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German Pages 282 [284] Year 2009
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 136
Kroly Csfflri (Hg.)
Georg Trakl und die literarische Moderne
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009
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Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-32136-6
ISSN 0083-4564
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Gesamtfertigung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Hans-Georg Kemper »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Károly Csúri Einzelgedicht und zyklische Struktur. Erklärungstheoretische Überlegungen zum Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹ aus Georg Trakls ›Sebastian im Traum‹ . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Stephan Jaeger Intensität statt Hermetik: Zur Theorie von Textbewegungen in Trakls Lyrik am Beispiel der Gedichte ›Siebengesang des Todes‹ und ›An die Verstummten‹ . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Laura Cheie Georg Trakls ›Ruh und Schweigen‹. Kreative Bilddynamik im Modus des Obsessiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jacques Le Rider Zur Intermedialität von Text und Bild bei Trakl . . . . . . . . . 113 László I. Komlósi, Elisabeth Knipf Leitpfade der Vorstellungen und die Brücken zwischen begrifflichen Fragmenten: Eine kognitive Analyse des Gedichts ›Verfall‹ von Georg Trakl . . . . . . . . . . . . . . . . 123
VI
Inhalt
János S. Petofi ˝ Georg Trakls ›Geburt‹. Einige Aspekte der Interpretation in texttheoretischem Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Dietmar Goltschnigg Georg Trakl und Georg Büchner . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Tymofiy Havryliv Trakl – zwischen Baudelaire und Rimbaud . . . . . . . . . . . . 165 Hanna Klessinger Flaubert in Georg Trakls ›Die Verfluchten‹. Eine intertextuelle Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Arno Dusini Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹ . . . . 199 Hans Weichselbaum Georg Trakls Weg in die literarische Moderne . . . . . . . . . . 219 Johann Holzner Lyrik im Umfeld von Trakls ›Grodek‹ . . . . . . . . . . . . . . 235 Wolfgang Wiesmüller Zur Wirkungsgeschichte Georg Trakls am Beispiel der österreichischen Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . 249
Vorwort
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Vorwort
Der vorliegende Band enthält die Vorträge eines Humboldt-Kollegs an der Universität Szeged, das vom 26.–30. September 2007 mit dem Titel »Schön, aber unverständlich? Georg Trakl und die literarische Moderne« anlässlich des 120. Geburtstages des Dichters vom Lehrstuhl für österreichische Literatur und Kultur veranstaltet wurde. Bekanntlich gehört Georg Trakl (1887–1914) zusammen mit Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn und Paul Celan zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Wegen ihrer faszinierenden Schönheit liessen sich manche seiner Gedichte zu den Spitzenleistungen der europäischen Lyrikgeschichte der Moderne überhaupt rechnen. Doch haben die Rezeptionsschwierigkeiten Traklscher Lyrik nicht nur positive Resonanz ausgelöst, sondern von Anfang an auch negative Qualifizierungen hervorgerufen: »Dunkelheit«, »Schwerverständlichkeit« oder gar »Unverständlichkeit« sind ebenfalls zu ständigen Topoi der Trakl-Forschung geworden. Diese Problemlage hat sich bis heute nicht wesentlich geändert: Die legendäre Auseinandersetzung zwischen Eduard Lachmann und Walther Killy über die Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit von Trakls Poesie hat nie wieder aufgehört. Das theoretisch-methodische Instrumentarium hat sich zwar immer weiter verfeinert und ausdifferenziert, die gegensätzlichen Gesichtspunkte haben zwar jeweils zu beachtenswerten neuartigen Einsichten und Problemstellungen geführt; die grundsätzliche Uneinigkeit der Forscher über die mögliche Etablierung semantischer Kohärenz in den Einzelgedichten und Zyklen des Dichters hat aber gemäß des literaturtheoretischen Schismas zwischen hermeneutischem bzw. konstruktivistisch-strukturalistischem oder poststrukturalistisch-antihermeneutischem Paradigma eher noch zugenommen. Die TraklPhilologie präsentiert sich daher insgesamt, um hier die treffende Summierung Hans-Georg Kempers aufzugreifen, »eher als Stolper-
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Vorwort
stein denn als zuverlässiger Leitfaden zu einem gesicherten Verständnis von Autor und Werk«. Angesichts dieser Situation war es ein wichtiges Anliegen des Kollegs, über die Darlegung von Einzelanalysen und eigenen theoretischen Positionen hinaus die Gründe für die methodische Auseinanderentwicklung der Trakl-Forschung und die Möglichkeit eines Konsens über bestimmte Grundannahmen hinsichtlich der Deutbarkeit Traklscher Dichtung zu diskutieren. Die scheinbar naive Fragestellung des Titels, die sich aus Wittgensteins Aussage über Trakls Poesie: »Ich verstehe sie nicht. Aber ihr Ton beglückt mich« herleitet, zielte darauf ab, dass die einzelnen Ansätze – direkt oder indirekt – Stellung zum Problemkreis beziehen: ob und in welchem Sinne »zwischen »schön« und »unverständlich« eine unauflösliche Interdependenz« in der modernen Dichtung allgemein besteht, ob und wie sich das Theorem der »Unverständlichkeit« möglicherweise in der Entschlüsselung der Strukturen, zumindest auf einer Ebene und vorläufig, selbst aufhebt und die poetische »Schönheit« gerade durch die erschlossenen Strukturen selbst erzeugt (H.-G. Kemper). In diesem Sinne hat das Kolleg vor allem literatur- und interpretationstheoretische bzw. literar- und kulturhistorische Aspekte des Traklschen Werkes, insbesondere anhand des Zyklus ›Sebastian im Traum‹ (1915) thematisiert. Neben der verwickelten Grundproblematik von »Schönheit« und »Unverständlichkeit« (H.-G. Kemper) wurden in den einzelnen Referaten u.a. Fragen reflektiert, ob und wie es (nicht) möglich ist, ein umfassendes Erklärungsmodell für Trakls Dichtung zu konstruieren (K. Csúri, S. Jaeger), ob und wie deren schwer- bzw. unverständliche Metaphorik mittels theoretischer Ansätze verwandter Disziplinen wie Intermedialität (J. Le Rider), Diskurstheorie (A. Dusini), semiotische Textologie (J. S. Petofi), ˝ Psychogenetik (L. Cheie) oder kognitive Semantik (L. I. Komlósi – E. Knipf) systematisch (nicht) erfasst werden kann, ob und auf welche Weise der literar- und kulturhistorische Kontext der Jahrhundertwende und ästhetischen Moderne (H. Weichselbaum) sowie die intertextuelle »Bezugsgeschichte« (H. Klessinger, D. Goltschnigg, T. Havryliv) zur besseren Verstehbarkeit des Traklschen Werks beitragen können, und schließlich, in welchem lyrischen Umfeld das Traklsche Werk damals erschien (J. Holzner) bzw. wie seine Poesie später in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts (W. Wiesmüller) durch Lyrikliebhaber und die neuen Dichtergenerationen rezipiert wurde.
Vorwort
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Eine Besonderheit des Kollegs ergab sich daraus, dass sich unter den Teilnehmern nicht nur Trakl-Experten befanden. Neben Literarhistorikern mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten waren unter den Referenten vor allem Literaturtheoretiker, Semiotiker, Linguisten und Kognitionswissenschaftler als ehemalige Humboldt-Stipendiaten vertreten. Gerade dieser intra- und interdisziplinäre Charakter des Kollegs dürfte durch die abweichenden, mit der Literatur jedoch eng zusammenhängenden und – im Vergleich mit der herkömmlichen Trakl-Philologie – in bedeutendem Maße theoretischmethodologisch ausgerichteten Anschauungsweisen, wie dies auch aus dem vorliegenden Band eindeutig hervorgeht, für die Trakl-Forschung in vieler Hinsicht bereichernd und anregend sein. Für die sorgfältige technische Redaktion des Bandes danke ich Frau Dr. Márta Horváth herzlich. Das sprachliche Lektorat der Beiträge hat freundlicherweise Frau Mag. Marion Rutzendorfer übernommen, ihr gilt ebenfalls mein bester Dank. Ganz besonders sei an dieser Stelle jedoch der Alexander von Humboldt-Stiftung für die Unterstützung der Idee, die großzügige Förderung des Kollegs und der Herausgabe des Konferenzbandes gedankt. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, das ebenfalls wesentlich zur Veröffentlichung des Bandes beigetragen hat. Szeged, im Juni 2008
Der Herausgeber
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Vorwort
»Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«
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Hans-Georg Kemper »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹
I 1) Kurz nach Trakls Tod urteilte Ludwig Wittgenstein über dessen Gedichte: »Ich verstehe sie nicht. Aber ihr Ton beglückt mich«.1 Unverständlich, aber schön! Dasselbe hatten schon – die Romantik hier beiseite gesetzt – die Leser Hofmannsthals zwei Jahrzehnte zuvor erlebt. Zwei seiner Gedichte, berichtet dieser 1896, haben in Wien einen unglaublichen Lärm hervorgerufen durch ihre völlige Unverständlichkeit«.2 In den Kaffeehäusern und Salons, so bestätigt Karl Kraus, »versuchten bei fliegendem Tee mondäne Damen eine Interpretation der dunklen Verse«.3 Vor allem die Eingangsverse des ›Lebensliedes‹ riefen Kopfschütteln hervor: »Den Erben laß verschwenden / An Adler, Lamm und Pfau / Das Salböl aus den Händen / Der toten alten Frau!«4 1
2 3 4
Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914–1925, hg. von Ignaz Zangerle u.a., Innsbruck 1988, (Brenner-Studien Bd. 8) S. 328. Zit. in: Gotthart Wunberg: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors, hg. von Stephan Dietrich, Tübingen 2001, S. 49, 112. Zit. in: Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten, hg. von Theodor Verweyen u. Gunther Witting, Stuttgart 1984, S. 159. Zit. in Verweyen/Witing: Deutsche Lyrikparodien, (Anm. 2.) S. 160. Zit. in Verweyen/Witting: Deutsche Lyrikparodien, (Anm. 2.) S. 158f. – Die ersten Leser wehrten sich alsbald gegen das Nichtverstehenkönnen mit Parodien, die den vermuteten Tief-Sinn des Gedichts in Un-Sinn verkehren sollten. »Eine«, so berichtet Karl Kraus, »hielt es für angezeigt, die Unverständlichkeiten zu permutieren, und schrieb geradezu: Den Adler laß verschwenden / An Erben, Lamm und Frau / Das Salböl aus den Händen / Des toten alten Pfau«. (zit. in Verweyen/Witting: Deutsche Lyrikparodien, (Anm. 2.) S. 160.) Ja warum nicht? Wenn die traditionellen Zusammenhänge und mit ihnen die Inhaltslogik außer Kraft gesetzt, wenn »der Semantikverlust der Wörter« diese zu »Lexemen« macht (G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 83), werden sie auch spielerisch austauschbar, und es zeigt sich, dass Parodien, also den Inhalt unpassend übertreibende, aber formal gleiche Nachahmungen ernsthafter Werke bei lexemautonomen Texten zum Teil ins Leere laufen; denn wo ein seriöser Sinn nicht mehr vorausgesetzt und erkannt werden kann, ist er, wie es scheint, auch nur schwerlich zu ridikülisieren.
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Hans-Georg Kemper
Auch nach professionellen Deutungsversuchen resümiert Gotthart Wunberg, dieses Gedicht sei »schlechterdings unverständlich.«5 Das ›Lebenslied‹ ist ein prägnantes Beispiel für die von ihm und seiner Tübinger Schule6 nachdrücklich entwickelte These, Unverständlichkeit sei »die dominante Leseerfahrung mit lyrischen Texten seit der Jahrhundertwende«,7 ja sie sei das herausragende Merkmal literarischer Moderne schlechthin. Ein Bündel von Ursachen machen die Autoren für diese Abkehr von dem bis dahin geltenden Prinzip einer literarischen Mimesis der sprachlich erfassbaren Realität geltend: wissenschaftliche Wertnivellierung, Partialisierung des Wissens, Aufwertung der Teile gegenüber dem Ganzen angesichts zunehmender Unübersichtlichkeit der modernen Erfahrungswelt in Historismus und Positivismus, daraus sich entwickelnd Nietzsches Zertrümmerung der Metaphysik, Einsteins Relativitätstheorie im Zusammenhang mit der Infragestellung der Einheit des Subjektbegriffs durch Freud und Mach, und nicht zuletzt das gescheiterte Experiment des Naturalismus, die Wirklichkeit mit größter Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit abzubilden.8 So wie sich Teile und Einzelnes verselbständigen, so autonomisieren sich die Worte in der Literatur und werden fungibel für neue Bedeutungszuschreibungen fernab gewohnter Semantik. Auf paradoxe Weise sichert die Literatur so ihre Selbständigkeit gegenüber der nicht mehr abbildbaren Realität und bildet mit ihrer Tendenz zur Hermetik, Verrätselung und Aphasie doch zugleich in einer Art ›neuen Mimesis‹ diese Undarstellbarkeit und Unbegreiflichkeit der Welt ab.9 Die autonome 5 6
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9
G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 49; vgl. Wunberg, S. 66ff. Vgl. Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996. – Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen 1994. G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 46. G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 48ff. – Vgl. dazu auch Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper: Expressionismus (1975). 6. unveränd. Aufl. München 1997, S. 105ff., 134ff., 259ff. In dem Kapitel ›Gestörter Traum. Georg Trakl: ›Geburt‹‹ habe ich dort die angedeuteten Tendenzen der Zeit ideen- und wissensgeschichtlich expliziert und Trakls Poesie als Vollendung des ›poetischen Positivismus‹ dargestellt (vgl. die Zusammenfassung S. Vietta/H.-G. Kemper, S. 285). Und nur in einem solchen allgemeinen Sinne ist die daraus resultierende Unverständlichkeit seiner Texte erklär-, aber damit nicht aufhebbar. Vgl. G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 48ff., 58f.
»Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«
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Lexik wiederum lenkt den Blick auf das textuelle Verfahren einer – zum Teil assoziativen – Kombinatorik von Motiven. In diesem Verfahren, das eine Zunahme poetischer Komplexität – auch mittels interund intratextueller Bezüge – impliziert und sich mit einer Selbstreferenzialisierung der Literatur verbindet, erblicken die Tübinger den entscheidenden poetischen Mehrwert und Zugewinn der modernen Literatur.10 2) Die Dominanz der stilistischen Verfahren haben die Zeitgenossen früh erkannt. Friedrich Torberg karikierte den neuen Stil in einem Epigramm mit dem Titel ›Hofmannsthal‹: Und Dichter wachsen auf und lesen vieles, und sind wie Lamm und Pfau, und sehr umragt von der Bemühtheit ihres eignen Stiles. Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt.11
Der Schlussvers zitiert parodistisch eine Zeile aus der letzten Strophe von Hofmannsthals ›Ballade des äußeren Lebens‹: »Und dennoch sagt der viel, der ›Abend‹ sagt.«12 Trakls Zuordnung zur unverständlichen Tiefsinns-Poesie bestätigt auch Wunberg durch Parallelisierung von Gedichten des ›Sebastian im Traum‹ mit dem ›Lebenslied‹.13 Trotz großer Unterschiede der oft als ›epochal‹ verstandenen ›Ismen‹ (von Naturalismus bis Dadaismus14) erblickt Wunberg eine Konkordanz in 10 11 12
13
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Vgl. Anm. 6. Zit. in Verweyen/Witting: Deutsche Lyrikparodien, (Anm. 2.) S. 132. Zit. in Verweyen/Witting: Deutsche Lyrikparodien, (Anm. 2.) S. 280. Der Zusammenhang lautet: Was frommts, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der ›Abend‹ sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. Vgl. dazu G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 49: »Die Texte bestimmen sich ganz offensichtlich als die nur wenigen Eingeweihten zugängliche ›geheime Verschlußsache‹ Text. Ein Gedicht wie Hofmannsthals ›Lebenslied‹ beispielsweise ist schlechterdings unverständlich. Es vermittelt aber den Eindruck, dass, wer den Wohlklang von ›Adler, Lamm und Pfau‹, ›das Salböl aus den Händen der toten alten Frau‹ usw. auch nur hört, diesen Text bereits versteht oder doch verstehen könnte. Entsprechendes gilt für Trakls ›Hirten begruben die Sonne im schwarzen (!) Wald‹ usw.« Vgl. G. Wunberg, S. 113. G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 97ff.
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Hans-Georg Kemper
der Autonomisierung und selbstreflexiven Hermetisierung der Literatur im Zeitraum zwischen 1880 und 1930. Im Vergleich mit der Sprach- und Formzertrümmerung der Dadaisten ist Trakl für ihn – mit Recht! – eine Übergangsfigur.15 3) Genau diese Position macht Trakls Poesie zu einem aufschlussreichen Studienobjekt. Dies möchte ich im folgenden an seinen beiden Hauptwerken aufzeigen. Sie repräsentieren nicht nur die wichtigsten Entwicklungsstufen seines Werkes, sondern – das wäre die zu illustrierende These – auch die beiden entscheidenden Schritte in der Genese der modernen Literatur: Die ›Gedichte‹ von 1913 illustrieren die Auseinandersetzung und Radikalisierung von Inhalten und Verfahren der traditionellen Mimesis-Poesie (II), der ›Sebastian im Traum‹ (1914) den Entwurf einer neuen, autonom-hermetisch erscheinenden, zyklisch strukturierten ›möglichen Welt‹16 (III). Abschließend möchte ich zeigen, dass sich Trakls Bilderwelt mit ihren zum Teil uralten Motiven auch einem uralten Konstruktionsprinzip verdankt, das sich hier als bestechend modern erweist und dafür sorgt, dass diese Poesie ihre Leser anhaltend fasziniert (IV).
15 16
G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 53. Vgl. zu diesem Begriff Árpád Bernáth: Sprachliche Kunstwerke als Repräsentationen von möglichen Welten. Mit einem Anhang über die Geschichte der Germanistik in Ungarn, Szeged 2004, (Studiensammlung) S. 16ff. Stellvertretend für zahlreiche weitere Arbeiten von Árpád Bernáth und Károly Csúri sei genannt: »Millionen Welten«. Festschrift für Árpád Bernáth zum 60. Geburtstag, 2001. Darin auch Károly Csúri: Trakls Großstadt als poetisches Konstrukt (Zur Erklärung des Gedichts ›An die Verstummten‹). K. Csúri, S. 263–276, hier S. 275: »Im Gedicht wird ja nicht etwas behauptet, eine Botschaft formuliert, sondern vielmehr eine Welt etabliert und ›aufgezeigt‹. Eine Welt die der unsrigen ähnlich ist und die uns, ähnlich wie die unsrige, nicht unmittelbar anspricht: sie öffnet sich für uns und spricht zu uns durch ihren Aufbau, durch ihre Strukturen. […] Dieses ›Aufzeigen‹ mittels textueller und intertextueller Struktur-Bewegungen, mittels Parallelisierung und Kontrapunktierung, Zusammenführung und Trennung, Überlappung und Auseinanderhaltung usf. etablieren eine vielfältige und differenzierte Textwelt, die aus unendlichen Dimensionen möglicher, aber systematisch aufeinander bezogenen Bedeutungszusammenhängen besteht und keineswegs auf einige abstrakt-einfache Kernaussagen reduziert werden kann.«
»Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«
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II 1) Mit seiner Sammlung ›Gedichte‹ von 1913 nähert sich Trakl – wie oft gezeigt17 – am stärksten den Darstellungstendenzen der frühexpressionistischen Lyrik an. Dieser Gedichttyp ist in der Traklschen Erscheinungsform von einer gegensätzlichen Strategie bestimmt. Zum einen zielt er auf semantische und kompositorische Destruktion, zum anderen auf die Konstruktion eines hermetisch anmutenden Individualstils. Unter ersterem Aspekt sind die Gedichte weder schön noch unverständlich, sondern beziehen ihre destruktiven Energien aus der Irritation über den Wertezerfall und die Gefährdung des Ichs sowie über die gewaltigen Veränderungen der industriellen Revolution, die als Verwüstung und Entfremdung der Lebenswelten erfahren wurden. Weil dies in den traditionellen Formen der Poesie nicht mehr darstellbar war, aber durchaus noch ›mimetisch‹ dargestellt werden sollte, brachen diese Gedichte z.T. mit den überlieferten Strukturen, Motiven und Wertorientierungen. Das Erlebnisgedicht wurde ersetzt durch den vom Reihungsstil geprägten Typ, den Trakl selbst 1910 miterfand.18 Er ermöglichte die Darstellung eines Nebeneinanders disparater ›Wahrnehmungen‹ und Bilder und damit der Unmöglichkeit ihrer traditionellen Wertung und Ordnung. Trakls Gedicht ›Romanze zur Nacht‹ aus dem Anfang der ›Gedichte‹ mag dies illustrieren: Einsamer unterm Sternenzelt Geht durch die stille Mitternacht. Der Knab aus Träumen wirr erwacht, Sein Antlitz grau im Mond verfällt. Die Närrin weint mit offnem Haar Am Fenster, das vergittert starrt. Im Teich vorbei auf süßer Fahrt Ziehn Liebende sehr wunderbar. 17
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Vgl. dazu u.a. Hans-Georg Kemper: Nachwort. In: Georg Trakl: Werke – Entwürfe – Briefe, hg. von H.-G. Kemper u. Frank Rainer Max. Nachwort u. Bibliographie von H.-G. Kemper, Stuttgart 1984, S. 269–320, hier S. 293ff. – Hans-Georg Kemper: ›Im Winter (I)‹. In: Gedichte von Georg Trakl, hg. von H.-G. Kemper, Stuttgart 1999, (Literaturstudium. Interpretationen) S. 43–59. Vgl. dazu auch Sieglinde Klettenhammer: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption, Innsbruck 1990, S. 131f. Vgl. zum Zusammenhang auch Hans Esselborn: Georg Trakl. Die Krise der Erlebenslyrik (!), Köln/Wien 1981.
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Hans-Georg Kemper Der Mörder lächelt bleich im Wein, Die Kranken Todesgrausen packt. Die Nonne betet wund und nackt Vor des Heilands Kreuzespein. Die Mutter leis’ im Schlafe singt. Sehr friedlich schaut zur Nacht das Kind Mit Augen, die ganz wahrhaft sind. Im Hurenhaus Gelächter klingt. Beim Talglicht drunt’ im Kellerloch Der Tote malt mit weißer Hand Ein grinsend Schweigen an die Wand. Der Schläfer flüstert immer noch.19
19
Der leichteren Zugänglichkeit wegen werden Trakls Gedichte und Entwürfe im fortlaufenden Text – soweit möglich – unter der Sigle WEB nach der in Anm. 17 genannten Ausgabe des Reclam-Verlages zitiert. Das vorliegende Beispiel also: WEB, S. 10f. Die Abkürzung HKA I und II hat sich eingebürgert für die verdienstvolle Ausgabe: Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Walther Killy u. Hans Szklenar. 2 Bde., Salzburg 1969. Mit der Sigle ›IA‹ etabliert sich zunehmend die neue, mehrbändige, noch nicht abgeschlossene, chronologisch geordnete historisch-kritische Konkurrenzausgabe: Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Eberhard Sauermann u. Hermann Zwerschina, Frankfurt am Main/Basel (bisher 1995–2007). Diese neue Ausgabe korrigiert zwar auf hohem philologischen Niveau das Hauptproblem der Ausgabe von Killy/Szklenar, nämlich neben unsicheren Datierungen die vom Leser kaum nachprüfbare Variantendarstellung, aber sie lichtet nicht das von Killy konstatierte ›Dunkel‹ der Textgenese, sondern bildet es nur philologisch aufwendiger und exakter ›präsentisch‹ ab. Radikaler als Killy sprechen Sauermann und Zwerschina auch den einzelnen Fassungen ›Gedicht‹-Charakter zu und erblicken in der Gedichtgenese, also im Prozessualen, das Entscheidende. So bietet also die ›Innsbrucker Ausgabe‹ den besseren Text zu Killys Thesen von der Undurchschaubarkeit der Entwürfe und der Unverständlichkeit der Traklschen Poesie. Da aber Gründe dafür erkennbar sind, dass die endgültigen Texte, die Trakl denn auch publiziert hat, in den meisten Fällen ästhetisch gelungener sind als die Vorfassungen, wird man diesen Entwürfen und Änderungen einen teleologischen Charakter nicht absprechen können. Unter dieser Prämisse nun lässt sich paradoxerweise mit der – eigentlich gegen die eigene Überzeugung der Herausgeber – ›teleologisch‹ angeordneten Ausgabe von Killy/Szklenar in vielen Fällen fast besser arbeiten, weil dort die Vorfassungen und Entwürfe auf die Endfassung hin angeordnet sind. Jedenfalls ist sie gerade wegen der Radikalität des Innsbrucker Editionskonzepts eine keineswegs überholte editorische Alternative. Neue Arbeiten konsultieren daher mit Recht beide historisch-kritische Trakl-Ausgaben.
»Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«
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Hier unterläuft das Hässliche, Frivole, Obszöne und Grausame auf groteske Weise die mit dem Titel gesetzte ästhetische Vorerwartung damaliger Leser. Dissoziation und Heterogenität erfassen wie in anderen Gedichten der Sammlung sowohl Inhalt als auch Komposition, vor allem mit der sich wiederholenden Konfrontation von Gegensätzen (»weinende Närrin« und »wunderbar Liebende«, »Mörder« und »Nonne«, »wahrhafte Kinderaugen« und »Hurenhaus-Gelächter«).20 Lyrische Mimesis bringt hier im Gestus der Provokation die bis dahin geltenden Werte und Ordnungen in groteske Un-Ordnung und vergleichgültigt sie. Denn von der Alltagssemantik her grotesk – als Kombination von Komischem und Grausigem, Makabrem, Absurdem und zugleich Un-Sinnigem – sind einige der Bilder (»Sein Antlitz grau im Mond verfällt.« Oder: »Ein Toter malt mit weißer Hand / Ein grinsend Schweigen an die Wand.«). Das Dekadenzgedicht verformt so die Bildlichkeit bis zum Un-Sinn, aber gerade daraus lässt sich auch wieder ihr provokativer Sinn erschließen. Dieser treibt mit dem Schönen der Poesie Entsetzen, destruiert aber um dieses Effektes willen im Unterschied zu den radikaleren Dadaisten nicht die ›Ikonizität‹ und damit Imaginierbarkeit aller – auch der semantisch unsinnigen – Bilder der ›Romanze‹.21 Zugleich indes verrät auch dieses Gedicht mit der Variation des Reihungsstils zur Form der Bildreihung (zumeist in der Doppelzeile, einer Umsetzung des ursprünglich achthebigen Romanzenverses) Anzeichen der Abkehr von der traditionellen Mimesis durch Hervorkehrung des Verfahrens. Dieses unterstützt hier aber die in der Vergleichgültigung liegende provokative Intention.22 20 21 22
Vgl. dagegen M. Baßler et al.: Historismus, (Anm. 6.) S. 217f. Vgl. Iris Denneler: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls, Salzburg 1984, (Trakl-Studien Bd. 13). Vgl. dag. G. Wunberg: Jahrhundertwende, (Anm. 1.) S. 93: »Hier nämlich geht es in den geradezu zwanghaft aufgelisteten Fakten keineswegs mehr um diese selbst und deren Inhaltlichkeit, die sie zum Skandalon werden ließen, sondern ausschließlich um das Verfahren. Liest man die Texte der Décadence auf ihr Verfahren hin, nicht auf ihre Inhalte, so ist ihr Verständnis aus einer Dichotomie befreit. Eine solche Lesart suspendiert die diesen Texten oktroyierte Dichotomie von: geschmacklich akzeptabel/inakzeptabel, salonfähig/nicht salonfähig, moralisch/amoralisch. Und dazu berechtigen paradoxerweise gerade die in den Décadencetexten konstatierbaren Häufungen der dekadenten Details, weil sie es sind, die den Blick aufs Verfahren lenken; das wiederum lässt die Inhalte in den Hintergrund treten.« Eine solche Leseweise lässt aus der historischen Distanz außer Betracht, dass das Verfahren gerade das ursprüngliche Anliegen un-moralischer Provokation bürgerlicher Ordnung (im Kontext der Nietzscheschen Kritik an der christlichen Askese-Moral) selbst ideal instrumentiert.
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Hans-Georg Kemper
2) Die Inhalte treten bei Trakl und den anderen Frühexpressionisten also zwar keineswegs in den Hintergrund, aber auch diese frühen ›Gedichte‹ enthalten mit der Reihung dichotomischer und die Inhaltslogik sprengender Bilder bereits jenes Verfahrenspotential, das dazu beitragen wird, dass aus dem Hässlichen und zugleich noch Verständlichen der ›Gedichte‹ des frühen Trakl das Schöne und Unverständliche des ›Sebastian im Traum‹ entstehen kann. Damit gelangt der Aspekt der Konstruktion der spezifisch Traklschen Poetik in den Blick. Jedes Gedicht enthält – wie sich auch an der kompositorischen Anstrengung der Entwürfe ablesen lässt23 – seine unverwechselbare Physiognomie, und die Sammlung von 1913 unterstreicht dies, indem keine übergreifende zyklische Bindung die Singularität relativiert. Und doch enthält jedes Einzelgedicht mit der Bildreihung in sich das Bauprinzip des Ganzen. In jedem Text entfaltet sich überdies ein spezifisch Traklsches Korrespondenzspiel der Motive. So lassen sich – der Titel ›Romanze‹ verweist im vorliegenden Beispiel gattungstypologisch auf ein ›Erzähllied‹ mit narrativen Strukturen – im ›Reigen‹ der Motive und Bilder Beziehungen erkennen und geheime Verwandtschaften vermuten: zwischen »Einsamem«, »Mörder«, »Totem« und »Schläfer«, der sich wiederum auf den »Knaben« bezieht, ferner zwischen den »Liebenden«, der »Nonne«, die den Gekreuzigten liebt, aber auch zwischen der »nackten« »Nonne« und der »Närrin« »mit offnem Haar«, wobei neben semantischen Affinitäten die Lautanalogien (»Närrin« »Nonne«) als bewährte Traklsche Mittel sekundärer Kohärenzbildung hinzu treten. Das lädt zu Deutungen ein, die sich freilich am Einzeltext nicht einlösen lassen, gerade deshalb aber auch – angeregt durch die ›Gedichte‹ selbst – zur Deutungssuche über ihn hinaus verleiten. So finden sich im nachfolgenden Gedicht ›Im roten Laubwerk voll Guitarren‹ auffällige Entsprechungen, wenn statt der »Närrin« »mit offnem Haar« nun »Der Mädchen gelbe Haare wehen«, statt der »Liebenden« »auf süßer Fahrt« nun »Die Alten« »sich blöd umschlingen«, statt des »Kellerlochs« »grüne Löcher voll Verwesung« zu imaginieren sind (WEB, S. 11).24 Der Reihungstechnik im 23 24
Vgl. Hans-Georg Kemper: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis, Tübingen 1970, (Studien zur deutschen Literatur Bd. 19) S. 67ff. Vom Frühwerk her lässt sich ferner z.B. die nackt betende Nonne mit dem Prosastück ›Maria Magdalena‹ in Verbindung bringen: Die ekstatisch verzückte Maria folgt dem »Ruf« des »seltsamen Propheten« Jesus; HKA I, S. 196f.
»Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«
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Einzelgedicht entspricht so die analogisierende und variierende Serialisierung der Motive und Bilder als kompositorisches Verfahren der Gedichtsammlung. Die Motive nähern sich so schon auf dieser Entwicklungsstufe einander an, laden sich semantisch (häufig mit erotischen Konnotationen) auf, stehen für einander ein, werden tendenziell austauschbar und unterliegen – paradoxerweise – damit zugleich einer semantischen Reduktion, insofern sie sich für den Leser häufig nur noch über einfache semantische Grundmuster (eben des Erotischen, Destruktiven, Dekadenten) oder über Transparenzstrukturen in Beziehung setzen lassen. Die Entwürfe belegen, dass Trakl bei einer zum Teil erkennbaren assoziativen Textgenese25 die Qual der Wahl zwischen den Motiven hat und sich dann – nur auf den ersten Blick verblüffend – bei der Entscheidung für den endgültigen Wortlaut weniger an inhaltlichen als an klanglich-lautsymbolischen Phänomenen zu orientieren scheint.26 Das Strukturmerkmal der Variation sucht von der Lautsymbolik bis zur Motiv- und Bildwiederkehr innerhalb der Äquivalenz zu große Einförmigkeit zu vermeiden. – Variierende Serialisierung ruft so als Grundverfahren der ›Gedichte‹ die paradoxe Doppelfunktion dieses Typs hervor: einerseits die Durchbrechung der erlebnishaften, traditionellen Mimesis-Poesie und ihrer Werte, andererseits und zugleich die Konstruktion und Variation eines selektierten Kaleidoskops geheimnisvoll miteinander verknüpfter Motiv- und Bildwelten, das sich als schön, aber unverständlich erweist und bereits in einzelnen Beispielen der ›Gedichte‹ erscheint.27
III 1) Dieser neue Gedichttyp dominiert den ›Sebastian im Traum‹, mit dem Trakl seinen »dunklen Ton« gefunden hat.28 Aus begrenztem Motivbestand erfindet er wie aus einem Baukasten – also wieder se25 26 27 28
Vgl. H.-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, (Anm. 23.) S. 21ff. H.-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, (Anm. 23.) S. 67ff. Vgl. WEB, S. 46ff. Vgl. dazu Bernhard Böschenstein: ›Helian‹. In: Gedichte von Georg Trakl, (Anm. 17.) S. 80–95. Vgl. dazu Erich Bolli: Georg Trakls »dunkler Wohllaut«. Ein Beitrag zum Verständnis seines dichterischen Sprechens, Zürich/München 1978. – Stephan Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das unmarkierte Zwischen in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke, München 2001, S. 205ff.
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riell – immer andere, aber ähnliche Fassungen und Gedichte. Heideggers Eindruck, Trakl habe nur »ein einziges Gedicht« geschrieben,29 variiert Baßler zeitgemäß: Es handle sich »bei Trakls Lyrik um eine Textur«,30 eine durch keine »semantische Verankerung in der konventionellen Mitteilungs- und Bezeichnungssprache« gebundene Kette autonomer Lexeme.31 Ein Beispiel aus dem ersten Teilzyklus ›Sebastian im Traum‹ mag belegen, dass solche Generalisierung nicht haltbar ist.32 Der Titel ›Im Frühling‹ gibt im Sinne der klassischen MimesisPoetik den Imaginationsraum vor,33 und alle Bilder sind auf Zeit und Stimmung des Abschieds vom Winter, neu erwachender Liebe und erblühender Natur beziehbar, und dabei durchläuft die Imagination geruhsam nacheinander in einem kohärenten Raumgefüge die zeitliche Dimension von Vergangenheit (V. 1), Gegenwart (V. 2–6) und (naher) Zukunft (»Balde«, V. 7), und sie wird auch durch keine Spannung zwischen Außen- und Innen-Perspektive in der Sprecher-Position irritiert, so dass hier auch das Merkmal einer »selbstreflexiven Textoberfläche« ausbleibt:34 29 30 31
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Martin Heidegger: Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichts. In: Merkur 7, 1953, S. 226–258, hier S. 226. Moritz Baßler: Trakl. In: M. Baßler et al.: Historismus, (Anm. 6.) S. 211–220, hier S. 219. M. Baßler: Historismus, (Anm. 6.) S. 216f. – Ders.: ›Verwandlung des Bösen‹ (2. Fassung). In: Gedichte von Georg Trakl, (Anm. 17.) S. 121–141, bes. S. 137ff. Vgl. dazu auch H.-G. Kemper: ›Im Winter (I)‹ In: H-G Kemper: Georg Trakl, (Anm. 17.) S. 43–59. Dies bestätigt Stephan Jaegers gegen Baßler gerichtete These, dass »Trakls Gedichte gerade eine hermeneutische Lesart auf der Textoberfläche herausfordern.« S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 221. Vgl. dazu auch Hartmut Cellbrot: Trakls dichterisches Feld, Freiburg i. Br. 2003, (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae Bd. 108) S. 8ff. Insofern bestätigt das folgende Gedicht nicht eine von Jaeger für den ›späten‹ Trakl erarbeitete These, wonach sich dessen »dunkler Ton« in zunehmender Verdichtung als »lyrische Vollführung« in einer »irritierenden Kombination aus einem emotional beteiligten, im Text involvierten wahrnehmenden Subjekt und einer deskriptiven, von außen kontrollierten und anschaulichen Sprache« ergibt, wobei »das involvierte Subjekt mit seiner Angst und Unwissenheit als krisenartiger Schatten seiner selbst durch den Text« »durchdringe« (so zu dem Gedicht ›Stunde des Grams‹): S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 206f., 211. Allenfalls in der Schlusszeile ließe sich mit der Wertung »so stille« der Schatten eines involvierten Subjekts erkennen; ansonsten ist das ganze Gedicht in deskriptiver Anschaulichkeit aus einer Außenperspektive ohne introduzierten Sprecher verfasst. Es ist also ein Beispiel für die von Jaeger ausdrücklich eingeräumte und mit einigen Beispielen benannte Gruppe von Trakl-Gedichten, in de-
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Im Frühling Leise sank von dunklen Schritten der Schnee, Im Schatten des Baums Heben die rosigen Lider Liebende. Immer folgt den dunklen Rufen der Schiffer Stern und Nacht; Und die Ruder schlagen leise im Takt. Balde an verfallener Mauer blühen Die Veilchen, Ergrünt so stille die Schläfe des Einsamen. (WEB, S. 62)35
Dabei sind allerdings sechs Aspekte bemerkenswert. Erstens ist auch dieses Gedicht aus dem »Thesaurus« der am meisten von Trakl verwendeten Motive gestaltet.36 Dazu gehören – in der Folge des Auftretens –: »Leise«, »sinken«, »dunkel«, »Schatten«, »Baum« »Lider« (für »Augen«), »dunkel«, »Stern«, »Nacht«, »leise«, »verfallen«, »ergrünen« (für »grün«), »stille«, »Schläfe« (für »Stirn«). Nahezu notwendig ergeben sich von daher auch intratextuelle Bezüge zur ›Romanze zur
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nen es nicht zu einer »selbstreflexiven Vollführung« der Spannung zwischen »subjektivem Ausdruck« und »objektiver Beschreibung« und mithin auch kaum zur Verdichtung einer »selbstreflexiven Textoberfläche« kommt (S. Jaeger, S. 216.). Mit Recht weist Jaeger daraufhin, dass die komplexen Textbewegungen in jedem Trakl-Gedicht anders verlaufen und daher je gesondert zu untersuchen sind. Er selbst hat seine höchst anregenden und ambitionierten Einsichten bislang hauptsächlich an vier Gedichten (›Gesang des Abgeschiedenen‹, ›Stunde des Grams‹, ›Ruh und Schweigen‹ sowie ›An Luzifer‹) expliziert und auf diesen ›Kanon‹ (vor allem auf ›Ruh und Schweigen‹ und ›An Luzifer‹) auch in einem weiteren Aufsatz zurückgegriffen: S. Jaeger: »Die Finsternis flammenden Sturzes«: Das Lesen dynamischer Bilder und deiktischer Räume in Georg Trakls Lyrik. In: Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, hg. von Ruben Zimmermann. Mit einem Geleitwort von H.-G. Gadamer, München 2000, S. 363–385. Und leicht lassen sich auch jahreszeitlich motivierte Korrespondenzgedichte aus den späteren Teilzyklen des ›Sebastian im Traum‹ benennen, die die Frühlings-Motivik des Gedichts nun ins Herbstliche transponieren. Genannt seien hier nur die beiden Titel- und Schlussgedichte der Teilzyklen ›Der Herbst des Einsamen‹ (»Bald nisten Sterne in des Müden Brauen; / […] / Und Engel treten leise aus den blauen / Augen der Liebenden, die sanfter leiden.« WEB, S. 72) sowie ›Gesang des Abgeschiedenen‹ (»Dunkles besänftigt das Plätschern des Bachs, die feuchten Schatten // Und die Blumen des Sommers, die schön im Winde läuten. / Schon dämmert die Stirne dem sinnenden Menschen.« WEB, S. 93) Vgl. M. Baßler et al., Historismus, (Anm. 6.) S. 211ff.
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Nacht‹ mit den Motiven des »Einsamen« unterm »Sternenzelt«, der »Nacht« und den »sehr wunderbar« »Liebenden« auf dem »Teich«, der hier mit den »Schiffern« und den im »Takt« schlagenden »Ruder[n]« präsent ist. Von daher erklärt sich zweitens, dass die Bilder des Gedichts überwiegend nicht ausschließlich auf den Frühling beziehbar sind, sondern auch zusammenhängend in anderen Bezügen referenzialisierbar wären, wenn das Gedicht also einen der anderen Titel aus dem ›Sebastian im Traum‹ als Imaginationsraum vorgäbe, etwa ›Unterwegs‹, ›Landschaft‹, ›Im Moor‹, ›Nachts‹, ›Entlang‹, ›Ruh und Schweigen‹, ›Geistliche Dämmerung‹, ›Verklärung‹, ›Frühling der Seele‹ oder ›Gesang des Abgeschiedenen‹. Folglich erschöpft sich drittens das semantische Potential dieser Motive und Bilder nicht in nur einer Lesart, auch nicht in einer vom Titel dominant vorgegebenen. Vielmehr sind Semantik und Strukturierung der Motive je nach Bezugsrahmen unterschiedlich und nur partiell – zum Teil metaphorisch – aktivierbar. So enthält das Gedicht als ganzes mehr Bedeutung und ›Tief-Sinn‹ als die einzelnen Leseweisen aufzurufen und einzuholen vermögen.37 Daraus ergibt sich viertens die Schwierigkeit, den Begriff ›Textoberfläche‹ in Trakls Lyrik angemessen zu definieren, um vorrangig daraus – zur Vermeidung der problematischen Alternative einer entweder sinnstiftenden oder sinndestruierenden Interpretation38 – die Textbewegungen39 und Verdichtungen als Prozess lyrischer Vollführung beschreiben zu können.40 Denn wenn man das Feld der Beobachtung methodisch auf Raum- und Zeitinszenierungen, Imaginationsabläufe 37
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Vgl. dazu auch H. Cellbrot: Trakls dichterisches Feld, (Anm. 33.) S. 71: »Konstitutiv für die vieldeutige Bildlichkeit – Polyperspektivität – ist gerade die wechselseitige Verdeckung wie Unterbrechung von Bezugsmöglichkeiten. Eine Bezugsbahn realisiert sich, indem eine mögliche andere unterdrückt, überlagert wird, welche aber dennoch wenngleich verdeckt, als verdeckte durchscheint.« Cellbrot weist dies exemplarisch am Gedicht ›Nachtseele‹ nach. Cellbrot, S. 71ff. Vgl. Cellbrot, S. 141. Vgl. dazu Peter von Matt: Die Dynamik von Trakls Gedicht. In: Ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur Literatur, München Wien 1994, S. 277–291, S. 277ff. Vgl. dazu S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 229ff. Vgl. S. Jaeger: »Die Finsternis flammenden Sturzes« (Anm. 34), S. 377: »›Bewegung‹ bezieht sich als Begriff auf die Veränderung von Zeit, Raum und anderen Relationen in deiktischen Zusammenhängen auf der Oberfläche des Textes«. Vgl. S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 205ff. u. ö. Vgl. dazu das ambitionierte Kapitel ›Trakl – implizite Vollführung lyrischen Ausdrucks‹. In: S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 197–246.
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oder sinnliche Wahrnehmungen im Bereich der Deixis beschränkt, fordern die Schwerverständlichkeit der Motive und Bilder und die kompositorische Verdichtung gleichwohl stets interpretatorische Entscheidungen des Interpreten, die um so unsicherer sind, je ›oberflächlicher‹ sie aus der Textoberfläche abgelesen werden. Und fasst man den Begriff komplexer und weiter, nimmt also wie Stephan Jaeger auch »bildgeschichtliche kulturelle Tiefendimensionen« hinzu, weil diese im Gedicht eine »textuell tradierte Anschaulichkeit« schaffen und deshalb helfen, »die Verdichtungsprozesse auf der Textoberfläche nachvollziehen zu können«,41 dann entgeht der Interpret erst recht nicht und nicht einmal dann der Problematik der Sinn-Deutungen, wenn er seine Interpretation an diesem prekären Punkt abbricht und statt dessen die Forschung kritisiert, die solche Deutungen vorgelegt hat.42 Fünftens aber wären partielle Leseweisen und die Erschließung der ›Oberfläche‹ aus der komplexen Textualität des Gedichts eben nicht möglich, wenn dessen Bilder und Motive tatsächlich, wie immer wieder behauptet wird, in sich nicht nur widersprüchlich, sondern völlig heterogen wären. Widersprüche allerdings sind ja noch »gut zu denken«, denn sie beziehen sich auf einen gemeinsamen anschaulichen semantischen Raum. Die unterschiedlichen Leseweisen werden also ermöglicht – und wiederum begrenzt zugleich – durch eine kohärente Struktur der Motive und ihrer möglichen intertextuellen und sich intratextuell herstellenden Bedeutungen im einzelnen sowie der Bildund Vorstellungswelten eines Gedichts im ganzen. Der ›landschaftsdominante‹ mythische Traklsche ›Thesaurus‹43 passt nämlich gut zusammen, er wird nicht gestört durch den Wortschatz aus anderen – gar sachfremden – Diskursen, wie dies in den sprachzerstörerischen ›Unsinns-Texten‹ der Dadaisten zu beobachten ist.44 41 42
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S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 226. Dieser Problematik ist sich Jaeger bewusst. Vgl. S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 233. Zu seiner Forschungs-Kritik anstelle einer eigenen weiterführenden Interpretation, die ihm auch vom Erkenntnisinteresse seiner Studie her nicht nötig erscheint, vgl. S. Jaeger, S. 229ff. Vgl. dazu auch Wee-Kong Koh: Der Wandlungsprozeß der Landschaftsgestaltung in der Lyrik Georg Trakls. Versuch einer Interpretation auf Grund der Varianten, Bamberg 1979, S. 61ff., 109ff. – Hildegard Steinkamp: Die Gedichte Georg Trakls. Vom Landschaftscode zur Mythopoesie, Frankfurt/M. Bern New York 1987, S. 44ff., 76ff., 100ff., 127ff., 245ff. Vgl. Hans-Georg Kemper: Vom Expressionismus zum Dadaismus. Eine Einführung in die dadaistische Literatur, Kronberg/Ts. 1974, S. 94ff., 118ff., 124ff., 215ff. Vgl. dazu auch Thomas Keith: Dada in Zürich und Berlin. Experimente mit Lauten, Buchstaben und dem Publikum (1916–1920). In:
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Und eines der sinnenfälligsten Mittel, mit dem Trakl neben der Zyklusbildung die Kohärenzstruktur seiner Bilderwelt erzeugt und verbürgt, ist sechstens deren sekundärsemantische Aufladung durch die Dominanz des Klanglichen. Wenn das Schöne in der Literatur – zumal in der Lyrik als der formal verdichtetsten unter den Gattungen45 – sich wesentlich definiert über die Sinnlichkeit der Sprache als besonderes Medium der Ästhetizität46 –, dann gewinnt der Wohlklang, der eine langsame Lektüre erzwingt und die Aufmerksamkeit so noch mehr auf sich lenkt, eine solche Macht, dass die Sinnlichkeit den Sinn beinahe »verschlingt«. Der Klang hebt das Schreckliche im Schönen auf und macht es so überhaupt erst ästhetisch sagbar! Vielleicht enthält das Ästhetische damit eine quasireligiöse konsolatorische Funktion.47 Das lässt sich an den meisten der späteren Traklschen Gedichte zeigen, auch an dem zitierten ›Im Frühling‹, und der Wohl-Klang, der aus der lautlichen Äquivalenz der Motive erwächst und den ganzen Gedichttext auf syntagmatischer wie paradigmatischer Ebene strukturiert, zieht, wie Jacobson gezeigt48 und unabhängig von ihm auch die TraklForschung erkannt hat,49 »semantische Äquivalenz nach sich«; die zu-
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Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, hg. von Ursula Heukenkamp u. Peter Geist, Berlin 2006, S. 368–383. Vgl. zu dieser Definition von Lyrik die Begründung in Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. IV/1. Barock-Humanismus: Krisen-Dichtung, Tübingen 2006, S. 66ff., bes. S. 69f. Vgl. dazu Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense, Tübingen 2007. (Studien zur deutschen Literatur Bd. 183) Vgl. dazu auch Frank Krause: Sakralisierung unerlöster Subjektivität. Zur Problemgeschichte des zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus, Frankf./M. Berlin u.a. 2000, (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur Bd. 57) S. 73ff., 478ff. Roman Jacobson: Linguistik und Poetik. In: R. Jacobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. von Elmar Holenstein u. Tarcisius Scheibert, Frankf./M. 1971, S. 84–120. Genannt sei hier vor allem Heinz Wetzel: Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls, Göttingen 1968, (Palaestra Bd. 248) S. 116, 136 u. ö. – Vgl. ferner Albert Hellmich: Klang und Erlösung. Das Problem musikalischer Strukturen in der Lyrik Georg Trakls, Salzburg 1971 (Trakl-Studien Bd. 8). – Eckhard Philipp: Die Funktion des Wortes in den Gedichten Georg Trakls. Linguistische Aspekte ihrer Interpretation, Tübingen 1971, (Studien zur deutschen Literatur Bd. 26). – E. Bolli: Georg Trakls »dunkler Wohllaut«. (Anm. 28.) – Rudolf Dirk Schier: Die Sprache Georg Trakls, Heidelberg 1970. – Albert Berger: Dunkelheit und Sprachkunst. Studien zur Leistung der Sprache in den Gedichten Georg Trakls, Wien 1971. – Hans Esselborn: Georg Trakl. Die Krise der Erlebenslyrik (!), Köln/Wien
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sätzliche Semantisierung der Signifikanten führt auch hier zu einer Desemantisierung der Denotationsebene.50 Die Serialisierung als Häufung von miteinander alliterierenden und assonierenden Motiven (»Schritte«, »Schnee«, »Schatten«, »Schiffer«, »Stern«, »schlagen«, »Stille« »Schläfe« als ein Beispiel aus diesem Gedicht) führt zu einer musikalischen Dominanz an sich sekundärsemantischer Aspekte; diese wird von Metrum und Rhythmus unterstützt (hier motivisch explizit: »Und die Ruder schlagen leise im Takt.«) und trägt dazu bei, auch alltagssprachlich UnSinniges wie das groteske Schlussbild von ›Im Frühling‹ – »Ergrünt so stille die Schläfe des Einsamen« – als lautsymbolisch und mit Bezug auf das »Blühen« der »Veilchen« auch denotativ stimmigen Abschluss zu akzeptieren – schön und in dieser Lesart nicht einmal unverständlich!51 2) Überwiegend indes erschafft Trakl aus dem archetypisch anmutenden Vorrat seiner Motive Gedichte, die sich jeder Referenzialisierbarkeit tatsächlich zu entziehen scheinen,52 und damit eine hermetische
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1981. – Alfred Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien u.a. 1992, S. 11ff., 68ff. – Eric B. Williams: The Mirror and the Word. Modernism, Literary Theory, and Georg Trakl, Lincoln & London 1993. Vgl. dazu Jürgen Link: Elemente der Lyrik. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hg. von Helmut Brackert u. Jörg Stückrath, Hamburg 1992, S. 86–101. Dennoch gibt Cellbrot, wie mir scheint, mit Recht zu bedenken: »Die Polyvalenz lässt gerade die wörtliche Bedeutung erst hervortreten und bewirkt eine Entmetaphorisierung. Die möglichen kontextuellen Verweisungen schlagen, weil sie bei keiner einzelnen zur Ruhe zu kommen vermögen, wieder auf das einzelne Wort zurück und reichern es semantisch an.« H. Cellbrot: Trakls dichterisches Feld, (Anm. 33.) S. 72. Analog löst sich das von der Alltagssemantik her Un-Sinnige des Schlussverses von ›Im Frühling‹ durch die Beziehbarkeit auf den Frühling nicht auf. Das Gedicht ›Ruh und Schweigen‹ etwa aus dem mittleren Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹ gehört dazu: Ruh und Schweigen Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald. Ein Fischer zog In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher. In blauem Kristall Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt; Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf. Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen, Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel.
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Sprachwelt, die – dem Mythos analog – auf einer eigenen Seins- und Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein; Ein strahlender Jüngling Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung. (WEB, S. 73) Was ›sagt‹ das Gedicht, worauf sollen wir es beziehen? Ist die Eingangsstrophe Metapher für den Wechsel der Tageszeit, ist sie Sinnbild eines Winterabends oder spielt sie auf den Untergang des goldenen, von der Sonne beherrschten Zeitalters und auf die vom Mond regierte Eiszeit an? Aber wenn man ihm diesen Sinn geben wollte, müßte man im Blick auf den Schluss, der eine Art eschatologischer Erlösungsepiphanie zu enthalten scheint, annehmen, das Gedicht durchlaufe – dann aber ganz unmythisch – eine zeitliche oder historische Dimension von den Anfängen des Mythos bis zur Wiederkehr des – mit der Androgynie verbundenen, bei Schöpfungsbeginn verlorenen – Heils. Diese Deutung ließe sich durch die intertextuellen Anspielungen vielleicht erhärten: »das Heilige blauer Blumen« etwa spielt ja auf das Symbol der Romantik an, auf die »blaue Blume« aus Novalis’ Roman ›Heinrich von Ofterdingen‹, für den die Androgynie ebenfalls konstitutiv ist. Auch die ›Hymnen an die Nacht‹ enden in der Verschmelzung der beiden Erlösungsfiguren des Gedichts: »Hinunter zu der süßen Braut, / Zu Jesus, dem Geliebten –«: Novalis (Friedrich von Hardenberg): Hymnen an die Nacht. In: Novalis: Gedichte. Lehrlinge zu Sais, hg. von Johannes Mahr, Stuttgart 1984, S. 125–162, hier S. 162). Doch solche Sinnbezüge helfen nicht entscheidend weiter, sie beziehen sich nur auf einzelne Stellen und bleiben lückenhaft im Blick auf das ganze Gedicht. – Vgl. zur Genese und den Entwürfen dieses Gedichts auch Kemper: Georg Trakls Entwürfe, (Anm. 23.) S. 75ff., 86ff., 114f. – Zur Androgynie-Motivik bei Trakl vgl. Richard Detsch: Georg Trakl and the Brenner-Circle, New York San Francisco Bern u.a. 1991, (American Univesity Studies. Series I. Germanic Languages and Literature Vol. 91) S. 129ff. u. ö. Vgl. dazu ferner die in Anm. 61 genannte Literatur. Die unterschiedlichen Deutungen allein dieses Gedichts sind ein Lehrbeispiel für die angedeutete Problematik einer notwendigen Interpretation auch von Bewegungen in der ›Textoberfläche‹. Wie etwa soll man – um nur ein Beispiel zu nennen – »In blauem Kristall« verstehen? Wäre ›Kristall‹ – passend zu den vorangegangenen Motiven von »Sonne« und »Mond« der »kristalline« Sternen-Himmel, ginge die ›Bewegung‹ ›nach oben‹, wäre darunter aber – analog zum vorherigen »Begraben« der »Sonne« und der »Regentschaft des »Mondes« ein metaphorischer Verweis auf die irdische Eiszeit zu verstehen, bliebe die Textbewegung ›unten‹. Vgl. dazu auch die Analyse von Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 211ff. Jaeger setzt sich mit der Interpretation des Gedichts durch Károly Csúri auseinander: K. Csúri: Theorie und Modell. Erklärung und Textwelt. Über Trakls ›Ruh und Schweigen‹. In: Weltbürger – Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank, hg. von Leslie Bodi u.a., Frankf./M. u.a. 1995, S. 128–151. Gerade weil Jaeger die Vieldeutigkeit der Motive und die daraus resultierende potentielle Gegenläufigkeit der Bewegungen herausarbeitet und damit die Intensität des Gedichtes auslotet, wird er selbst zum Sinn suchenden und deutenden Interpreten, der die Text-Komplexität ›herstellt‹ und sich dabei genötigt sieht, das Terrain der ›Textoberfläche‹ im Durchschreiten zugleich zu überschreiten.
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Aussageweise beruht.53 Die Gedichte werden – wie oft gezeigt54 – ›lyrischer‹.55 Im Vergleich zum Reihungsstil lässt sich dies als poetische Restrukturierung deuten. Durch diese nimmt die formale Verdichtung zu, und dies verstärkt den Effekt der Autonomisierung der Texte. 3) Noch komplexer und – wie es scheint – unverständlicher wird der Einzeltext beim Blick auf seine zyklische Eingebundenheit im ›Sebastian im Traum‹. Alle wichtigen Motive tauchen in unterschiedlichen Kontexten auch in den benachbarten Gedichten wieder auf und füllen sich so mit weiteren Bedeutungen und Wertungen – mit der Folge wachsender rätselhafter Sinnverdichtung und -vertiefung.56
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Dabei verweist der Titel ›Ruh und Schweigen‹ auf die ›Rhetorik des Schweigens‹, des Aussparens, des Raumsparens für das Schweigen, das hier innerhalb und zwischen den Bildern und Zeilen hergestellt und damit strukturell vollzogen wird und die raumzeitliche Lokalisierung zusätzlich verrätselt. Der Verzicht auf ein festes Metrum, auf Endreim und einheitliche Strophenform unterstützt den meditativen Zug des neuen Gedichttyps und tritt in eine angespannte Korrespondenz mit der erneut verschwenderischen Klangfülle, die ungewöhnliche semantische Beziehungen zu stiften scheint. Vgl. zum Motiv des Schweigens auch Williams: The Mirror and the Word, (Anm. 49.) S. 228ff. u. ö. Ders.: Schweigendes Tönen: Zur Wiederkehr der Flöten. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 149–167. Vgl. die in Anm. 49 genannten Studien. So enthalten sie gegenüber dem Reihungsstil variablere Strukturen: ausgeprägte Enjambements in jeder Strophe, der Satzbau variiert stärker bis hin zu den Inversionen in den Strophen 3 und 4, die Gedichte erhalten – wie ›Ruh und Schweigen‹ – einen Finalduktus, damit eine zeitliche Progression, sogar das ›lyrische Ich‹ kehrt in Ansätzen zurück, allerdings als ein in verschiedene Konfigurationen (z.B. »Hirt«, »Fischer«, »bleicher Mensch«), in Perspektivfiguren, Tätigkeiten und Funktionen aufgespaltenes poetisches Medium, das sich auch durch die hypotaktischen Strukturen, Nominalisierungen sowie Tempuswechsel in seiner Funktion als poetische Reflexion (»Denkt die nahe Stille Vergessenes«) zu erkennen gibt. Vgl. dazu auch Anm. 34. Die Schlussstrophen des Gedichts ›Verklärung‹, des Mittelgedichts aus demselben Teilzyklus, z.B. lauten: Stille wohnt An deinem Mund der herbstliche Mond, Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang; Blaue Blume, Die leise tönt in vergilbtem Gestein. (WEB, S. 79)
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Diese schier unerschöpfliche Vielbezüglichkeit, Spiegelung, Anverwandlung und Verwandelbarkeit der Motive, Bilder und Gedichte sichert ihnen in ihrer »textuell tradierten Anschaulichkeit«57 zugleich eine uneinholbare Prävalenz gegenüber einer großen Zahl von Prätexten, auf die sie mit ihrem archetypischen ›Thesaurus‹ unentwegt anzuspielen scheinen. Versuche, die Hermetik der Gedichte aus diesem Zyklus oder dieser Schaffensphase Trakls durch eine »Dialogizität« mit literarischen Prätexten aufzubrechen oder zu relativieren, bereichern ihre Vieldeutigkeit bestenfalls mit einer weiteren Leseweise und gelangen selbst für diese wegen geringer und uneindeutiger markierter Bezüge bzw. wegen schwieriger Ab- und Eingrenzbarkeit und unsicherer Zuordnung des Prätextbefundes selten zu präzisen Ergebnissen und überzeugender Evidenz.58 Zugleich freilich scheint dieser in den Ent-
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Dieselben Motive – »Wohnen«, »Mond«, »blaue Blume«, »Gestein« – erscheinen hier in gewandelten und gleichwohl ähnlichen semantischen Konstellationen. Doch mächtiger als diese drängt sich wiederum die klangliche »Überstrukturierung« auf, die die Motive geradezu semantisch destabilisiert und einander anzuverwandeln scheint: »wohnt« – »Mund« – »Mond« – »Mohnsaft«. Vgl. St. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 226. Das gilt auch für die neue, methodisch umsichtige und interpretatorisch behutsame Studie von Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis, Würzburg 2007, (Klassische Moderne Bd. 8). Die eingangs beschriebene Erwartung, mit der »Dialogizität« des intertextuellen Verfahrens, das sich nicht nur auf motivische Bezüge konzentriert, sondern auch »konzeptionelle Divergenzen« aufspüren will, »die Hermetik von Texten zu unterlaufen« H. Klessinger, S. 9, weicht in der konkreten Analyse mehrfach (vor allem bei Nietzsche, Hölderlin und Novalis) der Einsicht, dass Trakls Texte nachmetaphysische, idealistische bzw. frühromantische Konzepte zwar aufrufen, aber radikal negieren und »an der Grenze des Dialogs« »zur solipsistischen Selbstbespiegelung« nutzen (so im Blick auf Hölderlin, S. 137) bzw. dass Trakl Novalis’ sprachutopischer Poetik das Selbstbild »einer isolierten, von der Möglichkeit der Kommunikation abgeschnittenen Existenz« »an der Schwelle des Verstummens« entgegenhält (H. Klessinger, S. 139). Vgl. H. Klessinger, S. 151: »In einer einseitig perspektivierten Rezeption wird die fremde Dichtung zum Spiegel der eigenen Krise, ein Vorgang, der sich an Trakls Novalis-Gedicht [d. i. ›An Novalis‹; 1913] aufzeigen lässt, in dem sich ein dichterisches Fremdbild zusehends zum Selbstbild tragischen Dichtertums wandelt. Hinter dem ›heiligen Fremdling‹ […] verbirgt sich der isolierte, auf eine solipsistische Innerlichkeit zurückgeworfene, sprachlose Fremdling in einer fremden, feindlichen Welt.« Dieses im Blick auf beide Referenzautoren vergleichbare Resultat macht verständlich, dass für Trakl – und damit auch für die Forschung – »Hölderlin und Novalis gelegentlich ineinander verschwimmen« (so zitiert Klessinger zustimmend Bernhard Böschenstein; H. Klessinger, S. 136). Dies erleichtert nicht gerade
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würfen mühsam aus einem »Chaos von Rhythmen und Bildern« – so Trakl selbst59 – prozessual hervorgetriebene zyklische Kosmos einer sehr privaten Intention des ›im Leben‹ verschwiegenen Autors zu dienen, der seine Poesie möglicherweise als »Sühne«-Handlung begriff60 und dies – angedeutet in der Androgynie-Motivik einer inzestuösen ›Bruder‹- und Schwester‹-Beziehung – nur in der doppelten Verhüllung eines Klang-Rausches und der sinnlichen Erzeugung von ›Ruh und Schweigen‹ als kryptischen Tief-Sinn gestalten konnte.61 Im Blick auf eine solche verborgene Privatmythologie würde sich die Hermetik der Texte paradoxerweise relativieren und intensivieren. Paradox erscheint schließlich auch der Befund im Blick auf Charakter und Bedeutung des ›Sebastian im Traum‹ als Zyklus: Einerseits
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die Zuordnung der Prätexte, und so wundert es nicht, dass etwa Trakls Gedicht ›An einen Frühverstorbenen‹ von Hans Esselborn auf Trakls Novalis-Rezeption bezogen wird, während Klessinger das Gedicht erstmals in einen Dialog mit Hölderlins Elegie ›Menons Klagen um Diotima‹ versetzt. (H. Klessinger, S. 116, 124ff.). Die wenigen – und wenig spezifischen – markierten Referenzen auf die Prätexte werden gleichsam kompensiert durch ausführliche Strukturvergleiche, haben aber das methodische Problem, dass die Verf. ihre mit Hilfe neuerer Forschung erarbeiteten Analysen der Prätexte unausgesprochen als Verständnisvoraussetzung für Trakl und dessen ›Dialog‹ mit den Prätexten supponieren muß und dass die Komplexität der Vergleichstexte – vor allem wiederum der Traklschen – zwar plausible Beobachtungen (vor allem im Bereich der Form und der Kohäsion), aber kaum präzise Deutungen (auch im Blick auf die Kohärenz) ermöglicht. Vgl. Trakls Äußerung an Erhard Buschbeck (Juli 1910): »Aber ich bin derzeit von allzu viel (was für ein infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern) bedrängt, als dass ich für anderes Zeit hätte, als dies zum geringsten Teile zu gestalten, um mich am Ende vor dem was man nicht überwältigen kann, als lächerlicher Stümper zu sehen, den der geringste äußere Anstoß in Krämpfe und Delirien versetzt.« WEB, S. 221. Vgl. Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie, Tübingen 1985, (Studien zur deutschen Literatur Bd. 87). Vgl. Hans-Georg Kemper: Georg Trakls ›Schwester‹. Überlegungen zum Verhältnis von Person und Werk. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag. Mit Beiträgen von Gerhart von Graevenitz u.a., Tübingen 1992, S. 77–105. Zum Kontext und zur Androgynie-Motivik vgl. auch Ursula Heckmann: Das verfluchte Geschlecht. Motive der Philosophie Otto Weiningers im Werk Georg Trakls, Frankf./M. Berlin u.a. 1992, (Literarhistorische Untersuchungen Bd. 21) S. 205ff. – Vielversprechende Versuche zur Erschließung dieser ›Privatmythologie‹ zugleich als ›Matrix‹ der ›reifen‹ Traklschen Poesie bieten Laura Cheie und Arno Dusini mit ihren Beiträgen im vorliegenden Band. Vgl. dazu auch grundlegend Laura Cheie: Die Poetik des Obsessiven bei Georg Trakl und George Bacovia, Salzburg/Wien 2004, (Trakl-Studien Bd. 22) S. 64ff., 90ff.
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ist die – auch zahlensymbolisch zu untermauernde62 – Intention eines artistischen Ordnungs- und Gliederungswillens zu einem durch Motivstrukturen und Leitmotive unterstützten poetischen Kosmos erkennbar, um das Zerfallen in Einzel-Teile (wie in der Gliederung der ›Gedichte‹) zu einem gerundeten Ganzen hin zu überwinden und so auch einen poetischen ›Mehrwert‹ gegenüber dem Einzelgedicht zu gewinnen,63 andererseits unterläuft das Verfahren der Serialisierung, das sich sowohl bei dem Aufbau der Teilzyklen als auch bei der hochgradigen – das Bestimmen von Leitmotiven erschwerenden – Motivrekurrenz im Zyklus bemerkbar macht, eine diskursive Bestimmbarkeit dieses »poetischen Mehrwerts«. Das durch Verdichtung der Formen zur Großform des Zyklus erzielte – und beschreibbare – Wachstum lyrischer Schönheit erschwert die Einsicht in einen ›höheren Sinn‹ des Ganzen, der gegen Chaos und Destruktion (des Ich und der Welt) gebaute poetische Kosmos scheint vielmehr in sich Chaos und Destruktion zu entbinden, zyklisch – das Zyklische unterminierend – durchzuarbeiten und als Untergang zu vollziehen.64
IV 1) Die in den ›Gedichten‹ erkennbare Serialisierung schlägt angesichts der zunehmenden Anverwandlung der Motive und Bilder im ›Sebastian im Traum‹ in einen Prozess ständiger Verwandlung um. Schon in den Entwürfen als Schreibprozess65 verwandeln sich die Motive, Bilder und Fassungen aus- und ineinander, und Trakl, der den ersten Teilzyklus von ›Sebastian im Traum‹ mit dem Prosagedicht 62 63
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Vgl. dazu die Versuche in dem von Károly Csúri edierten Band ›Zyklische Kompositionsformen‹ (Anm. 53.). Vgl. zu diesen Kriterien zur Bestimmbarkeit eines lyrischen Zyklus Cordula Gerhard: Das Erbe der ›Großen Form‹. Untersuchungen zur ZyklusBildung in der expressionistischen Lyrik, Frankfurt/M. Berlin New York 1986, S. 17ff. Der Zyklus endet mit folgendem Satz (aus dem Prosastück ›Traum und Umnachtung‹): »Purpurne Wolke umwölkte sein Haupt, dass er schweigend über sein eigenes Blut und Bildnis herfiel, ein mondenes Antlitz; steinern ins Leere hinsank, da in zerbrochenem Spiegel, ein sterbender Jüngling, die Schwester erschien; die Nacht das verfluchte Geschlecht verschlang.« WEB, S. 99. Vgl. dazu Eberhard Sauermann/Herbert Zwerschina: Editorischer Bericht. In: Georg Trakl. Sämtliche Werke und Briefwechsel. IA. Bd. I. 2007, (Anm. 19.) S. 12–36, hier S. 20ff.
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›Verwandlung des Bösen‹66 beschließt, beschwört durchaus jene mythologischen Ingredienzien herauf, innerhalb derer das Verfahren der ›Verwandlung‹ seinen kulturgeschichtlichen und poetologischen ›Ort‹ hatte, nämlich die Magie. Diese hermetische Kunst lebte ebenso wie die Alchimie oder Kabbala vom Glauben an die Fähigkeit zur Transmutation der Dinge, zur Durchdringung der Kräfte von Transzendenz und Immanenz.67 Doch waren nur solche Wesen assimilierbar und ineinander verwandelbar, die eine mehr oder weniger geheime Verwandtschaft füreinander ›attraktiv‹ machte. An diesem Verfahren orientiert sich auch Trakl schon in seinen Entwürfen. In meiner Dissertation habe ich ihm bereits bei dem Versuch, die Gründe für die Austauschbarkeit der Motive aufzuspüren, ein mythisches Denken unterstellt, das Dinge auf Grund »gut zu denkender« und psychologisch zu erschließender Analogien in Zusammenhang brachte (also z.B. »Augen«, »Mund«, »Mond«, »Höhle«, »Schoß«).68 Genau so ver66
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Vgl. dazu Moritz Baßler: ›Verwandlung des Bösen‹ (2. Fassung). In: Gedichte von Georg Trakl (Anm.17), S. 121–141. – Einen großen Schritt über Baßler hinaus im Verständnis dieses nach seinem Urteil »unverständlichen« Prosagedichts gelangt Klessinger durch den Nachweis motivischer (Verweis auf ›Sonja‹) und struktureller Bezugnahmen des Gedichts auf Dostojewskijs ›Schuld und Sühne‹ (Klessinger (Anm. 58), S. 81ff., 88ff., bes. 102ff.). Zum Motiv vgl. auch schon ›Verwandlung‹ aus den ›Gedichten‹ (WEB, S. 26). Dazu die Analyse (einschließlich des Entwurfs) in: Kemper: Georg Trakls Entwürfe, (Anm. 23.) S. 165ff., 172ff. Vgl. dazu Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. III. Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 79ff. Vgl. H-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, S. 7, 58ff. Das Kriterium »gut zu denkender« Strukturen stammt aus der Mythos-Forschung von Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, Frankfurt/M. 1965, S. 116. Vgl. dazu auch Vietta/Kemper: Expressionismus, (Anm. 8.) S. 247. – Laura Cheie weist nun überzeugend – ausgehend u.a. vom Gedicht ›An die Schwester‹ – den obsessiven Charakter sowie die Vernetzung und ›Verwandlung‹ dieser und verwandter weiterer Motive über die Vorstellung des »Runden, Halbrunden und Gewölbten« »bis zur Deckung der Körperlinien mit den astralen Bahnen« (»Bogen«, »Augenbrauen«, »Augenbogen« – »Sternenbogen«) nach (Cheie: Die Poetik des Obsessiven, (Anm. 61.) S. 77ff.). Mit der Kontamination der beiden obsessiven Matrixstrukturen »Kreis und Bogen« verbinden sich wiederum einsichtig die bei Trakl höchst ergiebige Bespiegelung im Wasser und die obsessiv beschworene Bild- und Motivwelt von »Wasser, Teich, Weiher, Weiler usw.«: »Aufgrund dieser obsessiven Kombination wird ein Paradigma des Runden und Gewölbten imaginativ und textlich konstruiert, das ›Familienähnlichkeiten‹ zwischen Wasserbild, Grotte, Höhle, Grab, Mund und Augen entstehen lässt.« (L. Cheie, S. 83). Dies ermöglicht zugleich u.a. über ›Augen‹, ›Mund‹ und ›mondene Stimme‹ der Schwester sowie die »dunkle Grotte männlicher
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fährt Agrippa von Nettesheim, der frühneuzeitliche Begründer der Magie als System, wenn er erörtert, »wie wir die Kräfte der Dinge nach der Ähnlichkeit erforschen und prüfen sollen« – und natürlich ebenso nach ihren »Abneigungen und Feindschaften«.69 Eine Bestätigung sind in diesem Zusammenhang neben Laura Cheies Studien zur ästhetischen Relevanz und kreativitätssteuernden Kraft von Zwangsvorstellungen bei Trakl auch Károly Csúris in ganz anderen wissenschaftstheoretischen Überlegungen begründeten Strukturanalysen Traklscher Werke; denn auch er schärft unseren Blick für Verwandlungen oder Verschmelzungen als »Prozeß von Transzendieren und Transformieren« verschiedener virtueller Sphären, die »auf der ähnlichen Strukturierung beider Bereiche« beruhen.70 Ob es sich um mediale »Transparenzstrukturen« in der nachträglichen oder gleichzeitigen Vermittlung und Durchdringung von Himmlisch-Kosmischem und Irdischem oder Transparenzakte verschiedener Existenzformen des Ichs handelt:71 stets sind diese von realen Vorgängen gelösten Schemastrukturen noch vom ursprünglichen Realitätsbezug her erkennbar als nicht willkürliche, sondern in ihrer semantischen Verwandtschaft »gut zu denkende« Strukturen. Vielleicht können diese auch das scheinbare Chaos der Entwürfe auf eine Teleologie der Endfassung hin über deren gelungene Ästhetizität hinaus durchschaubar machen. Von daher lässt sich die ›Magie‹ als mediale ›Kraft‹ und zugleich als »unmarkiertes Zwischen«72 in den Zeichen des Textes be-
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Schwermut« erotische Aufladungen der Motive, zugleich ihre Verschiebung ins Mythische und Legendenhafte. »Eine frottagenähnliche Verdichtung von Bildern aufgrund einer obsessiven Struktur äußert sich somit in latenten oder manifesten Überblendungen von heterogenen Vorstellungen, die zu substantiell-semantischen Kontaminationen führen, aber keine restlose bildliche oder semantische Osmose zulassen.« (L. Cheie, S. 85) Zu ›Phänomenologie und Symbolik des Wasserbildes bei Georg Trakl‹ vgl. L. Cheie, S. 90ff. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Die magischen Werke (1532), Wiesbaden 1982, S. 43ff., 49ff. Vgl. Károly Csúri: ›Gesang einer gefangenen Amsel‹. In: Gedichte von Georg Trakl, (Anm. 17.) S. 169–188, hier S. 169. Vgl. Károly Csúri: Grundprinzipien in statu nascendi. Zyklus-Schemata und Transparenzstruktur in Trakls frühen Gedichten. In: K. Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen, (Anm. 53.) S. 49–85, hier S. 51ff. Zum Begriff »unmarkiertes Zwischen« vgl. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 16ff., 217 u. ö: Bei Jaeger bezieht sich der Begriff auf die Nichtdarstellbarkeit der Selbst-Darstellung des Subjekts im ›lyrischen Ausdruck‹, der sich daher als »Vollführung« immer nur in ›Bewegungen‹
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zeichnen, die trotz aller scheinbaren Disparität mit dem »Zauberstab der Analogie«73 für ›mögliche‹ ähnliche Räume und Zeiten und damit für die ästhetische Kohärenz und Homogenität des Textganzen sorgt. 2) Die historische Vermittlung magisch-mythischer Hermetik an Trakl verläuft vor allem über die Frühromantik.74 Friedrich Schlegel und Novalis inthronisierten den magischen »Zauberstab der Analogie« als poetisches Verfahren, und dies im Kontext einer aus der Esoterik geschöpften Theorie des »autonomen« Textes, der im Sinne von Schlegels letztem ›Athenäums‹-Beitrag ›Über die Unverständlichkeit‹75 eine durch »Metamorphose, Transformation, Kombinatorik« geprägte Prozessstruktur als »Technik der semiotischen Verrätselung« aufweisen76 und den Leser ohne Hoffnung auf befriedigende Sinn-Erkenntnis zur wiederholten, eigentlich unabschließbaren Lektüre veranlassen sollte. »Eine klassische Schrift«, erklärte Schlegel, »muß nicht ganz verstanden werden können. Aber die, welche gebildet sind und
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und Verschiebungen, die als solche im Text nicht ›markiert‹ sind, interpretatorisch aufspüren lässt. Vgl. zu diesem für Poetik und Ästhetik der Frühromantik zentralen Begriff folgende Passage aus Novalis’ ›Christenheit oder Europa‹: »Ruhig und unbefangen betrachte der ächte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle eure Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält, aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels, gebt ihm eine Beziehung auf das Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm, und werdet eure Bemühungen reichlich gelohnt sehn. An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang, nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen.« Novalis: Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit HansJoachim Mähl u. Gerhard Schulz, Darmstadt 1968, S. 517f. Zur Frühromantik im Blick auf Trakl vgl. auch Williams: The Mirror and the Word, (Anm. 49.) S. 57ff. Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ausgewählt u. bearbeitet von Curt Grützmacher, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1969, hier Bd. II, S. 238–248. Detlef Kremer: Die romantische Theorie der Unverständlichkeit als ästhetisches Residuum der Esoterik. In: Esoterik in der Aufklärung. Rezeption – Integration – Konfrontation, hg. von Monika Neugebauer-Wölk (erscheint Tübingen 2008 als Tagungsband in der Reihe ›Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung‹).
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sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.«77 Ein »immer wieder von vorn angefangnes Durchgehen des ganzen Zyklus; nur das heißt wirklich lesen«, äußerte Schlegel 1804 in ›Vom Wesen der Kritik‹.78 Der damit gegebene unabschließbare Prozess der Selbstreflexion, der bei Schlegel im Rahmen der ›neuen Mythologie‹ auf die ›bildende‹ Imagination der Leser zielt, hat bei Novalis eher monologischen Charakter.79 Ihm, dem »heiligen Fremdling«, dem – wie es in einer Vorstufe des Gedichts ›An Novalis‹ heißt, »im Saitenspiel« »der feurige / göttliche Geist wuchs« (WEB, S. 209), fühlte sich Trakl, wie auch viele Motivanleihen zeigen, besonders verwandt. Darauf verweist auch die selbstbezügliche Schlusszeile des Epigramms ›An Novalis‹: »Fortlebt sein Lied im nächtlichen Haus der Schmerzen.« (WEB, S. 155) 3) Schon in Trakls Jugendschriften und Entwürfen ist magische Bildlichkeit virulent, und darin konnotiert er »gut zu denkende« Analogien zwischen Prophet, blindem Seher, Priester und Magier (als ›heidnischem‹ Priester).80 So auch in den Entwürfen zu ›Ruh und 77 78 79
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Friedrich Schlegel, (Anm. 75.) S. 246. Zit. in D. Kremer (Anm. 76.). D. Kremer (Anm. 76.). Vgl. dazu auch Novalis‹ ironischen ›Monolog‹. In: D. Kremer: Schriften. Zweiter Band. Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, Darmstadt 1965, S. 672f. Vgl. dazu die Interpretation von Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. 2., durchgesehene u. erweiterte Aufl. Tübingen 1977, (Hermaea N.F. Bd. 6) S. 250ff. Schon in den ersten Jugendwerken Trakls erscheint als dominante Figur der Prophet – Jochanaan in ›Salome‹ (IA. Bd. I, (Anm. 65.) S. 53f.), ein Blinder als »Hellseher« in ›Totentag‹ (IA. Bd. I, S. 55f.), Jesus selbst als »seltsamer« bzw. »sonderlicher Prophet« in ›Maria Magdalena‹ (S. 77f.). Und die Figur des ›Heiligen‹ wird früh mit dem (verruchten) ›Dionysischen‹ konnotiert (IA. Bd. I, S. 87f.). Vgl. zu diesem Zusammenhang Hans-Georg Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs, Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II: um 1900. Paderborn München u.a. 1998, S. 141–169. – Zur poetologischen Implikation eines zeichnerischen Gestaltens aus der ›Blindheit‹ mit der Folge eines Tastens ›ver-rückter Bewegungen‹ (»Wenn der magische Finger des Blinden / Seinen erloschenen Zeichen folgt«; aus ›Wo an schwarzen Mauern.‹), zur obsessiven Gestik als »einer magischen, die innere Vision beschwörenden Gebärde« und damit zur »Auslegung der Blindheit als poetologischer Chiffre« in Trakls Poesie vgl. L. Cheie, S. 70ff. Vgl. L. Cheie, (Anm. 50.) S. 74: »Die magischen Finger des Dichters verstehen es, abstrakte Formen zu ertasten, Zeichen und Sternen zu folgen und so auch die Vision des schönen Menschen zu beschwören.«
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Schweigen‹: »Geheimnis der Priester, / Blut, das auf verfallene Stufen tropft … Schwarze Vögel kreisen am Himmel / Und wächsern tauchen die Finger ins Heilige blauer Blumen« (WEB, S. 192f.).81 Wenn es in der vorletzten Zeile des ›Psalm‹ heißt: »In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen« (WEB, S. 37), dann könnte dies auf Christus deuten, aber zugleich auf den prominentesten GegenPropheten jener Zeit: auf Nietzsches ›Zarathustra‹, der mit dem Adler als dem »stolzesten« und der Schlange als dem »klügsten Tier« in einer Höhle lebt.82 Daraus resultieren Projektionsmöglichkeiten auf das 81
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»Des weißen Magiers Märchen lauscht die Seele gerne«, heißt es in ›Abendmuse‹ (WEB, S. 18) und zugleich erscheint er auch in der Figur des ›blinden Sehers‹: »Leise folgt der magische Finger des Blinden / Seinen erloschenen Sternen.« (HKA I, S. 422) Von daher ergeben sich in dem Gedichtkomplex ›Lange lauscht der Mönch dem sterbenden Vogel am Waldsaum‹ Affinitäten zum »Mönch« und zum »Blinden« (»Spielt der Blinde mit silbernen Schlangen«; HKA I, S. 421). Vgl. Friedrich Nietzsche: ›Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen.‹ In: F. Nietzsche: Werke II, hg. von Karl Schlechta. Nachdr. d. 6., durchges. Aufl. 1969, Frankfurt/M: – Berlin – Wien 1972, S. 549–835, hier S. 779. Vgl. ebenso F. Nietzsche, S. 789. – Die Tiere werden gleich zu Beginn von ›Zarathustras Vorrede‹ prominent eingeführt und erscheinen immer wieder in der die ›Reden Zarathustras‹ unterbrechenden Rahmenhandlung. Das Schlangenmotiv ist in dieser philosophischen Dichtung allerdings ambivalent konnotiert, und zwar nicht nur in der Rede ›Vom Biß der Natter‹ (F. Nietzsche, S. 604f.), sondern im Motiv des »gräulichen Ringelwurms« als »Gottes Larve« (F. Nietzsche, S. 653), in den »Klapperschlangen« (F. Nietzsche, S. 672) und vor allem im Alptraum von der dem Hirten in den Mund kriechenden und sich festbeißenden Schlange (F. Nietzsche, S. 684) und der späteren selbstbezüglichen Deutung Zarathustras, der dem »Untier« den Kopf abbeißt und ihn wegspeit (F. Nietzsche, S. 737). Dies dürfte – in Anspielung auf die traditionelle Symbolik der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt und mit dieser »Rundung« die Erneuerung des Lebens symbolisiert – die Ängste auch Zarathustras vor der eigenen Lehre von der »Wiederkehr des Gleichen« und ihrer Gefahr der Überforderung symbolisieren. – Entsprechend ambivalent gestaltet auch Trakl das Schlangenmotiv. Vielleicht in intertextuellem Bezug zu der Hirtenszene im ›Zarathustra‹ heißt es am Schluss der zweiten Strophentriade des Gedichts ›Die Verfluchten‹: »Ein Nest von scharlachfarbnen Schlangen bäumt / Sich träg in ihrem aufgewühlten Schoß.« (WEB, S. 68) Das wäre dann eine für Trakl charakteristische Verschiebung auf das Problem geschlechtlicher Schuld, die mit der von der teuflischen Schlange inspirierten ›Erbsünde‹ ins Leben trat und für Trakl dem anti-christlichen Lebens-Kult Nietzsches das Urteil sprach. Vgl. dazu auch Klessinger, die ›Die Verfluchten‹ auf Dostojewskij bezieht, (Anm. 58.) S. 43, 77. Zu weiteren intertextuellen Konnotationen des Schlangen-Motivs bei Trakl vgl. auch Klessingers Beitrag im vorliegenden Band. – Vgl. zum zitierten Vers aus dem ›Psalm‹ auch die ambitionierte und materialreiche, aber sich (ausgerechnet bei Trakl!) im Anspruch einer
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›seherische‹ Dichterverständnis.83 Auch ›Karl Kraus‹ erscheint bei Trakl als »Zürnender Magier, / Dem unter flammendem Mantel der blaue Panzer des Kriegers klirrt« und zugleich als »Weißer Hohepriester der Wahrheit« (WEB., S. 80). Kein Wunder angesichts der damaligen Konjunktur von prophetischen Figuren und Magiern in der Literatur, dass Ludwig von Ficker auch vom »Trauergeist einer so erstaunlichen Sehergabe wie der Georg Trakls« sprach.84 4) Diesem nun geht – im Unterschied etwa zum nachromantischen Heine85 – jede ironische Distanz im Gebrauch magischen Denkens ab,
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vollständigen Erfassung und Interpretation aller in einem poetischen Text markierten Intertextualitätsbezüge überfordernde Studie von Anette Hammer: Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten ›Psalm‹ und ›De profundis II‹, Würzburg 2006, (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft Bd. 563) S. 287ff. Zu Nietzsche-Bezügen E. Hammer, S. 101ff. – Die Verbindung von ›Grab‹ und ›Höhle‹ ermöglicht eine Christus-Allusion auch in der Schlussstrophe von ›An die Verstummten‹: »Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit, / Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.« (WEB, S. 81) Vgl. dazu Csúri: Trakls Großstadt, (Anm. 16.) S. 274ff. Auch Hammer erkennt im »weißen Magier« in Anspielung auf »Rimbauds sog. Seherbriefe« »eine weitere Personifizierung des poetischen Sprechens.« Hammer, (Anm. 82.) S. 291. Doch ergeben sich auch Affinitäten zu Novalis, der eine Restitution der uranfänglichen Einheit von Dichter und Priester forderte: »Dichter und Priester waren im Anfang Eins. Und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeiführen?« Novalis: Schriften. Bd. II, S. 441. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1926–1939, hg. von Walter Methlagl, Anton Unterkircher u.a., Innsbruck 1991, (Brenner-Studien Bd. 11) S. 100. Vgl. dazu auch K. Csúri, Gesang, (Anm. 56.) S. 184ff. Zum »fast magischen Anspruch« von Trakls Poesie vgl. auch H.-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, (Anm. 23.) S. 202. Vgl. ferner das Kapitel ›Mimetisches Abrakadabra – abstrakte Magie (Ball, Blümner, Schwitters)‹ in: H.-G. Kemper: Vom Expressionismus zum Dadaismus, (Anm. 44.) S. 164ff. Vgl. H.-G. Kemper, S. 199ff., zum Selbstverständnis Hugo Balls als eines »magischen Bischofs« beim Vortrag seiner Lautgedichte im ›Cabaret Voltaire‹. Dass die Magie als poetologischer Leitbegriff und poetisches Verfahren die Romantik überlebte, zeigt kein Geringerer als Heinrich Heine, der sie in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik nur scheinbar ironisch brach, um sie dem modernen Geschmack goutierbar zu machen und gerade deshalb umso nachdrücklicher vom magischen Fundus zu zehren, wie auch das bekannteste Beispiel vom todbringenden Gesang der Lore Ley illustrieren mag. Heinrich Heine: Sämtliche Gedichte, hg. von Bernd Kortländer, Stuttgart 1997, S. 115f. – Vgl. dazu Hans-Georg Kemper: »Muse, edle
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wenn er sich auch der grotesken Provokation bedienen kann. Er nutzt Bildfeld und Verfahren der Magie – im Kontext von mancherlei intertextuellen Bezügen – zum Aufbau einer ›neuen Mythopoesie‹, und mit solcher ›Arbeit am Mythos‹86 verdeutlicht er in der Kongruenz von sprachlicher und kulturgeschichtlicher Hermetik die Unbegreiflichkeit der Welt. Zugleich verbindet er die dialogische Prozessualität Schlegels und die monologische Selbstreflexivität Hardenbergs auf paradoxe Weise. Vor allem im ›Sebastian im Traum‹ erhebt er das Schlegelsche Postulat einer zyklischen Lektüre zum Strukturprinzip seiner Dichtung87 selbst und entwirft mit einem Reigen zuvor unbekannter, kühner, schöner, sich stets in- und gegeneinander verwandelnder Bilder in und zwischen den sich spiegelnden Gedichten eine virtuelle Welt, die den Traum der abendländischen Magie, nämlich die Verwandlung des Himmlischen ins Irdische um der ›Verparadiesung‹ der Erde willen, mitträumt und doch in einen sebastianischen Alptraum verwandelt. Die Unverständlichkeit ist dessen Menetekel, die Schönheit der Verse Bedingung seiner Darstellbarkeit und vielleicht noch eine ästhetische Verheißung für das Martyrium des »verfluchten Geschlechts«. Zudem scheint Trakl – überzeugt davon, man könne sich überhaupt nicht mitteilen88 – monologisch im Schutz dieses l’art pour l’art das private, aber privat nicht sagbare Inzest- und Drogenproblem aufzuarbeiten. Schon von dieser unaufhebbaren Spannung her ist das vieldeutige Textgebilde nicht in einer semantischen Einverständlichkeit auflösbar. Der einzelne Leser und die Forschung können offenbar nur durch wiederholte Lektüre die Bedingungen dieser Unverständlichkeit immer besser zu verstehen suchen, um dadurch im-
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Nekromantin«. Zu Heines poetischer Magie und ihrem hermetischen Kontext. In: Harry … Heinrich … Henri Heine, hg. von Dietmar Goltschnigg, Berlin 2007, S. 163–178. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996. Vgl. dazu den von K. Csúri herausgegebenen Sammelband: Zyklische Kompositionsformen (Anm. 53.). Karl Röck notierte sich am 27. Juni 1912 den Satz Trakls: »Man kann sich überhaupt nicht mitteilen.« Zit. nach Otto Basil: Georg Trakl in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1965, (rowohlts monographien Bd. 106) S. 101. Vgl. auch Trakls Äußerung an Erhard Buschbeck (Juli 1910): »Aber ich bin derzeit von allzu viel (was für ein infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern) bedrängt, als dass ich für anderes Zeit hätte, als dies zum geringsten Teile zu gestalten, um mich am Ende vor dem was man nicht überwältigen kann, als lächerlicher Stümper zu sehen, den der geringste äußere Anstoß in Krämpfe und Delirien versetzt.« WEB, S. 221.
