deutlich, dass solche Mönche die Ich-Dethematisierung viel ernster nahmen und sich durch meine Gesprächseinladungen viel weniger davon abbringen ließen. Aber bei Jean ist im Gegensatz zu Macarius hinter der versuchten Ich-Dethematisierung keine Unzufriedenheit mit der Platzierung in Jerusalem zu erkennen, die sich bei Macarius in längeren, allgemeinen spirituellen Bekundungen und negativen Argumentationen zeigte. Das liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass Jeans Platzierung in Jerusalem mit den Ordensoberen abgesprochen war. Jean ging auf meine Fragen ein und beantwortete sie sachlich und kurz, aber eben mit relativ wenigen biographischen Bezügen. Einmal antwortete er auf eine meiner Nachfragen explizit, dass er keine einzelnen persönlichen Situationen erinnern wolle. Auch deswegen blieb das Interview mit einer knappen Stunde sehr kurz. Auf die Frage nach seiner Lebensgeschichte beginnt Jean mit seiner Institutionenbiographie, auf die er sich während der zwölfminütigen Haupterzählung zunächst konzentriert, dann aber immer mehr in eine Diskussion seines Daseins in Jerusalem übergeht. Er beginnt auf meine Frage nach seiner Lebensgeschichte: »Jean Bernard, ich gehör zu [Name des Ordens] in Jerusalem, in der Altstadt, haben wir unsere Niederlassung ah, der Platz an dem wir jetzt sind das ist am Herzen der Altstadt der muslimischen Altstadt, in einem Viertel das [Name des Viertels] heißt ganz nahe beim [Name des Tores], und wird begrenzt durch die [Name der Straße], ein sehr traditionelles Viertel, altes islamisches traditionelles Viertel (2) unser Ort wo ich lebe, das ist ein Ort der für Pilger ver-

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schiedener christlicher Konfessionen ist wird aber auch besucht von die verschiedenen, anderen Gemeinschaften, sei es von der jüdischen oder von der islamischen Seite.«

Das Herausragende an dieser Selbstthematisierung zu Beginn des Interviews ist, dass Jean der einzige der Mönche ist, der sich nicht nur in seiner Religions- oder Ordensgemeinschaft verortet, sondern auch konkret in der Nachbarschaft oder der räumlichen Umgebung, in der er wohnt. Zwar beginnt er mit seinem bürgerlichen Namen und mit der Zugehörigkeit zu seinem Orden, doch direkt darauf folgt eine genaue geographische Bestimmung des Klosters in der islamisch geprägten Nachbarschaft. Erst nach dieser Verortung in der Gegenwart beginnt er mit seiner Ordensbiographie und beschreibt, wie die Aufgabe, in Jerusalem zu dienen, bereits früh für ihn ausgewählt worden sei und wie er deshalb darauf habe hinarbeiten können, unter anderem durch seine Aufenthalte in Algerien und durch sein Studium der Ostkirchenwissenschaften. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt während der Selbstpräsentation argumentiert er, dass es wichtig sei, die Ostkirchen in ihrer islamischarabischen Umgebung wahrzunehmen, weswegen er gute Kenntnisse des Arabischen als wichtige Voraussetzung für seine Arbeit sieht. Bruder Jean soll möglichst lange in Jerusalem bleiben, so sei es vom Orden beschlossen worden. Er erwähnt das im Zusammenhang mit seiner Aussage, dass es schwer sei, Mönche für längere Zeit in Jerusalem zu halten. Doch Jean ist im Gegensatz zu den vorher eingeführten Fällen im Einklang mit der Entscheidung seiner Oberen und zufrieden in Jerusalem. Schließlich äußert er auch manifest, dass er sich »überraschend gut« in dieser Stadt fühle, »in der nichts normal läuft«. Er sei »hier, angekommen ich weiß, wo ich steh« und »weiß was ich kann, nicht kann«. Weiter kontrastiert er in seiner Selbstpräsentation das optimistische Klima in Jerusalem zu Beginn seines ersten längeren Aufenthaltes mit dem pessimistischen Klima seit Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000, das ihn sehr mitgenommen habe. Das führt er als Begründung an, warum er in der Ökumene und der Nachbarschaftsarbeit seine Hauptbetätigungsfelder sehe – auf die Nachbarschaft geht er im letzten Teil seiner Selbstpräsentation genauer ein.26 Er charakterisiert sie, indem er angibt, dass dort nicht die intellektuelle Beschäftigung das Wichtigste sei, sondern, gemeinsam Zeit zu verbringen. Er schließt die Haupterzählung mit einer positiven Evaluation seiner eigenen Anpassungsfähigkeit, aber auch seines Daseins in dieser muslimisch geprägten Nachbarschaft: »Ich weiß wie man in so einem Umfeld leben kann« und sich »so verhalten dass das für die Leute, akzeptabel ist dass man mitmacht ohne dass man immer ganz, ah Fremdkörper ist oder als der, Außenstehende erscheint«. Während des Nachfrageteils, der durch die Zeitbeschränkungen genauso beschnitten ist wie durch Jeans implizite wie explizite Weigerung, sich auf genauere 26 Jean hat ein französischsprachiges Buch über die Communities in der Altstadt verfasst, das aus Anonymisierungsgründen im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt ist.

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Erinnerungsprozesse einzulassen, geht es weiterhin vor allem um das Leben in einer muslimischen Umgebung in Jerusalem. Jean macht zwar kurze Angaben zu seinen anderen Auslandsaufenthalten, zum Beispiel in Algier, doch zu seinem vormönchischen Leben äußert er sich nicht. Das Dasein in Jerusalem ist bei ihm zusätzlich durch das Lernen der arabischen Sprache, sein soziales Engagement und seine Auseinandersetzung mit dem Islam geprägt. Obwohl er – ganz im Zeichen der Ordensdoktrin – nicht viel über Politik reden will, ist sie immer kopräsent. So geht er eindringlich auf die Zeit der Zweiten Intifada ein. Er habe »erschreckende Szenen von Gewalt« mit anschauen müssen. Demonstranten sei in die Augen geschossen worden, »da hab ich das Gefühl gehabt, das läuft mit brutalen Mitteln«, weil es geplant ausgesehen habe. Er betont auch mehrere Male, wie sehr die alltägliche Gewalt, die es in der Altstadt gebe, auf ihm laste – gewaltvolle Familienstrukturen und soziale Kontrolle –, ohne darüber genauer erzählen zu wollen, weil er seine Nachbarschaft schützen wolle, wie er sagt. Auch diese Aussage deutet auf die Relevanz sozialer Beziehungen und seine Verortung in der Nachbarschaft hin. Am Anfang meiner Feldforschung habe ich einige Interviewpartner/-innen gefragt, ob sie mir nach Interviewabschluss Orte in der Altstadt zeigen könnten, die ihnen wichtig sind.27 Bruder Jean sagte mir einerseits zu, mir sein Kloster zu zeigen, und andererseits ein Jugendzentrum in der Nachbarschaft, mit dem er zusammenarbeitet. Bei einem zweiten Treffen erläuterte er mir zunächst die kirchenhistorische Bedeutung des Klosters. Als ich Jean danach daran erinnerte, dass er mir auch das Jugendzentrum habe zeigen wollen, meinte er, dass er dies vergessen habe und lud mich zunächst im Kloster zu einem Getränk ein. Während der Analyse habe ich festgestellt, dass dies auch dazu diente, abzutesten, ob er mich tatsächlich dorthin mitnehmen könnte. Die Führung durch das Kloster war offensichtlich ein Teil seines Programms für Pilgergruppen. Ich gewann den Eindruck, dass ihm das Jugendzentrum persönlich viel wichtiger war und er deswegen wissen wollte, ob ich sein Renommee dort nicht stören würde. Es war wichtig für ihn zu erfahren, dass ich Arabisch sprach, für den Besuch meinen Nasenring entfernen und dort mein Aufnahmegerät nicht benutzen würde – dass ich also nicht negativ auf ihn abfärben würde. Außerhalb des Klosters, auf dem Weg zum Jugendzentrum, hat Jean die Rolle des repräsentierenden Mönchs abgelegt und versuchte, in die alltägliche Umgebung der Altstadt einzutauchen – beinahe wie ein Sozialarbeiter. Die Bewohner/-innen der Nachbarschaft schienen ihn allesamt zu kennen. Sie kamen auf ihn zu, grüßten und unterhielten sich mit ihm. Die Kinder auf der Straße fingierten zwar trotzdem Steinwürfe auf ihn – Jean sagte, das würde auch dann nicht aufhören, wenn sie je27 Ich habe diese Forschungsmethode später nicht fortgeführt, da sie für einige Interviewpartner/-innen praktisch zu schwierig war – z.B. für Huda (Kap. 8.2) – und sie sich in weiteren Fällen als nicht sehr ertragreich erwiesen hat.

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manden kannten –, es schien ihn aber nicht sonderlich zu stören. Jean übernahm auch die in der Nachbarschaft bzw. der Altstadt vorherrschenden Diskurse. Er grüßte einen Mann im Vorbeigehen, den er gegenüber mir danach als Drogenhändler charakterisierte und sogleich daraus folgerte, dass er wahrscheinlich ein israelischer Kollaborateur sei. Auch im Jugendzentrum grüßte er alle anwesenden Jugendlichen mit Namen und zum Beispiel damit, dass er mit ihnen einschlug. Wir setzten uns zu einer Gruppe von körperlich beeinträchtigten Jugendlichen und ließen uns von den Sozialarbeiterinnen über die aktuellen Ereignisse berichten. Diese Beobachtungen haben den Eindruck aus dem Interview bestärkt, dass sich Bruder Jean grundlegend in der Nachbarschaft in der Altstadt verortet und sich damit von den anderen interviewten Mönchen unterscheidet. Bruder Jean war auch der einzige Mönch, der mir nicht von aus anderen Ländern stammenden Kontaktpersonen vermittelt worden ist, sondern durch einen muslimischen Bekannten, der ihn aus der Altstadt kannte. Auch im Lebensmittelladen in der kleinen Nachbarschaft (vgl. Kap. 7.2) war er einigen bekannt, und als sie erfuhren, dass ich ihn getroffen hatte, fragten sie mich immer wieder nach ihm und wie es ihm gehe, wenn sie ihn eine Zeitlang nicht gesehen hatten.

Zusammenfassung und übergreifende Ergebnisse

In diesem Kapitel stelle ich die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassend dar. Zunächst folgt eine Rekapitulation der theoretischen Konzeption zu ›Orten‹ und ›Verortungen‹, die diese Arbeit begleitet hat (Kap. 10.1). Danach zeichne ich meine Konstruktion von drei Forschungsräumen nach und rahme sie als Ergebnis der empirischen Beschäftigung (Kap. 10.2). Im folgenden Abschnitt fasse ich die Kapitel zur Geschichte und Gegenwart Jerusalems und der Altstadt zusammen (Kap. 10.3), darin enthalten ist auch die Diskussion relevanter Diskurse über die Altstadt in der wissenschaftlichen Literatur und im gegenwärtigen Ostjerusalem. Daraufhin stelle ich die von mir rekonstruierten Verortungen in Jerusalem vor (Verortung im Haus und in der Familie, Verortung in der Nachbarschaft, symbolische Verortung, Teilzeitablösung und Wegzug) (Kap. 10.4). Es wird deutlich, dass jede dieser Verortungen in allen drei Forschungsräumen vorkommen kann. Somit kann nicht von einem Forschungsraum auf eine ›zugehörige‹ Verortung geschlossen werden und umgekehrt. Es ist allerdings ein weiteres Ergebnis der Arbeit, dass in zwei von drei Forschungsräumen bestimmte Verortungen durch die Struktur dieser Räume begünstigt werden. Diese führe ich als dominante Verortungen ein (Kap. 10.5). Dann stelle ich die von mir definierten Typen von Verortungen in biographischen Verläufen vor (die stärker werdende Einengung, die schwächer werdende Einengung und das Erleben von Konstanz im biographischen Verlauf) (Kap. 10.6). Es wird deutlich, dass sich Verortungen im biographischen Verlauf grundlegend wandeln können. Schließlich befasse ich mich mit einigen methodologischen Perspektiven, die die Arbeit durchzogen haben (Kap. 10.7). Zunächst diskutiere ich die Vor- und Nachteile meiner methodischen Kombination aus biographisch-narrativen Interviews und teilnehmenden Beobachtungen. Dann beschäftige ich mich mit den spezifischen Herausforderungen des Forschungsfeldes Palästina/Israel, in dem die politische Aufgeladenheit die Feldforschung stark beeinflusst. Zuletzt widme ich mich der Frage, inwieweit die Forschung in Nachbarschaften als eine Perspektive ähnlich der Forschung in Familien begriffen werden kann.

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10.1 F ORSCHUNGSFRAGE UND THEORETISCHE K ONZEPTIONEN Diese Arbeit hat individuelle und kollektive Verortungen in der beengten und ideologisch aufgeladenen Altstadt von Jerusalem zum Thema. Dabei geht es besonders um eine Verbindung von biographietheoretischen und raumsoziologischen Perspektiven. Ich frage danach, wie und wo sich Bewohner/-innen in ihren lebensgeschichtlichen Verläufen verorten und wie sie verortet werden. Weiterhin wird untersucht, wie Verortungen als kollektive Zugehörigkeit relevant werden können, wie sich also das bildet, was ich ›Wir-Orte‹ genannt habe. Die Verknüpfung von soziologischer Biographieforschung und Raumsoziologie ist eine methodisch kaum ausgearbeitete Kombination (Kap. 2.1). Daher habe ich zunächst versucht, die dafür relevanten Begriffe ›Ort‹, ›Wir-Ort‹ und ›Verortung‹ zu schärfen (Kap. 3.1-3.4), wie ich im Folgenden kurz zusammenfasse. Philosophiegeschichtlich wurden ›Raum‹ und ›Zeit‹ in der Neuzeit häufig getrennt; Raum wurde mit Statik und Zeit mit Aktivität verknüpft. Dementsprechend wurde Raum als vorhanden, als ›Containerraum‹ definiert, der dann mit Körpern und Menschen ›befüllt‹ wird. Auf Basis des Containerraumkonzeptes wird angenommen, dass aus einem Raum verschiedene konkrete Orte ›herausgeschnitten‹ werden können. Relationale und relativistische Raumkonzepte, denen ich anhand der Arbeiten von Edward Casey, Martina Löw, Doreen Massey und Linda McDowell gefolgt bin, stellen diese Kategorisierung in Frage. Sie betonen stattdessen, dass Räume und Orte erst durch das Vorhandensein von Menschen und Gegenständen und deren Relationen gebildet werden; dass sie somit auch eine ›soziale‹ Konstruktion sind. Ich begreife Orte im Anschluss an Edward Casey als die primäre, ›naheliegende‹ Ebene des Erlebens. Im Ort fallen ›Raum und Zeit‹ zusammen. Orte werden nicht nur erlebt, sondern die Erlebenden sind gleichzeitig selbst leiblich Teil dieser Orte und konstituieren diese durch ihre sozialen Interaktionen mit. Eine weitere Eigenschaft von Orten ist, dass diese ›ansammeln‹ können – sowohl Materialien (die auch Ergebnis vergangener sozialer Interaktionen sind) als auch Erinnerungen oder Geschichten. Dadurch, dass Orte durch Interaktionen mitkonstituiert werden und gleichzeitig die Fähigkeit haben, anzusammeln, können sie nicht als statisch betrachtet werden. Sie sind prozesshaft und ständig im Wandel begriffen. Als Prozesse werden Orte auch erzählbar. Eine Methode, Erzählungen über Orte herauszuarbeiten, ist über die Analyse der Lebensgeschichten der sie konstituierenden Mitglieder. Welche Geschichten aber über Orte erzählt werden und welche Stimmen laut hörbar sind, ist wiederum die analytische Aufgabe einer macht- bzw. diskurskritischen Herangehensweise.

Z USAMMENFASSUNG

UND ÜBERGREIFENDE

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Für die Biographieforschung bedeutet das, dass es nicht möglich ist, einen ›verstetigten‹ Hintergrundraum für Biographien anzunehmen. Orte müssen in ihrer Wandelbarkeit und Abhängigkeit von ihren Mitgliedern, den Biographinnen und Biographen, gesehen werden.1 Dies bedeutet auch, dass die Analyse von Orten mit ihnen verbundene historische Verläufe erfassen muss. Denn ähnlich wie in theoretischen Konzeptionen zu Biographie hat Doreen Massey (1995: 187) aufgezeigt, dass sich in Orten Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig konstituieren: »If the past [of a place] transforms the present, helps thereby to make it, so too does the present make the past.« Vom Begriff Ort habe ich den Begriff ›Wir-Ort‹ differenziert. Dieser Begriff soll solche Orte unterscheiden, die sich durch ihre Mitglieder so konstituieren, dass sie mit der Entwicklung eines Wir-Gefühls verbunden sind, das diesen Orten dann eingeschrieben wird. Somit wird diese kollektive Zugehörigkeit deutlich nach außen getragen. Daraufhin habe ich den Begriff Verortung für die biographietheoretische Beschäftigung mit Orten hergeleitet. Orte sind in ihren materiellen und nichtmateriellen Qualitäten nie vollständig wahrnehmbar, sondern werden von Teilen präsentiert, von denen wiederum auf den ganzen Ort geschlossen wird. Der Ort bietet sich auf bestimmte Weise(n) dem Wahrnehmenden dar; der Wahrnehmende wendet sich dem Ort (in strukturierender Weise) zu. Dieses Wechselverhältnis von Noema und Noesis bedeutet die Annahme, dass Orte verschieden erscheinen können und die Zuwendung zu Orten sich verändern kann. Durch die Analyse von Erlebnissen und Erinnerungen können sich im Lebensverlauf ändernde Ortsnoemata und unterschiedliche, aber aufeinander aufbauende Formen der Zuwendung rekonstruiert werden. Biographische Verläufe finden nicht im ›leeren Raum‹ statt, sondern an mehreren Orten. Im Zusammenhang mit der ausgeführten gegenseitigen Konstitution von Menschen und Orten verdeutlicht dies, dass Orte lebensgeschichtliche Verläufe mitbestimmen und Menschen durch ihr dort gelebtes Leben auch Orte mitkonstituieren. Deswegen kann mit biographischen Fallrekonstruktionen nicht nur etwas über die Verortungen von Menschen ausgesagt werden, sondern auch etwas über die Orte, in denen sie sich verorten. Ich habe Verortung als einen prozesshaften Vorgang definiert. Er bezeichnet a) das ›sich verorten‹, das heißt welche Orte auf welche Arten und Weisen für ein Individuum biographisch in Bezug auf Wahrnehmungen, Handlungen und Deutungen relevant geworden sind, welche Bedeutungen es diesen zuschreibt, wie diese sich verändern und wie das Individuum aus der Gegenwart darauf (zurück)blickt. Er benennt b) das ›verortet werden‹ durch die Ortsnoemata, durch die Einbindung in ver1

Die Wandelbarkeit von Orten führt auch dazu, dass man nicht annehmen kann, dass Orte zu bestimmten Communities gehören – Orte haben laut Massey nicht nur eine Identität.

