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German Pages 567 [568] Year 2012
Klaus Garber Wege in die Moderne
Klaus Garber
Wege in die Moderne Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie Herausgegeben von Stefan Anders und Axel E. Walter
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028826-1 e-ISBN 978-3-11-028863-6
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%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen *HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Teil I
Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne. Ein historiographischer Konspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Absolutismus, Adelskultur und kritische Theorie der ›feudal-absolutistischen‹ Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Historischer Gehalt von Gattungen – Der Beitrag der Verfassungsgeschichte: Das Werk Otto Hintzes – Staatstheorie und Absolutismus – Grenzen des Ansatzes – Alteuropäische Wende: Der Wiederaufstieg der Stände – Nochmals die Stimme Otto Hintzes – Alteuropäische Adelswelt: Der Beitrag Otto Brunners – Land und Herrschaft – Adeliges Landleben und europäischer Geist – Das Alteuropa der ›longue durée‹: Ein Blick in die Arbeiten von Dietrich Gerhard – Absolutismus, Etatismus und Totalitarismus: Kurt von Raumers kritisches Werk der Reinigung – Ein Votum aus dem angelsächsischen Raum: F.L. Carstens ›Princes and Parliaments in Germany‹ – Ein Versuch der Vermittlung: Umrisse des Absolutismus im Werk von Rudolf Vierhaus – Integration des marxistischen Ansatzes in das Forschungs-Tableau: Ein Blick in die Frühschriften von Karl Marx – Kritik der Hegelschen Staatstheorie – Janusgesicht des absoluten Fürstenstaats – Zeitgeschichtliche Diagnostik am Beispiel Frankreichs – Deutsche Verspätung – Schwache dritte bürgerliche Kraft in der Moderne – Studien zum Feudalismus und Absolutismus in der DDR: Gerhard Heitz und seine Schule – Ausblick
Teil II Absolutismus und Konfessionalismus – Kulturpolitik und Literatur. Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung . . . . . . . . . . . . 61 1
Faktoren der klassizistischen Dichtungsreform im Deutschland um 1600 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
2
Beginn mit Martin Opitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
2.1
Der junge Martin Opitz. Umrisse einer kulturpolitischen Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Theoretisches Prolegomenon: Werk und Nachgeschichte – Stationen der Opitz-Rezeption – Rolle des Calvinismus – Historische Physiognomie Schlesiens – Aufstieg
VI
Inhalt aus kleinbürgerlichem Milieu – Das Geschlecht der von Schoenaichs – Das Gymnasium Schoenaichianum zu Beuthen an der Oder – Eine irenische Stiftungsurkunde im Zeichen des ›vhraltten Catholischen Christlichen Glaubens‹ – Professores pietatis et morum – Die Gestalt Caspar Dornaus – Dornaus Antrittsrede ›Charidemus‹ – Frankfurter Interim – Aufbruch nach Heidelberg – Die Pfalz mit der Heidelberger Residenz als Vorhut des Calvinismus – Profile im Umkreis des Kurpfälzischen Hofes – Schlesisch-pfälzischer Brückenschlag – Der Heidelberger Dichterkreis im Zeichen von Späthumanismus und Calvinismus – Janus Gruter und Georg Michael Lingelsheim – Paul Schede Melissus – Petrus Denaisius als politischer Publizist – Friedrich Lingelsheim und der jüngere Heidelberger Dichterkreis – Julius Wilhelm Zincgref und seine Anthologie im Anhang zu Opitzens ›Poemata‹ von 1624 – Der Aufbruch des Pfälzer Kurfürsten nach Prag in konfessionspolitischer Perspektive: Luthertum und Calvinismus – Dialektik der Pfälzer Böhmen-Politik – Die verlorene Schlacht am Weißen Berg als historische Wende von europäischer Dimension – Politische Publizistik im Umkreis des ›Winterkönigs‹ – Das Zincgrefsche ›Epos‹ auf den Pfälzer Kurfürsten – Zincgrefs ›Quodlibetisches Weltkefig‹ – Opitzens ›Oratio ad Fridericum Regem Bohemiae‹ – Aufbruch ins Exil