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mer aufs neue fasziniert Trakls Schreibverfahren durch ›Korrekturen über Korrekturen‹ auf diskursive – und damit der poetischen nicht adäquate – Weise fortzusetzen.89
V Schön, aber unverständlich? Das Unverständliche ist durch Einsicht in die Strukturen und Verfahren der Texte relativierbar und damit der ›Schönheit‹ subsumierbar, doch aufzuheben ist diese Spannung – zugleich zwischen Form und Inhalt – und damit die Divergenz zur Poetik des klassischen vormodernen Gedichts nicht. Wo die allgemein verbindliche Semantik und die Tradition der Formen-Sprache suspendiert sind, da bleibt der (post-)moderne Leser im Wahrnehmungsprozess ohnehin auf das eigene rudimentäre und partiale Welt- und Textwissen verwiesen.90 Was der eine als strukturierte ›mögliche Welt‹ durchschaut, verschiebt sich dem anderen zu »Texturen, die einer generellen Lesbarkeit nicht mehr zur Verfügung stehen.«91 Aber selbst diese Texturen, die zugleich die »Stummheit« der positivistischen Daten abbilden, erhalten in ihrer »Undurchdringlichkeit« – so Horkheimer und Adorno – »eine Schlagkraft, eine Gewalt der Adhäsion und Abstoßung, die sie ihrem extremen Gegensatz, den Zaubersprüchen, ähnlich macht.«92 So konvergieren die in ihrer polaren Spannung nicht aufhebbaren Leseweisen doch in der Wirkung poetischer Magie. 89
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Vgl. Hans-Georg Kemper: Trakl-Forschung der sechziger Jahre. Korrekturen über Korrekturen. In: DVjs. 45, 1971, Sonderheft, S. 496–571. – Zur neueren Forschung vgl. Maurizio Pirro: Georg Trakl im Licht der jüngeren Kritik (1985–1994). In: Jahrbuch für internationale Germanistik 31, H. 1, 2000, S. 127–165. – S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, (Anm. 28.) S. 229ff. Diese Erfahrung wurde nachdrücklich auch in der Kafka-Forschung herausgearbeitet. Vgl. Klaus-Peter Philippi: »K. lebte doch in einem Rechtsstaat …« Franz Kafkas ›Der Prozeß‹ – ein Prozeß des Missverstehens. In: Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag, hg. von Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus u. Michael Voges, Tübingen 2003, S. 259–282. – Zuletzt: Klaus-Detlef Müller: Franz Kafka. Romane, Berlin 2007, (Klassiker Lektüren 9) S. 11ff., 24ff. G. Wunberg, (Anm. 1.) S. 114. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1971, (Fischer Taschenbuch 6144) S. 148.
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Deshalb besteht auch zwischen »schön« und »unverständlich« eine unauflösliche Interdependenz. Ja, Unverständlichkeit wird verständlich als Bedingung der Schönheit des modernen Gedichts.93 Trakl erschafft eine ›mögliche Welt‹, um in ihr ein Un-Mögliches zu sagen, um in einer von aller diskursiven Sprache abgegrenzten und von dieser auch nicht einholbaren poetischen Sprache auf das Unfassbare in nicht-begreiflichen Bildern wenigstens zu verweisen. Damit rückt er in eine poetische Reihe, die von Hölderlin bis hin zu Positionen der Postmoderne Dichten als ein sich in Paradoxien bewegendes Sagen versteht, das ein stets sich entziehendes Abgründiges nur im Verweis als »nicht Sag- und Verstehbares« ›zeigen‹ kann:94 »Dem Unfaßbaren hascht das träge Wort / Vergeblich nach, das nur in dunklem Schweigen / An unsres Geistes letzte Grenzen rührt.« (HKA I, S. 449) Dies begründet auch Trakls Bedeutung für die literarische (Post-)Moderne und erhebt Schlegels rhetorische Frage: »Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes?«95 zu 93
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Auch für Johann Nikolaus Schneider muß der Leser moderner Lyrik »den Schwebezustand zwischen Unverständlichkeit und ästhetischer Faszination« »aushalten«. J.N.Schneider: Unverständlichkeit erforschen. Eine Nagelprobe für die Literaturwissenschaften. In: Inspirationen. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft und Spiritualität, hg. von Joseph Wohlmuth/Claudia Lücking-Michel, Paderborn München Wien Zürich 2006, S. 155–170, hier S. 168f. Vgl. dazu die eindrucksvolle Studie von Marion Hiller: ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik, Tübingen 2008, (Hermaea N.F. Bd.). – Marion Hiller: ›Beim besten Willen‹: Läßt sich Gadamers Hermeneutik (der Literatur) verstehen? Anmerkungen zum Paradoxon des literarischen Phänomens. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. 6, 2007, S. 55–75, hier bes. S. 71ff., 74. Mit dieser Einsicht kehren wir nur scheinbar zu Walther Killy zurück, der aus der Unverständlichkeit den Schluss der Uninterpretierbarkeit der Traklschen Poesie gezogen hatte. Vgl. Walther Killy: Über Georg Trakl. 3. Aufl. Göttingen 1967, S. 36. Killys These hat die Forschung seither vielmehr zu präzisen sowohl dekonstruktiven als auch hermeneutischen Lektüren herausgefordert, und in den Ergebnissen zeigt sich, dass eine hermeneutische Lektüre ebenso wenig obsolet wie eine dekonstruktive allein angemessen sein muss, um die Bedingungen sowie die Machart der aufs äußerste gespannten sprachlichen und ästhetischen Intensität der Traklschen Poesie zu erkunden. Gerade das »Unfassbare« als angestrebtes, aber scheiterndes Ziel poetischer Aussage, die damit auch die Selbstbezüglichkeit lyrischen Ausdrucks transzendiert, legitimiert beide – wissenschaftstheoretisch kaum miteinander vereinbare – Leseweisen, die gleichwohl die historischen und poetischen Bedingungen der Unverständlichkeit aus entgegengesetzten Perspektiven verständlicher machen. Friedrich Schlegel, (Anm. 75.) S. 245.
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einem poetologischen Grundsatz literarischer Moderne. Zugleich erfordert diese Erfahrung aber auch gegenüber der These des vorjährigen Tübinger Poetik-Dozenten Peter Esterházy: »… es gibt keine Literatur, die nicht kompliziert ist«,96 den Zusatz: »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«!
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Zitiert im ›Schwäbischen Tagblatt‹ vom 24. 11. 2006, S. 28. (Freundlicher Hinweis von Klaus-Peter Philippi).
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Károly Csúri Einzelgedicht und zyklische Struktur. Erklärungstheoretische Überlegungen zum Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹ aus Georg Trakls ›Sebastian im Traum‹
1. Theoretisch-methodologische Vorbemerkungen Der Aufbau von Trakls Textwelten lässt sich auf abstrakt-semantischer Ebene meist mit Hilfe weniger poetologischer Konstruktionsprinzipien charakterisieren. Zu ihnen gehören die Zyklus-Schemata der Tages- und Jahreszeiten, die Transparenzstrukturen, das apokalyptische Narrationsschema und das lyrische Ich mit seinen verschiedenen Existenz- und Manifestationsformen oder Selbstinszenierungen. Sie werden miteinander unterschiedlich kombiniert, ihre Dominanz kann sich von Gedicht zu Gedicht ändern. Es stellt sich natürlich die Frage, warum gerade diese Prinzipien zur Erklärung von Trakls Dichtung geeignet scheinen, wie sie miteinander zusammenhängen und in welcher Weise sie aufeinander bezogen werden können. Grob vereinfacht und im Einvernehmen mit einem bedeutenden Teil der TraklPhilologie kann man von der Hypothese ausgehen, dass in Trakls Gesamtwerk das Problem von Schuld und Sühne – genauer der schuldige und sühnende Aspekt des (abstrakten) Ich – eine tragende Rolle spielt. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass diese Frage in jeder Schaffensperiode und in jedem Gedicht unmittelbar und gleichermaßen thematisiert wird. Vielmehr wird die Spaltung des Ichs meist nur mittelbar geltend gemacht; eingebettet in sich abwechselnde, einander überlappende Themenkomplexe und Wertsphären wie das Paradiesische und Gegen-Paradiesische, das Himmlisch-Engelhafte und IrdischMenschliche, das Seelisch-Metaphysische und Sinnlich-Körperliche oder Tod und Auferstehung. Auch sind in den Gedichten nicht beide Pole notwendigerweise vorhanden, oft wird nur die Verbindung mit dem Schuldhaften, dem Sinnlich-Körperlichen, oder umgekehrt, der Wunsch nach der Wiedervereinigung mit dem Seelisch-Metaphysischen, dem schuldlosen Selbst, der ehemaligen Einheit einer mythisch-stilisierten Kindheit hervorgehoben und ausgeführt. Der Sündenfall des Ichs und sein gleichzeitiges Heimweh nach dem verlo-
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renen Paradies werden in Trakls Dichtung nicht selten auf die gesamte Geschichte der Menschheit als eine Art Sündenfall-Geschichte extrapoliert. Diese Prozesse vollziehen sich jedoch nicht direkt. Sie werden durch die Tages- und Jahreszeitenzyklen und jene Transparenzakte vermittelt, in denen die Existenzformen der abstrakten Ich-Figur bzw. deren Manifestationsvarianten an der Oberfläche in den Tagesund Jahreszeitenzyklen als mediale Sphären (poetisch) vergegenwärtigt werden. Strukturiert werden die Funktionsweise und die lineare Ordnung der drei Komponenten durch das apokalyptische Narrationsschema. Allgemein handelt es sich dabei um Verfalls- oder Untergangsprozesse, die meist durch eine Parallelentwicklung von virtueller Erlösung und Auferstehung begleitet bzw. damit kontrastiert werden. Aus der teilweisen Autonomie der Konstituenten ergibt sich allerdings auch, dass in manchen Gedichten – wie dies auch die weiter unten ausführlich behandelten Gedichte ›Untergang‹ und ›Anif‹ veranschaulichen – der Verfalls- (oder Auferstehungs-) Prozess in solchem Maße dominiert, dass es wenig sinnvoll ist, in diesen Fällen über eine Kopplung der beiden, das heisst über ein (poetologisch-)apokalyptisches Narrationsschema zu sprechen. Vielmehr handelt es sich dabei um eigenständige Untergangs- oder Auferstehungs-Schemata, die den Verlauf der jeweils betroffenen Gedichtwelten grundsätzlich bestimmen.1 Zu Beginn der Arbeit soll in einer exemplarischen Analyse gezeigt werden, durch welche Konstruktionsprinzipien Trakls ›Untergang‹ am ehesten zu kennzeichnen ist und wie diese Prinzipien durch die metaphorischen Strukturen des Gedichts veranschaulicht werden. Bezüglich der beiden Ebenen wird in der Erklärung zunächst keine Priorität gesetzt. Die abstrakten Aufbauprinzipien und die Oberflächen1
Eine detaillierte Ausführung der Grundprinzipien Traklscher Gedichtstrukturen ist in diesem Rahmen nicht möglich. Eine genauere Darstellung findet sich unter anderem in folgenden Aufsätzen: Károly Csúri: Über die Prinzipien von Trakls poetischem Universum – Zum Gedicht ›Gesang einer gefangenen Amsel‹. In: Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl, hg. von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 1999, (= Literaturstudium) S. 169–188; Károly Csúri: Sonderbare Passion. Zur Struktur der Ambivalenz bei Georg Trakl. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 26, 2007, S. 45–65; und Károly Csúri: Poetischer Geschichtsmythos. Über Georg Trakls ›Abendländisches Lied‹. In: Der Mnemosyne Träume. Festschrift zum 80. Geburtstag von Joseph P. Strelka, Hg. von Ilona Slawinski in Zusammenarbeit mit Vahidin Preljevic und Robert Weigel, Tübingen 2007, S. 27–45.
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Bildlichkeit der Textwelt werden parallel erörtert, damit ihre gegenseitige Verbindung und ihre Bezugnahme aufeinander von Anbeginn demonstriert werden kann. Im anschliessenden Teil der Analyse wird systematischer vorgegangen, indem einige grundlegende Regelmäßigkeiten der Konstruktion hervorgehoben und von ihrer metaphorischen Realisierung getrennt behandelt werden. Nach der exemplarischen Analyse von ›Untergang‹ werden im ersten großen Teil noch drei weitere Gedichte vom Anfang des Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹ im Band ›Sebastian im Traum‹ besprochen. Da ›Ruh und Schweigen‹, ›Anif‹ und ›Geburt‹ den Vorspann von ›Untergang‹ im Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹2 bilden und mit derselben Methode wie dieser erklärt werden, wird auf diese Weise in bestimmten relevanten Bezügen ein Strukturvergleich zwischen den Textwelten der vier Gedichte ermöglicht: So kann einerseits die gemeinsame Grundlage eines wichtigen Typus Traklscher Gedichte beleuchtet werden, zum anderen werden auch bestimmte feinstrukturell-motivische Verbindungen im Bereich der Bildlichkeit ersichtlich, die ohne die Struktur-Erklärung und den Strukturvergleich nicht in ihrem systematischen Zusammenhang erkannt werden können. Im zweiten Teil der Arbeit sollen auch noch die darauf folgenden vier Gedichte ›An einen Frühverstorbenen‹, ›Geistliche Dämmerung‹, ›Abendländisches Lied‹ und ›Verklärung‹ – bezüglich ihres Ausgangs in einigen Fällen kürzer, in anderen etwas ausführlicher diskutiert werden. Sie weisen nämlich aus dieser Sicht einen klaren Unterschied auf: In manchen Fällen bilden sie sogar eine Art Gegenpol zu der dominierenden Untergangstendenz der Eingangsgedichte von ›Siebengesang des Todes‹. Im Abschlussteil soll – samt einem kurzen Exkurs zu ›Passion‹ – mittels der Analysen von ›Föhn‹, ›Der Wanderer‹ und ›Winternacht‹ ein abgerundetes Bild der strukturellen Vernetzung von ›Siebengesang des Todes‹ gezeichnet werden. Zum anderen wird auch zu zeigen sein, wie sich Einzelstrukturen und zyklische Struktur zueinander verhalten und inwieweit die Eingangshypothesen von den Aufbauprinzipien der Gedichte für den gesamten Teilzyklus gelten, oder ob und inwiefern sie ergänzt, weiter differenziert bzw. modifiziert werden sollen. 2
Im Folgenden bezeichnet ›Siebengesang des Todes‹ immer den Teilzyklus von ›Sebastian im Traum‹ und nicht das gleichnamige Gedicht innerhalb des Teilzyklus.
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2. ›Untergang‹. Zur Erklärung des Gedichts3 Untergang (5. Fassung) An Karl Borromaeus Heinrich Über den weißen Weiher Sind die wilden Vögel fortgezogen. Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind. Über unsere Gräber Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht. Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn. Immer klingen die weißen Mauern der Stadt. Unter Dornenbogen O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.4 3
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Zitiert wird das Gedicht nach dem ersten Band der Historisch-kritischen Ausgabe: Georg Trakl: Dichtungen und Briefe (HKA, I), hg. von Walther Killy und Hans Szklenar, 2. ergänzte Auflage, Salzburg 1987, S. 116. (erste Auflage: 1969). Da das Ziel dieser Analyse vor allem darin besteht, die Funktionsfähigkeit des skizzierten Erklärungsmodells zu zeigen, bildet hier nur die letzte Fassung des Gedichts den Gegenstand der Untersuchung. Mit dem Prozess, der von den ersten Textstufen bis zur letzten abläuft, beschäftigen sich mehrere Interpreten. Zwerschina, auch als Mitherausgeber der Innsbrucker Trakl-Ausgabe (IA), versucht das Gedicht aus der Arbeitsweise Trakls heraus zu verstehen. Er formuliert die These, nach der Trakls Schreiben als die Suche nach »Wahrheit« bzw. als das Ordnen des Chaos zu begreifen ist (s. Hermann Zwerschina: Georg Trakl: Untergang. Das Gedicht verstehen: aus der Arbeitsweise Trakls. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 18, 1999, S. 33–60, hier S. 43ff). Anschliessend wird argumentiert, dass Nietzsches ›Die Geburt der Tragödie‹ nicht einfach nur eine Lektüre für Trakl war, sondern ausdrücklich zu seiner Poetik wurde (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 49). Die Analyse von ›Untergang‹ selbst beschränkt sich nach einer ausgedehnter Vorbereitung nur auf wenige Seiten. Gemäß Zwerschina dominiert zuerst das Thema der gemeinsamen Bootsfahrt, das den Ausgangspunkt von Trakls dichterischem Nachdenken darstellt. In Version 2 herrscht demgegenüber das Motiv des Verliebtseins, das u.a. Anspielungen auf ›1001. Nacht‹ bzw. Bilder wie »Unsere Wangen kosen verliebte Sterne bzw. Die Süße tausend und einer Nacht / Neigt sich über unsere vergangenen Gräber« deutlich machen sollten (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 58). Dies wird von Trakl in Version 3 weiter modifiziert, wo der Tod zur bestimmenden Perspektive wird (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 56). Schließlich wird in den Versionen 4, 5 und 6 der im Titel formulierte Untergang zum leitenden Prinzip, der zwar noch nicht vollzogen wurde, aber drohend erscheint (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 58). Insgesamt lässt sich die Tendenz der Änderungen, wie bereits angedeutet, als die Suche nach »Wahrheit« oder »Wirklichkeit« interpretieren, und schließlich weicht
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Es ist unschwer zu erkennen, dass im Aufbau des Gedichts Konstituenten des Tages- und Jahreszeitenzyklus eine wichtige Rolle spielen. Während die Bilder auf den ersten Blick keine erkennbare Kohärenz auch das frühere Idyllen-Bild einer stärker gewordenen Wirklichkeit (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 60). Abgesehen davon, dass die Textgenese bzw. die Anzahl der Fassungen in IA und HKA unterschiedlich sind (s. dazu H. Klessinger 2007: 23n), zeigen Zwerschinas interpretatorische Feststellungen in vieler Hinsicht den problematischen Charakter einer induktiv-textgenetischen Erklärung. Das eigentliche Ziel des Dichters, die »gute Gestalt« zu erreichen, ergibt eine zirkuläre Denkweise. Als Interpret weiß man von vornherein, mit wie vielen Versionen und Textstufen man zu tun hat, so dass es von vornherein feststeht, in welcher Version und Textstufe die angestrebte »gute Gestalt« erreicht werden soll. Man kann zwar versuchen, wie Zwerschina auch, diese Zirkularität aufzuheben, indem man behauptet, dass in der Folge der Versionen eine Tendenz zur Wirklichkeit statt zur Idylle zu beobachten ist. Doch bietet eine solche Lösung für das Verständnis des Trakl-Gedichts einerseits viel zu wenig, zum anderen trifft sie auch nicht unbedingt zu. Zwerschina hält z.B. die Erklärbarkeit des silbernen Kahns aus der Sicht der von ihm postulierten Wirklichkeitstendenz selbst für widersprüchlich, aber man könnte einwenden, dass die Bildlichkeit der letzten Strophe ähnlich problematisch ist, wollte man sie im beanspruchten Sinne als Wirklichkeitsdarstellung auslegen. Selbst wenn man annimmt, dass unter »Wirklichkeit« die Wirklichkeit des Untergangs bzw. des Todes zu verstehen ist, gerät Zwerschina mit seinem Fazit in Widerspruch, wo er, um seinem ursprünglichen Nietzsche-Trakl-Konzept gerecht zu werden, die eigene Hypothese über die Untergangs- bzw. Todes»Wirklichkeit« in Frage stellt: »In Nietzsches System des Dionysischen und Apollinischen ist der Untergang aber nicht ein absolutes Ende, sondern ein Eingehen in den dionysischen Weltgrund, aus dem durch die Wirkung des Apollinischen von Neuem Wirklichkeit und Realität wird.« (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 60). Dies würde zwar formal mit dem von uns entwickelten apokalyptischen Schema übereinstimmen, doch geht es in diesem Gedicht, wie oben bereits angedeutet, ausdrücklich um die Verfallstendenz und, wie noch zu sehen sein wird, keineswegs auch um einen gleichzeitig parallelen Auferstehungs- bzw. Wiedergeburtsprozess. Zuverlässiger scheint hier eine Betrachtungsweise, die auf Grund eines Systems von Hypothesen den Zusammenhang zwischen den einzelnen Versionen und Textstufen zu erklären sucht. Die Konstruktion eines solchen hypothetischen Erklärungsmodells wird (neben Trakls Gesamtdichtung) in erster Linie von der letzten Textstufe des Gedichts ›Untergang‹ ausgehen und die Änderungen, auf gründliche und detaillierte Interpretationen gestützt, deduktiv ableiten bzw. begründen müssen. Nimmt man etwa Zwerschinas Beispiel mit den ersten beiden Versen: »Unter seufzenden Fieberweiden / Steigen wir zu nächtlicher Fahrt in silbernen Kahn«, in denen Trakl, wie er meint, die »Bereiche Krankheit, Natur, Bootsfahrt« vereinigt (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 53.), dann scheint in seiner Interpretation alles im Hinblick auf eine Alltagswirklichkeit, und somit stark reduziert, miteinander verbunden zu sein. Es ist fraglich, ob etwa die seufzenden Fieberweiden adäquat ausgelegt werden, wenn man lapidar behauptet, dass hier die
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aufweisen, stellt die formale Strophenfolge in ihren Elementen eine zeitliche Kontinuität dar: Der Abend der 1. Strophe wird in die Nacht der zweiten, und schliesslich in die Mitternacht der 3. Strophe überKrankheit nicht »den Personen, sondern den Bäumen, dem Bereich der Natur« anhaftet (H. Zwerschina: Georg Trakl, S. 53). Plausibler scheint die Vermutung, ohne auf die Struktur der Änderungen genauer einzugehen, dass sich die Fieberweiden mit den späteren Bildern wie auf einem mondenen Kahn und Unsere Wangen kosen verliebte Sterne etwa über die gemeinsamen Eigenschaften ›rauschhaft‹ und ›Sehnsucht‹ verknüpfen lassen, wobei es um den Wunsch nach einer liebevoll-ersehnten Vereinigung mit dem Tod im Himmlischen geht. Diese Art Vereinigung von Menschlichem und Himmlischem im Tod, die noch im Zeichen möglicher Wiedergeburt und Auferstehung steht, wird dann in den letzten Versionen zurückgenommen, um die Liebe verkürzt, und eher in eine Version mit zerstörerischer Kraft verwandelt, in der das Himmlische, dessen Stirne selbst zerbrochen ist, als Repräsentanz des Todes das Irdische, unsere Gräber gleichsam zudeckt. Auch Denneler beschäftigt sich eingehend mit dem Zusammenhang der einzelnen Versionen von ›Untergang‹. Sie erkennt wichtige »semantische Zäsuren, die die Fassungen in ›Blöcke‹ aufspalten« (Iris Denneler: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls, Salzburg 1984, (= Trakl-Studien, Bd. XIII) S. 71). Die Kontraktion, Verschiebung oder Erweiterung der Blöcke, mit denen immer als Ganzes operiert wird, stellen »ein wesentliches Bauprinzip der strategisch verlaufenden Genese dar« (I. Denneler, S. 71). In ihrer Analyse verfolgt die Autorin vor allem die Änderung des »symbolischen Dualismus zwischen dem Medium Wasser und den Figuren bzw. zwischen »Grotte« und »männlicher Schwermut« (I. Denneler, S. 73). Die Entwicklung des Prozesses deutet nach ihr »auf eine Verdrängung sexueller Assoziationen […], die durch den Gedanken der Kühle des Wassers unterstützt werden« (I. Denneler, S. 73). Auch in der 3. Fassung wird versucht, »den Gedanken des Eintauchens […] zu verdrängen« (I. Denneler, S. 73), wobei die formalen Änderungen der 4. Fassung vor allem die »Aufspaltung von Motiven« betreffen (I. Denneler, S. 74). Die Textgenese verfolgt nach Denneler den Zweck, reale Konfliktsituationen zu bewältigen: »Die Zurücknahme des Gedankens, in die »Grotte« einzutauchen […] legt eine auf die psychische Disposition des Autors ausgerichtete Strategie nahe. Sie erfüllt ihre Funktion hinsichtlich des traumatisch erfahrenen Inzesterlebnisses mit der Schwester und dem Versuch, schuldbeladene Gedanken zu verdrängen. Spiegelmotiv und Höhlenmotiv enthüllen hier ihre Semantik der Interdependenz von Regression und R e f l e x i o n des schöpferischen Prozesses, der schließlich zur Verarbeitung einer von sexuellen Assoziationen freien, mythologisierenden fünften Fassung führt.« (I. Denneler, S. 77). Obwohl der Gedankengang Dennelers oft spekulativ wirkt und letztlich von der Traklschen Inzestproblematik, einem ungewiss-biographischen Konzept abhängig ist, erweist sich ihre Argumentation in diesem präkonzeptionellen Rahmen als eine mögliche Anschauungsweise und strategische Analyse des Produktionsprozesses. Gegenüber Zwerschinas Interpretation, die eine zunehmende Wirklichkeitstendenz in der Struktur der Fassungen erkennt,
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führt.5 Der Tageszeitenwechsel, die Abenddämmerung und der Anbruch der Nacht sind von vornherein in eine herbstlich-vorwinterliche Atmosphäre eingebettet, die mittelbar alle Bilder der drei Strophen bestimmt. Auch Zeit und Raum verschmelzen miteinander. Als Basis dafür dient allerdings nicht nur die allen gemeine Verdunkelung, die die Konturen der (Textwelt-)Realität auflöst. Bereits im ›Untergang‹, dem Titelwort des Gedichts, vereinen sich semantisch die
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spricht Denneler ausdrücklich über eine »mythologisierende fünfte Fassung«. Diese gegenläufige Auffassung verweist an sich schon auf die (theoretisch notwendige) Willkürlichkeit textgenetischer Interpretationsansätze: Die einzelnen Fassungen bzw. Textstufen werden untergründig meist in Bezug auf ein von vornherein feststehendes Ziel miteinander verknüpft, das oft nicht einmal einen literarisch relevanten Gesichtspunkt darstellt. Systematisch und vielmehr strukturbezogen geht Kemper bereits in seiner frühen, bis heute grundlegenden Arbeit über Trakls Entwürfe vor (s. HansGeorg Kemper: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis, Tübingen 1970). Er analysiert zwar ›Untergang‹ nicht im Detail (siehe dazu: H-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, S. 67–68), aber er bezieht dabei eine klare theoretische Position zu der Problematik der »kontradiktorischen Varianten«, wie sie auch dieses Gedicht kennzeichnen. Gemäß seiner Auffassung sind diese, zusammen mit den Bildern und Motiven im endgültigen Gedicht, »nicht nur für sich, sondern im Blick auf das Entwurfs- und Gedichtganze zu betrachten« (H-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, S. 69). Er stellt auch fest: »Intentionsänderungen des Autors, die eine ganze Fassung oder Entwurfsabschnitte umstrukturieren und innerhalb einzelner Verse Kontradiktionen hervorrufen, bedeuten für den Interpreten, daß er die vorangehende Arbeitsstufe, weil Trakl sie verworfen hat, in die Deutung der folgenden nicht mehr miteinbeziehen muß. Daher kann es kaum legitim sein, einen vom Autor verworfenen Wortlaut als Begründung für die Nichtinterpretierbarkeit des endgültigen Textes zu nehmen. Voraussetzung ist freilich die Möglichkeit, sinnvolle Gründe für die Änderungen des Dichters zu erkennen.« (H-G. Kemper: Georg Trakls Entwürfe, S. 69). Anzumerken ist hier allerdings, dass diese Kohärenz zwar in den aufeinander folgenden Stufen von Abend, Nacht und Mitternacht tatsächlich besteht, infolge der strophischen Gliederung, die Abend, Nacht und Mitternacht voneinander formal trennt, nicht unbedingt auch einen zeitlich kontinuierlichen Tageszeitverlauf bezeichnet. In Trakls Gedichten ist oft der Fall, dass die Zeitspanne vom Abend bis zur Nacht, – das heisst ein scheinbar zusammenhängender Tagesuntergang – symbolisch einen ganzen Lebensweg, eine längere historische Periode oder sogar die Menschheitsgeschichte als solche erfasst (siehe z.B. ›Abendlied‹, ›Kindheit‹, ›Ruh und Schweigen‹, ›Abendländisches Lied‹ usw.) Beim ›Untergang‹ jedoch, auch wenn das Gedicht als Ganzes den Untergang allgemein und nicht als Einzelfall thematisiert, ändert sich die Gesamtstruktur nicht, unabhängig davon, ob es sich um eine nur formale oder eine formale und zeitliche Kontinuität zugleich handelt.
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Zeit- und Raumperspektive, die volle Entfaltung des Prozesses erfolgt jedoch erst in der emblematischen Uhrwerk-Metapher des Schlußbildes: »Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht«. Formal wird der Raum durch über und unter gegliedert, die scheinbar die kosmische und irdische Sphäre voneinander trennen.6 Auch lässt sich ihre Beziehung ungezwungen als Anfangs- und Endpunkt einer räumlich imaginierten Untergangs-Bewegung deuten: Über tritt gleich in der ersten, Unter in der dritten Strophe auf und in der Mittelstrophe erscheinen beide gemeinsam. Untergang bezieht sich auf den Tages- und Jahresablauf: In den fortziehenden wilden Vögeln und dem eisigen Wind, der »von unseren Sternen« weht – das heisst, im fliehenden bzw. erstarrenden Leben – äussert sich gleich zu Beginn der herbstliche Verfall, das Vergehen der Naturwelt. In der Uhrwerk-Metaphorik am Gedichtschluss, vorweggenommen bereits im Gräber-Bild der Anfang und Ende miteinander verbindenden zweiten Strophe, dominiert dann eindeutig der bevorstehende Tod des Menschen, die Grundbedeutung des symbolischen Untergangs. Die angedeuteten Raumkonturen und Dimensionen7 werden in erster Linie durch den Weiher, die Sterne, die Gräber, den Kahn, die Mauern der Stadt und die Nacht konkretisiert. Diese stellen einerseits Elemente der irdischen bzw. kosmischen Sphäre, anderer-
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Siehe dazu auch Alfred Doppler: Fassung und Fragment. In: A. Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg 2001, (= Trakl-Studien, Bd. XXI) S. 135–145, hier S. 139. Er meint, die Spannung von »Unter« und »Über« wird in die syntaktische Gliederung aufgenommen, indem die beiden ersten Strophen parallel gebaut sind, wogegen die Verhältnisse in der 3. Strophe umgekehrt werden. Nach Doppler stellt das Gedicht keine kohärente Landschaft dar, eher baut es »aus Landschaftselementen ein abstraktes Bild« (A. Doppler: Fassung und Fragment, S. 139). Die breite Farbpalette der Vorstufen wird nach ihm in der endgültigen Fassung auf eine weißsilberne Klangfarbe reduziert, die als Klangfläche das ganze Gedicht überzieht. Eine Fülle von klanglichen Korrespondenzen wird aus »ei« und »i« hergestellt, die »durch Alliterationen zusätzlich gestützt werden« (A. Doppler: Fassung und Fragment, S. 2001: 139). Zu der »Unter«»Über«-Strukturierung siehe u.a. auch Eric Williams: Untergang der Spiegelwelt. In: Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl, hg. von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 1999, (= Literaturstudium) S. 154–168. und Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis, Würzburg 2007, S. 27ff. Ausführlich dazu auch H. Klessinger S. 27ff.
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seits Komponenten des Übergangs vom Leben in den Tod innerhalb der Textwelt dar. Geht man vom Schlußbild, den letzten beiden Versen des Gedichts, aus, dann wird auch klar, dass das menschliche Leben in dieser Welt als ein Leidensweg begriffen wird, der unter Dornenbogen in die dunkelste Nacht, die Todesstunde der Mitternacht führt. Die Zeit als Vergehens- und Todessymbolik wird in virtueller Uhr-Form vergegenwärtigt und so in einen imaginären Raum verwandelt. Das Ich und sein Bruder klimmen wie »blinde Zeiger gen Mitternacht« und werden selbst zu einem funktionalen Bestandteil dieses ZeitwerkUniversums der Vergänglichkeit. Die Lebenszeit erscheint daher als räumlicher Kreislauf auf einem unsichtbaren Ziffernblatt, der sich allerdings – eingebunden in die zyklische Ordnung des Tageszeitwechsels – dem Tages-Endpunkt Mitternacht nähert und dort auch endet.8 Unterstützt wird der Eindruck von der Kreisförmigkeit als grund8
Ähnlich sieht das auch Williams, wenn er feststellt, dass »das blinde brüderliche Streben nach Transzendenz sich auch am Tagesausklang in einer unheimlichen, im Untergang befindlichen Welt vollzieht […] Mag Untergang auch in einer Geste des Aufstiegs enden, das Gedicht handelt, wie sein wegweisender Titel schon sagt, von einem sich verfinsternden Untergang und Verfall, welche das menschliche Verlangen nach Transzendenz auslösen und bedingen« (E. Williams, S. 164). Anders deutet hingegen Lachmann das Gedicht, der den Untergang als Übergang begreift: »denn der Zeiger einer Uhr, der auf die Mitternacht zu rückt, hält dort nicht still, sondern er rückt von dort weiter in einen neuen Tag« (Eduard Lachmann: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls, Salzburg 1954, (= Trakl-Studien I) S. 183). In diesem Sinne meint er, dass mit dem Schlußvers »bereits die Mitternachtsstunde, der Tod als ein Durchgang zu anderem Leben« bezeichnet ist (E. Lachmann, S. 183). Lachmanns Interpretation, die sich weniger am Gedicht als dem christlichen Weltbild orientiert, scheint der Text nicht zu unterstützen. Sicher gibt es biblische Verweise wie etwa Unter Dornenbogen, die auf Christi Leidensweg hindeuten, doch steht dieses Motiv hier im Kontext der »weißen Mauern der Stadt«, die auch eine gegenläufige Auslegung ermöglichen. Weiter ist die angeführte Uhrwerk-Metapher nicht mit einer wirklichen Uhr und deren Funktionieren gleichzusetzen. Gerade diese Unvereinbarkeit unterscheidet die fiktive Wirklichkeit des Gedichts von der Wirklichkeit unserer Erfahrungswelt. Während in Bezug auf die Wirklichkeit Lachmanns Argumentation über den bei Mitternacht »nicht still« haltenden Zeiger der Uhr offenbar zutrifft, geschieht in der Fiktion grundsätzlich nur das, was ausgeführt oder zumindest angedeutet wird. Im Falle von ›Untergang‹ bezeichnet jedoch der Ausdruck gen Mitternacht offenbar eine klare Zielvorstellung, so dass es in der Textwelt keinen Grund gibt anzunehmen, dass sich der Weg des Ichs und seines Bruders auch über die Mitternacht, über ihren Tod hinaus fortsetzen wird.
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legendes Strukturelement auch dadurch, dass in der Textwelt weitere metaphorische und – auf Grund des Schema-Denkens – tatsächliche Kreis- und Halbkreisstrukturen wie der Weiher, über den die wilden Vögel fortgezogen sind, die zerbrochene Stirne der Nacht, die sich über unsere Gräber beugt, die Mauern, die die Stadt umgeben und die Dornenbogen, unter denen der Weg »gen Mitternacht« führt, eine bestimmende Rolle spielen. Angesichts der Gesamtmetaphorik des Zyklus ›Sebastian im Traum‹ lässt sich jedoch der Skopus der Interpretation weiter ausdehnen. Die Mehrfachcodierung der semantischen Konstituenten innerhalb von Trakls poetischem Universum, wie auch die stereotypen Schemavorstellungen des Rezipienten, etablieren nämlich eine imaginäre Raumstruktur, in der auch unmittelbar nicht einsehbare Zusammenhänge und Strukturgebilde erkennbar oder ihr entsprechend uminterpretiert werden können. Zu dieser Art von imaginierten Kreisformen und -bewegungen,9 die sich in der Wirklichkeit kaum als kreisförmig erweisen würden, gehören in ›Untergang‹ etwa: die wilden Vögel, die über den weissen Weiher fortzogen; die Sterne, die metonymisch für das nächtliche Himmelsgewölbe stehen, und das Schaukeln auf einem silbernen Kahn unter Eichen – das in Kenntnis der Traklschen Konstruktionsprinzipien und Bildlichkeit auf latente Weise die Bewegung und Farbe des Mondes im irdischen Kontext modelliert und zugleich, durch die Schema-Verschmelzung von Mondlauf und Kahnfahrt, das kosmischhimmlische Hinübersterben des Menschen aus dem Irdischen (siehe z.B. auch die Gedichte ›Der Wanderer‹, ›Siebengesang des Todes‹, ›Abendland‹) andeutet.10 Dies um so mehr als der Weiher bei Trakl 9
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Ähnliche Formen erkennt auch Cheie in mehreren Trakl-Gedichten, die ihrem Konzept entsprechend als obsessive Bogen-Strukturen bezeichnet werden. Anhand von ›Untergang‹ stellt sie fest: »Auch Untergang scheint sozusagen über den Bogen konstruiert zu sein. Steigende und fallende, schaukelnde, gleitende und sich neigende Bewegungen dominieren die Gestik des Gedichts durch die Varianten bis zur Endfassung.« (Laura Cheie: Die Poetik des Obsessiven bei Georg Trakl und George Bacovia, Salzburg/Wien 2004, (Trakl-Studien, Bd. XXII) S. 87). Dass der silberne Kahn den Mondlauf abbildet, ist keineswegs abwegig. Davon überzeugen auch die früheren Varianten des Bildes. In der 4. Fassung heißt es: auf mondenem Kahn (HKA, II: 196), die 5. Fassung enthält die Version: auf einem mondenen Kahn (HKA, II: 197). An den »Silberglanz des Mondlichts« und die »Tradition der Nacht- und Mond-Gedichte« erinnert das Bild auch Klessinger, die eine ausführliche Analyse zum Gedicht vorlegt (H. Klessinger, S. 23ff, hier: 26). Nach ihr bestimmen die »Gegensätze von Oben und Unten, Weite und Enge sowie Dynamik
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oft nicht nur den irdischen, sondern – zumindest als Spiegelbild – immer wieder auch den himmlischen Abend- bzw. Sternenweiher (vgl. dazu u.a. ›Ruh und Schweigen‹, ›Abendland‹) repräsentiert. Eine der für Trakls Poesie charakteristischen Grundstrukturen, die simultan-gegenläufige Bewegung von Opak- bzw. Transparentwerden, ist in verborgener Form auch in diesem Gedicht präsent. Während einerseits der Mensch – das Lebensganze – über die wirklichen und symbolischen Zeitstufen von Abend, Nacht und Mitternacht immer tiefer und hoffnungsloser in die Finsternis des Untergangs sinkt, so lässt sich – denkt man zunächst – auch eine kaum merkliche Gegentendenz des gleichzeitigen Durchbruchsversuchs zum Himmlischen beobachten. Die Sterne als »unsere Sterne«, das imaginär Mondgleiche Schaukeln auf einem silbernen Kahn und das Klimmen am Ende sind bei Trakl meist Anzeichen für die Verbindung des Menschen, des Schauenden, mit dem Himmlischen. Gegenüber vielen anderen Trakl-Gedichten jedoch, wie ›Kindheit‹, ›Geistliche Dämmerung‹, ›Hohenburg‹, ›Ruh und Schweigen‹, ›Abendländisches Lied‹ usw., in denen der virtuelle Durchbruch des Ich, das poetisch-geistliche Transparentmachen der transzendentalen Sphäre, als Hoffnung auf Wiedergeburt bzw. Auferstehung zumindest provisorisch gelingt, wird diese (scheinbare) Durchbruchsmöglichkeit – betrachtet man nun die Bilder nicht isoliert, sondern in ihrem Kontext – selbst zum Teil eines allumfassenden und letztlich unabwendbaren Untergangs. Es geht dabei nicht einfach darum, dass keine Verbindung mit dem Himmlischen zustande kommt, sondern es handelt sich gerade um das Umgekehrte: Der Himmel verschliesst sich endgültig vor dem Menschen. Von unseren Sternen weht jetzt ein eisiger Wind und auch die Stirne der Nacht, der sonst Hoffnung und Gnade gewährende gestirnte Nachthimmel, erscheint hier zerbrochen und nimmt Züge einer gewaltigen Totenmaske an. Zu diesem Schein trägt teilweise auch die mittelbare Entsprechung der Klangfiguren Sterne und Stirne bei. Als würden auf diese Weise in der zerbrochenen Stirne der Nacht virtuell auch die Sterne (der Hoffnung) mit vernichtet. Im Schaukeln, im silbernen Mond-Kahn traumhafter Imagination deutet sich zugleich untergründig das mythologische Charon-Motiv an. Angesichts der dunklen und Statik« den »inhaltlichen Verlauf des Textes, dessen zunächst ins Kosmische ausgreifende Dynamik sich zunehmend verengt und schließlich in die ambivalente Aufwärtsbewegung der Schlussverse umschlägt« (H. Klessinger, S. 30).
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Nacht und der immer näher rückenden Mitternacht als Endpunkt irdischer Lebensfahrt wird nämlich der Mensch auf diesem Kahn nicht in den himmlisch-geistlichen Sternenweiher der Wiedergeburt, sondern vielmehr in den finsteren, nur vom Mond beschienenen himmlischen Weiher des Todes, in Hades’ Welt, befördert. In der zerbrochenen Stirne der Nacht, die sich über unsere Gräber beugt und als Totenmaske bzw. eine Art kosmischer Sargdeckel, darstellt, lässt sich eine Variante der in Trakls Dichtung üblichen kosmisch-apokalyptischen Bestattungsszenen irdisch-menschlicher Existenz erkennen. Insbesondere auch deshalb, weil im Bild der Gräber – es gibt ja in der Gedichtwelt allein unsere Gräber unter dem nächtlichen Himmel – die Erde im wesentlichen als ein einziger Friedhof vergegenwärtigt wird.11 Umgekehrt schaukelt der Mensch, wenn auch nicht direkt ausgesprochen, auf seinem silbernen Mond-Kahn im weissen Weiher dieser Todesnacht dem kosmisch-himmlischen Jenseits entgegen. Einerseits nähert sich also die Todessphäre dem Menschen, andererseits scheint sich der Mensch dieser Todessphäre selbst zu nähern, was sich neben der nächtlichen Kahnfahrt auch in der auf dem unsichtbaren Ziffernblatt nach oben, gen Mitternacht, gerichteten Bewegung des Ichs und seines Bruders in ihrem paradoxen Untergang zeigt. Daher muss diesmal die Möglichkeit traumhaften Transzendierens, der visionäre Durchbruch zu einer transzendent-durchsichtigen Hintergrundwelt einer aufsteigenden Nacht gleichsam notwendigerweise scheitern. Die letzte Stufe der Steigerung erfolgt in der 3. Strophe. Gleich am Anfang erscheint ein fragmentarischer Hinweis auf die Stadt, den Schauplatz zivilisierter Welt. Eine Thematisierung, die angesichts des bisherigen Verlaufs der Textwelt überraschend und unerwartet wirkt. Aus dem breiteren Kontext des Zyklus ›Sebastian im Traum‹, der vielfach auch von religiös-biblischen Verweisen durchwoben ist, ergibt sich jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die Stadt, etwas zugespitzt formuliert, als die Gegenwelt der göttlichen Sphäre fungiert (siehe z.B. ›An die Verstummten‹ in ›Siebengesang des Todes‹) und selbst in ihrer neutralen Rolle eine negative Funktion erfüllt. Das fort11
Diesem Untergang misst Williams mit Recht apokalyptischen Charakter bei, wenn er schreibt: »Von oben herab steigt ein siderisches Element in Form eines entstellten menschlichen Gesichts […], das sich ›über unsere‹ Gräber beugt und womöglich auf den Schlusspunkt unseres kosmischen Untergangs anspielt« (E. Williams, S. 158).
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währende Klingen ihrer weißen Mauern, schafft mehrere motivische Verbindungen: Teils zu dem eisigen Wind, der von unseren Sternen, aus dem Kosmisch-Himmlischen weht, und teils zu dem weißen Weiher am Anfang, über den die wilden Vögel fortgezogen sind. Ferner ist es auch verbunden mit dem unsichtbaren Uhrwerk. Diese Beziehung deutet sich in der übereinstimmenden Vokalmusik von klingen und blinde an, indem das fortwährende Klingen mittelbar auch als warnendes Vormotiv der letzten Stunde – eine Art imaginäre Totenglocke – erscheint und auf diese Weise die Mitternacht als formalen und symbolischen Abschluss bzw. Ausklang vorwegnimmt. All diese Zusammenhänge suggerieren insgesamt Leblosigkeit, langsames Erstarren und Tod. Andererseits sind die Stadtmauern, die angesichts des eisig weißen Weihers und der zerbrochenen Stirne der Nacht weitere Verhärtung darstellen, auch insofern als nächste Stufe der Steigerung anzusehen, als sie die menschliche, also die vom Menschen geschaffene, Welt gegen die himmlisch-göttliche Sphäre abgrenzen und umschliessen. Gerade im Hinblick auf diese städtisch-zivilisierte Eigenwelt des Menschen scheinen die Dornenbogen, unter denen das Leben geführt wird, motivisch die zerbrochene Stirne der Nacht von früher in gesteigerter und religiös umgedeuteter Form zu wiederholen. Erst jetzt, nach der Einführung des städtisch Zivilisierten als Ort schuldhaftmenschlichen Lebens in die Gesamtszene, wird der Abendhimmel als Dornenbogen transparent, unter denen sich der irdische Weg des Menschen als eine blinde, schicksalhaft-vorbestimmte Leidensgeschichte darstellt.12 Infolge dieser Raumgestaltung wird in dieser Phase der Steigerung, auch der Abendhimmel-Dornenbogen mit seiner virtuellen Halbkreisform zum Teil der allumfassenden kosmischhimmlischen Uhr, die durch eine zyklische Wiederkehr den Menschen einer städtisch-Gottverlassenen Welt mit Leiden und Vergänglichkeit, dem endgültigen Ablauf seiner irdischen Tages- und Lebenszeit, be12
Anhand von Dornenbogen ist der Hinweis auf Christi Leidensweg offenbar. Trotz des intertextuellen Zusammenhangs zwischen der Bibelszene und der Schlußepisode von ›Untergang‹ handelt es sich keineswegs um die Wiederholung der Christus-Szene. Im Gedicht nehmen das Ich und sein Bruder die Sünden der Menschen nicht auf sich, sie werden vielmehr als Vertreter der schuldhaften Menschheit durch das Himmlische mit dem Tod bestraft und gleichsam bestattet. Insofern besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Kalvarienweg des Erlösers und dem Leidensweg des schuldhaften Menschen: statt Erlösung und Auferstehung ist dem Menschen dieser Welt das Schicksal endgültigen Untergangs beschieden.
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straft. Diesen Prozeß verstärkt der Mensch dadurch, dass er, wie bereits angesprochen, auch selbst zum Teil, ein hilfloser blinder Zeiger des kosmisch-himmlischen Uhrwerks geworden ist, das ihn unaufhaltsam seinem endgültigen Untergang, der mitternächtlichen Todesstunde, entgegentreibt. Den deutlichsten Gegensatz zum lyrischen Ich, dem unsichtbaren Schauenden – eine der poetischen TransparenzFiguren in Trakls Dichtung (vgl. ›Ruh und Schweigen‹) –, und den höchsten Grad an Hoffnungslosigkeit auf eine erlösende Heimkehr in die geistlich-himmlische Existenz, bildet der Mensch gerade als blinder Zeiger, der gen Mitternacht klimmt, deren Finsternis nicht mehr durchschaubar ist und für den Blinden auch nicht durchsichtig werden kann. Diese sonderbare Imagination eines nunmehr kosmischmenschlichen Uhrwerks, das zugleich alle vorangehenden Kreis- und Halbkreisformen der Textwelt virtuell in sich vereinigt und in der anbrechenden Nacht, als letzter Abschnitt des Tages- und des menschlichen Lebenszeitzyklus transparent wird, zeigt offenbar eine entfernte Parallele zur uralten Todes-Symbolik der Sanduhr. Im Unterschied zu dieser kommt es jedoch bei Trakl, ausser dass der Mensch selber als Bestandteil dieser imaginären Uhr fungiert, vor allem auf ihre visionäre Mechanik an, die den Ablauf der Zeit auf eine ganz bestimmte Weise misst: In der Verschmelzung von Irdisch-Menschlichem und Kosmisch-Himmlischem als quasi-zyklischer Bewegung nämlich, die sich verdunkelt oder erhellt, je nachdem, ob sie dem Untergang, der Wiedergeburt oder beiden zugleich anheimfällt. Hier allerdings beugt sich die Nacht als alles in Dunkelheit hüllende kosmische Uhr, die den endgültigen Ablauf der Zeit anzeigt und mit der zerbrochenen Stirne selbst die Zeichen des Todes trägt, über die menschliche Welt und symbolisiert letztlich – in Form eines gewaltigen Dornenbogens – den zeitlich-räumlichen Leidensweg des Menschen in den Untergang.
3. Schemastrukturen und Bildlichkeit. Versuch einer Systematisierung Nun sollen bestimmte Aspekte des beschriebenen Prozesses in vereinfachter Form mittels der zugrunde liegenden Schemastrukturen als Konstruktionsprinzipien durchleuchtet und ihr Zusammenhang mit der Metaphorik anhand einiger Beispiele auch genauer dargestellt werden.
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3.1 Das Nacht-Schema und seine metaphorische Abbildung (I) In den ersten beiden Strophen handelt es sich auf abstrakter Ebene um nichts anderes als um die stufenweise Einführung der Dämmerung und des Abends als Komponenten des allumfassenden Nacht-Schemas. Dabei sollen hier zunächst nur die Wandlungen in der kosmischen Sphäre verfolgt werden, da die Sichtbarkeit des irdischen Bereichs mit dem weißen Weiher, dem silbernen Kahn unter Eichen und den weißen Mauern der Stadt praktisch bis zum letzten Bild des Gedichts unverändert bleibt. Während in Strophe 1 die Sterne für den Schauenden noch klar erkennbar sind, wird der Sternenhimmel durch die anbrechende Dunkelheit des Abends in Strophe 2 immer mehr verdeckt. Auf diese abstrakten Schema-Komponenten bezogen lässt sich das Bild der zerbrochenen Stirne der Nacht allgemein als die Vermischung von Licht und Dunkelheit am Tagesende erklären, als die zunehmende Verfinsterung des Himmels, in dem jedoch das Sternenlicht nicht voll erloschen ist und die Dunkelheit stellenweise durchbricht. Sinn und Funktion der entstandenen Metapher sind jedoch unabhängig von ihrem schemastrukturellen Hintergrund: In der Vision der zerbrochenen Stirne der Nacht als einer Art Totenmaske und kosmischer Sargdeckel wird nämlich das Schicksal der auf einem silbernen Kahn Schaukelnden symbolisch bereits an dieser Stelle vorweggenommen. Die Vollentfaltung des Dunklen wird im zweiten Teil der Schlussstrophe, in der dritten Phase des Nacht-Schemas, erreicht. Nach dem Kontrast der weißen Mauern der Stadt und der (nur implizit vorhandenen) nächtlichen Dunkelheit am Beginn, heben sich dort Raum und Zeit, Irdisches und Menschliches, in dem sonderbar-unsichtbaren Uhrwerk mitternächtlicher Finsternis, auf. Das heißt, die Übergangsphase des Nacht-Schemas tritt im Schlussbild endgültig zurück. Die Lichter früherer Stufen, die Sterne und die zerbrochene Stirne der Nacht werden hier – zwar nicht explizit, aber dank unserer stereotypen Schemavorstellung nahe gelegt – von der allein herrschenden Schwärze abgelöst, in der sich das Ich – ebenso wie sein Bruder – nur noch als leblose Marionetten, als blinde Zeiger erweisen. (II) Es soll hier auch auf den scheinbaren Widerspruch zwischen dem alles bedeckenden nächtlich Dunklen im Kosmischen und dem in der ganzen Textwelt unverändert hellen Bereich des Irdischen kurz eingegangen werden. Um so mehr als die Erklärung zugleich ein konkretes
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Beispiel dafür liefert, warum es sich beim Anbruch der Dämmerung, des Abends oder der Nacht nicht um konkrete Phasen einer Tageszeit, das heißt nicht um die unmittelbare Wirklichkeit, sondern nur um ihre stereotypen Schemata bzw. Schema-Komponenten handelt. Ähnlich wie die Sterne – bzw. der Sternenhimmel, die Dämmerung und der Abend – früher als Komponenten des Nacht-Schemas behandelt wurden, scheint es auch hier sinnvoll, den Mond bzw. das Mondlicht ebenfalls als eigene (und gleichsam autonome) Schema-Komponente der Nacht zu betrachten. Unter diesem Aspekt können die Sterne, der Abend oder der Mond ihre Funktion, voneinander unabhängig oder miteinander kombiniert – das heißt im Gegensatz zu unserer stereotyp-einheitlichen Wirklichkeitsvorstellung oder in (teilweiser) Übereinstimmung mit ihr – ausüben. Die vom Wirklichkeitsschema unabhängige Funktionsausübung ist deshalb möglich, weil die Rolle der Himmelskörper und des Abends in der Gedichtwelt in erster Linie nicht durch die tatsächlichen Tageszeit- und Lichtverhältnisse der Wirklichkeit, sondern vielmehr durch eine bestimmte Wertordnung festgelegt wird, die, wie noch zu sehen sein wird, grundsätzlich mit der (hypothetisch zuordenbaren) Perspektive der abstrakten Ich-Figur zusammenhängt und die die Gesetze der äußeren Wirklichkeit nach ihren eigenen ethisch-ästhetischen Prinzipien ›überschreiben‹ kann.13 Doch ist dabei Vorsicht geboten: Diese Annahme stimmt zwar in ihrer Allgemeinheit, man muss aber auch sehen, dass die einzelnen Objekte – unter ihnen auch die Himmelskörper wie Sterne, Mond oder Sonne – meist schillernde Motive bei Trakl sind, die weder eindeutig noch ständig einer einzigen Wertsphäre zugeordnet werden können. Wie auch umgekehrt gilt: Es lassen sich die einzelnen Wert13
Mit Recht könnte man dagegen einwenden, dass das Bild des weißen Weihers, berücksichtigt man den unmittelbaren Kontext, in erster Linie mit der herbstlich – vorwinterlichen Zeit erklärt werden kann. Selbst wenn dem so ist – auch Schemata bzw. Schemakomponenten können sich überlappen – gilt dies für die Farbe des silbernen Kahns und der weißen Mauern der Stadt offenbar nicht. Es geht hier nicht um eine Winterszene, sondern, durch die Schema-Wahrscheinlichkeit bestimmt, vielmehr um die verschiedenen Erscheinungsformen des Mondlichts. Wichtiger jedoch als solche Einzelbilder für sich, ist die kompositionelle Struktur, die den weißen Weiher, den silbernen Kahn und die weißen Mauern gleichmäßig über drei Strophen verteilt und damit das mondene Weiß als wichtige Konhärenzlinie in der Textwelt etabliert. Gleichsam systembedingt wird auf diese Weise auch der weiße Weiher – parallel zu dessen primär-winterlichem Hintergrund – in den eigenen Fokusbereich mit einbezogen.
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sphären keineswegs ein für allemal positiv oder negativ bewerten. Ihre Beurteilung kann sich – entsprechend den Figuren, die sie repräsentieren, oder gemäß den wandelbaren Kontexten – von Textwelt zu Textwelt, von Gedicht zu Gedicht ändern. Beispiele für solche schillernden Motive und Wertkonstellationen, für die Umkehrung, Aufhebung oder Neutralisierung ursprünglicher Wertfunktionen finden sich in den weiteren Analysen, insbesondere anhand von häufiger Verknüpfung der Mondsphäre mit einer imaginierten Schwester-Figur. Zu betonen ist deshalb, dass der Wertgegensatz von Sterne und Mond zunächst nur auf den konkreten Fall von ›Untergang‹ bezogen werden sollte. Sterne sind hier, wie in zahlreichen kulturellen Schemata und auch den meisten Trakl-Gedichten, grundsätzlich mit der Hoffnung, sowie mit der Beziehung des Schauenden mit einer transzendent-seelischen, anthropomorph-nächtlichen Welt des Himmlischen, verbunden. Demgegenüber zeichnet sich das Mondene in diesem Zusammenhang in einer negativen Funktion ab. Mond oder Mondenes erscheint in Trakls Dichtung auch sonst oft als Motiv des Bösen und des Todes, des Menschlichen und des Abgeschiedenen, des Verlockenden und des Verführerischen bzw. des Traum- und Rauschhaften – um nur einige seiner veränderlichen Funktionen zu nennen. In diesem Sinne bildet hier das Weiße und Silberne, das scheinbar lichte Gesicht der Nacht keinen tatsächlichen Kontrast zum Nächtlich-Dunklen, weil es den (unmittelbar gar nicht präsenten) Mond als Leblosigkeit, als Schuld- und Todesaspekt der Nacht, im Irdischen repräsentiert, der angesichts seines Wertebezugs in diesem Falle keinen grundlegenden Unterschied zur Finsternis als tages-, jahres- und endzeitlicher Untergangsprozess zeigt. 3.2 Über die strukturierende Rolle der Ich-Figur in der Textwelt In diesem Zusammenhang soll auch noch die Rolle des abstrakten Ichs im Aufbau der Textwelt untersucht werden. Von diesem wird sowohl mittelbar als auch im Verborgenen bestimmt, in welcher Reihenfolge die Schemata bzw. Schema-Komponenten erscheinen und wie sie miteinander kombiniert werden; wovon ferner auch abhängig ist, in welche Bildlichkeit die Schemata bzw. Schema-Komponenten ›übersetzt‹ werden. Gezeigt wurde vorhin unter anderem, wie das Mondlicht als Schema-Komponente grundsätzlich den Verlauf der Textwelt bestimmt, während die sonstigen Komponenten des Nacht-Schemas –
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wie der Abend, die Nacht und die Mitternacht – nach dem Muster der sich bis zur Undurchsichtigkeit bzw. Blindheit stärker werdenden Dunkelheit geordnet werden. In der Analyse wurde auch bereits darauf hingewiesen, dass dasselbe abstrakte Nacht-Schema zunächst als Sternenhimmel, kurz darauf als die zerbrochene Stirne der Nacht, später als Dornenbogen und schließlich als imaginäres irdisch-kosmisches Uhrwerk metaphorisch abgebildet wird. Selbst die inneren semantischen, klangmusikalischen und visuellen Zusammenhänge dieser Abwandlungen sind streng durchkomponiert: Die Sterne des Abends werden in die zerbrochene Stirne der Nacht überführt, deren Bildstruktur virtuell wiederum dem durch unsichtbare Ziffern und blinde Zeiger ›zerbrochenen‹ Ziffernblatt einer riesigen – Irdisches und Kosmisches gleichermaßen umfassenden – Uhrkonstruktion der Vergänglichkeit entsprechen kann. Diese Strukturierung verteilt sich im wesentlichen auf zwei abstrakte Instanzen: Das lyrische Ich und den Rezipienten der Textwelt. Letzterer strebt eine Anordnung der Textwelt von Aussen an, und zwar eine, die in der letzten Phase der Erklärung auch den Konstruktionsansatz des Ichs mit erfasst und ihn als letzte Instanz sogar, gleichsam notwendigerweise, ›überbietet‹. Es stellt sich daher die Frage, wie die beiden Instanzen sich zueinander verhalten bzw. wie und warum sie voneinander unterschieden werden können und sollen. Während im letzten Beispiel die Ähnlichkeit zwischen der zerbrochenen Stirne der Nacht und dem gleichsam ›zerbrochenen‹ Ziffernblatt des irdisch-kosmischen Uhrwerks als Modell des Nacht-Schemas von keinem sprachlichen Element im Text angedeutet wird und die Konstruktion ihrer Verbindung allein dem Rezipienten zuzuschreiben ist, spielt das Ich selbst bei der Gestaltung anderer, wichtiger Zusammenhänge selbst eine ausschlaggebende Rolle. Geht man zum Beispiel von dem Vers aus: »Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind aus«, dann ist daran leicht zu erkennen, dass sich eine solche Aussage in unserer Erfahrungswirklichkeit kaum begründen lässt. Wie könnte je ernsthaft behauptet werden, dass ein eisiger Wind – mittelbar oder unmittelbar – von den Sternen, sogar ausdrücklich von unseren, weht. Offenbar lässt sich der Wind auf diese Weise nicht direkt mit den Sternen verbinden. Möglich ist hingegen diese Aussage im Gedicht, da der ihr zuordenbare Sachverhalt nicht den Naturgesetzen, sondern den Aufbauregeln der Textwelt gehorcht. Die Formulierung unsere Sterne verrät, dass es sich um eine persönliche Beziehung vom Ich zu den Sternen handelt. Die Sterne als
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unsere, also eigene Sterne, fungieren als himmlische Hoffnungsschimmer für den Schauenden. Aus diesem unmittelbaren Kontakt zum Himmlischen ergibt sich dann auch, dass der eisige Wind, der am Abend von unseren Sternen weht, gerade diese Hoffnung des Menschen auf seine Hinüberrettung aus dem Irdischen ins Himmlische vernichtet – ein mögliches Symbol für das Zwischenstadium ist der schaukelnde silberne Kahn. Zu betonen ist weiter, dass es das Ich ist, also eigentlich wir es sind, die den eisigen Wind mit unseren Sternen und mit uns selbst willkürlich verbinden und damit den winterlich, bedrohlichen Zustand als Vormotiv von Untergang und Tod – gleichsam für uns selbst – konstruieren. Ähnliches lässt sich auch anhand der Metapher die zerbrochene Stirne der Nacht beobachten. Es ist offenbar nicht die Nacht, die eine zerbrochene Stirne hat, sondern das Ich, also wir sind es, die in der Dämmerung und dem anbrechenden Abend, in ihrer Mischung aus Licht und Dunkelheit die Nacht als Vision einer zerbrochenen Stirne wahrnehmen, die sich – wiederum eine willkürliche Annahme – über unsere Gräber beugt. Das Ich, der Mensch, ist es ferner auch, der die weißen Mauern der Stadt immer klingen hört und die aufziehende Nacht in der nächsten Phase schon nicht mehr als zerbrochene Stirne sondern, nicht zufällig, als Dornenbogen wahrnimmt. Nicht die Erscheinungen des Abends und der Nacht für sich sind apokalyptische Zeichen, doch werden sie – entsprechend dem inneren Schuld- und Angstzustand der Seele – von dem Ich, dem Menschen, als solche interpretiert.
4. ›Untergang‹ und die Auftaktgedichte von ›Siebengesang des Todes‹ Die Konstruktionsprinzipien und ihre bildliche Modellierung, insbesondere die bereits ausführlicher dargestellte Stern- und Mondsphäre, charakterisieren nicht nur ›Untergang‹. Um dies zu demonstrieren, sollen nun auch weitere Gedichte aus dem Kontext von ›Untergang‹ analysiert werden. Zu Beginn des Teilzyklus finden sich ›Ruh und Schweigen‹, ›Anif‹ und ›Geburt‹, die unmittelbar ›Untergang‹ vorangestellt sind. ›Geburt‹ soll in diesem Zusammenhang nur andeutungsweise interpretiert werden. Der Grund dafür ist, dass der Mond zwar in dem Gedicht eine hervorgehobene Rolle spielt, sein möglicher
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Kontrahent, der Stern, in der Textwelt gar nicht erscheint.14 Aus dieser Sicht stellt ›Untergang‹ im Wesentlichen die Umkehrung von ›Geburt‹ dar: Die Sterne erfüllen darin eine wichtige Funktion, aber der Mond ist nur als Farbe und Licht – das heißt in mittelbarer Form – als Schema präsent. Zum anderen erweist sich wiederum der an sich natürliche, semantische Gegensatz von Untergang und Geburt nur als Schein-Gegensatz: Die Geburt des Menschen ist in dieser Auffassung eine Verwandlung, die aus einer seelisch-engelhaften Existenz, repräsentiert durch die moosigen Blicke des Wilds, hin zum irdischen Dasein des gefallenen Engels führt. Zugespitzt formuliert kommt dieser Weg, wie dies auch die Zeile »Rot vom Wald niedersteigt die Jagd« in Strophe 1 nahe legt, praktisch der Austreibung der Seele aus ihrem unschuldig-paradiesischen Zustand gleich. Parallel zu diesem Prozess der Geburt erscheint auch der leblose kalte Mond, der sich mittelbar mit dem Geborenen und der Gebärenden, der steinernen Greisin, gleichermaßen identifizieren lässt, verfallen. Schließlich, wie auch in den drei anderen Gedichten, wird alles – hier das mondgleiche Wesen von Mutter und Kind – in das Endphasen-Schema des Tages- und Jahreszeitenwechsels, in Nacht und Winter eingebettet, oder eher von Nacht und Winter bestattet: »Weh, der Gebärenden Schrei. Mit schwarzem Flügel / Rührt die Knabenschläfe die Nacht, / Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt.« Die Grundstrukturen des Gedichts, die Rolle der Tages- und Jahreszeitenzyklen, die Schema-Struktur von Verdunkelung und winterlichem Verfall, das Erblicken, das Transparentwerden des gespaltenen Ichs als Engel und gefallener Engel im blauen Wasser des Felsengrunds und die stille, kaum merkliche, Apokalypse menschlichen Lebens in dieser paradoxen Geburt zeigen in jeder Hinsicht grundsätzliche Übereinstimmungen mit den Konstruktionsprinzipien von ›Untergang‹, ›Ruh und Schweigen‹ und ›Anif‹. Die nachfolgenden Erklärungsversuche von ›Ruh und Schweigen‹ und ›Anif‹, obgleich umfassender als die Interpretation von ›Geburt‹, fallen im Vergleich zur Analyse von ›Untergang‹ vereinfacht aus. Sie sollen eigentlich nur als Hintergrund dafür dienen, dass die Einzelmotive Stern und Mond nicht aus dem Gesamtzusammenhang herausgegriffen und willkürlich behandelt werden können. Außer der 14
Für eine umfassende literarhistorische und strukturbezogene Interpretation des Gedichts im Kontext traditioneller und moderner Lyrik siehe Kempers Versuch in Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper: Expressionismus, 2., bibliographisch ergänzte Auflage, München 1983 (1975) S. 229ff.
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systematischen Rollenbestimmung beider Motive sollen jedoch die Interpretationen auch im Einzelnen deutlich machen, dass ›Ruh und Schweigen‹ und ›Anif‹ letztlich, wie bereits angedeutet, mit denselben Schemastrukturen bzw. Konstruktionsprinzipien wie ›Untergang‹ und ›Geburt‹ erklärt werden können. 4.1 Das ›Heilige blauer Blumen‹ – Transparenz des Himmlischen in ›Ruh und Schweigen‹15 Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald. Ein Fischer zog In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher. In blauem Kristall Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt; Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf. Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen, Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel. Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein; Ein strahlender Jüngling Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung.
Bei der Strukturbildung des Auftaktgedichts ›Ruh und Schweigen‹, es sei hier hypothetisch vorangestellt, spielen vor allem die Sonne, der Mond, die Sterne und ihre verschiedenen Varianten eine entscheidende Rolle. Ähnlich wie ›Untergang‹ ist auch ›Ruh und Schweigen‹ in den tageszeitlichen Prozess des Sonnenuntergangs und der aufsteigenden Nacht eingebettet. Die von Hirten begrabene Sonne, die vergangene Sonnenzeit einer archaischen Welt wird von einem aus frierendem Weiher gezogenen Mond, die anbrechende Mondzeit gegenwärtiger Menschheit, abgelöst.16 Der in blauem Kristall wohnende, vom transparenten, aber versteinerten Himmel umschlossene bleiche Mensch ist vor die Alternative gestellt. Er kann weiter hoffen, die Wang’ an seine Sterne gelehnt, oder er gibt die Hoffnung auf und neigt das Haupt, nach dem Modell des Sonnenuntergang-Schemas, in 15 16
Das Gedicht befindet sich in HKA I, 113. S. dazu Hans-Georg Kemper: Georg Trakl. In: Deutsche Dichter Bd. 7, Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, S. 331.
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purpurnem Schlaf. Sein Blick wird bald, durch den schwarzen Flug der Vögel geführt, nach oben, in den Himmel gelenkt, wo er das Heilige blauer Blumen, die erblühenden Sterne, wahrnimmt, die hier durch den Novalis-Bezug als romantisch gefärbte Hoffnungsschimmer seiner Sehnsucht erscheinen. Zugleich wird ihm, während er sich in Gedanken dem Tode, der nahen Stille, nähert, eine ehemalige, längst vergessene Welt erloschener Engel gegenwärtig. Am Ende verschärft sich weiter der Gegensatz zwischen seinem hoffnungslosen Eingeschlossensein im Irdischen und dem Ausbruchsversuch aus dem blauen Kristall, der Hoffnung auf einen erneuten Zugang zu dem für ihn verschlossenen Steinern-Himmlischen. Etwas das ihm vorhin einmal beim Erblicken des Heiligen blauer Blumen als poetische Transzendierung, als virtueller Durchbruch des blauen Kristalls und in Erinnerung an die erloschenen Engel, teilweise, bereits geglückt war. Einerseits ist die nachtende Stirne noch mehr und noch hoffnungsloser eingebettet und vereinigt mit dem mondenen Gestein, zum anderen jedoch wird plötzlich ein strahlender Jüngling, die Schwester als geschlechtsloses, engel- und sternenhaftes Lichtphänomen, als Neubelebung der erloschenen Engel in der himmlisch-metaphysischen Sphäre ehemals seelisch-unschuldiger Kindheit mitten in Herbst und schwarzer Verwesung transparent gemacht. Die Geschehnisse der Textwelt sind also – wie in ›Untergang‹ – grundsätzlich durch den abstrakten Schema-Prozess des Tageszeitenwechsels – von der Abenddämmerung bis zur nächtlichen Finsternis – festgelegt. Einerseits werden Himmlisches und Irdisches voneinander getrennt, andererseits wird durch das poetische Schauen des Ichs immer wieder versucht, diese Trennung, die körperlich-seelische Spaltung des Selbst, aufzuheben und vom Irdischen zum Himmlischen, zum eigenen seelischen Sein, vorzudringen und so die unsichtbar gewordene, in Dunkelheit gehüllte metaphysische Welt einer verlorenen mythisch-engelhaften Existenz im Kosmischen aufscheinen zu lassen. In diesem Vorgang spielen Mond und Sterne jeweils entgegengesetzte Rollen: Während das Mondene, eingebettet ins Nächtliche und Hoffnungslose, auf Isolierung und Trennung abzielt, wird durch die Sehnsucht nach den Sternen, dem Licht und der Hoffnung ein Durchbruch und eine virtuelle Wiedervereinigung der Seele mit dem Himmlischen vorbereitet. Eng verbunden sind die gespaltene Existenz und die sonderbar-visionäre Sichtweise des Ichs, mit der es den alltäglichen Sonnenuntergang und Mondaufgang sowie den Sternenhimmel am anbrechenden
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Abend – eigentlich ein stereotypes Abenddämmerungs-Schema – auf diese Weise umdeutet und ins Metaphysische überführt, grundsätzlich mit dem eigenen Schuldgefühl, das sich zunächst im Bild des härenen Netzes entfaltet und die gesamte Textwelt bis zu der JünglingSchwester-Licht-Erscheinung am Ende motivisch miteinander vernetzt. Jüngling und Schwester, die erloschenen Engel von einst, werden in der Vision für einen Augenblick – mitten im Tod, im Untergang auf der Folie des Sternen-Schemas – erneut zu strahlenden Engeln geformt. Ihr vergessenes, unschuldiges Wesen wird noch einmal heraufbeschworen und, gemäß dem apokalyptischen Narrationsschema, im Moment endgültiger Verdunkelung als reines Licht engelhafter Existenz imaginiert. Als E i n Geschlecht, wie das später in der utopischen Schlußphase von ›Abendländisches Lied‹ heißen wird.17 4.2 ›Kühlere Blüten‹ der Seele: Transparenz des Todes in ›Anif‹18 Erinnerung: Möven, gleitend über den dunklen Himmel Männlicher Schwermut. Stille wohnst du im Schatten der herbstlichen Esche, Versunken in des Hügels gerechtes Maß; Immer gehst du den grünen Fluß hinab, Wenn es Abend geworden, Tönende Liebe; friedlich begegnet das dunkle Wild, Ein rosiger Mensch. Trunken von bläulicher Witterung Rührt die Stirne das sterbende Laub Und denkt das ernste Antlitz der Mutter; O, wie alles ins Dunkel hinsinkt; 17
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Hier konnten nur einige wichtige Zusammenhänge angedeutet werden, die mit der Thematik der Arbeit unmittelbar verbunden sind. Eingehend ist das Gedicht in Károly Csúri: Theorie und Modell, Erklärung und Textwelt. Über Trakls ›Ruh und Schweigen‹. In: Weltbürger – Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank, hg. von L.Bodi/G. Helmes/E.Schwarz/F. Voit, Bern/ Berlin/Frankfurt a.M./New York/Paris/Wien 1995, S. 128–151 untersucht. Wichtige Beobachtungen zur Beziehung von Bildstruktur und Menschheitsgeschichte in ›Ruh und Schweigen‹ enthält Kempers Interpretation in S. Vietta/H-G. Kemper S. 237ff und Hans-Georg Kemper: Nachwort. In: Georg Trakl. Werke – Entwürfe – Briefe, hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max, Stuttgart 1984, S. 269–320, hier S. 310. Zum Gedicht siehe auch L. Cheie, S. 96ff und L. Cheie: Georg Trakls ›Ruh und Schweigen‹. (in diesem Band). Siehe HKA I, 114.
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Károly Csúri Die gestrengen Zimmer und das alte Gerät Der Väter. Dieses erschüttert die Brust des Fremdlings. O, ihr Zeichen und Sterne. Groß ist die Schuld des Geborenen. Weh, ihr goldenen Schauer Des Todes, Da die Seele kühlere Blüten träumt. Immer schreit im kahlen Gezweig der nächtliche Vogel Über des Mondenen Schritt, Tönt ein eisiger Wind an den Mauern des Dorfs.
Auch in ›Anif‹ finden die Schema-Strukturen und die Metaphorik, insbesondere die Rolle der Mond- und Sternen-Motivik klare Entsprechungen zu denen in ›Untergang‹, ›Geburt‹ und ›Ruh und Schweigen‹. Den Hintergrund der Geschehnisse bilden die ZyklusSchemata der Tages- und Jahreszeiten, die einzelnen Phasen des anbrechenden Abends und Herbstes. Der Schema-Charakter des Tageszeitenwechsels ist in diesem Falle besonders auffällig, da es sich hier von vornherein um den seelischen Innenraum des Ichs und dessen Projektion, das heißt um eine nur scheinbare äußere Wirklichkeit, handelt. Am Beginn steht ein seelischer, innerer Abend der Erinnerung, der dunkle Himmel / Männlicher Schwermut, der bald ins Dunkle und schließlich in den kosmisch-irdischen Nachtraum mit Zeichen und Sternen, mit nächtlichem Vogel und Mondenem überführt wird. Eingebettet wird der abendlich-nächtliche Vorgang in den herbstlich-vorwinterlichen Verfall, der von der herbstlichen Esche und dem sterbenden Laub über die kühleren Blüten der träumenden Seele bis zum kahlen Gezweig und dem eisigen Wind an den Mauern des Dorfes, die gesamte Textwelt erfasst. Der eisige Wind erscheint diesmal, im Gegensatz zu ›Untergang‹, erst am Ende des Gedichts. Die Erinnerung des Ichs – im Text als du bezeichnet und als kollektives Subjekt verstanden – beginnt mit dem Wohnen in harmonischem Zustand, »[…] im Schatten der herbstlichen Esche, / Versunken in des Hügels gerechtes Maß«. Die Abende jener Zeit ähneln in der Erinnerung einem imaginierten paradiesischen Garten, in dem sich der grüne Fluss wie tönende Liebe anhört und sich »[…] das dunkle Wild // Ein rosiger Mensch […]« friedlich begegnen. Es geht dabei um den Raum der Imagination, der von den Varianten unschuldiger Seelen des vorzeitlichen Selbst bevölkert wird. Doch vermengt sich diese Harmonie von vornherein mit Zügen des Verfalls, was bereits das Attribut von
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herbstliche Esche nahe legt. Nun rührt die Stirne, berauscht von der die Erinnerung anspornenden bläulichen Witterung, das sterbende Laub und »[…] denkt das ernste Antlitz der Mutter, die … gestrengen Zimmer und das alte Gerät // Der Väter«. Die heraufbeschworene familiäre Vergangenheit des Ichs sinkt jedoch gleich wieder ins Dunkle hin. Wie sich noch zeigen wird, gilt dieser Prozess wechselnder Opazität und Transparenz für die Gesamtstruktur der Textwelt. Das Schema des anbrechenden Abends ist zweideutig. Einerseits wird alles immer stärker in die zunehmende Dunkelheit einbezogen und damit dem Tod näher gerückt, andererseits, trunken von der bläulichen Witterung des selben Abends, wird eine weit zurückliegende seelischtranszendente Welt vom Ich immer wieder traumhaft-dionysisch beschworen und transparent gemacht. Die Erinnerung an die Mutter und die Väter, das heißt an die Familie und die Ahnen, erschüttert die Brust des Ichs, des Fremdlings. Diese Erschütterung ist der eigentliche Grund seiner Wandlung: Von nun an wendet sich sein Blick von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Irdischen zum Himmlischen: »O, ihr Zeichen und Sterne«. Anzunehmen ist, dass gerade diese rätselhaften himmlischen Zeichen und Sterne es sind, die das Ich erkennen lassen: »Groß ist die Schuld des Geborenen«. Die Aussage selbst, deren thematische Nähe zu ›Geburt‹ leicht einsehbar ist, kann hier in ihrer Vielfältigkeit nicht erörtert werden. Das System der Konstruktionsprinzipien und die Rolle der Sternen- und Mondsphäre lassen sich auch ohne eine ausführliche Erörterung des Schuld-Problems hinreichend bestimmen. Hervorzuheben ist nur eine Deutungsmöglichkeit, die auch durch die in verschiedenen Gedichten wiederkehrende Grundproblematik des Teilzyklus unterstützt wird. Demnach lässt sich die (unbestimmte und unausgesprochene) Schuld allgemein mit der Frage verbinden, ob und wie weit das Erbe der Ahnen, des großen Geschlechts von der jeweils nächsten Generation, die bei Trakl meist nur als verfluchtes oder entartetes Geschlecht gebrandmarkt wird, angetreten und fortgeführt oder missbraucht wird.19 Konkret dürfte es 19
Die folgenden Varianten von ›Geschlecht‹ lassen sich zwar in ihren Kontexten jeweils anders interpretieren, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie im Zusammenhang mit der früheren und der neuen Generation vorkommen und letztere negativ beurteilen. Siehe z.B. »Liebend auch umfängt das Schweigen im Zimmer die Schatten der Alten, / Die purpurnen Martern, Klage eines großen Geschlechts, / Das fromm nun hingeht im einsamen Enkel« (›Gesang des Abgeschiedenen‹); »Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf
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sich hier allerdings um den Missbrauch eines geistigen Erbes, traditioneller moralischer Werte und Verpflichtungen des Geborenen gegenüber den Eltern und den Ahnen, um seine Schuld bzw. sein Schuldgefühl anhand der Schwesterbeziehung handeln; man denke nur an das ernste Antlitz der Mutter oder an die gestrengen Zimmer und das alte Gerät der Väter, das heißt an das engere familiäre Umfeld. Die Textwelt enthält diesbezüglich keine explizite Andeutung, das Ich fühlt sich allein und mittelbar durch die Erinnerungsbilder und die Zeichen und Sterne im Himmlischen auf seine Schuld hingewiesen. Das ernste Antlitz der Mutter drückt Entfremdung und schweren Vorwurf aus, die Zeichen und Sterne sind bedrohlich, in ihnen wird für ihn der Tod transparent: »[…] Weh, ihr goldenen Schauer / Des Todes, / Da die Seele kühlere Blüten träumt«. Die mögliche Gleichsetzung der Blüten mit den Sternen ergibt sich einerseits aus dem inneren Kontext des Gedichts, zum anderen wird sie, im gegensätzlichen Sinne, auch durch das Heilige blauer Blumen als metaphorische Interpretation des Sternenhimmel-Schemas im vorangehenden ›Ruh und Schweigen‹ nahe gelegt. Der eisige Wind an den Mauern des Dorfes im Schlussvers des Gedichts, stellt gleichsam die irdische Konkretisierung und Verlängerung der goldenen Schauer / Des Todes, das heißt der Zeichen und der Lichtstrahlen der Sterne im Himmlischen, dar. Die Parallele zu »Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind« in ›Untergang‹ ist dabei auch nicht zu übersehen. Anzunehmen ist ferner, dass außer der kosmischen Sphäre und ihrer göttlich-himmlischen Transparenz auch die überirdisch-metaphysische und doch eigenartig-anthropomorphe Existenz der noch Ungeborenen oder der bereits verstorbenen Ahnen, wie dies auch aus dem früheren Zitat aus ›Passion‹ (s. Fn 19) klar hervorgeht, zum komplex-vielschichtigen Referenzbereich der Sterne dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts (›Traum und Umnachtung‹); O des verfluchten Geschlechts. Wenn in befleckten Zimmern jegliches Schicksal vollendet ist, tritt mit modernden Schritten der Tod in das Haus« (›Traum und Umnachtung‹); »Purpurne Wolke umwölkte sein Haupt, dass er schweigend über sein eigenes Blut und Bildnis herfiel, ein mondenes Antlitz; steinern ins Leere hinsank, da in zerbrochenem Spiegel, ein sterbender Jüngling, die Schwester erschien; die Nacht das verfluchte Geschlecht verschlang« (›Traum und Umnachtung‹); Sieht man vom möglichen Inzest-Hinweis ab, so scheint folgendes Zitat aus ›Passion‹ (1. Fassung) beim Verständnis des Zusammenhangs von Schuld und Sternen in ›Anif‹ hilfreich zu sein: »Zwei Wölfe im finsteren Wald / Mischten wir unser Blut in steinerner Umarmung / Und die Sterne unseres Geschlechts fielen auf uns«.
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in Trakls reifer Dichtung gehört. Auch die als seelisch-engelhafte Kontrahentin des Ichs imaginierte Schwester-Figur gehört mit ihren abwechselnd sternhaften oder mondenen Attributen der himmlischen Sphäre der Vorstellung an, was im Teilzyklus neben ›Ruh und Schweigen‹ auch durch entsprechende Motive in ›Geistliche Dämmerung‹, ›Verklärung‹ und ›Passion‹ verstärkt wird.20 In diesem Sinne ist auch zu verstehen, dass in ›Anif‹ vom Ich nicht nur Sterne, sondern auch Zeichen wahrgenommen werden, das heißt der Schauende interpretiert die Sterne, und überhaupt die himmlische Welt, aus seiner irdisch-menschlichen Sicht als Zeichen. Sprache und Deutung dieser Zeichen, der Botschaft des Sternengeschlechts, zeigen sich in der traumhaften Erkennung und Bewusstwerdung der Schuld des Geborenen, in der Vision der Sterne als goldene Schauer des Todes oder – wie auch in Untergang – in der Annahme, dass der eisige Wind am Abend von unseren Sternen kommt.21 Interessanterweise sind die Bilder in Anif, die sich auf die Sterne beziehen lassen, gleichzeitige Transparenz- und Opazitätsakte. Die Sterne, die goldenen Schauer und die Blüten sind zwar einerseits Transparenz-Erscheinungen, aber zusam20
21
Siehe dazu u.a. das oben analysierte ›Ruh und Schweigen‹, in dem die Sterne für den Schauenden zunächst als das Heilige blauer Blumen, später als erloschene Engel und schließlich als lichte Engel-Visionen, als ein strahlender Jüngling und Schwester transparent werden. Ganz eindeutig bezieht sich die Sternen-Metaphorik in dem Gedicht ›In Hellbrunn‹ auf die Ahnen, wenn es heißt: »Wieder folgend der blauen Klage des Abends / Am Hügel hin, am Frühlingsweiher – / Als schwebten darüber die Schatten lange Verstorbener, / Die Schatten der Kirchenfürsten, edler Frauen – / Schon blühen ihre Blumen, die ernsten Veilchen / Im Abendgrund […]«. Die letzte Strophe von ›Die Schwermut‹ lautet: »Herbstesnacht so kühle kommt, / Erglänzt mit Sternen / Über zerbrochenem Männergebein / Die stille Mönchin«. Schließlich liest sich in ›Die Heimkehr‹ (2. Fassung) zum Auftakt der 2. Strophe: »Anschaut aus blauen Augen / Kristallne Kindheit«. Ähnliches ist zu beobachten u.a. auch zwischen dem Mönch und Elis in ›An den Knaben Elis‹, den beiden Freunden, dem Tönenden und dem Toten in ›An einen Frühverstorbenen‹ oder zwischen dem Orpheus-Bruder und der Eurydike-Schwester in ›Passion‹ (3. Fassung), die – durch die poetische Evokation – gleichsam frei zwischen Leben und Tod, Himmel und Erde bzw. Vergangenheit und Gegenwart verkehren. Dies erklärt auch, warum die irdische und die himmlische Sphäre zum großen Teil ähnlich aufgebaut und strukturiert sind und warum die Spiegel-Metaphorik bei Trakl von besonderer Bedeutung ist. Ferner ist aus dieser Sicht die Rolle des Tageszeit-Zyklus und insbesondere des Abend-Schemas zu verstehen: am Abend und in der Nacht kann die himmlische Sphäre am ehesten transparent gemacht (d.h. poetisch evoziert) und damit der gegenseitige Zugang bzw. die ›Kommunikation‹ zwischen beiden Welten ermöglicht werden.