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schiedene Figurationen und durch Diskurse über die mit Individuen assoziierten Orte (und damit zugeschriebene Machtpositionen). Dies fordert bestimmte Weisen der Verortung heraus oder macht sie schwer umgehbar. Beide Aspekte der Verortung gehen eine Wechselwirkung ein.

10.2 D IE K ONSTRUKTION

VON DREI

F ORSCHUNGSRÄUMEN

Es gibt bislang keine methodologischen Vorschläge, wie man in begrenzten Forschungsfeldern Verortungen empirisch untersuchen kann. In der Altstadt haben sich mir daher forschungspraktische Herausforderungen gestellt: Wie kann ich im Zuge einer Forschung, die am Prinzip der Offenheit orientiert ist, die Verortungen identifizieren, die für Akteure relevant sind, ohne von vorneherein bestimmte räumliche Kategorien (z.B. aufgrund von Diskursen) zu bilden? Wie kann ich eine Analyse des Alltagslebens leisten und nicht nur die Diskurse über die Altstadt abbilden? Während der Phase der Datenerhebung habe ich darauf reagiert und in Anlehnung an die Grounded Theory zwei ›räumliche‹ Samples gebildet (vgl. Kap. 3.5): Während der ersten zwei Feldaufenthalte habe ich in der Altstadt ohne Einschränkungen Interviews geführt. Bald hat sich selbst die kleine Altstadt als zu komplex, heterogen und divers für die Erhebung erwiesen. Ich habe daher die Daten dieser ersten Feldaufenthalte globalanalytisch auf die räumlichen Selbst- und Fremdbeschreibungen hin ausgewertet und auf Basis von deren maximalen Kontrasten heuristisch drei Forschungsräume (von vielen möglichen) definiert, um mein Untersuchungsgebiet einzugrenzen. Diese drei Forschungsräume bilden das zweite räumliche Sample. Diese ›Räume‹ sind also eine auf einer vorläufigen Analyse beruhende Konstruktion des Forschers. In diesen Räumen habe ich gezielt während folgender Feldaufenthalte weitere empirische Daten gesammelt und ausgewertet. Die biographischen Fallrekonstruktionen ergaben Hintergrundwissen für die Charakterisierung der Forschungsräume, die Recherche zu den Forschungsräumen wiederum zusätzliche Informationen für die biographischen Fallrekonstruktionen; die Analyse der Interviews/Beobachtungen und die der Forschungsräume waren sozusagen reziprok. Nach der Auswertung habe ich überprüft, ob diese von mir eingeteilten Räume sich weiterhin als relevant für die Bewohner/-innen der Altstadt erwiesen – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Im Analyseprozess habe ich zunächst individuelle Verortungen auf der Ebene von Biographien analysiert. Erst in einem weiteren Schritt habe ich analysiert, welche der rekonstruierten Verortungen in den einzelnen Forschungsräumen dominant sind. Auf diese Weise konnte ich zum einen verschiedene Weisen der Verortung in einem Forschungsraum rekonstruieren und zum anderen feststellen, welche Veror-

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tungen in mehreren Forschungsräumen vorkommen und welche sich als besonders gesellschaftlich wirksam erwiesen. Die von mir (re-)konstruierten Forschungsräume sind bereits eine Antwort auf die Forschungsfrage, wie man Verortungen anhand der Selbstdeutungen der Bewohner/-innen erforschen kann. In diesem Zusammenhang rückten soziale und historische Zusammenhänge ins Zentrum, die nicht im dominanten Diskurs über die Altstadt verankert sind: Zahlenmäßig kleine Gruppierungen erhielten eine große Relevanz genauso wie Räume und Orte, die wenig formal organisiert sind, unscharfe Grenzen haben und daher von außen nicht deutlich erkennbar sind. Die Forschungsräume bilden außerdem die Basis für weitergehende soziologische Überlegungen, zum Beispiel wie sich kollektive Zugehörigkeiten reproduzieren und verändern (hier zum Beispiel ›historische Generationen‹, Kap. 7.2.4) oder in welchem Verhältnis soziale Institutionen wie Familie und Nachbarschaft zueinander stehen (vgl. Kap. 10.7.3). Der erste Forschungsraum ist die von mir so genannte kleine Nachbarschaft. Sie steht als Beispiel dafür, dass die im dominanten Diskurs konstruierten vier ethno-religiösen Viertel der Altstadt im Alltag und in der Selbstdefinition der palästinensischen Einwohner/-innen kaum Relevanz haben – dies hat mein theoretisches Interesse geweckt. Die Grenzen dieser kleinen Nachbarschaft lassen sich genauso wie die Zahl der Bewohner/-innen nicht genau festlegen. Zwar ist sie mehrheitlich muslimisch geprägt, es gibt aber einen wahrnehmbaren Anteil an christlichen Familien. Sie wird unter anderem durch Face-to-Face-Beziehungen, soziale Kontrolle, nachbarschaftliche Solidarität und den Diskurs des harmonischen Nachbarschaftslebens konstituiert. Der zweite Forschungsraum (Palästinenser/-innen im erweiterten Jüdischen Viertel) konstituiert sich aus Muslimen und Christen, die in Überresten ehemaliger palästinensischer Nachbarschaften wohnen, die nach der israelischen Eroberung 1967 zerstört und dem erweiterten Jüdischen Viertel zugeschlagen wurden. Heute ist die Grenze des Jüdischen Viertels administrativ geographisch festgelegt (also ein ›Containerraum‹), dadurch ist die Zahl der palästinensischen Bewohner/-innen (im Gegensatz zur kleinen Nachbarschaft) recht genau festlegbar. Im erweiterten Jüdischen Viertel hat also eine radikale Änderung der räumlichen Definitionen stattgefunden, und es stellte sich die Frage, was das für die Verortungen bedeutet. Der dritte Forschungsraum (Mönche in der Altstadt) ist jener der mehreren hundert vor allem aus dem Ausland stammenden Mönche, die in der Altstadt wohnen. Er bildet einen Kontrast zu den beiden anderen Räumen, weil so gut wie alle seine Mitglieder erst im Laufe ihres Lebens in der Altstadt platziert wurden. Das war nicht (nur) ihre eigene Entscheidung, da sie als Mitglieder ihrer Orden und Teil der Kirchenhierarchie in ›besitzergreifende Institutionen‹ (Coser 1974) eingebunden sind. Die Rekonstruktionen der Interviews mit Mönchen können somit zur Diskussion beitragen, was es heißt zu lernen, Teil eines Ortes zu werden, und inwieweit ein Zwang herrscht, vorherrschende Deutungsmuster zu übernehmen.

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Damit kritisiere ich auch eine essentialistische Sicht, die den Altstadtraum simplifizierend mit ihnen ›natürlicherweise‹ zugehörigen ethnischen Gruppierungen assoziiert. Der Forschungsraum der Mönche in der Altstadt hat sich nach Abschluss der Rekonstruktionen als in deren eigenem Erleben letztlich recht wenig relevant herausgestellt – die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Denominationen oder Orden erwies sich als für die Mönche bedeutend wichtiger.

10.3 D IE

HISTORISCH GEWANDELTE R EALITÄT DER ALTSTADTBEWOHNER /- INNEN , HISTORISCHE G ENERATIONEN UND ERLEBENSBESTIMMENDE D ISKURSE

Die Analyse der historischen Literatur hat die politischen, ökonomischen und sozialen Wandlungen aufgezeigt, die die Altstadt in den vergangenen ca. 150 Jahren durchlaufen hat. Sie haben die Realität der Einwohner/-innen stark geprägt und prägen sie teils noch heute. Der historische Zugang hat sich als wichtig erwiesen, weil die Literatur zur Altstadt zumeist entweder gegenwärtige Probleme (religiöse und politische Konflikte) oder historische Prozesse darstellt, diese beiden Aspekte aber selten miteinander verknüpft. In den Kapiteln 5 und 6 habe ich historische Prozesse herausgearbeitet, die noch in der gegenwärtigen Alltagswelt Ostjerusalems und der Altstadt einflussreich sind. Ich fasse sie daher vor der Darstellung der Verortungen im folgenden Abschnitt zusammen. Nachdem im ausgehenden 19. Jahrhundert der Auszug von mittleren und oberen Schichten aus dem bis dahin einzigen Siedlungsgebiet Jerusalems, der ummauerten Altstadt, begonnen hatte, setzte sich die christliche, muslimische und jüdische Bevölkerung der Altstadt zunehmend aus ärmeren Schichten zusammen. Besonders herausragend war in diesem Zusammenhang der Zuzug von armen muslimischen Familien vor allem aus Hebron und Umgebung. Dieser Zuzug zog sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hin (vgl. weiter unten und Kap. 6.4). Es waren aber die stärker werdenden Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden, die während der britischen Mandatszeit in den 1920er Jahren zu einer zunehmenden Separation der Lebenswelten führte: auf der einen Seite christliche und muslimische Palästinenser/-innen, auf der anderen Jüdinnen und Juden. Darunter waren sowohl solche, die über lange Zeit in Palästina ansässig gewesen waren, als auch solche, die im Rahmen der zionistischen Migration in die Stadt gekommen waren. Bereits vor 1948 zogen sich große Teile der jüdischen Bevölkerung der Altstadt, die zuvor in vielen Nachbarschaften gewohnt hat, auf das Gebiet des damaligen Jüdischen Viertels (Ḥārat al-Yahūd) und seine Umgebung zurück. Die neuen Siedlungsgebiete außerhalb der Altstadt waren ohnehin weitgehend zwischen Gebieten für Juden und

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Gebieten für Christen und Muslime getrennt (bzw. auch zwischen solchen für Christen und solchen für Muslime). Während des Krieges von 1948 belagerte, eroberte und zerstörte die jordanische Armee das Jüdische Viertel weitgehend. Palästinensische Flüchtlinge und Zugezogene besiedelten die Gebäude, die die geflohenen jüdischen Einwohner/-innen verlassen hatten. Die Front- und Randstellung der Altstadt – und generell Ostjerusalems – während der jordanischen Herrschaft zwischen 1948 und 1967 sowie die strukturelle und ökonomische Vernachlässigung durch die jordanischen Behörden führten zu einer weiteren Stagnation oder Verschlechterung der prekären sozio-ökonomischen Situation der Altstadtbewohner/-innen. Die schon länger andauernden und miteinander verknüpften Prozesse des Bevölkerungsaustausches und der Verarmung setzten sich auch in diesem Zeitraum fort. Interviewpartner/-innen in der Altstadt, die ihre Kindheit oder Jugend noch in dieser Periode erlebt haben, beschreiben diese Armut sehr anschaulich (die ›Jordanische Generation‹, Becker 2013; vgl. Kap. 5.2, Kap. 7.2.4). Die israelische Eroberung der Altstadt im Jahr 1967 bedeutete für die palästinensischen Bewohner/-innen Jerusalems kurz- und langfristig einen tiefen Einschnitt in Bezug auf ihre rechtlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse. In den Jahren nach dem Krieg begann ein deutlicher Wirtschaftsaufschwung, der auf einem regionalen ›Boom‹ genauso beruhte wie auf der Einbindung palästinensischer Arbeitskräfte vor allem in das israelische Service- oder Industrieproletariat. Für palästinensische Angehörige niedriger sozio-ökonomischer Schichten waren die Löhne in Israel höher als ihre vorherigen Löhne. Zudem wurden für Palästinenser/-innen in Ostjerusalem auch Sozialleistungen eingeführt und einige infrastrukturelle Modernisierungen vorgenommen. Dadurch kam es zu einer positiv konnotierten Erfahrung wirtschaftlichen Aufschwungs, welchen die Interviewpartner/-innen der Jordanischen Generation als besonders einschneidend beschreiben. Diese Erfahrung dominiert über Erfahrungen der israelischen Eingriffe in Ostjerusalem und in der Altstadt, wo bereits einige Tage nach dem Krieg das neben der Klagemauer gelegene Ḥārat al-Maġāriba (Marokkanisches Viertel) von der Armee zerstört wurde. Jüngere Interviewpartner/-innen, die erst die Zeit der israelischen Besatzung bewusst erlebt haben, reagieren mit Unverständnis auf diese Beschreibung der frühen israelischen Besatzung durch die Jordanische Generation. Das gilt besonders für diejenigen Bewohner/-innen der Altstadt, die zur ›Erste Intifada-Generation‹ gehören und am palästinensischen Aufstand zwischen 1987 und 1993 mitgewirkt haben. Sie thematisieren stattdessen die negativen politischen Auswirkungen der Besatzung. Dazu gehört insbesondere die rechtliche Stellung Ostjerusalems zwischen dem Westjordanland und Israel. Nach 1967 wurde das Gebiet Ostjerusalems (und weitere angrenzende Gebiete) durch Israel annektiert. Die palästinensischen Bewohner/-innen erhielten die sogenannte Jerusalem ID, die einen Status ähnlich des ›befristeten Aufenthalts‹ begründete. Ostjerusalemer/-innen sind de facto staa-

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tenlos und ohne politische Repräsentation. Die massiven israelischen Eingriffe in die Besitzstrukturen in Ostjerusalem und der Bau neuer Stadtviertel/Siedlungen für jüdische Israelis fanden in der Altstadt ihre Entsprechung in der administrativen Definition und der ethnisch-religiösen Abschottung des erweiterten Jüdischen Viertels in den 1970er Jahren. Dies ging mit der Enteignung der in palästinensischem Besitz befindlichen Gebäude bzw. mit der Vertreibung deren Bewohner/-innen einher. Auch in anderen Altstadtgebieten etablierten sich ab den 1980er Jahren jüdische Siedlungen in zuvor von Palästinensern bewohnten Häusern (vgl. Kap. 5.3 und Kap. 6.6). Die aufgezeigte Generationsproblematik zeigte sich kondensiert im Rahmen der Ersten Intifada. Der vor allem von Jugendlichen getragene Aufstand stieß bei den Älteren in der Altstadt auch auf Ablehnung. Sie verknüpften mit ihm einen wirtschaftlichen Abwärtstrend und weitere rechtliche und politische Einschränkungen. So wird zum Beispiel seit Mitte der 1990er Jahre (einer Periode wieder verstärkter gewaltvoller Auseinandersetzungen durch Attentate und Armeeangriffe) verstärkt kontrolliert, ob Inhaber/-innen einer Jerusalem ID tatsächlich in der Stadt wohnen. Viele Jerusalemer/-innen waren in den 1970er und 1980er Jahren in das Westjordanland gezogen, wo Neubauten einfacher genehmigt wurden und billiger waren. Ihnen konnte und kann die ID entzogen werden, wenn ihnen nachgewiesen wird, dass sie nicht mehr innerhalb der Stadtgrenzen wohnen. Deswegen kam es in den 1990er Jahren zu einem Rückzug, von dem die Altstadt besonders betroffen war. In den vergangenen 20 Jahren wuchs deren Bevölkerung in außerordentlichem Maße und verdoppelte sich seit 1967 nahezu auf über 40.000 Einwohner/-innen auf weniger als einem Quadratkilometer. Diese massive Überbevölkerung, die für viele meiner Interviewpartner/-innen ein zentrales Problem ist, ist auch ein Resultat des von der Jerusalemer Stadtverwaltung forcierten Wohnungsmangels in Ostjerusalem. Darunter leiden besonders Einwohner/-innen sozio-ökonomisch schwacher Stadtteile, zu denen die Altstadt zählt. Die Bewohner/-innen der Altstadt beklagen zusätzlich den miserablen Zustand eines großen Teils des historischen Häuserbestandes, die schlechte Infrastruktur und die staatliche Vernachlässigung in so gut wie allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen. Im Zuge der Zweiten Intifada verschärften sich die gesetzlichen Bestimmungen für Ostjerusalemer Palästinenser/ -innen und die Abschottung des Westjordanlandes noch einmal durch den Bau der israelischen Sperranlagen (vgl. Kap. 5.4, 5.5 und 6.6). Neben diesen einschneidenden politischen Ereignissen und Prozessen, die auf die Biographien der Altstadtbewohner/-innen einen nachhaltigen Einfluss hatten und haben, verdeutlicht die Analyse verschiedene Diskurse über die Altstadt, die auch das Erleben ihrer Bewohner/-innen beeinflussen. Besonders israelische Autorinnen und Autoren stellen die Altstadt als durch die Jahrhunderte hinweg in ethnoreligiöse Viertel getrennt dar. Diese Vorstellung speiste sich aus den Berichten von Reisenden und frühen zionistischen Einwanderern, die versucht hatten, die Altstadt