2.2
Ständische Kulturpolitik und ländliche Poesie. Ein Auftakt zum Arkadienwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Theoretisches Prolegomenon: Umgang mit Gattungen und ›Topoi‹ – Einsatz mit Martin Opitz – Der ›Aristarchus‹ als kulturpolitisches Manifest – Kulturpolitische Seitenthemen in Opitzens ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ – Der fürstliche Gründer der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ als Adressat der Gedichte von 1625 – Das poetische Gegenstück: Opitzens Landlebengedichte und die ›Nimfe Hercinie‹ – ›Lob deß Feldtlebens‹: Fischart und Opitz als eigenständige Schüler des Horaz – ›Zlatna‹: Die gedächtnisstiftende Schrift in der Hand des gelehrten Dichters – Die ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹: Der Musen verewigendes Vermögen
2.3
Im Zentrum der Macht. Martin Opitz im Paris Richelieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Frankreich unter Richelieu – Opitz ›auf diesem politischen Schauplatze‹ – Forum der ›Noblesse de robe‹: Das Pariser Parlament – Standespolitische Debatten im Umkreis der ›Etats généraux‹ – Bündnis mit dem Königtum. Die Rolle der ›politiques‹ – Gallikanismus und Royalismus – Geistiges Kräftefeld des Späthumanismus – Der Vater Jacques-Auguste de Thous: Christofle de Thou – Portrait Jacques-Auguste de Thous – Späthumanistisches Vermächtnis de Thous im Spiegel einer deutschen Übertragung von Zacharias Geizkofler – Die frères Dupuy und ihr ›Cabinet‹ – Charakteristik der ›Collection Dupuy‹ – Der Vater der Gebrüder Dupuy: Claude Dupuy – Im Dienst der Krone: Die Gebrüder Dupuy – Opitz im Umkreis der Dupuys
3
Der Nürnberger Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz. Soziale Mikroformen im schäferlichen Gewand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
3.1
Die Pegnesen im Gang der Jahrhunderte. Eine rezeptionsgeschichtliche Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Gründungslegende – Ordensembleme – Schäfermaske – Kritik der Klassizisten und Galanten – Fehlende Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert – Stimmen aus der Romantik – Verdikt in der Literaturgeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts – Historische Prägnanz im Werk von Gervinus – Nach 1848 – Wende bei Nad-
Inhalt
VII ler – Rückfall bei Cysarz – Fortleben von Stereotypen bei Hankamer und Newald – Verfehlter Ansatz in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR
3.2
Nürnberg in der Frühen Neuzeit als Paradigma. Versuch einer geschichtlichen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Geschichtliche Wende – Der Aufstieg der Stadt – Ringen mit der Territorialmacht: Verfassungsgeschichtliche Aspekte – Politik und Konfessionalismus – Ökonomische Grundlagen – Soziales Gefüge I: Oberschichten – Soziales Gefüge II: Mittel- und Unterschichten – Demographische Analyse – Herausgehobener Stand der Juristen – Adel, Patriziat und Gelehrte: Statuskonkurrenz im Spiegel von Kleiderordnungen und Rechtsgutachten – Übergang zur Literatur
3.3