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men mit ihren Ergänzungen – »O, ihr Zeichen und Sterne«, »[…] Weh, ihr goldenen Schauer / Des Todes, / Da die Seele kühlere Blüten träumt« – kehrt sich diese Transparenz symbolisch in Opazität um, die in ihnen vergegenwärtigte Hoffnung wird noch im selben Bild durch den vorweggenommenen Todesuntergang ›verdunkelt‹. An die Stelle der Möven, der weiß aufblitzenden Erinnerungsmomente am dunklen Himmel / Männlicher Schwermut zu Beginn – dies auch ein latenter Hinweis auf den schwesterlich-himmlischen Gegenpol – tritt am Gedichtschluss der nächtliche Vogel des Todes, der über des Mondenen Schritt, über dem weißen Fremdling, dem Kontrahenten des rosigen Menschen schreit. Die Identifizierung des Ichs mit dem Mondenen – dies bleibt in der letzten Phase die einzige Beziehung zwischen Himmlischem und Menschlichem – bedeutet letztlich, dass das tote Licht des Mondes nach der drohenden Verwandlung der Sterne in die Vision kühlerer Blüten und goldener Schauer / Des Todes ganz auf den Fremdling fokussiert und ihn – umschlossen vom schreienden nächtlichen Todesvogel und dem eisigen Wind an den Mauern des Dorfes in der Schlussstrophe – in seiner Mondgleichen Abgeschiedenheit und Isoliertheit gleichsam dem Tod überantwortet. Ähnlich wie in ›Untergang‹ üben Sterne und Mond – ursprünglich gegensätzliche Werte – auch hier die gleiche Funktion auf verschiedenen Ebenen aus. Kaum erkennt das Ich in den Sternen die Zeichen des Todes, wird es bereits vom Mond erfasst und – sich angleichend – in ein entrückt-mondenes Wesen verwandelt. Diese weiße Figur – zugleich ein letzter gleichzeitiger Transparenz- und Opazitätsakt – bildet in der Nacht, wie in ›Untergang‹, nur einen Farb- und keinen Wertkontrast. Der Weg des Mondenen, über dem der Todesvogel singt, das endgültige Anbrechen der Nacht, der eisige Wind und das Hinsinken ins Dunkel familiärer, moralischer Zusammengehörigkeit scheinen gleichermaßen in Abgeschiedenheit und Tod zu münden.22 22
Dieser Prozess trifft selbst dann zu, wenn die Aussage »Groß ist die Schuld des Geborenen« nicht als menschliche Verpflichtung, sondern als Sünde, etwa in Bezug auf das im Gedicht nicht explizit vorhandene BruderSchwester-Verhältnis, gedeutet werden sollte. Trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit könnte man eine solche Möglichkeit auf Grund des Auftaktbildes erwägen, das die Erinnerung ausdrücklich mit dem dunklen Himmel / Männlicher Schwermut verbindet. Würde man der männlichen Schwermut eine besondere Bedeutung zuschreiben, dann wären aus dieser Sicht das ernste Antlitz der Mutter und die »gestrengen Zimmer und das alte Gerät / Der Väter« als negative Haltung gegenüber dem Ich umzudeuten. Diese
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5. ›Untergang‹ und die Folgegedichte in ›Siebengesang des Todes‹ Die vorangehenden Analysen haben gezeigt, dass die Semantik der Gedichte, der Aufbau ihrer Textwelten mit Hilfe der Anfangshypothesen entsprechend beschrieben werden kann. Ähnliches gilt – mit gewisser Akzentverschiebung – auch für die Struktur der unmittelbar anschliessenden Gedichte von ›Untergang‹ im Teilzyklus. Während sich das apokalyptische Grundschema in den analysierten Textwelten überwiegend auf den Prozess des Untergangs beschränkt hat, macht sich in ›An einen Frühverstorbenen‹, ›Geistliche Dämmerung‹, ›Abendländisches Lied‹ und ›Verklärung‹, verstärkt als Kontrapunkt eine poetische Auferstehungs- bzw. Verklärungstendenz bemerkbar. Diese erscheint in verschiedenen Formen, etwa in der Überwindung des Todes im Sinne einer imaginierten Rückkehr in die goldene Zeit in ›An einen Frühverstorbenen‹ oder in einem rauschhaft-visionären Aufbruch, der mondenen Stimme der Schwester folgend, in die ›Geistliche Dämmerung‹ des Sternenhimmels.23 Interessant ist es zugleich zu beobachten, wie sich die frühere Rolle des Mond-Schemas ändert und wie vor allem sein verlockender und verführerischer, magisch-beschwörender oder traumhaft-abgeschiedener Aspekt zur Geltung kommt. 5.1 ›An einen Frühverstorbenen‹: Beschwörung von ›Goldene Wolke und Zeit‹ Die ambivalente Ereignisreihe der Textwelt von ›An einen Frühverstorbenen‹ lässt sich nur stark vereinfacht zusammenfassen. Erinnert wird zunächst an die Kindheit, in der ehemals zwei sanfte Gespielen
23
Erschütterung liesse das Ich in den himmlischen Zeichen und Sternen – es darf nicht vergessen werden, dass die Schwester in Trakls Dichtung häufig mit Sternen- oder mondgleichen Eigenschaften erscheint – seine Schuld erkennen und zugleich die Botschaft der goldenen Schauer des Todes als sein Schicksal lesen. Der Mondene würde zwar auch in dieser Interpretation den Todgeweihten verkörpern, er hätte jedoch hier nicht für seine Schuld gegen die Ahnen, sondern für die gegen die Schwester zu büssen. Eine Kurzanalyse des Gedichts findet sich u.a. in: Károly Csúri: Existenzsphären des Ich. Ein Beitrag zum Aufbau der Gedichtwelten bei Georg Trakl. In: Deutungsmuster, hg. von Hans Weichselbaum/Walter Methlagl, Salzburg/Wien 1996, S. 69–102 und Kemper 1998. Auf Kempers Interpretation wird weiter unten in 28n ausführlicher eingegangen.
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durch den schwarzen Engel des Todes voneinander getrennt wurden. Die beiden Gestalten lassen sich, bezieht man das Geschehene auf das Prinzip der Existenz- bzw. Manifestationsformen des Ichs, auch als die personifizierte Spaltung des Selbst begreifen.24 Der eine kehrt seltsam verpuppt / In seine stillere Kindheit und stirbt, aber er bleibt zugleich – eine metaphorische Abbildung des Mond-Schemas – als silbernes Antlitz … / Lauschend im Laub oder im alten Gestein in dem Garten des Freundes zurück. Das orphische Klagelied des Anderen, das den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches besingt, ertönt im Rauschen des Walds, der inbrünstigen Klage des Wildes und den blauen Glocken des Abends. Später, als dieser an einem herbstlichen Abend die Zeichen des eigenen Todes, die Schatten der Fäulnis im kahlen Geäst und in purpurner Sonne erkennt – Modell des Tagesund Jahreszeiten-Zyklus –, erscheint in seinem Zimmer, gleichsam an Epiphanie gemahnend, der Geist des Frühverstorbenen. Es wiederholt sich dabei die frühere Klage in gesteigerter Form: »O, das Blut, das aus der Kehle des Tönenden rinnt, / Blaue Blume; o die feurige Träne / Geweint in die Nacht«. Diese gleichsam übermenschlich-poetische Anstrengung – das Lied als Blut und feurige Träne, als Überwindung irdisch-menschlicher Grenzen –, ist im Wesentlichen ein gewaltiger Versuch, Kontakt zum ehemaligen Gespielen, zum Geist des Toten, zur stilleren Kindheit des eigenen Selbst wiederherzustellen. Die von diesem unbedingten Willen, von Blut und Träne geschaffene und (formal) umschlossene blaue Blume symbolisiert – als Novalis-Verweis – die romantische Unendlichkeitssehnsucht und dichterische
24
Eine ähnliche Auffassung bezüglich der Spaltung des Ichs vertritt auch Doppler. Er meint, das lyrische Ich »redet sich in der zweiten Person unmittelbar an und konfrontiert sich in vertrautem Umgang und ›trautem Gespräch‹ mit den beiden ihm innewohnenden Seinsweisen: der traumhaften Zeitenthobenheit, die als Abglanz des goldenen Zeitalters erscheint (›Goldene Wolke‹) und dem Verfallensein an die Zeitlichkeit (›Zeit‹)« (Alfred Doppler: Die Stufe der Präexistenz. In: Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg 2001, (= Trakl-Studien, Bd. XXI) S. 44–59. hier S. 55f). Demgegenüber bietet sich im Hinblick auf den Novalis-Bezug – wie oben unternommen – auch eine konträre Leseweise an, die »Goldene Wolke und Zeit« nicht getrennt, sondern in Einheit als Goldene Wolke und (goldene) Zeit versteht. In ihrer ausführlichen Analyse des Gedichts versucht Klessinger vor allem die intertextuellen Bezüge zu Hölderlins Elegie ›Menons Klagen um Diotima‹ hervorzuheben und die ambivalente Hölderlin-Rezeption Trakls darzulegen. Siehe H. Klessinger, S. 115ff.
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Vollendung, die Wunsch-Erfüllung und visionäre Wiedergeburt seelisch-mythischer Kindheit als reinste Poesie. Umso mehr, als in der poetischen Schöpfung der blauen Blume sich mittelbar-motivisch die Kindheitserlebnisse der sanften Gespielen am Rand des bläulichen Brunnens einer paradiesischen Welt – gleich dem blauen Lächeln des in seine stillere Kindheit eingekehrten Freundes – summieren lassen: »Ruhig war unser Schritt, die runden Augen in der braunen Kühle des Herbstes, / O, die purpurne Süße der Sterne«. Dieser pränatale, harmonische Idealzustand, dessen Andenken und Hoffnung im zeitlichen Leben des Ichs durch das im Kreislauf der Tageszeiten ständig präsente silberne Antlitz des Mondes bewahrt und heraufbeschworen wird, wird hier vor allem – sieht man von der Erscheinung des Frühverstorbenen selbst ab – in der blauen Blume und der goldenen Wolke und Zeit zu Beginn der letzten Strophe visualisiert. Vollendet wird die Vision, die Zusammenführung der ehemaligen Gespielen, die Aufhebung der Ich-Spaltung in einer gleichsam realistischen Szene der Begegnung mit dem Toten: »[…] In einsamer Kammer / Lädst du öfter den Toten zu Gast, / Wandelst in trautem Gespräch unter Ulmen den grünen Fluß hinab«. Wie so oft bei Trakl wird auch hier versucht – diesmal anhand des in der Imagination zum Leben erweckten Toten – den Tod durch eine quasi natürliche Rückkehr in die vorzeitliche Existenz zu überwinden. Am Ende von ›Abendländisches Lied‹, nach der bitteren Stunde des Untergangs, konstituiert sich durch die sich strahlend hebenden silbernen Lider der Liebenden die Vision eines aufgehenden Sternenhimmels mit der engelhaft wiedergeborenen eingeschlechtlich-seelischen Kindheit der Menschheit, begleitet vom süßen Gesang der Auferstandenen.25 In diesem Bild manifestiert sich ein Kontrast vom Geburtsakt als Symbol des Todes in ›Geburt‹ und ›Anif‹ und dem Tod als Symbol der Rückkehr in die durch poetischen Gesang und in poetischen Imaginationen erneut zugänglich gewordene, vorzeitlich-schuldlose Existenz in ›An einen Frühverstorbenen‹ und ›Abendländisches Lied‹.
25
Für eine detaillierte Analyse des Gedichts s. Csúri: Poetischer Geschichtsmythos.
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5.2 ›Blaue Blume‹ und poetische Verwandlung in ›Verklärung‹ Wenn es Abend wird, Verläßt dich leise ein blaues Antlitz. Ein kleiner Vogel singt im Tamarindenbaum. Ein sanfter Mönch Faltet die erstorbenen Hände. Ein weißer Engel sucht Marien heim. Ein nächtiger Kranz Von Veilchen, Korn und purpurnen Trauben Ist das Jahr des Schauenden. Zu deinen Füßen Öffnen sich die Gräber der Toten, Wenn du die Stirne in die silbernen Hände legst. Stille wohnt An deinem Mund der herbstliche Mond, Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang; Blaue Blume, Die leise tönt in vergilbtem Gestein.26
Im ›Tagesuntergang‹, verlassen vom blauen Antlitz (Modell des Himmlischen), tut sich in ›Verklärung‹ dem Blick des Ichs, auch hier als Du angesprochen, die nächtliche Himmelswelt auf: In den blauen, gelben und purpurnen Blüten und Früchten himmlischer Gefilde, das heißt in der Sternmetaphorik von Veilchen, Korn und purpurnen Trauben zeigt sich dem Schauenden im nächtigen Kranz, im kosmischen Raum der Nacht der jahreszeitliche Zyklus von Vorfrühling bis Spätherbst. Den Geschehnissen des ersten Teils, vom Titelwort über den Marien heimsuchenden Engel bis zu den sich öffnenden Gräbern, scheinen zum großen Teil biblische Motive wie die Verklärung Christi (Mt. 17,1–9, Mk. 9,2–9, Lk. 9,28–36), die Verkündigung an Maria (Lk. 1,26–38) und das Jüngste Gericht (Hes. 37,12–13, Dan. 12,2 und Offb. 20,13) zugrunde zu liegen. Auch das eigenartige Einheitsbild von Ich und Mond in der zweiten Phase – »Stille wohnt / An deinem Mund der herbstliche Mond, / Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang« – erinnert mittelbar an den mondsüchtigen Jungen aus der Bibel, den Jesus im Anschluss an das Verklärungsmysterium hei26
Siehe HKA I, S. 120.
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len soll (Mt. 17,14–16). Die religiösen Verweise sind wichtige Analogien, aber sie bilden nur den Ausgangspunkt für eine poetische Verwandlung durch das Ich. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, dass die Verklärung bewirkende Instanz, die Stimme Gottes, die in der biblischen Szene aus einer leuchtenden Wolke ruft und in dem Gedicht scheinbar völlig fehlt, durch eine ganze Motivreihe des Singens, einen offensichtlich poetischen Topos, ersetzt wird. Es geht um den kleinen Vogel, der im Tamarindenbaum singt, um den dunklen Gesang, der von Mohnsaft trunken ist, und um die Blaue Blume, die zum Gedichtschluss – statt in der lichten Wolke des Tages – leise in vergilbtem Gestein der Nacht tönt. Das vergilbte Gestein ist zwar nicht eindeutig zu identifizieren, doch ist ein metaphorischer Mond-Verweis recht wahrscheinlich. Diese Möglichkeit lässt sich zunächst durch das Abend-Nacht-Schema erklären, das die gesamte Textwelt umrahmt. Auch die silbernen Hände, in die der Mensch die Stirne legt, deuten darauf hin, dass die Erinnerung an die Toten vom Mond inspiriert wird. Im bereits zitierten Bildkomplex von Mund, herbstlichem Mond und von Mohnsanft trunkenem dunklen Gesang erscheint der Mond auch konkret und spielt darin eine zentrale Rolle. Es könnte das mondene Gestein aus ›Ruh und Schweigen‹, in dem die Stirne nachtet, als Äquivalent des vergilbten Gesteins in einem ähnlichen Kontext wie Stirne und Nacht in Verklärung betrachtet werden. Die biblisch-religiöse Emblematik des Gedichts wird poetisch transformiert: Gott wird vom Ich, die göttliche Stimme vom poetischen Tönen, die erstorbenen Hände eines sanften Mönchs von den silbernen Händen des Ichs, Sonne und Tageslicht von Mond und Sternen der Nachtwelt, die Heilung des Mondsüchtigen von der rauschhaften Hingabe an Stern-, Mond- und Nachtsucht mit purpurnen Trauben abgelöst. Die Gräber der Toten öffnen sich auch nicht vor dem richtenden Gott, sondern erst zu den Füssen des Ichs, sobald es über sie nachdenkt. Die Vereinigung des Poetischen mit dem Nächtlichen und Mondenen, dem Süchtig-Rauschhaften und Melancholischen zeigt, dass Verklärung in dieser Phase offenbar nicht als christliche Verklärung zu deuten ist. Vielmehr handelt es sich um eine dionysisch-poetische Verklärung, um die Metamorphose des Ichs zu einem Schauenden und Halluzinierenden, der die anfänglichen natürlichen und christlichen Elemente – den Gesang des kleinen Vogels, den Mönch, den weißen Engel der Verkündigung oder den nächtigen Kranz der Sterne – in rauschhaft-trunkene, in melancholisch-herbst-
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liche Töne und Gesichte dunklen Gesangs verwandelt. Und doch bildet auch diese dionysische Spielart des Dichterischen nur einen Übergang, der in der abschließenden Vision, in der Transparenz der blauen Blume im leblos anmutenden vergilbten Gestein als Endzustand noch einmal überhöht wird. Um zu verstehen, worum es hier genau geht, soll zunächst auf eine formale Entsprechung zwischen den vorhin zitierten Bildern aus ›Ruh und Schweigen‹ und ›Verklärung‹ aufmerksam gemacht werden. Das Semikolon nach der Zeile »Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein« in ›Ruh und Schweigen‹ verlangt vom Leser formal eine kurze Pause. Auf diese folgt dort unerwartet, wie vorhin ausgeführt, die sonderbar-gemeinsame Lichtepiphanie des strahlenden Jünglings und der Schwester-Erscheinung, die die tödliche Umschließung von herbstlichem Verfall und schwarzer Verwesung in den Augen des Schauenden für einen Augenblick noch zu durchbrechen vermag. Im Unterschied zu den voran gehenden Strophen endet die vorletzte Strophe in ›Verklärung‹ ebenfalls mit einem Semikolon. Ihm folgt auch hier ein unerwarteter Neuansatz; eine selbständige, vom bisherigen Verlauf der Textwelt seltsam abgesonderte Vision: »Blaue Blume, / Die leise tönt in vergilbtem Gestein«. Die gesamte semantische Komplexität des Bildes zu erschließen ist in diesem Rahmen nicht möglich. Angeführt werden deshalb nur die wichtigsten motivischen und intertextuellen Bezüge von Blaue Blume, die allerdings ihre grundlegende Funktion im Gedicht zu klären vermögen. Innerhalb von ›Verklärung‹ wiederholt sich in Blaue Blume das frühere Sternbild der Veilchen in gesteigerter Form. Verstärkt wird der Stern-Bezug auch durch die mögliche Parallele zum Heiligen blauer Blumen in ›Ruh und Schweigen‹ und, um nur ein weiteres Beispiel außerhalb des Teilzyklus zu nennen, zu den himmlischen Blumen der Ahnen, den ernsten Veilchen / Im Abendgrund aus dem Gedicht ›In Hellbrunn‹. Alle drei Metaphern lassen sich als Modelle des Stern- bzw. Sternenhimmel-Schemas ansehen. Über Veilchen und die blaue Farbe stellt die Blaue Blume auch zu der MarienGestalt in Verklärung eine potenzielle Beziehung her und lässt sich als deren motivische Fortführung und poetische Verwandlung interpretieren. Dies umso mehr als in zahlreichen stereotypen Verkündigungs-Darstellungen der Engel mit einer Blume, meist Lilie oder Rose vor Maria erscheint. Zwischen der biblischen Szene und dem Abschlussbild von ›Verklärung‹ besteht offenbar eine strukturelle Ähnlichkeit: es handelt sich um die gleiche Situation mit anderen
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Figuren. Um welche Figuren es dabei geht, soll durch den NovalisHinweis und die motivinternen Beziehungen in ›Siebengesang des Todes‹ festgestellt werden. Vorweggenommen sei hier nur soviel, dass es letztlich das unsichtbare, abstrakte Ich und die metaphorische Schwester-Figur sind, die in diesem Bild an die Stelle des weißen Engels und der Maria treten. Die (hier nur virtuell vorhandene) Lilie als Reinheitssymbol Marias wird durch die Blaue Blume als Symbol romantischer Sehnsucht und Liebe abgelöst, wobei jedoch durch blau und Veilchen, wie schon erwähnt, auch noch ein latenter Marien-Bezug bewahrt bleibt. Nun soll die textimmanente Grundlage solcher Assoziationen bzw. Entsprechungen etwas genauer betrachtet werden. Einerseits ist die blaue Blume als Novalis-Motiv zu einer wichtigen Komponente von Trakls eigener Poesie geworden, wie dies die Gedichte ›Ruh und Schweigen‹, ›An einen Frühverstorbenen‹ und ›Verklärung‹ bereits im ersten Teil von ›Siebengesang des Todes‹ bezeugt haben. Ihre Funktion als zeitlos-poetischer Gesang kommt – neben ›An einen Frühverstorbenen‹ – vor allem in der praktisch zeitgleichen 2. Fassung (a) von ›An Novalis‹ auch explizit zum Ausdruck:27 »Eine blaue Blume / Fortlebt sein Lied im nächtlichen Haus der Schmerzen«.28 Zum anderen verweist die blaue Blume offensichtlich und insbesondere auf das Romanfragment ›Heinrich von Ofterdingen‹ selbst. Dort verwandelt diese sich im ersten Traum Heinrichs in einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte, das er später einmal, wiederum träumend, mit seiner Liebe, Mathilde identifiziert. Der Mathilden-Verweis, wie auch das frühere Marien-Bild der blauen Blume, wird in Trakls reifer Dichtung oft in die imaginär-schwebende, geistlich-engelhafte, im himmlischen Blau, im Sternhaften oder im Mondenen aufgelöste, poetisch-visionäre Sehnsuchts- und Erlöserfigur der Schwester überführt. In diesem Sinne erweisen sich die beiden Schlußverse von ›Geistliche Dämmerung‹ in vereinfachter Form als eine Art Paraphrase der letzten Strophe von ›Verklärung‹. Die »Blaue Blume / Die leise tönt im vergilbten Gestein« stellt eine verkürzte und verschlüsselte Variante der 27
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Siehe dazu H. Zwerschina. Zwerschina verwendet als Datierungshilfe auch das Motiv blaue Blume, das im Gesamtwerk Trakls insgesamt neunmal vorkommt. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass alle Gedichte, die das Motiv enthalten, zwischen September und Dezember 1913 entstanden sind (vgl. H. Zwerschina, S. 111). S. HKA I, 325.
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Formulierung »Immer tönt der Schwester mondene Stimme / Durch die geistliche Nacht« dar.29 Der Schwester-Imagination scheinen in beiden Fällen die Kombination des Sternenhimmel- und Mond-Schemas sowie der Mathilden-, Marien- und Poesie-Bezug zugrunde zu liegen. Mit gewisser Akzentverschiebung entspricht dieses Bild motivisch auch der Lichtepiphanie am Ende von ›Ruh und Schweigen‹, wo der strahlende Jüngling und die Schwester getrennt und doch einheitlich als sternhaftes Phänomen in mondenem Gestein nächtlichen Himmels erscheinen. Besonders überzeugend ist die strukturelle Analogie zwischen den Schlußbildern der Trakl-Gedichte und dem Verwandlungsbild der blauen Blume am Ende von Heinrichs erstem Traum im Roman. In ›Heinrich von Ofterdingen‹ heisst es:
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Anhand seiner Analyse von ›Geistliche Dämmerung‹ (2. Fassung) führt Kemper überzeugend aus, warum das Gedicht nicht im Sinne christlicher Frömmigkeit gelesen werden kann, warum es im Kern sogar eher als »antichristlich« zu bezeichnen ist. Der Grund dafür ist leicht einsehbar: Nicht Christus, sondern die »Schwester« ist die Erlöserfigur und die Entgrenzung erfolgt im Medium des Rausches (s. H-G. Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II: um 1900, hg. von Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch, Padeborn – München – Wien – Zürich 1998, S. 141–169, hier S. 158). Anschliessend setzt sich Kemper mit der ›nietzscheanischen‹ Dimension des Gedichts auseinander und konfrontiert dabei »die apollinische Begrenzung der beiden Eingangsstrophen« mit der »daraus zugleich entbundenen Gegenbewegung des dionysisch-trunkenen Ichs« (H-G. Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 158). Seine Schlussfolgerung lautet: »Das ›Lunarische‹ der schwesterlichen Stimme verleiht dem durch sie beschworenen Mysterium der Androgynie einen dieses zugleich gefährdenden, verlockend-sirenenhaften Klang, entbindet die Sehnsucht nach narzißtischer Verschmelzung, anstatt sie ins ›Geistliche‹ zu spiritualisieren« (H-G. Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 159). Bei der Erklärung der Schlussstrophe von ›Verklärung‹ werden die letzten Zeilen von ›Geistliche Dämmerung‹ als Interpretationshilfe verwendet. Unter dem gewählten Aspekt erleichtert zwar dieser Vergleich die Deutung des Schlussbildes, doch macht Kempers Auslegung darauf aufmerksam, dass sich die Blaue Blume nicht in jeder Hinsicht problemlos durch die mondene Stimme der Schwester ersetzen lässt. Zu betonen ist daher, dass Verklärung, trotz latenter Entsprechung, offenbar nicht mit der immer tönenden mondenen Stimme der Schwester, sondern – ausdrücklich – mit der leise tönenden Blauen Blume in vergilbtem Gestein endet. Da die Bilder nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch wesentliche Abweichungen aufweisen und die beiden Gedichte auf diese Weise nur entfernt miteinander verwandt sind, ist auch Kempers Analyse von ›Geistliche Dämmerung‹ nicht direkt auf ›Verklärung‹ zu beziehen bzw. zu übertragen.
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Endlich wollte er sich ihr [der blauen Blume, K.Cs.] nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte […]30
Ähnlich erscheint in ›Ruh und Schweigen‹ das Lichtphänomen des strahlenden Jünglings und der Schwester im »Kragen« mondenen Gesteins, ähnlich tönt in ›Geistliche Dämmerung‹ der Schwester mondene Stimme, umgeben von der geistlichen Nacht und ähnlich wird in ›Verklärung‹ die leise tönende Blaue Blume, umrahmt von vergilbtem Gestein, transparent. Die Imagination, bezogen auf das zarte Gesicht im blauen ausgebreiteten Kragen des Novalis-Romans und die beiden früheren Gedichte Trakls mit der Schwester-Figur, beschwört in ›Verklärung‹ als leise tönende Blaue Blume die verklärte Vision der Schwester, ihr blumen- und sternhaftes, himmlisch-vergeistigtes, Marien- und Mathildenhaftes, transzendent-seelisches Wesen herauf und verbildlicht zugleich, unausgesprochen, die ewig-romantische Sehnsucht und Liebe des poetisch-verklärenden Ichs zu dieser.31 Diese poetische Verklärung, will man sie genauer bestimmen, steht dem orphischen Gesang am nächsten. In diesem vereinigt sich »die Duplizität des Apollinischen und Dionysischen«. Es verschmilzt das »anschauliche Bild mit der unbildlichen Musik« und die »selbstvergessene 30 31
Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Novalis Werke, hg. und kommentiert von Gerhard Schulz, 4. Auflage, München 2001, S. 132. Anhand der Relevanz der Schwester-Figur im Teilzyklus soll auf den wichtigen Aufsatz von Kemper hingewiesen werden, in dem er das Verhältnis der Person der Schwester zum Werk – weit über einen unangemessen reduzierenden Biographismus hinaus – theoretisch zu fundieren sucht. Er stellt dabei fest: »Wenn Trakl … in der Poesie das Motiv der ›Schwester‹ so auffällig oft und mit sexuellen Konnotationen thematisiert, dann konnte er sich möglicherweise auch nur in der Form der Poesie über dieses Verhältnis und dieses in der Gesellschaft, nicht aber in der Literatur tabuisierte Thema äußern, dann brauchte er sein Werk also als Mittel der Selbstthematisierung und Selbstdeutung, vielleicht sogar auch – im Schutz der dazu geschaffenen ›Unpersönlichkeit‹ und des l’art pour l’art – als Instrument der Konfliktverarbeitung und Selbsttherapie.« (S. H-G. Kemper: Georg Trakls ›Schwester‹. Überlegungen zum Verhältnis von Person und Werk. In: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992, S. 77–105, hier 85f) Da Kemper nur ›Ruh und Schweigen‹ und ›Geistliche Dämmerung‹ aus dem Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹ unter diesem Aspekt untersucht, so könnten die hier – aus textwissenschaftlicher Perspektive – durchgeführten Analysen seine Beobachtungen zur Schwester-Problematik in mancher Hinsicht ergänzen und unterstützen.
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Grenzenlosigkeit der Vision« wird »in die Form des Liedes« gefaßt.32 Und doch bleibt diese Charakterisierung zu allgemein und trifft auf das Spezifische Traklscher Dichtung wenig zu. Dieses Spezifikum, dessen Ausformung in diesem Fall das scheinbar ganz einfache, in Wahrheit jedoch äusserst komplexe und schwerverständliche Schlussbild von ›Verklärung‹ bildet, liegt offensichtlich in der Eigentümlichkeit, wie mittels Traklscher Konstruktionsprinzipien, motivischer und intertextueller Struktur-Vernetzungen, sowie metaphorischer Abbildungen, fein strukturierte, semantisch unerschöpfliche und doch systematisch geordnete Welten etabliert und zugleich ›aufgezeigt‹ werden können.
6. Zyklische ›Überschreibung‹ der Einzelstrukturen Nicht nur die untersuchten Gedichte, auch der zweite Teil von ›Siebengesang des Todes‹ lässt sich mittels Schemastrukturen hinreichend kennzeichnen. Weitere Textbeispiele aus der zweiten Hälfte des Teilzyklus sollen diese Annahme unterstützen. Das Gedicht ›Föhn‹ kann für sich und auch in Bezug auf die vorangehende ›Verklärung‹ gelesen werden. Während ›Verklärung‹ mit einer aus dionysisch-dunklem Gesang herauswachsenden poetischen Vision eines Orpheus, mit der Transparenz des Sternenhimmels als leise tönende Blaue Blume endet, mündet Föhn in eine schrille Klangdissonanz und apokalyptisches Todesgrauen: »Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe«. Mit dem Bild schliesst ein Prozess, der Anfang und Ende der Textwelt miteinander verbindet: Die Kindheit mit ihren leise verhallenden Schritten zu Beginn wird am Schluß der endgültigen Zerstörung überantwortet. Der Vorgang, strukturell mit ›Geburt‹ verwandt, manifestiert sich auch hier in den Schemakombinationen der Abenddämmerung und Winterzeit, das heißt in der absteigenden Phase des Tages- und Jahreszeitenzyklus. Im Hintergrund des Untergangs und Bestattungszeremoniells, geformt aus Klage und Klagegestalt / Der Mutter, langem Abendgeläut, Tränen und schweigender Trauer, herrscht die Bildlichkeit von Mondenem und Sternhaftem vor: mon32
Siehe dazu A. Doppler: Orphischer und apokalyptischer Gesang. Zum Stilwandel in der Lyrik Georg Trakls. In: Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg 2001, (= Trakl-Studien, Bd. XXI) S. 15–43, hier S. 17.
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dene Wintertage, weiße Nacht, purpurne Träume und nächtlichfeurige Engel. Die Metaphorik des Gedichts erscheint insgesamt ambivalent und zeigt eine doppelte Perspektivierung, die neben dem Verlauf mittelbar auch die Begründung des Untergangs enthält. Demnach sind die Nächte in den Träumen des Ichs von Tränen und feurigen Engeln, das heißt von Schmerz und drohender Strafe, von Schuld und imaginierter Sühne, bestimmt. Somit erweist sich das zwiespältige Ich zugleich als Leidender und Verursacher des eigenen Leidens, als Verlierer und Vernichter der eigenen mythisch-unschuldigen Kindheit. Im Gedicht ›Der Wanderer‹ spielt der Sichelmond die Hauptrolle, der in weißer Nacht und in rosiger Schlucht – beide fungieren hier als Modelle des Sternenhimmel-Schemas – erscheint und den globalen Verlauf der Textwelt festlegt. Sein erstorbenes Antlitz, das dem Knaben folgt und immer wiederkehrt, am Ende auf schwarzem Gondelschiffchen durch die verfallene Stadt schaukelt, schafft motivische Parallelen in und außerhalb des Teilzyklus – etwa zu ›Elis‹, ›Untergang‹, ›Geistliche Dämmerung‹, ›Siebengesang des Todes‹ und ›Abendland‹ – und nimmt auch einen wichtigen strukturellen Aspekt des ›Passions‹Gedichts vorweg. Der gegensätzliche Kontext von rosiger Schlucht und traurigen Wassern deutet auf eine Doppelfunktion hin: Der tägliche Kreislauf des Mondes beschwört hier, gegenüber vielen anderen motivischen Varianten im Zyklus, eine archaische Welt mit preisenden Hirten und blühendem Wind herauf. Die Erinnerung an diese mythische Zeit der Unschuld wird dann durch seinen Untergang immer wieder vernichtet und in eine neue Zeit schuldhafter Existenz überführt. Im Modell der zyklisch-ewigen Wiederkehr des Mondes ist, in ›Der Wanderer‹ noch unausgesprochen und unsichtbar, die latente Gegenwart der Schwester-Figur in den Reflexionen des Ichs zu vermuten, die als Transparenzerscheinung auf diese mittelbare Weise zur ständigen kosmisch-himmlischen Begleiterin seiner irdischen Laufbahn wird. In ›Passion‹ (3. Fassung) imaginiert der Orpheus-Bruder die tote Eurydike-Schwester sowohl mit der Kraft von Musik und Gesang als auch durch das Transparentmachen der kosmischen Erscheinungen und Prozesse des Tageszeiten-Zyklus.33 Gleichzeitig mit 33
Für die Analysen von ›Passion‹ siehe u.a. E. Lachmann, S. 96ff, Walter Killy: Über Georg Trakl, Göttingen 1960, S. 21ff, Richard Detsch: Georg Trakl’s Poetry. Toward a Union of Opposites, University Park and London 1983, S. 5ff, Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie, Tübingen 1985, S. 373,
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der Abenddämmerung, dem Sonnenuntergang und dem Mondaufgang wird die Schwester als himmlisch-mondenes Wesen, als »[…] zarter Leichnam … / Schlummernd in seinem hyazinthenen Haar« und als Mond-Metapher in der Figur der Büßerin vergegenwärtigt. Der zyklische Ablauf der Tageszeitenwechsel, der sich täglich wiederholende Mondaufgang, sichert zwar ihre ewige Wiederkehr für den Bruder, doch bleibt diese Wiederbegegnung am Tritonsteich oder in der steinernen Stadt durch die Trennung kosmisch-himmlischer und irdisch-menschlicher Sphäre nur eine virtuelle Heimkehr der Schwester aus der Schattenwelt, eine sich immer neu entfaltende poetische Imagination des Bruders. Letztlich geht es auch in diesem Fall um ihre seelische Vereinigung und androgyne Einheit, die sich unter anderem auch in sprachlichen Neutra wie Totes, Ruhendes bzw. Äugendes und blaues Wild bezüglich der Schwester und des Bruders gleichermaßen verwirklicht. In ›Winternacht‹, dem Abschlussgedicht von ›Siebengesang des Todes‹, vereinen sich nicht nur die wichtigsten Grundmotive des Teilzyklus, von hier aus lässt sich im Rückblick auch ein klarer Bogen zum Auftaktgedicht ›Ruh und Schweigen‹ schlagen. Der Band ›Sebastian im Traum‹ stellt als Ganzes, stark vereinfacht, den virtuellen Lebensweg des leidenden Sebastian aus der Kindheit in die Abgeschiedenheit bzw. Umnachtung als einen (Alb)Traum dar, in dem die Hauptfigur vom ständigen Spannungsverhältnis zwischen Köper und Seele bzw. Schuldgefühl und Wille zur Sühne bestimmt wird. Diese innere Spaltung des Ichs wird – vor allem mittels der medialen Schema- und Bildstrukturen des Tages- und Jahreszeiten-Zyklus – meist als Einheit und Gegensatz von Individuellem und Allgemeinem, Irdisch-Menschlichem und Kosmisch-Himmlischem, Historischem und Mythischem, Profanem und Religiösem, Vergangenheit und Gegenwart, Leid und Erlösung oder Tod und Wiedergeburt deutlich. Obwohl der imaginierte Tod und seine Überwindung, die unerlöste Schuld und die erlöste Rückkehr in den Zustand ursprünglicher bzw. zurück gewonnener seelisch-metaphysischer Unschuld jeden Teilzyklus und nahezu jedes Gedicht charakterisiert, werden der endgültige Untergang – bzw. seine Aufhebung als Vor- und Übergangszustand – zur Auferstehung und mystischen Wiedervereinigung mit der verloWerner Oberthaler: Kritische Moderne und Ästhetik des Gesamtkunstwerkes am Beispiel von Georg Trakls Gedicht ›Passion‹ (Diplomarbeit), (im Manuskript), Innsbruck 1990, H-G. Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 160 und K. Csúri: Über die Prinzipien.
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renen paradiesisch-himmlischen Heimat als zugespitzte Varianten vor allem im zyklischen Abschnitt ›Siebengesang des Todes‹ thematisiert. Der Titel ›Winternacht‹, in dem sich die Endphasen des Tages- und Jahreszeiten-Zyklus vereinigen, deutet schon formal eine letztmögliche Steigerung des Todesuntergangs an. Es finden sich zwar Einzelmotive und Motiv-Kombinationen des Winterlichen und Nächtlichen auch in anderen Gedichten des Teilzyklus, aber keine andere Textwelt wird in ähnlichem Maße allein und ausschließlich vom Winter, eigentlich von den verschiedenen Komponenten des Winter-Schemas, beherrscht. Die Handlung setzt nach Mitternacht ein. In Eis, Schnee und Frost findet ein nächtlicher Spaziergang des von purpurnem Wein Betrunkenen statt, der in dessen Phantasie zur Auseinandersetzung mit dem Tod, als Stürmen einer schwarzen Schanze mutiert und schließlich, nachdem der kühle Leib im silbernen Schnee hinschmilzt, im schwarzen Schlaf endet. Als Kontrapunkt des imaginierten Todesuntergangs wird die Geschichte jedoch – eine modellhafte Abbildung des apokalyptischen Narrationsschemas – mit einem symbolischtransparenten Auferstehungsbild des Sonnenaufgangs abgeschlossen: »Beim Erwachen klangen die Glocken im Dorf. Aus dem östlichen Tor trat silbern der rosige Tag«. Die strukturelle Ähnlichkeit mit den Schlußbildern von ›Ruh und Schweigen‹, ›Geistliche Dämmerung‹, ›Verklärung‹ und ›Passion‹, in denen immer wieder verschiedene konkrete Modelle des Abenddämmerungs- und Sternenhimmel-Schemas als mögliche Hinweise auf Todesuntergang und Auferstehung miteinander kombiniert werden, lässt sich nicht übersehen. Der Weg, der zu Beginn von ›Winternacht‹ aus dem dunklen Bezirk der Menschen in Kälte und Finsternis führt, verhärtet sich im Verlauf der Textwelt immer mehr. Auch das Ich wird von diesem Prozess erfasst: sein Antlitz und seine Schritte versteinern, seine Stirne erbleicht vor der Wollust des Frostes. Das Militärische von Schanze, Stürmen und Avanti suggeriert einen sonderbar-rauschhaften Angriff auf den Tod, das schwarze Unbekannte der Nacht. Der Kampf steht allerdings von Anfang an im Skopus von »Bitterer Schnee und Mond« und von Sternen, die sich zu bösen Zeichen zusammenschliessen. Auch dabei zeigt sich in der negativen Rolle des Mond- und Sternbildes eine enge Parallele zu ›Anif‹ und ›Untergang‹. Es fällt auf, dass der Verhärtungs-und Sterbe-Prozess des Ichs nicht allein mit Winter und Frost zu erklären sind. Vielmehr wird die Versteinerung seines Antlitzes auf ein Lächeln voll Trauer und Hochmut, das heißt auf sein inneres Wesen, zurückge-
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führt. Die Entsprechung zu den von Tränen, feurigen Engeln erfüllten Nächten in ›Föhn‹ ist offenbar: das zwiegespaltene Ich scheint auch hier – dies manifestiert sich in der Ambivalenz von Trauer und Hochmut – selbst der Leidende und der Verursacher des Leidens zu sein. Nur diesmal geschieht das in gesteigerter Form: Das schuldhafte Ich wird nicht mit der Zerstörung seiner seelisch-metaphysischen Kindheit, sondern mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod konfrontiert. Eine zugespitzte Variante des gespaltenen Selbst ist im sonderbaren Bild: »Ein roter Wolf, den ein Engel würgt« zu beobachten. Als würde hier die göttliche Strafe gegen das hochmütig-sündige Ich, den roten Wolf, durch den alttestamentarischen Würgeengel34 – in ›Föhn‹ als feurige Engel präsent – das seelisch-traurige Ich – selbst ausgeführt. Das Schuldproblem des Ichs, das im Bisherigen nur zu vermuten war, wird in den intertextuellen Bezügen der Bildlichkeit bald unmissverständlich erkennbar: »Ein weißes Sternenhemd verbrennt die tragenden Schultern und Gottes Geier zerfleischen dein metallenes Herz«. Der frühere Hochmut am versteinerten Antlitz wiederholt sich hier verstärkt als metallenes Herz, die frostige Winterlandschaft, die bösen Zeichen der Sterne und der Würgeengel als Varianten tödlicher Drohung steigern sich nun zu einer biblischen und mythologischen Passion mit Christus- und Prometheus-Zügen. Aus der Sicht der Zwiespältigkeits-Problematik können Christus und Prometheus, trotz grundlegender Unterschiede, als Projektions- oder Transparenz-Figuren des Ichs angesehen werden. Einerseits identifiziert sich das Ich in seiner Leidensrolle mit dem Kreuz tragenden Christus und dem täglich furchtbare Qualen erleidenden Prometheus. Zum anderen ist er mit seinem Hochmut und metallenen Herzen ein prometheisch-aufrührerisches, sich dem Göttlichen widersetzendes Wesen. Es muss allerdings auch gesehen werden, dass sich Christus und Prometheus, auf einer anderen Ebene, als Gegenfiguren des Ichs erweisen. In ›Winternacht‹ geht es nicht um eine Bestrafung durch die Menschen, sondern umgekehrt. Über das Ich wird Gottes Strafe verhängt: Ein weißes Sternenhemd – Modell des Sternenhimmel-Schemas – 34
Vom Gedichtkontext ausgehend, könnte es sich um einen Hinweis auf den Engel Jahwes handeln, der das belagerte Jerusalem wunderbar rettet (vgl. 2Kg 19,35). Diese Annahme scheint auch die Bitte zu rechtfertigen, wonach der »Herrscher im Himmel« auch jetzt »einen guten Engel« vorausschicken möge, der bei den Feinden »Furcht und Schrecken verbreitet« (s. 2M, 15,22).
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verbrennt die tragenden Schultern. An der mythologischen Figur des Prometheus nimmt Zeus deswegen Rache, weil er entgegen seinem Willen die Menschheit rettet. Demgegenüber zerfleischen Gottes Geier, anders als bei Prometheus, ausdrücklich das metallene Herz des Ichs, seine schuldhafte Gefühls- und Mitleidlosigkeit. Dieser Zusammenhang erhärtet die frühere These: Das Ich ist zwar eine leidende Figur, aber der Grund für sein Leiden scheint die eigene Schuld, sein eigenes Wesen, zu sein. Deshalb verschliesst sich vor ihm auch das Göttliche, der Sternenhimmel der Hoffnung, deshalb bleiben seine Sphäre die harte Erde, der schwarze Frost und die schwarze Schanze des Todes, und deswegen geht das erbleichende und versteinerte Ich immer mehr in einen leblosen Zustand über. Doch zeichnet sich gleichzeitig auch eine Gegentendenz ab, die sich zunächst im Lächeln voll Trauer, dann in der Alternative bemerkbar macht, dass sich die Stirne, die vor der Wollust des Frostes erbleicht, schweigend über den Schlaf eines Wächters neigt, der in seiner hölzernen Hütte hinsank. Beide Bilder drücken Traurigkeit, Mitgefühl und Willen zur Buße aus. Während das leibhaftige Ich durch Frost und Versteinerung, Verbrennen der tragenden Schultern und Zerfleischen des metallenen Herzens, das stille Hinschmelzen des kühlen Leibes und den schwarzen Schlaf stufenweise dem Tod überantwortet wird, setzt sich die virtuelle Gegenbewegung auch über den Tod hinaus fort: Parallel zu dem schwarzen Schlaf folgt das Ohr lange den Pfaden der Sterne im Eis, das heißt, das seelische Ich wendet sich den Sternen, der Hoffnung, dem Himmlischen zu. Auf diese Weise fügt sich die abschliessende Sonnenaufgangs- und Auferstehungsszene als Transparenzakt, trotz ihrer gleichzeitigen Kontraststellung zur leblos-frostigen Winterlandschaft, durchaus kohärent in die umfassende Struktur der Textwelt ein. Insbesondere auch deshalb, weil das Leiden, die Schmerzens-Eigenschaft des Ichs von früher, unmittelbar und gleichsam auf natürlich Art mit der Auferstehung vom Tod am Ende des Gedichts verknüpft werden kann. Hinzu kommt auch, dass der Tod, das stille Hinschmelzen des kühlen Leibes ausdrücklich am steinernen Hügel – ein Hinweis auf Golgatha und Christi Tod – erfolgt und damit die Auferstehung als Schlußbild auch aus biblischer Sicht begründet wird: Sie kann in diesem Kontext als eine Art Imitatio Christi begriffen werden. Die Auflösung des irdischen Leibes und die Wiedergeburt der Seele sind eng mit dem Rausch verbunden, dessen Stärkung und Schwächung wiederum der Schemastruktur des Tages- und Jahreszeitenzyklus, ge-
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nauer dem Nacht- und Winterschema folgt. Am Gipfelpunkt desselben, im schwarzen Schlaf, findet der endgültige Untergang statt. Aus dem Rausch erwachend werden nunmehr Tag und Seele zu neuem Leben erweckt. Rausch und Rauschhaftes, wie teilweise bereits ausgeführt, kennzeichnet nicht allein ›Winternacht‹, Entsprechungen im Teilzyklus gibt es auch in ›Geistliche Dämmerung‹, ›An einen Frühverstorbenen‹ und ›Verklärung‹. Umgekehrt findet sich kein eindeutiger Hinweis auf die Anwesenheit der Schwester in ›Winternacht‹, obwohl dies zu erwarten wäre, da ihre Figur sonst, direkt oder verborgen, in mehreren anderen Gedichten von ›Siebengesang des Todes‹ erscheint oder indirekt nachzuweisen ist. Aufgrund der zyklischen Betrachtungsweise fragt man sich immerhin, ob der rote Wolf, das metallene Herz, der Hochmut, die sich zu bösen Zeichen schliessenden Sterne und das versteinerte Antlitz als negativer Aspekt des Ichs nicht allein im Lichte des Schwestern-Bezugs des Ichs sinnvoll interpretiert werden können. Ebenso scheint der büßend-positive Aspekt des Ichs, das Lächeln voll Trauer, der Würgeengel und das Ohr, das am Ende erneut den Pfaden der Sterne folgt, auf die ständige, virtuelle Präsenz der Schwester in der Welt des Ichs hinzudeuten. Akzeptiert man eine solche Deutung, dann lässt sich auch Winternacht – stark vereinfacht – auf der Folie der angedeuteten Oberflächen-Motive – grundsätzlich als eine gleichzeitige Todes- und Auferstehungs-Imagination des zwiespältigen Ichs in Hinblick auf sein schuldhaft-sühnendes Verhältnis zur Schwester-Figur lesen. Abschliessend soll noch die Frage über den Zusammenhang von Einzelstruktur und zyklischer Struktur auch in Bezug auf ›Siebengesang des Todes‹ gestellt werden. Es handelt sich darum, ob und wie weit die bisherigen Erklärungen von Trakls Gedichten unter dem zyklischen Systemzwang modifiziert werden müssen. Veranschaulicht werden die möglichen Änderungen am Beispiel der Mond- und Stern-Schemata wie auch ihrer metaphorischen Abbildungen. Die zyklische Zusammengehörigkeit hat in verschiedenen Gedichten wahrscheinlich gemacht, dass das Mondene, neben seiner vielschichtigen semantischen Rolle in der Einzelstruktur, auch als himmlische Projektions-Figur der Schwester angesehen werden kann. Akzeptiert man diese Referenz-Erweiterung, dann lässt sich zum Beispiel das Bild »Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein« aus ›Ruh und Schweigen‹ auch als Vorstufe androgyner Vorstellung, namentlich der gemeinsamen Lichtepiphanie von Jüngling und Schwester deuten.
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Auch könnte man erwägen, unter diesem Aspekt des Mondenen Schritt in ›Anif‹ nicht nur in Richtung Abgeschiedenheit und Tod, sondern zugleich auch als einen virtuellen, traum- und rauschhaften Weg zur imaginär-mondenen Schwester zu erkennen. Wenn die Schwester im Mondenen (und Sternhaften) für das Ich, Jüngling oder Bruder, oft transparent wird und der Weg, auch wenn durch den Tod, immer wieder zu ihr und somit ins Himmlische führt, dann ist aus dieser Sicht auch die scheinbar paradoxe Richtung des ›aufsteigenden‹ Untergangs, gen Mitternacht als höchster Punkt auf dem Ziffernblatt irdisch-kosmischen Uhrwerks, besser und widerspruchsfreier zu verstehen. Insbesondere auch deshalb, weil in der Textwelt grundsätzlich das Mondene vorherrscht: Den Übergang in die Mitternachts-Welt repräsentiert der schaukelnde, beiden Sphären angehörende, silbernmondene Kahn, der mittelbar die Bewegung des Ichs bestimmt. Zugleich muss aber hinzugefügt werden, dass es nicht einmal innerhalb des Zyklus Fixpunkte der Referenz gibt: Der Mond erweist sich nur dann als mögliches Modell des Schwester-Bezugs, wenn eine solche Erklärung durch besagtes Gedicht als Ganzes und – durch zyklische Zusammenhänge – gemeinsam begründet wird. Außer der Schwester können nämlich auch andere Figuren mondene Eigenschaften annehmen. Man denke nur an die mondenen Augen des Knaben Elis, an den bleichen Menschen in blauem Kristall in ›Ruh und Schweigen‹, an die steinerne Greisin in ›Geburt‹, an das silberne Antlitz des Freundes in ›An einen Frühverstorbenen‹ oder an das / den Mondene(n) in ›Anif‹. Umgekehrt ist die Schwester in den Augen des Ichs nicht nur mit dem Mond verbunden. Sie wird – etwa im Heiligen blauer Blumen und im strahlenden Jüngling in ›Ruh und Schweigen‹, in der Blauen Blume von ›Verklärung‹ und den sich strahlend hebenden silbernen Lidern in ›Abendländisches Lied‹ – oft auch als sternhaft-himmlisches Wesen imaginiert. In verschiedenen Varianten des Stern- und des Sternenhimmel-Schemas können wiederum neben der Schwester auch andere Figuren transparent werden, von den Ahnen bis zu den Enkeln, von der kristallnen Kindheit in ›Die Heimkehr‹ bis zu Gottes goldenen Augen in ›Psalm‹. Dies zeigt, dass es offenbar keine eindeutigen Entsprechungen zwischen den Mond- und Stern-Motiven bzw. den verschiedenen Textwelt-Figuren gibt, die zumindest im untersuchten Teilzyklus allgemein gültig wären. Andererseits ist die Möglichkeit dieser Beziehung selbst, die ständige (synchrone wie diachrone) Verknüpfung und die gegenseitige Einbeziehung des Menschlichen in die
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kosmisch-himmlische und die des Kosmisch-Himmlischen in die menschliche Sphäre, wie sie vor allem mittels der Zyklus-Schemata der Tages- und Jahreszeiten, der Transparenzakte, des apokalyptischen Narrationsschemas und der zwiespältigen Selbstinszenierungen, der verschiedenen Maskenrollen des Ichs als Vermittlungsstrukturen vom Rezipienten durchgeführt wird, von grundlegender Bedeutung. Diese Mechanismen machen es möglich, dass in den jeweiligen Raumstrukturen Zeitabschnitte mythischer wie jüngster Vergangenheit, apokalyptischer Gegenwart und utopischer Zukunft gleichermaßen und gleichzeitig heraufbeschworen oder vorweggenommen werden können. Es wird schließlich, wie dies zum Teil auch die Einzel- und zyklische Strukturen von ›Siebengesang des Todes‹ verdeutlicht haben, auch auf diese Weise erreicht, dass das Menschliche zugleich als Irdisches und Himmlisches, als Körperhaftes und Seelisches, als Gespaltenes und Vereinigtes, als Vorfahr und Enkel, als Bruder und Schwester oder – mythisch-, biblisch-, literarisch- bzw. biographischintertextuell – als Orpheus und Eurydike, Christus und Prometheus, Christus und Maria, Heinrich und Mathilde, Novalis und Sophie bzw. Trakl und Grete erscheint und zur Komponente eines sonderbar-systematisch gebauten autonomen Universums poetischer Fiktion wird.
Intensität statt Hermetik
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Stephan Jaeger Intensität statt Hermetik: Zur Theorie von Textbewegungen in Trakls Lyrik am Beispiel der Gedichte ›Siebengesang des Todes‹ und ›An die Verstummten‹
I. Als hermetisch wird ein Gedicht bezeichnet, wenn der Interpret oder die Interpretin dessen Sinn nicht entziffern kann, dieses als unverständlich, nicht-mimetisch, rätselhaft oder geheimnisvoll empfindet. Hermetische Texte erschaffen eine eigene Welt, die von außen nicht erschließbar zu sein scheint. Dieses fordert die Interpreten entweder dazu heraus, eine möglichst kohärente Sinnschicht zu dekodieren, oder ausschließlich das Verfahren der Texte, die Art und Weise ihrer Konstruiertheit, zu analysieren. Beide Wege führen zu Polarisierungen: zwischen Kontext und Text, zwischen Sinn bzw. Referenz und Unlesbarkeit, zwischen Inhalt und Form. Auch in der jüngeren Literaturwissenschaft werden Gedichte, die sich gegen ihre Entzifferung sperren, oft ohne größere poetologische Reflektion als ›hermetisch‹ bezeichnet. Trotz einzelner weiterführender Versuche in der Forschung1 bleibt Hermetik vorwiegend ein negatives Attribut, das Nicht-Verstehen kennzeichnet. 1
Siehe zum Beispiel Thomas Sparr: Celans Poetik des hermetischen Gedichts, Heidelberg 1989, (Probleme der Dichtung 21); Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur: Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne, Tübingen 1994, (Studien zur deutschen Literatur 134); Ewout van der Knaap: Das Gespräch der Dichter. Ernst Meisters Hölderlin- und Celan-Lektüre, Frankfurt a.M. u.a. 1996, (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 57). Überblicke zum Begriff der Hermetik finden sich bei Stephan Jaeger: Hermetik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 32004, S. 257; Moritz Baßler: Hermetik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. von Harald Fricke, Berlin/New York 2000, S. 33–35; und vorwiegend als ein historischer, auf moderne Lyrik bezogener Rückblick bei Gerhard Kurz: Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945. In: Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, hg. von Nicola Kaminski, Heinz J. Drügh und Michael Herrmann, Tübingen 2002, (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 113) S. 179–197.
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Die Hermetik von Trakls Lyrik ist auch bis in die jüngste Forschung ein immer wieder thematisiertes Phänomen. Die Forschung scheint nicht über eine klassische Zweiteilung des Verstehens und Nicht-Verstehens, zwischen Sinnzuweisung und Destruktion jeder sinnhaften Interpretation hinwegzukommen. Selbst diejenigen Ansätze, die es versuchen, werden umgehend dem einen oder dem anderen Camp zugeordnet. Peter von Matt hat dieses folgendermaßen beschrieben: Der Leser von Trakls Lyrik wird unablässig zu zwei Verstehensweisen gezwungen: erstens zur »sekundäre[n] Bearbeitung des Textes zu einem homogenen Sinnzusammenhang«, zweitens zur »Leugnung jeglicher durchgehenden Bedeutungsstruktur: die Definition des Textes als reine Montage oder lyrisch-musikalisches Arrangement«.2 Beim zwangsläufigen Scheitern eines Weges zeigt sich der andere als Ausweg. Dabei ist besonders auffällig, dass das Nicht-Verstehen immer wieder auf Walther Killys Untersuchungen zur Sprachmagie zurückgeführt wird.3 Der in Killys Untersuchungen nachwirkende existentialistische Ton wird als unwissenschaftlich kritisiert, wie zum Beispiel Barbara Neymeyr in ihrer Analyse von Trakls Helian-Gedicht festhält: »Ein derartiger Rückzug auf vage Intuition dispensiert ohne plausible Begründung von der substantiellen Analyse, die gerade der hermetische Text in besonderem Maße verlangt.«4 Sie fährt fort: Im ›Helian‹ identifizierte er [Trakl, S.J.] die Situation des Schriftstellers mit dem Epochenschicksal, das er für aporetisch hielt. Das Spezifikum dieses Gedichts besteht darin, dass es Hermetik nicht nur in der poetischen Form verwirklicht, sondern sie auch auf eine existentielle und historische Notwendigkeit zurückführt.5 Trakl entwickele eine »Vision einer desaströs-dekadenten Hermetik«6 und verleihe »der verhängnisvollen Obsession einer hermetisch abgeschlossenen Innenwelt Ausdruck«.7 Neymeyr führt diese These 2 3 4
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Peter v. Matt: Die Dynamik von Trakls Gedicht. In: P. v. Matt: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur Literatur, München/Wien 1994, 277. Walther Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes, Göttingen 61971, (Kleine Vandenhoeck-Reihe 88/89/89a). Barbara Neymeyr: Trakls lyrische Quintessenz. Poetologische DécadenceReflexion und Hermetik in seinem Gedicht »Helian«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 121, 2002, S. 530. B. Neymeyr, S. 531. B. Neymeyr, S. 546. B. Neymeyr, S. 546.
Intensität statt Hermetik
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in einer präzisen Interpretation vor. Hermetik wird damit zu einer inhaltlichen Kategorie: Der Dichter hat das Ziel, eine hermetisch abgeschlossene Welt zu erschaffen, weil er sich in der obsessiven Ausdrucksfalle des Décadence-Poeten befindet. Das heißt, Neymeyr sieht in Trakls Gedichten Hermetik als poetologisches Programm. Doch anscheinend steht es der Interpretin, wenn sie über ein genaues Analyseinstrumentarium verfügt, dabei völlig offen, diese Hermetik zu entschlüsseln und die abgeschlossene Innenwelt wieder aufzuschließen. Die Studie, die sich in der jüngeren Trakl-Forschung am explizitesten für die Verstehbarkeit Traklscher Texte einsetzt, ist Anette Hammers Monographie ›Lyrikinterpretation und Intertextualität‹.8 Auf knapp 400 Seiten in einer methodologisch provokativen Arbeit entwickelt Hammer Intertextualität als das grundlegende Interpretationsmittel für Trakl Lyrik. Ihr interpretatorischer Teil, auf genau zwei Gedichte beschränkt, umfasst 280 Seiten. Ihr Ziel ist dabei eine »erschöpfende Interpretation«, die alle Polyvalenzen zueinander in Beziehung setzt.9 Sie fordert eine wissenschaftliche Textinterpretation, die »eine methodisch reflektierte, nachvollziehbare, wiederholbare und begrifflich fixierende Beschäftigung mit einem poetischen Text« sein soll.10 Dabei wird Vieldeutigkeit als Phänomen akzeptiert – den bei Neymeyr gesehenen Entschlüsselungsanspruch lehnt Hammer explizit als »privat« und »willkürlich« ab.11 »Im Gegenteil soll Interpretation eventuelle dunkle Stellen im Text aufzeigen, offenlegen und die in ihm angelegten Vieldeutigkeiten genauer bestimmen.«12 Die Interpretin bewegt sich damit auf der Ebene der Form. Sie erarbeitet eine Vielzahl von Textbezügen, im Text, intertextuell, und meta-intertextuell. Der Leser oder Interpret ist aus dieser Analyse völlig ausgeblendet. Die Welt von Zeichen- und Textbezügen ist dort draußen, um aufgezeigt zu werden, ohne bezüglich einer inhaltlichen Interpretation oder des Gehalts eines Gedichtes überinterpretiert zu werden. 8
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Anette Hammer: Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten »Psalm I« und »De profundis II«, Würzburg 2006, (Epistemata 563). A. Hammer, S. 25. A. Hammer, S. 29. A. Hammer, S. 32f. A. Hammer, S. 33.
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Beide Analysen haben trotz ihres unterschiedlichen Umgangs – mit Hermetik bei Neymeyr, mit Vieldeutigkeit bei Hammer – ein Problem; sie beabsichtigen Interpretation erschöpfbar, abschließbar zu machen; die Dynamik und ästhetische Wirkung von Trakls Texten wird unterschätzt. Per Definition verlangt Hermetik jedoch ein Geheimnis für Eingeweihte. Dieses wäre bei Neymeyr Trakls eigener Anspruch, diese hermetische Falle vorzuführen. Gerade Neymeyr reflektiert allerdings nicht das eigene Paradox, dass die Interpretin klüger als Trakl bzw. als der Text ist. Sie kann das Geheimnis von ›Helian‹ in Bezugsnetzen entschlüsseln. Wenn dem so ist, ist der Text nicht hermetisch, sondern nur erstens, schwer zu verstehen und zweitens eine poetologische Reflektion darüber, wie Dichter anstreben, eine abgeschlossene Sprache zu erzielen. Hermetik bleibt eine vage Kategorie, mit der sich weder die Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts differenzierend beschreiben lässt, noch sich spezifische Ausdrucksformen, Sprechweisen und Textverfahren einzelner Dichter bestimmen lassen. Dennoch ist die Reflexion über Hermetik als ästhetisches Prinzip grundlegend, um sich als Interpret nicht in die Verstehensfalle von Trakls Lyrik zu begeben. Dieses ästhetische Prinzip der Hermetik basiert auf dem Paradox, dass die Interpreten zur Dekodierung der hermetischen Welt provoziert werden, obwohl diese Dekodierung unmöglich bleibt. Das hermetische Geheimnis muss im Sinne Umberto Ecos immer ein leeres bleiben; im hermetischen Denken führt die Aufdeckung des Geheimnisses nur zu einem weiteren Geheimnis.13 Hermetische Lyrik betont also ein besonders intensives Moment der Reibung zwischen ›realer‹ Welt und Textwelt; sie erzeugt eine paradoxe Form der Kommunikation als Nicht-Kommunizierbares. Hier zeigt sich auch die Schwierigkeit in Renate Homanns Argument, wonach das Attribut ›hermetisch‹ für die Kennzeichnung moderner Lyrik zu verwerfen sei, weil moderne Lyrik nicht im Sinne einer Repräsentationslogik auf etwas referiere, sondern sich selbst immer wieder neu erfinde.14 Sinnlich wird der Leser nämlich in Trakls Lyrik gerade dazu gebracht, den Text im Sinne einer Repräsentationslogik zu lesen. Eine deskriptive, scheinbar von außerhalb des Textes kontrollierte und anschauliche Sprache über13 14
Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, S. 65. Renate Homann: Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne, Frankfurt a.M. 1999.
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kreuzt sich mit der Wirkung der subjektiven Erfahrung eines wahrnehmenden und in der Textbewegung involvierten Subjekts.15 Weder die Auflösung des Gedichts in ein anschauliches Bild oder in eine Geschichte, noch die für die Interpretation moderner Lyrik übliche These von der Materialität der Sprache und den reinen Sprachspielen moderner Literatur16 – so auch die Homannsche Repräsentationslogik – kann diese Spannung erfassen. Mein Aufsatz trägt den Titel ›Intensität statt Hermetik‹. Trakls Lyrik erweist sich zwar als hermetisch, wenn man davon ausgeht, dass damit ein abgeschlossener Raum, der nicht vollends zu verstehen ist, geschaffen wird, aber nicht, wenn man der Wortbedeutung folgt und ein Urgeheimnis sucht, ein Ziel, auf das alles zuläuft. Trakls Gedichte sind geprägt von einem mangelnden Wirklichkeitsbegriff trotz Wahrnehmung dieses Äußeren. Dieses führt zur Verfremdung, zur Verwandlung in innere Wahrnehmung, zum Versuch, durch Poesie der ins Fließen geratenen, unbeständigen Wirklichkeit doch noch Halt zu geben. In diesem notwendigen Verhältnis zur Wirklichkeit zeigt sich auch der Unterschied zu symbolistischen Tendenzen.17
II. Das Titelgedicht des fünfzehn Gedichte umfassenden Zyklus ›Siebengesang des Todes‹ ist überraschenderweise mit der Ausnahme der In-
15
16 17
Vgl. hierzu neben der im nächsten Abschnitt folgenden Analyse von »Siebengesang des Todes« Stephan Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das ›unmarkierte Zwischen‹ in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke, München 2001, S. 197–246, sowie zu methodologischen Fragen auch Stephan Jaeger: »Die Finsternis flammenden Sturzes«. Das Lesen dynamischer Bilder und deiktischer Räume in Georg Trakls Lyrik. In: Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, hg. von Ruben Zimmermann, München 2000, (Übergänge 38) insbesondere S. 380–385. Zur Rolle des Subjekts im Bezug auf das Verhältnis von Dichtung und Religion in Trakls Gesamtwerk siehe auch Hans-Georg Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2. Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs und Manfred Koch, Paderborn u.a. 1998, S. 141–169. Siehe zum Beispiel Moritz Baßler: Die Textur der modernen Lyrik. In: Baßler et al.: Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996, S. 199ff. St. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, S. 245f.
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terpretation von Laura Gerber-Wieland18 bisher kaum interpretiert worden. Dieses könnte daran liegen, dass es als ein typisch hermetisches oder dunkles Trakl-Gedicht betrachtet wird, dem in einer eigenständigen Gedichtinterpretation zugleich wenig eindeutige Sinnstrukturen abzugewinnen sind. Gleichzeitig gibt es kaum einen Ausdruck oder ein Bild, die nicht auch in zahlreichen anderen Trakl-Gedichten verwendet würden. Das Gedicht trägt also zum verfremdeten TraklVokabular bei, ohne anscheinend selbst eine Eigenständigkeit zu gewinnen. So erscheint die erste Strophe dem geübten Trakl-Leser als etwas vollkommen Bekanntes: Bläulich dämmert der Frühling; unter saugenden Bäumen Wandert ein Dunkles in Abend und Untergang, Lauschend der sanften Klage der Amsel. Schweigend erscheint die Nacht, ein blutendes Wild, Das langsam hinsinkt am Hügel. (1–5)19
Anders als im Auftaktgedicht des Zyklus, ›Ruh und Schweigen‹, dessen erste Strophe – als eine mögliche Interpretation – als eine impressionistische Wahrnehmung des Betrachters durchaus in die Wirklichkeit zurückübersetzt werden kann,20 ist dieses im Titelgedicht ›Siebengesang des Todes‹ zuerst kaum zu erkennen. Der zu Ende gehende Frühling ist ein abstraktes Bild; das Gedicht bietet anscheinend wenig naturalistische Assoziationsmöglichkeiten, daraus ein anschauliches Abend- oder Frühlingsbild machen zu können, insbesondere weil das »wandernde Dunkle« des zweiten Verses schwer zuzuordnen ist. Dieses wird nur im vierten und fünften Vers möglich, die den Untergang der Abendsonne als »blutendes Wild« (4), das hinter dem Hü18
19
20
Laura Gerber-Wieland: Textur in Wort und Klang. Die Lyrik Georg Trakls und die Trakl-Lieder Anton Weberns im Spannungsfeld von Sprache und Musik, Freiburg i.Br. 2002, (Cultura 27) S. 108–121. Darüber hinaus ist Kleefelds Argumentation zur Zahlenkompositorik in der Gedichtsammlung »Sebastian im Traum« zu nennen; zur Rolle der mystischen Sieben und verwandter Zahlen in »Siebengesang des Todes«, siehe Gunther Kleefeld: Maß und Gesetz. Zahlenkompositorik in Georg Trakls Gedichtband »Sebastian im Traum«. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 239f. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. 1, hg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Salzburg 1969, S. 126f.; im Teilabschnitt II werden im Weiteren die Verse des Gedichts »Siebengesang des Todes« nur mit Versangaben in Klammern im laufenden Text zitiert. Vgl. St. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, S. 212f. und S. 227f.
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gel versinkt, konnotieren. Folgt man der Bewegung des Gedichts, wird deutlich, dass die Anschaulichkeit der Verse in dessen weiterem Verlauf abnimmt. Die zweite Strophe, zum Beispiel im Sinneseindruck der aus der Perspektive des Schlafenden »fallende[n] Sterne« (8) bietet noch eine gewisse Anschaulichkeit; dann scheint die Perspektive mit der Nennung des Schläfers (10) in der dritten Strophe in einen Traum überzuwechseln, womit für alle Folgestrophen ein anschauliches Bild fast unmöglich wird. Der Leser sucht nach symbolischen Bedeutungen, nicht mehr nach einer anschaulichen Übersetzung des Gedichts. Es steht außer Frage, dass semantische Konnotationen ebenso wie intratextuelle Bezüge von Trakls Wortschatz oder intertextuelle Bezüge zu anderen Texten wie der Bibel oder Rimbauds Gedichten grundlegender Bestandteil Traklscher Lyrik sind. Deren Eigenart basiert auf diesem komplexen Beziehungsnetz. Hier wäre auch Anette Hammer zuzustimmen, die in ihrer intertextuellen Detailarbeit interessante Beobachtungen über die Komplexität und die Beziehungsgefüge Traklscher Sprache gemacht hat. Doch es besteht keine Notwendigkeit und auch wenig Erkenntniswert von ›erschöpfender‹ Interpretation zu sprechen bzw. Trakls Lyrik zu verwissenschaftlichen. Das Ergebnis ist, dass wir etwas darüber erfahren, welche Potentiale Trakls Lyrik beinhaltet oder aus produktionsästhetischer Sicht, welche Strukturen und Konnotationen Trakl in den Text hineinmontiert hat. Doch das Resultat bleibt reduktionistisch. Auf Kosten einer möglichst vollständigen Erklärung des Textgefüges oder einer transparenten Bedeutung, wird Trakls Lyrik zurückübersetzt, damit wir sie in der herkömmlichen Sprache verstehen. Dieses zerstört die Dynamik oder – wie ich vorziehe – die Intensität Traklscher Texte. Intensität wird hierbei als Wirkungskategorie in der Überlagerung zwischen Emotionalem und Formalem gefasst.21 Der Begriff der artistischen Intensität wurde in den Debatten um die Möglichkeit absoluter Kunst in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt. Das Textverfahren reflektiert sich in seiner Sprachartistik und Konstruktion selbst. Zum anderen verbleibt im Begriff von Intensität aber immer eine emotionale Komponente, die aus der Ästhetik der eng21
Siehe im Detail zur ›Intensität‹ als poetologischem Begriff S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, S. 102–107. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund des Begriffs der ›Intensität‹ im achtzehnten Jahrhundert siehe Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004.
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lischen Romantik um Wordsworth, Coleridge und Keats hergeleitet werden kann. In dem Augenblick, in dem dieses selbstreflexiv wird, gehört zur Intensität der Schmerz oder das Leiden über die Unerfüllbarkeit menschlicher Sehnsucht nach essentieller Erfüllung des Lebens.22 Trakls lyrisches Subjekt ist in vielfältige Rollen gespalten und dennoch ist ein existentieller Konflikt, der jede Sprachartistik unterläuft, in seinen Gedichten durchgängig zu erkennen, wie zum Beispiel in ›Siebengesang des Todes‹ daran deutlich wird, dass alle Subjekte – auch wenn ihre Perspektive das Gedicht nicht vollständig dominiert – mit existentiellen Themen wie Leben, Tod, Traum und kosmischer Metaphorik in Verbindung gebracht werden. Ein Grundton von Klage und Schmerz durchzieht das Gedicht, ohne dass es vollends konkretisiert werden kann. Um der Intensität näherzukommen, sind die Textbewegungen bzw. die dynamische Textdeixis in Trakls Lyrik zu bestimmen, ohne den Assoziationen symbolischer Bedeutungen oder Referenzen aus einer scheinbar wirklichen Welt zu erliegen.23 Zugleich muss der Trakl-Interpret vermeiden, Trakls Worte vornehmlich wiederzugeben, sich also von der Gedichtsemantik gefangen nehmen zu lassen. Zuerst einmal werden die grundlegenden, das Gedicht prägenden Bewegungen untersucht. Mit genaueren Blicken auf Tempus, Klangstruktur und textuelle Beziehungen wird dann in weiteren Schritten die Analyse vertieft.24 22 23 24
S. Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks, S. 102; vgl. auch Thomas McFarland: William Wordsworth. Intensity and Achievement, Oxford 1992. Zur Reflexion dieser Problematik siehe auch S. Jaeger, Theorie lyrischen Ausdrucks, S. 223–244. Dieses Verfahren, bei dem immer selbstreflexiv die eigenen Deutungsmuster hinterfragt werden können, ermöglicht, die Intensität der Textbewegungen dieses Traklschen Gedichtes zu zeigen, ohne das Gedicht mehr oder weniger nachzuerzählen oder Trakls Worte zu existentialistischen Reflexionen zu gebrauchen. Hartmut Cellbrot: Trakls dichterisches Feld, Freiburg i.Br. 2003, entwickelt mit dem Begriff des ›dichterischen Feldes‹ ein vergleichbares, sehr produktives Leseverfahren, durch das die variablen Sinnhorizonte Traklscher Lyrik, manchmal leicht existentialistisch überzogen, selbstreflexiv nachgezeichnet werden. Cellbrot liest Trakls Lyrik »als ein offenes Sprachgeschehen sich überlagernder Sinnhorizonte […], die das Sein selbst betreffen, in denen sich die kategoriale Struktur von Raum und Zeit, Gegenständlichkeit, Situation, ego und alter ego erst konstituieren« (11). An den Begriff des ›Feldes‹ (in Sprache und Musik) schließt auch GerberWieland an, wobei ihrer Interpretation die selbstreflexive Fähigkeit, die sich ständig verschiebenden Dimensionen reflektieren zu können, fehlt. Hier wird das Feld schnell wieder zur festen Struktur.
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›Siebengesang des Todes‹ ist geprägt durch Auf- und Abwärtsbewegungen sowie durch Kontraste zwischen Leben und Tod. In der ersten Strophe – wie oben in der Analyse auf deren Anschaulichkeit bezogen bereits diskutiert wurde – ist die Abwärtsbewegung dominant: »dämmert« (1), »Untergang« (2) und »hinsinken« (5), doch ebenso gibt es in der »Erscheinung der Nacht« (4) einen Kontrapunkt. Darüber hinaus hat der »dämmernde Frühling« eine doppelte Konnotation – wenn er selbst »dämmert«, kann dieses seinen Beginn oder sein Ende bedeuten. Zudem verweist das Dämmernde auf die Abenddämmerung, die mit der Nacht- und Dunkelheitsmetaphorik des Gedichts zusammengeht. Die zweite Strophe ergänzt die Auf- und Abwärtsbewegungen durch die Struktur von Leben und Tod, die in der metaphorischen Bedeutung von Untergang (2) auch bereits in der ersten Strophe enthalten ist. In feuchter Luft schwankt blühendes Apfelgezweig, Löst silbern sich Verschlungenes, Hinsterbend aus nächtigen Augen; fallende Sterne; Sanfter Gesang der Kindheit. (6–9)
»Blühend« (6) steht dem »Hinsterben« (8) gegenüber. Die Schnitte zwischen Auf- und Abwärtsbewegungen kulminieren im Bild oder Sinneseindruck der »fallende[n] Sterne« (8).25 Die dritte Strophe akzentuiert nun die Aufwärtsbewegung am stärksten. Sie setzt ein mit: »Erscheinender stieg der Schläfer« (10), doch noch im selben Vers überschneidet Trakl dieses wiederum mit einer Abwärtsbewegung »den schwarzen Wald hinab« (10) und zum »Quell im Grund« (11), bevor das Aufheben der »bleichen Lider« (12) die Strophe in eine Aufwärtsbewegung umschlagen lässt. Zugleich ist der Schlaf des Schläfers verbunden mit der Wahrnehmung des Todes, also auf der anderen Seite der Dichotomie von Leben und Tod. Das Gedicht setzt im Weiteren seine ständigen Schnittbewegungen fort. Der »Grund« (11) steht dem Aufheben der Lider (12) entgegen. Dieses Heben wird dann in der fünften Strophe wieder aufgenommen: Strahlender hob die Hände zu seinem Stern Der weiße Fremdling; Schweigend verläßt ein Totes das verfallene Haus. (17–19) 25
Zur intertextuellen Bedeutung dieses Ausdrucks siehe unten.
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Zugleich beginnt die Todesmetaphorik das Gedicht zu dominieren: u.a. in den Ausdrücken »starb« (16), »Totes« (19), »verweste Gestalt« (20), »Windesstille der Seele« (23) und im »schwärzlichen Kahn« (24), womit in der siebten und letzten Strophe die Überfahrt in die Unterwelt konnotiert wird. Trotz dieser Dominanz des Todes in der zweiten Hälfte des Siebengesangs ist das Gedicht von lebenden Momenten durchzogen – so wie in der »sengenden Wildnis des Tiers« (21). Der Text webt in diesen Schnittbewegungen zwischen Auf- und Abwärts, zwischen Leben und Tod ein immer dichteres Netz, das in der letzten Strophe kulminiert: Auf schwärzlichem Kahn fuhr jener schimmernde Ströme hinab, Purpurner Sterne voll, und es sank Friedlich das ergrünte Gezweig auf ihn, Mohn aus silberner Wolke. (24–27)
»[J]ener« (24) – der »weiße Fremdling« (18), der Mensch oder einfach jemand Unbestimmtes – fährt Ströme hinab. Das Sinken des Gezweigs unterstützt diese Abwärtsbewegung, während zugleich die Sterne und die Wolke wieder eine Aufwärtsbewegung und etwas Lebendiges andeuten. Welche Bewegung am Ende in ›Siebengesang des Todes‹ überwiegt, bleibt unklar; aus den gezeigten Schnitten entsteht kein Drittes. Dieser erste schnelle Durchgang durch die dominierenden Textbewegungen des Gedichts muss dennoch interpretatorisch unbefriedigend bleiben. Die Besonderheit der späteren Lyrik Trakls, gerade im ›Sebastian im Traum‹, besteht darin, dass die Textbewegungen immer weiter verdichtet werden und Strukturen vom aktuellen Vollzug der Gedichte abhängig sind. In ›Siebengesang des Todes‹ passiert dieses zum Beispiel im vierten Vers. Die Nacht ist das grammatische Subjekt, das erscheint. Trakl ergänzt das Bild der Nacht in einer Apposition durch die Metapher des »blutende[n] Wild[es]« (4). Grammatisch ist das »blutende Wild« eine Metapher für die erscheinende Nacht; semantisch scheint es zu allererst auf die Abendsonne zu verweisen, ist also ein eigenständiges Bild, das einen über die erscheinende Nacht hinausgehenden Gesamteindruck schafft. Im folgenden fünften Vers wird die grammatikalische Apposition zum Subjekt, da das Gedicht mit »das«, also auf das Wild verweisend, fortgesetzt wird. Hierdurch wird das Wild ein eigenständiges Subjekt; in dieser Bewegung ist es mehr als nur eine Metapher. Syntax und Semantik konterkarieren sich gegenseitig. Weder die mögliche naturalistische Vorstellung der er-
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scheinenden Nacht im letzten Moment der Abendsonne kann ungebrochen wirken, noch ist das Wild als Tier ausschließlich ein unabhängig agierendes Subjekt.26 Auch der Klang des Gedichtes bzw. dessen Vokalik trägt zur Komplexität der Bewegungen bei, ohne allerdings wirklich ausgedeutet werden zu können. Die erste Strophe, mit Ausnahme des vierten Verses, ist die einzige wirklich von einem Vokal – dem ›a‹ – dominierte Strophe. Das ›a‹ scheint eine gewisse Geborgenheit zu erzeugen, wie Gerber-Wieland ausgiebig analysiert hat.27 Im zweiten Vers umarmen die A-Laute sogar die beiden mit der Abwärtsbewegung und dem Sterben verknüpften U-Laute: »Wandert ein Dunkles in Abend und Untergang« (2). Die drei betonten A-Silben umgrenzen die beiden U-Silben. Eine weitere Dimension, in der die Textbewegungen des Gedichts verdichtet werden, ist dessen Zeitstruktur. Die ersten beiden Strophen sind im Präsens geschrieben, bevor in der Kopplung eines Partizip Präsens – »[e]rscheinender« – zu Beginn der dritten Strophe ein Umschlag ins Präteritum stattfindet. Erscheinender stieg der Schläfer den schwarzen Wald hinab, Und es rauschte ein blauer Quell im Grund, Daß jener leise die bleichen Lider aufhob Über sein schneeiges Antlitz; (10–13).
Situativ folgt hieraus – unter Berücksichtigung der »nächtigen Augen«, der »fallende[n] Sterne« und des »[s]anfte[n] Gesangs der Kindheit« in den letzten Versen der zweiten Strophe, dass der Leser dem »Schläfer« nun in seinen Träumen zusieht. Das Präteritum markiert das Vergangene dieser an die Kindheit erinnernden Träume. Doch gleichzeitig gibt es andere Ebenen des Gedichts wie den »blaue[n] Quell im Grund« (11), der strukturell an den bläulich dämmernden Frühling im Anfangsvers des Gedichts erinnert. Ist der Frühling, mit den Bäumen über der Erde angesiedelt, nun unter Erde? Oder führt Trakls Text hier die Doppeldeutigkeit des ersten Verses fort? Der Quell im Grund kann eine Abwärtsbewegung implizieren, könnte aber zugleich wie der dämmernde Frühling aus dem ersten Vers auch den Beginn von neuem Leben bedeuten. Wieder findet eine Verdichtung statt, die nicht hermetisch ist, weil eine Auflösung der Verrätse26 27
Letzteres wird anscheinend von Gerber-Wieland, S. 112, angenommen. L. Gerber-Wieland, S. 111f.
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lung dem Interpreten nicht hilft, Trakls lyrische Sprache zu beschreiben, sondern diesen auf eine Bedeutungsmöglichkeit festlegt. Die vierte Strophe wird im Präteritum fortgeführt: Und es jagte der Mond ein rotes Tier Aus seiner Höhle; Und es starb in Seufzern die dunkle Klage der Frauen. (14–16)
Durch das Semikolon am Ende der dritten Strophe ergibt eine logische Fortsetzung der Textbewegung. Doch zugleich steht diese Strophe in direkter Verbindung zur ersten. Der Mond ersetzt die Nacht, und das blutende Wild ist jetzt ein rotes Tier, das wiederum Tier oder Sonne sein könnte. Dieser komplizierte Schnitt verdichtet sich später im 22. Vers: »Und der sengenden Wildnis des Tiers«. Der Text scheint sich von der Konnotation der Sonne gelöst zu haben, da das Tier im Kontrast oder zumindest in Beziehung zum Menschen (20) steht. Doch zugleich verweist das Adjektiv »sengend« direkt auf die Eigenschaften und die Wirkung der Sonne. Da die sechste Strophe ohne aktives Verb auskommt, wird die »sengende[] Wildnis des Tiers«, die Kombination aus Wild und Tier, zum intensiven Wirkungsmoment im Traklschen Gedicht – das Beziehungsnetz ist nicht mehr aufzulösen; nur seine Intensität kann beschrieben werden. In der fünften Strophe kulminiert die Zeitstruktur in der Kombination der Tempora. Parallel zum Einstieg ins Präteritum im zehnten Vers kombiniert Trakl ein Partizip Präsens mit dem Präteritum: »Strahlender hob […]« (17), bevor das Tempus zurück ins Präsens umschlägt: »Schweigend verläßt ein Totes das verfallene Haus« (19). Die Folgestrophe weist keinerlei Verb auf, nur zwei Partizipien der Vergangenheit und ein Partizip Präsens: O des Menschen verweste Gestalt: gefügt aus kalten Metallen, Nacht und Schrecken versunkener Wälder Und der sengenden Wildnis des Tiers; Windesstille der Seele. (20–23)
Die letzte Strophe ist wiederum im Präteritum gestaltet. Zudem gibt es in dieser Strophe weitere Zeitbezüge, wie zum Beispiel »das ergrünte Gezweig« (26) im Partizip Perfekt, das das Partizip Präsens des »blühende[n] Apfelgezweig[s]« (6) der zweiten Strophe kontrastiert. Die Zeitstruktur des Gedichts bleibt paradox. Etwas scheinbar Erlösendes gibt es zwar zweimal, doch nur im dem Präteritum untergeordneten Partizip Präsens – »Erscheinender« (10) / »Strahlender«
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(17). Dass in der Schlussstrophe das Präteritum dominiert, zeigt die Spannung des Gesamtgedichts. Die zeitliche Bewegung des Gedichts ist nicht vollends zu bestimmen. Sie führt weder direkt in die Vergangenheit, dazu gibt es zu viele etwas Zukünftiges andeutende Elemente, doch sie führt in der zum Ende dominierenden Zeitstruktur der Vergangenheit auch nicht auf einem klaren Weg in die Zukunft. Durch die der Markierung vom »Gesang der Kindheit« (9) und dem darauf einsetzenden, wenn auch zwischenzeitlich wieder gebrochenen, Tempus des Präteritums wird dieses verhindert. Gegenwärtiger Eindruck, Erinnerung und Zukünftiges sind unauflöslich verdichtet. Das Gedicht in sieben Einzelgesänge aufzusplittern,28 ist zwar ein möglicher Interpretationsansatz, doch dieser kann die komplexen Bewegungen nicht zeigen, die das Gedicht zu mehr als einer siebenmaligen Variation eines Themas macht, wie Gerber-Wieland Trakls Gedicht abschließend interpretiert: »In sieben Strophen, in sieben Gesängen werden Bilder des Sterbens und des Todes gezeichnet. Das Tot-Sein resultiert aus der Versagung von Heimat, Geborgenheit, Liebe, Freundschaft«.29 Allerdings erkennt Gerber-Wieland durchaus die Dynamik des Gedichtes, das sie als »Totenmesse, die keine Ruhe finden läßt« liest.30 Der evokative Ausruf »O« zu Beginn der sechsten Strophe trägt eine weitere emotionale Komponente in das scheinbar distanziert aus einer Außenperspektive erzählte und beobachtete Gedicht hinein, das hierdurch einen existentielleren und schmerzvolleren Ton bekommt, durch den es eine rein formale sprachartistische Intensität überschreitet. Ein letzter Schritt der Interpretation wäre die Hinzuziehung von Kontexten. Diese können sich intratextuell auf Trakls Werk oder auf intertextuelle oder außertextuelle Wissensdiskurse beziehen. Fast jeder Ausdruck im Gedicht ›Siebengesang des Todes‹ erstellt Beziehungen zu anderen Gedichten Trakls. Folgt man diesen Bewegungen im Sinne von Heideggers These von dem einen Gedicht, das Trakl ge28
29 30
In dieser Lesart wird der Titel wörtlich genommen. Die sieben Strophen sind die sieben Gesänge des Todes. Diese Interpretation wird durch Trakls Interpunktion gestützt. Sechs Strophen des Gedichts werden durch Punkte abgeschlossen. Nur die dritte Strophe schließt mit einem Semikolon ab und geht in die vierte mit »Und« beginnende Strophe über. L. Gerber-Wieland, S. 120. L. Gerber-Wieland, S. 121.
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schaffen hat,31 entdeckt man ein noch weiter verzweigtes und vielfältiges Beziehungsgefüge, das die Intensität Traklschen Sprechens unterstreicht. Doch wieder gewinnt der auf die Auflösung von Hermetik fokussierte Interpret wenig, wenn ein Gedicht das andere ausdeuten soll. Dieses wird beispielsweise deutlich, wenn man sich die direkte Beziehung zwischen ›Siebengesang des Todes‹ und dem unten detaillierter diskutierten ›An die Verstummten‹, das im Zyklus zwei Gedichte vor dem Titelgedicht steht, ansieht. ›An die Verstummten‹ endet mit den beiden Versen: Aber stille blutet in dunkler Höhle die stummere Menschheit, Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.32
Im ›Siebengesang des Todes‹ beginnt die sechste Strophe mit O des Menschen verweste Gestalt: gefügt aus kalten Metallen (20).
Das Bild des Metalls ist nicht vollständig zu vereinheitlichen. Einerseits ist die Härte des Menschen vielleicht jeweils Voraussetzung für das Kommende. Doch die Betonung in beiden Gedichten variiert und damit wirken die Textbewegungen jeweils unterschiedlich. Ist das Bild des Metalls mit Erlösung oder mit Untergang verbunden? Verweist es auf das Motiv des Goldes, das die Stadt in ›An die Verstummten‹ verdirbt? Auch die ältere Forschung steht einer interpretatorischen Ausdeutung dieses Bezugs vorsichtig bzw. ratlos gegenüber.33 Trakl verwendet offensichtlich dieselbe Phrase wieder, nur ob dieses in derselben Bedeutung geschieht, ist unentscheidbar. Der textuell geschulte Leser erkennt im Ausdruck »fallende Sterne« (8) nicht nur ein Oxymoron oder den Verweis auf eine Sinnestäuschung des Betrachters, sondern auch ein Zitat aus der ›Offenbarung des Johannes‹: Nach der Eröffnung des sechsten Siegels, entsteht ein großes Erdbeben, die Sonne wird schwarz, der Mond wie Blut,34 bevor die Sterne auf die Erde fallen.35 Ohne Zweifel unterstreicht Trakls Zitat das Apokalyptische bzw. das Element des Untergangs sei31 32 33
34 35
Martin Heidegger: Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichts. In: Merkur 7, 1953, S. 226–258. Trakl, Bd. 1, S. 124, Verse 10–11. T. J. Casey: Manshape That Shone. An Interpretation of Trakl, Oxford 1964, (Modern Language Studies) S. 45f., im Kontext der Ausdeutung von Bildern in Trakls Lyrik, die mit ›Stein‹ verbunden sind. Off. 6, 12. Off. 6, 13.