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geographisch eindeutig einzuteilen. Sie war auch durch eine Forschungstradition beeinflusst, deren Vertreter/-innen versuchten, generelle Charakteristika von sogenannten islamischen oder nahöstlichen Städten zu definieren. Eines dieser Konzepte war das des sogenannten Mosaiks (das keinen Bezug zum Konzept des urban mosaic der Chicago School hat). Es besagte, dass in der Geschichte nahöstlicher Städte viele verschiedene Gruppierungen nebeneinander gewohnt hätten (vgl. Kap. 6.1). Dieses Konzept hatte in den ersten Jahrzehnten nach 1967 einen starken Einfluss auf die israelische Politik in Ostjerusalem, die eine weitgehende Einhaltung der Trennung von palästinensischen und jüdischen Stadtteilen propagierte. Auf vielen Flächen Ostjerusalems wurden für jüdische Israelis bestimmte Stadtviertel/Siedlungen gebaut und auch die Berechtigung eines ethnisch-religiös abgetrennten Jüdischen Viertels in der Altstadt hergeleitet (vgl. Kap. 6.1-6.3): Die Einhaltung des Mosaikprinzips ermögliche es, so die Argumentation, dass die drei monotheistischen Weltreligionen in der Altstadt in Frieden nebeneinander leben und alle Gläubigen respektiert würden (vgl. Goldstein 2007; Benvenisti 1996: 8). Kritische Forscher/-innen greifen diese Sichtweise an. Sie legen Wert darauf, dass die schematische Einteilung in ethno-religiöse Viertel eine von außen erfolgte Konstruktion sei, die nicht historischen Realitäten oder der Selbstdefinition der Altstadtbewohner/ -innen genüge. Diese erfolge vielmehr auf Basis von historisch gewachsenen größeren Nachbarschaften (arab.: ḥārāt) oder kleineren Nachbarschaftseinheiten. Spätestens seit Beginn der osmanischen Ära im 16. Jahrhundert habe es keine solch strikten Trennungen nach ethno-religiösen Kriterien mehr gegeben. Auch alltägliche Interaktionen seien nicht so stark durch diese Zugehörigkeiten determiniert worden. Neben diesen wissenschaftlichen und politischen Diskursen über die ethnischreligiöse Aufteilung der Altstadt zeigte die Analyse innerpalästinensische Diskurse auf, die sich ebenfalls mit der Zusammensetzung der Altstadtbevölkerung beschäftigen – allerdings nicht mit deren religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, sondern mit deren geographischer Herkunft und sozialer Schicht. Bereits am Anfang dieses Abschnitts habe ich den Bevölkerungsaustausch eingeführt, im Zuge dessen seit Ausgang des 19. Jahrhunderts obere und mittlere Schichten bzw. Angehörige ›alteingesessener‹ Jerusalemer Familien in ›moderne‹ Neubauviertel zogen. Ärmere Familien vor allem aus der Umgebung Hebrons übernahmen deren Platz und bilden heute wahrscheinlich die numerische Mehrheit in der Altstadt (vgl. Kap. 6.4). Im eben vorgestellten israelischen Diskurs der ethno-religiösen Viertel spielt die soziale Schicht der Altstadtbewohner/-innen keine Rolle. Daher ist in der Forschungsliteratur ein gewisses Erstaunen zu vernehmen, dass die Altstadt von Jerusalem gleichzeitig ein ›heiliger Ort‹ sei und doch so von Armut geprägt: »It is sometimes difficult to reconcile the poverty of ›mundane Jerusalem‹ with the importance and sanctity attributed to the city by believers, and indeed non-believers.« (Lapidoth 2006: 18) Michael Dumper (1992: 40) schreibt, vor allem die muslimisch geprägten

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Nachbarschaften seien »widely recognized as the slums of Jerusalem and now house only the poor«. Mit dieser Bevölkerungszusammensetzung sind abwertende Diskurse im innerpalästinensischen Kontext verbunden, die selten schriftlich, zum Beispiel in Medien, sondern vor allem mündlich weitergetragen werden. Widersprüchlicherweise werden den armen ›Zugezogenen‹ in der Altstadt einerseits Sozialkonservatismus und Beharrung auf dörflichen Strukturen zugeschrieben – die Bewohner/-innen werden aufgrund ihrer Herkunftsregion nur bedingt als Jerusalemer/-innen anerkannt. Andererseits wird die Altstadt als Raum konstruiert, in dem kriminelle Strukturen weit verbreitet seien und in dem es einen florierenden Drogenhandel gebe. Die soziale Stellung und die abwertenden Diskurse begründen eine leichte Außenseiterstellung der Altstadtbewohner/-innen in Ostjerusalem (vgl. Elias/Scotson 1993). In der Zusammenschau mit der weiteren Außenseiterposition der Altstadtbewohner/-innen in der Figuration mit israelischen Institutionen und der Siedlerbewegung in der Altstadt können die Bewohner/-innen als ›doppelte Außenseiter‹ gesehen werden.2 Zu diesen Abwertungen, die in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen haben, müssen sich die Bewohner/-innen verhalten.3 Meine Feldforschung verdeutlichte, dass Bewohner/-innen der Altstadt in zentraler Weise Unsicherheit bzw. eine stets wachsende Gefährdung ihres Daseins und Zukunftsangst erleben. Nadera Shalhoub-Kevorkian (2012) argumentiert, dass die Einwohner/-innen Ostjerusalems wegen der einengenden israelischen Besatzungspolitik »in der Falle sitzen«. Doch neben – und verwoben mit – der Besatzungspolitik ist diese Wahrnehmung in der Altstadt mit der häufig prekären sozioökonomischen Lage und dem diskutierten ›internen migrantischen Status‹ verknüpft. Mit letzterem verbinden die Bewohner/-innen die Angst, dass ihr Recht auf ein Dasein in der Stadt nicht nur von den Israelis, sondern auch durch palästinensische Jerusalemer/-innen aufgrund ihrer Herkunft nicht anerkannt wird. Gleichzeitig aber schwingt bei vielen von ihnen ein gewisser Stolz mit, die Altstadt als palästinensisch geprägte zu erhalten und die lokalen Traditionen – zum Beispiel ein funk-

2

Daniel Monterescu (2007) hat für Jaffa eine ähnliche Dynamik identifiziert.

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Oren Yiftachel (2009) hat das als ›graue Räume‹ in Städten diskutiert. ›Graue Räume‹ zeichneten sich dadurch aus, dass Bewohner/-innen »are only partially incorporated into the urban community, economy and space, and are excluded from membership in the city polity« (ebd.: 88). ›Graue Räume‹ würden vor allem durch Diskurse geprägt, die sie als kriminell, gefährlich oder schmutzig brandmarkten (ebd.: 89). In der Altstadt ist die israelische Besatzung der Rahmen, der Palästinenser/-innen legal und politisch in einen ›grauen Raum‹ zwängt. Doch die ›diskursive Kriminalisierung‹, die Yiftachel im hegemonialen israelischen Rahmen verortet, erfolgt im Falle der Altstadt auch durch Palästinenser/ -innen außerhalb der Altstadt.

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tionierendes Nachbarschaftsleben – und die heiligen Stätten vor israelischen Übergriffen zu schützen. Die Prozesse des Bevölkerungsaustausches und der Verarmung der Altstädte genauso wie die negativen Diskurse konnten Forscher/-innen in ähnlicher Weise auch für andere Städte in der Levante und in Nordafrika rekonstruieren. Im Unterschied zu diesen anderen Städten fanden in Jerusalem aber bislang vergleichsweise wenige Prozesse der kulturellen Wiederaneignung der Wohngebiete in der Altstadt statt, und es gab auch bislang keine palästinensisch geprägten Gentrifizierungsprozesse. Der wichtigste Grund für diesen Unterschied ist die israelische Besatzungspolitik, die daran interessiert ist, die jüdischen Anteile an der Geschichte Jerusalems herauszustellen, andere Einflüsse dagegen geringzuhalten und somit ihre Deutungshoheit über die Altstadt zu erhalten.

10.4 V ERORTUNGEN IN

DER

ALTSTADT

In diesem Abschnitt stelle ich Verortungen vor, die ich bei der Analyse des empirischen Materials rekonstruiert habe. Wie ich weiter unten im Abschnitt zu ›Verortungen in biographischen Verläufen‹ ausführe (Kap. 10.6), sind Verortungen nicht unwandelbar oder singulär: Individuen können sich parallel in mehr als einem Ort verorten, und die Verortungen sind in biographischen Verläufen wandelbar. Das heißt: Obwohl ich für zwei von drei Forschungsräumen dominante Verortungen rekonstruiert habe (Kap. 10.5) – Verortungen, die in diesen Räumen entweder sozial bzw. institutionell eingefordert oder politisch-administrativ forciert werden –, kommen in diesen Forschungsräumen auch andere Verortungen vor. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse dieser Arbeit. Nur durch diese Feststellung kann eine essentialisierende Sicht auf (die drei) Forschungsräume verhindert werden. Zum Beispiel wird in regionalspezifischen Publikationen suggeriert, die geographischräumliche Zugehörigkeit zu einer Nachbarschaft bringe den unwandelbaren und zentralen Einbezug in das nachbarschaftliche Leben mit sich – mit den Vorteilen der nachbarschaftlichen Solidarität, aber auch der eingeforderten sozialen Kontrolle. Und auch während meiner teilnehmenden Beobachtungen in der kleinen Nachbarschaft (Kap. 7.2) betonten die Bewohner/-innen, die Nachbarschaft sei ein für sie sehr relevanter Zugehörigkeitsort. Doch in der kleinen Nachbarschaft wurde auch deutlich, dass die nachbarschaftliche Verortung nur eine von mehreren Möglichkeiten der Verortung ist, zu denen auch Verortungen im Familienhaus, in symbolischen Zusammenhängen oder das teilzeitliche oder vollzeitliche Verlassen der Nachbarschaft gehörten. Die kleine Nachbarschaft macht ein wichtiges Zugehörigkeitsangebot. Die Analyse von biographischen Verläufen zeigt aber auf, dass es die Möglichkeit gibt, sich der Verortung in der Nachbarschaft trotz Präsenz im Raum

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beinahe gänzlich zu entziehen (Kap. 7.3 und 7.4). Dieses Ergebnis meiner Arbeit stützen vor allem die biographischen Fallrekonstruktionen, in denen andere latente oder manifeste Verortungen oder eine kritische Haltung gegenüber der sozial erwünschten Verortung in der Nachbarschaft rekonstruiert werden konnten. Ziel der weiteren Abschnitte in diesem Unterkapitel ist es, die von mir empirisch rekonstruierten Verortungen in der Jerusalemer Altstadt zusammenfassend darzustellen. Das ist zunächst die nahräumliche und geographisch deutlich begrenzte Verortung im Haus und somit häufig im Ort der Familie. In der Ausdehnung aufsteigend folgt die Verortung in der kleinen Nachbarschaft (ḥay), die aber nicht notwendigerweise mit festgelegten geographischen Grenzen assoziiert ist. Für Jerusalem konnte weiterhin die ›symbolische Verortung‹ rekonstruiert werden, mit der die Zugehörigkeit zu einem von der Realität abgehobenen oder diese überhöhenden ›heiligen Ort‹, ›historischen Ort‹ oder ›politischen Ort‹ erlebt und ausgedrückt wird. Schließlich gibt es zwei weitere Verortungen, die mit einer kurzzeitigen oder vollzeitigen Ablösung von der Altstadt verbunden sind. Es geht also um eine Umwandlung von oder Ergänzung zu einer als negativ erlebten Verortung in der Altstadt dadurch, dass diese entweder für eine bestimmte Zeitspanne oder dauerhaft verlassen wird. In allen Verortungen wird auf die eine oder andere Weise die Frage des Grades der Fokussierung auf das Selbst oder der Fokussierung auf eine kollektive Zugehörigkeit aufgeworfen – sei es die kleine Nachbarschaft oder die palästinensische Nation. Nicht nur die palästinensischen Bewohner/-innen, auch die Mönche befinden sich in diesem dauerhaften Zwiespalt zwischen ihrer Zugehörigkeit zu einer besitzergreifenden Institution und ihrem Bestreben nach Individualisierung. Durch die Rekonstruktionen ist es gelungen, Vergemeinschaftungsprozesse zu beschreiben aber eben auch individuelle Versuche, sich diesen zu widersetzen, oder institutionelle Versuche, diese zu zersetzen. Dies kann als ein Ergebnis des von mir angewandten Forschungsdesigns gesehen werden, das es erlaubt hat, Verortungen nicht ›automatisch‹ an die untersuchten Räume zu binden. Erst nach Abschluss der Rekonstruktion dieser Verortungen bin ich auf das geographiewissenschaftliche Lehrbuch von Linda McDowell (1997) mit dem Titel Undoing place aufmerksam geworden. McDowell unterteilt ihre Textsammlung in ähnliche Kategorien wie die eben eingeführten, die auf meinen empirischen Rekonstruktionen beruhen, weswegen ich den Aufbau dieses Buches kurz vorstellen möchte. Unter der Überschrift Homeplace bespricht sie Texte zum ›Zuhause‹, worunter sie »the house or the dwelling itself« versteht (ebd.: 13). Im folgenden Kapitel widmet sie sich Wohnbezirken, Nachbarschaften und Communities in ihrer dialektischen Funktion als Sicherheitsgaranten einerseits und Institutionen sozialer Kontrolle andererseits. Die Texte des dritten Abschnittes befassen sich mit den »kleinen und großen Fluchten weg von diesen Orten«, wie es Thomas Bürk (2004: 152) in seiner Rezension formuliert, was bei mir dem kurz- oder vollzeitigen Weg-

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zug aus der Altstadt entspricht. Bei McDowell geht es allerdings nicht nur um den tatsächlichen Wegzug, sondern auch um die Rolle von Jugendkulturen oder sozialen Zusammenhängen, deren verbindendes Element die Distanzierung vom Zuhause oder von der lokalen Gebundenheit ist (McDowell 1997: 132).4 In ihrem letzten Kapitel Imagined places setzt sich McDowell mit weniger stark durch geographische Faktoren bestimmten Orten auseinander, also solchen, die bestimmte Bilder transportieren, für die es in der Realität keinen Abgleich gibt (»images of places that have never existed« [ebd.: 259]), worunter sie zum Beispiel Themenparks fasst. In meiner Arbeit gehören dazu überhöhte oder von der Realität abgehobene Bilder Jerusalems, die im Sinne einer symbolischen Verortung relevant werden. Das Haus und die Familie Bei dieser Verortung ist das Erleben meiner Interviewpartner/-innen auf die materielle Umgebung des Wohnhauses und der damit assoziierten Familie (Kernfamilie oder erweiterte Familie) gerichtet. Obwohl die Konzeption des Zuhauses häufig mit Vorstellungen von Sicherheit und Privatheit verbunden ist (McDowell 1997: 13), zeigten die Fallrekonstruktionen, dass diese Verortung auch mit Unterdrückung oder Fremdbestimmung im Haus verknüpft sein kann. Das Haus ist nicht nur ein Ort des ›Rückzugs‹, sondern kann darüber hinaus drei weitere Dimensionen haben. Erstens kann diese Verortung auf eine starke Abhängigkeit von der Kernfamilie oder der erweiterten Familie hindeuten, womit auch eine Kontrolle durch den familialen Verband verbunden sein kann. Diese Art der Kontrolle betrifft Mädchen und Frauen in stärkerem Maße. Damit sind im Interview ausführliche Beschreibungen über die räumliche Lage und den Aufbau des Hauses verbunden, das als besonders ›groß‹ beschrieben oder als ›Gefängnis‹ wahrgenommen wird. Dadurch wird ein Gegensatz zwischen innen und außen aufgemacht. Am deutlichsten ist diese einengende Verortung im Haus in der Fallrekonstruktion von Huda im erweiterten Jüdischen Viertel zu erkennen (Kap. 8.2). Sie erlebte über längere Perioden ihrer Kindheit, dass ihre Eltern sie angewiesen haben, zu Hause zu bleiben, was Huda als Fremdbestimmung und Einsperren erlebt hat, von den Eltern aber als Schutz vor der feindlich gesinnten jüdischen Umgebung gerahmt wurde. Die trotz zunehmenden Alters anhaltende Kontrolle im Haus wird von Huda durch ihre symbolische Verortung in der aufgeladenen Altstadt bearbeitet, indem sie ihr ständiges Dasein in diesem historisch umkämpften und ›heiligen‹ Ort als Symbol und Widerstand rahmt, was außerdem mit politischem Engagement und Versuchen der Emanzipierung von der Familie einhergeht. Bei Muhammad (Kap. 7.4.2) ist das von der Großmutter forcierte Zuhause-Sein vor allem mit einem Bildungsauftrag verknüpft; er sollte von den von ihr als ungebildet wahrgenommenen Nachbarschaftskindern ferngehal4

Zudem gibt es ein weiteres Kapitel zu Einwandererperspektiven bzw. ›Orten der Akzeptanz‹.