Sozietät, Ständekonflikt und Geistesadel. Die Pegnitzschäfer im Spiegel ihrer Schäfereien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Ordensarchiv – Gründungsmitglieder – Neuer Einsatz unter Birken – Auswärtige Mitglieder – Verankerung in der Stadt – Orden und Schäfertum – Der pastorale Beitrag Harsdörffers – Klajs ›Schäfergedicht in Nördgauer Gefilden‹ – Übergang zu dem Schäferdichter Sigmund von Birken – Am Wolfenbütteler Hof – Wolfenbütteler Schäfereien – ›Lob- und Leichschrift eines Hof-Lewhundes Namens Männchen‹ – Held und Schäfer, Herrscher und Dichter – Der Friedensdichter Sigmund von Birken – Die Schäfer als Sachwalter der deutschen Sprache – Politischer Allegorismus – Margenis und Irenian: Lockerung ständischer Hierarchien – Diskurse über den wahren Adel – ›Feld‹ als paradiesisch-utopischer Ort – Polito-literarische Zwischenbetrachtung – Journalistische Revue und allegorische Zeitkritik – Wertschätzung der Gelehrten unter den Habsburgern: Birkens ›Ostländischer Lorbeerhayn‹ – Der Fürst und sein humanistischer Erzieher: Arbeiten für das Haus Brandenburg-Bayreuth – Pastorale und Patriziat – Emanzipation der Frau – Pastorales Memorialwerk für Birken – Bürgerhumanismus: Johann Helwigs ›Nymphe Noris‹ – ›Ach Fürwitz über alle Fürwitz!‹ – Späte Nürnberger Schäfereien – Gesellschaftskritik aus der Schäferprovinz: Heinrich Arnold und Maria Catharina Stockfleths ›Kunst- und Tugendgezierte Macarie‹ – Im Zeichen von d’Urfés ›Astrée‹ – Brüche in der Konstruktion – Hofkritik – Ordo humilis – Eine hofkritische Stimme aus dem Adel – Forschungspolitische Perspektiven
Teil III Betrachtungen zum Frühwerk Hegels. Mit einem Blick auf Kant und Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Wahl des Gattungs-Paradigmas – Die Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung als Medium der europäischen Arkadien-Utopie – Quellenkundliche Fundierung – Ausdifferenzierung von Gattungen – Gestaltphysiognomische Semantik als Erkundung historischer Werkgehalte – Spezifika arkadischer Utopik – Uneigentliches Sprechen allegorisch konzipierter Figuren – Soziale Figuration und ›verkehrte Welt‹ – Philosophische Fluchtlinien – Literarhistorische Vergewisserung – Soziologische Spezifizierung – Höfische Kultur und bürgerlich-gelehrte Mentalität – Sprengung der gelehrten Enklave im 18. Jahrhundert – Empfindsame Wende – Idylle als empfindsames und sozialkritisches Organon – Menschheitliche Subjektivität und ständischer Ordo – Philosophische Analoga – Pro domo
VIII
1
Inhalt
Dialektik der Freiheit: Grundzüge der politischen Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Schwermut des Gemüts und Empfindelei – Schauplatz Welt und empfindsame Evasion – Übergang zur politischen Philosophie: Sicherung ›äußerer Freiheit‹ – Deduktion von Freiheit – ›Homo phaenomenon‹ und ›homo noumenon‹ – Exemplum Lüge – Intelligibler Charakter empirisch nicht affiziert – Deduktion von Recht – Recht und Eigentum – ›Possessio phaenomenon‹ und ›possessio noumenon‹ – Naturzustand und bürgerliche Verfassung – ›Schein‹ im Recht – Republikanismus – Gleichheit aporetisch – Sozialvertrag und Widerstandsrecht – Höchstes politisches Gut – Telos der Geschichte – ›Corpus mysticum‹ und bürgerliche Gesellschaft
2
Subjektivität, Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft im Frühwerk Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
2.1
Ein Blick in Hegels Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Aperçu zur Idylle – Das Schöne im kategorialen Kontext der Hegelschen Philosophie – Historizität von Kunst – Theorie der ästhetischen Handlung – Historischer Werkgehalt – Ästhetische Aneignung von Natur und heroischer Weltzustand – Übergang zum Hegelschen Frühwerk
2.2