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nes Gedichts. Zudem intensiviert es die Bilder der ersten Strophe. Es erscheint, als wären der Mond (die erscheinende Nacht), Sonne, Blut und Schwärze (Dunkelheit) nur in anderen Kombinationen angeordnet. Doch zugleich zerfällt der Bibelbezug in seiner symbolischen Bedeutung. Das Bild – die Schnitte von Auf- und Abwärtsbewegungen, von Leben und Tod – werden intensiviert, aber ausgedeutet werden kann ein derartiger Bezug nicht,36 ebenso wenig wie die Konnotationen des Apfelgezweigs im sechsten Vers. Laura Gerber-Wieland produziert hierzu in ihrer Interpretation ein Beispiel für in der Trakl-Forschung häufig zu findende Überinterpretation. Einerseits wird hier das Motiv des Verschlungenen konnotiert, andererseits wirkt der Apfel im kulturellen Wissensspeicher »als Zeichen für sexuelle Lust und Versuchung«,37 was Gerber-Wieland mit dem Bild eines liebenden Paares zusammenbringt: Die Visionen eines schönen Daseins, etwa des blauen Frühlings oder der immerwährenden Liebe, können nicht mehr gedacht und visualisiert werden. Einzig die Nacht zeigt sich. Der Traum vom glücklich vereinten Paar ist gescheitert. Während es als Verschlungenes, Umarmtes erinnert wird, droht ihm schon der Tod. Rückblickend knüpft »Apfelgezweig« an den biblischen Sündenfall an; schwankendes Apfelgezweig verlockt und verführt und stößt zugleich aus dem paradiesischen Bereich hinaus.38
Im dritten Kapitel des ersten Buchs Mose ist nun weder von Gezweig noch vom Schwanken die Rede, dennoch zeigt Gerber-Wielands Überinterpretation, wie leicht Trakls Sprache intratextuell und intertextuell den Leser zu ganzen Geschichten, die aus drei Versen entstehen können, verführt. Selbst die verdichtete letzte Strophe von ›Siebengesang des Todes‹ ermöglicht dem Leser noch eine logische Auflösung, solange dieser die Strophe isoliert betrachtet: Das Subjekt »jener« erfährt im die Ströme hinabgleitenden Kahn den Eindruck der Sterne über ihm und den Fall des verblühten Gezweigs, das wie Mohn aus einer silbernen Wolke zu fallen scheint. Wenn man Trakls Schnittbewegungen derart auflöst, reduziert man die Wirkung und Intensität des Gedichts, ohne dessen Besonderheit erfassen zu können. Die mögliche Anschaulich36
37 38
Für ein Beispiel, wie intertextuelle Kontexte ›sinnvoll‹ in ihrer Bedeutung für die Textbewegung ausgedeutet werden können, siehe auch die Interpretation von »An Luzifer« in S. Jaeger: Die Finsternis, S. 373–380. L. Gerber-Wieland, S. 113. L. Gerber-Wieland, S. 113.
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keit ist Teil der Traklschen Spannungen, aber nicht mehr vollends rückübersetzbar. Dass trotz aller moderner Sprachartistik immer noch etwas Subjekthaftes, eine existentielle Situation des Gedichtsubjektes, das die Sprache aber nicht mehr beherrscht, durch den Text durchschimmert, verhindert ebenso, Trakls Texte als reine Sprachartistik oder nur in ihrer Materialität zu lesen. Durch diese Intensität werden Interpreten beider Couleur – die die ein Verstehen und die die ein Nicht-Verstehen propagieren – dazu angeregt, ihrem Pfad zu folgen. Und genau deshalb sind Textbewegungen ein Weg der Traklschen Sprache näher zu kommen, ohne sie durch Bedeutungsinterpretationen festzulegen oder sie auf einer rein formalen Ebene als formale Sprachartistik zu bezeichnen. Der interpretatorische Weg liegt dazwischen und von dort lassen sich dann all die Bedeutungsebenen und Formen, die Trakls Lyrik ohne jeden Zweifel beinhaltet, ja die deren Komplexität ausmachen, diskutieren.
III. Auch Trakls Gedicht ›An die Verstummten‹, das zwölfte Gedicht des Zyklus ›Siebengesang des Todes‹, erfüllt auf den ersten Blick die typischen Voraussetzungen Traklscher Lyrik, also die Lesererwartungen. Das Gedicht wirkt wie die meisten Gedichte Trakls recht eindringlich: Der typische Traklsche Ton scheint getroffen: durch Klanganalogien, den eigenständigen Wortschatz, veränderte Satzstellungen, Perspektivik, Vokalik etc. Dennoch erscheint das Gedicht deutlich einfacher zugänglich als das oben interpretierte ›Siebengesang des Todes‹, wie bereits in der ersten Strophe deutlich wird: O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren, Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut; Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt. O, das versunkene Läuten der Abendglocken. (1–5)39
Eine assoziativ-inhaltliche Lektüre kann sogleich fast programmatische Bilder und Bedeutungen entdecken: das Leid in der Großstadt, 39
Trakl, Bd. 1, S. 124; im Teilabschnitt 3 werden im Weiteren die Verse des Gedichts »An die Verstummten« nur mit Versangaben in Klammern im laufenden Text zitiert.
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die verunstaltete oder sogar abgestorbene Natur, entsprechend das künstliche Licht, das die Nacht erhellt, und das Ganze als eine Allegorie des Bösen. Den Abschluss der ersten Strophe bildet dann eine Klage über das längst Vergangene, vielleicht in der Großstadt sogar Unmögliche. Auch die zweite Strophe lässt diese Lesart einer verfremdeten Großstadt als Allegorie des Bösen zu. Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt. Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen, Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht. O, das gräßliche Lachen des Golds. (6–9)
Die Hure und ihr totes Kindlein sind entweder wörtlich als eine Gruppe der Verstummten zu interpretieren oder sie könnten eine Metapher für die Stadt sein, deren Einwohner – an Babylon und Sodom und Gomorrha erinnernd – von Gottes Zorn gestraft sind. Insgesamt wirkt diese Strophe härter, weil kürzer und nicht elegisch, sondern mit fast nihilistischem Ende: »O, das gräßliche Lachen des Golds« (9). Die abschließenden zwei Zeilen leiten dann in der dritten Strophe aus dem Leid des Menschen in der Großstadt die Erlösung ab. Aber stille blutet in dunkler Höhle die stummere Menschheit, Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt. (10–11)
Der Titel – ›An die Verstummten‹ – wäre in dieser Interpretation entsprechend an die ausgestoßenen Stadtbewohner (ggf. als Allegorie der Existenz aller Menschen) gerichtet.40 Niemand kann nun behaupten, die gerade vorgetragene Lektüre wäre zu inhaltlich oder nicht möglich. Die Assoziationsschablonen für den Leser sind offensichtlich ausgelegt. Dieser muss nicht einmal in Trakls privatmythischem Vokabular besonders bewandert sein. Woran liegt dieses? Ist das Gedicht weniger ›hermetisch‹ oder ›dunkel‹ als ›Siebengesang des Todes‹? Folgt man den vorherrschenden Interpretationen wie denen von Gunter Kleefeld, Alfred Doppler, Eberhard Sauermann, Hans Weichselbaum oder Gertrud Sakrawa, 40
Alfred Doppler sieht ›die Verstummten‹ als »diejenigen, die die Dämonie der Wollust durch geistige Zeugung sublimieren und Sexualität durch eine ethisch akzentuierte Kunst überwinden« (Georg Trakl und Otto Weininger. In: A. Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg/Wien 2001, [TraklStudien 21] S. 154).
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scheint dieses eindeutig so zu sein. Das Gedicht ist thematisch-inhaltlich erschließbar, unter Leitthemen des zeitgenössischen Lebens und der politisch-ökonomischen Situation im Jahr 1913,41 der modernen Großstadt,42 der Zivilisation,43 der Sprachkrise des Dichters44 oder mit etwas Phantasie durch den ödipalen Mythos und Mutterbilder.45 Die gerade vorgestellte Lektüre des Bildverlaufs des Textes lässt sich aber letztlich nicht fixieren. Die Bilder, Satzbau und Grammatik sind zu verfremdet, um zumindest sichere Erkenntnisse über ihre Relationen gewinnen zu können. Mit jedem Vers wird – typisch für Trakl – die Wirklichkeitsassoziationsmöglichkeit des Lesers spekulativer bzw. eine Rückübersetzung in klare Bedeutungen schwieriger. Obwohl die Motivkette Leid – Stadt – Mensch – Erlösung eindeutig zu erkennen ist, lässt sie sich nicht in fixierte Relationen fassen. Dieses wird besonders deutlich, wenn man die Rollen des Gedichts untersucht und die Frage nach dessen Subjekt stellt. Ist die Hure eine einzelne Rolle, die wie der Besessene als Verstummte leidet. Oder ist die Hure die Stadt der Sünde mit Bezug auf das biblische Sodom.46 Dann wiederum wäre der »peitschende Zorn Gottes« (7) nicht nur für den Besessenen sondern auch für die Hure relevant, was aber grammatikalisch nicht funktioniert. Zumindest das »tote[] Kindlein« (6) erscheint als Opfer und es ist stumm. Richtet sich das Gedicht nun ›An die Verstummten‹, die der Verführung des Goldes bzw. Geldes erlegen sind? Oder erinnert es elegisch an das Verlorene, was vor der Zeit des »Wahnsinn[s] der großen Stadt« (1) war und durch die »steinerne Nacht« im vierten Vers und »das versunkene Läuten der Abendglocken« (5) angedeutet wird? An dieser Stelle zeigt sich auch das Paradox, dass das »Harte« verschiedenen Welten zugehörig zu 41 42 43
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A. Doppler, S. 153f. Eberhard Sauermann, Die Stadt bei Trakl. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 14, 2004, S. 535. Hans Weichselbaum: Die ›Zivilisation‹ bei Georg Trakl. In: Londoner Trakl-Symposion, hg. von Walther Methlagl und William E. Yuill, Salzburg 1981, (Trakl-Studien 10) S. 64. Gertrud M. Sakrawa, Georg Trakls »An die Verstummten«. In: Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag, hg. von Walter Methlagl, Eberhard Sauermann und Sigard Paul Scheichl, Salzburg 1981, S. 430–444. Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie, Tübingen 1985, (Studien zur deutschen Literatur 87) S. 359f. 1. Mose, 18. und 19. Kapitel.
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sein scheint. Die »steinerne Nacht« (4) wird vom Licht, vermutlich der Stadt und ihres nächtlichen Treibens, verdrängt, doch zugleich ist dieses auch durch das Metall des Goldes (9) markiert und kulminiert in dem »aus harten Metallen« gefügten »erlösende[n] Haupt« (11). Sind die harten Metalle das zur Erlösung notwendige Leiden? Doch warum wird dann in der ersten Strophe »die steinerne Nacht verdrängt« (4)? Das Bildfeld verdichtet sich und scheint semantisch nicht mehr auflösbar, ohne aber den Grundton des Textes in Zweifel zu ziehen. Auch die Frage nach dem Subjekt bzw. dem lyrischen Ich des Textes ist nicht vollends zu beantworten. Wer beobachtet oder bewertet? Das Subjekt kann weder distanziert von außen das Leid der Menschen betrachten; dazu ist der Text zu evokativ – noch kann es selbst der Mensch oder ein Zugehöriger der verstummten Menschen sein, dazu wären die verfremdeten Auskünfte zu reflektiert. Außerdem wäre dann der Titel ›An die Verstummten‹ nur als Selbstreflexion lesbar, was zumindest für das Subjekt als unmögliches Paradoxon erschiene – sprechend aber verstummt. Schaut man auf mögliche Kontraste oder Schnitte innerhalb des Gedichts, fällt auf, dass diese weniger intensiv als in ›Siebengesang des Todes‹ ausfallen. Verzichtet man auf die letztlich fast unmögliche referentielle Farbanalyse, ist das Gedicht von sehr wenigen Kontrasten geprägt wie zwischen Licht und Nacht. Die Sehnsüchte verkommen zu evokativ-elegischen Anrufen (5) bzw. zu zukünftigen Erlösungsvorstellungen (11); sie sind ungleich ›Siebengesang des Todes‹ keineswegs auf derselben Ebene wie die Hauptbewegung des Leids anzusetzen. In einer sehr präzisen Analyse hat Károly Csúri vorgeführt, wie ›An die Verstummten‹ die thematischen Erschließungen anderer Interpretationen überschreitet und als poetisches Konstrukt in seinen Textbewegungen und intertextuellen Bezügen gelesen werden kann. Csúri liest den biblischen Hintergrund (Sündenfall, menschlicher Frevel in der Zitierung von Babylon und Sodom und Gomorrha, Wiederkunft und Erlösung) als Referenzrahmen für die zivilisatorische Neuzeit und ihre Großstadtwelt. Er kommt zu folgendem Schluss: Dieses ›Aufzeigen‹ mittels textueller und intertextueller Struktur-Bewegungen, mittels Parallelisierung und Kontrapunktierung, Zusammenführung und Trennung, Überlappung und Auseinanderhaltung usf. etablieren eine vielfältige und differenzierte Textwelt, die sich aus unendlichen Di-
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Gleichzeitig bleibt zu diskutieren, inwiefern Trakls Lyrik das von Csúri propagierte Transparenzprinzip, um Textwelten und -modelle zu erschließen – jenseits einfacher außertextueller Referenzen – tatsächlich zulässt. Wie die inhaltlichen Bedeutungszuordnungen erscheint auch die intertextuelle Metazuordnung der Bibel als überraschend statisch. Csúri liest die Schlussstrophe wie folgt: In diesem Zusammenhang läßt sich das Bild vom »erlösenden Haupt«, das »aus harten Metallen« gefügt wird, als Metapher eines neugegründeten und festen Glaubens begreifen, der das ›Böse‹ in der Welt zu überwinden und den rückführenden Weg ins verlorene Paradies zu weisen vermag.48
Diese Lesart ist ohne Zweifel möglich, doch wirkt sie merkwürdig feststellend. Nur der biblische Prätext besitzt die von Csúri angeführte Zirkelstruktur. Trakls Text lässt hingegen die Erlösung im zeitlichen Rahmen völlig offen. Ist sie etwas Neues? Führt sie zum Alten zurück? Realisiert sich die Hoffnung im Partizip Präsens »erlösend«, oder ist die Erlösung selbst damit garantiert? Wer wird erlöst? Die »stummere Menschheit« bzw. die »Verstummten« oder alle Menschen? Wie verhält sich das Leiden einer kollektiven Gruppe zum Singular des erlösenden Hauptes? Wenn die »stummere Menschheit« das grammatische Subjekt der letzten Strophe ist, wie erschafft oder »[f]ügt« es, also sie, das »erlösende Haupt«? Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch ›An die Verstummten‹ ein dynamischer und intensiver Text ist, der in vielfältigen Textbewegungen und -bezügen verdichtet wird. Das Gedicht ist jedoch zugleich semantischer angelegt als ›Siebengesang des Todes‹, wodurch diese Intensität weniger vorwiegend in einer formalen Lektüre, als in der Hinzuziehung von unterschiedlichen Bedeutungskontexten geleistet werden kann.
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Károly Csúri: Trakls Großstadt als poetisches Konstrukt. Zur Erklärung des Gedichts »An die Verstummten«. In: Millionen Welten. Festschrift für Árpád Bernáth zum 60. Geburtstag, hg. von Márta Gaál-Baróti und Péter Bassola, Budapest 2001, S. 275. K. Csúri, S. 274.
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IV. Die in diesem Band versammelten Aufsätze wurden durch die Ausgangsfrage »Schön, aber unverständlich?« motiviert. Meine aus diesem Aufsatz abzuleitende Antwort dazu wäre ›weder noch‹. ›Schön‹ – bei Kant in der ›Kritik der Urteilskraft‹ bekanntermaßen als »interesseloses Wohlgefallen« gefasst – scheint den gerade interpretierten Gedichten auf den ersten Blick gar nicht zu entsprechen. Unverständlich sind Trakls Gedichte ebenso wenig, da sie mit höchst unterschiedlichen Erzähltechniken vielfältige Interpretationsmöglichkeiten bieten bzw. erzeugen, wie zum Beispiel an Csúris Analyse von ›An die Verstummten‹ deutlich wurde. Was dabei zu bezweifeln ist, ist, dass Bedeutungen in Trakls Gedichten entweder eindeutig zugeordnet werden können, ein Transparenzprinzip besitzen, oder dass die Vieldeutigkeit – das legt die Intertextualitätsstudie von Anette Hammer dar – erschöpfend vorgeführt werden könnte. Trakls Lyrik verweigert sich diesem. Die Lyrik spielt nicht mit der Idee des Geheimnisses, das aufzudecken ist, sondern mit der Spannung zwischen äußerer Wirklichkeit und innerer Wahrnehmung, zwischen Beschreibung und einem involvierten Ausdruckssubjekt, zwischen Bedeutung und Vieldeutigkeit. Deshalb führt der Begriff ›Hermetik‹ – oder allgemeiner der der Unverständlichkeit – für Trakl in die Irre und der Begriff der ›Intensität‹ der Textbewegungen zeigt, was Trakls Lyrik ausmacht, ohne die Interpretation stillzustellen. Interpretationen auf andere Kontexte und Bedeutungsschichten hin sind nicht nur möglich, sondern notwendig und diese können meine am ›Siebengesang des Todes‹ vorgeführte vorwiegend formale Oberflächenanalyse von Textbewegungen überschreiten und weitere kontextuelle Bedeutungsschichten – zum Beispiel durch Intra- oder Intertextualität – hinzufügen. Was aber heuristisch für Trakls Gedichte erst einmal erkannt werden muss, ist der Grund für den immerwährenden Konflikt zwischen Sinnschaffung und Sinndestruktion in der Trakl-Forschung. Trakls Gedichte sind nicht unverständlich, sondern provozieren die These, dass sie sich Bedeutung verweigern, ebenso wie sie Bedeutungen provozieren. Dieses habe ich vorzuführen versucht; dieses macht die Intensität von Trakls Gedichten in vielfach und vielschichtig verdichteten Textbewegungen aus, und wenn man so will, liegt hierin tatsächlich die Schönheit von Trakls Gedichten. Doch wie beim Begriff der Hermetik führen die Assoziationen und die Begriffsgeschichte des
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Schönen für Trakls Lyrik in die Irre, so gesehen erweist sich Intensität als der bessere Begriff, von dem aus sich der Interpret auf die immerwährende Herausforderung der Leserwirkung von Trakls Texten einlassen kann.
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Laura Cheie Georg Trakls ›Ruh und Schweigen‹. Kreative Bilddynamik im Modus des Obsessiven
Martin Heidegger stellte in seinem 1953 erschienenen Trakl-Aufsatz eine später umstrittene These der Trakl-Forschung auf: »Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht«.1 Während manchen Interpreten aufgrund der hohen »Verwandtschaft«2 unter den Gedichten Georg Trakls die Heideggersche These gerechtfertigt erschien,3 wiesen sie andere Trakl-Forscher als einengend, weil die Wandlungen dieses Gesamtwerkes verkennend, zurück.4 Heideggers Aussage könnte allerdings möglicherweise dazu verführen, bei der hohen Rekurrenz von Bildern und quasi formelhaften Ausdrücken in der Poesie Trakls die Idee des Dichtens aus einem Gedicht wörtlich zu nehmen, d.h. ein Suchen nach einem konkreten Matrix-Gedicht anzuregen. Unseres Erachtens kann aber eine nicht voreingenommene Auseinandersetzung mit dieser These nicht die Tatsache übersehen, dass sie im Geiste der Heideggerschen Philosophie gedacht und for1 2
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Martin Heidegger: Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichtes. In: Merkur, VII. Jg. 1953, Drittes Heft, S. 226–258. Cf. Hellmuth Himmel: Über Verwandtschaft unter den Gedichten von Georg Trakl. In: Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich. Festschrift für A. Doppler zum 60. Geburtstag, Innsbruck 1981, S. 141–151. Den Begriff »Verwandtschaft« verwendet H. Himmel als weitgefassten, rein deskriptiven Oberbegriff von verschiedenen gegenseitigen Verhältnissen von Gedichten, die nicht weiter geklärt sind und sich als zu derselben stark verzweigten, möglichen Textfamilie lediglich aufgrund von wiederkehrenden Bildkomplexen, Titeldubletten, Übereinstimmungen im Wortschatz oder Wortberührungen, mehr oder weniger naheliegenden Entstehungsdaten und Frequenz angehörig erweisen. Die Text-Verwandtschaft im Sinne Himmels entspricht eher einer musikalischen Struktur als einem paradigmabildenden System, wie im Falle der »Familienähnlichkeiten« Wittgensteins. Vgl. Walter Killy: Über Georg Trakl, Göttingen 1960, S. 52: »Ja, die textkritische Beschäftigung bekräftigt, die ganz anderen Beschäftigungen entsprungene These Martin Heideggers, dass es sich beim Werk dieses Dichters schließlich – oder ursprünglich – um ein Gedicht handle.« Vgl. Eberhard Sauermann: Der Entwicklungsgedanke in der Trakl-Forschung. In: Euphorion, Bd. 80, Jg. 1986, S. 404.
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muliert wurde. Demnach will sie in dieser Erörterung, d.h. Suche nach der sprachlich-ontologischen Ortung der Traklschen Dichtung, jene Einzigartigkeit signalisieren, mit der ein großer Dichter die Sprache bewohnt. Auf die Trakl-Dichtung bezogen heißt das, »dass jede der Traklschen Dichtungen, gleich unverwandt, wenn auch nicht gleichförmig, in den einen Ort des Gedichts zeigt, bezeugt den einzigartigen Einklang seiner Dichtungen aus dem einen Grundton [Hervorhebung L.C.] seines Gedichtes«.5 Und über die Konstituierung eines einzigartigen Trakl-Tons ab der mittleren Schaffensperiode ist man sich in der Trakl-Forschung allerdings schon seit langem einig. Heidegger ignoriert zwar, wie Sauermann zu recht bemerkt, die Entwicklung, die das Traklsche Werk in seiner kurzen Enstehungszeit tatsächlich macht, will aber zugleich nicht die gesamte Poesie Trakls auf ein konkret bestimmbares Gedicht einengen. Das Dichten aus einem Gedicht scheint demnach einem eher platonisch anmutenden Beschreibungsmodell dichterischen Fühlens und Schreibens zu entsprechen und nicht dazu anzuregen, ein einziges, sozusagen obsessiv bewahrtes Matrix-Gedicht für das Gesamtwerk Trakls zu identifizieren. Die vielfach kreisenden Bewegungen seiner Dichtung hingegen, das Arbeiten mit einem engen Wortmaterial, kaleidoskopisch zu immer neuen Konstellationen zusammengestellt, war aber schon manchen der Trakl-Kenner obsessionsverdächtig, im pathologischen Sinne des Wortes. Im Falle einer »dunklen« Dichtung, wie jener Trakls, versprechen sich aber Interpreten gerade von zyklischen Strukturen eine kohärenzstiftende Funktion. Nach Hans Esselborn6 erlauben sie insgesamt drei Perspektiven der Deutung: in Verbindung mit der Musik, in Verbindung mit Mythos und Religion und in Verbindung mit der – psychoanalytisch untersuchten – Psychologie. Damit wären zugleich drei wichtige Stossrichtungen der Forschung genannt, die das Phänomen der auch obsessiven Wiederholung bei Trakl innerhalb unterschiedlicher Bezugssysteme »umkreisen«. Das wohl intensivste davon und für einen Teil der Literaten irritierende ist jenes der Psychologie.
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M. Heidegger 1953, S. 227. Hans Esselborn: Wiederkehr und Ende. Zyklische und finale Strukturen in den Gedichten Georg Trakls. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 88ff.
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Unter dem Einfluss der Psychoanalyse führt sie im allgemeinen künstlerische Obsessionen auf die Wiederkehr verdrängter psychischer Inhalte zurück, deren destruktives Potential kreativ konsumiert wird. Die von Freud stammende, klinisch klassifizierbare Bestimmung des Obsessiven prägt einen pathologischen Modus der Einbildungskraft. Obsessionen oder Zwangsvorstellungen bezeichnen, laut Freud,7 pathogene Inhalte des Unbewussten, welche symptomatisch trotz der Verdrängung in einer strategisch verschobenen, aufgrund privater Assoziationen entstellten Form wiederkehren. Sie können vom Kranken selbst erkannt aber nicht kontrolliert werden, was dem Pathologischen eigen ist, ähnlich wie bei dem aus der Kontrolle geratenen (dichterischen) Phantasieren. Der psychoanalytischen Hermeneutik ist aber auch das kreative Potenzial des auf Zwangsdenken beruhenden Wahns nicht entgangen, genauer die Neigung des Betroffenen, Wahnphänomene zu deuten und sie dadurch in ein widerspruchsfreies Ganzes zu integrieren. Literarisch transponierte Zwangsvorstellungen gehören in der Sicht der Freudschen Psychoanalyse nicht zu einer bestimmten Poetik des Textes, sondern zum Krankheitsbild einer Geistesstörung, wobei aber trotz der pathologisierenden Tendenz eine eigenartige Kreativität des Krankhaften im Medium des Poetischen an den Tag gelegt wird. Dass diese stilbildend wirken kann, sollte für moderne Künstler und Dichter eine Erkenntnis mit entscheidenden poetologischen Folgen werden. Im Vergleich zur älteren, psychiatrischen Perspektive von Literatur geht die Psychoanalyse aufgrund ihres gesamten interpretatorischen Aufwandes selbst kreativ mit den poetisch chiffrierten Spuren neurotischer Komplexe um. Die Diagnose verbindet sich mit der Interpretation, basiert praktisch auf einer Art hermeneutischer Auseinandersetzung mit der Dynamik des persönlichen Unbewussten. Das betont Deutende der Psychoanalyse machte unter anderem diese Methode für die Literaturinterpretation attraktiv, so dass die Analyse der Psyche oft bei psychoanalytisch argumentierenden Literaturwissenschaftlern zu einer Poetik der Psyche tendiert, diese aber u.E. durch die einfache Rückübersetzung des literarischen Textes in ein Konzept der Psychoanalyse verfehlt. Gedient wird dadurch vielmehr der außerhalb des Lite7
Siehe vor allem Sigmund Freud: Zwang, Paranoia und Perversion, Studienausgabe, Bd.VII, Frankfurt am Main 61994 passim, insbesondere Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907), S. 11–21; Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909), S. 31–103.
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rarischen angesiedelten Diagnose des Ich und seiner Lebenswelt als der Poetik seiner Texte. Ein rumänischer Kunstpsychologe, Dan Mih˘ailescu, versuchte in seinem 1989 erschienenen Buch, ›Dimensionen des Kreativen. Der Stimulus der Obsession‹, in diesem heiklen Bereich und aufgrund von Künstlerbekenntnissen zu differenzieren, ein wissenschaftliches Erklärungsmodell künstlerischer und dichterischer Schaffensprozesse aufgrund einer obsessiv gesteuerten Phantasie aufzustellen.8 Dabei unterscheidet er zwischen der pathologischen, destruktiven Fixidee, die sich unabhängig vom Willen des Betroffenen behauptet und symptomatisch zur Zwangsneurose gehört, und einer sogenannten konstruktiven Obsession, welche dem schöpferischen Willen entgegenkommt, diesen stützt, stärkt und zur Ausrichtung und Konzentration der kreativen Energie beiträgt. Die »schöpferische« Obsession behauptet sich demnach als ein das Kraftfeld kreativen Potenzials konzentrierendes, strukturierendes und auf ein schöpferisches Ziel ausrichtendes Energiezentrum der produktiven Phantasie. Im Unterschied zum pathologischen Zwangsdenken entwickelt also die »gesunde«, kreative Obsession keine störende und hemmende Kraft, sondern wirkt als Stimulus des schöpferischen Prozesses, indem sie das kreative Potenzial aktiviert und organisiert. Sie trete nicht mehr als ein autonomes psychisches Phänomen in Bezug auf den individuellen Willen auf und konstituiere sich dadurch nicht mehr als eine psychotische Reaktion auf traumatische Inhalte des Unbewussten, meint Mih˘ailescu, sondern werde mehr oder weniger bewusst im kreativen Sinne instrumentalisiert, d.h. auch dem schöpferischen Willen unterstellt. Sie gehört somit zu den kreativitätsfördernden psychischen Voraussetzungen des Schaffensprozesses. Durch ihre charakteristische Persistenz und die auf Inhalte der Einbildungskraft quasi magnetisch wirkende Anziehungskraft scheint sich das Obsessive auch als ein eigenartiger Modus langfristiger Bewahrung und Kombination von kreativem Stoff zu konstituieren. Die Tendenz, das obsessiv geprägte Denken im Medium des Künstlerischen zu entpathologisieren ist bei Mih˘ailescu aber nicht frei von Bedenken. Auch der rumänische Kunstpsychologe führt nämlich die kreative Obsession auf die Verdrängung eines möglicherweise 8
Dan Mih˘ailescu: Dimensiuni ale crea¸tiei. Stimulul obsesiei, Ed. Stiin¸ ¸ tific˘a s¸ i enciclopedic˘a, Bucure¸sti 1989, passim.
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problematischen psychischen Inhaltes zurück, der aber nicht neurotisch wird, weil er seine Sublimierung im Kunstwerk erfährt. Die Rückbindung dieses Erklärungsmodells an die altbekannten, von Freud beschriebenen psychischen Prozesse der Verdrängung und Sublimierung könnte erneut in die Nähe der Psychopathologie führen. Mih˘ailescu betont zwar, dass die kreative Obsession in den Grenzen der Normalpsychologie wirke und im Unterschied zur psychotischen Zwangsvorstellung keineswegs negative, störende und hemmende Effekte habe, doch scheint die stringente Notwendigkeit, diese »gesunde« Obsession im Schaffensprozess zu »löschen«, von einer uneingestandenen psychischen Gefährdungsmöglichkeit auch durch die kreative Obsession zu zeugen. Die außerordentliche Intensität und Beharrlichkeit mit denen sich Obsessionen behaupten, das Bewusstsein meistens über längere Zeit belagern und invasionsartig in dieses eindringen können, dienen dem Ich, nur wenn es aus der Not eine schöpferische Tugend zu machen weiß, ließe sich aufgrund der von Mih˘ailescu aufgestellten Produktionstheorie schließen. Mih˘ailescu ist außerdem trotz seiner Erkenntnisse bezüglich der kreativen Potenz obsessiver Zustände nicht an deren ästhetischer, bzw. literarischer Substanz interessiert. Sicherlich können Obsessionen einen schöpferischen Zustand hervorrufen und erhalten, sind auch für eine sehr allgemeine Strukturierung der Phantasie verantwortlich, bilden aber keine erkennbare stilistische Matrix. Um eine in engster Textnähe konzipierte Poetik des Obsessiven ist die von Charles Mauron begründete »Psychokritik« bemüht. Definitorisch ist dabei ihre streng textorientierte Vorgehensweise, die im vergleichenden Betrachten von Schriften eines Autors zwischentextliche Resonanzräume entdeckt, welche aufgrund von obsessiven Kernvorstellungen und -ideen der schöpferischen Einbildungskraft entstehen. Die textlich nachweisbare Konstellation von Obsessionen findet ihren psychologischen Konvergenzpunkt im persönlichen Mythos, einer Art persönlichen Archetyp, und erfährt ihre kreative Manifestation in einer subtilen textlichen Vernetzung von verwandten Bildern, die durch latenten wechselseitigen Verweis über die paradigmatische Kraft der schöpferischen Obsession Auskunft geben. Die Psychokritik geht demnach von einer Palimpseststruktur des Gesamtwerkes eines Autors aus, da der Vergleich zur Superposition von Texten oder Textstellen führt. Dabei soll die Überlagerung von Texten aufgrund der variierten Wiederkehr des Gleichen jene strukturierenden Kno-
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tenpunkte entlarven, die als zwanghafte Fixpunkte die Texte untereinander verbinden. Semantische Kohärenz entsteht, laut Mauron, aufgrund von obsessiven dynamischen, d.h. in ständiger Verwandlung begriffenen Assoziationsnetzen, die das ganze Lebenswerk des Autors durchziehen. Obsessionen bewirken dabei die Herausbildung eines privaten bildlich-stilistischen poetischen Codes, sind also nicht lediglich für einen rein psychologischen kreativen Zustand verantwortlich. Ähnlich wie Träume zu einer die Kunst und die Literatur entscheidend umgestaltenden Traumästhetik führten, die nicht nur Trauminhalte literarisch oder künstlerisch darstellte, sondern die Logik des Traums zur Entwicklung eines neuen Schreib-, Zeichen- oder Malstils einsetzte, so entdeckt auch Mauron die Kraft der Obsession als bildspendende, aber zugleich auch stilbildende Matrix der Dichtung.9 Dabei zeichnet sich, u.E., ein entscheidender Unterschied zwischen der Obsession als obsessiver Inhalt und dem Obsessiven als potentieller psychischer Modus, Vorstellungen zu bewahren, zu intensivieren und durch eine spezifische künstlerische Handhabung anzureichern ab. Obsessive Bilder, jene verbindenden Kernvorstellungen Maurons, wären in diesem Sinne als besonders intensive Matrix-Bilder zu verstehen, die der künstlerischen Phantasie zum Entwurf neuer Bilder und zu deren paradigmatischen, autorspezifischen Verbindung dienen. Unter diesen Voraussetzungen kann sich das ästhetisch manipulierte obsessive Denken als Träger eines privaten Bildreservoirs, aber auch als aktive, kreativitätsfördernde Struktur einer modernen Phantasie etablieren, die nicht nur eine private Metaphorik entstehen lässt, sondern auch ein Modus künstlerischen Handelns (z.B. im Bereich der Variation und Kombinatorik) sein kann. Gleichzeitig ist erst aufgrund der dadurch entstehenden Poetik des Obsessiven ein neues, von Obsessionen bestimmtes Modell moderner Autorpsychologie zu rekonstruieren. Dem Mauronschen Palimpsest fehlt aber eine Tiefendimension, denn das obsessive Assoziationsnetz von privaten Vorstellungen ist nicht nur im »Querschnitt« der Endfassungen abzulesen, sondern auch in der Tiefe des Variantenapparates, dort wo dieser erhalten geblieben ist. Varianten informieren über den heimlichen Denkprozess 9
Cf. Charles Mauron: Mallarmé par lui même, »Écrivains de toujours« aux éditions du seuil 1964, passim.
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des Autors, so dass genetisch orientierte Textanalysen sehr wohl auch die psychologische Dynamik künstlerischen Schaffens dokumentieren können. In der Kreativitätsforschung selbst sind diesbezüglich deutliche Einstellungen nachzuweisen. So behauptet z.B. der Leningrader Literaturwissenschaftler und Puschkinforscher Boris Meilach in seinem Aufsatz ›Die Psychologie des künstlerischen Schaffens‹,10 dass zu einer methodischen, sprich wissenschaftlichen, Untersuchung der Psychologie des Schaffensprozesses das Heranziehen von Varianten eine unumgängliche Voraussetzung sei. Erst eine genetische Rekonstruktion des Textes, welche sich gegebenenfalls an Matrixvorstellungen orientiert, kann, laut Meilach, ein plausibles psychisches Kreativitätsmodell transparent werden lassen, das mehr als nur allgemeine kreative Zustände einschließt. Anhand von Textbewegungen versucht nun auch der Psychologe kreative Denkbewegungen festzumachen, wobei aber nicht nur die Oberflächendynamik der Endfassungen, sondern auch die unterschwellige Tektonik der Varianten diesbezüglich als offenbarend betrachtet wird. Wie obsessiv bewahrte und schließlich bildgenerierend wirkende Matrixvorstellungen die private Metaphorik eines Dichters bestimmen können soll nun an einem Text Georg Trakls aus dem Gedichtband ›Sebastian im Traum‹ näher erörtert werden. ›Ruh und Schweigen‹ dürfte, laut Sauermann und Zwerschina, im September oder Oktober 1913 entstanden sein11 und wurde aufgrund der Verwendung des Motivs »blaue Blume« auf die kreative NovalisRezeption hin interpretiert.12 Das Gedicht zeigt eine zunächst sehr augenfällige Symmetrie durch seine Gliederung in vier Dreizeiler. Die ersten zwei führen schon in eine sonderbare Landschaft ein:
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Boris Meilach: Die Psychologie des künstlerischen Schaffens. In: Seminar: Theorien der künstlerischen Produktivität, hg. von Mechthild Curtius, Frankfurt am Main 1976, S. 251–279 passim. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe, historisch-kritische Ausgabe der Werke und des Briefwechsels mit Faks. der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Eberhard Sauermann in Zusammenarbeit mit Hermann Zwerschina, Bd. III, Basel, Frankfurt am Main 1995, S. 245. Im folgenden Sauermann/Zwerschina zit. Sämtliche Trakl – Gedichte werden nach dieser Ausgabe angeführt. Z.B. der neuere Aufsatz von Hans Esselborn: »Blaue Blume« or »Kristallene Tränen«? Trakl’s Poetology and Relation to Novalis. In: The Dark Flutes of Fall. Critical Essays on Georg Trakl, hg. von Eric Williams, Columbia 1991, S. 203–232.
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Laura Cheie Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald. Ein Fischer zog In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher. In blauem Kristall Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt; Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf.
In der die erste Strophe dominierenden Kontrastbewegung zeichnet sich, wie schon in der Trakl-Forschung erkannt,13 eine eigenartige Dialektik von Sonnenuntergang und Mondaufgang, die zugleich im exemplarischen Sinne auf eine archaisch-archetypisch anmutende Sonnenbzw. Mondzeit der Menschheit verweisen könnte. Umgekehrt werden biologische Rhythmen auf die Himmelssterne übertragen: die Sonne stirbt und wird »begraben«. Dem Tod der Sonne folgt eine Art Wassergeburt des Mondes, deren poetische Verbildlichung die kreative Wahrnehmung des Wasserspiegels transparent werden lässt. »Aus frierendem Weiher«, welcher in der Nacht durch die Spiegelung des Himmels zum »Sternenweiher« wird, zieht der Fischer den Mond. Dass ein solches Bild eine natürliche, empirisch erfahrbare Überblendung verschiedener Wirklichkeitsniveaus im Wasserspiegel in eine poetische Metapher verwandelt und somit das dichterische Schreiben an der bildlichen Syntax dieser obsessiv bewahrten Wasservorstellung orientiert, ist unschwer nachvollziehbar. Das Wasserbild ist bei Trakl eine alte, vielfach variierte und schließlich zum Generieren von irrealen Bildern instrumentalisierte Matrixvorstellung. Sie gehört, will man einem Zeitgenossen des Dichters Glauben schenken, zu Trakls ältesten und liebsten Erinnerungsbildern. In einem Gespräch mit Dallago im Hause Ludwig von Fickers bekannte dies Trakl laut den Aufzeichnungen eines Zeugen, Hans Limbach: »Trakls Wesen war tiefste Verschlossenheit. »Ich bin ja erst halb geboren!« sagte er einmal und behauptete, bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr überhaupt nichts von seiner Umwelt bemerkt zu haben, außer dem Wasser«.14 Tatsächlich ist das Wasser 13
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Cf. Károly Csúri: Theorie und Modell, Erklärung und Textwelt. Über Trakls »Ruh und Schweigen«. In: Weltbürger – Textwelten, hg. von Leslie Bondi, Günter Helmes, Egon Schwarz, Friedrich Voit, Bern/Berlin/Frankfurt am Main/New York/Paris/Wien 1995, S. 128–151, insbesondere S. 137–140. Hans Limbach: Begegnung mit Georg Trakl, in Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Hans Szklenar, 3. erw. Auflage, Salzburg 1966, S. 121–122.
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ein konstantes Landschaftselement bei Trakl. Es gibt bei ihm vor allem zwei obsessiv bewahrte Perspektiven vom Wasserbild, jene eines wirklichkeitsauflösenden Wasserspiegels (wie schon in den frühen Texten ›Zeitalter‹, in den Gedichten 1909–1912 oder ›Einklang‹, in der Sammlung 1909), mit dem die mythische Gestalt Narziss verbunden ist (z.B. im Gedichtentwurf ›Gestalt die lange …‹, Anfang 1913 entstanden) und jene des Wassergrabes, die Trakl, nach Shakespeare, auch mit der durch Wassertod verunglückten Ophelia assoziiert (z.B. im Gedichtkomplex ›Lange lauscht der Mönch …‹ 1912). Die besondere Intensität dieser zwei Perspektiven vom Wasser mit ihrer abstrahierenden Funktion wirkte schließlich resonanzraumbildend im Gedichtentwurf ›Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel …‹ (Anfang 1913 entstanden), in dem Trakl zwischen der spiegelnden Oberfläche, dem »dunklen Spiegel männlicher Schwermut«, und der bewohnbaren Tiefe des Wassers, der »dunkle(n) Grotte männlicher Schwermut« oszilliert. Die Entstehung eines derartigen Resonanzraums zwischen obsessiv konservierten Bildern kann auf eine Kombination oder Überblendung dieser vorbereiten, die so schließlich zum Entwurf einer neuen Vorstellung führt, wie dies auch im Gedicht ›Ruh und Schweigen‹ der Fall ist. Denn eine obsessiv imaginierte Matrixstruktur, wie z.B. jene des Wassers, kann unterschiedliche Bilder generieren (Wasserspiegel – Wassergrab), diese aber auch zu einer erneut kreativen Verdichtung zwingen, die selbst obsessiv empfunden werden kann. Bildliche Verdichtungen signalisieren gleichzeitig eine semantische Kontamination. Dadurch spielen nicht nur anschauliche, sondern auch semantische Sphären ineinander, wobei aber, wie wir glauben, die obsessiven Bewegungen der Vorstellungskraft für den stilprägenden Bildentwurf und die private Semantik steuernd und somit bestimmend sind. Hermetischer klingt die zweite Strophe von ›Ruh und Schweigen‹, obwohl feine Entsprechungen, wie jene zwischen dem »frierenden Weiher« und dem »blauen Kristall« die Strophen miteinander verknüpfen, ja sogar spiegelbildlich aufeinander beziehen.15 Auch ohne 15
Vgl. Károly Csúri: Theorie und Modell, S. 138: »Interessant ist der Übergang von der 1. zur 2. Strophe: schon rein grammatikalisch lassen sich ›aus frierendem Weiher‹ und ›in blauem Kristall‹ miteinander verknüpfen. Semantisch könnte man in erster Näherung den ›frierenden Weiher‹ und das ›blaue Kristall‹ als Spiegelbilder begreifen. Das ›blaue Kristall‹ stellt dabei allerdings eine versteinerte bzw. eisige, das heißt eine gesteigerte motivische Variante des ›frierenden Weihers‹ dar.«
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die Varianten zu berücksichtigen lässt sich im »blauen Kristall« das ins Eisige kristalliner Transparenz stilisierte Wasser vermuten. Zieht man jedoch den Variantenapparat zu Hilfe, so lässt sich auch die Bildlichkeit der zweiten Strophe deutlich auf ein Wasserbild zurückführen und zwar auf jenes, das die reflektierende Oberfläche und die transparente Tiefe zu kombinieren scheint. Schon auf der ersten Textstufe entwickelt sich das Bild aus der Matrix der Wasservorstellung: Ein schmales Tier erscheint. In uralter Bläue Wohnt schreitend die Gestalt, ehmals in dunklen Wassern, Weiße Wange an purpurne Fische gelehnt.
Ein ophelienhaft anmutendes »Wohnen« in »dunklen Wassern« scheint hier auf Trakls eigene Weise veranschaulicht zu sein. Die aber zugleich als schreitend imaginierte Gestalt könnte auf Perspektivenverschmelzung im Wasserbild deuten, wenn beispielsweise ein dem Wasser entlang spazierender Mensch in der Spiegelung des fluiden Elements wahrgenommen wird. Auf der zweiten Textstufe beginnt sich das Bild aus der Matrix des Wasserbildes herauszuentwickeln und himmlische Züge anzunehmen: Ein Tier hinsinkt. In uralter Bläue Wohnen die strahlenden Augen, ehmals in dunklen Wassern, Erscheint ein Strahlendes, ............. das ................. gewohnt Bleiche Wange an purpurne Schlangen gelehnt. Die ........... flackernde Sterne ............ gelehnt
Über die Variation des Strahlenden und aus dunklen Wassern Erscheinenden beginnt sich eine auch von Csúri an der Oberfläche der Endfassung erkannte Mond – Mensch – Analogie zu profilieren.16 Vorgezeichnet wird hier, durch die Verschiebung des Strahlenden versunkener Augen auf eine nicht weiter bestimmte Lichtgestalt, der Mondaufgang aus den nächtigen Wassern. Die an purpurne Schlangen gelehnte Wange in der folgenden Verszeile, die noch auf mögliche Wassertiere Bezug nimmt und dadurch einem nachvollziehbaren Was16
K. Csúri: Theorie und Modell, S. 138–139: »Wie der Mond unlängst ›in frierendem Weiher‹ wohnte, so wohnt nun der bleiche Mensch ›in blauem Kristall‹. Es liegt demnach nahe, den ›blauen Kristall‹ als das kosmische Spiegelbild des ›frierenden Weihers‹ und den ›bleichen Menschen‹ als das menschliche Spiegelbild des ›Mondes‹ anzusehen. Die Mond – Mensch – Analogie wird auch durch die Fortsetzung des Zitats bekräftigt: ›In blauem Kristall / Wohnt der bleiche Mensch, die Wang an seine Sterne gelehnt‹«.
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serbild einverleibt werden kann, wird aber schon in der nächsten Variation scheinbar aus allen empirischen Zusammenhängen gehoben, wenn der bleiche Mensch seine Wange an flackernde Sterne lehnt. Das Bild mutet surrealistisch an und einem Wasserbild nicht mehr zugehörig, doch entspricht seine poetische Logik jenen Verbindungen und Überblendungen, die vom natürlichen Wasserspiegel und Wassergraben angeregt werden. Denn in der gleichzeitigen Spiegelung von Mensch und Himmel schafft zunächst das Wasser in seiner traumhaft verkürzenden Perspektive die Metapher der himmlisch beheimateten Gestalt und der versunkenen Gestirne. Dem Dichterblick bleibt es aber vor allem vorbehalten das poetische Potential solcher Naturbilder zu erkennen und von den spontanen Gebilden dieser natürlichen Vorlage in vertieftem Schauen zu lernen. Auch wenn das obsessiv modellierende Wasserbild verschwindet, bleibt, wie in der letzten Variation der vorhin besprochenen Textstufe, das bildstrukturierende Prinzip des Wasserbildes erhalten. Mit Bachelard gesprochen,17 geht die Poesie der Wasserbilder dadurch in eine Poetik des Wasserbildes über. Dieser Poetik entspricht auch die Chiffre des bleichen Menschen im blauen Kristall, die Wange an seine Sterne gelehnt. »Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf«, heißt es ebenfalls kryptisch in der folgenden Verszeile. Von der Wasservorstellung aus betrachtet könnte man in dieser Bewegung, die Trakl formal als Alternative zum vorigen, vom Wasser inspirierten Bild dichtet, die bekannte Bewegungsspur eines narzisstischen Gestus identifizieren. Stimmt das, dann bringt die zweite Strophe von ›Ruh und Schweigen‹ einen neuen Bildentwurf der Verdichtung narzisstischer und ophelienhafter Gebärden. Die zwei letzten Strophen des Gedichts: Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen, Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel. Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein; Ein strahlender Jüngling Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung.
bringen eine andere Kombination und Verdichtung von Vorstellungen, die obsessiv konserviert und kreativ eingesetzt wurden. Das Bild 17
Cf. Gaston Bachelard: Apa s¸ i visele. Eseu despre imagina¸tia materiei, Trad. de Irina Mavrodin, Ed. Univers, Bucure¸sti, 1995 passim.
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der erscheinenden Schwester als »ein strahlender Jüngling« erinnert subtil an die hieratisch anmutenden Bewegungen Elis’ und Helians. Die dritte Strophe, die auf das lichte Erscheinen der Schwester durch den Hinweis auf das »Heilige blauer Blumen« und auf »erloschene Engel« vorbereitet, verwendet auf der ersten und zweiten Textstufe Bildsplitter, die zunächst ›An den Knaben Elis‹ erinnern. Nicht nur der Flug eines oder mehrerer schwarzer Vögel weisen auf die »dunkle Deutung des Vogelflugs« im Elis-Gedicht hin, sondern vor allem die in der Endfassung getilgte mönchische Geste: »Und wächsern tauchen die Finger ins Heilige blauer Blumen«, welche die Verszeilen: »Dein Leib ist eine Hyazinthe / darein ein Mönch die wächsernen Finger taucht.« des im April 1913 entstandenen ›An den Knaben Elis‹ variiert. Trakl tilgt jedoch in der Endfassung die Spur dieser textlichen Verwandtschaft, wie auch eine andere, die auf Elis zurückverweisen könnte. In dem im Mai 1913 überarbeiteten und schließlich mit dem Titel ›Elis‹ veröffentlichten Gedicht des Bandes ›Sebastian im Traum‹ ist Elis, wie die Schwester, ein Erscheinender in einer Landschaft, in der am Abend der Fischer die leeren Netze einzieht und »Zeichen und Sterne / versinken leise im Abendweiher«. Goldener Schweiß rinnt »von Elis’ kristallener Stirne«. ›Ruh und Schweigen‹ endet auf der ersten und zweiten Textstufe mit Variationen dieser von der kreativen Einbildungskraft konservierten Elis-Vorstellung: »Erglänzt des Menschen Stirne, blaues Kristall« bzw. »Erglänzt des Einsamen Stirne, blaues Kristall«. Das Gedicht ›Helian‹ bringt noch ältere Vorstellungen, die die Wahrnehmung der Schwester als strahlender Jüngling in ›Ruh und Schweigen‹ erklären könnten.18 Helian ist ebenfalls ein Erscheinender (»Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel«), dessen Name zugleich an den griechischen Sonnenjüngling Helios erinnert.19 Und in ähnlicher Textnähe befindet sich im ›Helian‹ »ein bleicher Engel« zu »Schwestern« mit »Kot und Würmern« in ihren Haaren, wie in ›Ruh und Schweigen‹ »erloschene Engel« zur Schwester, die »in 18
19
Trakl beginnt mit der Arbeit am ›Helian‹ Ende Dez. 1912 und überarbeitet den Text mehrmals bis April 1913. Cf. Sauermann/Zwerschina, Bd. II, S. 230. Cf. diesbezüglich Reinhold Grimm: Die Sonne. Bemerkungen zu einem Motiv Georg Trakls. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geschichte, Bd. XXXV, 35 Jg, 1961, S. 224–246. ›Helian‹ drückt nach Grimm »Trakls Neigung zu Helios, dem ›Sonnenjüngling‹« aus. S. 238.
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Herbst und schwarzer Verwesung« erscheint. Zwischen diesen beiden gleich intensiv imaginierten und bewahrten Vorstellungen des ›Helian‹ könnte sich ein Resonanzraum des wechselseitigen Verweises gebildet haben, der sich schließlich dank der magnetischen und prospektiven Anziehungskraft des Obsessiven zur Matrixvorstellung eines neuen Bildentwurfs in ›Ruh und Schweigen‹, der den Sonnenjüngling mit der Schwester quasi überlappend identifiziert, entwickelt hat. Zu diesem sternhaft anmutenden Bild der Schwester gibt es schließlich noch eine obsessiv modellierende Vorstellung, die Trakl im Gedicht ›An die Schwester‹, entstanden im Januar 1913, also in der Zeit, in der der Dichter auch an ›Helian‹ arbeitete, entworfen hatte. Hier ist die am meisten variierte Strophe die dritte und letzte, in welcher »Sterne suchen nachts, Karfreitagskind, / Deinen Stirnenbogen«. Im Palimpsest der Varianten zu dieser Strophe handelt es sich auf einer Textstufe sogar von den »Sterne(n) deiner Schläfenbogen«, einer Vorstellung in der das Porträt der Schwester zu einer Art Sternbild stilisiert wird.20 Berücksichtigt man die unterschwellige Kontamination dieser sternhaft auftretenden Konstellation von Gestalten bei Trakl im Modus des Obsessiven, dann befremdet die Schwester in ›Ruh und Schweigen‹ in ihrem Erscheinen als ein strahlender Jüngling nicht mehr, sondern gibt sich als eine weitere Variation und Verdichtung eines obsessiven Invariants, des himmlisch beheimateten, ätherischen Menschen, zu erkennen. Zusammenfassend ist zu bemerken, dass die psycho-genetische Untersuchung des Textes und seines Umfeldes eine komplexe Dynamik obsessiv-kreativer Einbildungskraft transparent werden lässt. Diese wiederum kann die Konstruktion und Weiterentwicklung paradoxer, verdichteter Bilder über magnetisierende Resonanzräume zwischen unterschiedlichen Gestaltungen der obsessiv wirkenden Vorstellungskraft ersichtlich machen und schließlich auf mögliche Assoziationen »dunkler«, privatsprachlicher Semantik bei Trakl hinweisen. Die Stimmigkeit oder zumindest Wahrscheinlichkeit dieser hängt allerdings ab von einem nicht im Modus des Obsessiven funktionierenden Interpretieren.
20
Cf. diesbezüglich meine eingehendere Analyse zu diesem Text in Laura Cheie: Die Poetik des Obsessiven bei Georg Trakl und George Bacovia, Trakl-Studien Bd. XXII, Salzburg 2004, S. 78–82.
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Die Untersuchung vermeintlicher Beziehungen zwischen Trakls Gedichten und Bildern zeitgenössischer Maler hat in der Trakl-Forschung Tradition. Denn es liegt nahe, Trakls Modernität in Parallele zu setzen mit der »geistigen Wende« der Malerei, die die bildende Kunst von der Aufgabe der mimetischen Nachahmung der Natur emanzipiert, und die Wirkung der Farben und Linien unabhängig von dem »Rationalismus des Sehens« freisetzt. Allerdings geht die moderne Malerei mit der Befreiung des künstlerischen Materials (Linien, Farben) von der Referentialität mit unterschiedlicher Radikalität um. In der abstrakten Kunst z.B. Kandinskys wird die vergessene und verbrauchte symbolische Ausdruckskraft der Farben neu belebt, um deren emotionale, physische und psychische Wirkung auf den Betrachter zu verstärken. Jede Komposition entwickelt ihr eigenes semiotisches System, das nicht »hermetisch«, sondern unmittelbar zugänglich sein will, ohne vollständig rational in Worte übersetzt werden zu können. Jedes Bild strebt nach einer Entpersönlichung der Farben- und Liniensprache, die so wenig subjektiv wie möglich sein will, um die größtmögliche Allgemeingültigkeit zu erreichen. Auf den Bereich der Poesie übertragen bedeutet »abstrakte Kunst« ungefähr das Gleiche wie »konkrete Dichtung«. Die Logik der Farbwörter gehorcht nicht der »Nachahmung der Natur« und auch nicht dem symbolischen Code der Kultur, sondern einer inneren Notwendigkeit des Künstlers, dessen Ich eine unbedingte Universalität beansprucht.1 Meistens werden keine abstrakten Maler mit Georg Trakl verglichen, sondern Expressionisten, die zwar von dem mimetischen Gebrauch der Farben abweichen, jedoch einer leicht verständlichen Farben-Symbolik folgen und »gegenständlich« bleiben. In seinem Text 1
Vgl. Jacques Le Rider: Farben und Wörter. Geschichte der Farbe von Lessing bis Wittgenstein. Übers. von Dirk Weissmann, Wien 2000 (Les Couleurs et les mots, Paris 1997), S. 232–241.
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›Mörder, Hoffnung der Frauen‹ stellte Kokoschka »den Mann« mit weißem Gesicht und blaugepanzert, und »die Frau« mit roten Kleidern und offenen gelben Haaren dar. Auf dem Plakat drehte Kokoschka diesen Farbcode um: Der Tod in Frauengestalt wurde weisslich; die Männlichkeit verlor ihren blauen Panzer, der ihre Rationalität und vergeistigende Kraft symbolisierte, und wurde als blutiger, roter, vom Begehren geschundener und zerfetzter Leichnam gemalt. In seinen Memoiren erwähnt Kokoschka Georg Trakls Besuch in seinem Atelier, in dem auf einer Staffelei die ›Windsbraut‹ stand, deren Ekphrasis Trakl im Gedicht ›Die Nacht‹ wiedergab. »Meine Farben haben also nicht gelogen«, kommentiert Kokoschka in seinen Erinnerungen.2 Ebenso wichtig war die Reise nach Berlin, die Trakl Mitte März 1914 unternahm, um seiner Schwester Grete nach der Fehlgeburt beizustehen. Während dieses Aufenthalts lernte er im Umkreis von Herwarth Walden die Dichterin Else Lasker-Schüler kennen, die ihn mit neuen Möglichkeiten der Synthese von Textkunst und bildender Kunst vertraut machte. Von der Farbe als »Vibration der Seele« (Kandinsky) kann man bei Trakl mit den gleichen Worten wie Baudelaire über Delacroix sprechen: »Es ist, als ob diese Farbe von sich selber her denke, gleichviel, welche Dinge sie umkleide.« Die reinen Farben lassen ein Unsichtbares sichtbar werden oder haben umgekehrt eine Verhüllungsfunktion, lassen also das, was man nicht sehen sollte, unsichtbar werden. Der kulturelle (symbolische und realistisch-mimetische) Farbcode deckt eine Privat- und Geheimsprache der Farben, die nicht weniger einheitlich und verbindlich ist, und deren semantisches Netz eine »interne Intertextualität« des Traklschen Œuvre, vor allem in der letzten Periode, strukturiert. In der »Tagtraumarbeit« des Gedichts treten »Tagreste« (die mimetische Wiedergabe der Wirklichkeit und der kulturelle Farbcode) und Derealisierungs-Effekte zusammen. Die Bildhaftigkeit dürfte als eine ebenso wesentliche Charakteristik von Trakls Dichtung wie deren Musikalität3 betrachtet werden. »In Trakls Dichtungen herrschen diejenigen Wortarten vor, die das reine Bild vermitteln: Das Hauptwort, das die Erscheinung vor uns hinstellt, indem es sie nennt, und das Eigenschaftwort, das an 2 3
Oskar Kokoschka: Mein Leben, München 1971, S. 137. Alfred Doppler: Die Musikalisierung der Sprache. In: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg 2001, S. 112–134.
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ihr Form, Farbe, Klang und Geruch kennzeichnet. Dafür tritt das Zeitwort […] auffallend zurück.«4 Zur objektiven Bildhaftigkeit5 von Trakls Dichtung tragen Substantivierungen bei wie in ›Abendland‹, 2. Fassung: Silbern weinet ein Krankes, Aussätziges am Weiher6
Es entsteht eine neue Bildsprache, die kein »sanftes Gesetz« der Farben verkündigt, sondern stets von Angst- und Schuldgefühlen, von »sanftem Wahnsinn« aufgewühlt wird: Stirne Gottes Farben träumt, Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.7
Die »bildhafte Manier«, die Trakl selbst in einem Brief aus dem Jahre 1910 als einen Grundzug seiner Gedichte nannte, würde ich nicht als »plastisches Denken«8 bezeichnen, da mit dem semantischen Feld der Plastik seit der Weimarer Klassik die Ästhetik der Skulptur und des marmornen Weiß mehr als die Farbensprache konnotiert wird. Zutreffender scheint mir die von Wolfgang Riedel im Zusammenhang mit Gottfried Benn eingeführte Formel von einem »Denken in Bildern, den inneren Wünschen und Ängsten gemäß, mit dem Fundus der persönlichen und der kulturellen Reminiszenzen.«9 Gottfried 4 5
6 7
8
9
Josef Leitgelb (Die Trakl-Welt, 1951) zitiert in Rudolf Dirk Schier: Die Sprache Georg Trakls, Heidelberg 1970, S. 26. Karl Ludwig Schneider: Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Heyms, Georg Trakls und Ernst Stadlers. Studien zum Sprachstil des deutschen Expressionismus, Heidelberg 1954, (Probleme der Dichtung, Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Heft 2). Georg Trakl: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walter Killy und Hans Szklenar, München, 1972, S. 222. »In den Nachmittag geflüstert«. Trakl 1972, S. 32. Bernhard Böschenstein: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werk Georg Trakls. In: Walter Weiß und Hans Weichselbaum (Hg.): Salzburger Trakl-Symposion, Salzburg 1978, (Trakl-Studien, Bd. IX) S. 9–27, weist auf S. 18. nach, daß bei Georg Trakl »sanfter Wahnsinn« und »Saitenspiel«, »Hölderlin-Worte und -Vorstellungen« sind. Laura Cheie: Plastisches Denken und poetisches Formgefühl. In: L. Cheie: Die Poetik des Obsessiven bei Georg Trakl und George Bacovia, SalzburgWien 2004, (Trakl-Studien, Band XXII) S. 76ff. Wolfgang Riedel: Endogene Bilder. Anthropologie und Poetik bei Gottfried Benn. In: Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riedel und Sabine Schneider (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg 2005 (S. 163–201), S. 165.
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Benn charakterisierte »das moderne Ich« in seinem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1920 mit folgendem Satz: »Die ganze äußere Welt ist ihm als ein inneres Erlebnis gegeben«.10 Die Formel gilt ebenfalls für Georg Trakls poetisches Ich. Auch die Beobachtungen Manfred Riedels an Benns Gedichten ließen sich auf Trakl übertragen: Regressionstendenzen, Sehnsucht nach der Zerlösung des Ich.11 Mit psychoanalytischen Begriffen ausgedrückt, handelt es sich bei Georg Trakl wie bei Gottfried Benn um einen »maternalen Regressionszug«,12 um einen Wunsch des Ichverlustes und eine Sehnsucht nach Katabasis in uterale Geborgenheiten als Folge des Geburtstraumas.13 Von der Katabasis als Struktur von Trakls Dichtung sprach schon Heinrich Goldmann14 und meinte damit Themen des Abstiegs. »Als psychisches Geschehen bedeutet [dies] ein Zurücksinken der psychischen Energie, der Libido, in die Tiefe, in das Unbewußte«;15 »Es ist Erleben des Einen und Allen. Es ist Tod, es ist Umnachtung. Und zugleich ist es letzte Erfüllung, Vereinigung.«16 Neben diesen allgemeinen, insgesamt überzeugenden Analysen ging aber Heinrich Goldmann zur Aufstellung eines allzu eindeutigen symbolischen Glossars von Trakls Farbensprache: »An Häufigkeit überragen Blau (S. 130) und Schwarz (S. 120) alle andern einzelnen Farbbezeichnungen, ihnen folgen Goden (S. 70), Weiß und Rot.« (S. 29); Blau sei »Das Heilige, Göttliche und Erhabene« (S. 30); Schwarz, »die Farbe des Todes, des Verderbens« (S. 33); »Weiß steht dort, wo das Verhängnis schon eingetreten ist« (S. 36); »Rot hat bei Trakl die übliche Bedeutung des Feuers und des Bluts, des Triebes und der Affekte« (S. 38); Purpurn sei »die Farbe des Leidens und des Schmerzes« (S. 39); Golden bedeute »Reife und Fülle […] meist vergangen« (S. 40); »das lunare Silbern [charakterisiere sich durch die] häufige Verbindung mit Gespenstischem, Jenseitigem [und sei ein] postmortaler Zustand.« (S. 41). 10 11 12 13
14 15 16
Gottfried Benn: GW, Bd. 3 (S. 29–46), S. 43f. Wolfgang Riedel: Endogene Bilder, S. 187. Sándor Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie, Leipzig u.a. 1924, S. 341. Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Wien 1924; ND Gießen 1998. Die Hinweise auf Ferenczi und Rank verdanke ich dem aufschlußreichen Aufsatz von Manfred Riedel zu Gottfried Benn. Heinrich Goldmann: Katabasis. Eine Tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls, Salzburg 1957. H. Goldmann 1957, S. 164f. H. Goldmann 1957, S. 172.
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Solche »Farben-Lexika« der Gedichte Trakls können nicht in allen Fällen richtig sein. Eckhard Philipp hat hervorgehoben, dass z.B. »›Schwarz‹ einen Umschlagswert besitzt, der in den semantischen Wert der Farbe einbezogen werden muss und nicht isoliert gesehen werden darf« und dass »jede Farbe an einen scheinbaren Grundwert gebunden ist, der sie in eine andere Bedeutungsrichtung bringt. Es scheint, als könne der Dichter das eine ohne das andere nicht nennen. Für Schwarz ist das vor allem die Farbe Rot. Hinzukommt, dass an einigen Stellen die Negativität der Farbe aufgehoben oder neutralisiert wird durch positive Kontextbereiche, so dass Schwarz nicht als Bezeichnung des Negativen schlechthin erscheint. Es tritt z.B. in Zusammenhang mit Blau auf und wirkt daher nicht ›stationär‹.«17 Trotzdem versucht auch Eckhard Philipp, die »semantischen Valenzen einiger Farbwörter« zu bestimmen. »Weiß: Fehlen, Abwesenheit einer Substanz, Verlust«;18 »Gold und Blau: etwas Religiöses, Positives«; »Blau weist mehr auf Zukünftiges hin, Golden steht mehr unter dem Zeichen der Erinnerung. […] Blau weist auf einen Zustand hin, der vor dem liegt, was man in den Gedichten Trakls zu den Erscheinungen des Verfalls und der Vereinzelung rechnen kann.« »Das mit Gold Bezeichnete ist das Gewesene, das sein Ende gefunden hat.«19 Obwohl viele Befunde dieses Autors schwer zu bestreiten sind (z.B. »Farben geben nicht die gesetzmässige Natur in bezug auf den Sinn des Auges« [Goethe, Farbenlehre] wieder; im Gegenteil: »Farben sind bei Trakl semantische Kategorie, unter der etwas fraglich wird, wenngleich sie auch […] für einen Moment das Was der Dinge im jeweiligen Vers oder Gedicht fixieren«20), überzeugt sein Schluß nicht ganz: »Farbwörter« bildeten »ein semantisches Netz« von bemerkenswerter »Einheitlichkeit und Verbindlichkeit« (S. 52); es gehe »um die Schaffung neuer Äquivalenz-Systeme, um eine Art ›farbiges Analogon‹ zur Sprache.« (S. 55) Jeder Versuch, das Lexikon und die »Grammatik der Farben« bei Trakl zu kodifizieren, scheint zum Scheitern verurteilt. Z.B. kann das Farbwort »blau«, das viele Trakl-Interpreten als positiv deuten, auch
17 18 19 20
Eckhard Philipp: Die Funktion des Wortes in den Gedichten Georg Trakls. Linguistische Aspekte ihrer Interpretation, Tübingen 1971, S. 46. E. Philipp 1971, S. 46f. E. Philipp 1971, S. 48ff. E. Philipp 1971, S. 56f.
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in einem eindeutig negativen Zusammenhang vorkommen: »Am Abend säumt die Pest ihr blau Gewand …«.21 Von der Hypothese ausgehend, dass die Farben bei Georg Trakl eine Art »Geheimcode« und »Geheim-(Farben)sprache« bilden, die nicht nur nicht lexikalisch aufgeschlüsselt werden kann, sondern überhaupt nicht rational, das heisst nicht in Wörter übersetzt werden kann, und die eine andere Sprache innerhalb der Wortsprache bildet, möchte ich andeuten, dass die Farbensprache Trakls manchmal die Aussagen der Wortsprache zurücknimmt, bzw. relativiert. Dies möchte ich anhand eines Vergleichs der Gedichte ›Passion‹ und ›Grodek‹ zu zeigen versuchen. Auf den ersten Blick haben beide Texte wenig Gemeinsames. Das erste Ensemble von drei Fassungen und das berühmte ›Kriegsgedicht‹, entziffert man nur deren Wortsprache, sind fremde Sphären. Durch die Farbensprache sind sie aber eng verwandt. Bekanntlich komponieren die häufigen Landschaftsmotive Trakls zugleich konkrete Landschaftsbilder und seelische, expressive Landschaften. Dieses Denken und Fühlen in (Landschafts)-Bildern verwandelt die ganze äußere Welt in ein inneres Erlebnis. Es verrät zugleich eine Regressionstendenz, einen Wunsch nach Zerlösung und Auslöschung des Ich, die wiederum eine Vereinigung mit dem NichtIch bedeutet, eine Sehnsucht nach Ichverlust und Aufhebung der Subjektivität in der Objektivität einer Landschaft ohne Menschen. Im ›Helian‹-Gedicht setzt der zweite Teil mit dem Vers ein: ›Gewaltig ist das Schweigen des verwüsteten Gartens‹, auf den dann der Eingangsvers des dritten Teils antwortet: ›Erschütternd ist der Untergang des Geschlechts‹. »In der Umwertung zeigt sich sowohl die Wendung von Nietzsche zu Karl Kraus und den kulturkritischen Tendenzen des ›Brenner‹ an, als auch die Durchdringung von Ästhetik und Ethik, die fortan die Lyrik Trakls bestimmt. Der umhegte schöne Raum, das künstlich künstlerische Paradies ist verlassen, verfallen, verdorrt, verbrannt. An die Stelle des Gartens tritt als poetischer Raum der Wald.«22 Dies ist in ›Passion‹ vollends geschehen, und die letzte Zeile (»In der steinernen Stadt«23) beschwört keinen Gegensatz 21 22
23
›Die Verfluchten‹. In: Georg Trakl: Das dichterische Werk, S. 59. Hildegard Steinkamp: Die Gedichte Georg Trakls. Vom Landschaftscode zur Mythopoesie, Frankfurt/Main – Bern – New York 1988, (=Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, Bd. 4). ›Die Verwandlung des Gartens. Das Weiterwirken eines Motivs‹, S. 187–195, hier S. 190. Passion‹, 3. Fassung, in Georg Trakl: Das dichterische Werk, S. 70.
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zwischen der schönen Welt des Gartens und der Stadt: Das Chaotische, das Widernatürliche, der Wahnsinn sind überall. »Steinern« ist auch die schuldhafte Umarmung unter den Tannen des zum Wald verkommenen Gartens. Unter finsteren Tannen Mischten zwei Wölfe ihr Blut In steinerner Umarmung24
In ›Grodek‹ ist ebenfalls der Gegensatz zwischen den »herbstlichen Wälder[n]« der Endzeit-Landschaft des Schlachtfelds am Anfang des Gedichts Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Von tödlichen Waffen›25
und dem »Hain«, dem kultischem Ort, an dem »der Schwester Schatten« die Opfer »grüsst«, aufgehoben. Die Schuld der Geschwister und die Verschuldung der sich im Krieg in ihr Gegenteil verkehrenden Zivilisation werden wie der Hain und die herbstlichen Wälder gleichgestellt. Auffällig ist die Parallele der Farbenkomposition in ›Passion‹ und in ›Grodek‹. Es rauscht die Klage das herbstliche Rohr, Der blaue Teich, Hinsterbend unter grünenden Bäumen Und folgend dem Schatten der Schwester; Dunkle Liebe Eines wilden Geschlechts, Dem auf goldenen Rädern der Tag davonrauscht. Stille Nacht.›26 Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen Und blauen Seen, darüber die Sonne Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrer zerbrochenen Münder.›27
24 25 26 27
G. Trakl: Das dichterische Werk, S. 69. ›Grodek‹. In: G. Trakl: Das dichterische Werk, S. 69. ›Passion‹, Zeilen 4 bis 11. In: G. Trakl: Das dichterische Werk, S. 69. ›Grodek‹, Zeilen 1 bis 7. In: G. Trakl: Das dichterische Werk, S. 94.
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Bernhard Böschenstein hat in ›Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werk Georg Trakls‹28 – neben aufschlußreichen Parallelen zwischen den Themen »sanfter Wahnsinn«, »Saitenspiel« in ›Passion‹ (in ›Grodek‹ sind es »die dunkeln Flöten des Herbstes«), die »Hölderlin-Worte und -Vorstellungen« sind – auf Rimbauds ›Illuminations‹ hingewiesen: »Und lange schaue ich in die melancholische Gold-Lauge des Sonnenuntergangs«. Diese Stelle in ›Enfance IV‹, einem Teil der ›Illuminations‹, in dem vor allem Bilder der Einsamkeit und des Unbehagens vorkommen, lautet im französischen Original: Je suis le saint, en prière sur la terrasse, […] Je vois longtemps la mélancolique lessive d’or du couchant. […] Ce ne peut être que la fin du monde, en avançant.
Diese »mélancolique lessive d’or du couchant« wird von Rimbaud als »la fin du monde« (»der Weltuntergang«) gedeutet. In diesem Kontext versteht man besser »die goldnen Ebenen« in ›Grodek‹ und den »auf goldenen Rädern« davonrauschenden Tag in ›Passion‹. An beiden Stellen konnotiert »golden« nichts Positives, sondern die Welt- und die Menschheitsdämmerung. In beiden Gedichten wird Blut gemischt und vergossen. Unter finsteren Tannen Mischten zwei Wölfe ihr Blut›29 Doch stille sammelt im Weidengrund Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;›30
Eine weitere Farbensetzung verbindet ›Passion‹ und ›Grodek‹: »der blaue Teich« (›Passion‹, Zeile 6) und die »blauen Seen« (›Grodek‹, Zeile 4). Der blaue Teich konnotiert das archaische Element der Mutter, die Schuld des inzestuösen Begehrens der Mutter, das sich in die inzestuöse Schwesterbeziehung übertragen hat.31 In der gleichen Richtung würde ich auch die »blauen Seen« in ›Grodek‹ interpretie28 29 30 31
In: Walter Weiß und Hans Weichselbaum (Hg.): Salzburger Trakl-Symposion, Salzburg 1978, (Trakl-Studien, Bd. IX) S. 9–27. ›Passion‹, Zeilen 13–14. In: Georg Trakl: Das dichterische Werk, S. 69. ›Grodek‹, Zeilen 8 bis 10. In: G. Trakl: Das dichterische Werk, S. 94. Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie, Tübingen 1985, S. 360.
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ren: sozusagen als Signal, das den zweiten Teil des Gedichts und die Erscheinung der Schwester ankündigt. In diesem Punkt kann ich der im übrigen so eindrucksvollen Interpretation von Theo Buck nicht folgen: »Die Eindrücke der Naturordnung (»herbstliche Wälder«, »goldene Ebenen«, »blaue Seen«) werden schroff konterkariert und damit in ihrer positiven Wirkung aufgehoben durch die jeweilige Gegenbewegung (»von tödlichen Waffen«, »sterbende Krieger«).«32 Hier scheinen mir die Landschaftsbeschreibung, die Kriegsstimmung und im zweiten Teil die Figur der Schwester aufs engste verflochten. Deshalb stimme ich mit Gunther Kleefeld überein, der beim Vergleich des »Naturgedichts« ›Das Gewitter‹ und des Kriegsgedichts ›Im Osten‹ zu folgendem Schluß kommt: »Nur bei oberflächlicher Betrachtung sind diese beiden Gedichte thematisch verschieden. Die Kriegsszenerie und die Gewitterszenerie sind symbolisch äquivalent, beide gestalten das gleiche »Thema«: das Inferno, das die »animalischen Triebe« anrichtet.«33 Das gemeinsame Thema ist der Destruktionstrieb, als steinerne Erstarrung und animalisches Rasen dargestellt.34 Dieser Vergleich von ›Passion‹ und ›Grodek‹ bestätigt die Auffassung von Jaak De Vos: »Sündenfall und Jüngstes Gericht sind auch in Trakls Privatmythologie die Marksteine der menschlichen Existenz, sind Anfang und Ende der Menschheitsgeschichte. […] Persönliches Erlebnis wird zum Gleichnis eines Weltzustandes. […] Trakls Texte verhüllen, was sie aussagen, setzen womöglich schon im Entstehungsprozess, gewiss aber in der Bearbeitungsphase, ein ›Zensur‹-Verfahren in Gang, das auf Maskierung, Objektivierung, Neutralisierung und
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Theo Buck: Negative Utopie. Zu Georgs Trakls Gedicht ›Grodek‹. In: Rémy Colombat und Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser TraklSymposion, Innsbruck 1995, (Brenner-Studien, Bd. XIV) S. 171–180, hier S. 173. Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne, S. 196. Vgl. Patrick Bridgwater: Georg Trakl and the Poetry of the First World War. In: William E. Yuill und Walter Methlagl (Hg.): Londoner Trakl-Symposion, Salzburg 1981, (Trakl-Studien, Bd. X) S. 96–113. »On the surface ›Grodek‹ appears to be perhaps the most impersonal »front-line poem« ever written; beneath the surface it is desperately, painfully personal.« (S. 108). Die Folge des Aufsatzes ist mit meiner Interpretation nicht vereinbar: »Die Schwester ist hier – Beleg für Trakls anhaltende Wagner-Faszination – in eine Walküre-Figur transformiert, die die toten Helden in Walhalla begrüßt. Überhaupt dürfte das übersteigerte Wagnerische Pathos in diesem Gedicht ein Ausdruck des überreizten Zustands sein, in dem sich damals der Dichter befand.« (Zusammenfassung, S. 113).
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Jacques Le Rider
Universalisierung der eigenen Erfahrungen hinzielt.«35 Aus dieser Sicht sind das »Denken in Bildern« und die »Farbensprache« eine Art Subtext, den man als Kontrapunkt zu der rationalen Wortsprache des Gedichts und als »enthüllendes Symptom« entziffern und deuten kann. In ›Grodek‹ wird »das ursprüngliche Schuld- und Trauergefühl« in der Form einer »Abrechnung mit dem Abendland« reaktiviert.36 Wenn man diese interne Intertextualität der Gedichte Trakls ernstnimmt und den einheitlichen Farb- und Landschaftscode von einem Text zum anderen verfolgt, kommt man zu etwas anderen Schlüssen als die textimmanent verfahrende Interpretation der einzelnen Gedichte. So kann man ein Rapprochement zwischen ›Passion‹ und dem ›Kriegsgedicht‹ ›Grodek‹ durchziehen, die auf den ersten Blick zwei heterogene Textzusammenhänge bilden. Die Logik der Farben und die Landschaftsmotive (in ›Passion‹, die Explosion des Gartens; in ›Grodek‹ die Verdichtung und Zuspitzung der obsessiven seelischen Landschaft Trakls) legen den Schluss nahe, dass ein persönliches Erlebnis zur Chiffre eines Weltzustandes und ein apokalyptisches Ereignis der Menschheitsgeschichte, der Erste Weltkrieg, zum Gleichnis der eigenen Existenz werden.
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Jaak De Vos: ›Die letzten Tage der Menschheit‹. Georg Trakls EndzeitDenken. In: Hans Weichselbaum und Walter Methlagl (Hg.): Deutungsmuster. Salzburger Treffen der Trakl-Forscher 1995, Salzburg 1996, (TraklStudien, Bd. XIX) S. 103–134, Zitate: S. 114f. und S. 125. Maurice Godé: Leserorientierte und textgenetische Deutungsmuster – auf Trakls Lyrik angewendet. In: Weichselbaum 1996, S. 135–150, S. 146.
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László I. Komlósi*, Elisabeth Knipf 1 Leitpfade der Vorstellungen und die Brücken zwischen begrifflichen Fragmenten: Eine kognitive Analyse des Gedichts ›Verfall‹ von Georg Trakl
Die Feststellung, dass etwas »schön« aber »unverständlich« ist, ruft nicht nur eine kognitive Dissonanz und logische Inkronguenz hervor, sondern erweckt in den Rezipienten auch eine perzeptuell-phänomenologische Inkrongruenz, eine Unvereinbarkeit. Denke man nur an den bekannten Gemeinplatz, wonach »die Vernunft Schönheit und Geordnetheit ist«. In diesem Aufsatz soll auf dieses Problem näher eingegangen werden. Die Antwort kann in der Untersuchung der Beziehung zwischen der Beschaffenheit des mentalen Lexikons und jenen mentalen Prozessen gesucht werden, die für die Bedeutungskonstitution verantwortlich sind. Konkreter formuliert setzten wir zum Ziel, in Zusammenhang mit der Analyse des Gedichtes ›Verfall‹ von Georg Trakl die kognitiv-affektiv-perzeptuellen Parameter und Voraussetzungen der Begriffe Verständlichkeit und Interpretierbarkeit zu untersuchen. Die Tradition der literarischen Moderne vor Augen haltend können folgende Fragen gestellt werden: (i) Aus welchem Blickwinkel kann etwas als »schön« und als »unverständlich« bezeichnet werden? (ii) Aufgrund welcher Aspekte kann überhaupt so ein Urteil gefällt werden? (iii) Auf welche Weise kann das untersuchte Trakl-Gedicht angenähert werden, was ist daran auffällig, was kann man da zunächst bemerken? Das Gedicht besteht – wie jedes andere Gedicht auch – aus Wörtern, Ausdrücken, Gedankenassoziationen, aus einem Gewebe.
1. Der theoretische Hintergrund der Untersuchung Im mentalen Lexikon dominiert eine feldmäßige Aufteilung, auf deren Grundlage auch die Assoziationsnetze aktiviert werden. Gleich*1 Der Autor dankt der interuniversitären Forschergruppe »Das Problem der Evidenz in der theoretischen Linguistik« der Ungarischen Akademie der Wissenschaften für ihre wissenschaftliche Unterstützung.
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zeitig kennen wir auch eine weitere Auffassung über die mentalen (kognitiv-affektiven) Prozesse, in denen dem Kontext, der Situation eine wichtige Rolle, eine Auslösefunktion zukommt. Diese dynamischen Operationen der Bedeutungserweiterung gewinnen gegenüber den in den Bedeutungsnetzen verankerten – eher als statisch anmutenden – Bedeutungswerten an Priorität. Argument A Wenn jemand etwas als »schön« einstuft, kann angenommen werden, dass die betreffende Person ein positives Erlebnis, eine positive Begebenheit erlebt hat. Das ist ein phänomenologisches Werturteil. Im generischen Sinne kann gesagt werden, dass die betreffende Person ihrer Erfahrung, ihrem Erlebnis das Attribut »schön« verleiht, d.h. dass die Person mit dem Akt der Verleihung des »Schönen« eine sinnvolle, eine mit Bedeutung verbundene Handlung vollzieht. Vor diesem Hintergrund ist es ersichtlich, dass das Erlebnis, die Erfahrung Sinn hatte und das »schöne« Erlebnis bedeutet hierbei, dass der Rezipient das »Schöne« selbst erlebt und erfahren hat. Argument B Wenn jemand etwas als »unverständlich« qualifiziert, kann angenommen werden, dass die betreffende Person ein negatives Erlebnis, eine störende Sache erlebt hat. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die betreffende Person ein Erlebnis als eine begriffliche Störung oder eine begriffliche Inkronguenz empfindet und mit dieser Assoziation – trotz allem – eine sinnvolle, bedeutungsvolle Handlung vollzogen hat. Selbst die Wahrnehmung, die Erfahrung trägt Bedeutung, d.h. sie ist sinnvoll, da jedoch das Ergebnis »Unverständlichkeit« ist, geht es um eine kontrastierende Feststellung über eine begriffliche Inkongruenz, die nur vor dem Hintergrund einer Kongruenzerwartung gemacht werden kann. Die Argumente A und B sind keine Sofismen, sondern Ausgangspunkte, die für die weiteren Ausführungen Relevanz haben. Es soll damit eine positive Behauptung suggeriert werden: Wenn von etwas ausgesagt wird, dass es »unverständlich« ist, steckt gleichzeitig eine implizite Annahme darin, dass nämlich dieses Qualitätsurteil nur bei Vorhandensein von Normen des »Verständlichen« und
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des »Sinnvollen« ausgesagt werden kann. Im Sinne der strukturalistischen Traditionen ist das intrinsische Gegenteil von »schön« »hässlich« oder »ekelhaft« und das Antonym von »verständlich« ist »unverständlich«. Hierbei tauchen Fragen auf, wie die Begriffe »sinnvoll« und »sinnlos« und »unsinnig« voneinander abgehoben werden können? Wo gibt es eine Trennlinie zwischen »verständlich« und »unverständlich«? Liegt es an der Begrifflichkeit der Wörter oder an dem Kontrast der Suffixe »-voll« und »-los«, ob etwas »sinnvoll« und »sinnlos« ist? Oder aber liegt es an der Beschaffenheit der mentalen Prozesse, die mit Recht als Zugangspfade bezeichnet werden, denn – metaphorisch gesehen – kann dieser Weg zu den möglichen Bedeutungen führen oder auch ein Entwurf unserer Gedanken sein oder das Zurechtfinden zwischen den möglichen Interpretationen. Anhand des Trakl-Gedichts, besser gesagt, mit Hilfe dieses Gedichtes soll hier suggeriert werden, dass etwas dann als »sinnvoll« oder »verständlich« erscheinen kann, wenn eine dahinführende Leitlinie, ein Interpretationsprozess in Funktion tritt, d.h. solche Zugangspfade aktiviert werden, die als »sinnvoll« erscheinen, die den Eindruck verleihen, dass etwas »einen Sinn hat«. Zur Rezeption des Gedichts ›Verfall‹ von Georg Trakl erachten wir es als unumgänglich, die geistigen Parameter jener Zeit und die der literarischen Moderne zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund machen wir auf eine spezifische Subgruppe der Kognition, auf die Fähigkeit der »literarischen Erfahrung«, aufmerksam.1 Es wird angenommen, dass das Phänomen der »literarischen Erfahrung« das Ergebnis einer kulturspezifischen, kontextualisierten Sozialisation ist, in der die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten bei Vorhandensein bestimmter funktionaler Voraussetzungen zu zweckbestimmten Fähigkeiten gestaltet bzw. auf diese zugeschnitten werden. Um diese 1
Vgl. R. W. Gibbs Jr: The poetics of mind: figurative thought, language, and understanding, Cambridge 1994, Mark Turner: The Literary Mind, Oxford/New York 1996, László Imre Komlósi: On the status of Cognitive Linguistics within the realm of Cognitive Science. In: András Kertész (Hg.): Metalinguistik im Wandel: Die ›kognitive Wende‹ in Wissenschaftstheorie und Linguistik. MetaLinguistica 4, Frankfurt am Main 1996, S. 31–53, Elisabeth Knipf, László Imre Komlósi: Einige Aspekte zur Untersuchung von komplexen Konstruktionen. In: R. Brdar-Szabó, E. Knipf (Hg.): Lexikalische Semantik, Phraseologie und Lexikographie: Abgründe und Brücken. Festgabe für Regina Hessky, Frankfurt am Main 2004, S. 205–224.
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zweckbestimmten, kulturorientierten, kontextualisierten kognitiven Fähigkeiten in ihrer Funktion beschreiben zu können, sollen zwei – mit der menschlichen Perzeption und Erkenntnis zusammenhängende – Aspekte der Bedeutungskonstitution hervorgehoben und näher untersucht werden, denen beim Verstehen der Eigenheiten der »literarischen Erfahrung« eine wichtige Rolle zukommt. Aspekt A Im Sinne des konzeptuellen Mapping (conceptual mapping), des im Rahmen der kognitiven Wende entstandenen und in dem Paradigma der modernen Metapherntheorie (Contemporary Metaphor Theory, abgekürzt: CMT) geprägten und bekannten Konzepts, bezeichnen wir jenen Prozess als einen mentalen, bedeutungskonstituierenden Vorgang, in dem die vorhandenen Bedeutungen auf neue begriffliche Bereiche übertragen werden, wo sie als neue Bedeutungen mit erweiterten Bedeutungskomponenten zur Geltung kommen und eingesetzt werden. Die metaphorisch-metonymische Bedeutungskonstitution basiert auf folgendem Schema: AUSGANGS-/SPENDEBEREICH ⇒ ZIELBEREICH (Source Domain ⇒ Target Domain)
wobei das Zeichen »⇒« auf eine Zeichen-/Eigenschaftsübertragung, auf eine Projektion hinweist und diese bedeutet.2 Aspekt B In dem innerhalb der Theorie der konzeptuellen Integration (conceptual integration) als Blending Theorie (Conceptual Blending Theory) bekannten Konzept verstehen wir unter einem mentalen, bedeutungskonstituierenden Vorgang jenen Prozess, der auf bestimmten Denkprozessen beruht, welche als eine eigenartige Funktion des Be2
George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal About the Mind. Chicago 1987, Zoltán Kövecses: Metaphor: A Practical Introduction, Oxford/New York 2002, Zoltán Kövecses: Language, Mind, and Culture, Oxford/New York 2006, Verena Haser: Metaphor, Metonymy, and Experientialist Philosophy. Challenging Cognitive Semantics. Topics in English Linguistics 49. Berlin/New York 2005.
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wusstseins wie z.B. Selektion, Kompression, Projektion, partielle Projektion, Integration, Addition, Tilgung zu betrachten sind. Eine Argumentation, die durch Kontrastieren von möglichen bzw. gegensätzlichen Welten aufgebaut ist, ruft miteinander konkurrierende Segmente der Welt, neue Bedeutungen, hervor, die mit einem Fachwort als »mentale Räume« bezeichnet werden können. Diese mentalen Räume sind das Ergebnis eines Wettbewerbs zwischen Interpretationen: es sind die Operationen der partiellen Projektion, Selektion und Integration bestimmter Eigenschaften der Eingangsräume (input spaces) notwendig, damit ein generischer mentaler Raum konstituiert wird. Zwischen den generischen mentalen Räumen laufen gewisse Prozesse ab, wie z.B. das Kollidieren von faktenwidrigen mentalen Räumen oder die Verschmelzung und Integration von mentalen Räumen.3
2. Spuren der Mechanismen der begrifflichen Projektion und Integration in Trakls Gedicht Wie funktioniert im Allgemeinen Trakls Dichtkunst, welches sind ihre Grundelemente? Die breite Palette der einschlägigen Fachliteratur vermittelt dem aufmerksamen Leser ein Bild über die Dichtkunst von Trakl, die teilweise kontrovers zu sein scheint: Sie reicht von der Anerkennung der Größe des Dichters bis hin zu Interpretationen, die seiner Dichtkunst eine Unverständlichkeit bescheinigen.4 Diese vielseitigen Lesarten deuten darauf hin, welch unterschiedliche Wirkungen die oben bereits erwähnten Mechanismen bei der Rezeption der Trakl – Werke haben. Trakl gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des österreichischen Expressionismus. Sein Gesamtwerk ist geprägt von Schwermut, Trauer, Angst, der Suche nach Gott und dem Sinn des Lebens. Tod, Verfall und der 3
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Gilles Fauconnier, Mark Turner: The Way We Think: Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities. New York 2002, László Imre Komlósi: From Mapping to Conceptual Integration Network: Lotus Kids, Third Rail Issues and Sand Dunes in Metaphorical Meaning Construction for Meme-Based Human Cognition. In: R. Benczes, Sz. Csábi (Hg.): The Metaphors of Sixty: Papers Presented on the Occasion of the 60th Birthday of Zoltán Kövecses. Budapest 2006, S. 116–130 Hans Esselborn: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik, Köln 1981, (=Kölner Germanistische Studien 15.).