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ten werden. Muhammad erlebte und erlebt ein Zurückgeworfensein auf das Familienhaus, was im Laufe seines Lebens verstärkt mit dem Verbergen von familialen Problemen und Familiengeheimnissen zu tun hat. Zweitens ist die Verortung im Haus auch eine Reaktion auf den sich zuspitzenden nationalen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der mit bestimmten Anforderungen an die Besitzsicherung in Jerusalem einhergeht. Besonders in der Altstadt kam und kommt es zu zahlreichen Konflikten über Eigentumsverhältnisse, und es gibt eine diskursiv geformte Forderung nach Sicherung des Besitzes stellvertretend für die jeweilige nationale oder religiöse Gruppierung. ›Das Haus‹ wird zur ersten Front oder Verteidigungsstellung, und das Zuhause habe »simultaneous roles […] as both private and national arena« (Kallus 2004: 341). Rachel Kallus beschreibt in ihrer Studie, wie der israelische Staat die Bewohner/-innen von Siedlungen – in ihrem Falle Gilo bei Jerusalem – benutzt, um Kontrolle über neu gewonnenes Territorium zu erlangen (ebd.: 349): »[A] residential environment, the locus of everyday life, has become the guardian of national territory.« Aber auch die palästinensische Gesellschaft fordert eine Zuwendung zum eigenen Besitz, der vor den Zionisten zu schützen sei. Dementsprechend haben Interviewpartner/-innen auch dann eine stärkere Verortung im Haus erlebt, wenn der Familienbesitz durch Ansprüche von Siedlern oder unklare Rechtstitel konkret gefährdet ist oder in einer räumlichen Umgebung liegt, in der sich viele Siedlungen befinden. Das heißt, dass diese Art der Verortung auch in einer ›Einigelung‹ münden kann, also ein SichAbschließen vor einer als ablehnend wahrgenommenen Umgebung. Dies war besonders deutlich im Forschungsraum des erweiterten Jüdischen Viertels zu erkennen. Neben dem Haus von Hudas Familie, das wegen seiner exponierten Lage im Fokus von Siedlern und Behörden ist, betrifft dies das Erleben von Abu Lutfi und seiner Mutter (Kap. 8.3.1) und von Subhi (Kap. 8.3.2). Subhis Erleben ist zunehmend davon bestimmt, das Geschäft seiner Eltern zu bewahren und fortzuführen. Mit der Verortung im Haus ist noch ein dritter Aspekt verknüpft. In Orten der Altstadt, die stark sozial kontrolliert sind, wie zum Beispiel die kleine Nachbarschaft, kann das Haus einen Freiraum oder Rückzugsort bieten, der eine Individualisierung in einer als unindividualisiert wahrgenommenen Umgebung ermöglicht, eine Distanzierung vom Ort der starken sozialen Kontrolle und der eingeforderten Solidarität. Gerade Außenseiter/-innen im Nachbarschaftsleben wählen einen solchen privaten Rückzugsort im Haus, wenn ihnen im Austausch in der Nachbarschaft – zum Beispiel im alltäglichen Beisammensein auf der Straße – Ablehnung droht oder wenn sie selbst nicht aktiv am Nachbarschaftsleben teilhaben wollen. Beispiele für diesen Aspekt der Verortung im Haus sind die Fälle von Hafez (Kap. 7.3) und Karim (Kap. 7.4.1). Karim kehrte nach einem längeren Auslandsaufenthalt nach Jerusalem zurück. Deswegen und wegen eines nicht offengelegten Erlebnisses während der Ersten Intifada verortete er sich nicht mehr in der kleinen Nachbarschaft. Er zieht sich in der Gegenwart weitgehend auf die Pflege der Kern-

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familie zurück. Für Hafez bildet das Haus ebenso einen Rückzugsort, weil er, der zur Erste Intifada-Generation gehört, nicht, wie deren bestimmende Generationseinheit, während des Aufstandes im Widerstand gegen die Besatzung aktiv, sondern auf Familiengründung und Karriere konzentriert war. Hafez löst sich zunehmend von der kleinen Nachbarschaft und verortet sich dafür einerseits verstärkt im Familienhaus, andererseits versucht er durch zahlreiche Kurzreisen, sich teilzeitig von der Altstadt abzulösen. Die nachbarschaftliche Verortung Die Verortung in der Nachbarschaft wird häufig als die typische Verortung im Nahen Osten beschrieben und hat dementsprechend viel Aufmerksamkeit in der historischen und sozialwissenschaftlichen Literatur erhalten (vgl. Kap. 6.1). Die Nachbarschaftsverortung stellt auch in der Altstadt von Jerusalem weiterhin eine der wichtigsten Verortungen dar. Die Nachbarschaft bietet für eine relativ überschaubare Gruppe einen geschützten Ort. Die Wahrnehmung einer gemeinsamen Zugehörigkeit wird durch Face-to-Face-Interaktion und durch die angenommene lebensgeschichtliche Homogenität der Bewohner/-innen genauso hergestellt wie durch nachbarschaftliche Solidarität und ausgeprägte soziale Kontrolle. Die soziale Kontrolle bedingt eine Übereinstimmung darüber, wie der Charakter der Nachbarschaft eingeschätzt wird und welche Aspekte des Nachbarschaftslebens diskursive Bestandteile der Interaktionen sind und welche nicht. Die Nachbarschaft wird in dieser Verortung als partieller Rückzugsort aus dem öffentlichen Raum gesehen und somit als halbprivater Raum konzeptioniert. Es wird diskursiv betont, dass unterschiedliche Herkünfte, Religions- oder Familienzugehörigkeiten nicht als Ausschlussfaktoren für die Verortung in der Nachbarschaft gelten, solange grundlegende soziale Regeln wie die des ›gegenseitigen Respekts‹ eingehalten werden. So wird die Nachbarschaft zu einer moralischen Einheit. Bewohner/-innen können die Zugehörigkeit zu ihr als relevanter als andere Zugehörigkeiten konstruieren. Obwohl eine Nachbarschaft – wie im Falle der kleinen Nachbarschaft – stark von einer einflussreichen Familie geprägt werden kann, liegt ihre verbindende Kraft auch darin, dass es eine permanente Präsenz von Familien im Ort gibt und die definitorischen Grenzen zwischen Nachbarn und Familienmitgliedern verschwimmen können. Die Nachbarschaft beruht also weitgehend auf einer relativistischen Raumsicht und nicht auf einer Konzeption des Containerraums (vgl. Kap. 2.3). Die kleine Nachbarschaft hat keine festgelegten, administrativ institutionalisierten geographischen Grenzen, sondern wird durch ihre Mitglieder und ihre Vorstellungen von Nachbarschaftsausdehnung und -zugehörigkeit hergestellt. Auf diese Weise können bestimmte Gruppen teilweise aus dem Nachbarschaftsleben ausgeschlossen werden – zum Beispiel jüdische Siedler/-innen, die trotz geographischer Nähe nur zu einem geringen Maß ins Nachbarschaftsleben eingebunden werden (wollen).

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Häufig wurde von denen, die sich in der kleinen Nachbarschaft verorten, argumentiert, diese enge Form des Zusammenlebens sei das »natürliche Leben«, womit auf die Ganzheitlichkeit dieser Verortungsform hingewiesen und als Anspruch diskursiv weitergegeben wird. Für sie trägt die kleine Nachbarschaft dementsprechend gemeinschaftsähnliche Züge. Ferdinand Tönnies (2005 [1887]) nannte Nachbarschaften »Gemeinschaften des Ortes«. Für ihn war dabei entscheidend, dass der oder die Einzelne sich als Teil eines größeren Ganzen sieht und sich diesem unterordnet (der »Wesenwille«). Tönnies diagnostizierte, dass sich das Zusammenleben von Gemeinschaften tendenziell in Richtung Gesellschaft entwickele, und auch in den internen Diskussionen in der kleinen Nachbarschaft taucht die Frage auf, wie zukunftsfähig dieses Modell sei. Ältere beklagen den Verlust des von ihnen als gemeinschaftsorientierter gesehenen Lebens in früheren Zeiten und den Mangel an Respekt und Nachbarschaftlichkeit jüngerer Generationen. Es bleibt eine offene Frage, ob die nachbarschaftliche Verortung trotz ihrer Rolle zum Schutz der Bewohner/-innen vor manchem Einfluss der israelischen Besatzung an Relevanz verliert, da auch das Leben vieler Altstadtbewohner/-innen zunehmend in mehrere Sinnbereiche unterteilt ist und Arbeits-, Wohn- und Freizeitorte bei vielen zunehmend getrennt sind (Hitzler/Honer 1988 und weiter unten in der Zusammenfassung, Kap. 10.7.3). Allen Bewohnerinnen und Bewohnern der kleinen Nachbarschaft sind außerdem andere Formen des Wohnens in Städten bekannt, zum Beispiel in modernen Mietswohnungen. Alle kennen jemanden, der weggezogen ist. Obwohl denen, die ausziehen, Individualismus und Gemeinschaftslosigkeit vorgeworfen wird, haben sich vermutlich alle Bewohner/-innen der kleinen Nachbarschaft schon die Frage gestellt, ob sie in diesem umfassenden nachbarschaftlichen Wohnzusammenhang und der aufgeladenen Umgebung verbleiben möchten oder müssen (vgl. Kap. 7.1 und 7.2). In der kleinen Nachbarschaft waren es vor allem die Mitglieder der älteren Jordanischen Generation, bei denen die nachbarschaftliche Verortung in den Interviews als zentral in ihrem vergangenen und gegenwärtigen Erleben rekonstruiert werden konnte. Analysen dieser Interviews habe ich in der vorliegenden Arbeit nicht vorgestellt, ihre Verortung wird aber in der Analyse der teilnehmenden Beobachtungen (Kap. 7.2.4) deutlich und wurde von mir an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Becker 2013). In den Interviews mit der Jordanischen Generation ist der relativ unhinterfragte Bezug auf die kleine Nachbarschaft von frühester Kindheit bis zum heutigen Tag sichtbar. Häufiger als die jüngeren Bewohner/-innen hatten die Mitglieder der Jordanischen Generation zum Beispiel ihren Arbeitsplatz noch in oder in der Nähe der kleinen Nachbarschaft und gestalteten ihr ganzes Leben um diesen Bezugspunkt. Auch die ehemals politisch aktiven und in der kleinen Nachbarschaft einflussreichen Mitglieder der Erste Intifada-Generation verorten sich primär in der Nachbarschaft. Sie haben durch ihre Widerstandsaktivitäten ihren Status in der kleinen Nachbarschaft erhöhen können, für sie ist somit diese Zugehörig-

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keit wichtig geblieben. Bei den Fallrekonstruktionen aus den beiden anderen Forschungsräumen konnte ich lediglich bei Bruder Jean Bernard (Kap. 9.3.3) eine aktive Verortung in der muslimischen Nachbarschaft, in der sein Kloster liegt, erkennen. Bruder Jean reflektiert dabei aber seine Position als Außenstehender und die eingeforderte soziale Kontrolle in der Nachbarschaft. Die symbolische Verortung in der Jerusalemer Altstadt Symbolische Verortung bedeutet das Erleben von Zugehörigkeit zu einem ideologisch aufgeladenen Ort. Die historische, politische oder religiöse Bedeutung des Ortes wird durch diese Verortung überhöht. In Jerusalem ist dies vor allem die Altstadt als ›heiliger Ort‹, ›politisch aufgeladener Ort‹ oder als ›historisch zentraler Ort‹. Jerusalem wird dabei nicht (nur) als Stadt alltäglicher Interaktionen und Handlungen interpretiert, sondern als vor allem durch symbolische oder ideologische Charakteristika determiniert. Die symbolische Verortung ist diejenige, die am stärksten an die partikularen sozio-historischen Bedingungen der Stadt geknüpft ist. Das heißt, die Biographinnen und Biographen müssen sich aktiv mit Geschichte und Gegenwart des Stadtraumes beschäftigt haben. Die Verortung hat unter anderem die Bewandtnis, im Dasein in der – gerade wenn man sich mit ihr beschäftigt – ideologisch aufgeladenen, beengten und häufig unwirtlichen Altstadt einen Sinn zu finden. Durch die symbolische Verortung können aber auch andere soziale Probleme – zum Beispiel in der Familie oder in der Nachbarschaft – in ihrer Relevanz im Vergleich zu der symbolischen Bedeutung der Stadt als marginal erlebt werden. Somit kann die symbolische Verortung auch zur Bearbeitung von individuellen Problemen dienen. Diejenigen, die sich auf diese Weise verorten, thematisieren häufig oberflächlich die aktuellen religiösen und politischen Probleme. Das Wichtige ist für sie aber, dass diese Probleme nichts Neues oder Ungewöhnliches in der Stadt sind, sondern dass sie ein Teil der Identität der Altstadt als immer umkämpfter, aber deswegen wichtiger Raum sind. Dadurch wird auch ihr eigenes Dasein in der Altstadt relevant. Diese individualisierende Position kann in der Erzählung sogar darin münden, dass Jerusalem als Metapher für das eigene Leben eingesetzt wird; es erfolgt eine Gleichsetzung des eigenen Lebens mit der Stadt. Diese Metapher findet sich in mehreren meiner Interviews (am deutlichsten bei Huda, Kap. 8.2). Sie wird aber auch immer wieder in der kulturellen Produktion verwendet, dazu gehören zum Beispiel ein Theaterstück (vgl. Wickstrom 2011) oder schriftliche Zeugnisse. Der christliche Altstadtbewohner John Tleel betitelt sogar einen Artikel mit I am Jerusalem (1999) und erklärt, wie das Erleben der Historizität Jerusalems seine Biographie geprägt habe:

404 | V ERORTUNGEN IN DER J ERUSALEMER A LTSTADT »Only by living inside the Old City, enclosed by its walls, can you really come to know Jerusalem. Along its narrow streets you begin to feel its force. You are changed by its shrines and holy places, you are baptized by the city of stone. But it is not easy to be a Jerusalemite. A thorny path runs alongside its joys.« (Ebd.: 35)

Und unter der Unterüberschrift I am Jerusalem (ebd.: 39) transformiert er sich zum Träger der Jerusalemer Geschichte, wie im folgenden Zitat, das nur der Beginn eines längeren Abschnitts ist, deutlich wird: »I am the uninterrupted history of Jerusalem. I am the Walls of Jerusalem. When Patriarch Abraham came to Cannan from Ur of the Chaldees about 1850 BC I was in Salem, Urusalimu, the Canaanite city of Melchizedek, priest of the most high God. I am the bridge over which all the BC generations passed to the AD generations.«

Die symbolische Verortung spielt einerseits im Forschungsraum des erweiterten Jüdischen Viertels eine wichtige Rolle. Durch die symbolische Verortung schaffen sich die palästinensischen Bewohner/-innen einen Horizont für das Verharren in der feindlich gewordenen Umgebung. Sie werden im übertragenen Sinne Träger/-innen der palästinensischen Geschichte in Jerusalem. Dies konnte ich in den Fällen von Abu Lutfi (Kap. 8.3.1) und Subhi (Kap. 8.3.2) rekonstruieren, die ihr Ausharren im Familienbesitz auf die Jerusalemer Stadtgeschichte bzw. religiöse Überlieferungen bezogen haben. Besonders bedeutsam ist die symbolische Verortung, wie bereits erwähnt, zudem in der Biographie von Huda (Kap. 8.2). Die Beschäftigung mit der Geschichte und ihre Assoziation mit der historischen Architektur der Altstadt ist für sie ein Weg, die Wohnsituation der Familie an einem aufgeladenen Punkt im erweiterten Jüdischen Viertel zu erklären. Gleichzeitig kann sie sich so von ihrer Familie emanzipieren, indem sie sich im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern dieser besonderen Position bewusst wird. Die symbolische Verortung spielt andererseits im Forschungsraum der Mönche eine große Rolle. Dort ist sie aber vor allem ein Element der Selbst- bzw. Außenpräsentation, mit dem sie die Erwartungen der Zuhörer/-innen zu befriedigen gedenken, und weniger des Erlebens. An die Mönche wird von außen die Erwartung herangetragen, dass sie ihr Dasein am zentralen Ort der Christenheit mit Zufriedenheit erfüllen sollte. Das entspricht aber nicht notwendigerweise ihren Erfahrungen, da ihre Platzierung in Jerusalem nicht nach ihren Wünschen erfolgt, sondern primär von der besitzergreifenden Institution bestimmt wird. Die verbale Bekräftigung der symbolischen Verortung beruht nur sehr bedingt auf ihrem eigenen Erleben – sie wird sogar vor allem von denen eingesetzt, die ein besonders negatives Erleben der Stadt haben oder hatten. Deutlich zu erkennen war dies bei Bruder Michel (Kap. 9.2) und bei Bruder Macarius (Kap. 9.3.2), zum Teil auch bei Bruder Haqoub (Kap. 9.3.1). Alle drei benutzten in beinahe ritualisierter Weise stereotype Argumenta-

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tionen zur Heiligkeit Jerusalems und betonten ihre Dankbarkeit, ein Teil dieser Stadt zu sein. Dies deutet darauf hin, dass es feste Bestandteile ihrer Außenpräsentation sind, die aber mit ihrem Erleben kontrastieren (vgl. Kap. 9.1). Teilzeitablösung Die ersten drei vorgestellten Verortungen haben eine handlungsrestringierende Komponente. Sie verlangen die vollständige Identifikation mit dem Ort der Nachbarschaft, des Hauses oder der ganzen Stadt und fordern bestimmte Handlungsweisen und die Nutzung bestimmter Deutungsangebote ein. Diese Verortungen stellen sich gegen eine Ablösung von der Altstadt, da sie mit der Forderung nach Solidarität und Beharren verknüpft sind. Daher erleben Bewohner/-innen der Altstadt, dass sie sich nicht einfach aus diesem Kontext lösen können. Auch solche bleiben in der Altstadt wohnen, die sich eigentlich einen anderen Wohnort oder eine andere Art des Wohnens vorstellen, weil sie wahrnehmen, dass sie nicht wegziehen dürfen. Als ›Kompromiss‹ zwischen dem vollständigen Verharren in der Altstadt und dem Wegzug erscheint die von mir so genannte ›Teilzeitablösung‹. Sie ist eine Verortungsmöglichkeit für diejenigen, die zwar den Wunsch verspüren, woanders zu sein, sich aber nicht gegen sie in der Altstadt haltende Faktoren durchsetzen können bzw. die Verpflichtung verspüren, in der Altstadt wohnen zu bleiben. Dadurch, dass für die Teilzeitablösung Zeit, Geld oder Kontakte notwendig sind, müssen dafür vergleichsweise hohes soziales, kulturelles und/oder finanzielles Kapital vorhanden sein. Die Teilzeitablösung konstituiert sich daraus, dass Gründe gefunden werden, die Altstadt für einige Zeit zu verlassen und dadurch einen als positiv interpretierten Ausgleich zu erleben. ›Legitime‹ Gründe sind Fort- und Weiterbildung, berufliche Verpflichtungen oder ein Engagement im Wohlfahrtsbereich. Das ist eine Praxis, mit der die einengenden Strukturen zeitweise überwunden werden, um die Präsenz in der Jerusalemer Altstadt erträglich zu machen oder strikte Hierarchien (wie die der Kernfamilie oder des Ordens) zu überwinden. Die Teilzeitablösung zeigt auch auf, dass die vollständige Verortung in der Altstadt, im Haus oder in der Nachbarschaft nicht zwangsläufig ist, sondern Handlungsmacht möglich ist. Gleichzeitig kann die Teilzeitablösung aber mit einem Legitimierungsdruck verknüpft sein zu erklären, warum man sich nicht auf die Bewahrung des Nachbarschaftslebens oder des Besitzes konzentriert. In den besprochenen Fallrekonstruktionen war diese Verortungsweise in den Fällen von Hafez (Kap. 7.3), Muhammad (Kap. 7.4.2), Bruder Michel (Kap. 9.2) und Bruder Haqoub (Kap. 9.3.1) rekonstruierbar. Alle haben aus verschiedenen Gründen ihr Dasein in der Altstadt als nicht ausreichend oder negativ erlebt. Die teilzeitlichen Aufenthalte im palästinensischen oder außerpalästinensischen Umfeld außerhalb Jerusalems haben zudem eine große Bedeutung in ihrem Erleben gewonnen. Hafez hat bereits seit seiner Jugend Jerusalem regelmäßig für einzelne Tage und später Wochen verlassen. Die Abwesenheiten bildeten ein Gegenbild zum