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Untergang des Abendlandes sind zentrale Aussagen seiner tiefen Lyrik voller Symbole und Metaphern. Herbst und Nacht bilden die Leitmotive seiner Dichtung. Die bildhafte Sprache seiner Gedichte war von großer düsterer Kraft und Farbenpracht. (Projekt Gutenberg online vorhandene Werke)5 Verfall Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten, Folg ich der Vögel wundervollen Flügen, Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen, Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten. Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten Träum ich nach ihren helleren Geschicken Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken. So folg ich über Wolken ihren Fahrten. Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern. Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen. Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern, Indes wie blasser Kinder Todesreigen Um dunkle Brunnenränder, die verwittern, Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.6
In diesem ganzheitlich-runden, einen kompakten Eindruck erweckenden Gedicht fällt uns zunächst auf, dass der Rezipient vom Autor durch grundsätzlich unterschiedliche, von einander stark abweichende perzeptuell-begriffliche Räume geführt wird. Diese unterschiedlichen Sinnbereiche kommen miteinander durch das Aufblenden von Leitpfaden der Vorstellungen in Berührung, wobei augenblickliche, kurzlebige als möglich erscheinende, komplexe Tropen zustande kommen, die sich für unsere Interpretation sehr lebhaft und vibrierend erschließen lassen. Woher bekommt dieses Vibrieren, dieser häufige Richtungswechsel der Vorstellung seine Legitimation? Es scheint zunächst aus der Beschaffenheit des Erlebnisses, der Erfahrung zu kommen. Als würde sich der Autor diesem Vibrieren
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Projekt Gutenberg online vorhandene Werke: http://gutenberg.spiegel.de/ trakl/ – am 10. 04. 08. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1, hg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Salzburg 1969, S. 59
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seiner Vorstellung hingeben, was das Medium Sprache – die Syntax und Semantik der Sprache, das strukturelle Bindemittel der Sprache schlechthin – unter normalen Umständen eigentlich nicht zulässt. Für den Rezipienten schimmert hier eindeutig eine gewisse Anomalie durch. Es liegt nicht an der Einschränkung der kommunikativen Reichweite der gebrauchten Sprache, denn der Autor verwendet keine Sondersprache, sondern die kodifizierte Standardsprache, die ja überregional und für jedermann verständlich ist. Der Autor richtet sich im großen und ganzen nach dem gewohnten und üblichen Leitfaden der Sprache, so durchbricht er die Regeln der phonologischen Muster nicht, er gebraucht keine nicht-usuellen, oder gar potentiellen Wörter, er richtet sich auch nach den Regeln des deutschen Satzbaus, doch auf der Ebene der Semantik gewährt er sich seine Freiheiten: Wir haben ein wunderbares Exempel der Entautomatisierung der Literatursprache vor uns. In seinen Ausdrucksformen gibt sich der Autor seinen individuellen Vorstellungsgebilden hin, die er versucht, in das Korsett der Sprache zu zwingen. Das gewöhnliche Ausdrucksmittel, das sprachliche Material wird hier zum Gegenstand von Versuchen. Im Mittelpunkt der Äußerungen des Autors stehen die freien Assoziationen seiner Imaginationen, und als Rezipient fühlt man geradezu, wie die sprachlichen Bindemittel auf der syntagmatischen Achse »entautomatisiert« werden, und zwar in dem Maße, dass der Autor mit der Versprachlichung seiner höchst ungewöhnlichen Assoziationen den Rezipienten oft zum Stutzen bringt. Die Sprache steht bei Trakl nicht im Dienste der Vorstellung, sondern im Dienste der Verwirklichung des Erlebnisses, der Perzeption, der Erfahrung. So kommt der Sprache – über die üblichen Funktionen hinaus – eine besondere Funktion zu. Das im Gedicht niedergeschriebene Wort (oder das durch den Autor ausgesprochene Wort) veranlasst uns zu Imaginationen, es bringt in dem Rezipienten etwas in Bewegung, das nicht automatisch durch das bloße Verstehen der Sprache erfolgt. Als Ergebnis der Gedichtanalyse können wir feststellen, dass die Ausdrucksform, die Verwirklichung des Autors durch den Text auf ontologischen Grundlagen beruht. Priorität bekommen die Perzeption und die Erfahrung, die im menschlichen Bewusstsein zu Leitpfaden der Vorstellung werden, mit anderen Worten, zu Vorstellungsgebil-
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den, die dann mit der Aktivierung des Inhalts und Beziehungssystems des mentalen Lexikons eine sprachliche Form annehmen.7 Diese in eine sprachliche Form gegossenen Erlebnis-und Erfahrungsströmungen sind durch das sprachliche Wissen nicht zensiert. Bei der Gestaltung der Gedichte geht es nicht um die syntaktischen und semantischen Wohlgeformtheitskriterien. Trotzdem kann nicht gesagt werden, dass der Autor einfach seinem Spieltrieb folgt: Seine Äußerungen sind nicht geleitet durch willkürliche, blinde Permutationen. Auch der Autor ist gebunden, doch nicht durch sprachliche Regeln, sondern durch die vorstellungskonstituierenden Prozesse und Mechanismen des Bewusstseins. Es soll nachdrücklich betont werden: in der Gestaltung des Gedichts haben wir es mit der Ausformung von Vorstellungen zu tun, die aus unterschiedlichen perzeptuell-affektiven und perzeptuell-begrifflichen Bereichen herrühren. Es steht der Ausdruck des multidimensionalen Charakters von Sinneswahrnehmungen und -erfahrungen im Mittelpunkt,8 die der Autor auf seine Weise versprachlicht. Diese Gebilde kommen anhand von Assoziationen zustande. In diesem Sinne verstehen wir auch das Zitat von Michael Kimmel:9 Threads of imagery bind the fundamental perceptual-conceptual domains together for the temporary and ephemeral establishment of complex tropes as emergent cognitive structures.
Die Erlebnisse gewinnen durch partielle Vorstellungsebilde eine Form, die ihre Bausteine zur sprachlichen Ausformulierung aus dem sprachlichen Repertoire, dem mentalen Lexikon schöpft. Mit diesem Gedicht wird versucht zu zeigen, dass die Dynamik der mentalen Prozesse primär nicht durch sprachliche Mittel bestimmt ist. Durch die 7
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Michael Kimmel: Culture regained: Situated and compound image schemas. In: Beate Hampe (Hg.): From Perception to Meaning: Image Schemas in Cognitive Linguistics, Berlin/New York 2005, (=Cognitive Linguistic Research 29.) S. 285–311, Wofgang Teubert: Über den fragwürdigen Nutzen mentaler Konzepte. In: Kristel Proost, Edeltraud Winkler (Hg.): Von Intentionalität zur Bedeutung konventionalisierter Zeichen. Festschrift für Gisela Harras zum 65. Geburtstag. Tübingen 2006, S. 289–325, Komlósi 2006. Mark Johnson: The philosophical significance of image schemas. In: Beate Hampe (Hg.): From Perception to Meaning: Image Schemas in Cognitive Linguistics. Cognitive Linguistic Research 29. Berlin/New York 2005, S. 15–33. 2005. M. Johnson 2005, S. 294.
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Verschmelzung und das Kontrastieren der unterschiedlichen perzeptuell-affektiven und perzeptuell-begrifflichen Bereiche entstehen nicht selten widersprüchliche, in einem Spannungsverhältnis (kognitive Dissonanz) stehende Vorstellungsgebilde. Doch diese bedürfen keiner Auflösung im Gedicht. Die Rezeption erfolgt zusammen mit den Spannungen zwischen den vibrierenden Ebenen.
3. Leitpfade der Vorstellungen Auf die Frage, welche Art von Erscheinungen, was für Kategorien als Kandidaten für Leitpfade der Vorstellungen in Frage kommen, können folgende wichtige – aus der Kognitionswissenschaft bekannte – Konzepte hervorgehoben werden: – die Vorstellungsschemata (image schemes), – die partiellen Projektionen, – die konzeptuellen Zugangspfade (conceptual pathways) sowie – die Verschmelzung mentaler Räume (blended mental spaces). Diese Begriffe spiegeln mentale Prozesse oder Zustände (nicht selten gestaltartige mentale Konstruktionen) wider, die im Laufe der Interpretation der Bedeutungskonstitution mit bestimmten perzeptuell-affektiven und perzeptuell-begrifflichen Ebenen in Interaktion treten. Die Ergebnisse dieser Interaktionen (dnyamische Bedeutungskonstitution) sind jene emergenten kognitiven Gestalten und Strukturen, die dem Gedicht ein Vibrieren, eine Dynamik verleihen. Wenn wir nun den Versuch unternehmen, den Text des Gedichts ›Verfall‹ zu entschlüsseln, entdecken wir – in der Chronologie des Gedichts – bestimmte perzeptuell-begriffliche und perzeptuell-affektive Ebenen, die auf der sprachlichen Ebene identifiziert werden können: Der temporale Kontext erscheint als der temporale Referenzbereich, als die Ebene der temporalen Wahrnehmung, die den Gedankenassoziationen einen bestimmten Rahmen verleiht: »Am Abend, wenn die Glocken […] läuten«, »in den herbstlich klaren Weiten«. Das Gefühl der Zeitlosigkeit steht im Mittelpunkt des Gemütsausdrucks: »Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken«, wobei dieses Bild gleichzeitig mit dem punktuellen Gefühlsausdruck: »Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern« kontrastiert.
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Die nächste Ebene bezieht sich auf den Ausdruck der Qualitäten, der qualitativen Wahrnehmung durch die Versprachlichung von Adjektiven/Partizipien, Attributkonstruktionen, qualitativen Substantiven: »Frieden« »fromme Pilgerzüge«, »klare Weiten«, »hellere Geschicke«, »blasser Kinder Todesreigen« »verwittern«, »fröstelnd«. Komplementär dazu und gleichzeitig eng verbunden mit den versprachlichten Formen der qualitativen Wahrnehmung ist die Ebene der Farben, der Lichtwahrnehmung, das wellenartige Abwechseln der Lichterscheinungen durch die skalaren Gegensatzpaare »klar – dämmervoll«, »blass – dunkel« sowie die durch die Farbbezeichnung ausgedrückte Vitalität mit »rot«, und gleich additiv dazu das Verwesung und Verfall andeutende »rostig« in den Ausdrücken »klare Weiten«, »dämmervoller Garten«, »roter Wein«, »rostige Gitter«, »blasse Kinder«, »dunkle Brunnenränder«, »blaue Astern«. Die letzte identifizierbare Ebene ist die lokal-räumliche, die Ebene der Bewegungs-Wahrnehmung, ausgedrückt durch die Kontraste von laut und leise: »Glocken […] läuten«, »der Vögel […] Flüge«, weit und nahe: »wundervolle Flüge«, »[…] folg ich über Wolken ihren Fahrten« »Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern«, dynamisch und statisch: »von Verfall erzittern«, »entlaubte Zweige«. Es geht hier vor allem um Verben, die einen geringen Grad der Intensität bezeichnen, auch Privatives ausdrücken wie »entschwinden, entlauben«, oder Verben, die keine Zielgerichtetheit signalisieren: »schwanken, hinwandeln«. Der Dichter bedient sich also Verben, die semantisch gesehen affektive Verben, oft auch konntotiert sind, einen Übergangszustand ausdrücken, auf einen Mangel an Konstantem hinweisen, und somit mit dem Gefühls-und Gemütszustand des Dichters in Einklang stehen. Man könnte wohl das gesamte Gedicht auch entlang der oben geschilderten Beschreibungsebenen darstellen. Hier soll nur exemplarisch gezeigt werden, wie die ineinander überleitenden – mit einem Index versehenen – Ausdrücke die vier perzeptuell-begrifflichen Ebenen darstellen. Gleichzeitig soll betont werden, dass diese Ebenen keinesfalls zur Rezeption ausreichend sind. Das sind lediglich grob und vage umrissene Ebenen, die lediglich Stützpunkte zu den durch mentale Prozesse entstehenden neu zu konstituierenden Bedeutungen geben können. Mit diesen Ausdrücken kann der Dichter seine Unsicherheit, sein Nicht-zur-Ruhe-kommen ausdrücken, seine Gefühle, die er mit dem Erlebnis des Verfalls, des Vergehens verbindet.
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Am AbendTemp, wenn die GlockenRaum FriedenQual läutenRaum FolgRaum ich der Vögel wundervollenQual FlügenRaum Die langRaum geschart, gleich frommenQual PilgerzügenRaum, EntschwindenQual in den herbstlich klarenLicht WeitenRaum. Angesichts des oben zur sprachlichen Ausdrucksweise Gesagten tauchen hinsichtlich der Verständlichkeit des Gedichts noch folgende Fragen auf: (i) Werden die Bedeutungen, die wir im Gedicht entdecken, vom Rezipienten einfach erkannt, durch etwas hervorgerufen, mit etwas identifiziert oder aber vom Rezipienten selbst konstruiert? (ii) In welcher Weise wird die ausgewählte oder konstruierte Bedeutung interpretierbar? Die Beobachtungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass die aus dem mentalen Lexikon abgerufenen Wörter und Ausdrücke mit Hilfe des Langzeitgedächtnisses auf lineare Weise Vorstellungsschemata aktivieren, die mit bestimmten Sinnbereichen assoziiert werden. Gleichzeitig muss in einer nicht-linearen, multidirektionalen Modalität zwischen diesen perzeptuell-affektiven Bereichen eine Verbindung, eine Erreichbarkeit garantiert werden. In den zwei Verbindungsweisen liegen folgende Eigenschaftspaare verborgen: linear/analytisch und nicht-linear/holistisch. Aufgrund des bisher Gesagten könnten folgende Ansätze zu Trakls Rezeption formuliert werden: Trakls Ausdrucksweise ist einzigartig: Er erfasst und versprachlicht die ununterbrochene und multidimensionale Natur des Erlebnisses, des Eindrucks, der Perzeption und des Verstehens. Seine Dichtkunst spiegelt den Lauf und die Strömung unseres alltäglichen Erfahrens und der Wahrnehmung, die nicht nur mentale Erscheinungen sind, sondern auch physische Phänomene wider. Die Architektur (das Gewebe) der Trakl-Texte ermöglicht eine mehrdirektionale Erreichbarkeit der begrifflichen Schemata und zwar zu den perzeptuell-begrifflichen und perzeptuell-affektiven Ebenen. Für die Interaktion, die zwischen den durch die lexikalischen Prompts aktivierten Vorstellungsmustern besteht, ist das Kurzzeitgedächtnis verantwortlich, denn der Rezipient wird mit ständig neuen, emergenten in Kontexten auftretenden Bedeutungen konfrontiert.10 Es ist also
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Vgl. Komlósi 2006, Komlósi László Imre, Elisabeth Knipf: A contrastive analysis of entrenchment and collocational force in variable-sized lexical units. In: C. S., M. Á. Gómez-González Butler, S. M. Dovál-Suárez (Hg.):
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nicht ausreichend, bereits verankerte lexikalische Bedeutungen hervorzurufen, vielmehr ist entscheidend, dass die Bedeutungskonstruktionen durch asssoziative, mögliche on-line Verbindungen, aufgrund von experimentellen Mechanismen zustande kommen. Beim Verstehen der Struktur des menschlichen Bewusstseins bedeutet die Annahme von mentalen Schemata (image schemes) eine große Stütze. Für Immanuel Kant ist der Begriff des Schemas ein wesentliches Mittel der Überbrückung, der Verbindung, ein Mittel, welches im Erkenntnisprozess eine Art Übergang zwischen den formalen und materiellen Dingen der Welt sichert. In seiner Auffassung ist das Schema jene »dritte Sache«, jenes Element eines Zusammenhalts, der den Begriff als eine formale Erscheinung mit der materiellen Seite der Wahrnehmung und unserer Sinneswahrnehmung verbindet.11
4. Die These der Konzeptualisierung In der Kognitiven Semantik ist die Perzeption und die Kognition charakterisiert durch die Multimodalität, in der das Medium der Modalität sehr vielfältig sein kann, wie etwa verbal, visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch, kinestetisch, prozedural etc. Lexikalische Bedeutungen vermögen die objektive Realität nicht auf direkte Weise wiederzugeben. Sie ermitteln eine Realität durch die Erstellung von mentalen Vorstellungen und Konzeptualisierungen, die aus einer bestimmten Perspektive oder von einem ausgewählten Referenzrahmen ausgehen.12 Der menschliche Verstand – sieht Dinge durch mentale Schemata – durch kognitive Modelle – kann zwischen verschiedenen Referenzrahmen umschalten – kann die Perspektive der Indexierung wechseln – konstruiert Kontexte, um Daten einzordnen.
11 12
The Dynamics of Language Use: Functional and Constrastive Perspectives. Amsterdam 2005, S. 243–268. Immanuel Kant: Critique of Pure Reason. Translated by N. K. Smith. New York 1969, Johnson 2005. Ronald Langacker: Foundations of Cognitive Grammar. Vol. 1. Stanford 1987, Leonard Talmy: Toward a Cognitive Semantics. Vol. 1: Concept Structuring Systems; Vol. 2: Typology and Process in Concept Structuring, Cambridge 2000.
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Die Hauptrichtungen der Kognitiven Linguistik, insbes. die Moderne Metapherntheorie (CMT) suggeriert, dass kognitive Modelle tief im Verstand eingeprägt sind und eine Ontologie im Langzeitgedächtnis haben. Diese kognitiven Modelle garantieren die Grundlage für eine große Zahl von mentalen Konstrukten, die dem Ziel der Bedeutungserstellung und Bedeutungserweiterung dienen. Der Erfahrungsrealismus von Lakoff demonstriert, dass aufgrund von zahlreichem empirischen Material, alle Bedeutungen, auch die abstraktesten (Topologie, Hierarchie, Richtung, Gefühl) die Muster von den Entitäten der Bewegung, des Enthaltens, der Konstruktion, der Separation, der Wahrnehmung und die der physikalischen Prozesse abbilden, d.h. alle Formen unserer Existenz in dieser Welt.13 Trotz der Tatsache, dass die Abstraktion neue Bedeutungsebenen erschließen kann, ist die Sinngebung in der menschlichen Natur verankert; als dessen Ergebnis erscheint die Verkörperlichung der Erfahrungen in Form von Gedanken, Sprache und Kultur. Laut der Metapherntheorie liegt die Kraft der Sinngebung in der unmittelbaren Rückkopplung zu den »existenten physikalischen Entitäten« bzw. in der Rückkehr zu den grundlegenden Situationen und Erfahrungen des Lebens. Die konzeptuelle Blending Theorie wiederum verkündet die Unabhängigkeit der mentalen Kreation von der körperlichen Erfahrung. Die Theorie geht viel weiter und behauptet, dass die Kraft des Gedankens den aus der konkreten körperlichen Erfahrung stammenden Ausgangsbereich verändern kann. Sie meint, dass keine mentale Vorstellung identisch mit jenem konkreten physischen Ereignis ist, aus dem sie stammt. So konstituiert sich die Bedeutung durch mentale Räume, die aus einem physikalischen Kontext herausgehoben und durch Gedanken eine Form erhalten haben. Die Kraft der Bedeutungskonstitution liegt darin, dass der Denkprozess (die Kraft der mentalen Prozesse) selbst die Bedeutungen zustande bringt, es werden also nicht bereits vorhandene Bedeutungen, vorhandene Gedanken aus dem Spendebereich oder deren Übertragung, Projektion oder Manipulation benötigt. Die Blending Theorie demonstriert eine hohe Plastizität der Kognition und identifiziert viele Fähigkeiten des Verstandes, wodurch neue Bedeutungen durch Selektion, Kompression, Projektion, Integration etc. zustande kommen. Die Kognition (das Verstehen und das Argumentieren) erkennt durch die metaphorische 13
Vgl. Lakoff 1987, Komlósi 2006.
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Bedeutungserweiterung die Erfahrungswirklichkeit an und benutzt dabei die existenten mentalen Konstruktionen (CMT). So entstehen in der Kognition durch die metaphorische Bedeutungserweiterung und die begriffliche Integration mit Hilfe des Experimentierens mit bereits vorhandenen mentalen Konstruktionen neue Erlebnisse. Vor dem Hintergrund dieser Ansätze können zwei unterschiedliche, komplementäre Aspekte der menschlichen Kognition hervorgehoben werden:14 a. In der Metapherntheorie bleiben die neuen, ausgeweiteten Bedeutungen ihrem Ausgangsbereich treu. Das Denken in der Metapherntheorie ist als ein unidirektionaler, reproduktiver Prozess zu betrachten, da mit der Rückkopplung an den Spendebereich die Gedanken und deren mentale Konstruktionen die Wiederholungen der früher schon entstandenen Muster, der Erlebnisse und Erfahrungen bleiben, die Substanz des Ausgangsbereichs somit beibehalten. b. Die Bedeutungen in der Blending Theorie können auffällig, grell, überladen, pervers, irrelevant, unerwartet, grotesk, unkonventionell, ad hoc und vieles mehr sein, da sie sich frei mit jeder anderen Entität, der sie begegnen, verbinden lassen. Das Denken in der Blending Theorie ist somit selektiv, manipulativ und verfügt über eine starke Transformationskraft hinsichtlich der Erfahrung. Zur Klärung des Begriffs der literarischen Erfahrung ist es im Weiteren noch wichtig, welche Referenzwelten und Zugangspfade für die Rezipienten im Falle eines literarischen Textes existieren. Zu bemerken ist dabei, dass die Zugangspfade und Referenzwelten ein hierarchisches Verhältnis im Zugang zur Welt der Fiktionen zeigen, die wie folgt umrissen werden können. 1. die Ebene des Autors – der weiteste Zugang zur Welt 2. die Ebene des Lesers/Rezipienten – ein privilegierter Zugang 3. die Ebene des Narrators – ein beschränkter Zugang durch den Autor 4. die Ebene des Protagonisten – ein durch den Autor eingeengter Zugang In Trakls Werken gibt es keinen Narrator, eigentlich sind nur der Dichter und der Leser präsent. Es ist eine Spannung zwischen den Zugangspfaden des Autors und des Rezipienten zu den mentalen Räu14
Vgl. Komlósi 2006.
Leitpfade der Vorstellungen und die Brücken zwischen Fragmenten
137
men und den Vorstellungsschemata spürbar. Es ist jedoch nicht nur die zusätzliche Anstrengung, die notwendig ist, die unerwarteten, unlogischen, irrelevanten Ausdrucksformen zu verstehen, aufzuarbeiten, vielmehr ist es die kreative, erfahrungs- und erlebnisheischende Weise der Bedeutungskonstitution gegenüber der reproduktiven Weise der Bedeutungserweiterung, die uns in Trakls Dichtung begegnet. Was im Allgemeinen bei einem Durschnittsleser fehlt, ist die Sozialisation bezüglich »literarischer Erfahrung«. Es soll mit Nachdruck betont werden, dass das literarische Erlebnis durch ein spezielles Gemisch von verschiedenen kognitiven Fähigkeiten und dem Ergebnis einer kulturspezifischen, kontextualisierten Sozialisation zustande kommt, wobei beide Techniken der Bedeutungskonstitution, sowohl die experimentell-holistische (in der die potentiellen Inputs des mentalen Raumes verschmolzen und integriert werden) als auch die reproduktiv-analytische Technik (die existente konzeptuelle Strukturen ineinander projiziert) gebraucht werden. Im Gegenstaz zur Sprechproduktion, deren Ziel das Zustandebringen der realisierbaren und kommunizierbaren Sprache ist, basiert die Bearbeitung des literarischen Erlebnisses auf den Mechanismen des inneren Sprechens, die eine nicht realisierbare, nicht-kommunizierbare Sprache zustande bringt. Wichtig scheint hier der Vergleich zu sein, der zwischen einem nicht-kommunizierbaren Material und einem für den Kommunikationszweck nicht fertigen Material unterscheidet. Ein Autor wie Trakl ist verantwortlich für seine Texte, wenn es seine Absicht ist, dass seine Texte verstanden und als literarisches Werk, als ein fiktionaler Text, begriffen werden sollen. Gleichzeitig hat er aber auch die Entscheidungsfreiheit, die Grenze zwischen den Texten, die zur Kommunikation (perzeptuell und konzeptuell) fertig sind und denen, die für die Kommunikation nicht fertige Texte sind, zu bestimmen. Die Theorie der konzeptuellen Integration hat die Erklärung zu liefern, wie diese o.g. Freiheit auf den menschlichen Verstand und den menschlichen Intellekt wirkt, während der Verstand mit kreativen mentalen Prozessen experimentiert. Die mentalen Räume sind kleine, vergängliche Taschen, die sich im Laufe des Denkens und des Sprechens zum Zweck des lokalen Verstehens und Handelns gestalten. Es sind partielle, zusammengesetzte
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László I. Komlósi, Elisabeth Knipf
Entitäten, deren Elemente durch die konzeptuellen Rahmen und die kognitiven Modelle entstehen. Sie stehen miteinader in einem Zusammenhang und können abgewandelt werden, je nachdem, wie sich die Gedanken und das Sprechen entfalten. Die sprachliche Form unterstützt uns bei der Erstellung von mentalen Räumen und deren Beziehungen zueinander. Die Form gibt uns wesentliche Signale über die mentalen Prozesse, in die wir uns vertiefen müssen. Gleichzeitig ist sie auch weitgehend unterspezifiziert, so dass zahlreiche Szenarien enstehen, die potentiell hineinpassen. Bei der Interpretation der verbalen Konstruktionen, in die ein plausibles Szenario hineinpasst, ist es wichtig, unser Hintergrundwissen erreichbar zu machen. Einige Szenarien sind in einem gegebenen Kontext besser glaubhaft als andere.
Konklusion Der Beitrag versuchte eine Antwort darauf zu finden, auf welche Weise die gedankliche Kreativität, die Freiheit der Konstruktion der Gedanken mit sprachlichen Mitteln ausgedrückt werden kann. Es wurde die erfahrungsbasierte Erkenntnis d.h. die metaphorische Bedeutungskonstitution und die experimentbasierte Erkenntnis miteinander verglichen. In dieser Auffassung ergänzen sich die beiden mentalen Techniken: die metaphorisch basierte Bedeutungskonstitution ist reproduktiv, wird durch generierende Muster realisiert, während die Bedeutungskonstitution, die auf der Verschmelzung von mentalen Räumen und der begrifflichen Integration beruht, experiementeller Natur ist und das Ergebnis eines kreativen Prozesses darstellt. In Trakls Dichtung finden wir diese Komplementarität und diese doppelte Technik, die gleichzeitig auch die Grundlage der literarischen Moderne ist. Das Konventionelle kollidiert mit dem NichtKonventionellen, mit den experimentierenden Ausdrücken und den Bedeutungskonstitutionen. Was wir im traditionellen Sinne des Wortes als Assoziation bezeichnen, ist in Wirklichkeit das Ergebnis von identifizierbaren mentalen Techniken und Prozessen, in denen sich eine partielle Selektion, eine partielle Projektion, eine Kompression, Substitution, eine Tilgung oder ein elliptischer Gebrauch, d.h. ein Wettbewerb zwischen miteinander konkurrierenden Welten abspielt.
Leitpfade der Vorstellungen und die Brücken zwischen Fragmenten
139
Die durch das Gedicht entstandene Stimmung ist also ein Moment der Erkenntnis: es treffen begrifflich-affektive Eigenschaften aufeinander bzw. es wird ihnen gleichzeitig Platz in der Interpretation eingeräumt. Ähnliche Erscheinungen sind auch bei der Untersuchung des Humors, der Ironie oder der übertragenen Rede zu beobachten, insofern können hier gemeinsame Ausgangspunkte, gemeinsame Wurzeln angenommen werden.
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László I. Komlósi, Elisabeth Knipf
Georg Trakls ›Geburt‹
141
János S. Petofi ˝ Georg Trakls ›Geburt‹. Einige Aspekte der Interpretation in texttheoretischem Rahmen
0. Einleitende Bemerkungen Mein Vortragstext ist wie folgt strukturiert: (1) Zuerst behandle ich einige charakteristische Eigenschaften der von mir erarbeiteten textologischen Konzeption, die semiotische Textologie heißt, (2) dann präsentiere ich eine mögliche semiotisch-textologische interpretative Annäherung an das Gedicht ›Geburt‹ von Georg Trakl, und (3) ich schliesse meinen Vortrag mit einigen Bemerkungen.
1. Über einige charakteristische Eigenschaften der semiotischen Textologie1 Ziel der semiotischen Textologie ist es für die rationelle Rekonstruktion der verschiedenen Textverarbeitungsoperationen einen theoreti1 schen Rahmen zu liefern. 1
Zu der semiotischen Textologie siehe: Pefofi ˝ S. János: A formal semiotic text theory as an integrated theory of natural language (Methodological remarks). In: Current Trends in Textlinguistics, hg. von Wolfgang U. Dressler. Berlin – New York 1978, (= RTT 2) S. 35–46. Petofi ˝ S. J.: Weshalb Textologie. Aspekte der Analyse von Textkonstitution und Textbedeutung. In: Aspekte der Konnexität und Kohärenz von Texten (= pt 51), hg. von Wolfgang Heydrich und János S. Petofi. ˝ Hamburg 1986, S. 207–229. Petofi ˝ S. J.: Von der Satzgrammatik zur semiotischen Textologie. Einige methodologische Fragen der Textinterpretation. In: Z. Phon. Sprachwiss. Kommunik. forsch. (ZPSK) 40, 1987, S. 3–18. Petofi ˝ S. J.: Language as a written medium: text. Chap. 7. In: An Encyclopaedia of language, hg. von N.E. Collinge. London – New York 1990, S. 207–243.
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János S. Petofi ˝
Ich möchte hier nur die folgenden vier charakteristischen Eigenschaften der semiotischen Textologie kurz darstellen: Die semiotische Textologie a. operiert mit einem flexiblen Modell der Kommunikations-Situation, b. betrachtet die Texte als Zeichenkomplexe, c. unterscheidet zwischen verschiedenen Interpretationstypen, d. definiert für die Zeichenkomplexe verschiedene Organisationsformen.
Abbildung 1.1. Das flexible Modell der Kommunikations-Situation
1.1 Die Repräsentation des Modells Die Buchstabensymbole der Repräsentation des Modells sind wie folgt zu lesen: Ko-Si Kommunikations-Situation (die aus zwei voneinander separierbaren Teilen besteht) eine kommunizierende Person (oder Gruppe) C1 C2 eine andere kommunizierende Person (oder Gruppe)
Petofi ˝ S. J.: Die semiotische Textologie und die pragmatischen Aspekte der Kommunikation. In: Sprache als Kognition – Sprache als Interaktion. Studien zum Grammatik-Pragmatik-Verhältnis, hg. von András Kertész, Frankfurt am Main, Berlin, etc. 1995, (= Metalinguistica 1) S. 59–100. Petofi ˝ S. J.: Scrittura e interpretazione. Introduzione alla Testologia Semiotica dei testi verbali. Roma 2004.
Georg Trakls ›Geburt‹
Prd prd
Rzp rzp
dI
< …,B,…>
[Y] Ve Im Ve’ K Ve-int Ve’-int Ve-eff Ve’-eff
143
die Produzenten-Rolle das Produzieren tprd die Zeit /=tempus/ des Produzierens sprd der Raum /=spatio/ des Produzierens die Rezipienten-Rolle das Rezipieren trzp die Zeit /=tempus/ des Rezipierens srzp der Raum /=spatio/ des Reziepierens die dominierende Intention mit welcher die kommunizierende Person (oder Gruppe) am Kommunikationsprozess teilnimmt die Kommunikationsbasis (die Konfiguration von Wissen, Präsuppositionen und Erwartungen) Jedes C ist durch die zugehörige dI und < …,B,…> charakterisiert. das auslösende Element des Produzierens das Vehiculum (der physische Körper des produzierten Textes) ein Intermediator (eine Person die z.B. einen schriftlichen Text liest, ein Musikstück spielt, usw.) das vom Im transformierte Ve der Kommunikationskanal / die Kommunikationskanäle das interpretierte Ve das interpretierte Ve’ der vom Ve verursachte Effekt der vom Ve’ verursachte Effekt
1.2 Die Texte als Zeichenkomplexe Was die Texte als Zeichenkomplexe betrifft, so definiert die semiotische Textologie für sie sechs konstitutive Komponenten, die in den semiotisch-textologischen Interpretationsprozessen auch durch Piktogramme dargestellt werden (siehe 1.2 Diagramm).
144
János S. Petofi ˝
Abbildung 1.2. Die Piktogramme
Ve: VeIm: Fo: Significans [= Ss]: Se: ReIm: Re:
Significatum [= Sm]:
der physische Körper eines Textes (Vehiculum); das mentale Bild des Vehiculum (Vehiculum-Imago); die formale Architektonik des Vehiculum (Formatio); Ve + VeIm + Fo die (linguistisch-)semantische Architektonik des Vehiculum (Sensus); das mentale Bild des Relatum (Relatum-Imago); eine Sachverhalts-Konfiguration, die nach Meinung des Interpreten in dem gegebenen Vehiculum zum Ausdruck kommt (Relatum); Se + ReIm + Re
1.3 Die semiotisch-textologischen Interpretationstypen Die globalen Interpretationstypen: theoretische vs. intuitive Interpretation zweiten Grades (symbolisch) vs. ersten Grades (buchstäblich) Die Typen der theoretischen Interpretation: evaluativ vs. explikativ argumentativ vs. deskriptiv prozedurell vs. strukturell
Georg Trakls ›Geburt‹
145
Abbildung 1.3 Die Typen der theoretischen Interpretation
Die Abkürzungen in der Abbildung 1.3 sind wie folgt zu lesen: expl. Int. eval. Int. deskr. arg. strukt. prz.
explikative Interpretation evaluative Interpretation deskriptiv argumentativ strukturell prozedurell
Der Grundtyp der theoretischen Interpretation ist die explikative, deskriptive, strukturelle Interpretation. Die Aufgabe dieses Typs ist es einem Vehiculum eine formale und eine semantische Architektonik zuzuordnen. (Um automatische strukturalistische Assoziationen zu vermeiden, verwendet man im theoretischen Rahmen der semiotischen Textologie den Terminus Architektonik anstatt des Terminus Struktur.) 1.4 Die Organisationsformen der Zeichenkomplexe Im theoretischen Rahmen der semiotischen Textologie unterscheidet man zwischen folgenden Organisationsformen (siehe die Abbildung 1.4):
146
János S. Petofi ˝
die Erscheinungsformen der Organisation in den Architektoniken des textualen und/oder inferenzialen Vehiculum [Ve/Txt und/oder Ve/Inf]
nominale und predikative (ko-)referenziale Organisation [NoRef O und PrRef O]
vertikale und horizontale kompositionelle Organisation [Vkomp O und Hkomp O]
Abbildung 1.4. Die Erscheinungsformen der Organisation
2. Georg Trakl: ›Geburt‹. Eine semiotisch-textologische interpretative Annäherung an das Gedicht 2.1 Die Kommunikations-Situation im Gedicht ›Geburt‹ Das Vehiculum des Gedichtes wurde unter anderem im Jahre 1987 in Salzburg publiziert, und ich – der Rezipient – rezipiere es im Jahre 2006 in Budapest. Meine Reaktion ist eine explikativ deskriptiv strukturelle, interpretative Reaktion, deren Ziel es ist dem Gedicht eine formale und eine semantische Architektonik zuzuordnen. Bei dieser Zuordnung befolge ich die Reihenfolge der Zeichenkonstituenten: Vehiculum, Formatio, Sensus, Relatum. 2.2 Das Vehiculum des Gedichtes Geburt Gebirge: Schwärze, Schweigen und Schnee. Rot vom Wald niedersteigt die Jagd; O, die moosigen Blicke des Wilds. Stille der Mutter; unter schwarzen Tannen Öffnen sich die schlafenden Hände, Wenn verfallen der kalte Mond erscheint.
Georg Trakls ›Geburt‹
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O, die Geburt des Menschen. Nächtlich rauscht Blaues Wasser im Felsengrund; Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel, Erwacht ein Bleiches in dumpfer Stube. Zwei Monde Erglänzen die Augen der steinernen Greisin. Weh, der Gebärenden Schrei. Mit schwarzem Flügel Rührt die Knabenschläfe die Nacht, Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt.
2.3 Bemerkungen zu der Formatio und dem Sensus des Vehiculum, das auch Indizien der Koreferenzialität enthält. Diese Indizien sind Resultate von kognitiv-interpretativen Operationen. – Das Symbol »K« steht für die Kompositionseinheit ersten Grades (grob gesprochen für die einfachen Sätze), – das Symbol »^« steht für die Konkatenation, – die Indizien, konstruiert mittels des Buchstaben »o« und gefolgt von einer Zahl, stehen für Objekte, wobei das Wort »Objekt« im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen ist, z.B. Geburt[o00], oder Stube[o08], – ein Index mit einem Apostroph signalisiert die Zugehörigkeit des so bezeichneten Objektes zu jenem Objekt, bezeichnet durch den selben Index ohne Apostroph, z.B. Gebirge[o01]–Wald[o01’], – die Indizien, konstruiert mit dem Buchstaben »F« und gefolgt von einer Zahl, stehen im Allgemeinen für »identifizierende Objekte«, wobei das Wort »Objekt« im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen ist und ein solches etwas ist, das durch ein »nominalisiertes« lexikalisches Element bezeichnet wird, z.B. Schweigen[F201], – wenn ein Index mit dem Buchstaben »f« beginnt, signalisiert dies eine prädikative Verbindung, z.B. Hände [o03’] – öffnen^sich [fo03’] – wenn ein Index mit dem Symbol »~« beginnt, signalisiert dies eine assoziative Verbindung, z.B. Mutter[o03] – ein^Bleiches[~F103].
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János S. Petofi ˝
[K0]Geburt[o00] [K1]Gebirge[o01]: Schwärze[F101], Schweigen[F201] und Schnee[F301]. [K2]Rot[f1o02] vom^Wald[o101’] niedersteigt[f2o02] die^Jagd[o02]; [K3]O, die^moosigen^Blicke[fo02’]^des^Wilds[o02’].
[K4]Stille[~F201³fo03]^der^Mutter[o03]; [K5][unter^schwarzen[~f101³fo201’]^Tannen[o201’]][L] Öffnen^sich[fo03’] die^schlafenden[~f201³fo03’]^Hände[o03’], Wenn [K6]verfallen[f1o04] der^kalte[~f301³fo04]^Mond[o04] erscheint[f2o04]. [K7]O, [die^Geburt^des^Menschen[o05]][o00’]. [K8]Nächtlich[~f101 & ~f201] rauscht[f2o06] Blaues[f1o06]^Wasser[o06] im^Felsengrund[o01’]; [K9]Seufzend[f1o07] erblickt[f2o07] sein^Bild[Fo07’] der^gefallene[f3o07]^Engel[o07], [K10]Erwacht[f~F1o03’] ein^Bleiches[~F1o03’] [in^dumpfer^Stube[o08]][~L]. [K11]Zwei^Monde[Fo09] [K12]Erglänzen[fo09] die^Augen[o09]^der^steinernen^ Greisin[F203]. [K13]Weh[o10], der^Gebärenden[~fo00³fo10]^Schrei[Fo10]. [K14]Mit^schwarzem[~f101³fo11]^Flügel[o11] Rührt[fo12] die^Knabenschläfe[o13]Obj die^Nacht[~F101][o12]Subj, [K15]Schnee[~F12], der leise aus^purpurner[~f1o02 ³fo14]^ Wolke[o14] sinkt[f~F12].
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Georg Trakls ›Geburt‹
2.3.1 Die Tabelle der Koreferenzialität K0 o00 o01
K1
K2
+
’
K3
K4
K5
K6
+
K7
K8
K9
K10
K11
K12
’
o02
+
K13
K14
~ ’
’
o03
’ +
’
o04
~1
~2
+
o05
+
o06
+
o07
+, ’
o08
+
o09
F+
+
o10
+, F
o11
+
o12
+
o13
+
o14
+
F101
+
F201
+
F301
+
~ ~
~
~
~, ~
~
F203
+ +
f2o02
+
fo03 fo03’
+ + +
f1o04
+
f2o04
+
f1o06
+
f2o06
+
f1o07
+
f2o07
+
f3o07
+
f~F103 fo09 fo10
’~
~
f1o02
fo02’
K15
+ + +
fo11
+
fo12
+
+
150
János S. Petofi ˝
2.3.2 Die Beziehungen zwischen den Koreferenzialitäts-Indizien Geburt
[o00] [die Geburt^des^Menschen[o05]][o00’] der^Gebärenden[~fo00³fo10]^Schrei[Fo10].
Gebirge
[o01] Schwärze
[F101]
Schweigen
[F201]
Schnee
[F301]
Wald Tannen
[o101’] [o201’]
Felsengrund Jagd
schwarz[~f101³fo201’], schwarz[~f101³fo11] Stille[~F201³fo03], schlafend[~f201³fo03’] Nächtlich[~f101 & ~f201] Nacht[~F101 & ~f201][o12]Subj kalt[~f301³fo04] Schnee[~F12]
[unter^schwarzen[~f101 | fo201’]^Tannen[o201’]][L] [in^dumpfer^Stube[o08]][~L].
[o301’] [o02]
Wild
Rot[f1o02], niedersteigt[f2o02] aus^purpurner[~f1o02]^ Wolke[o14] sinkt[f~F12]. [o02’] moosigen^Blicke[fo02’]
Mutter
[o03] Hände ein^Bleiches steinerne^Greisin
[o03’] Öffnen^sich[fo03’] [~F103] Erwacht[f~F103] [F203].
Mond
[o04]
Mensch
[o05]
Wasser
[o06]
Blaues[f1o06] rauscht[f2o06]
Engel
[o07]
Seufzend[f1o07], erblickt[f2o07], gefallen[f3o07]
sein^Bild Stube
verfallen[f1o04], erscheint[f2o04]
[Fo07’] [o08]
Augen
dumpfer[fo08]
[o09] Zwei^Monde
[Fo09], Erglänzen[fo09]
Weh
[o10]
Gebärenden[fo10]
Flügel
[o11]
schwarz[fo11]
Nacht[~F101] Schnee Knabenschläfe
[o12]Subj [o13]Obj,
Wolke
[o14]
Rührt[fo12] [~F12] purpurner[fo14]
Georg Trakls ›Geburt‹
151
2.4 Die vertikale kompositionelle Organisation des Relatum (der Sachverhalte [= S])
[S1] [S2] [S3] [S4] [S5] [S6] [S7] [S8] [S9] [S10] [S11] [S12] [S13] [S14] [S15]
Gebirge: Schwärze, Schweigen und Schnee Rot vom Wald niedersteigt die Jagd O, die moosigen Blicke des Wilds Stille der Mutter unter schwarzen Tannen öffnen sich die schlafenden Hände Wenn verfallen der kalte Mond erscheint O, die Geburt des Menschen Nächtlich rauscht blaues Wasser im Felsengrund Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel Erwacht ein Bleiches in dumpfer Stube Zwei Monde Erglänzen die Augen der steinernen Greisin Weh, der Gebärenden Schrei Mit schwarzem Flügel rührt die Knabenschläfeobj die Nachtsubj Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt
Die übergeordneten »S« Symbole sind wie folgt zu charakterisieren. Es ist zweckmässig die Charakterisierungen in der Richtung »von unten nach oben« zu lesen.
152
János S. Petofi ˝
[S51]: Stille der Mutter – Gebärenden Schrei [S41]: Schweigen, Wald – Stille der Mutter, Tannen [S42]: Geburt des Menschen – erwacht, Bleiches – Gebärenden Schrei [S31]: [S32]: [S33]: [S34]: [S35]:
Gebirge – Wald Stille der Mutter – schlafenden Hände Geburt des Menschen – gefallene Engel erwacht, Bleiches – erglänzen, Greisin Gebärenden Schrei – Knabenschläfe
[S21]: [S22]: [S23]: [S24]: [S25]:
Wald – Wild öffnen sich – wenn erscheint blaues Wasser – erblickt sein Bild zwei Monde – die Augen rührt die Nacht – Schnee sinkt
3. Abschliessende Bemerkungen In dem Vortrag habe ich die Resultate einer semiotisch-textologischen Annäherung an das Gedicht ›Geburt‹ präsentiert. Bei der Präsentation bin ich ›intuitiv‹ vorgegangen, präsupponiert, dass der Leser diese Intuition verstehen und mir dadurch folgen kann. Die Präsentation zeigt, dass es möglich ist eine Interpretation zu konstruieren, die dem Vehiculum des Gedichtes eine korrelierende Sachverhalts-Konfiguration als Relatum zuordnet.
Georg Trakl und Georg Büchner
153
Dietmar Goltschnigg Georg Trakl und Georg Büchner
Mein Referat gliedert sich in drei Teile: Ich skizziere zunächst einige rezeptionsgeschichtliche Stationen von Georg Büchners ›Lenz‹-Novelle, behandle dann im Hauptteil ausführlicher die produktive Aneignung dieses Textes in Georg Trakls ›Traum und Umnachtung‹ und schließe mit einigen kursorischen Hinweisen auf die folgende Rezeption, in der Trakl und Büchner ineinandergeblendet werden. Die Schlüsselbegriffe, die dieses literarhistorische und intertextuelle, Dichterbiographien und Werke übergreifende Blickfeld markieren, lauten: ›Traum‹ und ›Melancholie‹, ›Wahnsinn‹ und ›Tod‹, das frühe, ›zu frühe Sterben‹. Seit dem Expressionismus gilt die von Gerhart Hauptmann am 17. Juni 1887 im Berliner Dichterverein ›Durch!‹ wiederentdeckte und vorgetragene ›Lenz‹-Novelle Georg Büchners als das ›ABC‹ aller modernen psychologischen Prosadichtung, wie der Büchner-Editor Paul Landau es 1913 zum hundertsten Geburtstag des Dichters beispielgebend formulierte, eine Wertung, die dann Arnold Zweig (1923), Anna Seghers (1964) und Christa Wolf (1968) wiederholten.1 Elias Canetti bewunderte 1985 die Novelle als »das wunderbarste Stück Prosa«,2 und Peter Schneider, der 1973 unter exzessiver Verwendung ihres Textmaterials eine gleichnamige, die 1968er Studentenrevolte aktualisierende Erzählung geschrieben hat, nahm 1979 Büchners ›Lenz‹ in die Zeit-Bibliothek der hundert wichtigsten Werke der Weltliteratur auf.3 Heiner Müller erschien die Novelle so hypermodern, dass er sie ins 3. Jahrtausend datierte.4 Nur Peter Hacks tanzte aus der Reihe der Büchner-Rezipienten, wenn er meinte, es sei »bestimmt besser, zwei1 2 3 4
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 3., Berlin 2004, S. 96. D. Goltschnigg, S. 96. Die Zeit-Bibliothek der 100 Bücher, hg. von Fritz J. Raddatz, Frankfurt/M. 1980, S. 193–198. Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie, Frankfurt/M., Wien 1994, S. 518.
154
Dietmar Goltschnigg
mal Goethe[s ›Werther‹] zu lesen, oder wenn man ihn siebenmal gelesen« habe, »das achte Mal zu lesen, als ›Lenz‹ überhaupt zur Kenntnis zu nehmen«.5 Frühe Beispiele der produktiven Rezeption von Büchners ›Lenz‹Novelle finden sich in der deutschen Erzählprosa bei Gerhart Hauptmann (›Bahnwärter Thiel‹, 1887, ›Der Apostel‹, 1890), Alfred Döblin (›Die Ermordung einer Butterblume‹, 1910) und Georg Heym (›Der Irre‹, 1911). Aber auch in Österreichs moderner Erzählkunst hat sich die Rezeption von Büchners ›Lenz‹-Novelle produktiv niedergeschlagen, wie die Beispiele Hofmannsthals und Georg Trakls eindrucksvoll bezeugen. Es war Gerhart Hauptmann vorbehalten, Hofmannsthal in mehreren persönlichen Begegnungen (seit 1899) auf Büchners ›Lenz‹-Novelle aufmerksam gemacht zu haben. Wie Thomas Mann sich noch 1949 erinnern sollte, habe ihm Gerhart Hauptmann – ausgestattet mit einem bewundernswerten »Feingefühl für rhythmische Anklänge und Verwandtschaften« – einmal erklärt, »der Anfang von Hofmannsthals Andreas-Fragment sei beeinflußt von der Art, in der Büchners ›Lenz‹ beginnt. Eine rein rhythmische Beobachtung, auf die so leicht sonst niemand verfallen wäre.«6 Die von Hofmannsthal 1912 in seine populäre Anthologie ›Deutsche Erzähler‹ aufgenommene ›Lenz‹-Novelle (»das wundervolle Fragment«) hat sich freilich auch unter thematischen Aspekten, insbesondere was die enge Verschränkung von Landschaftsdarstellung und Seelenanalyse mit der symptomatischen Polarität von Ruhe und Bewegung anbelangt, unverkennbar auf den zwischen 1907 und 1927 entstandenen ›Andreas‹-Komplex ausgewirkt, dessen Handlungszeit gewiss nicht zufällig mit demselben Jahr (1778) beginnt, in dem Büchners Erzählung spielt. In beiden Figuren, in Lenz wie in Andreas, manifestiert sich auf beklemmende Weise eine die Identität bedrohende Welt- und Bewusstseinsspaltung. Im Gegensatz zum hoffnungslosen Ende von Büchners Novelle, wo Lenz bei 5 6
D. Goltschnigg, Bd. 2, 2002, S. 76. Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans [1949]. In: Th. Mann: Reden und Aufsätze 3, Frankfurt/M. 1960, (Th. Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 11) S. 276; vgl. auch C. F. W. Behl: Aufsätze, Briefe, Tagebuchnotizen. Autobiographisches und Biographisches, hg. von Klaus Hildebrandt, München 1981, S. 98, wo berichtet wird, dass Hauptmann öfter mit Hofmannsthal über Büchners ›Lenz‹-Novelle gesprochen und später deren Einfluss auf das ›Andreas‹-Fragment deutlich wahrgenommen habe.
Georg Trakl und Georg Büchner
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seinem Abtransport aus dem Steintal von »kalter Resignation«, »dumpfer Angst« und »entsetzlicher Leere« befallen wird, plante Hofmannsthal jedoch eine versöhnliche Finalisierung seines Romanprojekts. Zur Konzeption des »letzten Kapitels« findet sich folgende Arbeitsnotiz: »Wie Andreas flüchtet und wieder bergauf fährt, ist ihm, als ob zwei Hälften seines Wesens, die auseinandergerissen waren, wieder in eins zusammengingen.«7 Hofmannsthal mag die Entwicklung seines und Büchners Protagonisten kaum als konträr empfunden haben, sah er doch auch dessen Ende noch durchaus in einem gemilderten Licht: »Des unglücklichen ›Lenz‹ Geschichte bricht finster ab, aber hinter diesem Finsteren dämmert ein Höheres, und seine Seele, fühlen wir, streift nur die Verzweiflung, verfällt ihr nicht«8 – eine freilich harmonisierend-verklärende Deutung, die weder in der Dichtung noch in der Wirklichkeit, weder in der Novellenfiktion noch in der realen Dichterbiographie, verbürgt ist.
1. ›Traum und Umnachtung‹ Georg Trakl dürfte Büchners ›Lenz‹-Novelle über Vermittlung Ludwig von Fickers in der zum Zentenarjubiläum 1913 erschienenen Edition der Leipziger Insel-Bücherei (Nr. 92, zusammen mit dem ›Wozzeck‹) gelesen haben. Ficker hat dann die Novelle am 1. April 1914 in seiner Zeitschrift ›Der Brenner‹ publiziert. Es ist aber auch denkbar, dass Trakl die ›Lenz‹-Novelle aus Hofmannsthals populärer Anthologie ›Deutsche Erzähler‹ von 1912 kennengelernt hat. Jedenfalls muss die ›Lenz‹-Novelle auf ihn sogleich eine so starke Faszination ausgeübt haben, dass er innerhalb kürzester Zeit das Gelesene – ohne irgendwelche erläuternde Arbeitsnotizen – unmittelbar zu einem neuen Text umformte, der dann den zweiten Abschnitt einer vierteiligen lyrischen Prosadichtung bildete. Dieses von Trakl zunächst ›Kaspar Münch‹ oder ›Der Untergang des Kaspar Münch‹ (im Anklang wohl an das ›Kaspar Hauser Lied‹) überschriebene Prosagedicht erschien dann – vermutlich auf Vorschlag Ludwig von Fickers – unter dem
7 8
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller. Bd. 7. Frankfurt/M. 1979, S. 286. H. v. Hofmannsthal: Deutsche Erzähler. In: H. v. Hofmannsthal, Bd. 8, S. 430.
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Dietmar Goltschnigg
endgültigen Titel ›Traum und Umnachtung‹ am 1. Februar 1914 gesondert im ›Brenner‹, also bereits zwei Monate vor Büchners ›Lenz‹Novelle, und wurde schließlich nahezu unverändert in den Band ›Sebastian im Traum‹ aufgenommen. Wie ich schon in meinen ersten wirkungsgeschichtlichen Studien zu Büchner anhand einer Synopse gezeigt habe9 – sie wäre im Detail mit Hilfe der Erläuterungen zur Innsbrucker Ausgabe noch zu ergänzen –, stammt fast das gesamte Motivgeflecht des zweiten Abschnitts von ›Traum und Umnachtung‹ aus der ›Lenz‹-Novelle. In der folgenden Synopse enthält die linke Spalte Zitate aus Büchners Text (nach B 79–101),10 die rechte – in kontinuierlicher Folge – den zweiten Abschnitt aus ›Traum und Umnachtung‹ (nach T 81f.):11 [A] […] er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter erschienen sey; [B] […] wenn […] der Wind […] aus den Gipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm […] und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riß es ihm in der Brust, […] [C] […] die Finsterniß verschlang Alles […] es wurde ihm, als hätte ihn was an der Stirn berührt. [D] […] die Katze lag gegenüber auf einem Stuhl, plötzlich wurden seine Augen starr […] sie gerieth in ungeheure Angst, sie sträubte sich scheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlich entstelltem Gesicht, wie in Verzweiflung stürzten Beide aufeinander los […] 9
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[…] und in der Tür stand die nächtige Gestalt seiner Mutter. […] auf eisigem Gipfel lag der rosige Glanz der Abendröte und sein Herz läutete leise in der Dämmerung. Schwer sanken die stürmischen Tannen über sie und der rote Jäger trat aus dem Wald. Da es Nacht ward, zerbrach kristallen sein Herz und die Finsternis schlug seine Stirne. Unter kahlen Eichbäumen erwürgte er mit eisigen Händen eine wilde Katze.
Vgl. Dietmar Goltschnigg: Büchners ›Lenz‹, Hofmannsthals ›Andreas‹ und Trakls ›Traum und Umnachtung‹. Eine literaturpsychologische Wirkungsanalyse. In: Sprachkunst 5, 1974, S. 231–243; D. Goltschnigg: Rezeptionsund Wirkungsgeschichte Georg Büchners, Kronberg/Ts. 1975, S. 198f. B = Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar, hg. von Werner R. Lehmann. Bd. 1. Hamburg: Wegner 1967. T = Georg Trakl: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar. München 1972.
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Georg Trakl und Georg Büchner [E] […] er erzählte […] seine Mutter […] sey in einem weißen Kleide aus der dunkeln Kirchhofmauer hervorgetreten. […] bis zur Mutter, die hinten im Schatten engelgleich stille saß. [F] […] er meinte manchmal [,] seine Mutter müsse hinter einem Baume hervortreten. [G] Es war […] als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm. [H] Lenz rannte durch den Hof […] mit äußerster Schnelle […] stürzte sich dann in den Brunnentrog, patschte darin […] [I] Da stürzte er halb wahnsinnig nieder […] es war ihm, als könnte er […] diese Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer in’s Gesicht speien; er schwur, er lästerte. [J] Es war finster geworden […] Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen […] [K] »[…] hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit […]?« [L] [Pfarrer] Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend sein Begleiter […] Es wirkte alles wohlthätig und beruhigend auf ihn […] und die mächtige Ruhe, die uns […] im tiefen Wald […] überfällt, schien ihm noch näher, in diesem ehrwürdigen ernsten Gesicht […] gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst, er hätte der Sonne nachlaufen mögen; [M] […] sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf, und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. [N] Lenz trat herein mit vorwärts gebogenem Leib […] das Gesicht […] und das Kleid […] mit Asche bestreut […]
Klagend zur Rechten erschien die weiße Gestalt eines Engels, und es wuchs im Dunkel der Schatten […]
[…] und seufzend verging im Schatten des Baumes das sanfte Antlitz des Engels. […] […] Von Fledermäusen gejagt, stürzte er ins Dunkel. Atemlos trat er ins verfallene Haus. Im Hof trank er, ein wildes Tier, von den blauen Wassern des Brunnens, bis ihn fror. Fiebernd saß er auf der eisigen Stiege, rasend gen Gott, daß er stürbe.
Feindliches folgte ihm durch finstere Gassen
und sein Ohr zerriß ein eisernes Klirren. An herbstlichen Mauern folgte er, ein Mesnerknabe, stille dem schweigenden Priester; unter verdorrten Bäumen atmete er trunken den Scharlach jenes ehrwürdigen Gewands. O, die verfallene Scheibe der Sonne.
Süße Martern verzehrten sein Fleisch.
In einem verödeten Durchhaus erschien ihm starrend von Unrat seine blutende Gestalt.
158 [O] […] er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl seyn […] für Gesteine […] eine Seele zu haben. [P] Er besuchte das Grab des Kindes, das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen Malen nieder, küßte die Erde des Grabes […] [Q] »Ach sie ist todt […] sie liebte mich […] o du Engel […] ich habe sie aufgeopfert […] o gute Mutter, auch die liebte mich. Ich bin ein Mörder.«
Dietmar Goltschnigg Tiefer liebte er die erhabenen Werke des Steins; […] das kühle Grab, darin des Menschen feuriges Herz bewahrt ist.
Weh, der unsäglichen Schuld, die jenes kundtut.
Der Titel ›Traum und Umnachtung‹ könnte von Nietzsches apollinisch-dionysischer Antithese angeregt worden sein, wie die Herausgeber der Innsbrucker Ausgabe vermuten, genauso gut jedoch oder sogar noch wahrscheinlicher von Büchners ›Lenz‹-Novelle, in der die Schlüsselwörter ›Traum‹, ›Schatten‹ und ›Dunkel‹ die höchste Frequenz aller Substantive aufweisen und expressis verbis den Wahnsinn indizieren, wie die folgende Textpassage belegt (Kursivierungen von mir, D. G.): Wie die Gegenstände nach und nach schattiger wurden, kam ihm Alles so traumartig, so zuwider vor, es kam ihm die Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm als sey er blind; jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte sich zu seinen Füßen, der rettungslose Gedanke, als sey Alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm, er klammerte sich an alle Gegenstände, Gestalten zogen rasch an ihm vorbei, er drängte sich an sie, es waren Schatten, das Leben wich aus ihm und seine Glieder waren ganz starr. (B 82)
Die in Hofmannsthals ›Andreas‹-Fragment in der Nachfolge von Büchners ›Lenz‹ wahrnehmbare Polarität von ›Ruhe‹ und ›Bewegung‹ kennzeichnet auch in Trakls ›Traum und Umnachtung‹ die psychische Zerrissenheit des modernen Individuums, wobei sich der Zustand der Ruhe und der Geborgenheit als Versuch einer metaphysischen Daseinsgründung darstellt. Unter diesem Aspekt erfüllen in der ›Lenz‹Novelle wie in ›Traum und Umnachtung‹ die Epiphanie der Mutter und die Gestalt des Priesters als quasigöttliche Wesen eine wichtige Mittlerfunktion in der geistig-sinnlichen Kommunikation des Menschen mit Gott. Der intertextuelle Zusammenhang von Büchners ›Lenz‹ und Trakls ›Traum und Umnachtung‹ gründet sich mithin nicht nur auf
Georg Trakl und Georg Büchner
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einzelne Motivparallelen, sondern auf die Kongruenz fast aller Motive, sogar so ungewöhnlicher wie den Kampf mit der Katze [D], die Zuflucht beim Brunnen im Hof [H], den blasphemischen Ausbruch [I], den Gang mit dem Priester [L] und die seelenbildliche Natur [B], die einen Riss der Brust oder einen Bruch des Herzens bewirkt. Darüber hinaus werden Struktur und Gehalt beider Dichtungen durch gleiche archetypische Schlüsselbegriffe geprägt: neben den schon genannten Substantiven ›Traum‹, ›Schatten‹ und ›Dunkel‹ sind vor allem ›Nacht‹, ›Dämmerung‹, ›Mutter‹, ›Engel‹, ›Baum‹, ›Berg‹, ›Gipfel‹, ›Grab‹, ›Schmerz‹ und ›Schrecken‹ hervorzuheben. Bei aller Affinität ist ein Vergleich der Parallelstellen für die unterschiedliche Gestaltungsweise beider Dichter aufschlussreich. Was die Erzählperspektive in Büchners ›Lenz‹ anbelangt, bleibt das auktoriale Medium entweder vom Protagonisten distanziert oder – was meist zutrifft – schlüpft in ihn hinein, so dass beider Blick zusammenfällt. Der Wechsel von Außen- und Innenperspektive ist genau zu verfolgen. Er vollzieht sich gleitend in einem Satzgebilde, das stets eine ähnliche hypotaktische Struktur aufweist: [A] »[…] er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter erschienen sey« (vgl. auch [C], [E], [F], [G], [I], [J], [O]). Im einleitenden Hauptsatz wird aus der Perspektive eines distanzierten Erzählers die Hauptfigur dargestellt, im darauffolgenden Gliedsatz ihre innerseelischen Vorgänge, wobei durch den Konjunktiv des Verbums – meist den Potentialis, bisweilen aber auch den Irrealis – die Distanz des Erzählers vom Erzählten präsent bleibt und so die objektive Realität des Erzählten zumindest in Frage gestellt wird. Anders bei Trakl, wo die Parallelstelle folgendermaßen lautet: »und in der Tür stand die nächtige Gestalt seiner Mutter« (T 81). In diesem Erzählvorgang sind Außen- und Innenperspektive der Figur nicht mehr getrennt, sondern fallen zusammen. Syntaktische und modale Vielfalt wird reduziert auf Parataxe und Indikativ. Das auktoriale Erzählmedium projiziert die innerseelischen Vorgänge der Erzählfigur in die Außenwelt und verwandelt so subjektive Halluzinationen in objektiv wahrnehmbare Realität. Ähnliches lässt sich bei der Handhabung von Stilmitteln wie Vergleich und Metapher beobachten. Was bei Büchner ein imaginärer bildhafter Vergleich ist, wird von Trakl in objektiv wahrnehmbare Realität umgeformt, wie etwa die Parallelstelle [G] veranschaulichen mag:
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Dietmar Goltschnigg Es war […] als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm her. Von Fledermäusen gejagt, stürzte er ins Dunkel.
Bei Büchner handelt es sich um einen sehr bildkräftig und dynamisch wirkenden Vergleich eines drohenden Wahnsinnsausbruchs mit dahinjagenden Rossen, formal gestützt durch die Konjunktion »als«, die hier auch als Vergleichspartikel fungiert. Die beiden in Beziehung gesetzten Teile bewahren wenigstens bis zu einem gewissen Grad noch ihre Selbständigkeit. Bei Trakl hingegen wird der Vergleich abgekürzt, ein Vergleichsteil wird eliminiert; oder anders ausgedrückt: Beide Teile des ursprünglichen Vergleichs, »Wahnsinn« und »Fledermäuse«, werden identisch und untrennbar zu einem Begriff verschmolzen, wobei zunächst die Beziehung zum Wahnsinn nicht zwingend aus den »Fledermäusen« erschlossen werden kann, sondern eher – man assoziiere den Titel ›Traum und Umnachtung‹ – aus dem Substantiv ›Dunkel‹. Dass aber schon die »Fledermäuse« allein den Wahnsinn konnotieren, manifestiert sich in einem anderen Gedicht aus Trakls Nachlass, »Wind, weiße Stimme, die an des Schläfers Schläfe flüstert«, ein Gedicht, das den Wahnsinn Ophelias thematisiert und mit den markanten Zeilen schließt: »O Tod! Der kranken Seele verfallener Bogen Schweigen und Kindheit. / Aufflattern mit irren Gesichtern die 11 Fledermäuse« (T 180). Die stellenweise fragmentarische Struktur von Büchners ›Lenz‹Novelle mag Trakl bewogen haben, den Text zu bearbeiten, ihn – nach seiner Intention – rezeptionsästhetisch zu ›vollenden‹. Seine lyrische Prosadichtung ›Traum und Umnachtung‹ erzielt ein Höchstmaß an Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Die Elemente aus Büchners ›Lenz‹ werden weitgehend modifiziert, aufgesplittert und nahtlos zu einem neuen Text integriert. Die Syntax ist fast ausnahmslos parataktisch, es gibt nur eine Erzählhaltung, einen Modus (den Indikativ) und ein Tempus (Präteritum). Jeder einzelne Satz enthält – isoliert betrachtet – eine klare Aussage, und doch erweckt der Gesamttext den Eindruck semantischer Diskontinuität, ein Strukturprinzip, das vielen Dichtungen Trakls zugrunde liegt. Mittels der semantischen Diskontinuität gelingt es Trakl, ›Traum und Umnachtung‹, den fortschreitenden Wahnsinn, die lose, alogische Aufeinanderfolge paranoider Phänomene adäquat widerzuspiegeln. Das dichte intertextuelle Geflecht veranschaulicht auch einen bewussten Rezeptions- und Produktionsprozess. Die Beobachtungen dazu ergänzen die Einblicke in Trakls poetische Werkstatt, die im allgemeinen meist 11
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allein aus den einzelnen Entstehungsstufen seiner Gedichte nachvollzogen wird. Unter den zahlreichen ›Lenz‹-Gedichten, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, gibt es einige, die nicht nur in der Nachfolge von Büchners ›Lenz‹-Novelle stehen, sondern auch produktiv Trakl rezipieren, wie etwa das ›Lenz‹-Gedicht des Jenaer Germanisten und Schriftstellers Gottfried Meinhold aus dem Jahre 1993:12 Lenz Übers Gebirg gehen des Felsens Verfall in kalter Stirn Leidfrost des Gewürms unter den Sohlen das Knirschen im Ohr O die Schatten die schon bis an die Bergrücken reichen der Regen der die zottigen peitscht ach das zerbrechende klagende irrende Wort zwischen verbissenen Zähnen. Dann einmal noch: Keim in Bröckelndem. Eine Spur Gesang. Und später erst nachts Geschrei. Der Geist des Wassers sanften Griffs nach dem harten Ufer seiner Gesinnung: in tyrannos Bei Gott – über die fahlen Gesichter der Häusler die kalte Vertröstung wie Regen geschüttet wie Schnee gestäubt baltischer Spätherbst
2. Vergleichungen Trakls Gedicht ›An einen Frühverstorbenen‹ (T 65) bezeugt, dass ihm der Gedanke eines frühen Todes nicht fremd war. Der Berliner deutsch-jüdische Schriftsteller Georg Hermann (1871–1943) las jedenfalls diese Verse Trakls als ›Vorbereitung‹ auf dessen eigenes frühes Ende und verfasste daran anschließend im Ersten Weltkrieg (1915) angesichts der Vermehrung der Zahl der Frühverstorbenen ins Massenhafte einen Essay, in dem er die frühverstorbenen Georg Büchner, Ge12
Gottfried Meinhold: Lach-Verbot, Jena 1994, S. 53; zit. nach D. Goltschnigg (Anm. 1), Bd. 3, S. 17.
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org Trakl, Georg Heym und andere miteinander vergleicht, um die Irrationalität des frühen Todes durch die kühne Mutmaßung zu rationalisieren, »daß diese Lebenskurven zu Ende geführt sind, daß niemand zu früh stirbt, und niemand zu spät, daß sie alle, die Bedeutung errangen, auch zur rechten Zeit starben«, weil die »Frühverstorbenen« immer auch »Frühvollendete« seien. Besser sogar ein früher Tod, eine steil emporgestiegene und jäh abgebrochene Lebenskurve als ein »im langen flachen Bogen« dahinstreichendes Leben: »Stirbt nicht jeder in dem Augenblick, wo er der Welt nichts mehr zu sagen hat und sein letztes und stärkstes Wort gesprochen ist? Manche sterben mit vierzig und werden achtzig Jahre alt. Ja – es scheint das das normale Schicksal unserer Universitätsprofessoren zu sein.«13 Der frühe Tod, ob durch tödliche Krankheit, Unfall, Selbstmord oder auf dem Schlachtfeld, hätte mithin seinen Sinn, ja seine Verklärung erfahren. Der Lohn des frühen Todes sei die ewige Jugend, das ewige Leben – im Gedächtnis der Nachwelt durch alle Zeiten hin. Solch irrationale Rationalisierung des Irrationalen konnte nicht unwidersprochen bleiben. Der schärfste Protest kam nach dem Ersten Weltkrieg, 1923, von Arnold Zweig: »Und darum trifft sich hier Ort und Stunde, gegen die sinnlose Vergottung solcher Katastrophen zu zeugen, welche nicht nur die trübe Masse sich erlaubt sondern auch wachere Köpfe, in einem Fatalismus der wahrhaftig Bequemlichkeit ist und Feigheit, dem krassen Sachverhalt unserer irdischen Existenz sehend standzuhalten.«14 Zum Abschluss sei noch ein Blick auf eine andere Ineinanderblendung von Trakl und Büchner geworfen, die sich im Spiegel einer bedeutenden österreichischen Dichterin zwei Generationen nach Trakls Tod manifestiert. In ihrer 1979 zur Verleihung des Georg-Trakl-Preises gehaltenen Dankrede15 stellt Ilse Aichinger eine geheimnisvolle, von Umnachtung und Wahnsinn gezeichnete Verbindung zwischen dem »im dreizehnten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts« geborenen Ge13
14 15
Georg Hermann: Die Frühverstorbenen. In: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde (Berlin) 18, 1915/16, H. 1 (4. Oktober 1915), Sp. 20–31; zit. nach Goltschnigg (Anm. 1), Bd. 1, S. 219–221. Arnold Zweig: Versuch über Büchner. In: A. Zweig: Lessing, Kleist, Büchner. Drei Versuche, Berlin 1925, S. 133–195; zit. nach A. Zweig, S. 334. Ilse Aichinger: Der geheime Leonce. Zu Georg Trakl. In: Salz. Salzburger Literaturzeitung, 13, 1987/88, Nr. 49, S. 1; Wiederabdruck in Goltschnigg (Anm. 1), Bd. 3, S. 189f.; daraus die folgenden Zitate.
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org Büchner und dem »dreizehn Jahre vor dem Ende desselben Jahrhunderts« geborenen Georg Trakl her, und zwar unter Bezugnahme auf die – gewissermaßen psychiatrische – Gefährdung des Prinzen Leonce, die ihm Valerio mit den Worten prophezeit: »Der Weg zum Narrenhaus ist nicht so lang; er ist leicht zu finden, ich kenne alle Fußpfade, alle Vicinalwege und Chausseen dorthin. Ich sehe ihn schon auf einer breiten Allee dahin, an einem eiskalten Wintertag, den Hut unter dem Arm, wie er sich in die langen Schatten unter die kahlen Bäume stellt und mit dem Schnupftuch fächelt. – Er ist ein Narr!« (B 123) Sooft Ilse Aichinger diese Worte Valerios liest, sieht sie »in Trakl den anderen Leonce, den Erfüller von Valerios Drohung und Büchners geheimer Hoffnung«, sieht sie »Trakls Schatten an die Wand geworfen«. Die »verkappte Drohung« Valerios, deren »unruhig verborgener«, zukunftsängstlicher Adressat Büchner selber sei, habe sich jedoch weder in der Fiktionalität des Lustspiels noch in der historischen Realität seines Autors erfüllt, sondern erst im nächsten Jahrhundert in der tragischen Existenz des fast auf den Tag genau fünfzig Jahre nach Büchners Tod geborenen Georg Trakl, der als Beamter im Wiener Kriegsministerium wieder aufs neue das Addieren »zulernen« musste, um bald darauf mitten im Ersten Weltkrieg »der unaddierbaren Angst« und »der ununterbrochenen Gegenwärtigkeit der Leiden und der Todeskämpfe« ausgeliefert zu sein. Hier sei »der andere Leonce« erschienen: »Georg Trakl läßt sich einen Narren sein.« Angesichts der wahnwitzigen Schrecken des Weltkriegs sei Trakl auf dem von Büchners Valerio vorausgewiesenen Weg ins »Narrenhaus« und in den »Untergang« geflüchtet. Aber gerade ihm gilt Aichingers Liebe, »dem Narren, der die Norm« verlasse, »um das Maß zu setzen, der in den langen Schatten unter den kahlen Bäumen den Valerio« sehe – ihm, »dem geheimen anderen Leonce«. Auch hier, bei Ilse Aichinger, werden die eingangs genannten gemeinsamen Motive und Bilder Georg Büchners und Georg Trakls phantasievoll hervorgekehrt: Melancholie und Wahnsinn, Kälte und Tod.
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Tymofiy Havryliv Trakl – zwischen Baudelaire und Rimbaud
Man kann wohl behaupten, dass die österreichische Moderne zwei sehr verschiedene, in ihrer Fragestellung dennoch verwandte Dichter hervorgebracht hat – Rilke und Trakl.1 Während Rilke bereits zu Lebzeiten intensive Rezeption zuteil wurde, legte Trakls Dichtung den Weg zum Leser erst langsam zurück – es dauerte eine Weile, bis diese über den »Brenner«-, sowie den engen Freundes- und Gönnerkreis hinaus bekannt werden konnte. Wie das Werk eines jeden Dichters, ist auch das von Georg Trakl von Referenzen gekennzeichnet: der Referenz des Poetischen zu der Wirklichkeit und der Referenz des Poetischen zu den anderen künstlerischen Räumen, sowie zum Hyperraum der Kunst schlechthin. Die Referenz des Poetischen zu der Wirklichkeit meint 1) die Beziehungen zwischen der Kunst und der Realität im Allgemeinen; 2) zwischen einem Kunstwerk (Gedicht) und der Wirklichkeit hinsichtlich der Genese eines Kunstwerks; 3) zwischen der Person eines Dichters und der ihn umgebenden Wirklichkeit, während das lyrische Ich seiner Gedichte, soweit es überhaupt expliziert wird, solcherart Beziehung nur mittelbar eingeht, indem es einen Bestandteil der Identität eines künstlerischen Raumes darstellt. Selbst wenn Gedichte, diese poetischen Primärräume, aus dem Inneren eines dichtenden Ich entstehen, befinden sie sich in einem Bezug zur Realität – sowohl im Sinne der Eindrücke und Erlebnisse des Dichters, als auch im Sinne der Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit der Bilder. Selbst bei den kühnsten poetischen Abhebungen von der Wirklichkeit behält der »Herbst« seine grundsätzlichen außerpoetischen Identitätsmarker, was sowohl durch das Vokabular (Farbe (gelb, rot, braun), Zustände (Reife, Neige, Welken)), als auch die Schilderung der Sachverhalte zum Ausdruck gebracht wird (Weinkeltern, Erntedankesfest, Aufbruch der Zugvögel). Klaus Simon stellt eine 1
Das Werk Hugo von Hofmannsthals nimmt gesonderten Platz ein.
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Tymofiy Havryliv
Gruppe von Gedichten fest, »deren Details noch mehr von einer Zuordnung zur Wirklichkeit bestimmt sind«. Ihre Titel nennen auch meist einen bestimmten Wirklichkeitsbestand2 und Hermann von Coelln untersucht den Wirklichkeitsgehalt der Worte bei Trakl.3 Allerdings wechseln sie aus dem gemeinen Gebrauch in einen poetischen Raum. Die Beschaffenheiten des Herbstes in der Natur legen einen Möglichkeitsfolder für poetisches Sprechen an, wenngleich die Lyrik auch hier experimentieren kann, indem sie sich gegen diese Möglichkeiten entschließt, was auf Trakls Gedichte allerdings nicht zutrifft, jedoch auf den für Trakl relevanten Verlaine sehr wohl – erwähnt sei sein ›Chanson d’automne‹ (›Herbstlied‹), in dessen 3. Strophe die Existenzlage des lyrischen Ich mit der der Blätter verglichen wird. Bei Trakl wird der Herbst der Natur nicht bloß zum lyrischen Herbst, sondern vielmehr zum Herbst als Umschreibung des inneren Zustands und somit zur Metapher, was ihn mit Verlaine verwandt macht. Schauen wir uns zwei bereits im Gedichttitel als solche apostrophierte Herbstgedichte Trakls an: ›Im Herbst‹4 und ›Herbst‹5 (das in der Sammlung von 1909 als ›Verfall‹ geführt wird). Das erste Gedicht nennt Sachverhalte, die als herbstlich identifiziert werden können: reife Sonnenblumen am Zaun, Keltern des braunen Weins. Streng genommen schöpft sich aber damit der Kreis der dem Herbst eindeutig zuzuordnenden Sachverhalte aus. Zwar wird die Zeile vom Keltern des braunen Weins (»Heut keltern sie den braunen Wein«) mit der für das ganze Gedicht einzigen expliziten und für Trakls Vorliebe zur Farbenwelt verwunderlichen Farbenangabe wiederholt, so dass sie als dritte Zeile der zweiten und zweite Zeile der dritten Strophe vorkommt, dafür klingt bereits die »Sonnenblumenzeile« ambivalent. Die einzige explizite Farbenangabe darf über die implizite Farbenpracht des Gedichts nicht hinwegtäuschen. Die semantische Ambivalenz der ansonsten korrekten ersten Zeile beruht gerade auf dieser impliziten Farbenpracht. »Die Sonnenblumen leuchten am Zaun«, so ihr Wortlaut. Das Verb »leuchten«, das die beiden Substantive, Subjekt »Sonnenblumen« und Lokalangabe »am Zaun«, grammatikalisch ver2 3 4 5
Klaus Simon: Traum und Orpheus. Eine Studie zu Georg Trakls Dichtungen, Salzburg 1955, S. 26. Hermann von Coelln: Sprachbehandlung und Bildstruktur in der Lyrik Georg Trakls, Essen 1995, S. 174–206. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe, Salzburg 1987, S. 31. G. Trakl, S. 219.
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bindet, übernimmt im Rahmen der poetischen (und nicht bloß lexikalischen) Semantik eine komplexere Rolle, als diese uns auf den ersten Blick vorkommen mag. Entgegen dem formellen und sich in dem uns interessierenden engeren Zusammenhang erübrigenden »am Zaun«, das freilich innerhalb des Gedichtganzen zum Gesamtbild beiträgt, öffnet »leuchten« durch seinen Bezug auf »Sonnenblumen« den semantischen Raum und in diesem Raum auch die Dimensionalität seiner eigenen Semantik. Das Leuchten der Sonnenblumen verweist auf die leuchtende Sonne und verlässt sich dabei nicht auf die Kühnheit des dichterischen Sprechens alleine, sondern findet eine plausiblere Legitimation, die zum einen in der Sonnenbezogenheit der Blumenbezeichnung (Sonnenblume), zum anderen in der den Namen stiftenden Form und Blütenfarbe zu orten ist. Der Gedichttitel korrigiert dieses Sonnenblumenbild: es handelt sich nicht mehr um eine blühende, sondern um eine reife Sonnenblume, deren Ähnlichkeit mit der Sonne sich auf die Herkunft des Wortes, den Wortlaut, die Form, sowie die Ränder reduziert. Das Schwarz der reifen Frucht tritt in den Vordergrund und somit in Kontrast a) zum Gelb der das Leben stiftenden Sonne, b) zur blühenden Sonneblume und c) zur Zeit der Blüte (als Kontrast zwischen Frühsommer und Herbst). Das Schwarz der Sonnenblumen definiert auch »leuchten« neu, indem es »leuchten« mit den zwei miteinander konfrontierenden Bedeutungen von Hell und Dunkel ausstattet, wo »hell« für das Leben und »dunkel« für den Tod steht, wobei »Leben und Untergang war ihm eines«.6 Die poetische Semantik der ersten Zeile nimmt die Ambivalenz des Herbstes vorweg. Einerseits handelt es sich um das Leben in Form der das Leben sichernden Fülle des Geernteten und andererseits um den Tod in Form von Verwesung. Dadurch wird die Ambivalenz des Gedichts vorweggenommen, was in den weiteren Zeilen expliziert wird – von »Kranken« der folgenden bis zu »Totenkammer« der vorletzten Gedichtzeile. In der zweiten Zeile entsteht ein semantisches Spiegelbild der ersten Zeile, ihre Bedeutung wird durch den Rekurs auf die erste Zeile mehrfach prolongiert: im formalen Chiasmus (»Sonnenblumen« korrespondieren mit »Sonnenschein«, die Lokalangabe »am Zaun« mit den still sitzenden Kranken); in der Bedeutungserweiterung des Inhalts der zweiten Zeile, was im Gegenspiel zum formalen Chiasmus eine Parallelführung ergibt (das Schwarz der Sonnenblumen weist auf 6
Emil Barth: Georg Trakl. Essay, Aachen 2001, S. 9.
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den nahenden Tod der still sitzenden Kranken hin – an und für sich sagt »Still sitzen Kranke im Sonnenschein« nichts über den Ausgang aus, vielmehr bringt diese Zeile ein gewöhnliches Bild zum Ausdruck, in dem alles unentschieden ist und die Hoffnung der Kranken auf die Genesung, allerdings ohne ihr Engagement spürbar ist; erst das Vorauswirken der ersten Zeile hebt die Neutralität der zweiten Zeile auf). Diese Bedeutungserweiterung geschieht vertikal und wellenartig: zuerst präzisiert ›Im Herbst‹ des Titels den Bedeutungsumfang der Sonnenblumen und gibt ihre semantische »Neutralität« auf: der Leser weiß, dass es sich um die reifen Sonnenblumen handelt, wodurch die Farbe »schwarz« in der Imagination evoziert wird; dann bewirken die reifen Sonnenblumen die bereits erwähnte Bedeutungserweiterung von »Still sitzen Kranke im Sonnenschein« und zwingen zur Aufgabe der semantischen »Neutralität«. Die Hoffnung auf Genesung, die insbesondere durch »im Sonnenschein« transportiert wird, entpuppt sich in den beiden letzten Gedichtzeilen endgültig und auch explizit als Täuschung. Mehr noch: das Naturbild »im Sonnenschein« erweist sich als etwas Dauerhaftes, ist statisch gegenüber der Dynamik der Vergänglichkeit des Menschen (der Kranken): »Weit offen die Totenkammern sind / Und schön bemalt von Sonnenschein« – während »Sonnenschein« weiterhin da ist und sogar »schön bemalt«, werden die Kranken der zweiten Gedichtzeile durch die formale Absenz (die Leerstelle wird durch die weit geöffneten Totenkammern gefüllt), zu den Toten der zweitletzten Gedichtzeile. Dieses Gedicht weist den für die Lyrik Trakls, abgesehen von seinen letzten »hölderlinschen« Gedichten, charakteristischen Gleichlauf von der Wirklichkeitskonformität der Bilder und ihrer anderen, auf die Wirklichkeit nicht fixierten innerlich zusammenhängenden poetischen Bedeutung. Die poetische Semantik lässt auch hinsichtlich der Form im Gedicht die Konturen eines nicht realisierten Rondells oder Sonetts erahnen. Das Gedicht ›Herbst‹, das in der Sammlung 1909 ›Verfall‹ heißt, arbeitet das gleiche Thema von Herbst und Vergänglichkeit auf – natürlich gilt es für Trakls Lyrik, dass der Großteil der Gedichte Herbst und Vergänglichkeit thematisiert, den »wirklichen« Herbst mit dem »poetischen« Herbst kontaminiert, Herbst zur Metapher werden lässt, die die Stimmung und Wirklichkeitswahrnehmung zum Ausdruck bringt. So ist es in Trakls Gedicht und wahrscheinlich in der Poesie schlechthin, dass nicht der Herbst, selbst wenn die herbstlichen Sachverhalte haargenau wiedergegeben werden, beschrieben, sondern dem
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eigenen Seelenzustand Ausdruck verliehen wird. Was aber das Einzigartige der Traklschen Lyrik ausmacht, ist das Ineins von beidem. In seiner Zuneigung zum Herbst bewegt sich Trakl in einer prächtigen lyrischen Tradition, in der das lyrische Ich (das explizite oder das implizite) sich in seiner Herbstverfassung präsentiert – vielleicht weil diese Art Lyrik so sehr Melancholie ist, wie das eingangs erwähnte Herbstgedicht Verlaines, und das Bild, das sie am besten veräußern kann, ist ein herbstliches. Im Gedicht ›Im Herbst‹ ist es ein implizites lyrisches Ich, im Gedicht ›Herbst‹ ist es ein explizites lyrisches Ich. Das implizite lyrische Ich als das eines Beobachters bezeichnen zu wollen, wäre richtig und falsch zugleich: beziehen wir es auf seine formale Situation im Gedicht, dann liegen wir falsch; meinen wir es aber existenziell in Bezug auf den Ort des Dichters in der Welt, dann haben wir recht. Die Situation der Impliziertheit des lyrischen Ich weckt nur den Eindruck seines Status eines Beobachters. In der Tat ist es kein Beobachter, es ist durchaus engagiert: es braucht sich nicht extra im Gedicht zu explizieren, weil das Gedicht die Form seiner Explikation ist, was erst von der literarischen Moderne in vollem Maß ausgekostet wurde.7 Regine Blass spricht von der Reduktion des lyrischen Ich auf die Elemente und Strukturen der dichterischen Einbildungskraft.8 Die Herbstgedichte dominieren das lyrische Werk Trakls, darunter auch diejenigen Gedichte, die »Herbst« bereits im Gedichttitel führen. Selbst wenn das lyrische Ich bei Rilke im Frühling, wenn alles blüht, sterben möchte, sind seine, Rilkes, besten, poetischsten Gedichte Herbstgedichte, sei es ›Herbst‹ mit seiner für unsere Ausführungen wichtigen Gartenzeile (»als welkten in den Himmeln ferne Gärten«)9 oder ›Herbsttag‹ (aus ›Das Buch der Bilder‹).10 Die Referenz des Poetischen zu den anderen künstlerischen Räumen befindet sich im Mittelpunkt unseres Interesses. Sobald ein Gedicht erschienen ist und noch mehr, wenn es rezipiert und als Bestandteil der Literaturgeschichte anerkannt wird, wechselt es in die Wirklichkeit. Das Paradoxe eines Kunstwerks besteht darin, dass es 7 8 9 10
Zum Sprachlichen der Erscheinungsweisen des lyrischen Subjekts siehe: H. von Coelln, S. 64–161. Regine Blass: Genese und Struktur der Dichtung Georg Trakls, Köln 1967, S. 11. Rainer Maria Rilke: Werke. Band I. Gedichte 1895 bis 1910, Frankfurt am Main 1996, S. 282. R. M. Rilke, S. 281.
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eine poetische Wirklichkeit generiert, jedoch in der Realität positioniert wird. Auch Methlagls Verfahrensweise kann sowohl im Rahmen der Referenz zu der Wirklichkeit, als auch als Referenz zu den anderen künstlerischen Räumen angesiedelt werden.11 Geht es um Namen, die diese Referenz repräsentieren sollen, so sind sie längst genannt: Rimbaud, Hölderlin, Nietzsche, Dostojewski, Maeterlinck, Baudelaire, Verlaine, Heine, Lenau, Mörike, Eichendorff, Hofmannsthal, George, Dehmel, Liliencron u.a.12 Uns liegt es daran, zu schauen, wie diese Referenz funktioniert. Wir unterscheiden zwischen Entlehnungen und poetischen Korrespondenzen. Beide fallen unter den Begriff Rezeption. Sie lassen sich nicht auf eine bestimmte Schaffensperiode reduzieren, obwohl es generell gilt, dass die Entlehnungen eher für die jüngeren Perioden und poetische Korrespondenzen für die reiferen Perioden eines Dichters charakteristisch sind. Zwischen ihnen kann keine scharfe Grenze gezogen werden. Daher entschließen wir uns, nicht das Zeitliche (Alter, Schaffensperioden) solch einer Unterscheidung zugrunde zu legen, sondern uns nach anderen Kriterien umzuschauen. Dafür ist die Aussonderung von zwei Ebenen notwendig – einer lexikalisch-thematischen und einer poetischen. Selbst auf der lexikalischen Ebene können wir nur bedingt von Entlehnungen sprechen. Auf der poetischen Ebene sprechen wir von poetischen Korrespondenzen. Sowohl Entlehnungen, als auch poetische Korrespondenzen beanspruchen denselben Gegenstand: Wörter, Bilder, Motive, Themen. Also ist der Unterschied nicht im Gegenstand, sondern in 1) der Art der Referenz zu orten – wie der Dichter damit umgeht, inwieweit sie an Souveränität gewinnen und als Identitätsmarker seines lyrischen Œuvre gelten, und 2) unserem Umgang mit ihr als Leser, inwieweit wir sie als solche wahrnehmen. Sowohl Entlehnungen als auch poetische Korrespondenzen stellen Trakl selbst als Leser vor. Seine Lektüren sagen ferner über die Epoche, in der er lebt und schreibt, im Sinne von Walter Methlagl aus.13 11 12
13
Walter Methlagl: ›Sonja‹ und ›Afra‹. In: Methlagl: Bodenproben. Kulturgeschichtliche Reflexionen, Innsbruck 2002, S. 105–125. Anette Hammer: Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten ›Psalm I‹ und ›De profundis II‹, Würzburg 2006, S. 92–107, insbesondere S. 105. Walter Methlagl: Georg Trakls Gedichte – Ausdruck eines Zeitgeistes: Zu zwei späten Gedichten von Georg Trakl. In: Methlagl, S. 126–134.
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Während die vorangegangenen Epochen (vor allem als Kunstepochen) von Trakl rezipiert werden, wird seine Epoche von ihm sowohl rezipiert, als auch – poetisch – mitgestaltet. Die Dominanz der Herbstgedichte und die Betonung des Verfalls und der Vergänglichkeit14 betten Trakls lyrisches Werk in die lyrische Tradition ein, die ihre modernen Wurzeln im literarischen Barock hat, erst seit Baudelaire als solche in ihrer Kontinuität erkannt bzw. anerkannt wird. Baudelaire meint somit nicht nur die Intertextualität zu Baudelaire, die in Trakls frühen Gedichten am deutlichsten spürbar ist, »jedoch bis in seine letzte Werkphase« reichen soll,15 sondern ist auch ein Stichwort zur Identifizierung einer lyrischen Tradition, die dem Werk von Gérard de Nerval, von dem apropos Charles Baudelaire fasziniert war, ebenfalls verbunden ist, ohne dass Trakl sein lyrisches Werk unbedingt kennen musste, aber auch mit der Person Johann Christian Günthers (1695–1723), desjenigen barocken und ebenfalls als Vorläufer von Sturm und Drang geltenden Dichters, dessen Buch zur evidenten Trakl-Lektüre gehörte. Im Gegensatz zu denjenigen Expressionisten, die die Ästhetik des Hässlichen als ihr Programm übernehmen und diese Anleihe allzu sehr explizieren, können wir bei Trakl eine Art genuiner Entwicklung verfolgen, die keineswegs nur linear, sondern auch komplex als die Identitätssuche wahrzunehmen ist, wo oft Helles und Dunkles, Leben und Verfall einhergehen, am Ende sich jedoch das dem Expressionismus so nahe stehende apokalyptische Farbenbild eines ›Grodek‹-Gedichtes befindet. Im Unterschied zu Baudelaire liegt es Trakl nicht so sehr daran, das Hässliche hervorzuheben, um der als verlogen empfundenen Ästhetik des Schönen die Ästhetik des Hässlichen entgegenzusetzen, sondern eher eben um das Bild des Verfalls und den Tod als den Prozess des Sterbens zu zeichnen, als eine Gegebenheit, die akzeptiert und der mit poetischen Mitteln Rechnung getragen wird. Man kann von dem Selbstbekenntnis Trakls zu einer bestimmten lyrischen Ausdrucksweise eher reden, als von den Einflüssen Baudelaires, was in noch höherem Maß für die anderen Einflüsse gilt.16 Die oben angeführte Namensreihe scheint wesentlich länger und erweiterbar zu 14 15 16
H. von Coelln, S. 26–63. A. Hammer, S. 99. Siehe dazu: Ingeborg Schiller: L’influence de Rimbaud et de Baudelaire dans la poésie préexpressionniste allemande. Georg Heym, Georg Trakl et Ernst Stadler, Paris 1968, S. 253 Bl.
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sein. Dies legt die Notwendigkeit einer Unterscheidung nahe zwischen den nachweisbaren Intertextualitäten (Entlehnungen und poetischen Korrespondenzen), die auf Grund der Lektüre des jeweiligen Dichters entstanden sind oder diese zumindest und unbedingt einschließen, wo wir tatsachlich auch von den Einflüssen reden können und derjenigen Art der poetischen Korrespondenz, die auf der Verwandtschaft der poetischen Seelen grundiert. Während die erste Reihe begrenzt und bereits erschlossen worden ist, ist die zweite Reihe fast beliebig modulierbar und erweiterbar, sie kann alleine von der Plausibilität der jeweiligen poetischen Korrespondenz eingeschränkt werden. Im zweiten Fall können wir kaum von den Einflüssen sprechen. Die Nichtunterscheidung dieser zwei grundlegenden Arten der Bezogenheit führt zu den Missverständnissen.17 Ein weiterer wichtiger Gegenstand der poetischen Korrespondenzen ist in Trakls Lyrik der Garten. Wie der Herbst, ist auch der Garten Thema mehrerer Gedichte Trakls. Während der Herbst bereits in seiner nichtmetaphorischen Funktion als Bezeichnung für eine Jahreszeit an einen Zustand anknüpft, so meint Garten einen Ort, an dem sich das lyrische Ich befindet, und erst unmittelbar, durch dieses Sich Befinden öffnet sich die semantische Brücke in die Befindlichkeit. So pendelt der Garten zwischen einem geographisch-urbanen Ort, an dem sich das lyrische Ich der Gedichte aufzuhalten pflegt, und dem Topos der Befindlichkeit des lyrischen Ich. Als geographisch-urbaner Ort hat der Garten auch außerhalb der Lyrik Geltung – nicht für das lyrische Ich, sondern für das Ich des Lyrikers, bekannt als »Salettl« der Kindheit. Prototypen vieler geographisch-urbaner Orte der Lyrik sind erkennbar, ob der Salzburger Mirabellgarten, Hellbrunn oder Anif – es sind Schlossgärten, wobei für uns das Moment der ihnen zugrunde liegenden Kultiviertheit wiegt. Das Gedicht ›In einem alten Garten‹18 bietet uns eine hervorragende Möglichkeit, die Rolle des Gartens in ihrer Vielfältigkeit und vor allem hinsichtlich ihrer poetischen Korrespondenzen aufzuzeigen. Auch hier gibt es einen Garten, der als das Abbild eines Gartens in der Wirklichkeit erkannt und anerkannt wird, mit Reseden, Weiher, Weiden. Vom autobiographischen Hintergrund her kann man versuchen, den Prototyp dieses Gartens zu identifizieren, was einerseits 17 18
A. Hammer, S. 92–107, insbesondere S. 106. G. Trakl, S. 181.
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berechtigt erscheinen mag, in Bezug auf dieses Gedicht jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Es hat nämlich anscheinend zu der Intention des Autors gehört, das Gedicht gegen die Identifizierbarkeit und hiermit auch die semantische Konkretisierung und Einengung anzulegen. Das macht bereits der Gedichttitel deutlich: ›In einem alten Garten‹ hebt den Garten von seiner – vermutlich urbanen – Lokalisierung ab. Neben dieser Verallgemeinerung, auf deren Gründe des Weiteren eingegangen werden soll, beinhaltet der Gedichttitel dennoch eine Konkretisierung, nämlich »alten«. Die semantisch-poetische Funktion dieses nichtgeographischen Verweises hängt mit der Entlokalisierung des Gartens eng zusammen. »Alten« weist in seiner lexikalischen Semantik einen gewissen Grad der Verallgemeinerung auf. Darüber hinaus klingt es doppeldeutig, denn es werden gleich zwei Bedeutungsmöglichkeiten aktualisiert: »alten« als eine Altersangabe (hohes Alter) und als Zustandsangabe (Ungepflegtheit, Vernachlässigung). Formell befindet sich das lyrische Ich außerhalb des Textes, wobei es im Garten anzunehmen ist. Implizit ist es in der Rolle des Beobachters anwesend. In der poetischen Dimension ist das lyrische Ich mit dem Garten identisch – nicht mit dem, der als ein Wirklichkeitsgarten im Gedicht seinem lyrischen Ebenbild begegnet, sondern mit dem, der die Gemütslage versinnbildlicht. ›In einem alten Garten‹ veräußert die innere Verfassung des lyrischen Ich, die wir etwas früher als Herbstverfassung bezeichnet haben. Auch hier ist das Gedicht die Form der Explikation des lyrischen Ich, daher muss es nicht unbedingt im Gedicht zum Vorschein kommen. So sind hier »Garten« und »Herbst« Synonyme, was allerdings nicht heißen soll, dass es in Trakls Lyrik keinen anderen Garten geben darf. Aber auch ein Frühlingsgarten, wie wir ihn beispielsweise aus dem Gedicht ›In Hellbrunn‹19 kennen, tendiert zur Herbstverfassung, so dass der Frühling als Vorwegnahme bzw. Vorahnung des Herbstes wahrgenommen wird mit den Identifikationsmarkern wie »Klage des Abends«, »die Schatten lange Verstorbener«. Selbst wenn das Hellbrunn-Gedicht mit den Triumphzeilen des Lebens über den Tod endet (»So geistreich ergrünen / Die Eichen über den vergessenen Pfaden der Toten, / Die goldene Wolke über dem Weiher«), ist die Einsetzung der Todes- und Verwesungszeichen eine Vorwegnahme des Herbstes. Bereits auf der Ebene, wo das 19
G. Trakl, S. 153.
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Gedicht ein Naturbild lyrisch nachzeichnet, ist der Frühling ambivalent belegt. Das Wort »Im Abendgrund«, das die sechste der insgesamt neun Gedichtzeilen einleitet, vermag diese Ambivalenz am besten auszudrücken: in ihm tritt sie auch lexikalisch-morphematisch zum Vorschein – es ist auf die Reduktionsmöglichkeit hin angelegt: »Abendgrund« – »Abgrund«, so dass der Abendgrund schnell zum Abgrund werden kann: »Schön blühen ihre Blumen, die ernsten Veilchen / Im Abendgrund, rauscht des blauen Quells / Kristallne Woge«. Die Behaglichkeit der rauschenden kristallenen Woge ist der Behaglichkeit der Blumen in Klimts ›Der Kuss‹ ebenbürtig. Wenn dann anschließend »so geistreich« »die Eichen über den vergessenen Pfaden der Toten« »ergrünen«, so muss nicht vergessen werden und die Erwähnung der vergessenen Pfade, der Toten will uns, sowie das lyrische Ich sich selbst gegenüber tut, zum Nichtvergessen bewegen, dass sie über dem metaphorischen Abgrund ergrünen. Dass diese Wahrnehmungsweise für die Epoche, in der Trakl lebte und dichtete, typisch war, kann durch den Rekurs auf den ›Kuss‹ von Gustav Klimt verdeutlicht werden. Auf die Rolle des Gartens wurde mehrfach hingewiesen. Als produktiv erscheint die Vorgehensweise von Alfred Doppler, der den Garten der Traklschen Lyrik in den Kontext der Gartendeutung von Carl E. Schorske stellt und somit den Garten zumindest auf das Niveau eines Motivs hebt.20 Dopplers Ausführungen lassen sich um folgendes ergänzen bzw. korrigieren. Der Garten wird zum Topos der Sünde. In dieser seiner Funktion entfernt er sich nicht von der Bibel, im Gegenteil er befindet sich in zweifachem andersartigen Verhältnis zu ihr: 1) er kehrt zu der Bibel zurück, denn die Sünde hat im Garten Eden stattgefunden, und 2) er opponiert gegen die Bibel, indem an Stelle der infolge der Sünde geschehenen Vertreibung aus dem Paradies das Engelwerden im sündhaften Garten gesetzt wird. Diese Opponierung tritt im Rondell ›Schwesters Garten‹21 am deutlichsten zutage. Der biblischen Sünde, die von »der Schuld des Lebens und also von unaufhebbarer Schwermut«22 gekennzeichnet ist, wird das Engelwerden gegenübergestellt, das in doppelter Aussage variiert wird, 20
21 22
Alfred Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg und Wien 2001, S. 187–195. G. Trakl, S. 318. E. Barth: Georg Trakl, S. 25.
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einmal »Ihr Schritt ist weiß geworden« (3. Zeile) und das andere Mal »Ein Engel ist geworden« (6. Zeile). Somit erscheint »das Gedicht als Sühne«, die den Mythos wieder gut macht und damit sich auch dem Autobiographischen stellt.23 Die biographischen Hintergrundkenntnisse untermauern diese Interpretation und ergänzen sie um eine Facette, die so im Gedicht ausgemacht werden kann: »Engel« spielt auch auf die Fehlgeburt an, die Grete Trakl in Berlin widerfahren war. Abgesehen von, aber vielleicht auch inklusive dieser zusätzlichen Facette wird der Garten zum Ort der Rebellion gegen den Sündenfall der entsprechenden Bibelstelle. Die gegen das Tabu verstoßende und daher als Urheberin des Sündenfalls apostrophierte Frau wird zur Engelfigur. Das Positive der Engelwerdung wird in der Farbe Weiß wiedergegeben. Dieses Vorgehen korreliert zur Gänze mit der überlieferten Aussage Trakls zur Verteidigung der Frau. Zu guter Letzt steht der Garten für die Poesie und die lyrische Tradition, auch in ihrer Wandlung. Das lyrische Ich eines der frühen Rilke-Gedichte bekundet diese Symbolhaftigkeit wie folgt: »Ich will ein Garten sein, an dessen Bronnen / die vielen Träume neue Blumen brächen, / die einen abgesondert und versonnen, / und die geeint in schweigsamen Gesprächen«.24 Wenn es im Garten »schon Herbst geworden« ist, so sagt es aus auch über die Lage der Poesie, über Töne und Themen, die vorherrschend werden. Das Verschwinden des Ich von der Oberfläche des Gedichts, sein Verzicht auf den Status eines explizit anwesenden und sprechenden lyrischen Ich bedeutet die Problematisierung seines Verweilens im Garten und ein formelles Verlassen des Gartens, sei es wegen seiner instrumentellen Unbrauchbarkeit oder aus anderen Gründen. »Verlassen sonnt sich die Terrasse dort« aus dem Gedicht ›In einem alten Garten‹ meint nicht nur die anderen, sondern dass sein weiteres Verweilen im Garten auch vom lyrischen Ich als problematisch empfunden wird, obwohl ihm die Rolle eines Beobachters vorläufige Legitimation gewährt. Die an Stelle des formalen Exodus aus dem Gedicht tretende Werdung des lyrischen Ich zum Gedicht, wo das Gedicht die Form seiner Explikation ist, verhindert die Gleichsetzung des Ich mit den anderen Emigranten und ist ein Ausdruck seiner Verbundenheit zur lyrischen Tradition schlechthin, 23 24
Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie, Tübingen 1985. R. M. Rilke, S. 65.
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konkretisiert in poetischen Korrespondenzen zu einzelnen Dichtern und Texten, wie Baudelaire oder Rimbaud. Hiermit kommen wir zum eigentlichen Punkt unserer Betrachtungen. Wenn steht »Und langsam gehen die Fremden wieder fort« bzw. »Die Lauben scheinen hell, da junge Frau’n / Am frühen Morgen hier vorbeigegangen« (›In einem alten Garten‹), so ist das lyrische Ich nicht unter den Fremden, die den Garten verlassen, sondern es beklagt das Verlassen des Gartens der Poesie durch den Leser und die Entpoetisierung des Lebens, daher sein Zweifel an dem Garten, daher zieht es die Möglichkeit in Erwägung, sich den Verlassenden anschließen zu wollen, was es jedoch unmöglich tun kann. »Ein trunkener Faun«, der als Einziger zurückbleibt, berauscht vom Lachen der jungen Frauen, das »an kleinen Blättern hangen« blieb, ist das lyrische Ich – ausgerechnet in dieser Gestalt tritt es aus seinem Versteck hervor, ohne sich im expliziten Ich, wie es früher in der Lyrik geläufig war, erkennen zu lassen. In ›Psalm‹25 ist das lyrische Ich explizit ebenfalls nicht anwesend. Alfred Doppler vergleicht ›Psalm‹ von Georg Trakl mit dem 87. Psalm des Alten Testaments und attestiert dem Gedicht Trakls den Verlust der Verbindung zwischen Ich und Du, auf dem die alttestamentarischen Psalmen beruhen und der den Sinn, sowie die – darunter auch gattungsbezogene – Besonderheit der Psalmen ausmacht: »Im ›Psalm‹ Trakls ist die Verbindung vom Ich zum Du zerbrochen, das Du hat sich in die Unzugänglichkeit des ›Es ist‹ zurückgezogen«.26 Aber auch von der säkularisierten Abwandlung des Ich-zum-Du-Bezugs, der für die Tradition des lyrischen Sprechens charakteristisch ist und im Übergang dieses Bezuges aus dem Religiösen ins Lyrische besteht, ohne dass das Poetische dabei verloren geht, ist in Trakls Gedicht nichts zu spüren. Dieser in die Lyrik umgesiedelte Bezug hat in Wirklichkeit die herkömmliche Religiosität nicht ganz aufgegeben, sondern sie in die Lyrik herübergeschmuggelt, indem die Kunst zur Religion erklärt und der Dichter zum Priester im Tempel der Kunst emporgehoben wird, was zu Trakls Zeiten vielleicht am evidentesten in der Lyrik und in der Haltung von Stefan George ist. Trakl verzichtet selbst auf diesen inkonsequent säkularisierten Bezug, nicht generell in seinem Schaffen, sondern tendenziell. Der Ich-und-Du-Diskurs kommt selten vor, so beispielsweise in ›Das Morgenlied‹ oder ›Traum25 26
G. Trakl, S. 55. A. Doppler, S. 92.
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wandler‹. Dass »ich und du dieselbe Seele« ist, gilt auch für diese Gedichte, allerdings spaltet sich das Du in zwei Erscheinungsformen – eine maskuline, wo die Selbstbezogenheit des lyrischen Ich deutlich ist, wie in den Zeilen »Nun schreite herab, titanischer Bursche, / Und wecke die vielgeliebte Schlummernde dir!« bzw. »Von deiner so wilden, sturmrasenden Umarmung, / Öffnet sie dir ihren heiligen Schoß« (›Das Morgenlied‹),27 und eine feminine, wie in den Zeilen »Wo bist du, die mir zur Seite ging, / Wo bist du, Himmelsangesicht« (›Traumwandler‹),28 das Selbstbiographische (Bruder-Schwester-Beziehung) und das Symbolische, um nicht zu sagen, Symbolistische (das sprechende männliche Ich als Dichter und das angesprochene weibliche Du bzw. besprochene weibliche Sie mit dem Symbolpotenzial einer Muse und der Lyrik schlechthin) sind in beiden Zitaten untrennbar liiert. Im Gedicht ›An die Nacht‹ erscheint das angesprochene weibliche Du einmal als »Mönchin« (»Mönchin schließ mich in dein Dunkel«, ›Nachtergebung‹, 3. Fassung), einmal als »Nymphe« (»Nymphe zieh mich in dein Dunkel«, ›Nachtergebung‹, 4. Fassung).29 Da der Ich-zum-Du-Bezug weder religiös noch säkular aufrechterhalten wird, wozu dann der Titel ›Psalm‹, der auf diesem Bezug ruht? Hier bahnen sich drei Antworten an: 1) der Bezug zu der bestimmten Tradition des poetischen Sprechens will erhalten bleiben, 2) der Ich-zum-Du-Bezug kommt auf eine noch andere, als die zwei beschriebenen Weisen zum Ausdruck, 3) sowohl 1) als auch 2) ist der Fall. In Wirklichkeit setzen alle drei Antworten das Aufrechterhalten des Ich-zum-Du-Bezugs voraus, allerdings muss es sich um eine andere Weise des Aufrechterhaltens handeln. Das Gespräch vom Ich mit Gott, wie in den alttestamentarischen Psalmen, oder das Gespräch vom Ich mit dem Du, wie in der Lyrik, verliert in ›Psalm‹ seine Legitimation. Der Raum des Gedichts ist sowohl von Gott als auch vom Du verlassen. Selbst außerhalb dieser expliziten Dialogizität traut sich das lyrische Ich nicht als solches in Erscheinung zu treten. Dennoch bleibt der Dialog grundsätzlich erhalten. ›Psalm‹ tritt ins Gespräch sowohl mit der biblischen Psalmentradition als auch mit der Tradition des lyrischen Sprechens, so wie wir es an den anderen Beispielen gezeigt haben. Die Unbestimmtheit der bei Arthur Rimbaud entlehnten 27 28 29
G. Trakl, S. 175. G. Trakl, S. 176. G. Trakl, S. 416–417.
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»Es ist«-Anapherkonstruktion will soviel sagen, wie »Gott ist tot« (Friedrich Nietzsche), auch der »Gott« der Poesie. Trakls ›Psalm‹ handelt von der Entgötterung und der infolge der Aufklärung eintretenden Entzauberung der (okzidentalen) Welt. Vor dieser Entzauberung, von der sich die Dichter nicht weniger angetan fühlten als die Priester, nur auf eine andere Weise, fliehen der Dichter Rimbaud und der Maler Gaugin in die exotischen Südlandschaften, wo sie in der Pracht der Farben und Naturnähe des Lebens, sowie der Andersheit überhaupt dieser bis zur Mechanisierung hin reichenden Entzauberung mehr schlecht als recht, aber dennoch auf eine hochpoetische Art, Einhalt zu gebieten versuchen. Es vollzieht sich so etwas, wie eine zweite Vertreibung aus dem Paradies der Zauberwelt durch das Anbeißen des Apfels der Aufklärung. Sie suchen nach etwas, das sie zu Hause vermissen und das sie andernorts noch zu finden glauben. Dem Traklschen ›Psalm‹ attestieren wir ebenfalls den Exodus des lyrischen Ich. Es ist ein mehrstufiges Verschwinden – es löst sich die Verbindung zwischen Ich und Du, Ich und Du verlassen das Gedicht, das lyrische Ich zeigt sich nur noch fragmentarisch und nicht als das lyrische Ich, sondern in einer Reihe von angenommenen Identitäten – als Novize, Pan, selbst wenn die andere Herkunft der Novizengestalt (von den Figuren im Sinne eines literaturwissenschaftlichen Terminus können wir kaum reden, aber von Gestalten, die dem Erscheinenden näher sind) nachgewiesen werden kann – in Bezug auf seine Herkunft handelt es sich um eine Entlehnung, in Bezug auf das poetische Sprechen und das Aussagen des Gedichts um die Korrespondenzen, wobei die Korrespondenz zu dem Autor oder dem Text, von dem die Entlehnung herkommt, nicht unbedingt auf den selben Autor bzw. Text rekurrieren muss. Wenn aber Alfred Doppler schreibt: »Der Sohn des Pan« erscheint nicht wie bei Rimbaud als »reizender Sohn des Pan«, in dessen Antlitz sich »zwei kostbare Kugeln«, seine Augen, bewegen und dessen Leib schön ist »wie der des Weibes und stark wie der des Mannes«, er erscheint nicht als der anmutige, jugendliche Mensch, »in dem das zweifache Geschlecht (le double sex) im Schlaf liegt«, sondern als müde gewordener »Erdarbeiter«, so trifft es nicht zu – die poetische Korrespondenz von Trakl zu Rimbaud bezieht die Lyrik Rimbauds nicht in der Einzelheit ihrer Gedichte, sondern sie selbst als einen vielfältigen und dennoch einheitlichen poetischen Raum mit ein. Lässt man sich von dieser These leiten, so sieht man, dass die Gestalt des Erdarbeiters ebenfalls aus dem Œuvre Rimbauds stammt und
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zwar aus dem Gedicht ›Ouvriers‹ (›Arbeiter‹) aus dem Band ›Illuminations‹ (›Leuchtende Bilder‹). Auf diesen evidenten Bezug ist erstaunlicherweise nicht hingewiesen worden. Auch A.Hammer, die jede Zeile auf Intertextualität hin untersucht, hält sich an das Gedicht ›Antique‹ (›Antik‹)30 (apropos, ebenfalls aus dem Band ›Leuchtende Bilder‹), was eine Fehlinterpretation der betreffenden Stelle zur Folge hat.31 Den Arbeiter, der sich bei Rimbaud formal außerhalb des Gedichtstextes befindet und im Paratext (Gedichttitel) namentliche Erwähnung findet, führt Trakl in seinen Text als einen Erdarbeiter ein: »Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters, / Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft«. Die sich dadurch ergebende poetische Korrespondenz ist von Komplexität gekennzeichnet. Durch das Erscheinen des Sohnes des Pan in Gestalt eines Erdarbeiters wird Rimbaud direkt angesprochen: Trakl lässt ihn als den Sohn des Pan auftreten, erkenntlich wird es durch die Einführung des Tertium comparationis – der Gestalt des Arbeiters. Zugleich ist Trakl selbst als Pan zu erkennen. So identifiziert sich Trakl mit Rimbaud, da beide Poeten sind. Also erscheint der Sohn des Pan auch bei Rimbaud durchaus als ein (Erd)Arbeiter, nur nicht in den Zeilen, auf die sich Alfred Doppler beruft. Entgegen Alfred Dopplers Ansicht, der weiße Dampfer der Zeile »Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf« symbolisiere das dichterische Subjekt,32 scheint uns eine etwas andere Deutung der Symbolkraft des weißen Dampfers auf der Hand zu liegen: mit dem weißen Dampfer ist die Poesie und nicht der Poet gemeint; dass der weiße Dampfer blutige Seuchen herauf trägt, meint das apokalyptische Sprechen, blutige Seuchen der Menschentiefe, daher auch das mit ›Psalm‹ verwandte Gedicht ›De profundis‹: aus der Tiefe des dichtenden Ich kommt Düsteres herauf. Mit diesem korrespondiert der andere ›Psalm‹, in dem das Geschehen allerdings nicht ins Exotische transponiert wird. Die Schlusszeilen beider ›Psalm‹-Gedichte sind einander so nahe, dass man behaupten kann, sie sind identisch – weniger im Wortlaut, viel mehr im Gehalt. Darin liegt die Komplexität – sowohl in der Mehrzahl der sich offenbarenden Bedeutungen, als auch in der Vielfalt der Bezüge. Entge30 31 32
Arthur Rimbaud: Illuminations. Leuchtende Bilder. Gedichte französischdeutsch, Aachen 2005, S. 20–21. A. Hammer, S. 166. A. Doppler, S. 94.
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gen der dominierenden Vorgehensweise, wenn Trakls ›Psalm‹ und ›De profundis‹ auf ein Gedicht von Rimbaud bezogen werden, ist die Sachlage komplizierter. Während Trakl die syntaktische Satzstruktur, gemeint ist die »Es ist«-Formel, übernimmt, nimmt ›Psalm‹ semantisch (Vokabel, Bilder) Korrespondenz nicht nur mit dem ›Kindheit‹-Gedicht, sondern mit dem Œuvre Rimbauds im Allgemeinen auf. Vor diesem Hintergrund ist die »Es ist«-Übernahme nicht als Entlehnung, sondern als poetische Korrespondenz zu betrachten, die durch die Übernahme gestiftet wird. Es ist wie Frage und Antwort, Part und Widerpart, wobei es kein Widersprechen oder keine Entgegnung, sondern Ausdruck eines tiefen Einverständnisses ist, durch das sich Trakl und Rimbaud metaphorisch verbrüdern. Diese Verbrüderung geschieht, wie wir sehen, auf verschiedenen Wegen. Sie kommt vor allem auf der syntaktischen Ebene mit der »Es is«-Formel zustande, des Weiteren durch die Übernahme von Schlüsselwörtern, Bildern und Motiven, insbesondere durch die Zusammenführung von Rimbaud und Trakl mittels der Gestalt des Erdarbeiters und in Gestalt des Pan, sowie auch als Anspielung im Dreieck von Student, Doppelgänger und Bruder, die die Pan-Erdarbeiter-Konstellation wiederholt und erweitert. Die Einführung des Pan wirft die Identitätsfrage auf. Was in Gestalt von Pan symbolisch heraufbeschworen wird, tritt in Gegensatz zu dem, was mit dem Apollinischen in Zusammenhang gebracht wird. Trakl bekennt sich zu dieser nichtapollinischen Tradition, Pan ist eine der Repräsentanzgestalten für das Dionysische bei Nietzsche, obwohl sich diese Synonyme nicht ganz decken. »Der Sohn des Pan« meint den Dichter, also sowohl Trakl, als auch Rimbaud: sie beide sind Söhne des Pan (und nicht des Apollon). Aus der Perspektive von Student, Doppelgänger und Bruder wird diese Konstellation präzisiert und teilweise umkonzipiert. Student, Doppelgänger und – etwas weiter – der anscheinend von Dostojewski stammende junge Novize meinen das lyrische Ich von Trakl, das Andere des Doppelgängerpaars, »sein toter Bruder« meint das lyrische Ich Rimbauds. Daher kann »Der Sohn des Pan« auch symbolisch Trakl als Sohn von Rimbaud meinen. Wie am Beispiel der »Gestalt des jungen Novizen« ersichtlich, sagt die Feststellung der Herkunft eines Bildes, einer Gestalt oder eines Motivs eventuell vieles, aber weit nicht alles über die Verflochtenheiten, inneres Zusammenspiel und die poetischen Korrespondenzen aus. Die Feststellung der Herkunft kann man als Schaffung von Rahmenbedingungen für die Erschließung der Poetik der Korrespondenzen betrachten.
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Dass die poetische Korrespondenz von ›Psalm‹ mit dem lyrischen Werk Rimbauds vielfältig ist, wird auch an dem erwähnten Gedicht ›Ouvriers‹ deutlich.33 Der Bezug von ›Psalm‹ zu diesem Gedicht erschöpft sich keinesfalls in der übernommenen Arbeitergestalt. Es kommt auch in der Übernahme des Sünden-Diskurses Rimbauds im Gedicht ›Ouvriers‹, inklusive der Frauengestalt, des verwüsteten Gartens und der Stadt »mit ihrem Rauch und Arbeitslärm«, wobei jede dieser Übernahmen bei Trakl einen Verwandlungsprozess durchmacht. »Meine Frau« »Henrika« durchläuft die Metamorphose der Entfremdung und Umkonzipierung, indem sie zu »die fremde Schwester« wird; die Situation des Gartens korreliert bei Trakl im Großen und Ganzen mit der von Rimbaud, nur wird die Kompaktheit der »widerlichen Gerüche aus den verwüsteten Gärten und verdorrten Wiesen« erweitert und vertieft zu einer ganzen Periode, die einem Strophem gleich ist, das auf das nächste Strophem hinüber greift, daher ist der Eindruck der Verharmlosung des Widerlichen und Verwüsteten der Gärten, in »Der Garten ist im Abend« nur ein momentaner, der mit der zunehmenden Verschärfung des Bildes schwindet. Die poetische Korrespondenz vom Traklschen ›Psalm‹ und ›De profundis‹ mit dem lyrischen Werk Rimbauds bettet sich in den breiten Kontext seiner Epoche; sie kann über das Individuelle hinaus als etwas Epochentypisches angesehen und mit dem Interesse anderer Dichter, insbesondere der Expressionisten am Werk Rimbauds in Verbindung gebracht werden – als Beispiel sei hier das gesammelte Werk von Jean-Arthur Rimbaud in freier deutscher Nachdichtung von Paul Zech, erschienen 1927 im Leipziger Wolkenwanderer-Verlag, genannt.
33
A. Rimbaud, S. 42–43.
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Flaubert in Georg Trakls ›Die Verfluchten‹
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Hanna Klessinger Flaubert in Georg Trakls ›Die Verfluchten‹. Eine intertextuelle Lektüre
Georg Trakls Lyrik ist reich an literarischen Anspielungen. Seit Erscheinen der historisch-kritischen Trakl-Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar (1969) wurden die Literatur- und Traditionsbezüge seiner Lyrik zunehmend erörtert. Vor allem die Rezeption der französischen Moderne (Rimbaud, Baudelaire) und der Frühromantik (Hölderlin, Novalis) wurde untersucht. Die Innsbrucker Trakl-Ausgabe trägt dieser Forschungslage Rechnung, indem sie Zitate im Kommentar nachweist.1 Allerdings ist die Forschung lange Zeit kaum über den Nachweis von Wortübernahmen und Zitattechniken hinausgelangt. Die Ergebnisse der Einflussforschungen wurden kaum für das Verständnis einzelner Gedichte fruchtbar gemacht. Neue Studien haben Methoden der Intertextualitätstheorie in die Trakl-Forschung eingebracht und an der Interpretation einzelner Gedichte erprobt.2 Die Methode einer ›intertextuellen Lektüre‹, die der folgenden Gedichtinterpretation zu-
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Trakls Lyrik wird im folgenden mit bloßen Band- und Seitenangaben im Text zitiert nach: Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe, hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Innsbruck 1995ff. (IA). In einer aktuellen Studie zur Intertextualität in Trakls früher Lyrik verbindet Anette Hammer: Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten ›Psalm I‹ und ›De profundis II‹, Würzburg 2005, einen ›textpoetischen‹ Ansatz mit einer semantischen Bestimmung der intertextuellen Bezugnahmen. Ihr Verfahren, jede Verszeile des Gedichts gesondert zu analysieren, ist dem Reihungsstil der gewählten frühexpressionistischen Gedichte angepasst. Zur Intertextualität von Trakls später Lyrik und der Möglichkeit, sie durch eine ›intertextuelle Lektüre‹ exemplarisch zu deuten, vgl. meine Dissertation: Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis, Würzburg 2007, (= Klassische Moderne, 8) (im folgenden zitiert als: Klessinger 2007).
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grunde liegt,3 wird vor allem für Trakls späte Lyrik vorgeschlagen, da diese sich durch eine hohe ›Dialogizität‹ des intertextuellen Verhältnisses auszeichnet. Die Montage verstreuter Zitat-Splitter, wie sie für Trakls frühexpressionistische Werkphase charakteristisch ist, wird in den späten Gedichten zugunsten eines stärker dialogischen Verfahrens abgelöst, das von einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit den Bezugstexten geprägt ist. Trakl nutzt hier den intertextuellen Dialog mit Leitbildern der Moderne wie Nietzsche und Dostojewskij dazu, seine eigene Modernität kritisch zu reflektieren.4 Im folgenden möchte ich diese poetologische Bedeutung der Intertextualität in Trakls Spätwerk an einem weiteren, in der Forschung bisher nicht untersuchten intertextuellen Verhältnis – dem Bezug auf Flaubert – erweisen. Eine intertextuelle Lektüre des Gedichts ›Die Verfluchten‹, in dem sich nachweislich Spuren der Flaubert-Rezeption finden, soll die Funktion dieses Bezuges exemplarisch zutage för-
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Diese Methode orientiert sich an der rezeptionsästhetischen, lektüresemiotischen Konzeption der Intertextualität von Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modell und Fallstudien, Paderborn 1998. Seit der Überwindung der traditionellen ›Einflussforschung‹ wird die Funktion der Intertetxualität in Trakls Werk diskutiert. Walter Methlagl und Sieglinde Klettenhammer haben in ihren kulturgeschichtlich orientierten Forschungen die Bezogenheit Trakls auf die kulturkritischen Debatten im ›Brenner‹-Kreis nachgewiesen (vgl. etwa W. Methlagl: Zur ewigen Wiederkehr in Trakls Lyrik. In: Zyklische Kompositionsformen. Szegeder Trakl-Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 81–121, sowie S. Klettenhammer: Figurationen des Weiblichen in der Lyrik Georg Trakls. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, Hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 189–215 (im folgenden zitiert als: Klettenhammer 1996, S. 189–215). In ihren Arbeiten kommt jedoch Trakls direkte Rezeption der Bezugsautoren m.E. zu kurz. HansGeorg Kemper: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart u.a. Paderborn u.a. 1998, S. 141–169., deutet die Intertextualität hingegen biographisch als ›Sühne-Strategie‹. Trakl nutze etwa die »Epochalität« von Nietzsches Moralkritik, um darin »sein privates Schuldproblem mitzuverhandeln, das sich auf die eher narzißtisch als libidinös bedingte Liebesbeziehung zu seiner Schwester Grete bezog.« (Vgl. auch: H.-G. Kemper: Georg Trakls ›Schwester‹. In: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992, S. 77–105). Ähnlich argumentiert Arno Dusini in diesem Band. Ergänzend zu diesen Ansätzen kann die Methode der ›intertextuellen Lektüre‹ m.E. sowohl Trakls eigenständige Rezeption der Bezugsautoren als auch eine poetologische Funktion des intertextuellen Dialogs erweisen.
Flaubert in Georg Trakls ›Die Verfluchten‹
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dern. In ›Die Verfluchten‹ begleiten die Flaubert-Anleihen den deutlich markierten Dostojewskij-Bezug.5 Im Kontext einer ›simultanen Rezeption‹ (Böschenstein) mit Dostojewskij erscheint Flaubert, so meine These, als nihilistischer und zugleich sentimentaler ›Doppelgänger‹ Dostojewskijs. Der Analyse des Beispielgedichts seien einige Aspekte der intertextuellen Methode vorausgeschickt.6 Um die komplexen intertextuellen Beziehungen von Trakls später Lyrik angemessen analysieren zu können, ist es m.E. notwendig, sich nicht auf einzelne Wortübernahmen und punktuelle Vergleiche zu beschränken, sondern diese zu kontextualisieren und ›ganze‹ Texte einander gegenüberzustellen. Ausgehend von markierten intertextuellen Verweisen lassen sich über die alludierten Prätexte weitere, v.a. strukturelle und konzeptionelle Bezüge aufdecken. Diese gestatten ein vertieftes Verständnis der Gedichte – und die Rekonstruktion der impliziten ›Gegenstimme‹, auf welche Trakl im intertextuellen Dialog antwortet. In diesem Sinne soll der Kleinzyklus ›Die Verfluchten‹ als ein ›Antwort-Gedicht‹ auf Flaubert (bzw. auf Flaubert und Dostojewskij) gelesen werden. Die folgende intertextuelle Lektüre gliedert sich in vier Teile. Sie beginnt mit einer Skizze der Gedicht-Struktur, bei der intertextuelle Verweise noch unberücksichtigt bleiben (Abschnitt 1). Auf dieser Basis erfolgt ein Nachweis der möglichen Flaubert-Bezüge (Abschnitt 2). Ein knapper ›Exkurs‹ stellt Trakls Flaubert-Lektüre in den Kontext der zeitgenössischen Flaubert-Rezeption, bevor eine Funktionsdeutung des intertextuellen Bezuges versucht wird (Abschnitt 3).
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Zum intertextuellen Dialog mit Dostojewskij in ›Die Verfluchten‹ und Trakls anderen Sonja-Gedichten (›Verwandlung des Bösen‹ und ›Sonja‹) vgl. das zweite Kapitel in: Klessinger 2007, S. 59–114. Vgl. dazu ausführlich das einleitende Kapitel in: Klessinger 2007.
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1. ›Die Verfluchten‹. Strukturanalyse und Deutungsansatz Die Verfluchten 1 Es dämmert. Zum Brunnen gehn die alten Fraun. Im Dunkel der Kastanien lacht ein Rot. Aus einem Laden rinnt ein Duft von Brot Und Sonnenblumen sinken übern Zaun. Am Fluß die Schenke tönt noch lau und leis. Guitarre summt; ein Klimperklang von Geld. Ein Heiligenschein auf jene Kleine fällt, Die vor der Glastür wartet sanft und weiß. O! blauer Glanz, den sie in Scheiben weckt, Umrahmt von Dornen, schwarz und starrverzückt. Ein krummer Schreiber lächelt wie verrückt Ins Wasser, das ein wilder Aufruhr schreckt.
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2 Am Abend säumt die Pest ihr blau Gewand Und leise schließt die Tür ein finstrer Gast. Durchs Fenster sinkt des Ahorns schwarze Last; Ein Knabe legt die Stirn in ihre Hand. Oft sinken ihre Lider bös und schwer. Des Kindes Hände rinnen durch ihr Haar Und seine Tränen stürzen heiß und klar In ihre Augenhöhlen schwarz und leer.
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Ein Nest von scharlachfarbnen Schlangen bäumt Sich träg in ihrem aufgewühlten Schoß. Die Arme lassen ein Erstorbenes los, Das eines Teppichs Traurigkeit umsäumt. 3 Ins braune Gärtchen tönt ein Glockenspiel. Im Dunkel der Kastanien schwebt ein Blau, Der süße Mantel einer fremden Frau. Resedenduft; und glühendes Gefühl
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Flaubert in Georg Trakls ›Die Verfluchten‹ Des Bösen. Die feuchte Stirn beugt kalt und bleich Sich über Unrat, drin die Ratte wühlt, Vom Scharlachglanz der Sterne lau umspült; Im Garten fallen Äpfel dumpf und weich. Die Nacht ist schwarz. Gespenstisch bläht der Föhn Des wandelnden Knaben weißes Schlafgewand Und leise greift in seinen Mund die Hand Der Toten. Sonja lächelt sanft und schön.7
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Das Gedicht ›Die Verfluchten‹ entstand im Mai 1913 und erschien erstmals im ›Brenner‹-Heft vom 1. Juni 1913.8 Die ›Brenner‹-Fassung wurde von Trakl ferner in den posthum erschienen Gedichtband ›Sebastian im Traum‹ (1915) aufgenommen und gehört dort dem Zyklus ›Der Herbst des Einsamen‹ an. Sieglinde Klettenhammer verweist in einer vergleichenden Interpretation mit den Gedichten ›Sonja‹ und ›Afra‹ auf die strukturbildende Funktion der Spannung von ›Heiligem‹ und ›Bösem‹.9 In der Figur der Sonja sieht sie diese Gegensätze, die sich den verschiedenen Figurationen des Weiblichen im Gedicht zuordnen, in einer Figur zusammengeführt. Neben Klettenhammer haben Alfred Doppler, Adrien Finck und Richard Detsch auf einen möglichen DostojewskijBezug im Gedicht hingewiesen.10 Die 36 Verse des Gedichts, jambische Fünfheber in durchgehend männlichen Kadenzen, sind zu 9 Vierzeilern in umarmenden Reimen zusammengeschlossen, die sich wiederum in drei Strophengruppen gliedern.11 Die drei Teile stellen drei Szenen vor; die Verse lassen sich als Fragmente zu einer Handlung ergänzen. Der Text beginnt im ers7 8
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IA II, 439f. (Textstufe 2D); vgl. HKA I, 103f. Vgl. IA II, 437. Eine abweichende Fassung erschien in der Anthologie ›Die Pforte. Eine Anthologie Wiener Lyrik‹. Heidelberg 1913, S. 76f. (vgl. IA II, 441f. (Textstufe 3D)). Vgl. Klettenhammer: 1996. Vgl. Alfred Doppler: ›Der Brenner‹ als Kontext zur Lyrik Georg Trakls. In: A. Doppler: Die Lyrik Georg Trakls, Wien u.a. 1992, S. 94–103, hier S. 96; Adrien Finck: Georg Trakl. Essais d’interprétation, Lille 1974, S. 233.; sowie Richard Detsch: The Dead Child. In: Austriaca, 25, 1987, S. 99–113, bes. 108ff. Zur Beliebtheit gereimter Vierzeiler mit jambischen Fünfhebern in der Lyrik der Jahrhundertwende vgl. Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchges. Aufl. Tübingen, Basel 1993, Ziffern 4.88–4.110. ›Die Verfluchten‹ folgt dem Muster 4.101, einer Variante, die v.a. bei den Frühexpressionisten begegnet.
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ten Teil mit der Szene einer Lockung: Auf die Anziehung einer unschuldigen, heiligen Dirne reagiert ein »krummer Schreiber« (V. 11), wohl ein Bild für das – als hässlich abgewertete und narzisstisch konnotierte (vgl. die ›Spiegelung‹ im »Wasser«) männliche Begehren. Im zweiten Teil kommt es zu einer tödlichen körperlichen Begegnung zwischen einer als Allegorie der Pest oder als Pestkranke dargestellten weiblichen Figur (der Mutter?) und einem Knaben. Der dritte Teil, in dessen Schlussstrophe die beiden Fassungen voneinander abweichen, übernimmt und variiert die Handlungsmotive der vorangehenden Teile. Er beginnt zunächst mit einer Wiederholung der Konstellation von weiblicher Attraktion und schuldhafter männlicher Erregung. Auf die Erscheinung einer Frauengestalt im blauen Mantel der Mutter Maria folgt »glühendes Gefühl // Des Bösen« (V. 28f.)), auf dessen Schuldhaftigkeit mit einer Sühnehandlung reagiert wird (vgl. das Niederbeugen auf die verschmutzte Erde).12 Schließlich kommt es (in der ›Brenner‹-Fassung) zu einer erneuten körperlichen Begegnung, die den nachtwandelnden Knaben mit einer »Toten« zusammenführt, bevor im Schlussvers die Erscheinung Sonjas evoziert wird: »Sonja lächelt sanft und schön«.13 Das zentrale Thema des Geschlechterverhältnisses wird lexikalisch untermalt durch eine Häufung von Wörtern aus den Wortfeldern optischer, akustischer, haptischer und olfaktorischer Wahrnehmungen, die zur sinnlichen Intensität des Textes beitragen.14 Das Gedicht beginnt im ersten Teil (der erotischen Lockung) mit einer Häufung der Sinneseindrücke: In der Dämmerung treten die Geräusche des Lachens, Tönens, Summens sowie der »Klimperklang von Geld« hervor, begleitet von einem »Duft von Brot«, worauf im dritten Teil der »Resedenduft« (V. 28) und das »Glockenspiel« (V. 25) antworten. Besondere Bedeutung kommt der Vielzahl von Farbwörtern zu. Sie sorgen 12
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Die Schuldhaftigkeit wird angezeigt durch die »im Garten« fallenden »Äpfel« (V. 32), die an Paradies und Sündenfall (vgl. das Schlangen-Motiv in V. 21) erinnern. Die Fassung der ›Pforte‹ nimmt in der Schlussstrophe nicht die direkte körperliche Begegnung, sondern das Krankheits-Motiv des Mittelteils auf und schildert ein nächtliches Krankenlager (und einen Todeskampf?), bevor auch hier das rätselhafte Erscheinen Sonjas das Gedicht abschließt (vgl. IA II, 442). Strukturbildend wirken in diesem Zusammenhang die nachgestellten Adjektivpaare, die sich in jeder Strophengruppe dreimal finden (V. 5; V. 8; V. 10; V. 17; V. 19; V. 20; V. 29; V. 32; V. 36).
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für die Bildhaftigkeit des Triptychons, dessen Tableaux in den Farben Rot, Blau, Braun sowie im Kontrast von Schwarz und Weiß gehalten sind. Im Kontext des Gedichts gewinnen die Farben einen thematischen Signalcharakter. So ist die Sphäre des Geschlechtlichen in allen drei Strophengruppen mit der Farbe Rot verbunden. Die Farbe taucht auf als lachendes Rot im Kontext der Lockung gleich in der einleitenden ersten Strophe (V. 2), im »aggressiv-phallischen« (Kleefeld) Bild der »scharlachfarbnen Schlangen« am Höhepunkt der tödlichen Umarmung im zweiten Teil und im Schlussteil, wo eine (männliche) »Büßergeste«, das Senken der Stirn auf die von Unrat beschmutzte Erde, das auf das wollüstige »Gefühl // Des Bösen« folgt, in rotes Licht, in den »Scharlachglanz der Sterne« getaucht ist. Die Farbe Blau ist den weiblichen Figuren zugeordnet. Sie begegnet in Verbindung mit der Frauengestalt im blauen Gewand, auf das im ersten Teil zunächst nur ein »blauer Glanz« (ihr Spiegelbild?) in der Scheibe der Glastür hindeutet. Im zweiten Teil wird der weiblichen Figur explizit ein »blau[es] Gewand« zugeordnet; im Schlussteil kehrt die Farbe als schwebendes »Blau« wieder, das sich im »süße[n] Mantel einer fremden Frau« (gelesen als Apposition) konkretisiert (und an den blauen Mantel der Mutter Maria erinnert). Der Text changiert in seinen drei Teilen zwischen verschiedenen Frauenbildern (kindliche Dirne, Pest-Allegorie, Heilige), suggeriert jedoch zugleich – über das gemeinsame Merkmal der blauen Kleidung – eine Identität dieser Figuren. Auch Sonja, die sich mit der kindlichen Dirne der ersten Strophengruppe – und über diese mit den anderen Frauengestalten – verbinden lässt, ist in diese ambivalente, changierende Einheit einbezogen. Die semantische Struktur des Gedichts wird ferner bestimmt durch Verben bzw. Partizipien, die einen ›Niedergang‹ – ein Sinken (V. 4; V. 15; V. 17), Fallen (V. 32) und Stürzen (V. 19) –, eine Auflösung – ein Rinnen (V. 3), Loslassen (V. 23) und Ersterben (V. 23) – sowie eine Unordnung – ein Verrücken (V. 11), Aufrühren bzw. Schrecken (V. 12) und (Auf-)Wühlen (V. 22; V. 30)15 – anzeigen. Im Mittelteil stehen dieser ›Desintegration‹ kurzzeitig Bilder der Ordnung (und Stabilisierung?) gegenüber: die Tätigkeiten des Säumens (V. 13; V. 24), Schließens (V. 14), Legens (V. 16). Zugleich erreicht
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Vgl. auch den »Unrat« (V. 30)
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die Unordnung jedoch im Bild des »aufgewühlten Schoß[es]« ihren aggressiven Höhepunkt. Durch den Kontext einer unaufhaltsamen Auflösung scheint die ›Unwirklichkeit‹ von Sonjas rätselhaftem Erscheinen am Schluss des Gedichts besonders markiert.
2. Intertextuelle Verweise auf Flauberts Romane ›Salammbô‹ und ›L’Éducation sentimentale‹ Über das an den Höhepunkt der tödlichen körperlichen Begegnung gesetzte Bild der »scharlachfarbnen Schlangen« lässt sich m.E. ein Bezug zu Flauberts karthagischem Roman ›Salammbô‹ herstellen.16 Es erinnert – im Kontext der Farbsymbolik des Gedichts – an das zentrale Ereignis des Romans, an die Liebesbegegnung zwischen Salammbô und Mâtho (XI),17 bei der sich (unbewusste) weibliche Verführung und sexuelle Gewalt verbinden. Die karthagische Prinzessin Salammbô sucht den Führer der aufständischen Söldner Mâtho in dessen Lager auf, um den geraubten Zaïmph, den »blauen Mantel« der Göttin Tanit, zurückzuholen. Im Vorfeld der Begegnung steht die berühmte Passage von Salammbôs Tanz mit dem heiligen Python (X), deren erotische Bildlichkeit die spätere Begegnung mit Mâtho vorbereitet. Die Schlange ist ein obsessives Schlüssel-Motiv des Romans. Es kehrt an mehreren Stellen wieder und verbindet die zentralen Themen Liebe, Gewalt und Religion. Bei ihrem ersten Erscheinen singt Salammbô den Mythos von der heiligen »Königin der Schlangen«, in dem »Frauen mit Drachenleibern« ihre »scharlachfarbenen Zungen […] züngelnd bis zum Rande der Flammen« recken (I, 21). Das Zeichen von Salammbôs Jungfräulichkeit ist ein goldenes Kettchen, das 16
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Das »Nest von […] Schlangen« lässt sich ferner, worauf Klettenhammer 1996, S. 201, hinweist, auf die zweite Strophe von Baudelaires Gedicht ›Segen‹ in der Übersetzung Stefan Georges beziehen: »Ach! was gebar ich einst ein nest von schlangen« (Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George, Berlin 1901, S. 9). Der Roman wird – mit Kapitel- und Seitenangaben im Text – zitiert nach der zeitgenössischen Übersetzung: Gustave Flaubert: Salammbô. Roman. Aus dem Französischen von Friedrich Oppeln-Bronikowski, Minden 1907, (Gesammelte Werke. Bd. 2). Die Seitenangeben beziehen sich auf den Neudruck: Gustave Flaubert. Salammbô, Zürich 1979.
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sie zwischen ihren Knöcheln trägt. Als Mâtho sie an den Füßen packt, zerspringt dieses Kettchen, und die Enden fliegen »gegen die Zeltwand wie zwei hochschnellende Vipern« (XI, 227). Die Besessenheit der Liebenden wird mit dem »Biss der Viper« verglichen, den man heilt, »indem man sie auf der Wunde zerquetscht« (XIV, 334). Das Schlangenmotiv kehrt außerdem in der Schilderung des Krieges zwischen den Söldnern und Karthagern wieder – der an mehreren Stellen als Substitut erotischer Begegnung erscheint.18 Am Höhepunkt der grausamen »Schlacht am Macar« (VIII) kämpfen die Krieger »Leib an Leib« und »Leichname hingen mit zurückgesunkenem Haupt zwischen zwei sie umklammernden Armen« – ein Bild, das an die tödliche Umarmung im zweiten Teil von Trakls Gedicht erinnert (»Die Arme lassen ein Erstorbenes los«). Die Rüssel der im Kampf eingesetzten Elefanten sind »mit Mennige bestrichen [und] standen senkrecht empor wie rote Schlangen« (VIII, 177). Auch in der Schlussszene des Romans, in der Mâtho von den siegestrunkenen Karthagern zu Tode gefoltert wird, steht das Motiv in der Verbindung von Erotik und Gewalt: Die »mystische Lüsternheit« wird verkörpert von weiblichen Priesterinnen, die sich winden »wie Schlangen« (XV, 346) und am geschundenen Körper Mâthos schwellen die »auf dem bloßen Rücken gefesselten Arme an wie Schlangenleiber« (XV, 348). Der in Trakls Gedicht anklingende Bezug des Schlangen-Motivs zum biblischen Sündenfall – über das Bild von den im Garten fallenden »Äpfel[n]« – findet sich auch bei Flaubert: Vor der ersten Berührung der Jungfrau Salammbô erscheint Mâtho als unschuldiges »Kind, das nach einer unbekannten Frucht greift« (XI, 223). Auch Mâthos kindliche Tränen, bevor seine Frustration angesichts der sich versagenden Frau in Gewalt umschlägt, könnte Trakl im zweiten Teil des Gedichts – in den Tränen des (frustrierten) Knaben – aufgegriffen haben. An die Schlüsselszene von Salammbô erinnert überdies die »Traurigkeit« (V. 24), die auf die Begegnung folgt: Salammbô steht nach der Rückeroberung des Za¿mph »Schwermütig […] vor ihrem erfülltem Traum« (XI, 230).19 18
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Auf die Parallelen zwischen Liebesgeschichte und Kriegsgeschehen verweist Jean Rousset: Positions, distances, perspectives dans ›Salammbô‹. In: Poétique, 6, 1971, S. 145–154, hier S. 149. Auch das ›Verschwimmen‹ profaner und heiliger Frauenfiguren, das bei Trakl auffällt, findet sich bei Flaubert vorgebildet. Salammbô wird über das äußere Merkmal ihrer Kleidung mit der Mondgöttin Tanit verbunden:
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Eine weitere intertextuelle Spur führt zu Flauberts ›L’Éducation sentimentale‹,20 nämlich zur Schlusspassage des Romans, in der sich Frédéric und sein Freund Deslauriers an ein Jugenderlebnis, einen gemeinsamen Bordellbesuch bei der »Türkin«, erinnern. Trakls »am Fluss« gelegene »Schenke« (V. 5) lässt zusammen mit der kindlichen Dirne und dem »Resedenduft« (V. 32) in der dritten Strophengruppe an das Etablissement denken, das Frédéric und Deslauriers aufsuchen: ein »Haus am Wasser«, dessen Erkennungszeichen ein Goldfischbecken und ein »Resedatopf« auf der Fensterbank sind (III.5, 554). Auch das Lockende der Szenerie – das bei Trakl durch die Häufung der Sinneseindrücke gesteigert wird – findet sich – bis hin zu lexikalischen Entsprechungen – in Flauberts Erinnerungsbild, das (neben dem schwülen Resedenduft) vor allem akustische und visuelle Effekte einsetzt: »Mädchen in weißen Unterjacken, mit geschminkten Wangen […], klopften an die Fensterscheiben, wenn man vorbeiging, und summten abends, vor der Tür stehend, leise, mit rauher Stimme.« (III.5, 554)21 Bevor ausgehend von diesen ersten Hinweisen ein Ausblick auf die mögliche Funktion des Flaubert-Bezuges gegeben wird, soll ein knapper Exkurs zu Trakls Rezeptionsbedingungen im zeitgenössischen Kontext erfolgen.
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»Ihre Kleidung glich in allem der Göttin. Ihr hyazinthfarbenes Gewand mit den weiten Ärmeln schloß sich eng um ihre Hüften […].« (VII, 143). Nach der psychoanalytischen Deutung von Lycette Czyba: Mythes et idéologie de la femme dans les romans de Flaubert, Lyon 1983, bes. S. 135. und 148f., lässt sich diese distanzierende Vergöttlichung als männliche ›Sublimierung‹ verstehen, eine Deutung, die sich auch auf Trakls Gedicht übertragen ließe. Der Roman wird mit Kapitel- und Seitenangaben im Text zitiert nach: Gustave Flaubert: Der Roman eines jungen Mannes. L’Éducation sentimentale. Mit einer Vorrede von Hugo von Hofmannsthal. Deutsch von Alfred Gold und Alphonse Neumann, 2. Aufl. Berlin 1910. Auch das Auratische der kindlichen Dirne und ihres »blauen Glanz[es]« in Trakls Gedicht findet sich bei Flaubert im Hinweis auf das »fantastische[ ] Licht«, das der »Ort der Verdammnis« aussendet (III.5, S. 554). Es erinnert auch an die visionäre Erscheinung von Madame Arnoux im ersten Kapitel des Romans.
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Exkurs: Wirkungsfaktoren – Trakl und die zeitgenössische Flaubert-Rezeption Trakls Flaubert-Rezeption ist bezeugt durch das Exemplar von ›Madame Bovary‹, das Trakl im Sommer 1908 seiner Schwester Grete widmete.22 Die Trakl-Forschung hat diese Spur jedoch nicht aufgenommen und den Flaubert-Bezug im Werk bisher nicht untersucht. Das ist umso erstaunlicher, bedenkt man Flauberts enorme Wirkung auf die europäische Moderne. Erster Grund für die Rezeption Flauberts in der Moderne ist die ›Sinnlichkeit‹ seines Stils. Durch die hohe Dichte olfaktorischer, haptischer, akustischer und vor allem optischer Reize (die auch einen Reflex in Trakls Gedicht gefunden haben könnte) wirkte Flauberts Erzählkunst auf die zeitgenössische Musik und bildende Kunst.›23 Einen Roman wie ›Salammbô‹ – mit seiner Sinnlichkeit des Stils, der orientalischen Szenerie, der Kombination von Erotik, Mystik und Gewalt, der Preziosenmetaphorik und Figur einer ›Femme fatale‹ – goutierten die Leser der Jahrhundertwende als Vorläufer des Ästhetizismus.24 Der zweite Wirkungsfaktor, der Flaubert zum Bezugsautor der Moderne werden ließ, ist seine innovative Erzähltechnik. Sie war das 22
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Es handelt sich um folgende Ausgabe: Gustave Flaubert: Madame Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz. Übersetzt von Josef Ettlinger. 2., durchges. Aufl., Dresden und Leipzig 1902. Der Band befindet sich in der Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte in Salzburg. Die Widmung lautet: »Meinem geliebten kleinen Dämon, der entstiegen ist dem süßesten und tiefsten Märchen aus 1001 Nacht« (HKA I, 466). Salammbô‹ etwa inspirierte, trotz Flauberts Illustrationsverbot, eine Fülle bildlicher Darstellungen (v.a. der ›Schlangentanz‹ war ein beliebtes Motiv). Außerdem gibt es zahlreiche zeitgenössische Vertonungen, etwa das Opernfragment von Modest Mussorgski. Vgl. Klaus Ley (Hg.): Flauberts ›Salammbô‹ in Musik, Malerei, Literatur und Film, Tübingen 1998. So verwahrt Joris-Karl Huysmans’ Des Esseintes ein Exemplar von ›Salammbô‹ in seiner Bibliothek. Die Flaubert-Rezeption von Hugo von Hofmannsthal untersucht Gert Mattenklott: Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten: Stendhal, Balzac, Flaubert. In: Hofmannsthal-Blätter, 34, 1986, S. 58–73, bes. 70f., und weist eine »stilistische Replik« auf Flauberts Erzählung ›St. Julien l’hôsitalier‹ aus den ›Trois contes‹ in Hofmannsthals ›Kleinem Welttheater‹ nach. Auch bei Trakl hat diese Erzählung mögliche Spuren im Werk hinterlassen: So könnte etwa das Prosagedicht ›Verwandlung des Bösen‹ (IA III, 288f., Textstufe 3D) auf Motivik, Handlung und Figurenkonstellation von Flauberts Erzählung verweisen, welches das Jagdmotiv (Z. 5ff.) mit der Gestalt eines »Aussätzige[n]« (Z. 2) sowie mit Anspielungen auf einen Mord (Z. 11; Z. 32ff.) und mit einer ambivalenten Christusepiphanie (im Schlussabschnitt) kombiniert.
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Vorbild für die Subjektivierung des Erzählens,25 vor allem wegen ihrer Verbindung von unbeteiligtem Erzählertext (der berühmten ›impassibilité‹) und eingeschriebenen Personentext (häufig im ›style indirect libre‹). Auch wenn sich mögliche stilistische Intertextualität schwer nachweisen lässt: Mit Flauberts Erzähltechnik ließe sich durchaus die Spannung zwischen objektiver, unpersönlicher Darstellung und subjektiven Elementen (vgl. den O-Ausruf in V. 9) in Trakls Gedicht erklären.26 Zur charakteristischen ›Unpersönlichkeit‹ tragen hier das Fehlen eines lyrischen Ich und ›entpersonalisierte‹ Nomina (»die Arme«, »die Stirn«) bei. Flauberts Erzähltechnik und ›drastischer Realismus‹ (»poetic of horror«, Brombert) gründet auf einem pessimistischen bzw. nihilistischen Weltbild – durch das sich der Autor in kulturkritische Debatten der (postmetaphysischen) Moderne einbeziehen ließ.27 In ›Salammbô‹ manifestiert sich dieser Pessimismus etwa in der fatalistischen Geschichtsauffassung.28 Flauberts Pessimismus ist eng verbunden mit der als ›Bovarysmus‹ bekannt gewordenen Psychologie seiner Figuren. Hier bietet sich ein erster Anknüpfungspunkt für einen Vergleich von Flauberts Romanen und Trakls Gedicht, durch den die ›Dialogizität‹ des intertextuellen Bezuges zugänglich wird.
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Zu Flaubert-Anleihen in einer frühen Erzählung Arthur Schnitzlers vgl. Barbara Surowska: Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ›Die Toten schweigen‹. In: Orbis litterarum, 40, 1985, S. 372–379. Häufig untersucht wurde der Einfluss Flauberts auf Franz Kafka. Einen Nachweis möglicher Anleihen unternimmt etwa Monika Kühne: »Es geht in einen über, sei man wie man sei«. Kafka als Leser Flauberts. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 149, 1997, S. 293–313 (im folgenden zitiert als: Kühne 1997). Auf die performative Bedeutung einer Spannung von »Deskription und Involviertheit des Subjekts« in Trakls Lyrik verweist Stephan Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das unmarkierte Zwischen in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke, München 2001, bes. S. 197–246, hier S. 230. Michael Neumann: Objektivität, Ironie und Sympathie. Flaubert im ›Zauberberg‹. In: Thomas Mann Jahrbuch, 8, 1995, S. 9–31, bes. S. 12, zeigt eine Verbindung zwischen der Nietzsche- und der Flaubert-Lektüre bei Thomas Mann. Die Gewaltspirale des Krieges und der mühsame Sieg der Karthager sind durch den späteren Gang der Geschichte – den Untergang Karthagos – von vornherein in ihrer Sinnlosigkeit vorgeführt.
Flaubert in Georg Trakls ›Die Verfluchten‹
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3. ›Bovarysmus‹ und Sentimentalität – Flaubert als Vorbild des modernen Dichters in Trakls ›Die Verfluchten‹ Victor Brombert hat die zentrale Bedeutung des ›Bovarysmus‹ in Flauberts Romanen erhellt.29 Er liest das Phänomen als Ausdruck einer »metaphysischen Erotik« (»metaphysical eroticism«),30 einer zutiefst menschlichen und zugleich das menschliche Maß übersteigenden Sehnsucht nach dem Absoluten, von der die Figuren Flauberts getrieben würden. Es handelt sich um eine prinzipiell unerfüllbare Sehnsucht, die zur (nihilistischen) Schwermut führt. Außerdem besitzt sie eine (selbst-)zerstörerische Kraft. Denn das Begehren scheint nur jenseits von Bewusstsein, also letztlich nur im Tod erfüllbar – weshalb Gewalt und Tod bei Flaubert als ›Substitute des Absoluten‹ erscheinen. Die skizzierte Dynamik bestimmt nach Brombert die Handlungsstruktur aller Romane, vor allem aber in ›Salammbô‹.31 Im Anschluss an Brombert lässt sich die Dynamik in der Liebeshandlung des Romans folgendermaßen nachzeichnen: Sie beginnt mit einer Phase der Erregung, in der sich erotische und religiöse Faszination mischen (Mâtho entbrennt in Leidenschaft für Salammbô, die für ihn zugleich mit der Göttin Tanit verschwimmt). Es folgt das zunehmend exzessive Bemühen, die Begierde zu stillen (symbolisch verbunden mit dem Fetisch Zaïmph und dem Liebeskampf um seinen Besitz), was zu Enttäuschung und Trauer führt (zu Salammbôs Schwermut). Die fatale Dynamik mündet schließlich, in der dritten Phase, in Zerstörung und Tod (die Leidenschaft endet im Tod der Liebenden). Diese drei Phasen bestimmen, wie die Strukturanalyse zeigte, auch Trakls Kleinzyklus. In der Folge der einzelnen Teile wie innerhalb des abschließenden dritten Teils wechseln Erregung, enttäuschte Erfüllung, Tod und erneute Verlockung. Vor dem Hintergrund von Flauberts Konzeption lässt sich m.E. eine mögliche Funktion dieser zyklischen Struktur bestimmen. Hinter dem erotischen Geschehen zeigt sich eine moderne metaphysische Problematik. Die Zyklik könnte auf eine undurchdringliche, schicksalhafte Verstrickung deuten – die eine 29
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Victor Brombert: The novels of Flaubert. A study of themes and techniques, Princeton 1966 (im folgenden zitiert als: Brombert 1966), bes. S. 116–124. Brombert 1966, S. 116. Vgl. Brombert 1966, S. 117–122.
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Hoffnung auf Erlösung, wie sie Sonja repräsentiert, pessimistisch unterwandert (s.u.). Vor dem Hintergrund des ›Bovarysmus‹ gewinnt auch die an Flaubert angelehnte Bordell-Szenerie am Eingang des Gedichts eine bestimmte Funktion: Die Schlusspassage der ›Éducation sentimentale‹, auf die Trakl anspielen könnte, ist deshalb so berühmt und umstritten, weil sie das provokante und zynische Ende eines modernen ›Bildungsromans‹ darstellt. Nach der sentimentalen Erinnerung an ihr jugendliches Bordell-Erlebnis stellen Frédéric und Deslauriers im wiederholten Schlusssatz des Romans einmütig fest: »Das war wirklich das Schönste, was wir erlebt haben« (III.5, S. 555). Diese Kontextualisierung von Trakls Flaubert-Anspielung fördert das dialogische Verhältnis von Gedicht und Roman zutage: Auch Trakls Bordell-Szenerie haftet angesichts der Bilder der Unordnung, Auflösung und des ›Untergangs‹, die das Gedicht bestimmen, etwas Sentimentales an – zusätzlich markiert durch das plötzliche Erscheinen der Dirne Sonja am Ende des zyklischen Gedichts (ein Erinnerungsbild?). Bezogen auf Dostojewskijs Romanfigur wirkt diese Rückbindung Sonjas an eine Flaubertsche Bordell-Szene freilich zynisch. Denn mit der Figur der Sonja verbindet sich für einen Leser von Dostojewskijs Roman ›Schuld und Sühne‹ die Vorstellung einer Erlösung des Mörders Raskolnikow durch die Kraft der Liebe. Dostojewskijs Liebesutopie, als deren Verkörperung Sonja erscheint, zielt auf die labile Verbindung von Erotik und christlicher Nächstenliebe.32 Für eine solche Erlösungshoffnung scheint in der fatalistischen Welt, die Flauberts Romane entwerfen, kein Platz. Die unentrinnbare Dynamik des ›Bovarysmus‹ wird zudem in Flauberts Darstellung nicht gewertet und steht jenseits der Frage nach ›Schuld und Sühne‹, die Dostojewskijs ethischer Realismus aufwirft. Flaubert erschiene damit für Trakl als nihilistischer und zynischer ›Gegenspieler‹ bzw. ›Doppelgänger‹33 Dostojewskijs. Doch der in der intertextuellen Lektüre freigelegte nihilistische ›Subtext‹ unterwandert nicht nur die Erlösungshoffnung am Schluss 32 33
Zur Bedeutung von Dostojewskijs Liebesutopie in Trakls intertextuellem Dialog mit Dostojewskij vgl. Klessinger 2007, bes. S. 105–108. Mit Flaubert teilt Dostojewskij das pessimistische Menschenbild (auch Raskolnikow wird getrieben von einer Sehnsucht nach (Selbst-)Überschreitung, die ihn zum nihilistischen Mörder werden lässt).
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des Gedichts. Die ›dekadente‹ Verbindung von Mystik und Nihilismus, die durch den strukturellen (›Bovarysmus‹) und möglichen stilistischen (›Unpersönlichkeit‹) Flaubert-Bezug zutage tritt, scheint auch den zentralen Gegensatz des Gedichts von ›Heiligem‹ und ›Bösem‹ ad absurdum zu führen. Dieser ›Sinnverlust‹ lässt sich, in Anlehnung an die Flaubert-Rezeption der Moderne, auf die Problematik des postmetaphysischen Menschen beziehen – und erhält eine kulturkritische Relevanz.34 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Melancholiesignale in Trakls Gedicht – das unaufhaltsame Sinken, die Farbe Blau, »Tränen« und »Traurigkeit« – als Ausdruck einer nihilistischen Schwermut, die auf den ›Sinnverlust‹ folgt. Sie ist – bei Trakl wie bei Flaubert – gepaart mit einer sentimentalen Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld (vgl. die Paradies-Symbole in Trakls Gedicht).35 Der sentimentale Gestus in Trakls Gedicht lässt sich auch auf Flauberts Ästhetik beziehen, die sich aus dessen wirkmächtiger ›Correspondance‹ erschließt:36 Flauberts ›Formkult‹, mit dem er seinen sinnlichen und drastischen Realismus verbindet, erscheint hier als Kompensation einer stolz ertragenen, schwermütigen ›Unerlöstheit‹. Angesichts seiner mühevollen minutiösen Rekonstruktion der untergegangen Welt Karthagos schreibt Flaubert an Ernest Feydeau: »We34
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Über die Motive der Überschreitung und des Sinnverlusts lässt sich Flauberts Bovarysmus mit den kulturkritischen Konzeptionen von Dostojewskij (vgl. Anm. 32) und Nietzsche verbinden. So zeichnet eine ständige (Selbst-)Überschreitung den Übermenschen aus, der in Nietzsches Lebensphilosophie schließlich auch den in der Überschreitung erfahrenen Sinnverlust, den postmetaphysischen Nihilismus, aus eigener Kraft überwinden soll. Flauberts ›Bovarysmus‹ offenbart eine erotische Faszination moderner Überschreitung. Zur Modernität von Flauberts ›Salammbô‹ vgl. Georg Lukács: Der historische Roman. In: G. Lukács: Werke. Bd. 6., Neuwied und Berlin 1965, S. 15–429, hier S. 222–238, der auf die – seiner Meinung nach unfreiwillige – Darstellung moderner Entfremdung im Roman hinweist, die sich vor allem in einer entfremdeten Erotik manifestiere. Zur sentimentalen Unschulds-Sehnsucht bei Flaubert vgl. V. Brombert 1966, S. 125–140, der die Unschuld des Bordell-Erlebnisses in der Éducation betont: Erschreckt über die Verfügbarkeit so vieler Frauen verlässt Frédéric Hals über Kopf das Bordell – und bleibt keusch. So spricht nach Brombert aus der sentimentalen Analepse (bei aller Zynik) auch eine Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld. Von der Faszination, die Flauberts Briefe auf Autoren der Moderne ausübten, zeugt etwa Franz Kafkas und Max Brods Rezeption der ›Correspondance‹ – in der deutschen Auswahlausgabe (vgl. Anm. 37) –, auf die Kühne 1997, S. 296ff., hinweist.
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nige werden erraten, wie traurig [der Autor] hat sein müssen, um Karthago wiederzuerwecken. Das ist eine Thebaïs, in die mich der Ekel vor dem modernen Leben getrieben hat.«37 Diese stolze ›Unerlöstheit‹, die aus der formvollendeten ›poetic of horror‹ spricht, macht den Autor Flaubert zu einer möglichen Identifikationsfigur des modernen Dichters, was eine poetologische Lesart des Titels nahe legt: ›Die Verfluchten‹ – ›Les (poètes) maudits‹. Die hier vorgestellte intertextuelle Lektüre von Trakls ›Die Verfluchten‹ kann m.E. zu einem besseren Verständnis des Gedichts verhelfen. Durch die skizzierte Kontextualisierung der Bezüge tritt das dialogische Verhältnis zu Flaubert (bzw. zu Flaubert und Dostojewskij) hervor. So werden verborgene Sinnpotentiale des Gedichts zugänglich, die über strukturelle, thematische, und konzeptionelle Zusammenhänge vermittelt sind. Außerdem kann die exemplarische Analyse der Flaubert-Rezeption dazu beitragen, Trakl im Kontext der literarischen Moderne und ihrer Traditionslinien zu verorten. Die in der intertextuellen Lektüre zutage tretende – ungelöste – Spannung zwischen einer verzweifelten Erlösungshoffnung, repräsentiert durch Dostojewskijs ethische Kunst, und dem sentimentalen Nihilismus Flauberts, eröffnet eine poetologische Lesart des Beispielgedichts. Sie deutet auf eine tiefe Verunsicherung hin, die für Trakl mit der Reflexion der eigenen Modernität verbunden ist.
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Brief an Ernest Feydeau, 1859. Zitiert nach: Gustave Flaubert: Briefe über seine Werke, Minden 1909, (Gesammelte Werke. Bd. 7) S. 196.
Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹
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Arno Dusini Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹ »Wozu die Plage. Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben.« Georg Trakl
Was, zu einem Gedicht, das schon hundertfach kommentiert wurde, Laut für Laut gewendet und interpretiert, kann man noch sagen, freundlicher Einladung folgend, über dieses Gedicht unter dem Motto »schön, aber unverständlich« nachzudenken? Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹ ist im Oktober 1913 entstanden, es wurde erstabgedruckt im IV. Jahrgang des ›Brenner‹ (1913/14) und erschien postum 1915 in der Gedichtsammlung ›Sebastian im Traum‹. Sich mit diesem Gedicht auseinanderzusetzen, bedeutet, wie bei allen Texten Trakls, nicht nur in den abgegrenzten Interpretationsraum eines einzelnen Textes einzutreten, sondern sich in die opaken Räumlichkeiten eines Diskurses zu begeben, als dessen akuter Ausdruck – oder rhetorisch zu sprechen: als dessen synekdochische Figur – das Gedicht auftaucht. Die beiden historisch-kritischen Ausgaben geben in ihrer komplexen Lesbarkeit einen nachhaltigen Eindruck davon, in welchem hohen Ausmaß bei Trakl Gedicht und Diskurs aufeinander verwiesen sind: nicht nur, dass die vielfachen Fassungen der »einzelnen« Gedichte als Varianten der Gedichte erkennbar werden; die Gedichte selbst werden – bei Trakl ungleich sichtbarer als bei anderen Autoren seiner Zeit – zu Varianten des Diskurses. Die für jedes einzelne Gedicht notwendig daraus resultierende Erklärungsintensität hat im Laufe der Interpretationsgeschichte keineswegs zu abschließenden Erklärungen geführt, ganz im Gegenteil. Die Beschäftigung mit Texten Georg Trakls hat eine Menge von immer wieder neuen Rätseln aufgeworfen. Mehr als die Texte droht der Reichtum der Interpretationen die Interpretation zu erschöpfen. Erkennbar wird das unter anderem daran, dass die Lektüre Traklscher Texte nahezu reflexhaft von der These begleitet wird, dass ihre maßgebliche Qualität in programmatischer Dunkelheit aufzusuchen sei. Dass diese Dunkelheit eine Qualität darstellen könnte, welche diese Texte erst auf ihrer Beschreibungsund Interpretationsebene provozieren, gleitet dabei zumeist aus dem Blick. Vorschnell werden alle Schwierigkeiten auf die Traklschen
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Texte selbst zurückgewendet. In einem Wildwuchs der Metaphorisierung lassen sich die Texte dann trefflich für die jeweiligen Interpretationsinteressen instrumentalisieren. Dagegen schlage ich im folgenden eine Lektüre des ›Kaspar Hauser Liedes‹ vor, die den Blick verschärft auf die Dunkelheiten der Beschreibungs- und Interpretationsebene zu werfen sucht.
I. Der Text Kaspar Hauser Lied Für Bessie Loos Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg, Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel Und die Freude des Grüns. Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums Und rein sein Antlitz. Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: O Mensch! Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend; Die dunkle Klage seines Munds: Ich will ein Reiter werden. Ihm aber folgte Busch und Tier, Haus und Dämmergarten weißer Menschen Und sein Mörder suchte nach ihm. Frühling und Sommer und schön der Herbst Des Gerechten, sein leiser Schritt An den dunklen Zimmern Träumender hin. Nachts blieb er mit seinem Stern allein; Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig Und im dämmernden Hausflur den Schatten seines Mörders. Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.
Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹
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Soweit der Text in der Fassung nach der Erstausgabe von 1915.1 Dass sich die Forschung2 mit dem ›Kaspar Hauser Lied‹ so intensiv auseinandergesetzt hat, sehe ich durch zwei spezielle Faktoren begründet: (A) verheißt die Gestaltung des zugrunde liegenden Stoffes in seiner Thematisierung von »Sprachlosigkeit« weitgehende poetologische Auskünfte darüber, was Trakls Gedichte insgesamt zu sagen vermögen, oder eben nicht. Brisant ist diese Denkfigur aus dem Grund, als 1
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Zu den verschiedenen Textstufen des ›Kaspar Hauser Liedes‹ vgl. am übersichtlichsten Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Historischkritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina (Innsbrucker Ausgabe). Bd. III, (Dichtungen Sommer 1913 bis Herbst 1913) S. 312–325. Die folgenden Nachweise Traklscher Texte beziehen sich allesamt mit bloßer Band- und Seitenangabe auf Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Walther Killy und Hans Szklenar. 2 Bände. Salzburg 21987. Vgl. in zeitlicher Reihung u.a.: Eva Thauerer: Kaspar Hauser Lied. In: E. Thauerer: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georg Trakls Lyrik, Berlin 2007, (Studium litterarum 14) S. 264–292; Theo Buck: Kaspar Hauser – Medium der Selbstbegegnung für Autor und Leser. In: Gedichte von Georg Trakl, hg. von Hans Georg Kemper, Stuttgart 1999, (Reclams Universalbibliothek 17511) S. 97–120; Jaak de Vos: Die Quadratur des Kreises. Überlegungen zum zyklischen Kompositionsprinzip in Trakls Lyrik. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 121–147, hier S. 137f.; Alfred Doppler: Die Musikalisierung der Sprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat und Gerald Stieg, Innsbruck 1995, (Brenner-Studien XIV) S. 181–194, hier S. 184ff.; Gerhard Kaiser: Das Gedicht als Sühne. In: G. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. 3 Teile. Frankfurt am Main 1991, (suhrkamp taschenbuch materialien 2107) Teil 2, insbesondere S. 581ff.; Gunther Kleefeld: Kaspar Hauser und die paranoide Szene. In: G. Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985, (Studien zur deutschen Literatur 87) S. 163–65; Sieglinde Klettenhammer: Unbekanntes Puppenspiel ›Kaspar Hauser‹ von Georg Trakl. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, 1, 1982, S. 50–65; Hans Wellmann: Dichtungssprache. Zur Beziehung zwischen Text, Grammatik, Wortschatz und Sprachbegriff in Trakls Lyrik. In: Untersuchungen zum ›Brenner‹. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag, Salzburg 1981, S. 315–345; Ich möchte ein solcher werden wie … Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser, hg. von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1979, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 283) S. 283; Ernst Erich Metzner: Die dunkle Klage des Gerechten – Poésie pure? Rationalität und Intentionalität in Georg Trakls Spätwerk, dargestellt am Beispiel ›Kaspar Hauser Lied‹. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF, 24, 1974, S. 446–472; Herbert Thiele: Das Bild des Menschen in den Kaspar-Hauser-Gedichten von Paul Verlaine und Georg Trakl. In: Wirkendes Wort, 14, 1964, S. 351–356.
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mit Kaspar Hauser im Kontext der Dichtung Georg Trakls das Motiv einer pathologischen Aphasie, das die Poetik der deutschen Lyrik seit dem »späten« Hölderlin grundlegend beschäftigt, mit einem virtuosen Konzept der Sprachkritik der Wende um 1900 zusammenstößt, einer grandiosen Inszenierung des Unsagbaren, die selbst alles andere als unberedt oder sprachlos ist. Die Rede über Kaspar Hauser impliziert also bereits historisch zwei grundverschiedene Konzepte von »Sprachlosigkeit«. Unbedacht hat diese brutale Überschneidung auf interpretatorischer Ebene ein wechselseitiges Ausweichen vom Pathologischen ins Unsagbare und vom Unsagbaren ins Pathologische zur Folge. Die große Herausforderung des ›Kaspar Hauser Liedes‹ wäre also dahingehend zu definieren, dass es – vom einen zum anderen – eine Zone des Übergangs zu fassen sucht: poetische Unsagbarkeit und pathologische Aphasie bedingen sich in der Konfiguration des Gedichts auf komplexere Weise, als wir dies von vorneherein anzunehmen gewohnt sind. Ein weiterer Faktor für die intensive Auseinandersetzung mit dem ›Kaspar Hauser Lied‹ liegt (B) in dem Umstand, dass der zugrunde gelegte Stoff zwar auf historischen Protokollen aufruht, dass er das Historische allerdings aufs gründlichste irritiert: das biographische Modell, das sich in der Figur des Kaspar Hauser exemplifiziert, ist das Modell eines Kindes ohne Kindheit, das Modell einer von ihrer Negation erfassten Biographie: ohne dass diese Verspätung jemals einholbar wäre, tritt eine Person in ihre Biographie ein; die Kindheit des Kindes bleibt als ungesagte im Ungewissen. Und gerade diese Ungewissheit hat zu Spekulationen hinsichtlich der Herkunft des Knaben geführt; so etwa hat man in dem 14jährigen Hauser etwa eine adelige, genealogisch herzuleitende und geschichtlich relevante Persönlichkeit vermutet. Umgekehrt stecken in dieser (Nicht-) Biographie aber gerade die Anreize für eine das Historische transzendierende Poetisierung des Stoffes; Kaspar Hauser steht mit anderen Worten immer an der Schwelle des Historischen.3 Vor dem Hintergrund all der totalisierenden Ansprüche einzelner Diskursfelder wie Medizin, Historie oder Poesie lässt sich die Exponiertheit des Kaspar-Hauser-Stoffes indes noch um ein Entscheidendes vertiefen. In seinem Buch über ›Die elementaren Strukturen der 3
Vgl. dazu explizit Walther Killy: Über Georg Trakl, Göttingen 1967, S. 7: »Man tut dem Rang dieses Gedichtes Abbruch, wenn man es ausschließlich auf den historischen Hauser deutet«.
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Verwandtschaft‹ kommt Claude Lévi-Strauss einleitend – in den Überlegungen dazu, wo die Natur ende und die Kultur beginne, also unmittelbar vor dem Kapitel zum »Problem des Inzests« – auf jene »wilden Kinder« zu sprechen, zu denen auch Kaspar Hauser zu rechnen ist, und die, wie Lévi-Strauss formuliert, »in jungen Jahren ausgesetzt, durch außergewöhnliche Umstände überleben und sich außerhalb jeglichen Einflusses der sozialen Umwelt entwickeln konnten«. Es ist nicht irrelevant für die oben aufgenommene Unterscheidung von pathologischer und souveräner Sprachlosigkeit, dass Lévi-Strauss einer Idealisierung dieser »wilden« Kinder entschieden widerspricht, wenn er betont, dass aus den historischen Berichten eindeutig zu entnehmen sei, »daß die meisten dieser Kinder von Geburt an anormal waren, und daß man im Schwachsinn, den sie fast alle zu beweisen scheinen, den Grund für ihre Aussetzung zu suchen hat und nicht – wie man zuweilen gern behauptet – deren Ergebnis«.4 Man kann also vorerst festhalten, dass der Kaspar-Hauser-Stoff allgemein mehr denn als eine exakte Grenzsituation eine Zone labiler Grenzsetzung impliziert, eine Verschiebung, die in besonderer Beziehung auf Trakl eine Thematisierung des – nach Lévi-Strauss aller Kultur fundamental zugrunde liegenden – Prinzips der Inzestregel ermöglicht.5 Ich werde im weiteren folgendermaßen verfahren: zuallererst mache ich einige in sich unterschiedliche Anmerkungen zum Text selbst, Aspekte betreffend, die von den vorliegenden Interpretationen meines Erachtens ungenügend gewürdigt wurden; darauf benenne ich einige paradigmatisch wiederkehrende Schwierigkeiten, die Traklschen Gedichte betreffend, die sich in der »Heterogenität ihrer »Leseweisen««6 bemerkbar machen; und schließlich wage ich eine 4
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Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1993, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1044) S. 47. Zum Problem des Inzest-Motivs und seines Kontextes bei Trakl vgl. vorerst vor allem Eberhard Sauermann: Zur Datierung und Interpretation von Texten Georg Trakls. Die Fehlgeburt von Trakls Schwester als Hintergrund eines Verzweiflungsbriefs und des Gedichts Abendland, Innsbruck 1984, (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 23) sowie Hans Georg Kemper: Georg Trakls »Schwester«. Überlegungen zum Verhältnis von Person und Werk. In: Zur Ästhetik der Moderne. Festschrift für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992, S. 77–104. Hans-Georg Kemper: Nachwort. In: Georg Trakl. Werke, Entwürfe, Briefe, hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max, Stuttgart 1995, (Reclams Universalbibliothek 8251) S. 269–320, hier S. 269.