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Wohnen in der Altstadt. Hafez’ Wunsch, die Altstadt vollständig zu verlassen, misslang aber aufgrund der Familiendelegation und zusammenfallenden, von ihm nicht beeinflussbaren familialen und politischen Problemen. Muhammad hielt sich häufig im israelischen Kontext auf, um dort ein liberaleres Leben zu führen, als er es in der Nachbarschaft oder im Familienhaus konnte. Für Bruder Michel war seine Berufung nach Jerusalem eine biographische ›Niederlage‹, da er auf einen anderen Verlauf seiner Karriere in der besitzergreifenden Institution des Ordens und seiner Kirche gehofft hatte. Durch die von ihm regelmäßig organisierten Auslandsreisen nach Europa erlebte er aber mehrmals pro Jahr einen größeren Handlungsspielraum außerhalb der Kontrolle durch den Orden, der ihm in der Altstadt verwehrt bleibt. Haqoubs Teilzeitablösung hat ähnliche Charakteristika. Nach seiner Entscheidung für das Mönchstum verwehrte ihm der Orden das angestrebte Studium in Armenien und schrieb seine Präsenz in Jerusalem fest. Doch seine wissenschaftliche Beschäftigung eröffnet ihm die Möglichkeit, durch zahlreiche Länder zu reisen, was er nutzt, um den rigiden Zwängen des Mönchstums zu entkommen. Daraus folgt allerdings keine Änderung seiner Interpretation der ausweglosen Verortung in Jerusalem. Der Wegzug Erst während der Analyse der von mir geführten Interviews und Beobachtungen wurde mir bewusst, dass auch der Wegzug aus der Altstadt als eine Art der Verortung in diesem Abschnitt aufgeführt werden sollte. Er stellt ein wichtiges positives oder negatives Gegenbild für alle Interviewpartner/-innen dar, die in der Altstadt wohnen. Zwar habe ich in den empirischen Teilen keine Interviewpartner/-innen vorgestellt, die dauerhaft aus der Altstadt weggezogen sind. Trotzdem wäre die Darstellung ohne die Erwähnung der Weggezogenen unvollständig. Sie sind in der Altstadt durch ihre Abwesenheit präsent. Für die Zurückgebliebenen stellen sie die grundsätzliche Möglichkeit dar, vollzeitig aus der Altstadt wegzuziehen. Sie stehen als Beispiel, dass die Verortungen in Altstadt, kleiner Nachbarschaft und Haus eben nicht unumkehrbar sind, obwohl sie ihnen so erscheinen mögen. Ihnen wird außerdem aufgezeigt, dass der Wegzug nicht nur ein Umzug in einen anderen Stadtteil ist, sondern auch ein Bruch mit dem gemeinschaftlichen Nachbarschaftsleben, der sozialen Kontrolle oder dem beengten Leben im Innenhof in einer feindlichen aufgeladenen Umgebung. Das Leben in einem Mehrfamilienhaus oder einem Einfamilienhaus im Grünen wird diesem gegenübergestellt. In der Altstadt werden solche Weggezogenen thematisiert, die sich bewusst gegen das Altstadtleben entschieden haben, weil es nicht einem ›modernen‹ Leben wie in anderen Stadtvierteln oder Städten entspreche. Deren neue Wohnumgebung zeigt die ›Vorzüge‹ und die Andersheit des Lebens außerhalb der Altstadt besonders deutlich auf. In der Annahme eines ›anderen‹ Lebens außerhalb der Mauern schwingt auch Neid mit: Die Bewohner/-innen sind sich der negativen Diskurse über die Altstadt bewusst, und die Le-

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bensbedingungen in der Altstadt sind kräftezehrender und entsprechen oft weniger den eigenen Idealen, als sie zugeben können. Diese Präsenz der Weggezogenen konnte ich besonders in der kleinen Nachbarschaft rekonstruieren (Kap. 7.2.2). Dass Yunis die Altstadt schon während seiner Jugend verlassen hat und inzwischen in einem nach westlichen Prinzipien konstruierten Neubau wohnt, machten die Nachbarschaftsbewohner/-innen aufgrund seiner Bekanntschaft mit mir immer wieder zum Diskussionspunkt. Sie kolportierten, dass Yunis sich selbst ja als erfolgreich oder besser sehe, als jemand, der das gemeinschaftliche Leben in der kleinen Nachbarschaft für sich als nicht mehr notwendig erachte. In der Analyse der Interaktion zwischen Yunis und Hafez während des biographischen Interviews (Kap. 7.3) wurde deutlich, dass Hafez Yunis dessen frühen Wegzug vorwirft, vor allem deshalb, weil er selbst die Möglichkeit eines Wegzugs nicht wahrgenommen hat. Trotzdem rahmt er seine Kritik als Yunis’ Bestreben, ein anderes Leben nach anderen Prinzipien zu führen. Hafez selbst erzählt erst spät während des Interviews über seine eigenen gescheiterten Wegzugspläne, die aber eine wichtige Erfahrung in seinem Leben darstellen. Das zeigt, wie tabubehaftet ein Wegzug aus der kleinen Nachbarschaft für bestimmte Familien sein kann. Dass Interviewpartner/-innen über die drei Forschungsräume hinweg den Traum haben, aus der Altstadt wegzuziehen, konnte in den Interviews mit Karim (Kap. 7.4.1), Michel (Kap. 9.2), Haqoub (Kap. 9.3.1) und Macarius (Kap. 9.3.2) rekonstruiert werden. Beispielhaft wird es auch in Subhis oben erwähntem Zitat deutlich: »I can’t leave the Old City, I CAN’T I try but I can’t.«

10.5 D OMINANTE V ERORTUNGEN DREI F ORSCHUNGSRÄUMEN

IN DEN

Wie bereits oben erläutert, habe ich die Verortungen im Rahmen der biographischen Fallrekonstruktionen herausgearbeitet. Dadurch habe ich vermieden, ›automatische‹ Verbindungen von einer Verortung und dem von mir konstruierten Forschungsraum anzunehmen. Dies hat sich als gewinnbringend erwiesen, da rekonstruiert werden konnte, dass die Verortungen nicht nur in jeweils einem, sondern in allen Forschungsräumen vorkommen können: Es kann also nicht von einem Forschungsraum auf eine einzelne zugehörige Verortung deduziert werden und umgekehrt. Trotzdem konnte ich zeigen, dass bestimmte Verortungen in den einzelnen Forschungsräumen eine größere Relevanz haben und bestimmender waren. Dies lässt sich dadurch erklären, dass einzelne Verortungen durch die Struktur des Forschungsraumes begünstigt oder herausgefordert werden, während andere erschwert werden. Das heißt, es gibt in zwei von drei Forschungsräumen ›dominante Verortungen‹, die ich in diesem Abschnitt vorstelle. Dass die individuellen Verortungen

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in den Forschungsräumen davon abweichen können, deutet einerseits darauf hin, dass bestimmte Orte anders erlebt und je nach biographischer Lage anders gedeutet werden können. Es verdeutlicht aber andererseits die Handlungsmacht von Individuen, sich gewissen räumlichen Strukturen und Interpretationen zu verweigern oder sich ihnen zur Wehr zu setzen. Für den Forschungsraum der kleinen Nachbarschaft (Kap. 7) kann die Nachbarschaftsverortung als dominant bezeichnet werden. Die kleine Nachbarschaft stellt als einziger der untersuchten Forschungsräume einen Wir-Ort dar, die Bewohner/-innen verfügen über ein klares Wir-Bild.5 Dieser Wir-Ort wird, wie oben bereits charakterisiert, durch soziale Kontrolle, nachbarschaftliche Solidarität und den Diskurs des harmonischen Nachbarschaftslebens konstituiert. Regelmäßige Face-to-Face-Beziehungen im beengten Raum, mehrere Generationen dauernde familiengeschichtliche Präsenz und wahrgenommene Familienähnlichkeit produzieren einen partiellen Rückzugsort aus dem öffentlichen Raum, der als halbprivat wahrgenommen wird. Die auf einer relativistischen Raumsicht beruhende Konzeption verstärkt die Abhängigkeit, da die Zugehörigkeit auf ständiger Redefinition und nicht auf festgesetzten geographischen und administrativen Grenzen beruht. Zumindest im halbprivaten Raum muss die Zugehörigkeit zur kleinen Nachbarschaft diskursiv stets aufs Neue bestätigt werden. Gerade die Mitglieder bestimmter historischer Generationseinheiten (Jordanische Generation, Aktivisten der Erste Intifada-Generation) erleben diese Zugehörigkeit auch. In den Fallrekonstruktionen erschien die kleine Nachbarschaft aber auch als ambivalenter Bezugspunkt. So haben sich sowohl Hafez als auch Karim bis zu einem gewissen Grad vom nachbarschaftlichen Leben abgesetzt. Beide befinden sich aus unterschiedlichen Gründen in einer leichten Außenseiterposition gegenüber der dominanten Generationseinheit der Erste Intifada-Aktivisten. Dies zeigt an, dass trotz der Dominanz der nachbarschaftlichen Verortung auch eine weitgehende Abwendung von ihr möglich ist (vgl. auch Muhammad in Kap. 7.4.2). Im erweiterten Jüdischen Viertel (Kap. 8) bedingen die politischen und rechtlichen Strukturen eine Dominanz der Verortung in Haus und Familie. Das liegt daran, dass die Fläche des Viertels durch die israelische Stadtverwaltung nach 1967 5

In der theoretischen Herleitung wurde bereits herausgearbeitet, dass auch der Ort der Familie ein Wir-Ort sein kann (vgl. Kap. 3.2). In der Altstadt ist es zudem wahrscheinlich, dass in einigen Fällen durch das enge Zusammenleben im ḥauš (Innenhof) oder khan ein Wir-Ort konstituiert wird. Zudem wohnen in zahlreichen, zum Teil recht abgeschlossenen christlichen Konventen sowohl Mönche als auch Laienchristen der jeweiligen Kongregationen – zum Beispiel im syrisch-orthodoxen Konvent oder am prominentesten im St. Jakobus-Konvent der armenisch-orthodoxen Kirche. Diese Zusammenhänge werden in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht. Es ist sicherlich möglich, dass einige von ihnen einen Wir-Ort bilden.

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administrativ genau festgelegt wurde, der Zuzug de facto auf Jüdinnen und Juden beschränkt ist und die meisten palästinensischen Familien in den 1970er Jahren aus ihren Wohnungen oder Häusern ausziehen mussten. Die Definition des Raums ist daher die eines ›Containerraums‹ und unterscheidet sich von der relativistischen Raumsicht in der kleinen Nachbarschaft. Die im erweiterten Jüdischen Viertel noch verbliebenen palästinensischen Familien müssen sich ihrer forcierten Vereinzelung in einer ihnen weitgehend feindlich eingestellten Umgebung stellen. Ihr Status ist der von ›Fremden‹, die als unerwünscht wahrgenommen werden, selbst wenn die meisten an den Rändern des erweiterten Jüdischen Viertels und somit in unmittelbarer Nähe zu palästinensischen Nachbarschaften wohnen. Diese Vereinzelung ist aber auch mit einem innerpalästinensischen Auftrag verknüpft, ihren Besitz zu halten und auf keinen Fall aufzugeben. Diese Situation verstärkt die Fokussierung auf das eigene Haus. Durch ihre kleine Zahl, die administrative Eingrenzung, die Einengung oder sogar Gefährdung durch ihnen feindlich gegenüberstehende jüdische Bewohner/-innen des Viertels, durch die räumliche Verstreuung und das Zurückgeworfensein auf das eigene Haus hat sich kein Wir-Gefühl als ›Palästinenser/ -innen im Jüdischen Viertel‹ entwickelt. Das deutet auf ihren Außenseiterstatus hin. Die Palästinenser/-innen wissen zwar voneinander, aber leben nicht in einer nachbarschaftsähnlichen Beziehung zueinander. Es gibt weder die typische soziale Kontrolle noch die unbedingte Solidarität noch einen nachbarschaftlichen Diskurs. Die Bewohner/-innen selbst haben als Selbstdefinition – und andere Palästinenser/ -innen in der Altstadt als Fremddefinition – die Bezeichnung ›Jüdisches Viertel‹ und somit die neue Realität übernommen. Die Namen der ehemaligen palästinensischen Nachbarschaften im Gebiet des erweiterten Jüdischen Viertels sind dagegen (mit der Ausnahme des Marokkanischen Viertels) weitgehend in Vergessenheit geraten (vgl. Kap. 8.1). Das Zurückgeworfensein auf das Haus und der Auftrag zur Bewahrung dieses Besitzes laden aber gleichzeitig dazu ein, den räumlichen Kontext symbolisch zu überhöhen, um sich der Relevanz der eigenen Vereinzelung bewusst zu werden. Daher habe ich in den Fallrekonstruktionen zum Forschungsraum im erweiterten Jüdischen Viertel parallel zur Verortung im Familienhaus in denselben Biographien auch die symbolische Verortung rekonstruieren können. Die Mönche in Jerusalem (Kap. 9) gehören besitzergreifenden Institutionen an, die darüber entscheiden, wie lange, wo und mit welchem Auftrag sie in der Altstadt von Jerusalem platziert werden. Daraus begründen sich eine strukturelle Fremdbestimmtheit ihres Daseins und die Frage, ob die Platzierung in Jerusalem ihrem eigenen Willen entspricht oder diesem zuwiderläuft. Damit hängt auch das Analyseergebnis zusammen, dass es in diesem Forschungsraum schwerer ist, eine dominante Verortung zu definieren. Während Bruder Jean sich nicht nur in seinem Kloster, sondern auch in der umliegenden Nachbarschaft verortete und sich emphatisch seiner Umgebung zuwandte – er hatte gemeinsam mit seinen Oberen seine Platzierung in Jerusalem geplant –, überwogen bei Macarius, Haqoub und Michel die symboli-

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sche Verortung. Bei den letzten beiden dominierten zudem die Teilzeitablösung als Ausweg aus der durch die besitzergreifende Institution festgelegten Platzierung in Jerusalem und zur Herstellung von Handlungsmacht. Bei diesen drei Mönchen stieß ihre Platzierung in Jerusalem auf Ablehnung, sie müssen sie aber für die Außendarstellung positiv darstellen. Dafür gebrauchen sie in der Selbstpräsentation die symbolische Verortung, um das diskursiv relevante Bild Jerusalems als Zentrum der Christenheit zu bedienen. Zwar wird Mönchen in Jerusalem in der Fremddefinition ein einheitliches Sie-Bild zugesprochen – das ›der‹ Mönche in der Altstadt –, das sich durch ihre für Laien ähnliche äußerliche Erscheinung und durch die ihnen zugeschriebene Konzentration auf das Spirituelle ergibt. In ihrer Selbstdefinition gibt es aber kein solches Wir-Bild. Die Zugehörigkeiten werden statt durch ihre christliche Zugehörigkeit durch die nationalen Herkünfte und vor allem durch die Zugehörigkeit zu ihren Denominationen bestimmt. Auch den Mönchen gemeinsame Orte gibt es jenseits der von mehreren Denominationen gemeinsam benutzten, aber durch Konkurrenzverhältnisse geprägten Kirchen nicht. Die Rituale und die häufig auf gegenseitige ›Überwachung‹ beschränkten Interaktionen lassen keinen gemeinsamen Wir-Ort der Mönche in Jerusalem entstehen (vgl. Kap. 9.1).