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Annahme, die einem »vulgären Biographismus« ebenso wird zu entkommen haben wie sie sich einem »Dogma des Antibiographismus«7 verweigert; die Annahme einer biographischen Implikation, die – Epizentrum der Traklschen Konstellierung von Sprache, Gewalt und Inzest – in immer wieder neuen Anläufen von den Texten Trakls umspielt wird.8
II. Drei Textstellen 1) Zu den auffällig »überstrukturierten«, mit der biblischen Inquitformel einsetzenden Versen »Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: // O Mensch!« vermerkt die Sekundärliteratur unter anderem: »Indem aber die sanfte Flamme der Gottessprache oder die Sprechinstanz des Gedichts »O Mensch!« sagt, klingt zugleich das ecce homo der Passionsgeschichte an, das über den leidenden Christus als den neuen Adam gesprochen wird«.9 Gerhard Kaisers ausführliche Studie, der ich diesen Satz entnehme, spricht einige Seiten später von Trakls Umwandlung des Passionswortes in eine »Allerweltsfloskel«, in die »hilflose Allerweltsfloskel: »O Mensch!««.10 Gotteswort, Passionswort, »hilflose Allerweltsfloskel«? Auch von »O Mensch« als vom »Losungswort des Expressionismus« spricht Walter H. Sokel.11 Im besonderen aber ist an Trakls Lektüre von Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ zu erinnern. Das berühmte – wie Trakls Text als »Lied« titulierte – ›Nachtwandler-Lied‹ (ein Text, den Trakl übrigens auch in zwei anderen seiner Gedichte zitiert),12 lautet: 7
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Roman Jakobson/Krystyna Pomorska: Poesie und Grammatik. Dialoge. Übersetzt von Horst Brühmann. Frankfurt am Main 1982, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 386) S. 126. Zu den Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens vgl. paradigmatisch Hans-Georg Kemper: Georg Trakls »Schwester«. Überlegungen zum Verhältnis von Person und Werk. In: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992, S. 77–105. Gerhard Kaiser: Das Gedicht als Sühne, hier Teil 2, S. 574–634, S. 586. Gerhard Kaiser: Das Gedicht als Sühne, hier Teil 2, S. 574–634, S. 595. Walter H. Sokel: Der literarische Expressionismus. Der Expressionismus in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 21962, S. 100. In ›Gesang zur Nacht‹ (XII: »Ein Himmel, aus dem kein Gott mehr blüht«; I,223ff.) und ›Das tiefe Lied‹ (I,228): darauf macht aufmerksam Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl. Zur bleibenden Erinnerung an Eduard Lachmann. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy
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»Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht? / »Ich schlief, ich schlief –, / »Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – / »Die Welt ist tief, / »Und tiefer als der Tag gedacht. / »Tief ist ihr Weh – / »Lust – tiefer noch als Herzeleid: / »Weh spricht: Vergeh! / »Doch alle Lust will Ewigkeit – / »– will tiefe, tiefe Ewigkeit!«.13
Mehr als um den Zitatnachweis geht es um die über das Zitat laufende Geste, dass Trakl Gott Worte Nietzsches in den Mund legt. Um eine andere, ebenfalls in den Text eingesprochene, frühere Stelle aus ›Also sprach Zarathustra‹ hier ironisch verkürzend aufzunehmen: »Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen [Kursive A.D.]: »Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, dass Gott todt ist!« [Kursive F.N.]«.14 Doch, er hat, ließe sich anfügen. In Trakls Gedicht folgt auf Gottes Nietzsche-Zitat: »Stille«. 2) Das in Form direkter Rede aufgenommene Zitat »Ich will ein Reiter werden« lautet in seiner historischen Fassung: »I möcht a söchäna Reiter wären, wie mei Vater gwän is«.15 Es ist dies nach Alfred Dopplers Beobachtung »der einzige alltagssprachliche Satz« des Textes.16 Aber nicht darum soll es gehen. Auch nicht darum, dass die angebotenen Erklärungen für »Reiter«, etwa »berittener Soldat«, weiter vom Text wegführen als es dies eine kontextuelle Analyse des Traklschen Motivgeflechts von »Pferd« und »Rappen« verspricht. Wichtiger erscheint, dass dieser Satz, in dem zum ersten und letzten Mal im Gedicht eine Sprechinstanz auftaucht, die »Ich« sagt; dass also
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Colombat und Gerald Stieg, Innsbruck 1995, (Brenner-Studien XIV) S. 81–118, hier S. 88f. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980, (dtv/de Gruyter Dünndruckausgabe) Bd. 4, S. 404. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: F. Nietzsche: Sämtliche Werke, S. 14. Auf diesen Satz (in Schlechta-Fassung) verweist, übrigens ohne Bezug auf den hier besprochenen Traklschen Vers, auch Eva Thauerer: Kaspar Hauser Lied. In: E. Thauerer: Ästhetik des Verlusts, S. 274. Nach: Ich möchte ein solcher werden wie … Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser, hg. von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1979, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 283) S. 101. Vgl. auch Hans Mayer: Kaspar, der Fremde und der Zufall. Literarische Aspekte der Entfremdung. In: H. Mayer: Das Geschehen und das Schweigen. Aspekte der Literatur, Frankfurt am Main 1969, (edition suhrkamp 342) S. 101–125. Alfred Doppler: Die Musikalisierung der Sprache in der Lyrik Georg Trakls, S. 185.
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ausgerechnet dieser Satz das Ergebnis einer Kürzung darstellt. Dem wenigen, was Kaspar Hauser sagt, streicht Trakl den »Vater«. Bei der Vervielfachung der Figuren, welche die Traklschen Gedichte typischerweise leisten, verdient dies an sich schon gesonderte Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund der Thematisierung des Inzestverbots, das als zentrales Instrument der ödipalen Konfliktsituation und ihrer Lösung fungiert, erhält es weit größeres Gewicht. In Trakls Gedicht hat Kaspar Hauser nicht einen unbekannten Vater, er hat – nach eigener Aussage – keinen mehr. 3) Für die Schlusszeile »Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.« sind mehrere Varianten nachgewiesen. Eine davon – die Veröffentlichung des Gedichts im ›Brenner‹ betreffend – findet sich unter den vom Autor selbst mitgeteilten Korrekturen im Brief vom 11. November 1913 an Ludwig von Ficker. Trakl schreibt zuerst: »Bitte die letzte Zeile des K.H.L. endgültig / folgend umzuändern: »Eines Ungebornen sinkt des Fremdlings / rotes Haupt hin««. Er bessert aber im selben Schriftstück zurück in »Eines Ungebornen Haupt sank […]«. »Sinkt« / »Sank«:17 Man hat mehrfach auf den Sachverhalt verwiesen, dass das ›Kaspar Hauser Lied‹ durchgehend im Präteritum (ich würde lieber sagen: im »Imperfekt«) instrumentiert ist.18 Angesichts dessen ist die doppelte Besserung von »sank« in vorübergehend »sinkt« und wiederum weiter in »sank« außerordentlich wertvoll. Ich hege die Vermutung, dass diese Infragestellung des Imperfekts nämlich nicht bloß eine Differenz von Imperfekt und Präsens instrumentiert, sondern vielmehr eine Differenz von Imperfekt und Imperfekt, dass Trakl also gleichsam mit einem zweiten Imperfekt arbeitet. Das mag aufs erste zwar paradox anmuten; aber sollte man nicht daran erinnern, dass das Deutsche mit dem »epischen Präteritum« ohnehin über ein »zweites« Imperfekt verfügt, ein Imperfekt, das zwar keine Präsens-, jedoch Gegenwartsqualitäten hat, Qualitäten einer Zeit also, die zwar vorbei, aber noch nicht vorüber ist. Nehmen wir an, das Traklsche ›Kaspar Hauser Lied‹ ließe eine analoge Differenzierung zu, so könnten wir nicht nur sagen, dass das Imperfekt des singulären Schlusssatzes eine andere Zeitkontur implizierte als alle anderen Präteritorialformen, dass also die Schlusszeile auch durch das grammatische 17 18
Vgl. dazu insbesondere auch die Verszeile »Da sein Haupt ins schwarze Kissen sinkt« in ›Elis‹ 3. Fassung (I,85). Was übrigens nur bedingt stimmt aufgrund der stilistischen Neigung Trakls zur Auslassung finiter Verbformen.
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Tempus von den anderen Versen des Gedichts geschieden sei, sondern wir könnten auch fragen, ob eine solche Differenzierung von Imperfekt (I) und Imperfekt (II) nicht möglicherweise für Trakls Poetik insgesamt gelten könne und – eingedenk der »epischen« Dimension dieser Zeitstufe – eine Prosaisierung des Lyrischen ankündigte.19
III. Personale Referenzen »Die Identifikation des Dichters mit der Gestalt des Kaspar Hauser ist deutlich«, so Gunther Kleefeld in seiner psychoanalytischen Studie ›Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit‹. Diese These folgt dem common sense der Forschung seit Walther Killys Formel vom ›Kaspar Hauser Lied‹ als einem »Medium der Selbstbegegnung«.20 Stellt sich die Frage, wer dann dieser Traklsche »Kaspar Hauser« sei. Kleefeld tut, was die Texte in ihrer synekdochischen Faktur zwischen dem einzelnen Gedicht und einem Werk, das man auch als »ein einziges Gedicht«21 zu lesen unternommen hat, geradezu herausfordern: er verfolgt das Auftauchen der Figur des Kaspar Hauser durch das Rhizom der Traklschen Textwelt: »Die Widersprüchlichkeiten und geheimen Wechselbeziehungen, die Rollenwechsel und Metamorphosen […] sind kennzeichnend […]. Das tote Kind im Teich ist einem wilden Tier zum Opfer gefallen, zugleich als Kaspar Hauser durch Mörderhand gestorben; dieser Kaspar ist ein dornengekrönter Christus und gibt sich zugleich als ein »bleicher Priester der Wollust« zu erkennen. Ein Knabe namens Kaspar Münch agiert in ›Traum und Umnachtung‹ als »Wolf mit keuchendem Rachen«; Kaspar und der Mönch sind im Dramenfragment beide Opfer dieses Wolfs geworden. Blaubart ist Sebastian, ist Kaspar Hauser – das Opfer ist selbst der Mörder. Müssen wir dem Autor nicht geistige Verwirrtheit bescheinigen?«22 Von »Verwirrtheit« kann hier nicht die Rede sein, und wenn, dann hat sie – nach einem bekannten Wort – »Me19
20 21 22
Aus Falschem grundsätzlich Brauchbares folgert Theo Buck: Kaspar Hauser, wenn er S. 117 schreibt: »Das vorübergehende Hinübergleiten in die Präsensform dürfte irrtümlich erfolgt sein, denn sie steht im Widerspruch zur Gesamtperspektive des Lieds als Bericht von Geschehenem«. Die Formulierung begegnet zuerst bei Walther Killy: Über Georg Trakl, S. 7. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 37. Gunther Kleefeld: Kaspar Hauser und die paranoide Szene, S. 169.
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thode«: alle Versuche der Forschung, die in den Traklschen Textgebilden auftauchenden Figuren zu umreißen, stoßen immer wieder auf größte Probleme. Ich nenne bloß einige der textuellen Strategien, die Schwierigkeiten provozieren, weil sie auf der Ebene der Rezeption einen obstinaten Prozess der Identifizierung in Gang setzen, der in dem Moment, wo es um die definitive Feststellung von Identität geht, allen Abschluss verunsichert. (A) Von »Kaspar Hauser« über »Kaspar Münch« zu »Mönch« und »Blaubart« bis hin zu »Sebastian«, »Elis« und »Helian«:23 mit all diesen Namen, Pseudonymen oder Antonomasien, die wie unterirdisch miteinander verflochten erscheinen, arbeitet Trakl – konsequent bis in die anagrammatische Kontur seiner Verse (beispielsweise mit »Elis« zu »angelis« in »Wie lange bist, Elis, du verstorben« (I,26). (B) konturiert der Gebrauch der Personalpronomina häufig keine eindeutigen Zuordnungen mehr; die durch die Gedichtform an sich suggerierte Kohärenz ist manchmal die einzige Basis, auf der figural aufgerufene Instanzen zuordenbar scheinen. So notiert etwa Gerhard Kaiser: »Nach 1909 kommt bei Trakl ein »lyrisches Ich« kaum noch vor. Es erscheint lediglich aspekthaft, in Fragmenten, weniger als sprechendes, denn als von außen besprochenes, als Kaspar Hauser […], aber gleichfalls unter rätselhaften Namen wie Elis oder Helian«.24 In einer Auseinandersetzung mit Jonathan Culler hat Roman Jakobson auf die eminente Bedeutung einer solchen pronominalen Szenographie aufmerksam gemacht; gegen einen kritischen Einwand Jonathan Cullers beharrt er darauf, »daß der Gegensatz zwischen der Kategorie des sprechenden Subjekts und den Formen der dritten Person – die linguistisch die merkmallose »Nullperson« ist – eine der bedeutsamsten Oppositionen ist, die das grammatische Kategoriensystem insgesamt organisieren. Gerade«, so Jakobson in seinen Dialogen mit Krys23
24
Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem auch Eberhard Sauermann: Zyklische Strukturen in Trakls ›Helian‹. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 169–187, insbesondere S. 172, der nach der »verwirrenden« Fülle der Figuren in dem Text fragt. Gerhard Kaiser: Das Gedicht als Sühne, S. 580 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die drei verschiedenen »Existenzmodi des Ich«, die Károly Csúri unterscheidet in seinem Aufsatz: Grundprinzipien in statu nascendi. Zyklus-Schemata und Transparenzstruktur in Trakls frühen Gedichten. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 49–85, hier S. 51f.
Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹
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tyna Pomorska weiter, »auf diesen Gegensatz stützt sich ja die traditionelle Definition der Lyrik als »Dichtung der ersten Person« und umgekehrt der Epik als »Dichtung der dritten Person«.«25 (C) verwischt Trakl absichtsvoll die Ebenen von Autorschaft, lyrischer Sprechinstanz, Anrede und zitierter Rede: freilich sprechen nicht nur Gott und Kaspar Hauser im ›Lied‹, freilich spricht auch Kaspar Hauser nicht nur, sondern wird auch er angesprochen; und natürlich spricht auch der Autor selbst im ›Kaspar Hauser Lied‹, und sei es in elliptischer Form, wie anders sonst wäre die Widmung an Bessie Loos zu verstehen; nicht zu vergessen auch der Akt, in dem Trakl bzw. die lyrische Sprechinstanz Gottes Wort zitiert, ein Wort, das sich seiner (bzw. Gottes) Nietzsche-Lektüre verdankt (man mag darunter eine besonders extrovertierte Form von Intertextualität erblicken). Und schließlich wird schon durch den Titel ›Lied‹26 ein Gattungsbegriff aufgerufen, der – zumal im Anschluss an romantische Tradition – Autorschaft in der Emphase des Kollektiven aufsucht. Was ist hier woran festzumachen? Bleibt, allein, da »Nullperson«, »Menschliches«, »Allzumenschliches«?
IV. ›An einen Frühverstorbenen‹ Unter dem Stichwort Die Biographie des Dichters, Dichtung und Mythos hat Jakobson in den eben zitierten Dialogen das »Verhältnis von Dichtung und Mythos« in der Formulierung resümiert, dass es sich »um zwei eng miteinander verbundene, aber gegeneinander wirkende Elementarkräfte« handle: »Ihr gegensätzliches Verhältnis äußert sich darin, daß die Dichtung auf Variation gerichtet ist, während der Mythos nach Invarianz strebe«. Eine der »Möglichkeiten ihrer wechselseitigen Beziehungen« sieht Jakobson darin, dass »der Dichter einen wesentlich individuellen poetischen Mythos« entwickelt, »der aber latent bleibt und sich hinter seinen – dem Leser zugänglichen – Varianten verbirgt«.27 Walter Killy formuliert – Heidegger folgend – in direktem Bezug auf Trakl: »Die Poesie geht aufs Äußerste, sie entspringt äußersten Leiden, sie sucht sich angesichts ihrer wahrhaftig zu verhal25 26 27
Roman Jakobson/Krystyna Pomorska: Poesie und Grammatik, S. 106. Eva Thauerer: Kaspar Hauser Lied. In: E. Thauerer: Ästhetik des Verlusts, S. 266, Fußnote 423. Roman Jakobson/Krystyna Pomorska: Poesie und Grammatik, S. 131.
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ten und tritt ein in ein unendliches Gedicht, das stets aufs neue versucht, die Möglichkeiten der Existenz vorzustellen«.28 Kehren wir indes zu Jakobson zurück. Müsste man einen »latenten«, einen sich »hinter den Varianten« verbergenden »individuellen poetischen Mythos« bei Trakl nicht geradezu notwendig annehmen? Konkreter, vielleicht gründlicher: Erklärt allein die biographische Tatsache eines Inzests die Vielfalt der Varianten, die nicht allein als Varianten einzelner Gedichte die Gedichte, sondern auch als variante Gedichte den Traklschen Diskurs strukturieren? Ist es – um ein mündliches Wort dieser Tagung aufzugreifen – »eine geheime Verwandtschaft«, die – wie Hans-Georg Kemper meinte – die »Dinge füreinander anziehend macht«? Sind wir damit dort, worum sich die Traklschen Gedichte in unausgesetzt zyklischer, parallelistischer oder spiegelbildlicher Textbewegung, wie um ein schwarzes Loch, organisieren? Oder ist da vielleicht doch noch ein »anderes«, nicht weniger »Verwandtes«, nicht weniger »Geheimes«, für welches das Inzestuöse möglicherweise nur die Vorstufe bildet? Ich komme auf das ›Kaspar Hauser Lied‹ zurück. Die entscheidende Zeile liegt meines Erachtens im Schlussvers, jenem Vers, der mit dem Adjektiv »silbern« ein Kennwort für die inzestuöse Beziehung mit der Schwester Margarete setzt. Da heißt es: »Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.« Der »Ungeborene« wurde – vor allem wohl in Hinblick auf die stilistische Qualität von »Haupt« – als metaphorische Bezeichnung für die mit dem Kaspar-Hauser-Stoff vorgegebene Grenze zwischen Natur und Zivilisation gelesen. Wir hätten es also nach dem Gang Hausers hinunter in die Stadt mit einem hart gefügten Hysteron-Proteron zu tun. Am Ende dreht sich der Text mit diesem Satz an den Anfang zurück: der Geborene, der geht, ist bereits als »Ungeborener« verstorben. Das scheint eine metaphorische Lektüre nahe zu legen. Aber ist dieser Schluss wirklich so zwingend? Woher nehmen wir die schwer zu wägende Gewissheit, dass dieser »Ungeborene« – wie unter anderen von Kleefeld postuliert – letztlich mit dem Autor zu identifizieren sei? Um das Problem deutlicher zu profilieren, seien vorerst kommentarlos einige Sätze aus ›Sebastian im Traum‹ und ›Offenbarung und Untergang‹ aufgenommen, einige wenige Sätze oder Satzfragmente,
28
Walther Killy: Über Georg Trakl, Göttingen 1967, S. 91f.
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die das Motivgeflecht von »Geburt«, »Kind«, »Kindheit«, »Knabe«, »Jüngling«, »Tod« und »Engel« ausphantasieren: »Und aus verfallener Bläue tritt bisweilen ein Abgelebtes« (I,80: Stundenlied ) »Im dämmernden Garten Schritt und Stille des verstorbenen Knaben« (I,80: Stundenlied ) »O wie lange bist, Elis, du verstorben« (I,84: An den Knaben Elis) »O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage« (I,85: Elis 3. Fassung) »Ein goldener Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel« (I,85: Elis 3. Fassung) »Da der Knabe leise zu kühlen Wassern, silbernen Fischen hinabstieg« (I,88: Sebastian im Traum) »Ein zarter Leichnam stille im Dunkel der Kammer lag« (I,88: Sebastian im Traum) »Kindlein in der Hütte von Stroh; o wie leise / Sank in schwarzen Fiebern das Antlitz hin« (I,89: Sebastian im Traum) »Und dem Knaben leise sein rosiger Engel erschien« (I,89: Sebastian im Traum) »Die Arme lassen ein Erstorbenes los« (I,104: Die Verfluchten) »Weh, der Gebärenden Schrei. Mit schwarzem Flügel / Rührt die Knabenschläfe die Nacht« (I,115: Geburt) »O, der schwarze Engel, der leise aus dem Innern des Baums trat / Da wir sanfte Gespielen am Abend waren« (I,117: An einen Frühverstorbenen) »Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe« (I,121: Föhn) »Folgt dem Knaben ein erstorbenes Antlitz« (I,122: Der Wanderer 2. Fassung) »Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt« (I,124: An die Verstummten) »Wieder begegnet der zarte Leichnam« (I,125: Passion 3. Fassung) »Schweigend verlässt ein Totes das verfallene Haus« (I,126: Siebengesang des Todes) »Als folgte im Schatten ein zarter Leichnam« (I,132: Vorhölle) »Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten« (I,141: Frühling der Seele) »und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts« (I,147: Traum und Umnachtung) »und seufzend verging im Schatten des Baums das sanfte Antlitz des Engels« (I,148: Traum und Umnachtung) »Leise trat aus kalkiger Mauer ein unsägliches Antlitz – ein sterbender Jüngling – die Schönheit eines heimkehrenden Geschlechts« (I,168: Offenbarung und Untergang) »und es hob sich der blaue Schatten des Knaben strahlend im Dunkel« (I,170: Offenbarung und Untergang)
Ist in diesen Sätzen tatsächlich nur von »Kindheit« die Rede, der Traklschen Kindheit, als einer Kindheit, die sich in ihrer tödlichen
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Verschattetheit als exemplarische auftut? Oder ist da – neben den »sanften Gespielen am Abend« – nicht obstinat von einem Dritten, von, schlicht, einem »Kind« die Rede?29 Genauer, einem »toten Kind«, einem »Frühverstorbenen« eben, einem »Abgelebten«, einem »kindlichen Leichnam« (»[…] und es warf die Erde einen kindlichen Leichnam aus« [I,170: ›Offenbarung und Untergang‹])? Das erst aus dem Nachlass bekannt gewordene Gedicht ›Gericht‹ spricht explizit von einer »[t]ote[n] Geburt« (I,316). Die Traklschen Texte kreisen immer wieder um dieses Motiv einer »Totgeburt«. Und sie kreisen, in größerer Anstrengung, um das ebenso obsessiv wiederkehrende Motiv der »Kindstötung«. »[…] oder es ist ein Ort des Mordes, an dem ein steiniger Weg vorbeiführt«, heißt es etwa in ›Verwandlung des Bösen‹, und weiter: »[…] du, der bleiche Priester, der es hinschlachtet am schwarzen Altar«, auch: »[…] die kahle Stirne des Mörders im Dunkel des Hausflurs« (I,97). Das Gedicht ›Anif‹ ruft »[d]ie gestrengen Zimmer und das alte Gerät / Der Väter« auf (I,114). In ›Traum und Umnachtung‹ finden sich die Sätze »[…] da […] der Schatten des Mörders über ihn kam« (I,147), »[…] tritt mit modernden Schritten der Tod in das Haus« (I,149) und »Ein Wolf zerriß das Erstgeborene« (I,149). Das ›Klagelied‹ erinnert an die »von Herodes/Gemordeten Kinder« (I,280). Vor allem das letztere Beispiel behauptet mit großer Deutlichkeit: Die Rede von der »Totgeburt« wird von der weit über individuelle Entscheidungsmöglichkeit hinausreichenden Rede über »Kindsmord« affiziert. Der Rede über die »Totgeburt« eignet ein Moment der Gewalt, das dem Ereignis selbst nicht immanent gesetzt ist. Es ist von anderswoher induziert. Um es konkret zu benennen: nicht von der in den Gedichten aufgerufenen Liebesbeziehung zur Schwester, sondern vielmehr vom Verbot, dem nicht nur die inzestuöse Beziehung anheim fällt, sondern von dem auch ein eventuell dieser Beziehung entsprungenes Kind in höchstem Ausmaß betroffen sein muss. Kurz: ich spreche davon, dass die Traklschen Texte nicht nur von einer inzestuösen Beziehung von den »sanften Gespielen am Abend« handeln, sondern auch von einem solcher Liebesbeziehung entsprungenen Kind, das unter anderem den Namen »Elis« oder »Kaspar Hauser« tragen kann. So wie das in mehreren Fassungen« vorliegende Epitaph ›An Novalis‹ als Epitaph von »[Nov]elis« gelesen werden 29
»Astern von dunklen Zäunen / Bring dem weißen Kind. / Sag wie lang wir gestorben sind; / Sonne will schwarz erscheinen.« (I,106: »Entlang«).
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kann, so können Trakls Gedichte der Spätzeit – dies meine Behauptung – als Epitaphe eines einer geschwisterlichen Liebe entsprungenen Kindes gelesen werden. Der Vorschlag einer solchen Lesart ist nicht neu. Nur ist es ein auch in der Literatur zum ›Kaspar Hauser Lied‹ merkwürdig absenter Aufsatz, der im Horizont der unheilvollen biographischen Diskussion um Trakl diesen Vorschlag unterbreitet. Der Aufsatz stammt von Richard Detsch, trägt den unprätentiösen Titel ›The Dead Child‹ und wurde bereits 1987 veröffentlicht in ›Austriaca. Cahiers universitaires d’Information sur l’Autriche‹ im 13. Jahrgang (Neue Folge 25), S. 99–113. In Anlehnung an eine immer wieder zitierte Äußerung Ludwig von Fickers steht da – ich zitiere ausführlich – zu lesen: […] if Ludwig von Ficker interprets Trakl’s »collapsing world« from the letter aussumed to have been written in November, 1913, in terms of Grete’s later miscarriage, one could, on the basis of this sentence as well as all the other evidence in Trakl’s poetry prior to the verified miscarriage, postulate, just as well, an earlier miscarriage or abortion around the time of the dead of Trakl’s father. This event is early enough to precede all the occurrences of the stillbirth motif in Takl’s poetry and falls at a time when Grete had been living for almost a year in Vienna, where her brother was a student of pharmacy; an additional support for his hypothesis lies in Grete’s letter to Buschbeck from her Vienna period in which she speaks of something terrible that had happened to her: »Mir ist etwas Entsetzliches geschehen«. The events leading up to Grete’s miscarriage in March, 1914, could have been experienced by Trakl as a repetition of this earlier situation, just as the imagined or real issue of the incestuous relationship, the stillborn child, might have been for Trakl a reminder of the son, who soon died, from his mother and father before their marriage. The tragic guilt in Trakl’s family would seem to repeat itself from one generation to the next, and thus Trakl can write of the accursed family (»verflucht«, TI, 149) in ›Traum und Umnachtung‹. All of this is, admittedly, conjecture. It has been my purpose, primarily, to emphasize that Ludwig von Ficker’s explanation of Trakl’s »collapsing world« is inadequate and thus to corroborate Eberhard Sauermann’s argument, besides offering an explanation this is, in contrast to Sauermann’s, at least more plausible in view of the many occurences of the stillbirth motif in Trakl’s poetry prior to March, 1914. [S. 112f.]«
Detschs Ausführungen lassen drei notwendig aufeinander verwiesene Schlussfolgerungen zu; sie lauten in geraffter Form: A) Unter dem im Singular stehenden Titel ›The Dead Child‹ spricht Detsch von zumindest drei toten Kindern: vom Tod eines Kindes aus der Verbindung der Eltern Tobias Trakl und Maria Halik, das der Ehe der Eltern und der Geburt Georg Trakls vorausgeht; vom Tod
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eines Kindes, das der Beziehung Georg Trakls zur Schwester Margarethe entstammt; und vom Tod eines Kindes, das die Schwester Margarethe, verheiratete Langen, in Berlin verliert. B) Die Nennung dieser drei toten Kinder konturiert die Frage nach dem Inzest genealogisch: Führt der Versuch einer Schematisierung nicht zu einer radikalen Hybridisierung der familialen Positionen, gegen die das Inzestgebot aufgeboten ist? Beschränken wir uns auf Georg Trakl: er erscheint als Bruder eines toten Kindes, als Kind und Sohn, als Bruder der Schwester, als Bruder und Mann der Schwester, als Vater eines Kindes mit dieser Schwester und letztlich als Vater eines toten, aus der Zeit der Ehe mit einem anderen Mann entsprungenen Kindes seiner Schwester. Das genealogische Schema wird nicht nur in linearer, sondern vor allem in patrilinearer Hinsicht verletzt: Vaterschaft ist unmittelbar mit Tod, Abwesenheit oder genealogischer Unsicherheit verbunden (ein Befund, der sich im übrigen direkt an den um den »Vater« gekürzten Kaspar-Hauser-Satz im »Lied« anschließen lässt). C) Hinsichtlich der Annahme einer »earlier miscarriage or abortion around the time of the dead of Trakl’s father« formuliert Detsch im Kern seiner Ausführungen überkorrekt: »All of this is, admittedly, conjecture«. Diese Formulierung ist einer unvermittelt biographischen Lesart durch den Hinweis zu entreißen, dass »conjectur« ja nicht nur »Hypothese« in einem logisch-argumentativen Verständnis meinen kann, sondern – und dies ist in unserem Zusammenhang von weit größerer Bedeutung – auch einen zentralen Begriff der Textkritik darstellt: Herausgeber oder Herausgeberin eines Textes greifen in den Text an einer Stelle ein, die korrumpiert, unleserlich oder beschädigt ist. Das heißt, wie auch immer der Streit um eine »biographische« Verifizierung der aus den Traklschen Texten abgeleiteten Umstände ausgeht, so bleibt doch unumstößlich, dass wir es in der Rede über »das tote Kind« mit einem »diskursiven« Faktum von ausgesprochener Tragweite zu tun haben; eine über die biographische Diskussion laufende Leugnung dieses Sachverhalts treibt – um nochmals Roman Jakobsons Unterscheidung aufzunehmen – erst recht den »Mythos« in die »Dichtung«.
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V. »[…] in jenem nicht zensurfreien Punkte […]« Trakls konstitutiv eingesetzte sprachliche Strategie, Identitäten zu verhandeln, die auf der Rezeptionsebene niemals in einer exakten Identität zum Abschluss kommen, laufen auf ein Verständnis von Person hinaus, das Sigmund Freud unter dem komplexen Begriff der »Sammel- und Mischpersonen« verhandelt hat. In seiner ›Traumdeutung‹, die man angesichts des Traklschen Gedichts und des gleichnamigen Gedichtbandes ›Sebastian im Traum‹ in nächster Nähe zur Poetik der »Werkphase« von 1912 »bis zum Frühjahr 1914« vermuten darf,30 schreibt Freud: »Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Gemeinsamkeit wird vom Traum ganz allgemein dargestellt durch Zusammenziehung zu einer Einheit, welche entweder im Traummaterial bereits vorgefunden oder neu gebildet wird. Den ersten Fall kann man als Identifizierung, den zweiten als Mischbildung benennen. Die Identifizierung kommt zur Anwendung, wo es sich um Personen handelt; die Mischbildung, wo Dinge das Material der Vereinigung sind, doch werden Mischbildungen auch von Personen hergestellt«; letztere Einwendung führt zu dem Schluss, dass »der scharfe Unterschied zwischen Identifizierung und Mischpersonbildung« sich verflüchtigen kann.31 Die von Freud beschriebene Personen-Szenographie des Traumes sieht also sowohl ein mimetisches wie auch ein konstruktives Moment der Traumbildung vor. Dass sich beide nicht immer eindeutig voneinander scheiden lassen, stellt nach Freud eine Verlegenheit dar, die vorgängig zu begründen ist in einer schon im Träumen selbst wirksamen Instanz der »Zensur«. »Der Anstoß für die Zensur mag gerade in jenen Vorstellungen liegen, welche im Material mit der einen Person verknüpft sind; ich finde nun eine zweite Person, welche gleichfalls Beziehungen zu dem beanstandeten Material hat, aber nur zu einem Teil desselben. Die Berührung in jenem nicht zensurfreien Punkte gibt mir jetzt das Recht, eine Mischperson zu bilden, die nach beiden Seiten hin durch indifferente Züge charakterisiert ist. Diese Mischoder Identifizierungsperson ist nun zensurfrei zur Aufnahme in den Trauminhalt geeignet, und ich habe durch Anwendung der Traumver30
31
Zu einer Einteilung des Traklschen Oeuvres in vier Werkphasen vgl. wiederum Hans-Georg Kemper: Georg Trakls »Schwester«, insbesondere S. 88ff. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt am Main 1982, (Studienausgabe Band II) S. 318.
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dichtung den Anforderungen der Traumzensur genügt«.32 Zentral ist weiterhin, dass es die Person des Träumenden ist, deren Züge sich in den verschiedenen Personen verdichten: »Es ist eine Erfahrung, von der ich keine Ausnahme gefunden habe, daß jeder Traum die eigene Person behandelt. Träume sind absolut egoistisch. Wo im Trauminhalt nicht mein Ich, sondern nur eine fremde Person vorkommt, da darf ich ruhig annehmen, daß mein Ich durch Identifizierung hinter jener Person versteckt ist. Ich darf mein Ich ergänzen. Andere Male, wo mein Ich im Traum erscheint, lehrt mich die Situation, in der es sich befindet, daß hinter dem Ich eine andere Person sich durch Identifizierung verbirgt. Der Traum soll mich dann mahnen, in der Traumdeutung etwas, was dieser Person anhängt, das verhüllte Gemeinsame, auf mich zu übertragen. Es gibt auch Träume, in denen mein Ich nebst anderen Personen vorkommt, die sich durch Lösung der Identifizierung als mein Ich enthüllen. Ich soll dann mit meinem Ich vermittels dieser Identifizierung gewisse Vorstellungen vereinigen, gegen deren Aufnahme sich die Zensur erhoben hat. Ich kann also mein Ich in einem Traum mehrfach darstellen, das eine Mal direkt, das andere Mal vermittels der Identifizierung mit fremden Personen. Mit mehreren solchen Identifizierungen lässt sich ein ungemein reiches Gedankenmaterial verdichten«.33 Der große Vorteil eines Umweges über die Freudsche ›Traumdeutung‹ besteht darin, dass es dessen Konzept der »Sammel- und Mischpersonen« erlaubt, im Diskurs Trakls ein Moment der Alterität anzuerkennen, das Identität ganz radikal kenntlich macht als fortwährende Arbeit der Identifizierung mit anderen. Worauf sonst etwa läuft die für Trakls Rede so zentrale Assonanz von »Elis« und »Helian« hinaus? Beide Namen kulminieren im altgriechischen »[h]çëßî«. »[h]çëßî« aber heißt – nach verblüffend intrikater Auskunft des Menge-Güthling: »der die eigene Gestalt hat«, d.h. dieselbe, wie der Sprechende oder Besprochene«. Konkret auf das ›Kaspar Hauser Lied‹ bezogen: ohne dass das eine im anderen zum Verschwinden käme, identifiziert sich Trakl mit Kaspar Hauser, ist Kaspar Hauser mit dem toten Kind identifiziert und identifiziert sich Trakl mit dem toten Kind. Eine dergestalte Identifizierungschoreographie, von der übrigens auch die Rede an die Schwester erfasst ist, begegnet an verschie32 33
Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 319. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 320.
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denen Stellen. So im Gedicht ›Sebastian im Traum‹: »Da in Sebastians Schatten die Silberstimme des Engels erstarb« (I,90); in ›An einen Frühverstorbenen‹: »Jener aber ging […] hinab […] und seltsam verpuppt / In seine stillere Kindheit und starb« (I,117); in ›Traum und Umnachtung‹: »da er im grünenden Sommergarten dem schweigenden Kind Gewalt tat, in dem strahlenden sein umnachtetes Antlitz erkannte. Weh, des Abends am Fenster, da aus purpurnen Blumen, ein gräulich Gerippe, der Tod trat« (I,148); oder in ›Offenbarung und Untergang‹: »Seufzend erhob sich eines Knaben Schatten in mir und sah mich strahlend aus kristallnen Augen an« (I,169). Nach Freuds hochbrisanter Argumentation ist es die »Berührung« in einem »nicht zensurfreien Punkte«, die »das Recht« gibt, »eine Mischperson zu bilden«, die nach mehreren »Seiten hin durch indifferente Züge charakterisiert ist«. Wobei die »indifferenten Züge« in Trakls »lyrischen« Texten durch den Rückzug auf die hybride Benennung familialer Positionen entstehen: sie verweisen auf Personen, deren reale Namen nicht genannt werden können. Ja, der Autor selbst erscheint in den lyrischen Texten eben »nur« als »lyrisches Ich« (die Forschung spricht in solchen Zusammenhängen kritisch von »Entpersönlichung« und »Anonymisierungang«). Wenn ich oben behauptet habe, dass im ›Kaspar Hauser Lied‹ poetische Unsagbarkeit und pathologische Aphasie sich in komplexerer Weise bedingen, als wir dies anzunehmen gewohnt sind, so lässt sich die Freudsche Engführung des Konzepts von »Misch- und Sammelpersonen« mit dem Zensur-Begriff nun dahingehend präzisieren, dass wir das Moment der »Aphasie« nicht allein als individuelles Problem, sondern grundlegender als in den Diskursregeln des »Kulturellen« begründet verstehen können: das individuell Unsagbare ist letztlich das kulturell Unsagbare. Oder genauer: Wenn Trakl »doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben« wird (I,487: Brief an Erhard Buschbeck), so liegt dies nicht daran, dass er nicht sagen könnte, was er sagen will, sondern dass er nicht sagen darf, was er zu sagen hat. Sein Werk lässt sich von daher als ungeheure Anstrengung verstehen, im Poetischen diskursfähig zu halten, was im Prosaischen zu sagen verboten ist, d.h. von vornherein (im doppelten Sinn) untersagt ist. Trakls lyrische Texte werden, bis über die Grenzen hinaus, vom aussichtslosen Versuch einer »Prosaisierung« vorangetrieben: In Texten wie ›Verwandlung des Bösen‹, ›Traum und Umnachtung‹ oder ›Offenbarung und Untergang‹ ist eine solche Bewegung hin zur Prosa ganz offensichtlich; latent bemerkbar ist sie indes
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schon in Texten wie dem (übrigens am Roman, an Jakob Wassermanns ›Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens‹ angelehnten) ›Kasper Hauser Lied‹, das sich genau in dem Augenblick als metrisch exakt durchkomponiertes Spiegelgebilde erschließt, da man es in prosaische Psalmen-Form setzt: Kaspar Hauser Lied Für Bessie Loos Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg, / Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel / Und die Freude des Grüns. Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums / Und rein sein Antlitz. / Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: / O Mensch! Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend; / Die dunkle Klage seines Munds: / Ich will ein Reiter werden. Ihm aber folgte Busch und Tier, / Haus und Dämmergarten weißer Menschen / Und sein Mörder suchte nach ihm. Frühling und Sommer und schön der Herbst / Des Gerechten, sein leiser Schritt / An den dunklen Zimmern Träumender hin. / Nachts blieb er mit seinem Stern allein; Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig / Und im dämmernden Hausflur den Schatten seines Mörders. / Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.
Georg Trakls Weg in die literarische Moderne
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Hans Weichselbaum Georg Trakls Weg in die literarische Moderne
Bei einer Umfrage unter deutschsprachigen Lyrikern vor 15 Jahren zu ihrer Einschätzung der Bedeutung Georg Trakls meinte Alfred Kolleritsch, Träger des Trakl-Preises 1987, dass Trakl gewiss einer der letzten Dichter gewesen sei, »die noch etwas aussprechen konnten, was sich dem Gedicht heute schon versagt.« Trakl habe »das Szenario einer geschädigten, untergehenden Welt […] durch seine poetische, visionäre Sprache für den Augenblick eines Gedichts noch einmal bannen«1 können. An dieser Äußerung ist einerseits bemerkenswert, dass ein hauptsächlich philosophisch – reflexiv arbeitender zeitgenössischer Dichter gerade auf die magische Wirkung der Lyrik Trakls hinweist, andrerseits die Sicht des »noch«: Trakl kam aus literarischen Traditionen, die er zwar hinter sich ließ, deren Spuren aber doch sprachliche Möglichkeiten bereit stellten, die nach ihm nur noch epigonenhaft eingesetzt werden konnten.2 Dass Trakls Anfänge an unterschiedlichen Vorbildern orientiert waren, ist bekannt, doch sind diese m.E. hinsichtlich ihrer Wirkung doch sehr verschieden. Nicht nur seine biographischen Wurzeln führen nach Ungarn – sein Vater war Deutsch-Ungar aus Sopron – sondern auch die frühesten Erfahrungen mit Lyrik weisen in diese Richtung, nämlich auf Nikolaus Lenau. In einem uns fragmentarisch erhaltenen Brief an eine seiner Schwestern, vermutlich an seine Lieblingsschwester Grete, die sich damals in einem Internat in St. Pölten (NÖ) aufhielt, zitiert der 16-jährige Trakl Lenaus vierzeiliges Gedicht ›Frage‹ und stimmt damit einen Grundton seiner eigenen späteren Gedichte an: die Fragwürdigkeit und Flüchtigkeit menschlichen Glückes. Die Wertschätzung Lenaus begleitete Trakl bis in die späte Inns1 2
Alfred Kolleritsch: o.T. In: Antworten auf Georg Trakl, hg. von Adrien Finck u. Hans Weichselbaum, Salzburg 1992, (Trakl-Studien, XVIII) S. 77. Stellen aus den beiden Bänden der historisch-kritischen Ausgabe Georg Trakl. Dichtungen und Briefe, hg. von Walther Killy und Hans Szklenar (2. Auflage, Salzburg 1987), sind im Text nachgewiesen.
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brucker Zeit. Sie kommt in Gesprächen mit Freunden zum Ausdruck (Tagebuch Karl Röck) und auch in thematischen und sprachlichen Anlehnungen, so z.B. in den Gedichten ›Zigeuner‹ oder ›Melancholie‹. Sein von ihm verehrter Klavierlehrer August Brunetti-Pisano mag ihn in dieser Vorliebe bestärkt haben, denn dieser vertonte Lenaus Sonett ›Der Salzburger Kirchhof‹ und erwähnte es in seiner Autobiographie3 zusammen mit Trakls Gedicht ›Allerseelen‹. Er hätte besser noch dessen Gedicht ›St.-Peters-Friedhof‹ heranziehen sollen, denn der Gedanke der Einbettung der Toten in die Schönheit der Umgebung ist hier ebenso zu finden wie bei Lenau: bei diesem »schlafen [sie] tief und sanft in ihren Armen«,4 bei Trakl macht die »in ihrer Schönheit schimmernde Fülle« die Toten »tiefer träumen«(I,179). Wie Lenau hat sich auch Trakl mit der Figur des Don Juan beschäftigt; es ist allerdings beim Versuch geblieben. Anlehnungen lassen sich bis zu den letzten Gedichten finden: In Lenaus Gedicht ›Selbstmord‹5 zerstört ein »wildes, ungezähmtes« Herz »todestrunken« sich selbst, in Trakls Gedicht ›Die Nacht‹ (I,160) »stürzt todestrunken / die erglühende Windsbraut«. Auch im eindrucksvollen Bild des Untergangs im Gedicht ›Klage‹ (I,166) (»An schaurigen Riffen / zerschellt der purpurne Leib«) ist eine Parallele zum selben Gedicht Lenaus nicht zu übersehen; es beginnt mit den Versen: »Scheitert unsre Brust an Klippen, / Hingeschellt von Sturmes Wut;« Lenau begleitete Trakl als »Bruder« aus dem »Ungarland« (eine Variante des Gedichtes ›Der Spaziergang‹, II,94) im melancholischen Weltverhältnis sein Leben lang. Seine Lyrik hat ihm m.E. den entscheidenden Anstoß dazu gegeben, ein Selbstverständnis als Dichter zu entwickeln. In der Suche nach dem dafür geeigneten Weg sah Trakl seine wichtigste Aufgabe und dabei näherte er sich unterschiedlichen literarischen Methoden an und formte sie für die sprachliche Gestaltung seiner Innenwelt. Die fruchtbarsten Anregungen dafür erhielt er durch intensive Lektüre. (Buschbeck sah in der Sammlung 1909 »auch rein Angelesenes oder aus einer Erinnerung Übernommenes«6.) Begleitet wurde er dabei von drei Menschen, mit denen er in unterschiedlicher Weise be3 4 5 6
Bibliothek des Salzburg Museums, nicht inventarisiert. Nikolaus Lenau: Der Salzburger Kirchhof. In: N. Lenau: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Frankfurt 1971, S. 284. N. Lenau 1971, S. 122. Brief an Ludwig von Ficker v. 17. 11. 1938. In: L. von Ficker: Briefwechsel 1926–1938, hg. von Ignaz Zangerle u.a., Innsbruck 1991, S. 326.
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freundet war: Gustav Streicher in Salzburg, Erhard Buschbeck in Salzburg und Wien, und Ludwig von Ficker in Innsbruck. Sie haben ihn in seiner Entscheidung zum Dichter bestärkt, Beziehungen hergestellt und sein Werk gefördert. Ficker hatte dazu die günstigsten Voraussetzungen; er konnte Trakl den ›Brenner‹ als Forum anbieten. Eine der Quellen für »Einklänge« oder »Korrespondenzen« in Trakls dichterischen Anfängen ist das Werk Hugo von Hofmannsthals. Dessen Weltsicht, wie er sie in den Einaktern ›Der Tod des Tizian‹ oder ›Der Tor und der Tod‹ gestaltet hat, schien auch für Trakl zunächst eine Möglichkeit zu sein, seiner Zukunft als Dichter eine Form zu geben. Denn dem jungen Trakl schwebte zunächst eine der Kunst zugewandte Existenz vor, die ihn vor den Banalitäten des bürgerlichen Lebens, wie er sie vom Elternhaus her kannte, bewahren sollte. In Anlehnung an Nietzsche schrieb er 1908 unter eine seiner Fotografien »Nur dem, der das Glück verachtet, wird Erkenntnis« (I,463). Abseits von den Anforderungen, auch der Schule, entwickelte er in seinen Gedanken und Träumen eine Lebensform, die von der Wahrnehmung seiner Empfindungen geprägt sein sollte. Er entsprach damit der Einstellung einer Künstlergeneration, die, wie Carl E. Schorske formulierte, »sich selbst außerhalb des Hauptstroms des Lebens fühlte, den sie nur trübe durch das spiegelnde Medium der Kunst wahrnahm.«7 Trakl erlebte solche Stimmungen im Garten des Elternhauses, er suchte sie auf bei Spaziergängen in den alten barocken Gartenanlagen der Schlösser Mirabell und Hellbrunn. Im Park von Hellbrunn konnten die schwermütigen Träume auch abseits des Alltags geträumt und Bücher gelesen werden, die solchen Träumen neue Nahrung gaben. Mehrmals soll er sich sogar in diesem Park einschließen haben lassen. Mit 14 Jahren hat Trakl ein Gedicht geschrieben, das ein Mitschüler zu vertonen versucht hat.8 Das weist darauf hin, dass er schon früh das Bedürfnis hatte, dem Leben eine ästhetische Komponente zu verleihen. In seiner ersten schriftlichen Veröffentlichung aus dem Jahr 1906, dem Prosatext ›Traumland‹, fühlt das Erzähler-Ich in einem Garten, der als »Tempel« bezeichnet wird, »die Größe und
7 8
Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Deutsch von Horst Günther, Frankfurt am Main 1982, S. 294. Außer dem Titel ›Stimme des Mädchens‹ ist kein Text überliefert; die Komposition stammt von Trakls Mitschüler Adolf Schmidt. Archiv der GeorgTrakl-Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.
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Schönheit des Lebens« und meint: »Damals auch war mir, als gehörte das Leben mir« (I,191). Ähnlich wie Hofmannsthal im ›Prolog zu Anatol‹ entwirft Trakl in seiner Prosaskizze ›Verlassenheit‹ das Bild einer schönen, vergangenen Zeit, aber: »Niemand vermag mehr in den Park einzudringen« (I,200). Auch in der ›Sammlung 1909‹, die seine Jugenderinnerungen enthält, ist der Garten ein wiederholt eingesetztes Motiv, das auf einen Ort verweist, in dem sich das Leben in einen schönen Schein rettet. Eines der Gedichte hat den Titel ›Naturtheater‹ (I/241): Nun tret’ ich durch die schlanke Pforte! Verworrner Schritt in den Alleen Verweht und leiser Hauch der Worte Von Menschen, die vorübergehn. Ich steh’ vor einer grünen Bühne! Fang an, fang wieder an, du Spiel Verlorner Tage, ohn’ Schuld und Sühne, Gespensterhaft nur, fremd und kühl! Zur Melodie der frühen Tage Seh’ ich da oben mich wiedergehn, Ein Kind, des leise, vergessene Klage Ich weinen seh’, fremd meinem Verstehn. Du staunend Antlitz zum Abend gewendet, War ich dies einst, das nun weinen mich macht, Wie deine Gebärden noch ungeendet, Die stumm und schaudernd deuten zur Nacht.
Die Nähe zu Hofmannsthal und zur ästhetizistischen Weltsicht ist hier deutlich erkennbar: In einem von der Alltagswelt abgeschlossenen Bezirk bewegen sich schemenhaft Menschen, ihr Gang ist »verworren« und von ihren Gesprächen ist nur ein »Hauch« zu vernehmen. Das lyrische Ich sieht sich vor einer Bühne, auf der seine eigene Vergangenheit inszeniert wird. Die »vergessene Klage« des Kindes bleibt unverständlich, die von ihm angedeutete Perspektive ist dunkel: die »Gebärden« deuten »stumm und schaudernd« zur Nacht. Die Schlusszeile weist damit auf die für Trakl bestimmende Weltsicht hin. ›Naturtheater‹ ist eines der insgesamt sechs Gedichte, in denen das lyrische Ich sich selbst beobachtet; alle gehören zu Trakls Frühwerk (›Drei Träume‹, ›Andacht‹, ›Das Grauen‹, ›Traumland‹ 2x, und ›Naturtheater‹)
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Der Titel lässt an das Steintheater auf dem Hügel des Schlossparkes von Hellbrunn im Süden Salzburgs denken, ein in den KonglomeratFelsen gehauenes Freilichttheater, das Trakl von seinen Spaziergängen sicher bekannt gewesen ist. Mit einem weiteren Element dieses weitläufigen Parks hat sich der Dichter zur selben Zeit erstmals befasst; die Gestaltung der ›Drei Teiche in Hellbrunn‹ hat ihn dann aber – im Unterschied zu ›Naturtheater‹ – bis in sein letztes Lebensjahr nicht losgelassen. Eine andere Parklandschaft, damals ein ähnlicher Ort der Abgeschiedenheit, der Trakl mindestens ebenso vertraut war, ist der Mirabellgarten; er lieferte für ihn den Bild-Hintergrund zum Gedicht ›Musik im Mirabell‹ (I,18): Ein Brunnen singt. Die Wolken stehn Im klaren Blau, die weißen, zarten. Bedächtig stille Menschen gehn Am Abend durch den alten Garten. Der Ahnen Marmor ist ergraut. Ein Vogelzug streift in die Weiten. Ein Faun mit toten Augen schaut Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten. Das Laub fällt rot vom alten Baum Und kreist herein durchs offne Fenster. Ein Feuerschein glüht auf im Raum Und malet trübe Angstgespenster. Ein weißer Fremdling tritt ins Haus. Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge. Die Magd löscht eine Lampe aus, Das Ohr hört nachts Sonatenklänge.
In diesem Gedicht wird in den ersten drei Strophen eine Parklandschaft von einem lyrischen Ich gestaltet, das aus einem geöffneten Fenster Beobachtungen macht. Es ist ein stilisierter Garten, in dem die Menschen sich nur langsam und leise bewegen. Der erste Vers schlägt mit »Ein Brunnen singt« ein musikalisches Motiv an. In der 2. Strophe herrschen Bilder des Verfalls vor: »ergrauter Marmor«, »tote Augen«, »Schatten« und »Dunkel« bestimmen den lyrischen Tonfall. In der 3. Strophe erweist sich der Raum des lyrischen Ichs als unheimlich und gespenstisch. Die letzte Strophe schließlich bildet eine Art zusammenfassenden Schlussakkord. Alfred Doppler meint, Trakl habe
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ganz offensichtlich die Form der Sonate vor Augen gehabt:9 Der »Fremdling« entspricht dem einsamen Menschen im Park, die »verfallenen Gänge« knüpfen an das Morbide der 2. Strophe an, mit dem Auslöschen der Lampe verschwindet auch der Feuerschein der 3. Strophe, und die »Sonatenklänge« schließen den musikalischen Rahmen und begründen damit den Titel des Gedichtes ›Musik im Mirabell‹. Trakl gestaltete den zunehmend unheimlicher werdenden Garten in traditioneller Form: vierhebiger Jambus, vierzeilige Strophen mit Kreuzreim, gleichmäßig gefügt in einfachen Hauptsätzen. Aus dem Garten der Schönheit oder des schönen Scheins ist bereits ein Ort des Unheimlichen geworden, aus dem die melancholische Schönheit zwar noch nicht verschwunden ist, der aber doch von dunklen Tönen beherrscht wird. Trakl schrieb die erste Fassung dieses Gedichtes im Sommer 1909, bevor er seine erste Gedichtsammlung seinem Freund Erhard Buschbeck übergab. Er hatte gerade ein Jahr als Student der Pharmazie in Wien verbracht und das Erlebnis der Großstadt – Wien war damals die fünftgrößte Stadt der Welt – hatte er nur schwer verkraftet. Er flüchtete vor den »animalischen Trieben, die das Leben durch die Zeiten wälzen«, in seine Welt der inneren Bilder, in seine »ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts«, wie er in einem Brief an seine Schwester Hermine schrieb (I,472). In dieser an eine Stelle aus Hölderlins ›Hyperion‹ angelehnten Formulierung lässt sich ein Erschrecken vor einer anderen Lebenswirklichkeit erkennen, die ihren Ausdruck auch in neuen künstlerischen Formen gefunden hat. Während sein erster Mentor in Salzburg, der Theaterdichter Gustav Streicher, Trakl mit den Stilformen der Heimatkunst, der Neuromantik und des Symbolismus in Verbindung gebracht und ihn in Salzburg vergeblich als Dramatiker zu positionieren versucht hat, wurde er durch Buschbeck auf die neuesten Tendenzen in Wien hingewiesen, die diesem vor allem aus dem Umgang mit Hermann Bahr bekannt waren. Gemeinsam mit Freunden besuchte Trakl 1909 auf Anregung Buschbecks die ›Internationale Kunstschau‹, wo er Kokoschkas Blätter zum ›Weißen Tiertöter‹ und im Gartentheater eine Aufführung von dessen Drama ›Mörder, Hoffnung der Frauen‹, einer sadomasochistischen Darstel9
Vgl. Alfred Doppler: Die Verwandlung des Gartens. Das Weiterwirken eines Motivs (Georg Trakl und Thomas Bernhard). In: A. Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg 2001, (Trakl-Studien XXI) S. 187–195.
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lung des Geschlechterkampfes, zu sehen bekam. Die Triebhaftigkeit, der er darin begegnete, erschreckte ihn. Seine Beschäftigung mit dem ›Blaubart‹-Stoff könnte ein Versuch gewesen sein, sich mit diesen Kräften auseinanderzusetzen. Ab Herbst 1909 studierte Buschbeck ebenfalls in Wien und betätigte sich bald im ›Akademischen Verband für Literatur und Musik‹, der den Studenten die künstlerische Avantgarde vermitteln wollte. Der Verband veranstaltete Vorträge, Lesungen, Konzerte und Ausstellungen von Künstlern, die ein anderes Wien repräsentierten als das des Jugendstils und Fin de siècle. Wie weit Trakl an diesen Veranstaltungen teilgenommen hat, ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass er dabei einen Mann kennengelernt hat, der für ihn als ethische Instanz Bedeutung gewinnen sollte, nämlich Karl Kraus, der im ›Verband‹ seine erste Vorlesung hielt. Der ›Verband‹ gab auch eine Zeitschrift mit dem Titel ›Der Ruf‹ heraus, in der die ästhetischen Neuerungen im literarischen Bereich ihren Niederschlag fanden. ›Der Ruf‹ gilt als wichtigstes Dokument des österreichischen Frühexpressionismus. Trakl hat in dieser Zeit eine literarische Methode entwickelt, die in dieses Programm integriert werden konnte. In einem Brief vom Juli 1910 beschrieb er sie als »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet« (I,478). Dieses Verfahren – Trakl bezeichnet es als »heiß errungene Manier meiner Arbeiten« – hat er seiner Überzeugung nach im Gedicht ›Der Gewitterabend‹ (I,27) angewandt. Der Gewitterabend O die roten Abendstunden! Flimmernd schwankt am offenen Fenster Weinlaub wirr ins Blau gewunden, Drinnen nisten Angstgespenster. Staub tanzt im Gestank der Gossen. Klirrend stößt der Wind in Scheiben. Einen Zug von wilden Rossen Blitze grelle Wolken treiben. Laut zerspringt der Weiherspiegel. Möven schrein am Fensterrahmen. Feuerreiter sprengt vom Hügel Und zerschellt im Tann zu Flammen.
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Hans Weichselbaum Kranke kreischen im Spitale. Bläulich schwirrt der Nacht Gefieder. Glitzernd braust mit einem Male Regen auf die Dächer nieder.
Hier wird der Verlauf eines Gewitters von den ersten Vorzeichen bis zum befreienden Gewitterregen in einer Reihe von Bildern dargestellt, die die Spannung steigern und die Auflösung dieser Spannung in den letzten beiden Versen besonders wirksam erscheinen lassen sollen. Formal ist das Gedicht einfach gestaltet: 4 Strophen mit je 4 trochäischen Versen, weitgehend gleichmäßiger Rhythmus (nur in der 5. Zeile eine schwebende Betonung). Der Satzbau ist regelmäßig (elfmal steht das Verb an 2. Stelle der schlichten Aussagesätze), der Zeilenstil ist fast durchgehend eingesetzt. Mit dem beschwörenden Anruf in der 1. Zeile wird das Geschehen aus dem Alltäglichen herausgehoben. Dieses Gedicht war Anlass zur sogenannten »Plagiatsaffäre«: Ludwig Ullmann, ein Bekannter aus dem ›Akademischen Verband‹ hatte es als Vorlage für eigene dichterische Versuche verwendet. Trakl beschwerte sich über das »plumpe Plagiat«, in seinen Augen ein »Machwerk ohne Seele«, dem das »lebendige Fieber« fehle. – Diese Äußerung beweist nicht nur, dass sich Trakl seiner dichterischen Methode sehr wohl bewusst war, sondern sie weist auch auf ein zentrales Bestreben von Trakls dichterischer Arbeit hin: den Gedichten eine »Seele« zu verleihen, die durch Nachahmung einzelner Elemente nicht herbeigezaubert werden konnte. Die Vorstellungen von der »Seele« beschäftigten ihn seit seiner Kindheit; er hatte sie sich – wie sein Schulfreund Anton Moritz berichtete – als »ein silbernes Stäbchen vorgestellt, das den Körper durchzog«.10 In seinem reifen Werk zählt das Wort zu den zentralen Begriffen und für Trakl war es wohl eine imaginierte Größe, ein geheimes Zentrum, dem er sich mit für den Leser manchmal schwer oder auch nicht zugänglichen Bildern anzunähern versuchte. Der französische Dichter Arthur Rimbaud war zu dieser Zeit als Vorbild besonders wirksam. Trakl las ihn allerdings nicht im Original, sondern in der sehr freien Übersetzung von Karl Ludwig Ammer. 10
Zitiert in: Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten, Salzburg 1994, S. 31.
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Rimbaud war ihm ein Lehrmeister in der Technik der distanzierten Bestandsaufnahme und manche Übernahmen wurden, als »Einklänge«, Bestandteile seines poetischen Bildvorrates. Diese neue Technik lockerte noch stärker als die Anlehnung an musikalische Strukturen die Abbildfunktion der Kunst. Sie erlaubte es Trakl, die Flut von Reizen, von denen er sich bedrängt sah, zu gestalten, und das eigene Ich noch stärker zurückzunehmen in Richtung »unpersönliches Gedicht«. Im Gedicht ›Vorstadt im Föhn‹ (I/51) meinte Trakl, diese Absicht verwirklicht zu haben. Anfang 1912 schrieb er an Buschbeck: »Anbei das umgearbeitete Gedicht. Es ist umso viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (I/485): Vorstadt im Föhn Am Abend liegt die Stätte öd und braun, Die Luft von gräulichem Gestank durchzogen. Das Donnern eines Zugs vom Brückenbogen – Und Spatzen flattern über Busch und Zaun. Geduckte Hütten, Pfade wirr verstreut, In Gärten Durcheinander und Bewegung, Bisweilen schwillt Geheul aus dumpfer Regung, In einer Kinderschar fliegt rot ein Kleid. Am Kehrricht pfeift verliebt ein Rattenchor. In Körben tragen Frauen Eingeweide, Ein ekelhafter Zug voll Schmutz und Räude, Kommen sie aus der Dämmerung hervor. Und ein Kanal speit plötzlich feistes Blut Vom Schlachthaus in den stillen Fluß hinunter. Die Föhne färben karge Stauden bunter Und langsam kriecht die Röte durch die Flut. Ein Flüstern, das in trübem Schlaf ertrinkt. Gebilde gaukeln auf aus Wassergräben, Vielleicht Erinnerung an ein früheres Leben, Die mit den warmen Winden steigt und sinkt. Aus Wolken tauchen schimmernde Alleen, Erfüllt von schönen Wägen, kühnen Reitern. Dann sieht man auch ein Schiff auf Klippen scheitern Und manchmal rosenfarbene Moscheen.
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Kein bestimmter Ort ist hier genannt, allgemein ist von einer »Stätte« die Rede, »braun« und »öd« liegt sie »am Abend« da – ein Gedichtanfang, der für Trakl charakteristisch ist. In den nächsten drei Verszeilen folgen Geruchswahrnehmungen, akustische und optische Eindrücke, die den Ort als unangenehm und ekelhaft erscheinen lassen. Bei der weiteren Lektüre wird für einen Leser, der in der Topographie und Geschichte Salzburgs Bescheid weiß, klar, wo Trakl die Wahrnehmungen, die in diesem Gedicht verarbeitet sind, gemacht hat: Es war der alte städtische Schlachthof an der Salzach, an dem Trakl auf seinen Spaziergängen oft vorbeigekommen ist. Das beobachtende lyrische Ich ist aber vollständig aus dem Gedicht verschwunden. Trakl schrieb von einer »universellen Form« (I,486) und hoffte, dass sie dem Freund besser gefallen werde als seine früheren Texte. Er dürfte also auch sonst mit ihm über Fragen des poetischen Verfahrens gesprochen haben. Buschbeck war zu dieser Zeit im Besitz der frühen Gedichte Trakls; dieser untersagte ihm aber, etwas davon aus der Hand zu geben, denn er habe sie ihm nur »in einem Anfall von Kritiklosigkeit überlassen« und wünschte sich, dass der Freund ihm »die verfluchten Manuskripte« zurückgibt (I,483). Dazu ist es – wie bekannt – nicht gekommen. Trakl selbst war klar, dass eine Weiterführung der frühen literarischen Methoden einen Stillstand auf seinem Weg zu für ihn geeigneten poetischen Verfahren bedeutet hätte. Heft 3 des ›Ruf‹ war unter dem Eindruck der Balkankriege vor dem 1. Weltkrieg dem Thema »Krieg« gewidmet, der von vielen als ein Ereignis gesehen wurde, das die Monotonie des Alltags sprengen sollte. Trakl stellte dafür das Gedicht ›Trompeten‹ zur Verfügung. Trotz archaisierender Wendungen versuchte Trakl darin den »Wahnsinn, der sich selbst übertönt« (I,495) zu gestalten und ihn einer Kritik zu unterziehen, wie er Buschbeck gegenüber gemeint hat. Das Gedicht lautet (I,47): Unter verschnittenen Weiden, wo braune Kinder spielen Und Blätter treiben, tönen Trompeten. Ein Kirchhofsschauer. Fahnen von Scharlach stürzen durch des Ahorns Trauer, Reiter entlang an Roggenfeldern, leeren Mühlen. Oder Hirten singen nachts und Hirsche treten In den Kreis ihrer Feuer, des Hains uralte Trauer, Tanzende heben sich von einer schwarzen Mauer; Fahnen von Scharlach, Lachen, Wahnsinn, Trompeten.
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Trakl entwirft hier einen imaginierten Ort, der geprägt ist durch Motive des Untergangs, des Todes und einer bedrohlichen Dynamik, denen die sanften Bilder der spielenden Kinder und der singenden Hirten gegenübergestellt werden. Die letzte Strophe fasst kaleidoskopartig die Elemente des Gedichtes wie in einem Trompetenstoß noch einmal zusammen. Das dichterische Bild hat hier seine Abbildfunktion gänzlich verloren und den Charakter einer Montage angenommen. In neuen Wortnachbarschaften entstehen neue Mitteilungswerte, die in der Spannung von Analogie und Kontrast stehen, also einem Verfahren unterworfen werden, wie es sonst bei Kompositionen beobachtet werden kann. Trakl wollte mit diesem Text ganz sicher nicht in die weit verbreitete Kriegsbegeisterung einstimmen, wie es manche Interpreten früher vermutet haben, denn er bat Buschbeck ausdrücklich, das Gedicht auf die letzte Seite der ›Ruf‹-Nummer zu setzen, damit es nicht in die Nachbarschaft eines »kriegerischen Gesanges« (I,494) von Paul Stephan, einem Mitglied des ›Akademischen Verbandes‹, geraten konnte. Trakl begegnete der Moderne in Wien aber nicht nur als neuester künstlerischer Tendenz, sondern er lernte einige ihrer Vertreter auch persönlich kennen. So war er bei Adolf Loos zu Besuch und schrieb in sein Gästebuch eine Art Gelegenheitsgedicht, in dem er seine Bewunderung für den Architekten zum Ausdruck brachte. Loos finanzierte dann auch Trakls einzige weitere Reise, die ihn nach Venedig führte. Weitere Treffen und eine Widmung sind Zeugnisse einer engeren Beziehung. Noch aus dem galizischen Limanowa schrieb er ihm einen Monat vor seinem Tod von der Front eine Karte nach Wien, ohne zu wissen, dass sich Loos ganz in der Nähe, in Krakau, aufhielt. Als es anlässlich eines Schönbergkonzertes in Wien, veranstaltet vom ›Akademischen Verband‹, zu einem Skandal kam – Buschbeck hatte einem erregten Besucher und Gegner der Moderne eine Ohrfeige gegeben –, nahm Trakl heftig Partei für seinen Freund und schrieb von der »Gemeinheit des Gesindels« (I,508). Der Geohrfeigte entpuppte sich beim darauffolgenden Gerichtsprozess als der Operettenkomponist Oscar Straus. Bei Kokoschka war Trakl mehrfach zu Besuch. Das Selbstporträt des Dichters entstand kurz nach einem solchen Zusammentreffen und der Stil des Bildes weist eindeutig auf das künstlerische Vorbild hin. Auch eine Ähnlichkeit mit Schönbergs Bild ›Der rote Blick‹ ist unver-
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kennbar. Wie weit dieser wiederum von Kokoschka beeinflusst war, ist nicht ganz geklärt.11 Was den Musiker und den Maler miteinander auch verband, war der Versuch einer Synthese von Dichtung, Musik und Malerei: Schönberg betätigte sich als Maler, Kokoschka als Dichter. Trakls Versuch zu malen darf auch wohl in diesem Zusammenhang gesehen werden. Musik verband ihn vor allem mit seiner geliebten Schwester Grete, die sich in den Jahren 1908–1910 mit größeren Unterbrechungen als Studentin der Musikakademie in Wien aufhielt, die Ausbildung aber nicht abschloss. Trakl konnte folgender Forderung Schönbergs sicher etwas abgewinnen: »Ich will: Höchste Unwirklichkeit! Es [=das Kunstwerk] darf nie als Symbol, oder als Sinn, als Gedanke, sondern bloß als Spiel mit Erscheinungen von Farben und Formen wirken«.12 Dem entspricht die Erfahrung vieler Trakl-Interpreten, dass eine einfühlende Deutung zu unbefriedigenden Ergebnissen führt, denn diese stützt sich auf die symbolische Bedeutungsebene der poetischen Worte und Bilder, und diese spielt bei Trakl letztlich nicht mehr die entscheidende Rolle.13 Was von der Forderung Schönbergs auf Trakl aber nicht zutrifft, ist die Wendung vom »bloßen Spiel«. Für ihn war das Dichten eine viel zu ernsthafte Aufgabe und »innerste Verpflichtung« (Buschbeck), als dass er es als Spiel hätte betreiben können. Die Lockerung der semantischen und symbolischen Zusammenhänge und die Abwendung von der symbolischen Beziehung zwischen Wort und Wirklichkeit machte es ihm möglich, in seinen Texten näher an die »Wahrheit« heranzukommen, die er gestalten wollte. Bloße Artistik hätte Trakl nie genügen können. Erst in »Stunden des Überströmens und der Freude« entstanden »Arbeiten«, mit denen er, »ein wenig zufrieden sein« konnte, wie er in einem Brief Ende Oktober 1913 an Franz Zeis (I,525) meinte. Kemper spricht von einem »Prozess kultureller Sinnsuche, in dem sich das »lyrische Ich« selbst zu spiegeln versucht«.14 Ich meine – und das ist kein Widerspruch dazu – es ist ein Kreisen um sein imaginäres Zentrum »Seele« und deren mögliche Rettung oder ihm immer wahrscheinlicher erscheinenden Untergang. 11 12 13 14
Vgl. Werner I. Schweiger: Der junge Kokoschka. Leben und Werk. 1904–1914, Wien 1983, S. 213ff. W. I. Schweiger 1983, S. 218. Vgl. A. Doppler, S. 67. Hans-Georg Kemper: Nachwort zu: Georg Trakl: Fünfzig Gedichte, hg. von H.-G. Kemper, Stuttgart 2001, (Reclam UB 18132) S. 79.
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Diese Spannung ist auch noch in seinen letzten Gedichten zu finden, die er nach der Zusammenstellung des Bandes ›Sebastian im Traum‹ geschrieben hat. Die beruflichen Versuche waren alle erfolglos geblieben, seine Schwester Grete hatte eine Fehlgeburt erleiden müssen und ihm fehlten »Kraft und Lust eine Lage zu verändern, die sich täglich unheilvoller gestaltet.« (Brief an K.B. Heinrich, I,532) In den Gedichten dieser Zeit, wie sie in der letzten Brenner-Nummer vor dem Krieg erschienen sind, wird der stilistische Einfluss Hölderlins besonders deutlich, während der von Rimbaud verblasst. Die verknappte Sprache, die isolierten Setzungen entsprechen aber auch einem Kunstverständnis, wie er es bei Vertretern der Wiener Moderne kennengelernt hat: So wie Schönberg die Gesetze der HarmonieLehre gesprengt und die Töne freigesetzt hat, wie Adolf Loos seinen Kampf gegen die Oberflächlichkeit des Ornaments geführt und auf die Wirkung des Materials gesetzt hat (»Ernst und Schweigen des Steins groß und gewaltig gestaltet«, I,465 – so lautete Trakls poetischer Kommentar zum skandalträchtigen Haus am Michaelerplatz), so setzte Trakl verstärkt auf die Reinheit seines Materials, die Sprache. Dass damit alltagssprachliche Verständlichkeit kein Maßstab sein konnte, versteht sich von selbst. Diese Haltung erweiterte nochmals die Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen Trakl Räume schaffen konnte, die ihm bis dahin nicht zugänglich gewesen sind. Als Beispiel dafür soll das Gedicht ›Das Gewitter‹ (I,157) dienen. Trakl hat dieses Thema vier Jahre nach ›Der Gewitterabend‹ nochmals aufgegriffen; in der gedanklichen Struktur gibt es gewisse Ähnlichkeiten, die sprachliche Gestaltung ist aber doch völlig verschieden. Das Gewitter Ihr wilden Gebirge, der Adler Erhabene Trauer. Goldnes Gewölk Raucht über steinerner Öde. Geduldige Stille odmen die Föhren, Die schwarzen Lämmer am Abgrund, Wo plötzlich die Bläue Seltsam verstummt, Das sanfte Summen der Hummeln. O grüne Blume – O Schweigen.
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Hans Weichselbaum Traumhaft erschüttern des Wildbachs Dunkle Geister das Herz, Finsternis, Die über die Schluchten hereinbricht! Weiße Stimmen Irrend durch schaurige Vorhöfe, Zerrißne Terrassen, Der Väter gewaltiger Groll, die Klage Der Mütter, Des Knaben goldener Kriegsschrei Und Ungebornes Seufzend aus blinden Augen. O Schmerz, du flammendes Anschaun Der großen Seele! Schon zuckt im schwarzen Gewühl Der Rosse und Wagen Ein rosenschauriger Blitz In die tönende Fichte. Magnetische Kühle Umschwebt dies stolze Haupt, Glühende Schwermut Eines zürnenden Gottes. Angst, du giftige Schlange, Schwarze, stirb im Gestein! Da stürzen der Tränen Wilde Ströme herab, Sturm-Erbarmen, Hallen in drohenden Donnern Die schneeigen Gipfel rings. Feuer Läutert zerissene Nacht.
Das Thema »Angst« ist im ganzen Gedicht gegenwärtig. Während im ›Gewitterabend‹ die »Angstgespenster« aus der Außenperspektive nur pauschal angeführt sind, werden sie hier vor allem in der 2. Strophe als beherrschende Kräfte der Innenwelt anschaulich gemacht: die »Finsternis«, die »weißen Stimmen«, der »Väter gewaltiger Groll«, »die Klage der Mütter«, »des Knaben goldener Kriegsschrei« und »Ungebornes / seufzend aus blinden Augen«. Die erste Strophe bereitet dieses Auftauchen der »dunklen Geister« mit negativen Bildern vor: die Gebirge sind »wild«, die Adler zwar »erhaben«, aber keine göttlichen Boten, sondern solche der Trauer. Das »goldne Gewölk« erscheint beinahe wie eine Giftwolke
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über einer toten Landschaft. Dass die Lämmer »schwarz« sind und sich »zum Abgrund« bewegen, passt zu dieser Sequenz. Die eigentlich positiven Bilder der »geduldigen Stille«, der »sanften Hummeln« und der »grünen Blume« werden schwebend; sie lassen zusammen mit der »seltsam verstummenden Bläue« die Bedrohung erahnen. Die Bilder der Angst in der 2. Strophe, durchsetzt mit autobiographischen Anspielungen, sind Auslöser eines Schmerzes, der gleichgesetzt wird mit dem »flammenden Anschaun / Der großen Seele«. Auf der Ebene des äußeren Geschehens entspricht ihm der Ausbruch des Gewitters, das Einschlagen des Blitzes. Das »stolze Haupt«, das sich dieser existenziellen Bedrohung stellt, wird von einem »zürnenden Gott« mit »glühender Schwermut« umgeben. In der letzten Strophe wird die Angst als »giftige Schlange« direkt angesprochen und mit dem Imperativ »stirb« zu bannen versucht. Darauf folgt mit dem Wort »Da« eine Wende: Die Veränderung in der Natur (die »wilde[n] Ströme«, der »Sturm«, der Donnerhall), die Bewegung in den Elementen hat eine läuternde, erlösende Wirkung, die allerdings nicht mit der Befreiung von der gott-losen Angst gleichzusetzen ist; das Wort »Erbarmen« lässt aber einen Hoffnungsschimmer aufblitzen. (In einer Vorstufe lauten die letzten beiden Verse: »Eine Glocke / läutet Versühnung zur Nacht« – Versöhnung und Sühne sind zu einer neuen Einheit im Wort verschmolzen. II,293) Das Feuer kann jedoch sowohl vernichtend sein als auch reinigen. Hervorgehoben ist es dadurch, dass es neben »Finsternis« das einzige Wort ist, das allein eine Verszeile bildet. Das Gedicht lässt also offen, ob die apokalyptische Bedrohung, die in der Verschränkung der äußeren und inneren Welt, im äußeren und inneren Anschauen beschworen wird, abgewendet werden kann oder nicht. Die Aufhebung der Spannung im Raum zwischen »goldnem Gewölk« und »steinener Öde«, wo die Angst ihre bedrohliche Wirkung entfaltet, ist aber jedenfalls ein schmerzlicher Prozess. Trakl hat ihn in einer gelockerten Folge anschaulicher Bilder und Begriffe gestaltet, die neue sprachliche Konstellationen zulässt. Mit ihnen konnte er das Thema »Angst« in einer Weise zur Sprache bringen, die ihm bis dahin nicht möglich war. Angst ist das beherrschende Lebensgefühl, das aus der ungelösten bzw. unlösbaren Spannung zwischen einer transzendental begründeten Weltsicht und der jeder Metaphysik entblößten Sicht der Wirklichkeit, (der »steinernen Öde«) hervorgeht. In diesem Sinne scheint mir die zu Beginn zitierte Äuße-
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rung des Trakl-Preisträgers Alfred Kolleritsch richtig zu sein, dass Trakl nämlich diese Spannung für den Augenblick eines Gedichtes noch gestalten konnte. Doch bei aller punktuellen Freude Trakls über das Gelingen seines dichterischen Bemühens (seiner »Arbeit«) war es letztlich eine »unvollkommene Sühne«(I,43), die die inneren Abgründe nicht verdecken konnte. In poetischen Bildern hat er sie gestaltet und sich dabei unterschiedlicher Methoden bedient, die er bei Vorbildern und zeitgenössischen Strömungen kennengelernt und als geeignet empfunden hat, seine Zustände der Angst und Schwermut mitteilbar zu machen. Was daran als »modern« erscheint, ist also nicht bloß eine Folge der Orientierung an künstlerischen Tendenzen seiner Zeit, sondern es kam dem Ausdrucksbedürfnis eines außerordentlichen Charakters und immer stärker vom Zerbrechen bedrohten Lebensgefühls entgegen.
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Wenige Tage nach Trakls Tod erhielt Ludwig von Ficker, der noch immer erschüttert und ganz damit beschäftigt war, die Angehörigen und Freunde des Dichters über dessen Ableben zu informieren, ein höfliches, schwarz gerahmtes Schreiben, welches ihn gleichwohl dermaßen aufbrachte, dass der schon tags darauf eine ausführliche Antwort, eine »Erklärung« verfasste. Das Kondolenzschreiben1 stammte von Karl Emerich Hirt, einem aus Troppau gebürtigen Schriftsteller, der schon seit längerem in Innsbruck lebte und dort die Filiale der Österreichisch-Ungarischen Bank leitete. Es lautete: Innsbruck, 19/11.14. Hochgeehrter Herr! Ich spreche Ihnen, dem Freunde Georg Trakl’s, in jener Trauer, die man um jeden Wertvollen, der unserem Menschen-Bunde verloren geht, empfindet, meine Teilnahme aus. – Am Abende (2.XII.), der unseren Soldaten gewidmet sein soll, wird die Stimme der Zeit durch den Mund der Dichter zu uns übrigen sprechen. – Die Versammlung soll auch ihren heimgegangenen Dichter hören und ehren, – seinen Abschiedsgruß entgegennehmen. – Wollen Sie mir dazu seine Kriegs-Gedichte leihen? – In Hochachtung dafür dankend Ihr ergebener K-E. Hirt
Fickers Erwiderung,2 eine Vernichtung (im Nachlass ist nur der Entwurf vorhanden, außerdem noch ein Blatt mit ersten Notizen), dieses 1 2
Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914–1925, hg. von Ignaz Zangerle u.a. Innsbruck 1988, (Brenner-Studien Band VIII) S. 49. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914–1925, hg. von Ignaz Zangerle u.a., Innsbruck 1988, (Brenner-Studien Band VIII) S. 50f. Die oben genannten Schriftstücke befinden sich im Nachlass Ludwig von Fickers (im Forschungsinstitut Brenner-Archiv).
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Schreiben ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich; im folgenden zitiere ich daraus deshalb ausführlich, wenigstens einige Passagen. An Hirt (Entwurf) Schriftleitung ›Der Brenner‹ Innsbruck-Mühlau 20.XI.1914 Sehr geehrter Herr! Nehmen Sie meinen besten Dank – für Ihre freundliche Anteilnahme sowohl wie für Ihre Absicht das Andenken des toten Dichters Georg Trakl zu ehren. Da jedoch die Pflicht der Pietät auch mir – und mir vielleicht wie keinem anderen – obliegt, so bitte ich Sie, die folgende Erklärung nicht dahin mißzuverstehen, als begegne sie Ihrem schönen Vorsatz, der zweifellos der Ausdruck einer edlen Empfänglichkeit ist, nicht mit entsprechender Hochachtung. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Ich begrüße jede Äußerung einer pietätvollen Gesinnung, die der Bedeutung des Verewigten gerecht zu werden versucht, dankbaren Herzens. Und so lassen Sie mich Ihnen zunächst gestehen, daß ich mich nicht ermächtigt fühle, von dem literarischen Nachlaß des Verstorbenen, der sich in meinen Händen befindet, irgend etwas zu einer vorzeitigen Veröffentlichung preiszugeben, mit der der Lebende – das weiß ich bestimmt – nie einverstanden gewesen wäre. Er war sich der Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit einer rezitatorischen Vermittlung seiner Dichtungen gar wohl bewußt, um so tiefer bewußt, als sich ihr eigentlichster Gehalt Menschen mit rezitatorischer oder vollends deklamatorischer Begabung von vornherein verschließt […]. Ich bitte Sie nur das Eine zu bedenken und meiner Überzeugung näher zu treten, die dahin geht, daß Trakls Gedichte die unberedtesten, die äußerlich verstummtesten sind, die die deutsche Literatur – Hölderlin nicht ausgenommen – aufzuweisen hat. Es hat nur einen gegeben, der sie erschütternd sprechen konnte, und auch nur im intimsten Kreise, mit seiner leisen monotonen Stimme: das war der Dichter selbst. Wie wollten Sie die einer Versammlung bieten, die nicht darauf vorbereitet ist; durch den Mund eines Rezitators, der möglicher-, ja wahrscheinlicherweise (ich kenne zwar den Betreffenden nicht) das Wesen Trakl’scher Dichtkunst nicht im entferntesten zu begreifen vermag – einer Versammlung, deren Begeisterungsbedürfnis für Krieg und Poesie beim Vortrag Trakl’scher Dichtungen gewiß nicht auf seine Rechnung kommt. Denn er ist natürlich – und dies ist ein anderer Grund, warum ich Ihre Bitte nicht erfüllen kann – er ist weit davon entfernt gewesen, Kriegsgedichte zu schreiben, die man als solche bezeichnen könnte. Er hat seine großen Kriegsvisionen – als der tieferhellte Seher, der er war – zu einer Zeit erlebt und gestaltet, als von kriegerischen Ereignissen noch gar keine Rede war; als die Reimschmiede noch keine Gelegenheit hatten, mit Feuer und Schwert zu hantieren. […] Es ist wahr – er hat ein ›Kriegslied‹ geschrieben, aber er hat es eine Woche vor seinem Tode, als ich zu ihm nach Krakau ge-
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eilt war, vor meinen Augen zerknittert und zerrissen. So streng ging er mit sich ins Gericht. Sein letztes Gedicht jedoch – ›Grodek‹ betitelt – ist die Vergeistigung jener letzten erschütternden Eindrücke, an denen sein junges Leben vollends zusammengebrochen ist. Es ist so sehr erlebt, daß er daran gestorben ist. Es könnte am Grabe des Dichters gesprochen werden, oder bei einer Gedächtnisfeier im Kreise der Wenigen, die wissen, welch bedeutender Geist mit ihm ins Ewige dahingegangen ist. Nie aber vor einem Auditorium, das möglicherweise kurz vorher noch einem Bruder Willram zugejubelt hat. […] Im übrigen bin ich unbefangen genug um einzusehen, wie recht und billig – besonders freilich billig – es ist, daß in dieser schweren Zeit, die Dichtern das Leben kostet, die flinken und allzeit hochgemuten Dichterlinge, die für Gott, Kaiser und Vaterland in jedem Augenblick bereit sind, ihren Pegasus frisch von der Krippe – d.h. von der Zeitungslektüre – weg mit Hei und Ho ins Schlachtgetümmel zu führen, vor allen anderen auf ihre Ruhmesrechnung kommen.
Was Fickers Blutdruck offensichtlich übermäßig belastet, ist zunächst einmal die Tatsache, dass Hirt sich überhaupt die Freiheit herausnimmt, dem ›Brenner‹-Herausgeber zu schreiben. Hatte doch Ficker erst wenige Monate vorher das Ansinnen des Bankangestellten, einen seiner Texte im ›Brenner‹ unterzubringen, entschieden zurückgewiesen.3 Ärger und ärgerlicher wirkt, was Hirt schreibt, der Ton seines Briefes, die schamlose Art und Weise, Trakl in einen sozialen Raum, in einen sozio-kulturellen Kontext einzubinden, in dem einzig und allein die Wortführer der in Tirol regierenden literarischen Parteiungen (Ficker notiert sich zunächst: »Dilettanten«, später: »Dichterlinge«) das Sagen haben; das Publikum soll »auch« Trakl »hören und ehren«. Hirts Vorschlag, »Kriegs-Gedichte« zu präsentieren, ist schließlich der Gipfelpunkt aller dieser Zumutungen. Es sind vor allem drei Punkte in Fickers Antwortschreiben, die es verdienen, hier kurz herausgehoben zu werden, bevor seine Ausführungen weiter erläutert und schließlich seine Anmerkungen zu ›Grodek‹ noch in einer Nachbemerkung zur Sprache kommen sollen. Zum einen eine Klarstellung. Ficker macht unmissverständlich deutlich, dass in seinem Verständnis er allein berufen ist, die Rezeption des Werkes des Verstorbenen zu steuern. Zum andern eine Mahnung. Sie betrifft die Autorintention, Trakls »Mythologie«. Ficker gibt zu verstehen, es gäbe weit und breit niemanden, dem er es zutraue, die Trakl-Welt adäquat zu »begreifen« und zu interpretieren. Er rät daher zu einer »pietätvollen Gesinnung«, 3
Vgl. die Korrespondenz mit Hirt im Nachlass Fickers, L. v. Fickers.
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und fast mag es scheinen, als erteile sein Schreiben jeder anderen Beschäftigung mit Trakls Werk eine rigorose Abfuhr. Zum dritten schließlich thematisiert das Schreiben eine Abgrenzung, die für den frühen ›Brenner‹ (zwischen 1910 und 1915) ein markantes Kennzeichen gewesen ist. Ficker legt nicht den geringsten Wert darauf, ein breites Publikum anzusprechen, seine Zeitschrift richtet sich vielmehr ausdrücklich an eine Elite; ob er damit tatsächlich an einen Kreis von »fraglos mondänem Niveau« gedacht hat, wie das in Karl Röcks Tagebuch festgehalten ist,4 bleibe hier vorerst einmal dahingestellt. Denn wesentlicher scheint mir, den Duktus dieses Schreibens, der eine diktatorische Selbstherrlichkeit anzeigt, die ihresgleichen sucht (und zu diesem Zeitpunkt sonst nur in der ›Fackel‹ anzutreffen ist), diesen Duktus, der ganz offensichtlich den Weg zu der von Otto Basil so genannten »Trakl-Kirche« weist, in jenem Zusammenhang zu kommentieren, in dem er sich entfaltet. Es ist dies das kulturelle Umfeld, in dem Hirt auch ›Grodek‹ ohne weiteres positioniert hätte, in dem der Trakl-Ton allerdings im Getöse der von allen Seiten vordringenden Marschmusik – Ficker hatte Recht – wohl sang- und klanglos untergegangen wäre. Im ›Großen Krieg‹ sieht Ficker nicht nur Trakl, er sieht auch den ›Brenner‹ auf Kollisionskurs zu der Truppe der »flinken und allzeit hochgemuten Dichterlinge, die für Gott, Kaiser und Vaterland« (aus Fickers Perspektive) das Feld der Poesie zertrampeln. Er zeichnet also ein Bild, auf dem zwei Lager einander gegenüber stehen: dort Bruder Willram und Konsorten, hier Ludwig von Ficker und sein Kreis. – Die Forschungsliteratur über Trakl und den ›Brenner‹ hat dieses Bild weitgehend übernommen;5 es ist indessen eher ein Wunschbild als ein Abbild der Verhältnisse, in welchen sich die Strömungen und Gegenströmungen der Kriegs- und Antikriegsliteratur in Tirol vermischen. Es dürfte, das zu konkretisieren, hier schon genügen, die Gedichte zweier Lyriker, die als Repräsentanten der beiden erwähnten Lager in Erscheinung getreten sind, miteinander zu vergleichen. Auf der einen Seite: Bruder Willram, eigentlich Anton Müller, zu seiner Zeit der einflussreichste Religionslehrer Tirols, dessen Gedichte sich von der zeit4 5
Karl Röck: Tagebuch 1891–1946, hg. und erläutert von Christine Kofler. 1. Band. Tagebuch 1891–1926. Salzburg 1976, S. 229. Hier sei vor allem auf die einschlägigen, grundlegenden Arbeiten von Alfred Doppler, Walter Methlagl und Sieglinde Klettenhammer hingewiesen.
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genössischen tyrtäischen Lyrik kaum einmal abheben, weil auch sie »die glanzvollen Eigenschaften der eigenen Nation überhöhen, die Gegner verteufeln und verhöhnen, zu Hass und Rache aufrufen, den Kampf verherrlichen und Gott für die eigene Sache in Anspruch nehmen.«6 Auf der anderen Seite: Arthur von Wallpach, ein ›Brenner‹-Mitarbeiter der ersten Stunde. Er ist mehrfach mit Trakl zusammen gekommen, er gehört auch zu jener kleinen Gruppe, die an dem Tag, an dem Trakl nach Galizien fährt, auf dem Innsbrucker Bahnhof steht,7 um vom Dichter Abschied zu nehmen. Bruder Willram war nicht nur der erste, der sich nach Kriegsbeginn zu Wort meldete, er war wohl auch der einflussreichste Tiroler Schriftsteller in dieser Zeit. Auf beinah jeder patriotischen Festveranstaltung als Redner am Pult, konnte er, nach eigener Darstellung, »vor Tausenden und Abertausenden«, vor »hohen und allerhöchsten Herrschaften«,8 anstandslos sowohl im Namen der Katholischen Kirche wie auch als Herold der Landespolitik den Krieg als einen »heiligen« rechtfertigen und in den buntesten Farben verherrlichen. Letzteres vor allem in seinen Gedichten, ersteres in seinen Ansprachen und Predigten. Der Seelsorger sah im Krieg eine Herausforderung und eine Chance: nicht etwa für einen Erneuerungsprozess in Europa, wie Hugo von Hofmannsthal, vielmehr eine Chance, das althergebrachte Normengefüge noch einmal mit letzter Kraft zu restaurieren. Schon am 2. August 1914 tritt Bruder Willram mit einer Rede zum Thema »Gut und Blut für unsern Kaiser!« vor die Öffentlichkeit; seine Ausführungen einleitend mit einem Bild aus der Bibel. Mit dem Bild des weinenden Heilands, der »mitten im Palmsonntagsjubel über das unglückliche Jerusalem Tränen des Mitleids und des Erbarmens vergießt«. Denn er sieht, so kommentiert Bruder Willram das Bild, diese Stadt und dieses Land von wilden Parteiungen zerrissen, in wüstem Sektenkampfe der Pharisäer und Sadduzäer zerfleischt; er sieht einen verkommenen, glaubenslosen Hochadel und ein verweltlichtes, dem Genußleben sich hingebendes Priestertum […]; er sieht die Traditionen AltIsraels verhöhnt und verachtet, das Gesetz Moses’ und die Satzungen der 6 7 8
Eberhard Sauermann: Bruder Willram, ein Tiroler Kriegslyriker. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, 23, 2004, S. 15–35, Zit. S. 15. Vgl. Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie, Salzburg 1994, S. 168. Anton Müller: Kennt Ihr das Land? Patriotische Reden und Ansprachen, Innsbruck 1914, S. 105.
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Väter zum Gespötte und zum Tagesgezänk geworden; er sieht die Religion Jehovas zum äußerlichen Formelkram und leeren Zeremoniendienst ohne Geist und Seele herabgewürdigt; sieht den Haß und die Rachsucht, den Eigennutz und die Bestechlichkeit unter den Stämmen Israels, die sittliche Fäulnis und Korruption bei Hoch und Nieder, kurz, er sieht die Auflösung aller gesellschaftlichen Ordnung […].
Scheinbar noch immer eine Bibelstelle erläuternd,9 redet Bruder Willram längst schon von Österreich, von der Monarchie. Nicht direkt, aber im Subtext gewissermaßen vom Kaiser, der als einziger die Aufrechterhaltung der Ordnung garantiert. Der Krieg, von außen ihm »aufgedrängt«,10 wird somit in doppelter Weise begründet; zum einen als »ein Krieg der Kultur gegen Unkultur, der Zivilisation, der Gesittung und des gesellschaftlichen Anstandes gegen den Barbarismus […]«, zum andern als letzte Möglichkeit, Ruhe und Frieden im Inneren des Reiches wiederzugewinnen. Das ist dem Prediger das wichtigste Anliegen, und so entwirft er im weitaus längsten Teil seiner Rede ein Erziehungsprogramm, das zugleich den Nationalismus in der vom Kaiser regierten Völkerfamilie eliminieren und alle Untertanen anleiten soll, sich als »pflichttreue Bürger, pflichttreue Beamte und pflichttreue Soldaten« zu erweisen.11 Ein Programm, das Bruder Willram aus dem Christentum ableitet, dessen Förderung und Verwirklichung aber er hauptsächlich sich vom Krieg erhofft: »Blut und Tränen sind ein starker Kitt.«12 Die zwei im Krieg erschienenen Gedichtbände, ›Das blutige Jahr!‹ und ›Der heilige Kampf‹, beide haben im übrigen etliche Auflagen erlebt,13 wiederholen zunächst nur mit anderen Worten, mehr schlecht als recht gereimt, was der Priester bereits von der Kanzel herab verkündet hat: dass der Zweck die Mittel heiligt, weshalb im weiteren dann auch die Verklärung des Heldentodes den breitesten Raum einnimmt. Keine Klagegesänge, sondern Schlachtgebete; billiger Trost, wo Trauer und Verzweiflung die Verse prägen müssten.14
9 10 11 12 13 14
A. Müller, S. 76f. A. Müller, S. 79. A. Müller, S. 79. A. Müller, S. 88. Bruder Willram: Das blutige Jahr! Gedichte. Brixen 1915; Der heilige Kampf, Innsbruck 1916. Bruder Willram: Das blutige Jahr!, S. 37.
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Wiegenlied Er ist gefallen: ich weiß nicht wie, Ob’s Kugel, ob’s Säbel tat; Sei’ stille, mein Kind, und vergiß es nie: Dein Vater war ein Soldat! Er ist gefallen: ich weiß nicht wann – In der Schlacht auf blutigem Feld! Sei still, mein Kind, und denke daran: Dein Vater war ein Held! Er ist gefallen: ich weiß nicht wo, Vielleicht schon vor langer Frist; Sei stille, mein Kind – und wein’ nicht so: Dein Vater im Himmel ist! Er ist gefallen: sei stille, sei still, Mein Kind, und trage die Last; Es war des Herrgotts heiliger Will’, Daß du keinen Vater hast!
Was immer Bruder Willram thematisiert, es ordnet sich ein unter dem Grundsatz, dass es gelte, im eigenen Kreis, im eigenen Land, die gegebene vorgeblich gottgewollte Ordnung anzunehmen und zu festigen. Alles, was diese Ordnung stören könnte, wird umgeleitet; erotische Gefühle werden eingebunden in die Liebe zum Vaterland; aggressive Tendenzen werden abgebogen in die Aversion allem Fremden gegenüber. Ob vor »Russen oder Serben«15 oder »vor welschen Schuften und Schergen«16 – die Feinde sind austauschbar –, in jedem Fall geht es darum, das eigene, das Heimatland und nicht minder dessen Sitten zu behüten. Unter diesem Vorzeichen sind auch Gedichte zu lesen, die, wie das Sonett ›Sturmangriff‹,17 allenfalls von ihrem rhetorischen Inventar her, sonst aber mit keiner Silbe mehr bekunden, dass sich der Autor dem Christentum verschrieben hat. In allen zumeist von Nietzsche angeregten Apologien des Krieges, die bekanntlich noch 1914 in weiten Bereichen der deutschen und österreichischen Intelligenz durchaus wohlwollend aufgenommen werden, wird die überkommene als seit langem versumpfte Ordnung
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Bruder Willram: Das blutige Jahr!, S. 21. Bruder Willram: Der heilige Kampf, S. 22. Bruder Willram: Der heilige Kampf, S. 23.
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gebrandmarkt. Bruder Willram hingegen konstatiert wohl ebenfalls allerorten Erscheinungen der Dekadenz, aber in seinem Verständnis ist nicht eine neue Welt zu gestalten, sondern die versunkene alte Welt wiederherzustellen. Es mag nicht verwundern, dass Bruder Willram, der führende Exponent Alt-Tirols, mit Argusaugen beobachtete, wie sich in Europa die ökonomischen und sozialen Verhältnisse wandelten, und dass er versuchte, alle Kräfte zu mobilisieren, diesem Prozess entgegen zu steuern. Die konservativen Publizisten und Schriftsteller empfanden allesamt die Grenzen des Landes als Schutzwälle. Was außerhalb passierte, politisch, auch literarisch, wurde nach Möglichkeit fern gehalten, bzw. nicht zur Kenntnis genommen; bodenständige, vielfach geschichtlich überholte Positionen und Wertvorstellungen wurden verteidigt. In diesem Konnex war das Werk Bruder Willrams alles andere als eine Ausnahmeerscheinung. Merkwürdig aber ist, dass auch die erklärten Gegner Alt-Tirols, jedenfalls die allermeisten, mit Kriegsbeginn sich im Chor der Konservativen einfanden. Die Bewegung Jung-Tirol, die sich kurz vor der Jahrhundertwende etabliert hatte und die sich damals, trotz unterschiedlicher Anschauungen im einzelnen, doch darin einig wusste, wogegen zu kämpfen war: gegen die konservative Kulturpolitik, gegen das Prestige und die alleinige Herrschaft der »katholisch-religiösen Ideen« und gegen die »nationale Not«, diese Bewegung gab 1914 endgültig ihre Oppositionsrolle auf. Über Nacht sahen die ehemaligen »Vaterlands- und Glaubensverräther« in jeder drohenden Umwälzung nur mehr eine Gefahr, über Nacht verstanden sie die Grenzen des Landes nicht mehr als Fesseln, über Nacht verzichteten sie auf den Anspruch, den Zerfall der tradierten Wertsysteme schonungslos aufzuzeigen und mit Blick auf eine bessere Zukunft weiter zu treiben.18 Arthur von Wallpach, der renommierteste Lyriker Jung-Tirols, gleichzeitig der militanteste Verfechter der deutschnationalen Fraktion, wehrte sich noch am hartnäckigsten dagegen, im Einflussbereich der Klerikalen aufzuscheinen. Aber der Gedichtband »Heiliges Land«, den er 1914 herausbrachte, machte schon von allem Anfang an, 18
Vgl. dazu ausführlicher Johann Holzner: Die Tiroler Literatur und der »Große Krieg«. In: Tirol und der Erste Weltkrieg, hg. von Klaus Eisterer und Rolf Steininger, Innsbruck-Wien 1995 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Band 12) S. 211–226.
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durch den alles andere als ironisch gemeinten Titel, deutlich, dass der Autor bereit war, alte Berührungsängste zurückzustellen. – Wallpachs ›Gebet um den Krieg‹19 ist zwar noch einer anderen Diktion verhaftet als die Kriegsgebete Bruder Willrams, aber in der Kernfrage, dass nichts schlimmer wäre als die Prolongierung des Friedens, stimmen beide bereits ganz und gar überein. Gebet um den Krieg Wie Schafe in der Hürde So sind wir feig und träg. O nimm von uns die Bürde Des üblen Friedens weg! Verdirb, die uns beraten, Verwirf ihr mutlos Mühn, Laß aus zertretnen Saaten Der Wunden Blume blühn. Neu wird im Land, im weiten, Das wie verschollen ruht, Die Kraft der alten Zeiten Erstehn im jungen Blut. Wir werden Helden schauen, Geheiligt durch das Schwert, In jauchzendes Vertrauen Den Zagemut verkehrt. Dann wird die Treue lodern, Sorglos um Lohn und Sold Und höh’re Lust wird fodern Das Volk, als Fraß und Gold. Weiber und Priester ächzen Um Frieden bang und zag – Walvater, sieh, wir lechzen Nach Malmers Wetterschlag.
Wallpach, der, anders als Bruder Willram, ins Feld zog, als Hauptmann der dritten Standschützenkompanie Innsbruck, beschrieb später seine Kriegserfahrungen in einem Gedichtband, der 1916 erschien:
19
Arthur von Wallpach: Heiliges Land. Gedichte, München-Leipzig 1914, S. 111f.
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›Wir brechen durch den Tod!‹.20 Diese Gedichte dokumentieren, dass mitten im Krieg auch der letzte Rest der alten Zwietracht zwischen den Deutschnationalen und den Konservativen verschwunden ist. Der revolutionäre, scheinbar revolutionäre Schwung der Proklamationen Jung-Tirols bricht nicht nur ab, er endet sogar in der Desavouierung des »Revoluzzertums«:21 Akademische Legion So sind wir in den heiligen Kampf gezogen, Mit gleicher Liebesglut fürs Vaterland, Der Burschenschafter mit dem Theologen Und jeder ehrt des andern Farbenband. Doch jenes Dreifarb schmückt uns als Symbol, Dem Pichler schwor, den Untreu nie besudelt, Das Arndt und Körner trugen, denn Tirol Hat nie dem Revoluzzertum gehudelt. Wir alle sind aus gleichem Blut geboren, Wir streiten für der Heimat freies Recht, Dozenten, Professoren und Doktoren In einem Gliede mit dem Ackerknecht. Und Vätertage tauchen auf voll Glanz, Denen voran schwarzgelbe Banner wehten – Daß Gott sie schmück mit frischem Siegerkranz Drum laßt uns, Hand in Hand, demütig beten!
Wallpach war keine Randfigur im ›Brenner‹, er zählte vielmehr, nach dem Zeugnis Karl Röcks, zu seinen wichtigsten Mitarbeitern;22 und war doch gleichzeitig nur einer jener »Reimschmiede«, über die Ficker in seinem Schreiben an Hirt den Stab gebrochen hatte. – Eine Kurskorrektur war nötig: ›Der Brenner‹ schwieg. – So bleibt das ›Jahrbuch 1915‹ die einzige Folge der Zeitschrift, die im Krieg erschienen ist. Ein »unvergleichliches Antikriegs-Dokument« (Walter Methlagl), eine Sammlung, die eine Art Gegensprache zu den in der Kriegshysterie hervorgestoßenen Phrasen präsentiert, in Arbeiten von Trakl, Kierkegaard, Rilke,
20 21 22
Arthur von Wallpach: Wir brechen durch den Tod! Gedichte aus dem Felde, Innsbruck 1916. A. v. Wallpach, S. 98. Karl Röck: Tagebuch 1891–1946, hg. und erläutert von Christine Kofler, 1. Tagebuch 1891–1926, Salzburg 1976, S. 216.
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Dallago und Theodor Haecker.23 Ludwig von Ficker hat zwar, nicht anders als Trakl, ursprünglich auch den Krieg begrüßt, im Krieg dann aber die aus allen Richtungen, in der Presse wie in der Literatur, vorgebrachte Kriegsbegeisterung sehr bald als Signum totaler Besinnungslosigkeit empfunden. Das ›Jahrbuch 1915‹ bringt demnach Texte, die dieser Besinnungslosigkeit entgegen wirken, entgegen zu wirken versuchen, direkt, wie Haeckers satirische Attacken auf die verschiedensten Medien, die aus dem Krieg Kapital schlagen und dabei vor keiner Phrase zurückschrecken,24 und indirekt, durch eine Klang- und Bildwelt, die alle Strategien der nationalen Identitätssicherung à la Bruder Willram oder Arthur von Wallpach unterläuft, wie in Trakls ›Grodek‹:25 Grodek. Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Von tötlichen Waffen, die goldnen Ebenen Und blauen Seen, darüber die Sonne Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrer zerbrochenen Münder. Doch stille sammelt im Weidengrund Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt Das vergossne Blut sich, mondne Kühle; Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain, Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter; Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes. O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, Die ungebornen Enkel.
Die Bilder, die dieses Gedicht aneinanderreiht, Wunschbilder und Bilder der Trostlosigkeit, geben nicht mehr vor, eine fassbare Wirklichkeit nachzuzeichnen, sie konstituieren vielmehr eine eigene Realität, 23 24 25
Der Brenner V (1915). Brenner-Jahrbuch. Innsbruck 1915. Theodor Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes. In: Der Brenner V (1915), S. 130–187. Vgl. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Band IV.2: Dichtungen Winter 1913/1914 bis Herbst 1914, hg. von Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Frankfurt am Main/Basel 2000, S. 333–337.
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die Realität eines Ich, welchem die Wirklichkeit offenbar beinah unfassbar geworden ist. Das äußert sich am deutlichsten in der Grammatik des Gedichts, die sich der Grammatik der Alltagssprache entzieht, als könnte nur auf diese Weise Besinnung noch möglich sein. – Es soll hier nicht darum gehen, ›Grodek‹ zu interpretieren, doch allein dieses Gedicht kann hier nachweisen, dass die Tiroler Schriftsteller im eigenen Land mit einer Literatur konfrontiert worden sind, die sie hätte zum Nachdenken anregen können, zum Nachdenken über die eigenen Schreibweisen und Stellungnahmen zum Krieg. Ein solches Nachdenken aber ist offensichtlich unterblieben. Karl Emerich Hirts Kriegstagebuch ›Gott bleibt Sieger‹ (1919) enthält Widmungsgedichte sowohl für Bruder Willram wie auch für Arthur von Wallpach.26 Ob christlich oder völkisch orientiert, sie alle haben in gleicher Manier den Krieg gefeiert. Angesichts solcher Übereinstimmungen in zentralen Fragen haben sie auch nach dem Krieg darauf verzichtet, den Streit um die Frage nach der wahren Religion, den sie um die Jahrhundertwende noch ungeduldig geführt hatten, weiter fortzusetzen. Das umfangreiche ›Fackel‹-Heft ›Innsbruck und anderes‹ (1920) vermittelt gewiss keine differenzierte Information über das damalige kulturelle Leben in Tirol, es zeigt aber doch einprägsam, wie sich einem außenstehenden Kritiker, nämlich Karl Kraus, die zu dieser Zeit im Land sich abspielenden Bewegungen darstellten.27 Wo immer Kraus Nachforschungen anstellt, begegnet er letzten Endes demselben Phänomen: dem, wie er es nennt, »christlich-germanischen Schönheitsideal«. Namentlich auch alle Schriftsteller sieht Kraus diesem Ideal verpflichtet. Allen voran Karl Emerich Hirt, nach Kraus, in Anspielung auf dessen Stellung im Bankfach, der »Vorstand der Innsbrucker Filiale der deutsch-christlichen Weltanschauung«. Dichtauf folgen, weiter nach Kraus, Bruder Willram, »neben Hochwürden Kernstock der draufgängerischeste Seelsorger und blutigste Dilettant der Weltkriegslyrik«, sowie der Journalist Otto König, einer der »beliebtesten Abschilderer von Verwundetenzügen«.28 Mit Hirt und Kö26 27 28
Karl Emerich Hirt: Gott bleibt Sieger. Das Kriegstagebuch eines Deutschen, Innsbruck 1919. Die Fackel XXII, 1920, Nr. 53–543. Zum zitierten ›Fackel‹-Heft vgl. Sigurd Paul Scheichl: Zur Struktur Kraus’scher Polemiken – am Beispiel ›Innsbruck und Anderes‹ (1920). In: Literatur und Kritik, 213/214, 1987, S. 131–140.
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nig hat Kraus bestimmt nicht die bedeutendsten oder einflussreichsten Stützen der Tiroler Kriegsliteratur herausgehoben. Aber eines hat im Jahre 1920 noch niemand so scharf beobachtet wie er: dass im Zeichen des Bündnisses der »christlich-sozialen« und der »deutsch-arischen« Verseschmiede Tür und Tor geöffnet werden sollten in einen Raum, in dem alle restaurativen Kräfte Auftrieb erhielten, die liberalen Traditionsstränge abgeschnitten wurden und der Antimodernismus sich ungezwungen entfalten konnte.
Nachbemerkung Die ersten, auf den ersten Blick bedenklich autoritativ wirkenden Notizen Fickers zu Trakls ›Grodek‹ erscheinen vor der Folie der zeitgenössischen Kriegslyrik, die im Umfeld des ›Brenner‹ entsteht und vom breiten Publikum mit offenen Armen aufgenommen wird, am Ende doch in einem anderen Licht. Es ist gleichwohl nicht zu übersehen, dass Fickers Diktum von der »Unmöglichkeit einer rezitatorischen Vermittlung« der Dichtungen Trakls hinter dicken Schleiern zu verbergen trachtet, was vor dieser Folie sehr deutlich wird: wie sehr ›Grodek‹ sich davon abhebt; und zwar nicht, weil es, im Gegensatz zu den Gedichten eines Bruder Willram oder eines Arthur von Wallpach, unverständlich wäre, vielmehr weil Trakls Gedicht, anders als die eben erwähnten Gedichte, vieldeutig und eindeutig zugleich ist. Es ist vieldeutig, weil die zentralen Wörter in der Struktur dieses Gedichts ebenso wie die schroff nebeneinander stehenden harmonischen und düsteren Bilderketten weit auseinander treibende Bedeutungszuschreibungen zulassen. Es ist vieldeutig, weil es eine Fülle intra- und intertextueller Bezüge öffnet,29 darunter Spuren, die nicht 29
Vgl. dazu vor allem die ausführlichen Analysen von Theo Buck: Vorschein der Apokalypse. Das Thema des Ersten Weltkriegs bei Georg Trakl, Robert Musil und Karl Kraus, Tübingen 2001, S. 17–31 und Eva Thauerer: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georg Trakls Lyrik, Berlin 2007, (Studium Litterarum, Band 14) S. 325–337. – Einen weiteren Versuch, die ›Hermetik‹ von Trakls Lyrik wenigstens hin und wieder aufzulösen durch sorgfältige Beobachtung des Phänomens der Intertextualität (die als »bedeutungsspendendes Element« der »polyvalenten Dichtung« ernst genommen wird), unternimmt Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis, Würzburg 2007 (Klassische Moderne, Band 8).
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nur zu Johann Christian Günther und zu Hölderlin zurückführen, sondern wohl auch Verbindungen zum ›Erlkönig‹30 und vielleicht sogar zu Richard Wagners ›Walküre‹. Es ist vieldeutig, auch das hat die Forschung längst schon nachgewiesen, weil es nicht zuletzt durch seine Form die archaische Welt (Hexameter-Anklänge) und die germanische Welt (Stabreime) heraufzitiert und doch in der durchgehenden Zeitform des Präsens die Aktualität der dargestellten Endzeitbilder ausdrücklich unterstreicht. Diese Polyvalenz hat indessen nichts zu tun mit Unverbindlichkeit: Unter den 17900 Einträgen, die Google (im Dezember 2007) zu »Trakl + Grodek« präsentiert, finden sich sonder Zahl Behauptungen, die das Gedicht dezidiert nicht als adäquate Interpretationszugänge zulässt. Es schüttelt nach wie vor Interpretationsansätze ab, die auch in jüngeren wissenschaftlichen Untersuchungen, wo alle nur denkbaren Lesarten diskutiert werden, hin und wieder auftauchen, z.B. in den erwähnten Analysen von Theo Buck und Eva Thauerer, sobald sie nur der Neigung nachgeben, das Beunruhigende der Technik der Oszillation mit einem einzigen Schlüssel zu entschlüsseln und zu bannen. In einem Punkt indessen ist ›Grodek‹ eindeutig. Zur Weltsicht der Kriegsgedichte von Bruder Willram und Arthur von Wallpach baut es keine Brücke; in diesem Kontext ist das letzte Gedicht Trakls unmissverständlich wie Klartextlyrik, ein Gegengedicht par excellence.
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Zu den Nachklängen der Balladenwelt Goethes in den Gedichten Trakls vgl. Laura Cheie: Die Poetik des Obsessiven bei Georg Trakl und George Bacovia, Salzburg 2004, (=Trakl-Studien, Band XXII) S. 98–113.
Zur Wirkungsgeschichte Georg Trakls
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Wolfgang Wiesmüller Zur Wirkungsgeschichte Georg Trakls am Beispiel der österreichischen Gegenwartsliteratur
1. Aspekte der Wirkung Georg Trakls von seinem Tod bis zur Gegenwart »Ein Ende der Wirkung Trakls ist nicht absehbar.«1 Mit dieser Prognose beschließt Eberhard Sauermann seinen summarischen Beitrag ›Georg Trakl (1887–1914)‹ im Sammelband ›Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts‹, der 2006 im Erich Schmidt Verlag in Berlin erschienen ist. Und seine Prognose hat sich umgehend erfüllt, denn die Literaturzeitschrift ›Salz‹ hat mit Blick auf den 120. Geburtstag Georg Trakls am 3. Februar 2007 »Autorinnen und Autoren eingeladen, literarische Antworten auf Leben und Werk Georg Trakls zu geben«, wie es im ›editorial‹ von Heft 126 (Dezember 2006) heißt, in dem unter dem Titel ›Zu Georg Trakl‹ eine Auswahl aus den »zahlreiche[n] Texteinreichungen« veröffentlicht wurde.2 Wie Sauermann darlegt, hat die produktive Rezeption Trakls eigentlich bereits zu seinen Lebzeiten begonnen, ruft man sich Trakls Brief an Erhard Buschbeck (Wien, zweite Hälfte Juli 1910) in Erinnerung, in dem er seinen Lyrikerkollegen Ludwig Ullmann bezichtigt, neben »einzelnen Bildern und Redewendungen« seine »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzi1
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Eberhard Sauermann: Georg Trakl. (1887–1914). In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, hg. von Ursula Heukenkamp und Peter Geist, Berlin 2006, S. 136–147, hier S. 146. Salz. Zeitschrift für Literatur, 32/II, H. 126, Dez. 2006: Zu Georg Trakl. Im Folgenden zitiert als ›Salz‹, Seite. – Die Zeitschrift ›Salz‹ hat bereits im 2. Jahrgang, 1977/Nr. 7, zum 90. Geburtstag Beiträge von Autorinnen und Autoren zu Trakl veröffentlicht. Auf der Titelseite ein faksimiliertes Manuskript von Reiner Kunze, das mit den Worten beginnt »Georg Trakl wusste keinen Weg«; auf Seite 7 dann die folgenden Beiträge: ›Über die Wirkung, die Georg Trakl auf mich ausübte‹ von Gerhard Amanshauser, ›Nachdenken über Georg Trakl‹ von Gerhard Kofler, ›Meine Jahre mit Georg Trakl‹ von Christian Wallner, ein Brief ›An Trakl‹ von Walter Kappacher und das Gedicht ›Versuch‹ mit der Widmung »für Georg Trakl« von Ilse Aichinger.
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gen Eindruck zusammenschmiedet«,3 übernommen zu haben. Inzwischen lässt sich eine ganze Reihe durchaus bedeutender Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur aufzählen, die entweder »Gedichte an oder über Trakl verfasst« haben (u.a. Else Lasker-Schüler, Johannes R. Becher, Robert Walser, Johannes Bobrowski, Rose Ausländer, Ilse Aichinger, Alfred Kolleritsch), oder die »durch Selbstaussagen […] Einflüsse Trakls auf [ihre] Lyrik«4 bestätigt haben, wie Oskar Loerke, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Huchel, Karl Krolow, Günter Eich, Sarah Kirsch, um nur einige von ihnen zu nennen. Von der Literaturwissenschaft wurden zum einen – über die zeitgenössische Rezeption Trakls im feuilletonistischen Kontext seiner Zeit, wie sie Sieglinde Klettenhammer5 dargestellt hat, hinaus – die Trakl-Bezüge bei jenen Autoren eingehender untersucht, denen in der Wirkungsgeschichte Trakls eine besondere und exemplarische Rolle zukommt, wie z.B. Paul Celan, Thomas Bernhard, Norbert C. Kaser oder Franz Fühmann.6 Zum anderen wurde die Rezeption einzelner Motive untersucht, wie beispielsweise von Alfred Doppler das »Motiv des Gartens«.7
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Georg Trakl: Dichtungen und Briefe, hg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Salzburg 1970, S. 267. E. Sauermann: Trakl, S. 145. Sieglinde Klettenhammer: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption, Innsbruck 1990, (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe Bd. 42). Vgl. beispielsweise die wissenschaftlichen Beiträge von Bernhard Böschenstein (›Celan und Trakl‹), Adrien Finck (›Im Zeichen Trakls: Die frühe Lyrik Thomas Bernhards‹) und Heinz Wetzel (›Franz Fühmanns Erfahrung mit Trakls Gedicht‹) in: Antworten auf Georg Trakl, hg. von Adrien Finck und Hans Weichselbaum, Salzburg 1992, (Trakl-Studien, Bd. XVIII) S. 107–119, S. 130–146 und S. 170–186. Vgl. auch Bernhard Böschenstein: Celan als Leser Trakls. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat und Gerald Stieg, Innsbruck 1995, (Brenner-Studien Bd. XIV) S. 135–148. Vgl. weiters Eberhard Sauermann: Kasers ›koechin eines pfarrers‹ und Trakls ›Junge Magd‹. In: Mitteilungen aus dem BrennerArchiv, 12, 1993, S. 67–70. Zu Fühmann und Trakl vgl. besonders Eberhard Sauermann: Fühmanns Trakl-Essay – das Schicksal eines Buches. Zur Autorisation der Ausgaben in der DDR und der BRD, Bern u.a.1992 (Arbeiten zur Editionswissenschaft Bd. 3). Alfred Doppler: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Salzburg 2001, (Trakl-Studien Bd. XXI) S. 187–195 (›Die Verwandlung des Gartens: Das Weiterwirken eines Motivs‹). Die motivgeschichtliche Linie erstreckt sich dabei von Stif-
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In den Forschungsberichten zu Trakl spielt die produktive Rezeption des Dichters kaum eine Rolle, haben sie doch die Aufgabe, vor allem die wissenschaftliche Rezeption in den Blick zu nehmen.8 Den ausführlichsten Versuch einer überblicksartigen Darstellung der literarischen Wirkungsgeschichte Trakls in der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 hat, soweit ich sehe, bisher Andreas Hett in seiner Magisterarbeit ›Zum Nachleben Georg Trakls in der deutschen Lyrik‹9 unternommen. Mit Hilfe seiner Ergebnisse wird es möglich sein, abschließend einen Horizont von Perspektiven und Facetten der TraklRezeption zu umreißen, vor dem bestimmte Binnendifferenzierungen wie die Wirkung Trakls auf die österreichische Gegenwartsliteratur – für die ›Schweizerische Lyrik deutscher Sprache‹ hat das Martin Stern untersucht10 – vornehmen zu können. Da die »Renaissance Trakls nach dem Zweiten Weltkrieg […] von österreichischem Boden ausgegangen«11 ist, wie Sauermann festhält, mag es unter anderem legitim erscheinen, im Folgenden den Fokus auf die österreichische Wirkungsgeschichte Trakls zu lenken und dabei nach Kontinuitäten oder Diskontinuitäten Ausschau zu halten. Beim »schwierigen Erwachen« der österreichischen Lyrik nach 1945 ortet Albert Berger eine wichtige Rolle Georg Trakls: »Der in der Lyrik der jungen Generation weit verbreitete Dämmerzustand des Bewußtseins fand sein Leitbild in Georg Trakl.« Die »Krisenstimmung« in seinem Werk, in dem er »mit gesteigerter Sensiblität auf die Erschütterungen vor dem Ersten Weltkrieg reagiert hatte, erschien den jungen Lyrikern als Verwandtschaft über die Jahrzehnte hinweg«.12 Mit Blick
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ters ›Nachsommer‹ über Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian und Georg Trakl bis zu Thomas Bernhard. Vgl. z.B. Hans-Georg Kemper: Trakl-Forschung der sechziger Jahre. In: DVjS, 45, 1971, Sonderheft, S. 496–571. Eine Zusammenschau der wissenschaftlichen und der literarisch-kulturellen Rezeption im Sinne eines umfassenden Trakl-Bildes bringt Walter Methlagl: Wirkung und Aufnahme des Werkes von Georg Trakl seit dem Ersten Weltkrieg. In: Londoner Trakl-Symposion, hg. von Walter Methlagl und William E. Yuill, Salzburg 1981, (Trakl-Studien, Bd. X) S. 13–32. Andreas Hett: Zum Nachleben Georg Trakls in der deutschen Lyrik. Magisterarbeit, Universität Freiburg i. Br. 1993. Martin Stern: Spuren Trakls in der Schweizerischen Lyrik deutscher Sprache. In: Antworten auf Georg Trakl, hg. von A. Finck und H. Weichselbaum, S. 147–169. E. Sauermann: Trakl, S. 146. Albert Berger: Schwieriges Erwachen. Zur Lyrik der jungen Generation in den ersten Nachkriegsjahren (1945–1948). In: Literatur der Nachkriegszeit
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auf die nach Kriegsende erschienenen Literaturzeitschriften ›silberboot‹, ›Turm‹ und ›Plan‹ stellt Berger fest, dass Trakl »bei der jungen Lyrikergeneration die Wirkung Rilkes, der vor allem den an gehobener Ästhetik orientierten Dichtern der älteren Generation […] als Leitbild galt, weitgehend ab[gelöst]« hat.13 Insbesondere in der für den Anschluss der österreichischen Literatur an die Moderne so wichtigen Zeitschrift ›Plan‹ zeichnen sich die Gedichte vieler Beiträgerinnen und Beiträger (u.a. von Hermann Friedl, Hans Heinz Hahnl, Christine Busta oder Herbert Eisenreich) durch »Trakl-Ton und Trakl-Inventar«14 aus, ganz abgesehen vom offenen ›Bekenntnis zu Georg Trakl‹, das 1946 im Juli-Heft dieser Zeitschrift erschienen ist. Darin heißt es unter anderem: Inmitten von Verfall und dem sinnlosen Tun eines entheiligten Geschlechts begegneten wir Georg Trakl. Es war die Trauer einer sterbenden Zeit in seinen Versen, die Melancholie der Einsamkeit und die unsagbare Schönheit der menschlichen Landschaft. […] wir glauben, dass die verschwiegenen Verse Trakls uns vor allen andern gelten. Den ungeborenen Enkeln, die den gewaltigen Schmerz, der sie nährte, noch nicht zu nennen gewagt haben.15
Dieses »Gefühl einer existenziellen Verwandtschaft erhält gewissermaßen seine nachträgliche Bestätigung durch die dann in den fünfziger Jahren breit einsetzende Trakl-Rezeption, die philosophisch ganz im Zeichen des Existenzialismus erfolgte.«16 Mit dieser Beobachtung Bergers korreliert auch der folgende Befund von Walter Methlagl: »Trakl rückte in der Einschätzung breiter Leserschichten vom Mitläufer des Expressionismus zur singulären persönlichen wie poetischen
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und der fünfziger Jahre in Österreich, hg. von Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei und Hubert Lengauer, Wien 1984, (Schriften des Institutes für Österreichkunde Bd. 44/45) S. 190–206, hier S. 196. A. Berger: Schwieriges Erwachen, S. 197. A. Berger: Schwieriges Erwachen, S. 197. Plan 1, 1946, H. 7, S. 554. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, dass der Herausgeber des ›Plan‹, Otto Basil, später folgende, das Bild des Dichters nachhaltig prägende Monographie über Trakl verfasst hat: ›Georg Trakl in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten‹, Reinbek b. Hamburg 1965, (rowohlts monographien 106). Sie wurde erst knapp dreißig Jahre später durch die neue Biographie von Hans Weichselbaum (›Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten‹, Salzburg 1994) abgelöst. A. Berger, S. 198.
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Erscheinung auf, in seiner »dichterischen Statur« nur noch mit Rilke oder dem zur selben Zeit wiederentdeckten Kafka vergleichbar.«17 Wie sehr Trakl auch noch in der Protestkultur der österreichischen Variante der 68er-Bewegung präsent gewesen ist, belegt der avantgardistisch-experimentelle Autor Walter Pilar in seiner Autobiographie ›Lebenssee‹. Für den studentischen Protagonisten in der »zweiten Welle« dieser literarischen Chronik, von seinen Kommilitonen der »Trakl-Forscher« genannt, hat schon als Gymnasiast für Trakl geschwärmt und noch mit Ludwig von Ficker korrespondiert. Nun gehört Trakls Lyrik zu seiner obligaten Lektüre, aus der sich neben anderen seelenverwandten Geistern der Gestus des antibürgerlichen »Jungdichters« speist.18
2. Stimmen zu Georg Trakl in der österreichischen Gegenwartsliteratur Zwei Textsammlungen ermöglichen es, sich die Stimmen zu Georg Trakl in der österreichischen Literatur der letzten 15 Jahre komprimiert vor Augen zu führen. Sie bilden die Basis für die im Folgenden dargelegten Beobachtungen zur Wirkung Trakls in der österreichischen Gegenwartsliteratur. Die Erste: ›Antworten auf Georg Trakl‹, herausgegeben von Adrien Finck und Hans Weichselbaum, 1992 im Otto Müller Verlag in Salzburg erschienen.19 Der Band beinhaltet neben literaturwissenschaftlichen Abhandlungen 36 Beiträge von Autorinnen und Autoren »aus dem gesamten deutschen Sprachraum«, allerdings auch mit deutlichem Schwerpunkt auf der österreichischen Literatur; es handelt sich um »Antworten« auf eine »Umfrage«, »die von den Befragten eine Auskunft hinsichtlich Einfluß und Wertschätzung Trakls erbat.« (Antworten, S. 7). 17 18
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W. Methlagl, S. 26f. Vgl. Walter Pilar: Lebenssee II. Gerade Regenbögen, Klagenfurt-Wien 2002, S. 29–31 (Korrespondenz mit Ludwig von Ficker) und S. 127: »Vor jenem Gedicht, das – wieder in L. – aus der Feder (=dem Kuli) geflossen kam, war ich in einer stunden-, ja tagelang aufgewirbelten Sprachwolke aus Hölderlin- & Trakl-Lektüre verloren gewesen«. Antworten auf Georg Trakl, hg. von Adrien Finck und Hans Weichselbaum, Salzburg 1992, (Trakl-Studien Bd. XVIII). Im Folgenden zitiert als ›Antworten‹, Seite.
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Die Zweite: Das bereits eingangs erwähnte Heft 126/Dezember 2006 (›Zu Georg Trakl‹) der Literaturzeitschrift ›Salz‹ (Jahrgang 32/II).20 Es enthält 35 Beiträge, mit wenigen Ausnahmen von österreichischen Autorinnen und Autoren. Im ›editorial‹ heißt es dazu: »Am 3. Februar 2007 jährt sich der Geburtstag von Georg Trakl zum 120. Mal. Wir haben zu diesem Anlass Autorinnen und Autoren eingeladen, literarische Antworten auf Leben und Werk Georg Trakls zu geben und zahlreiche Texteinreichungen erhalten.« Ein Projekt, das von Hans Weichselbaum begleitet wurde, der dazu anmerkt: »Auch in der zeitgenössischen Literatur ist Trakl für viele Autorinnen und Autoren ein Fixpunkt in der lyrischen Tradition, der sie sich verbunden fühlen. […] Reaktionen auf den Dichter aus Salzburg versammelt auch dieses Heft zu seinem 120. Geburtstag. Manchmal ist in den Beiträgen jedoch – wen wundert’s? – mehr über den Autor/die Autorin selbst zu erfahren als über den literarischen Gesprächspartner. Trotzdem bleibt es ein Zwiegespräch.«21 Was die Textsorten betrifft, in denen sich diese »literarischen Antworten« auf Trakl in den beiden Anthologien manifestieren, reicht der Bogen von essayistischen oder interpretatorischen Texten über autobiographische Skizzen und knappe Statements bis hin zu poetischen Texten. Fasst man dieses »Zwiegespräch« als Trakl-Diskurs ins Auge, so könnte man von folgenden »Formationen«22 dieses Diskurses sprechen, die in unterschiedlichen Kombinationen auftreten können: a) Die poetologische Formation: Es geht um die poetische Verfahrensweise Trakls, um seine Sprache, seinen Stil, um bestimmte Themen und Motive seiner Lyrik und um seine gattungsgeschichtliche Bedeutung, oft auch in Verbindung mit Reflexionen über das eigene Schreiben oder mit Beispielen aus dem eigenen Werk. b) Die biographische Formation: Hier steht das Leben Trakls im Mittelpunkt, bestimmte Stationen oder Konstellationen der Biographie Trakls werden dabei besonders herausgehoben, wobei sein
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Vgl. Anm. 2. Hans Weichselbaum: Georg Trakl und »seine« Stadt. In: Salz, S. 4f., hier S. 5. In den verschiedenen Diskurstheorien ist es üblich, Diskurse als »spezifische Aussageformationen« zu begreifen oder von »historische[n] Diskursformationen« zu sprechen (vgl. Grundbegriffe der Literaturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart-Weimar 2004, (Sammlung Metzler Bd.347) S. 33).
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Leben unter dem Blickwinkel einer exemplarischen Dichterexistenz, auch im Kontext seiner Epoche, reflektiert wird. c) Die autobiographische Formation: Es handelt sich um autobiographische Reminiszenzen an die persönlichen Begegnungen mit Trakls Werk oder mit Schauplätzen und Zeugnissen seines Lebens, um Eindrücke, die die Lektüre seiner Gedichte hinterlassen hat, oft auch, wie bei der poetologischen Formation, in Verbindung mit Hinweisen auf das eigene Schreiben und eventuelle Einflüsse Trakls darauf. d) Die poetische Formation: Das Zwiegespräch mit Trakl wird in poetischen Texten geführt, von Gedichten über räsonnierende Prosa und szenische Texte bis hin zu Zitatcollagen aus Gedichten und Briefen Trakls. Dieser Versuch einer Strukturierung des Trakl-Diskurses der Gegenwart korrespondiert im übrigen mit jener Charakterisierung der Beiträge, wie sie Adrien Finck und Hans Weichselbaum im Vorwort zum Band ›Antworten auf Trakl‹ vornehmen, wenn sie von der Suche nach »Spuren Trakls in [der] eigenen Literatur«, vom »persönlichen Verständnis von Lyrik« und von »persönlichen Bekenntnissen« sprechen (Antworten, S. 7). ad a) Die poetologische Formation Als Beispiel für die poetologische Formation bietet sich Franz Josef Czernin an, der 2007 den Trakl-Preis erhalten hat und in beiden Anthologien mit Beiträgen vertreten ist. Wie seine eigenen Texte sind auch seine Ausführungen ›Zum Werk Georg Trakls‹ – so der Titel seines Beitrags in ›Antworten auf Trakl‹23 – vor allem von sprachtheoretischen Reflexionen geprägt. Für ihn nähert sich Trakl mit seinen »Archetypen einer poetischen Grammatik«, zu denen er die »Allgemeinheit« der Worte als Gestus des »Benennens« zählt (Antworten, S. 18), »seinem Ideal einer reinen Sprache« an, die schon Vorstellungen einer maschinellen Poesie erahnen lasse (Antworten, S. 22). Mit seinem sprachlichen Reduktionismus stehe Trakl bereits »einer Form von Dichtung« nahe, »die sich geradezu ausschließlich auf den evokativen Charakter einfacher und allgemeiner Bezeichnungen verlassen hat: in der Nähe der konkreten Poesie der fünfziger und sechziger Jahre«. (Antworten, S. 17) Diese gattungs23
Franz Josef Czernin: Zum Werk Georg Trakls. In: Antworten, S. 14–22.
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geschichtliche Perspektive überlagert Czernin dann allerdings noch mit einer überzeitlichen Beurteilung im Sinne einer allgemeinen Poetik des Gedichts. Trakls Lyrik erhält dabei den Status des Prototypischen, wenn konstatiert wird, dass durch seine Kombinatorik des »Allgemeinen« und »Einfachen« der Worte »die Möglichkeit oder auch der Zwang« entsteht, »das komplexe Ineinander- oder Auseinanderfalten von Sinnhorizonten zu vollziehen, das wir Gedicht nennen.« (Antworten, S. 19) Zeitlosigkeit wird Trakls Gedichten aber auch noch in einem anderen Sinne attestiert, wenn der »Allgemeinheit« und »Einfachheit« der Worte die Qualität von »ersten Worten oder ersten Dingen« zugesprochen wird (Antworten, S. 19). »Die ersten Worte lassen sich gut dazu gebrauchen, sich mit Gedanken über die letzten Dinge oder mit Gedanken als letzte Dinge zu verbinden. So gehen in Trakls besten Gedichten Reflexion und evoziertes Bild ineinander über […].« Daher wirke »Trakls Evokation von ersten Worten und letzten Dingen […] zeitlos, das heißt, sie impliziert Wiederholbarkeit und damit auch, daß etwas wie eine Gesetzmäßigkeit ausgedrückt wird. Die einzelnen Momente des Verstehens gewinnen die ihr zugemessene Essenzialität sowohl damit, daß suggeriert wird, daß sie jederzeit vorgefunden oder aufgerufen werden können, als auch damit, daß sie immer wieder in verschiedenen Abwandlungen und Kombinationen vorkommen.« (Antworten, S. 20) Für diesen in Trakls poetischem Verfahren diagnostizierten Sprachontologismus strapaziert Czernin dann den Begriff des Symbols. »Gedichte wie die Trakls« wären nämlich »als komplexe Anordnung von Symbolen zu lesen […]; wenigstens dann, wenn der Begriff des Symbols so erweitert oder präzisiert wird, daß er nicht nur bezeichnet, daß ein Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung oder Vorstellens vertreten wird, sondern als etwas verstanden wird, das die Extreme Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung, Gegenstand des Vorstellens wie das Extrem des Begriffs einschließt oder zusammenfügt.« (Antworten, S. 21) Wenn Czernin hier, wie erwähnt, den Blick von Trakl aus gesehen auf die literarische Entwicklung nach vorne richtet und ihn zum Vorläufer einer sprachexperimentellen Dichtung kürt, so richtet er in seinem Beitrag für das Trakl-Heft der Zeitschrift ›Salz‹ den Blick paradigmatisch zurück und stellt Trakl in eine Reihe mit Klopstock und Hölderlin; letzterer ja in der Tat eine Orientierungsmarke Trakls. Unter der Überschrift »Nach Klopstock, Hölderlin und Trakl, aufs Ge-
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deihen oder Verderben«24 entwickelt er zwei idealtypische »Grundformen« von Gedichten, die, gegen die Erfahrung der Vergänglichkeit von Zeit und Raum gerichtet, »die Welt sub specie aeternitatis erfahren lassen« (Salz, S. 14) wollen, womit er an die Verbindung von Poetologie und Zeitthematik in seinem ersten Beitrag anknüpft. Der erste Typus, den er in Trakls Gedicht ›Rondel‹ exemplarisch verwirklicht sieht, bedient sich »einer klang- und metrumbedingten Wiederholung, einer Konstruktion symmetrischer Relationen, die Vorher und Nachher, Hier und Dort als Spiegelungen voneinander erfahren lassen und vielleicht auch den Lesenden sich selbst gleichsam als Symmetrieachse und jedenfalls als Zeugen dafür, dass Vergangenes und Zukünftiges, Fernes uns Nahes im Erfassen des Gedichts hervorgebracht würden.« (Salz, S. 14) Den zweiten Typus, der vor allem bei Klopstock und Hölderlin ausgebildet ist, gestalten »Trakls hymnenartige Gedichte« zu einer eigenen Spielart aus. Im Gedicht ›Klage‹ (II) z.B. mutet Trakl »manchem Satz oder Vers ein hohes Maß an Selbständigkeit und eigenmächtige Gegenwart« zu, wodurch »einzelnes Bildhaftes in seiner eigenen erratischen und wie nicht vergänglichen Zeiträumlichkeit hervorgerufen« wird: »Als könnte ein Satz oder ein Vers das Vergehen oder Verrinnen, das doch im Lesen selbst vollzogen werden muss, dadurch als durch ihn selbst hervorgebracht erweisen, dass er ein Bild hervorbringt, das das Vergehende oder Verrinnende enthält« (Salz, S. 14). Vielleicht bezieht sich Czernin damit auf das Charakteristikum Traklscher Gedichte, dass sie aufgrund der dominanten parataktischen Struktur und der daraus resultierenden Gleichrangigkeit der einzelnen Elemente ein simultanes Erfassen des Textes nahelegen, weshalb Alfred Doppler die poetische Verfahrensweise Trakls auch mit »der Simultanperspektive kubistischer Gemälde« oder mit der »Akkordkonstellation« der Zwölftonmusik in Verbindung bringt.25 Abschließend präsentiert sich Czernin noch selbst mit zwei Gedichten aus seinem Band ›natur-gedichte‹,26 die er mit dem Kommentar versieht: »Auf mein poetisches Gedeihen oder auch Verderben […] glaube ich feststellen zu können, dass manche meiner Gedichtzyklen […] die von Klopstock herrührende, über Hölderlin, Rilke und Trakl 24 25 26
Franz Josef Czernin: Nach Klopstock, Hölderlin und Trakl, aufs Gedeihen oder Verderben. In: Salz, S. 14–16. A. Doppler: Die Lyrik Georg Trakls, S. 22. Franz Josef Czernin: natur-gedichte, München 1996.
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führende Tradition fortzusetzen versuchen.« (Salz, S. 15) In einem der beiden Gedichte, das den Titel ›silhouette‹ trägt, wird eine Landschaftskulisse metaphorisch mit sprachthematischen Aspekten verschränkt, in denen es, ganz im Sinne der aufgezeigten poetologischen Reflexionen Czernins im Zusammenhang mit Trakl, um die Möglichkeiten der poetischen Sprache geht, das im Augenblick als Erfahrung oder Erkenntnis Wahrgenommene festhalten zu können. […] auf dass, auf einem sprung dazu zu sein, sich uns der ganze grat erwandert, all dem langen klingen diese schneide, wie mir plötzlich aufblitzt, aus welcher vollen kehle schlucht: jetzt hat das ganze land sich auf meine spitze so getrieben, wird erschlossen das auf der letzten zunge liegen hier? […] (Salz, S. 16)
Mit zwei Beispielen aus dem poetologischen Diskurs sei noch angedeutet, dass er nicht nur um Trakls poetische Verfahrensweise kreist, sondern an Hand von Trakl auch auf grundsätzliche Fragen der Funktion von Literatur allgemein bzw. innerhalb bestimmter gesellschaftlich-politischer Konstellationen eingeht. Es handelt sich um die Beiträge von Gerhard Amanshauser (›Schwarze Magie‹)27 und Helmut Eisendle (›Metaphern & Gefühle. Gedanken über Georg Trakl‹)28 im Band ›Antworten auf Trakl‹. An Trakl hat Amanshauser ganz persönlich die Widerständigkeit der Literatur gegen die »soziale Dressur« (Antworten, S. 11) sowie gegen »die Kausalketten und Abläufe des ideologischen und ökonomischen Betriebs« (Antworten, S. 12) erfahren. Und im Sinne ideologiekritischer Positionen verweist er auf das prominente Beispiel Franz Fühmanns, der Schwierigkeiten hatte, seinen nonkonformistischen Trakl-Essay im doktrinären Literaturbetrieb der DDR zu veröffentlichen. Amanshauser beklagt allerdings auch, dass Trakl heute das kritische Potential seiner »schwarzen Magie« weitgehend verloren habe, weil man ihn »eingemeindet«, d.h. seine Lyrik »neutralisiert und konvertierbar gemacht« hat (Antworten, S. 13). 27 28
Gerhard Amanshauser: Schwarze Magie. In: Antworten, S. 11–13. Helmut Eisendle: Metaphern & Gefühle. Gedanken über Georg Trakl. In: Antworten, S. 23–33.
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Helmut Eisendle wiederum sieht Trakl als Modell für eine Funktion von Literatur, die an die von Odo Marquard in den achtziger Jahren entwickelte »Kompensationstheorie« erinnert. Die »von der Gesellschaft geforderte und alles überschüttende materielle Produzierbarkeit und Profitabilität« erzeugt ein »Sinndefizit«, das die Literatur aufheben kann. Und Georg Trakl scheint Eisendle »besonders geeignet«, »das übliche Sinndefizit mit seiner Gefühlsmetaphorik wettzumachen oder – zumindest bei der Lektüre seiner Werke – zu kompensieren.« (Antworten, S. 23) Er möchte Trakl darin folgen, »entgegen unserem Zeitgeist zumindest ein Gefühl zu erzeugen.« Denn seiner Meinung nach macht »gerade die Stimmung, das Gefühl einen Gutteil von Trakls Dichtung« aus. »Über seine Gefühlswelt des Metaphorischen wird eine Erinnerung ausgelöst, die wir nicht haben, doch aber uns vorstellen können.« (Antworten, S. 24) Wenn wir uns schon nicht »in die Gefühlswelt eines Georg Trakl«, die von »Melancholie oder tristesse« geprägt war und in seiner Lyrik ihren Ausdruck fand, hineinversetzen können, so lasse sich wenigstens ein »vergleichbarer Nenner« zur eigenen Gefühlswelt finden. Als Beispiel dafür bringt Eisendle einen Zyklus von Gedichten, die er unter dem Titel ›Landschaften für den täglichen Gebrauch‹ zusammen gefasst hat. Wenn Lyrik bei ihm »aus einem bestimmten Sinndefizit« heraus entsteht, das ihn »in eine Stimmung bringt, die eben die und nur die Form von Literatur zuläßt«, so verdanke er diese Gedichte »einem Spaziergang durch das Rosandratal« anlässlich seines Aufenthalts »im Friaulischen und in Triest«, wo ihn »Zeit und Ort verführt« hätten, »Gedichte in der Gefühlswelt eines Georg Trakl« zu schreiben, »ohne direkt an ihn zu denken« (Antworten, S. 25). Hier eines dieser Gedichte, das neben den Farbadjektiven vor allem mit der Ist-Prädikation der Eingangszeile an Trakl erinnert: 3. Karst Es ist ein Feld voll grüner Dunkelheit und Nässe, ein blauer Berg im weißen Himmelsgrund. Dazwischen lange, heiße Lüfte. Ich stehe vor dem kahlen Fels, der blutigrot die Erde brüchig färbt. (Antworten, S. 26)
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ad b) Die biographische Formation Was den Rekurs auf die Biographie Trakls betrifft, gibt es offenbar gewisse Stereotype, die sich, wie bei anderen kanonisierten Autorinnen und Autoren auch, quasi zu einem »Image« verfestigt haben. Dazu gehören bei Trakl der Hinweis auf seinen Drogenkonsum, auf die vermutete inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester sowie auf die Umstände seines Todes. Ebenso zementiert scheint das Bild von Trakl als einem poète maudit, den Bettina Balàka (›Die finsteren Dörfer der Kindheit‹)29 in der Pose Trakls auf einem Foto zu erkennen meint. Sie, die sich Trakl, bevor sie Näheres über sein Leben erfahren hat, immer als »bärtigen, brünetten Herrn […] (eine Mischung aus Peter Rapp und heiligem Christophorus), vielleicht mit einem kleinen Wohlstandsbauch« (Salz, S. 9) vorgestellt hat, schreibt ihm jetzt alle Attribute dieses Dichtertypus zu, den er »ohne Rücksicht auf Verluste (eigene wie fremde) verkörperte«: Der poète maudit ist arrogant und lebensüberdrüssig zugleich, verachtet die bürgerliche Gesellschaft und wird von ihr ›verfemt‹, steht über den Dingen und wird von ihnen zermalmt, leidet viel und stirbt tragisch und jung. Die Liste der Ingredienzien, mit denen er sein Schicksal würzt, beinhalten: Drogenräusche, Zechgelage, exzessive Bordellbesuche […], Irrsinn, Depression, Bankrott, Selbstzerstörung, Weltekel, Gewalt, Skandale und – so diesem nicht durch Krankheit oder Unfall vorgegriffen wird – natürlich Selbstmord. (Salz, S. 10)
Interessant ist in diesem Zusammenhang die oft damit verknüpfte Reflexion über das Verhältnis von Schriftsteller und Gesellschaft bzw. über bestimmte existentielle Dispositionen des Schreibens. Trakls Außenseitertum, seine Schwierigkeiten mit einem bürgerlichen Leben, seine Versuche, der Normalität zu entgehen, sein moralischer Ekel vor sich und der Welt, seine psychischen Leiden und schließlich die Konfrontation mit Leiden und Tod im Krieg scheinen ihn zum Modell einer poetischen Existenz werden zu lassen. So hat beispielsweise die Tiroler Autorin Barbara Aschenwald in ihrem Beitrag für das Trakl-Heft von ›Salz‹ unter der Überschrift »Rückgewinnung von Unschuld«30 in einer Verbindung von Prosa und Lyrik den Versuch unternommen, auf der Folie von Trakls Bio29 30
Bettina Baláka: Die finsteren Dörfer der Kindheit. In: Salz, S. 8–10. Barbara Aschenwald: Rückgewinnung von Unschuld. In: Salz, S. 7f.
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graphie, allerdings unter Ausblendung aller Daten und Fakten, eine sensible Introspektion in seine Innenwelt zu imaginieren, die für Übertragungen und Verallgemeinerungen offen gehalten wird, d.h. die Leserinnen und Leser können darin auch eigene Erfahrungen reflektieren. Ermöglicht wird das durch eine bildhaft-metaphorische Sprache, zum Teil aus Trakls Vokabular entlehnt, die sich mimetischen Verweisen entzieht. Erkennbar werden die Konturen eines von Unruhe und Grenzerfahrungen getriebenen Bewusstseins, das einerseits in Todessehnsucht umschlägt (der Text beginnt mit den Zeilen »Vom Friedhof her winkt das leichte Leben / er gibt seine Hand der Tödin / wegen der unsterblichen Liebe«), andererseits, wie im folgenden Ausschnitt, um den poetischen Ausdruck dieser Erfahrungen und Zustände ringt: Von hoch oben im Äther die Stimme Gottes tropft in kleinen Wörtern herunter. Die Glaskugel zerplatzt in der schweren Brust und schüttet Schmerz aus in den Körper. Zuckende Lichtblitze pfeifen durch die Ohren und Augen. Noch näher geht es fast nicht mehr. Noch weiter weg geht es fast nicht mehr. Wohin führt das, die Fragen bleiben da und lassen sich nicht auslöschen. Gottes Hauch am Ohre und jäher Abgrund, zerschlägt sich die Form. Plötzlich Ruhe. Kein Gedanke mehr, der Kopf hat aufgegeben, aber das Herz nicht. Ein Menschenkörper hält viel aus. Mehr, als man manchmal will. Ein Lichtstrahl projiziert sich aufs Papier, quer durchs Auge. Und die Tinte rinnt wie aus einer offenen Wunde. Danach tut das Leben wieder gut. Von Zeit zu Zeit muss man sich selbst aushalten, aber immer kann man das nicht, die Wörter Gottes rinnen dahin. Es leert sich der Kopf und füllen sich die Blätter mit bitterem Witz. Vor lauter Angst vorm Tod am liebsten sterben wollen. So sinkt der Mensch auf den Grund seines Wesens und träumt vom Schlaf. (Salz, S. 7)
Nicht nur nach Innen, sondern auch in weiten konzentrischen Kreisen nach Außen geht Marie-Thérèse Kerschbaumer in einem sehr inhaltsreichen, im Vergleich zu ihrem dichterischen Werk traditionell anmutenden und mit panegyrischen Elementen durchsetzten TraklPorträt im ›Salz‹-Heft.31 Sie sieht Trakls Leben und Werk vor den zeitlichen Tiefenräumen der europäischen Geschichte und Kultur, die sich in besonderer Weise in den architektonischen Erinnerungsräu-
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Marie-Thérèse Kerschbaumer: Georg Trakl. In: Salz, S. 34–41.
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men der Stadt Salzburg manifestieren, die auf Trakl gewirkt haben. Trotz dieser historisch-kulturellen Kontextuierung lässt sie jedoch gleich zu Beginn keinen Zweifel daran, dass Trakl für sie auch die essentiellen Eigenschaften großer Dichter besitzt: Ihn kenne ich tief und betrübt, daß ich nicht sein kann wie er, einsam bedacht, in Gedanken, bescheiden und groß, wie die ganz Großen sind, allein, solitär, gescheut, gewußt und gemieden. Weil es zu viel ist, was er sieht (und wir nicht sehen) und in Klang und in Worte setzt, die schwarz rot blau grün leuchtend vergehende Welt, gemessen in Zeit, in ihr Wehen, o unser Bedauern, ein Wissen vom Leben in allen Wesen und Dingen, Leben heißt wissend vergehn. Wissend. Es ist die Bürde des Dichters, alles Dichtens, sehend sein in ganz jungen Jahren. (Salz, S. 34)
Kerschbaumer unterstreicht zum einen Trakls Sonderstellung als »protestantischer Schüler in einer erzkatholischen Stadt«: »das ist kein Urteil, das ist eine Position« (Salz, S. 34). Allerdings verdanke Trakl gerade dieser protestantischen Sozialisierung seine sprachliche Sensibilität, denn: Er hat viel Lesen, laut Lesen gelernt, wie es seit Martin Luther den Protestanten beiderlei Geschlechts geboten, daß das Volk die Heilige Schrift in der Lutherischen Übersetzung lesen und auslegen lernt. Daher kommt auch diese letzte große Stufe der Sprachkunst des südlichen Teiles des deutschen Sprachraums, Wort und Schrift geworden in der Dichtung Georg Trakls. (Salz, S. 39)
Zum anderen hebt sie Trakls Empathie mit den sozialen Unterschichten und seine Mitleidsfähigkeit hervor: Ein begabter Schüler, allein mit seiner Frühreife als Dichter, allein mit seiner Hilflosigkeit für ein geordnetes, untergeordnetes Leben als Kind bescheidener Leute. Allein mit seinem Mitgefühl für die Armen, die Bauern, seinen eigenen Vater […], mit seinem Blick für das todgeweihte Leben, das er liebt, die Armut, die er kennt, nicht verachtet, die Krankheit, die er weiß und sich ihrer erbarmt. (Salz, 40)
Mit dieser Akzentuierung versucht Kerschbaumer, und diese Tendenz schlägt auch an anderen Stellen durch, die mit dem Etikett des poète maudit verbundenen negativen Konnotationen, wie sie Bettina Balàka aufgeführt hat, in einem anderen, milderen Lichte zu sehen. So meint sie auch bezüglich der Gedichte Trakls, der für sie »unerreicht, un-
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vergleichbar« ist, dass »bei genauem Lesen […] das Düstere« verschwinde und »sein Intellekt, die große Begabung, die Schönheit seines Werkes« hervortrete (Salz, S. 40). Und in diese Richtung weist auch Kerschbaumers panoramatische Schlusswürdigung Trakls, die gewisse apologetische Züge nicht verbergen kann, wenn es heißt: Er sah sich außerstande, sein Leben nach den Umständen seiner Herkunft (seines Standes) zu bewältigen. Darin und in der Klarsicht ins Dunkle des Lebens ist er dem Dichter Norbert Conrad Kaser vergleichbar. Die Visionen in seinen Gedichten aber sind mehr als Spuren von Drogen-Träumen und anderen Lastern. Sein Werk ist die vollendete Dichtung eines jungen Mannes, wie Sebastian ein Krieger, notgedrungen, das heißt durch Not, Gesetz, Geschichte und Schicksal in den Krieg gezwungen, begabt mit dem Jahrtausendgedächtnis von Salzburg, Abtei und Gebirgsstadt auf römischen Ruinen, die Sagen spätantiker, norischer, gotischer Zeit blicken aus den Renaissance-Gräbern von Sankt Sebastian, den barocken Skulpturen, Reliefs und Säulen hinter geschmiedeten Gittern des Landes auf ihn, der vorbeigeht, und es weiß und nicht weiß. (Salz, 40)
ad c) Die autobiographische Formation Erwin Einzinger, der 1977 den Trakl-Förderungspreis erhalten hat und in beiden Anthologien vertreten ist, rollt in ›Antworten auf Trakl‹ sein Verhältnis zu Trakl entlang verschiedener Situationen und Erinnerungen aus seiner eigenen Biographie auf, die sich in bestimmten assoziationsgeladenen Stichwörtern (z.B. »Straßen«, »Landschaften«, »Brot«, »Wörter«, »Zeit«, »Rhythmus« usw.) am Beginn der einzelnen Abschnitte seines poetisch-essayistischen Textes verdichten.32 Trakl scheint für Einzinger ein Autor zu sein, an dem er seit seiner Schulzeit und erst recht als Student in Salzburg aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nicht vorbeikommen konnte. Anekdotische Zeugnisse dafür: das heimliche Abtippen von Lieblingsgedichten auf der Schreibmaschine des Vaters mit rotem Farbband, unter denen sich auch Traklgedichte befanden; der nachhaltige Eindruck des Traklbildes auf dem Umschlag der Buchgemeinschaftsausgabe von ›Der Herbst des Einsamen‹ (»Ich erinnere mich an die riesigen Nasenlöcher, den Blick – sehr ernst, auch trotzig? Oder abwesend? Ein stumpfer, abweisender Pavian?«) oder das Auswendiglernen des Gedichts 32
Erwin Einzinger: Linien, Wind. In: Antworten, S. 34–40.
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›Verklärter Herbst‹ in der Hauptschule, »eins von nur drei Gedichten, die ich bis heute Wort für Wort nicht vergessen habe.« (Antworten, S. 35) In Salzburg wohnte Einzinger als Student »etwa ein zwei Steinwürfe von dem Haus, in dem zu Beginn des Jahrhunderts Trakls Apotheke war. Erstes Schreiben, bald darauf die Literaturgruppe. Wir begannen mit unseren regelmäßigen Treffen und Lesungen, erhielten eine erste Unterkunft und einen Veranstaltungsraum im Traklhaus, ohne daß wir uns besonders bewußt waren – oder doch? –, wer hier unter welchen Umständen und wie gelebt hatte.« (Antworten, S. 35) Es war also gar nicht anders möglich, in Salzburg zu leben und zu schreiben, »ohne dabei in irgendeiner Weise ein – wenn auch noch so gebrochenes – Naheverhältnis zum Dichter Georg Trakl zu haben« (Antworten, S. 35). Allerdings wird der Versuch zu bestimmen, worin diese Nähe bestanden hat, von Einzinger problematisiert, wie er auch die generellen Schwierigkeiten anspricht, sich von einem anderen Autor ein »Bild« zu machen oder sich in anderen Dichterexistenzen selber zu reflektieren. Dennoch wird an zwei Punkten relativ deutlich, was Einzinger als Autor an Trakl besonders fasziniert: Zum einen ist das, wie schon bei Franz Josef Czernin, seine poetische Verfahrensweise. Einzinger dazu: Was mich auch heute an manchen seiner Gedichte noch so unmittelbar anspricht: die Art, wie es ihm um ein Setzen von Bildern ging, wie er mit einem recht begrenzten Material herumgebaut hat, bis dieses Leuchten da war, vor dem man nur verstummen kann. Und wo er scheinbar ganz einfach reiht, nebeneinandersetzt, trifft er mich am direktesten. (Antworten, S. 36)
Und zum anderen ist es die Betroffenheit von Trakls Lebensumständen, seiner Orientierungslosigkeit und Unentschlossenheit im Hinblick auf eine berufliche Laufbahn bis hin zu seinem »endgültigen Zusammenbruch« »nach der Schlacht bei Grodek« (Antworten, S. 37), zu einem Zeitpunkt, da seine materielle Existenz durch die finanzielle Stiftung Wittgensteins für Jahre hinaus gesichert schien. Ähnlich wie Barbara Aschenwald unternimmt auch Einzinger in dem Abschnitt, den er mit dem Stichwort Zeit versieht, einen poetisch äußerst sensiblen Versuch, inneren und äußeren Zuständen und Befindlichkeiten Trakls Konturen zu verleihen. Insgesamt fällt jedoch sein Resümee, sozusagen Rechenschaft über die Bedeutung Trakls für ihn als Mensch, Leser und Schriftsteller abzulegen, sehr zwiespältig aus:
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Betrachtung. Ich biß ein wenig Haut vom Rand des rechten Daumens, bevor ich weiterschrieb: Wie müde und überdrüssig bin ich der Mystifikationen und Deutungen geworden im Hinblick auf Lebensumstände und Dispositionen, die jemanden zum sogenannten literarischen Ausdruck »drängen«! So auch beim Nachdenken über Trakl dieses Schwanken zwischen einem Interesse, das schon allein deshalb naheliegt, weil man die eigene Lage vor wenn auch noch so verzerrten Spiegelungen in anderen Schriftstellerleben ebenfalls anders oder klarer, nüchterner zu sehen hofft … – und dem Angewidertsein, weil doch jedes Ich immer auch unübertragbar bleibt und nur das eigene da ist, womit man es in letzter Konsequenz zu tun hat. (Antworten, S. 38f.)
Diese Ambivalenz zwischen Faszination auf der einen und notwendiger Distanz bzw. Emanzipation auf der anderen Seite wird in Einzingers Beitrag für das ›Salz‹-Heft noch deutlicher. Allerdings verzichtet er hier auf die Intensität einer poetischen Ausgestaltung seiner Reflexionen und geht mit leichterem Gepäck an die Aufgabe heran. Das zeigt bereits die Überschrift ›Toller Hund, ödes Feld‹33 und die Episode, auf die sie anspielt: In einer Fernsehsendung konnte Einzinger nämlich einen »Möchtegernschauspieler« beobachten, der »auf dem Rücken seines Leibchens« die Schriftzüge »TOLLER HUND, ÖDES FELD« trug, die er mit Verblüffung beim späteren Blättern in seiner Traklausgabe als Zitat aus dem Gedicht ›Ein Frühlingsabend (I)‹ identifizieren konnte, deren zweite Zeile lautet: »Ein toller Hund läuft durch ein ödes Feld« (Salz, S. 20). Dieses doch etwas ausgefallene Zeugnis einer Trakl-Rezeption dürfte es Einzinger aber insofern angetan haben, als doch seine eigene Lyrik von Elementen der Pop-Art bzw. der Alltagslyrik beeinflusst ist, in der sich Kunst und Banalität vermischen. Und diesen Bezug zur Schreibsituation in Tuchfühlung mit alltäglichen Wahrnehmungen bzw. in diesem Fall das ironische Aufeinanderprallen von Literatur und Alltag demonstriert er dann auch in seinem Text zu Trakl, vielleicht um gleich nochmals zu zeigen, wie die weltenthobene Dichtung in triviale Kontexte hineinspielen kann – siehe eben das T-Shirt mit der Traklzeile. Das Aufjaulen eines Nachbarn, der ihn sichtlich durch sein Herumhämmern bereits längere Zeit genervt hat und der sich jetzt offensichtlich mit dem Hammer auf den Finger geschlagen hat, findet seine erstaunliche Koinzidenz mit den kurz zuvor gelesenen Zeilen eines bretonischen 33
Erwin Einzinger: Toller Hund, ödes Feld. In: Salz, S. 20f.
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Dichters, bei dem er die Zeilen »Sonne! Auf welche Wunder und Geheimnisse scheinst du hernieder!« und die »Formulierung biblisches Geheul« gefunden hat (Salz, S. 20). Diese Verbindung von hoher Literatur und banaler Alltäglichkeit bestimmt auch den weiteren Gestus des Textes und befreit ihn vom Zwang oder Erwartungsdruck, zu einer so »schönen, aber unverständlichen« Dichtung wie der Georg Trakls etwas ebenso »Schönes und Unverständliches«, jedenfalls etwas Komplexes und Tiefsinniges zu sagen. Und so lässt Einzinger am Schluss, nachdem er Anekdotisches aus seinem ersten Text wiederholt hat, die Frage offen, was denn Trakl in einem Schüler, der zwar seine Gedichte abgetippt hat und dessen »Sprache […] sicherlich ungewöhnlich und feierlich« gefunden hat, sich aber mehr für den »Lukullus«, die »Fleischhauerzeitung, die [s]eine Mutter vom Einkaufen mitbrachte«, interessierte und den »eher Karl May-Romane begeisterten«, »bewirkt« oder »geweckt haben« mag. Denn seine Antwort darauf lautet: »Ich weiß es nicht, aber die Frage habe ich mir schon öfters gestellt.« (Salz, S. 21) ad d) Die poetische Formation Die begrifflich-reflektierende Auseinandersetzung mit Trakl und seiner Lyrik sowie mit seiner Wirkung auf den eigenen schriftstellerischen Werdegang oder das eigene Schreiben mag manchen Autorinnen und Autoren vielleicht als problematisch oder nicht angemessen erschienen sein, so dass sie sich entschieden haben, ihr »Zwiegespräch« mit Trakl in ein Gedicht zu kleiden und damit auch die Leserinnen und Leser, wenn sie es mit Blick auf Trakl lesen und intertextuell zu interpretieren versuchen, in dieses Gespräch einzubinden. Ich habe aus dieser poetischen Formation des Trakl-Diskurses drei Beispiele ausgewählt, mit denen auch unterschiedliche Verfahrensweisen der österreichischen Gegenwartslyrik vertreten sind: C.W. Aigner, Hans Raimund und Ferdinand Schmatz. Die beiden Gedichte von Christoph Wilhelm Aigner, die das ›Salz‹-Heft eröffnen, ›Die schöne Stadt‹ und ›Hafenstadt in den Voralpen‹ (Salz, S. 6), stellen nach meiner Lesart die Reminiszenz zu Trakl auf einer thematisch-motivischen Ebene her. In ersterem Gedicht nimmt Aigner zwar einen Gedichttitel Trakls und den damit verbundenen Bezug zu Salzburg auf, gestaltet es jedoch ohne das Traklsche Vokabular zu strapazieren. Mit der für ihn typischen lakonisch
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komprimierten Sprache deutet er die Vision eines Untergangs an, in den sich das lyrische Ich selbst involviert. Das zweite Gedicht schließt hier an, wenn es vom Ende eines »Sommers« spricht, das mit der Vorstellung, dass »Wasser / zwischen die Berge geflossen« ist, jene apokalyptischen Züge gewinnt, die bereits der Titel »Hafenstadt in den Voralpen« evoziert und die mit dem Motiv des Wassers und des Schiffbruchs in Trakls Gedicht ›Vorstadt im Föhn‹ korrespondieren.34 Jedenfalls entfalten die Zweizeiler – vielleicht wie bei Trakl die vierzeiligen Strophen eine Manier Aigners – eine surreale Szenerie, in der die »Umarmung des Hafens« zumindest ambivalent bleibt, die Gefahr noch nicht gebannt ist (»Wendige Fregatten / suchen Rettungsanker«) und am Ende der Stillstand zementiert wird, die Option auf eine Ausfahrt, wofür immer sie steht, vorüber ist: »Unser Sonnendeck geschlossen / Die ganze Flotte abgetakelt« (Salz, S. 6). Hans Raimund markiert da die Intertextualität zu Trakl schon deutlicher: Er stellt seinen drei Gedichten, die er mit der Überschrift ›Improvisationen‹35 versieht, als Motto die Verszeile Trakls »O, wie lange bist, Elis, du verstorben«36 voran, gleichsam wie in der Musik die Melodie, über die in der Folge improvisiert wird. Im ersten Gedicht, ›Versickert zwischen Pflastersteinen‹ (Salz, S. 56), schlägt er über die Form eine strukturelle Brücke zu Trakls Gedicht ›Rondel‹. Und schließlich lassen sich im zweiten Gedicht ›Aus der Einsamkeit heraus‹ (Salz, S. 57) – auch ein Schlüsselmotiv Trakls – und im dritten Gedicht ›Elis dreht sich‹ (Salz, S. 57), wie das Motto schon ankündigt, Verbindungen zu Trakls lyrischer Figur des »Elis« herstellen. So könnte man in der Kreisbewegung des Raimundschen Elis, die sich, gekoppelt mit dem adaptierten Zitat »Regt / Die Arme schöner« aus
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Die vorletzte Zeile von Trakls Gedicht ›Vorstadt im Föhn‹, dessen Szenerie, getragen von Wasser-Motiven wie »Kanal«, »Fluß«, »Flut« und »Wassergräben«, eine endzeitliche Stimmung vermittelt, lautet: »Dann sieht man auch ein Schiff auf Klippen scheitern.« (Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. 6 Bände und 2 Supplement-Bände, BaselFrankfurt a. M. 1995ff., Band I, S. 573. Im Folgenden abgekürzt mit ITA, Band, Seite). Hans Raimund: Improvisationen. In: Salz, S. 56f. ITA II, S. 433.
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Trakls Gedicht ›An den Knaben Elis‹,37 nach dreimaliger Wiederholung als Bewegung in den Untergang entpuppt, eine Figuration der poetischen Existenz Trakls erkennen – man erinnere sich an das eben erwähnte Gedicht, das mit den Versen eröffnet wird: »Elis, wenn die Amsel im schwarzen Walde ruft, / Dieses ist dein Untergang.«38 Es ließe sich jedenfalls mit Raimunds Gedicht die Vorstellung assoziieren, dass sich Trakl in dem Angetriebenwerden zu dichterischer Imagination und ästhetischer Ausdrucksweise – er »regt die Arme schöner« wie Elis – in die paradoxe Situation manövriert hat, einerseits mit seinem poetischen Ich über ein festes Zentrum, über eine Mitte zu verfügen – »Ruhe / Reglos in der Mitte / Der Bewegung« entspricht der Attribuierung von Trakls ›Elis‹ als »ein Ruhender mit runden Augen«39 –, andererseits aber sich in dieser Kreisbewegung selbst zerstört hat: »Drehen biegt / Die Gerte / Bricht / Blut / Quillt aus / Den Schäften« (Salz, S. 57) – hier bietet sich eventuell eine Reminiszenz an folgende Verse aus Trakls ›An den Knaben Elis‹ an: »Laß, wenn deine Stirne leise blutet / uralte Legenden / und dunkle Deutung des Vogelflugs.«40 Dass sich, wie wir am Beispiel von Franz Josef Czernin bereits gesehen haben, auch Vertreter einer sprachreflektorischen oder experimentellen Lyrik für Trakl interessieren, bestätigt Ferdinand Schmatz mit seinem Gedicht »rondell,e / (echo: Georg Trakl)« (Salz, S. 60). Mit dem Untertitel schließt es an den dritten Teil seines Bandes »tokyo, echo oder wir bauen den schacht zu babel, weiter« an, der mit »dichtung, echo«41 überschrieben ist und Gedichte versammelt, in denen Schmatz den Nachklang von Autorinnen und Autoren in seiner eigenen poetischen Sprache widerhallen lässt, u.a. von Hölderlin und Ossip Mandelstam über Valadimir Nabokov und Friederike Mayröcker bis Paul Celan und Franz Kafka. Dabei sind es teils thematische oder atmosphärische Aspekte, teils poetische Bilder oder Verfahrensweisen, aus denen sich der intertextuelle Dialog entspinnt. Den Bezugs37 38 39 40 41
Im Gedicht ›An den Knaben Elis‹ lautet Vers 9: »und du regst die Arme schöner im Blau.« (ITA II, S. 433). ITA II, S. 433. ITA II, S. 454. ITA II, S. 433. Ferdinand Schmatz: tokyo, echo oder wir bauen den schacht zu babel, weiter, Innsbruck 2004, S. 105–140.
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text seines Trakl-Echos bildet, wie der Titel anzeigt, Trakls Gedicht ›Rondel‹. Zum einen entnimmt Schmatz diesem Gedicht das Motiv des Hirten – in der Mittelzeile des Traklschen Gedichts heißt es: »Des Hirten sanfte Flöten starben«42 – zum anderen die Bauform der Wiederholung und der Kreisstruktur. In dem knappen Selbstkommentar, den Schmatz dem Gedicht hinzufügt, wird jene Ambivalenz in seiner Beziehung zu Trakl deutlich, die auch im Gedicht selbst zu erkennen ist: »Trakl, der Hirt und der Wirt für mich, profaner Hüter wie heiliger Parasit, er bildet den Raum, gibt ihn frei, und lagert darin, Wortweide wie Weidewort, Schale wie Ei.« (Salz, S. 60) Die metaphorischen Apostrophierungen Trakls als »Hirt« und »Wirt« sind zunächst positiv konnotiert, die Appositionen »profaner Hüter wie heiliger Parasit« lassen diese Funktionen jedoch in einem problematischen Licht erscheinen. In Verbindung mit dem weiterführenden Bild der Weide (»Wortweide wie Weidewort«) ließen sich diese negativ besetzten Charakterisierungen vielleicht dahingehend deuten, dass sich Trakl, der selbst auf anderen »Wortweiden« parasitär unterwegs gewesen ist, seine eigene sehr wohl hütet, bewacht, denn, auch wenn er, wie es heißt, den »Raum frei gibt«, besetzt er ihn gleichzeitig (»lagert darin«), was sich auf den Autonomieanspruch der hermetischen Sprache Trakls beziehen ließe, mit dem auch das Bild vom »Ei« (er ist »Schale wie Ei«) korrespondiert. Im Gedicht selbst äußert sich dieses ambivalente Verhältnis zu Trakl vor allem in den refrainartigen Zeilen am Beginn, in der Mitte und am Ende, wo einerseits despektierlich von Abspeisung die Rede ist, wo sich andererseits aber die bedrohliche Geste der Stigmatisierung (»und kreuzt mir auf mit hand das mal«) in der letzten Zeile durch die Bedeutungsverschiebung von »mal« zu »mahl« in ein versöhnliches Bild verwandelt. Die Metaphorik der Zwischenstrophen (z.B. in Strophe 2: »dass auf geschlagen auge sirrt« oder in Strophe 4: »nach schlag beisst ab im wild«) lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass Trakls Lyrik Irritationen auslösen kann, die aus Betroffenheit oder Überwältigung resultieren können.
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ITA II, S. 53.
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3. Imitation – Reflexion – Irritation: Zum Wandel des Trakl-Bildes Abschließend seien die hier skizzierten Konturen eines Trakl-Diskurses in der österreichischen Gegenwartsliteratur noch kurz mit den Ergebnissen der eingangs bereits erwähnten Untersuchung von Andreas Hett ›Zum Nachleben Georg Trakls in der deutschen Lyrik‹ verglichen. Hett ist anhand lyrischer Portraitgedichte zu Trakl – exemplarische Analysen finden sich zu solchen Gedichten von Else LaskerSchüler, Albert Ehrenstein, Johannes R. Becher, Robert Walser, Johannes Bobrowski, Rose Ausländer, Ilse Aichinger und Erich Fried – dem ›Trakl-Bild im Wandel der Generationen‹ nachgegangen und hat dabei »Gemeinsamkeiten und tendenzielle Unterschiede« herausgearbeitet.43 Neben den Gemeinsamkeiten der Betonung einer »starke[n] Verflochtenheit von Leben und Werk Trakls«, auch im Sinne einer exemplarischen Dichterexistenz – manifest in Begriffen wie »Fremdling«, »Einzelgänger«, »Zweifler« –, gekennzeichnet vom »Empfinden der ständigen Gegenwart des Todes«, von »Einsamkeit« und »Selbstzweifel« sowie einer »seherischen Begabung«,44 Facetten also, die auch in den hier untersuchten Texten zu finden sind, gibt es nach Hett einen entscheidenden Unterschied: Die Imitation des Trakl-Tons und die mit Mythisierung und Stilisierung verbundene Wahlverwandtschaft mit Trakls Zeit- und Lebensgefühl, wie sie für die Nachkriegsgenerationen der beiden Weltkriege typisch gewesen ist, sind verschwunden. Es dominiert das Bewußtsein von der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit seiner Dichtung, die in den Portraitgedichten auf individuell unterschiedliche Weise »Betroffenheit« hervorruft.45 Damit wird Trakl zu einem interessanten Objekt der Auseinandersetzung, aber nicht mehr zur »poetischen Leitfigur«, der man die »Verehrung in deutlicher Nachempfindung der Verse« bekunden möchte, wie es noch in den Porträtgedichten der fünfziger Jahre weit verbreitet gewesen ist. »Sofern nicht schon die Wahl des Dichters als lyrisches Objekt für dessen Vorbildfunktion spricht, läßt sich hierin jedoch in fast allen Portraitgedichten auffallende Zurückhaltung feststellen. Der direkte Einfluß Trakls auf die eigene Dichtung wird sehr 43 44 45
A. Hett, S. 98–106. A. Hett, S. 98f. A. Hett, S. 102.
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selten expliziert.«46 Hett wirft in diesem Zusammenhang auch einen Blick auf die Anthologie ›Antworten auf Trakl‹ und diagnostiziert zu Recht eine gewisse »Skepsis, ja Scheu bei der Beurteilung Trakls als poetische[r] Leitfigur«. Ebenso wird man ihm zustimmen können, wenn er feststellt, dass die unverkennbare »Betroffenheit und Anteilnahme an Trakl […] den eigenen Schaffensprozeß nicht zu berühren bzw. gelegentlich sogar zu lähmen« scheint.47 Infragestellen möchte ich hingegen seine Hypothese, dass sich »Trakls Einflußnahme auf spätere Lyrik […] im wesentlichen auf Bereiche der Dichtung [erstreckt], in welchen der Dichter seinen Standort oder den des Menschen allgemein zu seiner Umwelt bestimmt«, also z.B. auf das Natur- und Landschaftsgedicht. Demgegenüber würde sich in »politischen, gesellschaftskritischen oder experimentellen Gedichten […] ein solcher Einfluß [d.i. die »in ihrer Rätselhaftigkeit faszinierende Sprache« Trakls als Modell für das »Ringen um Worte in der Dichtung«, W.W.] kaum äußern können.«48 Als Beispiel führt er die »Antworten auf Trakl« von Reiner Kunze49 und Ernst Jandl an, der bemerkt, dass »bisher keines meiner Gedichte zu einem Gedicht von Georg Trakl in Beziehung gebracht« wurde (Antworten, S. 73). Demgegenüber haben die Texte von Czernin und Schmatz gezeigt, dass sich auch die sprachexperimentelle Lyrik sehr wohl für Trakl interessiert, ja dass sie ihn wie Czernin sogar zum Vorläufer dieser Lyrik erklärt – übrigens ähnlich wie H. C. Artmann im Interview mit Hans Weichselbaum, wenn er zu Trakl meint: »Er war […] für mich immer etwas, das auf Neues deutet. Er war für mich nicht dekadent, sondern bedeutete einen Aufbruch zu neuen Formen.« (Antworten, S. 48f.) – Vielleicht liegt hier doch, trotz Jandls distanzierendem Statement, eine speziell österreichische Variante der Trakl-Rezeption vor. Und was den politischen und gesellschaftskritischen Aspekt betrifft, so haben wir zwar kein Beispiel in der poetischen Formation gefunden, aber in der poetologischen Formation ist in den Äußerungen von Amanshauser und Eisendle deutlich gewor46 47 48 49
A. Hett, S. 103f. A. Hett, S. 103. A. Hett, S. 105; eingeschobenes Zitat S. 104. Reiner Kunze schließt sein kurzes Schreiben mit den Worten: »Bitte, entschuldigen Sie mich – es tut mir leid. Um über Ihre Frage angemessen nachdenken zu können, fehlt mir die ›innere Zeit‹. Natürlich war (ist) das Werk Trakls bedeutsam! – Seien Sie herzlich gegrüßt« (Antworten, S. 78).
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den, dass die Auseinandersetzung mit Trakl auch im Kontext gesellschaftskritischer Konzepte erfolgen kann – und mit Erich Frieds Gedicht ›Trakl-Haus, Salzburg‹50 liefert Hett ja selber ein Beispiel dafür. Wenn Hett mit dem Fazit schließt, dass, wenngleich die »(lyrische) Rezeption […] ihren Zenit (fünfziger bis sechziger Jahre) gewiß schon überschritten hat«, »die Gestalt Trakls […] ihre einzigartige Faszination nicht eingebüßt« hat und dass sich auch heute noch, wie einst die »jungen Schriftsteller Österreichs unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg«, denen »die Stimme Georg Trakls unüberhörbar und unvergeßlich geworden ist«, Autorinnen und Autoren von »Trakls Gedichten treffen« lassen,51 so kann auch der hier skizzierte Trakl-Diskurs in der österreichischen Gegenwartsliteratur dieses Phänomen in seiner Differenziertheit veranschaulichen. Abschließend sei noch auf Alfred Kolleritsch verwiesen, der 1987 den Trakl-Preis erhalten hat. Diese Auszeichnung hat allerdings nichts mit Bezügen seiner Lyrik zu Trakl zu tun, was auch keine Voraussetzung für diesen Preis sein muss.52 Kolleritsch stellt im Gegenteil den Einfluss Trakls auf ihn in Abrede: »Die Lyrik Trakls hat mich insofern nicht beeinflußt, als sie in sich so vollkommen und unwiederholbar war, daß ich immer ein bisserl Angst gehabt habe vor diesem Werk und vor allem vor den vielen Trakl-Epigonen, die sich daraus bedient haben wie aus einem Steinbruch.« Und er schließt sein kurzes Statement mit der Betonung des Unterschieds zwischen ihm und Trakl; denn ihm gehe es darum, »den Prozeß des Schreibens ins Gedicht mit hinein zu nehmen. Das findet sich bei Trakl überhaupt nicht. Seine Lyrik erinnert mehr an eine surrealistische Welt.« (Antworten, S. 77) Kolleritsch veranschaulicht damit ein Phänomen, das nicht unerwähnt bleiben soll, dass nämlich einige Autorinnen und Autoren nicht nur den Einfluss Trakls auf ihr Schreiben dezidiert in Abrede stellen, sondern auch auf eine eingehendere Auseinandersetzung mit Trakl
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Erich Fried: Das Nahe suchen. Gedichte, Berlin 1982, S. 62. A. Hett, S. 105f. Über die ›Neuordnung und Kontinuität (1977–1997)‹ des Trakl-Preises heißt es in dem Band zu seiner ›Geschichte und Dokumentation‹: »Der Trakl-Preis sollte in jedem Fall ein lyrisches Werk in Qualität und (möglichem, aber nicht verpflichtendem) Trakl-Bezug anerkennen« (Hans Weichselbaum: Im Namen des Dichters. 45 Jahre Georg-Trakl-Preis für Lyrik – Geschichte und Dokumentation, Salzburg 1998, S. 27).
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verzichten, um sich auf die respektvolle Verbeugung vor ihm zu beschränken.53 Anhang Verzeichnis der Gedichte von Georg Trakl, die in den Beiträgen der Anthologien ›Antworten‹ und ›Salz‹ genannt werden oder aus denen zitiert wird, nach der Anzahl ihrer Nennungen: Grodek (10 ×) Rondel (5 ×) Die schöne Stadt (4 ×) Helian (4 ×) Klage (II) (4 ×) Verklärter Herbst (4 ×) Sebastian im Traum (3 ×) Verfall (3 ×) Elis (2 ×) Ein Winterabend (2 ×) Musik im Mirabell (2 ×) Nähe des Todes (2 ×) Psalm (2 ×) Traum und Umnachtung (2 ×) Vorstadt im Föhn (2 ×) Einmal-Nennungen: Abendland, Abendlied, An die Schwester, An einen Frühverstorbenen, Das Herz, Am Moor, Die Bauern, Die junge Magd, Die Sonne, Drei Träume, Ein Frühlingsabend (I), Frühling der Seele (II), Herbstseele, Im Osten, In ein altes Stammbuch, Karl Kraus, Kaspar Hauser Lied, Kindheit (II), Landschaft, Nachtergebung, Nachtseele, Offenbarung und Untergang, Passion, Romanze zur Nacht, Seele des Lebens, Siebengesang des Todes, Sonja, Untergang, Verwandlung, Verwandlung des Bösen, Vorhölle, Zu Abend mein Herz
53
Nach Auskunft von Hans Weichselbaum, der für das Zustandekommen der beiden hier ausgewerteten Anthologien zu Trakl wesentlich verantwortlich zeichnet, hat es allerdings keine explizite Verweigerung einer »Antwort« auf Trakl gegeben.
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Vorwort