10.6 V ERORTUNGEN IN BIOGRAPHISCHEN V ERLÄUFEN : E INENGUNG UND E RWEITERUNG Wenn die rekonstruierten Verortungen in ihrer prozesshaften biographischen Aufschichtung analysiert werden, dann können typische biographische Verläufe der Verortung in der Altstadt von Jerusalem herausgearbeitet werden. Bei der Analyse dieser Verläufe werden zwei Begriffe zentral: Einengung und Erweiterung. Diese Begriffe bezeichnen eine Spannung zwischen der ›Einengung‹ durch Institutionen wie die Familie, die Nachbarschaft, die Besatzungsmacht oder die besitzergreifende Institution einerseits und der ›Erweiterung‹ andererseits, wie sie durch die Teilzeitablösung oder auch die symbolische Verortung erfahren werden kann. Durch die ›Erweiterung‹ wird entweder zunehmende Handlungsmacht erlebt oder eine negative Situation neu gedeutet und zum Positiven gewendet. Die ›Erweiterung‹ wird auf die eigene Initiative gegenüber einengenden Institutionen zurückgeführt und deswegen als Individualisierung wahrgenommen oder interpretiert. Bei der ›Einengung‹ werden mangelnde Handlungsmacht und eine starke Fremdbestimmung wahrgenommen, was entweder zur Resignation und Akzeptanz der als negativ empfundenen Verortungen führt oder zu der eben erwähnten Erweiterung durch ›individuelle‹ Bemühung. Ein wichtiges Element der Einengung ist das, was Shalhoub-Kevorkian (2012) bereits in der Überschrift ihres Artikels als ›in der Falle sitzen‹ (»being trapped«)

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bezeichnet hat. Damit meint sie die Zwänge der und das Leiden unter der israelischen Besatzung Ostjerusalems. In der vorliegenden Arbeit konnte jedoch rekonstruiert werden, dass dieses erlebniskonstituierende ›in der Falle sitzen‹ zwar maßgeblich mit der israelischen Politik verknüpft ist, aber nicht nur durch diese hergestellt wird. Es ist zudem notwendig, auf die komplexen Vernetzungen mit anderen Einengungen hinzuweisen, die von der sozialen Kontrolle im Wir-Ort der Nachbarschaft über die Familie bis zur besitzergreifenden Institution reichen können. Anstatt das Erleben dieses ›in der Falle Sitzens‹ als unveränderlichen Zustand zu rahmen, legt die Annahme, dass ›Orte‹ immer von neuem durch die Interaktion der sie ausmachenden Akteure konstituiert werden, nahe, auch auf Änderungen sowohl im Erleben als auch in der Konstitution von Orten einzugehen. Die Vorstellung einer in der Biographie stabilen Verortung in der Altstadt ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Außerdem habe ich bereits festgestellt, dass die Altstadt trotz ihrer kleinen Ausdehnung ein sehr diverser Raum ist. Das heißt, dass das Verortungserleben durch zahlreiche kollektive und individuelle Faktoren bestimmt ist, die je nach Umgebung differieren können. Schließlich können sich Verortungen in der Genese von Biographien generell wandeln. Bogner und Rosenthal (2009: 14-15) schreiben: »It is important to note that the sense of belonging can change at certain biographical turning points or is even forced to change as a result of social demands.« In den analysierten Biographien wurde deutlich, dass das Verhältnis von Einengung und Erweiterung eine zentrale Frage war, die im Verlauf der Interviews (manifest oder latent) verhandelt wurde. In den folgenden Abschnitten beschreibe ich, wie sich Verortungen in der biographischen Genese verändert haben. Dabei stelle ich drei mögliche Verortungsverläufe anhand der von mir analysierten Biographien vor: die stärker werdende Einengung, die schwächer werdende Einengung und das Erleben von Konstanz im biographischen Verlauf. Erleben einer stärker werdenden Einengung Bei diesem Typ zeichnet sich der biographische Verlauf dadurch aus, dass während eines länger andauernden oder kürzeren Prozesses, geradlinig oder weniger geradlinig das räumliche Dasein in der Altstadt als zunehmend einengend empfunden wird. Diese räumliche Einengung oder der wahrgenommene Verlust von alternativen Verortungen wird biographisch wirksam und als zunehmende Fremdbestimmung und Verlust von Handlungsräumen oder sogar als ›Schicksal‹ erlebt. Die stärkere Einengung geht vor allem von Institutionen aus, die ›schon immer‹ da waren, aber ihre potenzielle Macht nun ausüben (z.B. Familie, Besatzungsmacht). Die Einengung kann auch durch ein Ineinandergreifen der Wirksamkeit von Institutionen und biographischen Prozessen geschehen. Dazu gehört das Erleben von als gescheitert angesehenen Individualisierungsversuchen. Das Ergebnis dieses biographischen Verlaufs kann die resignierende und kraftlose Akzeptanz der Einengung sein – die Aufgabe des Widerstandes. In dem analysierten Sample können zu jenem

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Typ die Fälle von Hafez (Kap. 7.3) und von Abu Lutfi (Kap. 8.3.1) sowie, als Untertyp, die Fälle von Karim (Kap. 7.4.1) und Subhi (Kap. 8.3.2) gezählt werden. Hafez hat seine Kindheits- und Jugendjahre mit Aktivitäten gefüllt, die ihn in verschiedene Teile der Altstadt und auf Reisen in verschiedene Regionen Palästinas führten. Sein späteres Engagement im wohltätigen Bereich ermöglichte ihm regelmäßige Aufenthalte außerhalb Jerusalems. Dies führte zu seiner Teilzeitablösung von der Altstadt. Mit der Eheschließung begann eine Phase der als stärker werdend wahrgenommenen Abhängigkeit von der Familie und des steigenden Engagements in der kleinen Nachbarschaft. Seine Versuche, doch vollzeitig aus der Altstadt zu verziehen, wurden ihm durch einen biographischen Prozess verunmöglicht, in dem nicht beeinflussbare familiale und politische Einengungen zusammengefallen sind. Hafez akzeptierte das Scheitern und versuchte nicht noch einmal, aus der Altstadt wegzuziehen. Vielmehr zog er sich sogar aus der kleinen Nachbarschaft verstärkt auf seine Familie und das Familienhaus zurück und versucht lediglich, die Teilzeitablösung auf einem niedrigen Niveau aufrechtzuerhalten. Im Falle von Abu Lutfi folgte nach einer glücklichen Kindheit im heutigen erweiterten Jüdischen Viertel und einer erfolgreichen Ausbildung eine berufliche Karriere als Handwerker mit eigenem Betrieb. Er arbeitete in vielen verschiedenen Teilen Israels. Nach einer wirtschaftlichen Krise gab er diesen Job auf und begann, sich für den Erhalt des Familienhauses in einem umkämpften Teil des erweiterten Jüdischen Vierteles zu engagieren und es zu renovieren. Dort wohnt er äußerst beengt mit seiner Kernfamilie (eineinhalb Zimmer für sechs Personen) und seiner Mutter. Er rechtfertigt das Leben auf kleinem Raum durch eine symbolische Verortung, die ihm Erlösung verspricht, wenn der Jüngste Tag in Jerusalem kommt. Karim und Subhi bilden einen Untertyp, da sich ihre Einengung nach einer längeren Ablösung von der Altstadt (z.B. durch Auslandsaufenthalte) im Zusammenhang mit ihrer Rückkehr dorthin konstituierte. Karim war während seiner Kindheit und Jugend eng in der kleinen Nachbarschaft eingebunden. Durch ein nicht offengelegtes Erlebnis während der Ersten Intifada und durch einen langen Auslandsaufenthalt kam es zur Entfremdung vom Altstadtleben. Seine Familie forcierte seine Rückkehr, und Karim gründete in Jerusalem eine eigene Familie. Er verortete sich aber nicht mehr in der kleinen Nachbarschaft, sondern zog sich weitgehend auf das Familienhaus und die Kernfamilie zurück und interpretiert seine Rückkehr als ›Wink des Schicksals‹, gegen den er nichts unternehmen könne. Im Falle Subhis war der Verlauf ähnlich. Er verließ Jerusalem, studierte im Ausland, war Widerstandskämpfer im Westjordanland. Nach Ende seiner Kämpferkarriere und den folgenden Gefängnisaufenthalten nahm ihn seine Familie in die Pflicht, den großen Souvenirladen im erweiterten Jüdischen Viertel zu halten und durch seine beinahe tägliche Präsenz zu beschützen. Diesem familialen Auftrag vermochte er nicht auszuweichen. Er muss sich täglich seiner Einengung in der Altstadt stellen, was zu seiner Verbitterung beiträgt.

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Erleben eines Verlaufs von Einengung zu Erweiterung Die Biographien der Vertreter/-innen dieses Typs zeichnen sich durch einen Prozess aus, in dessen Verlauf die Biographinnen und Biographen eine Änderung von einer stärken Kontrolle zu größeren Freiräumen in Bezug auf ihre Verortungen in der Altstadt erlebten, also von Einengung zu Erweiterung. Dieser Prozess konnte länger oder kürzer andauern, er konnte geradlinig oder weniger geradlinig sein. Die Kontrolle der Verortung, zum Beispiel durch die Familie oder den Orden, weckt den Willen, diese Situation zu verändern. Die Vertreter/-innen des Typs erkennen also die Einengung und versuchen, ein stärkeres Maß an Handlungsmacht zu erreichen. Das führt auch durch Eigeninitiative zu einer wenigstens bis zu einem gewissen Grad als erfolgreich wahrgenommenen Erweiterung der tatsächlichen räumlichen Möglichkeiten oder zu gewandelten Deutungsmustern, durch die die gleichbleibende biographische Situation als positiv gewendet erscheint. Die als einengend erlebten Institutionen verschwinden also nicht. Stattdessen kommt es ihnen gegenüber entweder zu einem ›Emanzipationsprozess‹ oder zur Reinterpretation von deren Rolle. Bei den Biographien der Vertreter/-innen dieses Typs spielt die Frage der ›Individualisierung‹ eine große Rolle, da sie die Erweiterung auch als Ergebnis ihrer eigenen aktiven Beschäftigung mit ihrer Lage sehen. Für diesen Typus stehen die Fallrekonstruktionen von Huda (Kap. 8.2) und Bruder Michel (Kap. 9.2). Im Falle Hudas war das Familienhaus bis zu ihrer frühen Jugend die dominante Verortung, was durch Einengungspraktiken der Eltern einerseits und – damit verbunden – die Position des Hauses in einem umkämpften Teil des erweiterten Jüdischen Viertels andererseits konstituiert wurde. In ihrer Adoleszenz versuchte sie, sich vom Elternhaus zu emanzipieren. Dies ging mit dem Versuch einher, ihren Handlungsspielraum auf verschiedene Weisen zu erweitern. Huda verortete sich symbolisch in Jerusalem. Das fand seinen Ausdruck in einer studienbezogenen, aktivistischen und professionellen Beschäftigung mit der Stadt und ihrer Geschichte einerseits und in der Stilisierung ihrer Position im erweiterten Jüdischen Viertel als Abbild des umkämpften Charakters Jerusalems andererseits. Diese Erweiterung bildete eine stets gefährdete Balance zu den Einengungspraktiken der Eltern. Bruder Michel wurde von seinem Orden – der besitzergreifenden Institution – gegen seinen Willen in Jerusalem platziert; er hatte für sich einen akademischen Karriereweg innerhalb des Ordens erhofft und darauf hingearbeitet. Seine Ablehnung der Platzierung in Jerusalem überdeckte er (zum Beispiel im Interview) durch die Entwicklung einer zur Außenpräsentation bestimmten symbolischen Verortung, in der er seinen Dank über die Präsenz in der heiligen Stadt ausdrückte. Er begann aber, ausgelöst durch einen bestimmten historischen Verlauf im Kontext des Libanesischen Bürgerkrieges, diese symbolische Verortung für sich mit einem gewissen ›Realitätsgehalt‹ zu füllen, was eine von zwei Erweiterungen seiner Verortungen ist: Durch seine Platzierung in Jerusalem konnte er seiner Familie im Bürgerkriegsland helfen, was von ihm als ›Gnade‹ begriffen wurde. Die zweite Erweiterung sei-

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ner Verortung war eine Teilzeitablösung durch den Aufbau eines weitläufigen sozialen Netzwerkes durch transnationale Aktivitäten (Auslandsreisen), für die er zeitweilig der Kontrolle des Ordens entfliehen konnte. Auch die Möglichkeit des Netzwerkaufbaus führte er auf seine Präsenz in Jerusalem zurück. Bei seiner momentanen zweiten Platzierung in Jerusalem deutet sich eine ähnliche Struktur an: Er wurde in seinen (Karriere-)Erwartungen in Jerusalem enttäuscht, beginnt aber, sich auf die Suche nach einer sinnstiftenden Aufgabe zu machen. Erleben einer konstanten Verortung im biographischen Verlauf Bei den Biographien der Vertreter/-innen dieses Typus sind Wandlungen im Erleben der Verortungen kaum oder nicht deutlich erkennbar. Das Erleben von Konstanz lässt sich dabei in vier Untertypen differenzieren. 1. Erleben einer sich nicht verändernden, ausweglosen Lage: Die Vertreter/ -innen dieses Untertypus sind erst während oder nach ihrer Sekundarschulzeit nach Jerusalem gekommen. Die Platzierung geschah entweder gegen ihren Willen oder sie wurde seit einem frühen Zeitpunkt nach der Platzierung als ausweglos und fremdbestimmt empfunden. Damit unterscheiden sich Vertreter/-innen dieses Typus vom ersten Typ, bei dem die Wahrnehmung von Einengung im Laufe der Zeit stärker wurde. Für die Vertreter/-innen dieses Untertypus hat sich ein ›Aufbäumen‹ gegen die Fremdbestimmung als erfolglos erwiesen oder sie haben damit nicht einmal begonnen, weil die kontrollierenden Institutionen ihnen als zu mächtig erschienen. Mit dieser Resignation unterscheiden sie sich auch von Vertretern des zweiten Typus. Für sie ist es charakteristisch, dass sie ihre Zeit in Jerusalem als relativ gleichförmig und als sich stets fortsetzendes und unwandelbares Kontinuum erleben. Hierzu gehören die Fälle von Haqoub (Kap. 9.3.1) und Macarius (Kap. 9.3.2), als Mönche Mitglieder von besitzergreifenden Institutionen. Bruder Haqoub, der in der frühen Jugendzeit nach Jerusalem kam, versuchte spätestens nach Abschluss seiner Schulkarriere, Jerusalem zu verlassen, bzw. an einen anderen Ort, vorzugsweise in Europa versetzt zu werden. Diese Bemühungen scheiterten genauso wie andere Karrierebestrebungen – sie wurden von seinen Vorgesetzten untersagt. So hat sich seine Wahrnehmung verfestigt, dass das Dasein in Jerusalem unwandelbar ist. Sein Versuch, diese Wahrnehmung von Unveränderlichkeit durch seine Teilzeitablösung zu bekämpfen, hat bei ihm, im Gegensatz zu Bruder Michel, zu keiner veränderten Verortung geführt. Bruder Macarius wurde gegen seinen Willen in Jerusalem platziert. Er hatte für sich ein zurückgezogenes Klosterleben erträumt. Das drückt sich sowohl in seiner negativen Wahrnehmung Jerusalems aus als auch im deklamatorischen Gebrauch der symbolischen Verortung, mit der er sein Dasein in der heiligen Stadt nach außen preist. 2. Erleben von Zufriedenheit mit der Verortung in der Altstadt: Dieser Untertyp stellt den Gegenentwurf zum soeben vorgestellten dar. Auch für seine Vertreter/ -innen beschreibt das Erleben der Verortung in Jerusalem ein Kontinuum. Das Da-

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sein geschieht jedoch nicht gegen ihren Willen, sondern entspricht ihren Wünschen. Bruder Jean (Kap. 9.3.3) ist zwar auch Mitglied einer besitzergreifenden Institution. Für ihn kam aber die Platzierung in Jerusalem der Erfüllung eines Wunsches gleich, bzw. war sie mit dem Orden gemeinsam entschieden worden. Dies hat zur Folge, dass er sich emphatisch und intensiv seiner räumlichen Umgebung zugewandt hat, intensive Studien zur Altstadt unternahm und sich sowohl im Kloster als auch – und das ist eher ungewöhnlich – in der Umgebung des Klosters, einer armen, muslimisch geprägten Nachbarschaft, verortet. Er erfährt die Verortung in Jerusalem als durchgängig positiv. Dadurch muss er auch nicht, wie die anderen Mönche, eine symbolische Verortung entwickeln, um seine Platzierung in Jerusalem nach außen zu rechtfertigen. 3. Relativ unhinterfragtes (›natürliches‹) Erleben der Verortung: Dieser Untertypus wird dadurch definiert, dass das Leben in der Altstadt bzw. in der Nachbarschaft relativ unhinterfragt, selbstverständlich oder ›natürlich‹ erlebt wird. Verortungsalternativen sind hier viel weniger relevant als bei den bislang vorgestellten Typen. Zu diesem Typus gehören vor allem die männlichen Biographen der Jordanischen Generation, die nicht zu den in dieser Arbeit ausgelegten Fällen gehören, aber von mir an anderer Stelle ausführlich vorgestellt wurden (Becker 2013). Für sie ist die Verortung in der kleinen Nachbarschaft die selbstverständliche Verortung; sie selbst bezeichnen ihr Dasein in der Altstadt als »natürliches Leben«. Sie arbeiten sich aber an den jüngeren Generationen ab, für die diese Verortung eben nicht so natürlich sei und die das gemeinschaftliche Nachbarschaftsleben vernachlässigten (vgl. Kap. 7.2.4). 4. Erleben der Verortung in der Altstadt als wenig relevant: Für die Vertreter/ -innen dieses Untertypus ist das Dasein in der Altstadt von Jerusalem in ihrem biographischen Verlauf vergleichsweise wenig relevant gewesen. Sie hatten klar einschneidendere lebensgeschichtliche Ereignisse zu verarbeiten, die ihr Leben bestimmen. Das heißt nicht, dass sie das Dasein in der Altstadt nicht als positiv oder negativ erleben oder evaluieren, aber dies bleibt anderen Themen deutlich untergeordnet. Hierzu zählen die Fälle von Sana (Kap. 7.4.3) und Muhammad (Kap. 7.4.2). Bei Sana sind es die vergangenen und gegenwärtigen Erlebnisse in ihrer Herkunftsund Kernfamilie, die die Verortungen in der Altstadt überlagern: eine sich auflösende Herkunftsfamilie, in der sie Misshandlungen erlitt, ihre abgebrochene Schulkarriere, die prekäre ökonomische Situation, die von gewaltsamen Ausbrüchen dominierte Ehe mit ihrem Mann. Die Verortung in der kleinen Nachbarschaft, in der sie wohnt, hat in ihrer Situation daher vor allem Relevanz als Wunschhorizont eines funktionierenden Gemeinwesens, weil sie soziale Kontrolle und Harmonie verspricht. Sie fühlt sich aber dort als Christin wegen deren muslimischer Prägung nur unvollständig akzeptiert und nimmt eine gewisse Außenseiterposition ein. Muhammads Dasein in der Altstadt wird durch die familialen Konflikte um seine Kernfamilie und die Familiengeheimnisse (Konversionen) überdeckt. Für Muham-

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mad, der bei seinen Großeltern in der Altstadt und nicht mit seinen Eltern aufgewachsen ist, ist der Versuch der Großeltern, ihn weitgehend von den als ungebildet wahrgenommenen Bewohner/-innen der Nachbarschaft zu separieren, zwar relevant. Diese Relevanz ergibt sich für ihn aber in zunehmendem Maße aus dem Gegensatz der kleinen Nachbarschaft und seiner sein Leben stark bestimmenden Einbindung in den israelischen Kontext.

10.7 M ETHODOLOGISCHE I MPLIKATIONEN 10.7.1 Die hilfreiche Kombination aus Interviews und lang anhaltenden Beobachtungen In diesem Abschnitt gehe ich darauf ein, welche Vorteile und welche Nachteile die Kombination aus einer lang anhaltenden teilnehmenden Beobachtung und biographisch-narrativen Interviews im Forschungsraum der kleinen Nachbarschaft (Kap. 7) hatte. Dass ich in der kleinen Nachbarschaft überhaupt mit einer solchen lang anhaltenden Beobachtung arbeiten konnte, lag daran, wie sich mir dieser Ort dargeboten hat (vgl. Kap. 3.3). Durch das Miteinander vieler Mitglieder im geographischen Kontext der Straße und des Lebensmittelladens wurde er fassbar und unterschied sich dadurch von den anderen Forschungsräumen. Somit ist alleine die Möglichkeit zu einer lang anhaltenden Beobachtung bereits ein Puzzlestück des Ergebnisses und eine Erinnerung, dass die Methodenauswahl immer kontextabhängig ist (Hammersley/Atkinson 2007: 102-103, vgl. auch Kap. 4 zu den Forschungsmethoden). In den Forschungsräumen des erweiterten Jüdischen Viertels und dem der Mönche in Jerusalem führte ich dagegen nur fokussierte Beobachtungen durch, zum Beispiel bei der Stadtführung durch das erweiterte Jüdische Viertel (Kap. 8.1) und in der Grabeskirche (Kap. 9.1). Der öffentliche Raum des erweiterten Jüdischen Viertels war abweisend für seine palästinensischen Bewohner/-innen und versinnbildlichte die Trennung der Einwohner/-innen. Die fokussierten Beobachtungen in der Grabeskirche zeigten, dass die dortigen Interaktionen zwischen den Mönchen recht standardisiert ablaufen und statt einem Miteinander wie in der kleinen Nachbarschaft eher ein konkurrierendes Nebeneinander herrschte. In diesen beiden Forschungsräumen waren daher die Interviews viel relevanter als die Beobachtungen, da mit ihrer Hilfe auch ohne das Vorhandensein eines geeigneten geographischen Ortes für länger anhaltende teilnehmende Beobachtungen über den Interviewtext etwas über Orte und Verortungen ausgesagt werden konnte. Bei der Analyse der Methodenkombination in der kleinen Nachbarschaft ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Beobachtungen und Interviews nicht in allen As-

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pekten unterschiedlich sind. Die Kontrastierung einer ›natürlichen‹ Teilnahme am Feld und eines ›künstlichen‹ Interviewsettings ist verflacht (Hammersley/Atkinson 2007: 108-109): Zum einen gestalten Forschende bei Beobachtungen immer ihr Feld mit, selbst wenn sie nur als verdeckte Beobachter/-innen agieren. Sie sind stets ein aktiver Teil des sozialen Settings, das ohne sie so nicht existierte. Zum anderen bietet auch die Interviewsituation einen geeigneten Kontext für Interaktionsbeobachtungen. Der Interviewtext und die verbalen und nichtsprachlichen Interaktionen und Aushandlungen zwischen denen, die die Interviews führen, und den Interviewten finden nicht kontextunabhängig statt. Das lässt sich am Beispiel meiner Feldforschung in der kleinen Nachbarschaft gut verdeutlichen: So war ich zum einen selbst nach mehreren Jahren bei meiner Anwesenheit noch immer die zentrale Person im Lebensmittelladen, um die sich Gespräche und Interaktionen organisierten. Es wurde also nicht einmal der Anschein erweckt, dass ich ein Teil der kleinen Nachbarschaft wie jeder andere werden könne, stattdessen wurde ich als Gast behandelt. Zum anderen waren die von mir geführten biographisch-narrativen Interviews häufig keine ›intimen‹ Zusammentreffen von Interviewer und Interviewpartner/-in, sondern in den Familien- oder Nachbarschaftskontext integriert: Interviews fanden in der Gasse vor dem Laden oder im Wohnzimmer der Familie statt. Interviewpartner/-innen fuhren mit ihren Tätigkeiten fort, andere Personen kamen oder verließen das Interviewsetting oder griffen in das Interview ein (zu ähnlichen Beobachtungen im Kontext des Forschungsprojekts z.B. Hinrichsen/Becker/Rosenthal 2015). Trotz dieser Überschneidungen brachten sowohl teilnehmende Beobachtungen als auch biographisch-narrative Interviews spezifische Ergebnisse hervor. Die lang anhaltende teilnehmende Beobachtung zeigte Kontexte auf, die ich bei einer weitgehend auf Interviews beschränkten Feldforschung nicht ersehen hätte. Dazu gehörten die »örtlichen Produktionsbedingungen«, unter denen die »Narrationen kulturell hergestellt« werden (Hirschauer 2002: 39), und die ausführlich diskutierte soziale Kontrolle. Auch das körperliche Miterleben (vgl. Honer 1994), die flüchtigen, routinierten und nonverbalen Interaktionen sowie die räumliche Konfiguration waren für meine Fragestellung relevant. Außerdem trugen die teilnehmenden Beobachtungen zur Erstellung eines Interviewsamples bei, das nicht nur aus Personen besteht, die es gewohnt waren, Interviews zu geben (vgl. der folgende Abschnitt 10.7.2). Bei Interviewanfragen bin ich häufig an Personen verwiesen worden, die es gewohnt sind, mit ›Außenstehenden‹ zu sprechen und von denen erwartet wird, dass sie deren Fragen zufriedenstellend beantworten können. Durch meine regelmäßigen Aufenthalte im Laden konnte ich Vertrauen zu Nachbarschaftsangehörigen aufbauen, die sonst keine Interviews gegeben hätten. Dazu gehören vor allem Personen, die über geringe formale Bildung und über wenige Kontakte ins Ausland verfügen. Die Analyse der mit ihnen geführten Interviews hat mich zu zentralen Ergebnissen dieser Arbeit geführt. So sind mir die generationellen Unterschiede zunächst bei In-

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teraktionen im Lebensmittelladen aufgefallen und wurden durch biographischnarrative Interviews mit Angehörigen der Jordanischen Generation bestätigt. Gleichzeitig verdeutlichte die teilnehmende Beobachtung die ausgeprägte soziale Kontrolle – wurden mir doch bestimmte Perspektiven systematisch vorenthalten (z.B. Interviews mit muslimischen Frauen in der kleinen Nachbarschaft). Doch auch die Interviewanalyse brachte Erkenntnisse, die die teilnehmende Beobachtung nicht deutlich gemacht hätte: Beobachtungen sind vor allem dem gegenwärtigen sozialen Leben im Feld gewidmet und eröffnen nur bedingt einen Einblick in vergangene Perspektiven. Obwohl die teilnehmende Beobachtung zum Beispiel mit fokussierten Interviews kombiniert werden kann, fehlt ihr ein systematischer Zugang zu historischen Daten. Bei der teilnehmenden Beobachtung von Interaktionen im Laden wurden – gerade wenn mehrere Personen gleichzeitig im Laden anwesend waren – vor allem Diskursbestandteile in Bezug auf die politische Lage und die nachbarschaftliche Solidarität reproduziert und bestimmte konfliktbehaftete Elemente der sozialen Realität (und Geschichte) nicht thematisiert. In dieser Hinsicht ist Erving Goffman (1996: 11) nicht zuzustimmen, der schrieb: »Wenn Sie sich also in einer Situationen [sic!] mit mehreren Personen befinden, haben Sie bessere Chancen, die Dinge so zu sehen, wie sie normalerweise sind.« Zwar waren auch die Selbstpräsentationen in biographisch-narrativen Interviews häufig stark durch Diskurse geprägt (Rosenthal 2015b). Im Unterschied zu den Interaktionen in der kleinen Nachbarschaft, die der Versicherung der nachbarschaftlichen Solidarität dienten, verringerte sich die Diskursbindung jedoch durch die narrative Interviewtechnik (vgl. Kap. 4.1), wiederholte Interviewtreffen und gestärktes Vertrauen (Rosenthal 2015b: 29). Die Beobachtungen waren durch die (Nachbarschafts-)Diskurse geprägt, und es kamen vor allem Personen zu Wort, die diese bekräftigten. Dagegen eröffneten die Interviews einen Zugang zu solchen, die dort weniger präsent waren oder dort nicht reden wollten oder konnten. Dazu gehörten einerseits Mitglieder machtschwächerer Gruppierungen, wie zum Beispiel Mitglieder der Jordanischen Generation, die im (halb-)öffentlichen Raum für ihre Ansichten und Erfahrungen gerügt wurden, diese aber in den Interviews breit und ungestört ausführen konnten. Andererseits waren dies Außenseiter/-innen in der kleinen Nachbarschaft wie die christliche Interviewpartnerin Sana, die mir von ›Geheimnissen‹ innerhalb der Nachbarschaft berichtete, die mir ansonsten verheimlicht worden waren – über gewalttätige Auseinandersetzungen in der kleinen Nachbarschaft und die Gegenwart von ›Illegalen‹ aus dem Westjordanland. Dadurch wurde das diskursiv beteuerte ›solidarische Miteinander‹ etwas angekratzt. Die Organisation von zusätzlichen Interviews über andere Kanäle – also nicht nur über die Verbindungen zum Lebensmittelladen – bedeuteten darüber hinaus einen Zugang zu solchen Bewohnerinnen und Bewohnern, die sich eben nicht in der Nachbarschaft verorten und kaum im (halb-)privaten Raum und im Lebensmittelladen zu finden waren. Es ist ein wichtiges Ergebnis der Arbeit,

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dass sich trotz der sozialen Kontrolle nicht alle Bewohner/-innen in der Nachbarschaft verorten (müssen). Zentral ist der Einfluss beider Methoden auf den Rapport: Meine tägliche Anwesenheit im Laden bildete Vertrauen und eröffnete mir Interviewmöglichkeiten, und Interviewpartner/-innen berichteten von ihrem Vertrauen in mich im halbprivaten Raum des Ladens. Gleichzeitig kann dies auch zur Zurückhaltung bei den Interviews geführt haben, schließlich war ich in der kleinen Nachbarschaft ein präsenter Akteur und somit ein potenzieller Verräter der mir von ihnen dargebotenen, nicht immer für die Allgemeinheit bestimmten Erzählungen – auch, weil ich von einem einflussreichen Gatekeeper protegiert wurde: »To one degree or another, the ethnographer will be channeled in line with existing networks of friendship and enmity, territory and equivalent ›boundaries‹. Having been ›taken up‹ by a sponsor, the ethnographer may find it difficult to achieve independence from such a person, discovering that his or her research is bounded by the social horizon of a sponsoring group or individual.« (Hammersley/Atkinson 2007: 59)

Teilnehmende Beobachtungen und biographisch-narrative Interviews haben sich also meistens gut ergänzt, doch manchmal (produktiv) behindert. Ihre Kontrastierung war ein herausragendes Instrument zur Generierung von empirischen Ergebnissen (Rosenthal 2008: 106). 10.7.2 Forschungen über Palästina und die Suche nach Widerständigkeiten Lara Deeb und Jessica Winegar (2012: 539; vgl. Becker 2013) konstatieren, dass die Forschungslage über Palästinenser/-innen »is defined almost exclusively by the violence of Israeli occupation, an important and understandable association, though one that may sideline other analytic and thematic possibilities«. ›Lebensgeschichten‹ und ›Narrative‹ werden in Palästina und Israel überall gesammelt, zusammengestellt und in Medien, für NGOs oder in wissenschaftlichen Kontexten veröffentlicht.6 Doch diese Zusammenstellungen leiden oft unter einer Art verkürzter Realismusannahme: Es geht darum, die Geschichte bezeugen können. Obwohl vielleicht nur implizit, dient das Sammeln von biographischen ›Zeugnissen‹ dazu, eine bestimmte historische Sicht als die authentische zu plausibilisieren – vor allem eine bestimmte, palästinensisch geprägte Sicht auf die politische Geschichte. Diese biographischen ›Zeugnisse‹ stehen meist für sich, uninterpretiert. 6

Z.B. die Projekte, die 1998, im 50. Jahr nach der Nakba, initiiert wurden. Vgl. AbuLughod/Sa’di 2007: 17. Vgl. weiterhin z.B. Aghazarian/Freij/Batsh 1993; Tleel 1999; Matar 2011.

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Im palästinensischen Kontext hat dabei der Begriff ṣumūd eine besondere Bedeutung erlangt. Er bezeichnet, dass schon das Beharren auf dem Daseinsort und auf gewohnten alltäglichen Praktiken als Widerstand, als ›statischer ṣumūd‹ gelten könne (Farsoun/Landis 1990: 28). Durch diesen Begriff werden Lebensgeschichten in Widerstandsgeschichten umgewandelt. Dabei besteht jedoch die Gefahr zu vernachlässigen, dass Praktiken, die als Widerstand gedeutet werden, auch alternativ oder gleichzeitig in einer zunächst unbewussten Fortführung anderer Praktiken verstanden werden können oder als solche, die ganz andere ›Vorteile‹ versprechen als die Anerkennung als ›Widerstand‹ (Kelly 2008: 367). Jonathan Spencer (1996: 736) erinnert daran, dass es nicht angebracht sei, von außen ›Widerstand‹ in Handlungen und Symbole zu lesen, »which people themselves might describe in quite different terms«. Meine rekonstruktive Analyse der Interviews verdeutlichte, dass die Handlungen und Äußerungen der Interviewpartner/-innen auch dazu dienen konnten, gemeinschaftliche oder familiale Erwartungen in der kleinen Nachbarschaft oder ökonomische Bedürfnisse zu erfüllen und zunächst keine Entscheidung für widerständiges Handeln waren. Das betrifft zum Beispiel die Teilnahme an politischer Mobilisierung im Kontext der Ersten Intifada oder die Einfuhr von illegalen, billigeren Waren aus dem Westjordanland. Manche meiner Interviewpartner/-innen wünschten sich, die Altstadt verlassen zu können, aber sie begründeten ihr Verbleiben nicht nur damit, dass sie ṣumūd praktizierten, sondern auch mit mangelnden finanziellen Ressourcen oder familialen Gebundenheiten. Gerade an den Erfahrungen der Jordanischen Generation wird deutlich, dass es andere ›determinierende‹ Erfahrungen geben kann als die von Besatzung und Widerstand (auch wenn diese natürlich meist eine zentrale Rollen spielen). Doch die Jordanische Generation wurde – sinnbildlich – im Vergleich zu den politisch aufgeladeneren Nakba- und Erste IntifadaGenerationen, deren Betonung das Bild einer unveränderlichen Dialektik von Unterdrückung und Widerstand ergibt, bislang nicht untersucht.7 Diese Beobachtungen zeigen auf, dass nicht alle Palästinenser/-innen die Besatzung gleich erleben. Sie können dazu beitragen, langfristige ökonomische, kulturelle und soziale Wandlungsprozesse in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie die Besatzungspolitik mit diesen Prozessen verbunden ist oder wie sie diese Prozesse unterstützt oder behindert. 7

So argumentieren Abu-Lughod und Sa’di (2007: 5), dass die Nakba die »baseline for personal narration and the sorting of generations« für Palästinenser/-innen sei. In der zugehörigen Fußnote (ebd.: 23, Anm. 5) merken sie an, dass diese gefolgt werde von den »generations of the resistance […], the generation of the first intifada, and the generation of the second intifada«. Erst dann, mit einem Komma getrennt, fügen sie hinzu »among others«. Das verweist vielleicht auf ihr eigenes Unwohlsein mit dem hermetischen Generationenkonzept, das nur auf Kriege und Widerstandsbewegungen beruht.

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Mit diesen Beobachtungen ist eine konkrete Herausforderung in meiner Feldforschung verknüpft. Das mediale, politische und wissenschaftliche Interesse und die hohe Forschungsdichte sind im Alltagsleben in Jerusalem stets präsent, so dass viele Interviewpartner/-innen bereits vor dem Interview die Thematisierung von Besatzung und Widerstand als die Relevanz des Forschers antizipierten. Es besteht ein bestimmtes Wissen darüber, was normalerweise erforscht wird (der nationale Konflikt), welche Fragen gestellt werden und welche der sie umgebenden Menschen am besten geeignet sind, solche Fragen zu beantworten. An diese Menschen wurde ich häufig verwiesen. Das erschwert den Feldzugang für Biographieforscher/-innen, denn es ist nicht einfach, sich den etablierten Organisationsstrukturen zu widersetzen, die sich durch die oben ausgeführten Erwartungen der zahlreichen Forscher/-innen, Medienvertreter/-innen und internationalen Aktivistinnen und Aktivisten gebildet haben. Deren Wunsch, authentische Geschichten zu hören, hat in bestimmten Kreisen zur Etablierung eines routinierten Wissens darüber beigetragen, was es heißt, interviewt zu werden (Was ist ein Interview, wie muss man es angehen, wie redet man über sich selbst und was sind die Grenzen davon?). Einige ›erprobte‹ Interviewpartner/-innen haben mir zum Beispiel ungefragt einen Zwei-Stunden-Timeslot gegeben (oder weniger), weil – so meine Interpretation – sie aus ihrer bisherigen Erfahrung davon ausgingen, dass dies die Zeit sei, die ein solches Interview benötigte. Bekannte und palästinensische Kolleginnen und Kollegen im Feld führten mich zu »interessanten Leuten«, die »gute Geschichten« hätten, die ich hören müsse. Das waren meistens Interviewpartner/-innen, die dafür bekannt waren, dass sie geübt darin sind, mit Außenstehenden zu sprechen und den gewollten politischen Diskurs zu reproduzieren (vgl. auch Wundrak 2012). Manche Interviews erinnerten mich an kundenzentrierte Verkaufsgespräche, bei denen Fragen erörtert wurden wie: »What information can I give you?« »What do you want to know exactly?« Beim Interview mit einem geschäftigen christlichen Restaurantbesitzer, der fließendes, rhetorisch geübtes Englisch sprach, ist mir schnell seine Interviewerfahrung deutlich geworden: Er begann seine Selbstpräsentation auf meine Frage nach seiner Familien- und Lebensgeschichte dahingehend, dass er die religiöse und politische Bedeutung der Altstadt betonte und sich selbst als »Botschafter« bezeichnete. Er bat mich, seine »message to the Germans« weiterzugeben und schloss die Präsentation mit der Frage: »Was it a good presentation, I don’t know.« Umar hingegen, ein recht ungeübter Interviewpartner, der sich sehr darum bemühte, dass ich mit ihm ein Interview führe, beantwortete meine Eingangsfrage in diesem Stile mit der Rückfrage, ob ich seine Lebensgeschichte mit der Besatzung oder seine »natürliche Geschichte« hören wolle. Obwohl die Interviewvermittlung und solche nach außen orientierten Selbstpräsentationen ein sehr interessantes Forschungsthema darstellen, habe ich mich in Bezug auf meine Forschung gefragt, wie ich diesen eingeübten Schemata bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken kann. Ich habe es zum Beispiel bewusst vermieden,

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einige palästinensische Organisationen in der Altstadt zu kontaktieren – zum Beispiel das Center for Jerusalem Studies der al-Quds-Universität –, von denen ich wusste, dass sie Interviewpartner/-innen vermitteln, die allesamt im politischen Aktivismus in der Altstadt fest eingebunden sind. Das Zentrum ist eine sehr wichtige Einrichtung in der Altstadt, für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit habe ich deren Vermittlung aber als eher weniger hilfreich erachtet. Meine lang anhaltende teilnehmende Beobachtung hat mir dagegen nach einer Weile Kontakte zu Feldmitgliedern eröffnet, die ich durch das Schneeballprinzip aufgrund ihrer scheinbaren ›Unwichtigkeit‹ nie vermittelt bekommen hätte. Diese Interviewpartner/-innen empfanden das Interview mit mir als Zeichen von Freundschaft (oder Solidarität), weil ich bereits in das Alltagsleben in der kleinen Nachbarschaft integriert war. Zudem hat die offene Interviewform bzw. haben die konsequenten narrativen Nachfragen geholfen, Handlungen nicht vorschnell unter vorgefertigte Kategorien zu subsumieren und Interviewpartner/-innen zu ermuntern, ihre eigenen Präferenzen und Verbindungslinien zwischen verschiedenen Themen zu ziehen. Das methodische Design der vorliegenden Studie hat geholfen, die Regeln der Vermittlung von Interviews und der Rahmung von Interviewsituationen nachvollziehbar zu machen und kritisch in Bezug auf die diskursiven Erfordernisse der Präsentation von Unterdrückung und Widerständigkeiten zu beleuchten. Dazu trugen insbesondere die konsequente narrative Gesprächsführung, die Kombination aus teilnehmender Beobachtung und Interviews sowie die reflektierende Analyse des gesamten Feldaufenthaltes bei. Teil davon war zu fragen, wie ich zu bestimmten Personen gelenkt wurde und wie andere Mitglieder des Feldes mir bewusst vorenthalten wurden. 10.7.3 Nachbarschaftsforschung als Ergänzung zur Forschung in Familien In der deutschsprachigen Soziologie hat sich die Einsicht verfestigt, dass Stadtviertel und Nachbarschaften in den letzten Jahrzehnten an Relevanz verloren haben, dass kein einheitlicher Raum, zum Beispiel ein Stadtviertel, noch vergesellschaftend wirke, sondern einzelne Räume über die Stadt verteilt biographische Relevanz entfalteten (Löw 2001: 83). Hierzu schreibt Nam (1998: 63): »Die klassische Rolle der Nachbarschaft als ›Nothelfer‹ wird meist durch öffentliche Organisationen […] ersetzt. […] Dabei geht es nicht um ein raumgebundenes ›Wir‹-Gefühl. […] Dies schließt zwar nicht aus, daß ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen kann, wenn Nachbarn gleichzeitig von ökonomischen und sozialen Notlagen betroffen sind. Trotzdem hat die Nachbarschaft heute ›keine existentielle Bedeutung‹ mehr.«

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Für den vorliegenden Forschungskontext der Altstadt von Jerusalem war die Identifikation und die Relevanz der kleinen Nachbarschaft als Wir-Ort dagegen ein zentrales Ergebnis (vgl. Kap. 7). Auch darüber hinaus habe ich immer wieder auf die Relevanz von Nachbarschaften verwiesen (vgl. Kap. 6.1, 6.2, 8.1). Doch nicht nur in der vorliegenden, auch in zahlreichen anderen sozialwissenschaftlichen Publikationen zum Nahen Osten wird im Gegensatz zur Diskussion in Deutschland darauf hingewiesen, dass nachbarschaftliche Zusammenhänge wichtig seien, aber zu wenig untersucht würden. Da die Feldforschung in der kleinen Nachbarschaft daher einer der zentralen Bestandteile der vorliegenden Studie ist, soll in der folgenden methodologischen Diskussion der Fokus auf die Frage verengt werden, wie die Forschung in Nachbarschaften praktisch organisiert werden und wie sie die Forschung in Familien, die im Kontext der sozialkonstruktivistischen Biographieforschung eine wichtige Rolle einnimmt, ergänzen kann. Celia E. Rothenberg (1998/99: 43) argumentiert, dass zum Beispiel das Konzept des Clans, der ḥamūla, in Forschungen zu Palästina häufig überbetont worden sei, hingegen die geographische Lokalisierung, zum Beispiel in Nachbarschaften, vernachlässigt. Die nachbarschaftlichen Beziehungen im Nahen Osten können sogar familienähnlichen Charakter annehmen, wie Dale Eickelman (2002: 149) pointiert schreibt: »[S]ome anthropologists have, wittingly or unwittingly, extrapolated their own cultural notions into Middle Eastern data. This has been particularly the case in limiting family ties to ›blood‹ ties and in assuming that the notions of ›clan‹ and ›tribe‹ have more significance in the ordering of behavior and the determining of choices in moral situations than relationships with neighbors […] and friends.«

Warum es so große Unterschiede in der wahrgenommenen Relevanz von Nachbarschaften und Stadtvierteln in den deutschlandbezogenen Sozialwissenschaften einerseits und den nahostbezogenen andererseits gibt, lässt sich im Kontext dieser Arbeit nicht abschließend klären. Ich will aber darauf hinweisen, dass die vereinheitlichende regionsbezogene Interpretation der Relevanz von Nachbarschaften etwas zu vereinfachend sein könnte – sowohl für den deutschsprachigen Kontext als auch für den Nahen Osten. So haben meine Interviewpartner/-innen selbst eine innerstädtische Trennung formuliert – zwischen der Altstadt (und einer Handvoll eher als ›traditionell‹ wahrgenommener Stadtviertel) auf der einen Seite, in der das ›natürliche‹ solidarische Leben in Nachbarschaften stattfände, und dem ›modernen‹ Leben in neuerbauten Mittelschichtstadtteilen auf der anderen Seite, das anonymisiert sei und an westliche Kriterien angepasst (vgl. Kap. 7.2.2). Dass ein gemeinschaftlich orientiertes Nachbarschaftsleben in manchen Stadtgegenden (noch) als Ideal gilt, lässt sich unter Umständen auf eine Kombination aus der stärkeren Wirksamkeit von religiösen Traditionen, der räumlichen Enge, die eine große Vertraut-

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heit erfordert, dem niedrigen sozio-ökonomischen Status, der wahrgenommenen Familienähnlichkeit und der politischen Machtlosigkeit zurückführen. Die Nachbarschaft hat sich also in meiner Feldforschung als weiterhin relevante gesellschaftliche Größe dargestellt. Es ist daher lohnenswert, empirische Forschungen auf Fallebene der Nachbarschaft durchzuführen, dabei allerdings darauf Wert zu legen, dass die Identifikation und genaue Definition einer solchen Nachbarschaft erst während der Forschung aufgrund der Rekonstruktion der Verortungen der Gesprächspartner/-innen im Feld erfolgen sollte (vgl. Kap. 3.5). Die Nachbarschaft kann ein biographisch und sozialisatorisch relevanter Bezugspunkt sein, der unter Umständen sogar relevanter ist als die Familie. Methodologisch wäre es für zukünftige biographietheoretische Forschungen daher denkbar, die bereits erprobte empirische Arbeit in Mehrgenerationenfamilien (Rosenthal 1997) mit Forschungen in Nachbarschaften zu verbinden. Dazu würde gehören, stärker als es in der vorliegenden Arbeit verfolgt wurde, sowohl Forschungen in Familien als auch in den korrespondierenden Nachbarschaften durchzuführen und als sich ergänzend zu betrachten. In der kleinen Nachbarschaft waren vor allem die intergenerationellen Verhältnisse ein wichtiges strukturierendes Element, und die unterschiedlichen formativen Erfahrungen bzw. die kommunikative Herstellung von historischen Generationen konnte nachvollzogen werden (Rosenthal 2000). Eine generationelle Analyse von Nachbarschaften bietet sich gerade dann an, wenn – wie im Falle der kleinen Nachbarschaft – bei den meisten lebens- und familiengeschichtlichen Interviews wenige familiengeschichtliche Daten herausgefiltert oder recherchiert werden konnten; wenn also das familiale Gedächtnis aus verschiedenen Gründen nicht besonders weitreichend oder tief ist. In der Jerusalemer Altstadt hat dies wahrscheinlich mit dem bereits lang anhaltenden prekären sozio-ökonomischen Status zu tun und mit der Dethematisierung einer abweichenden Herkunft bzw. der Migration aus anderen Gegenden Palästinas vor zwei oder mehr Generationen (vgl. u.a. Kap. 6.4). Wenn die Forschung in Nachbarschaften stärker mit Forschungen in Mehrgenerationenfamilien, die in der kleinen Nachbarschaft zudem häufig in einem Familienhaus zusammenwohnen, kombiniert würde, dann könnten die familiengeschichtlichen Daten mehrerer Familien zusammengefasst werden und so ein genaueres Bild der Lebenswelten der Angehörigen der jeweiligen Generationen erbringen. In Ansätzen konnte das in der Fallrekonstruktion von Hafez (Kap. 7.3) aufgezeigt werden, wo immer wieder auf die Familie seines auch aus der kleinen Nachbarschaft stammenden Jugendfreundes Yunis eingegangen wurde. Das könnte auch dann nützlich sein, wenn sich, wie im Fall von Muhammad (vgl. Kap. 7.4.2), wenige weitere Familienmitglieder finden, die zu einem Interview bereit sind. Interviews mit mehreren Mitgliedern einer Familie und Familiengespräche können auch dazu beitragen, durch die Analyse der innerfamilialen Kommunikation zu überprüfen, ob die soziale Kontrolle und die Diskursorientierung, die im halbpriva-

Z USAMMENFASSUNG

UND ÜBERGREIFENDE

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ten Raum der kleinen Nachbarschaft weitgehend eingehalten werden und ein zentrales Motiv meiner teilnehmenden Beobachtungen waren, auch innerhalb der Familien Bestand haben. Durch meine Assoziation mit der einflussreichen Familie als Gatekeeper waren die Interaktionen bei den teilnehmenden Beobachtungen von dem Bedürfnis nach einer angemessen positiven Darstellung der Nachbarschaft durchdrungen. Amy Mills (2007: 345) hat ähnliche Beobachtungen bei ihren Interviews in einer Istanbuler Nachbarschaft gemacht: »This interview was a deliberate narration of what neighbors wanted me to know and hear about Kuzguncuk. As a group, neighbors’ stories confirmed and reinforced each other. This kind of censoring of dissonant information is important for preserving community and making the system of perceived equality in mahalle life work. It is one of the ›miniscule oppressions‹ of propriety.«

An einem kurzen Beispiel in Abschnitt 7.2.8 (ein gemeinsames Essen mit der Familie des Ladenbesitzers) habe ich gezeigt, dass Themen, deren Relevanz im halbprivaten Raum diskursiv geschmälert werden – in diesem Fall die Religionszugehörigkeit –, durch Familiengespräche zur Sprache kommen können. Auch im Fall von Sana (Kap. 7.4.3) war es das gemeinsame Gespräch mit ihrem Ehemann, in dem dieser gegen ihren Willen von zum Teil gewaltvoll ausgetragenen Konflikten zwischen den Familien in der kleinen Nachbarschaft berichtete und den Diskurs von der nachbarschaftlichen Solidarität in Frage stellte. Somit kann sich die Kommunikation in den Familien erheblich von der in der Nachbarschaft unterscheiden.

Karten

Abbildung 17: In der Gegenwart gebräuchliche Nachbarschafts/ḥāraBezeichnungen in der Jerusalemer Altstadt

Vereinfachte Darstellung auf Basis der Karte von Michael Dumper (1992: 34).

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Abbildung 18: Großraum Jerusalem

Leicht modifizierter Ausschnitt einer Karte aus: http://www.passia.org/palestine_facts/ MAPS/0_pal_facts_MAPS.htm, abgerufen am 01.03.2017.

Transkriptionszeichen

,

kurzes Absetzen

(4)

Dauer der Pause in Sekunden

ja:

Dehnung

((lachend))

Kommentar der Transkribierenden

/

Einsetzen des kommentierten Phänomens

nein

betont

NEIN

laut

viel-

Abbruch

'nein'

leise

(

)

Inhalt der Äußerung ist unverständlich; Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der Äußerung

(sagte er)

unsichere Transkription

ja=ja

schneller Anschluss

ja so war nein ich

gleichzeitiges Sprechen ab »war«

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Danksagung

Zunächst möchte ich allen danken, die mich in Jerusalem bei meiner Forschungsarbeit unterstützt und begleitet haben. Dazu gehören vor allem alle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sowie alle weiteren Bewohner/-innen Jerusalems, denen ich im Laufe der Beobachtungen oder in anderen Kontexten begegnet bin. Aufgrund der gebotenen Anonymisierung kann ich sie nicht namentlich nennen, umso mehr möchte ich herausheben, wie sehr mich ihre Gastfreundschaft und ihr Vertrauen angesichts ihres Daseins, das in vielen Fällen von Diskriminierung, Armut und Kontrolle geprägt ist, berührt haben. Meine Freundinnen und Freunde in Jerusalem haben mir geholfen, die Stadt (neu) zu entdecken. Vielen Dank an Dr. Yahya Hijazi, Dr. Nadeem Karkabi, Marion Slitine, Dr. Anan Srour und Dr. Avigail Wood. Mein herzlicher Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Kontext des Forschungsprojektes, als Teil dessen diese Arbeit entstanden ist. Sie standen mir zur Seite und haben mir geholfen, dass ich mich nicht nur auf dem Briefkopf in einen Soziologen gewandelt habe. Ohne ihre Hilfe wäre die Arbeit nicht entstanden: Ahmed Albaba, Dr. Artur Bogner, Hendrik Hinrichsen, Prof. Gabriele Rosenthal, Dr. Nicole Witte, Arne Worm, Dr. Rixta Wundrak. Dazu gehören auch meine (ehemaligen) Arbeitskolleginnen und -kollegen in Göttingen: Dr. Ina Alber, Eva Bahl, Henriette Lier, Katinka Meyer, Niklas Radenbach, Anna-Christin Ransiek und Miriam Schäfer. Prof. Dr. Gabriele Rosenthal war nicht nur Erstgutachterin der Arbeit, sondern hat mich auch zunächst als Neuling in Göttingen aufgenommen, mich in die soziologische Denkweise eingeführt, war ständig ansprechbar, ermunternd und antreibend. Eine bessere Betreuung ist schwer vorstellbar. Dafür bin ich zutiefst dankbar. Prof. Dr. Roman Loimeier hat die Zweitbegutachtung übernommen. Ihm danke ich sehr herzlich für das Vertrauen, das er mir entgegengebracht hat, für die ermunternden und anregenden Gespräche und seine zahlreichen wichtigen Hinweise. Prof. Dr. Ronald Hitzler bin ich für seine Anregungen und seine Bereitschaft, trotz seiner hohen Arbeitsbelastung als drittes Mitglied Teil des Prüfungskomitees zu werden,

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sehr dankbar. Prof. Dr. Steffen M. Kühnel danke ich für das kurzfristige Einspringen bei der Disputation. Die Bürde, das ganze Manuskript zu lesen, trugen Dr. Martin Bemmann und Silke Laux, Teile davon lasen Inse Böhmig, Hendrik Hinrichsen, Anna Pfitzenmaier, Dr. Oliver Powalla, Miriam Schäfer, Dr. Robert Spät und Arne Worm. Ihnen allen tausend Dank! Auch die Teilnehmer/-innen der Forschungswerkstatt am Methodenzentrum Sozialwissenschaften in Göttingen haben Teile dieser Arbeit gelesen und kommentiert. Vielen Dank! Fadi Tabbaa, Nasem Bakir und Rasmus Brandt möchte ich für ihre Hilfe bei allen Fragen hinsichtlich des Arabischen danken. Im Sammelbüro ›Florida‹ in Berlin fand ich die notwendige Ruhe beim Schreibprozess. Till Schmidt und Dr. Sven Kotowski haben mich bei meinen Aufenthalten in Göttingen in ihren Wohnungen beherbergt. Danke an Silke für alles! Danke an alle Freunde und an meine Familie für die Geduld in den vergangenen Jahren. Es wird nun sicher weniger stressig werden, ganz sicher! Am Anfang dieser Forschung stand auch der Tod meines Vaters, an deren Ende die Geburt unseres Sohnes. Ihnen sei die Arbeit gewidmet.

Soziologie Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3056-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5

Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart., 11,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4

Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hg.) Diskursforschung Ein interdisziplinäres Handbuch (2 Bde.) 2014, 1264 S., kart., 2 Bde. im Schuber, zahlr. Abb. 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2722-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2722-4

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Soziologie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2014, 528 S., kart., 24,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-2835-7 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2835-1

Carlo Bordoni Interregnum Beyond Liquid Modernity März 2016, 136 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3515-7 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos (Hg.)

movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Jg. 2, Heft 1/2016: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 272 S., kart. 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3570-6 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich: www.movements-journal.org

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de