Polis-Sittlichkeit und jüdisch-christliche Geistigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Innerlichkeit und Gesellschaft – Polis-Sittlichkeit – Untergang des antiken Stadtstaats – Ursprung des Christentums – Volksreligion und Christentum – Dialektik der Verkündigung Jesu – Jesu Jünger und die Entfaltung der christlichen Kirche – Abraham als Repräsentant jüdischer Geistigkeit – Versöhntes und verletztes Leben – Schicksal Jesu – Ungeschlichtete Antinomien
2.3
Der junge Hegel als politischer Schriftsteller und die Rolle der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Wege ins Leben – Philosophie als kritische Macht – Wankendes Gebäude der deutschen Staatsverfassung – Philosophie der Reform: ›Discite justiciam moniti‹ – Philosophische Geburt des welthistorischen Individuums – Wechsel der Rolle von Philosophie – Erste System-Entwürfe: Philosophie als Überwindung von Entzweiung – Zeitbezogener Kern von Philosophie – Vernunft und Verstand – Spekulative Idee des Absoluten – Philosophie des Absoluten und Abgeschlossenheit des Systems
2.4
Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Kontrovers-Philosophie – Bildungsgeschichte der Moderne – Zerrissenheit der modernen Bildung am Paradigma Kants – ›Wahn von vermeynter Vernunfteinsicht‹ – Erkenntnistheoretischer Reduktionalismus – Aporien des reinen praktischen Subjekts – Ungeschlichtete Entzweiung von Welt und absoluter Subjektivität – Staat als Maschine – Sollen und Willkür – ›Die übersinnliche Welt ist nur die Flucht aus der sinnlichen‹ – Übergang zur Philosophie objektiver Sittlichkeit
2.5
Hegels Adaptation des Naturrechts und erste Entwürfe einer Philosophie der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 ›Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts‹ – Kritik des empirischen und formalen Naturrechts – Ungeschlichtete Dichotomie von Natur- und
Inhalt
IX Rechtszustand – Moralität und Sittlichkeit – Sittlichkeit statt Herrschaft und Knechtschaft – Anschauung und Organizität des Sittlichen – Sittlichkeit als zweite Natur – Leben als ›Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung‹: Dialektische Struktur von Sittlichkeit – Einssein des Einzelnen und des Allgemeinen: Paradigma Tapferkeit
2.6
›Aufführung der Tragödie im Sittlichen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Übergang zur ›politischen Ökonomie‹ – Soziale Klassen verpuppt in Stände – ›Politische Nullität‹ – ›Aufführung der Tragödie im Sittlichen‹ – Opferhandlung in der Moderne – Komödie und Tragödie sozialphilosophisch gewendet – Dissoziierung der sittlichen Substanz im Prozeß der Arbeit – Exposition der Kategorie ›System der Bedürfnisse‹ und Philosophie der Arbeit – Genese des rechtsfähigen Subjekts aus dem Prozeß der Arbeit – Negation von Sittlichkeit: Das Verbrechen und die absolute Freiheit – Volk als Garant von Sittlichkeit – Agenten des Allgemeinen – Integration der bürgerlichen Gesellschaft ins System der Sittlichkeit – Schicksal sozialphilosophisch gewendet – Verdinglichung des Ich – Spaltung der Gesellschaft: Reichtum und Armut – Panzerung des ökonomischen Ich
2.7
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung durch Recht und Staat . . . . . . . . . 473 Erste Umrisse einer Staatsphilosophie – Kampf um Anerkennung – Inbesitznahme eines allgemeinen Guts als Akt wechselseitiger Verletzung – Bezähmung des wilden Tieres – Deduktion des Rechts – Herr und Knecht rechtlich überformt – ›System der Zucht‹: Aspekte einer Theorie der Sozialisation – Abschließende Jenenser Deduktion von Eigentum – Naturzustand versus Rechtszustand – Staat als Garant der Geltung von Recht – Wandel in der Setzung von Recht in der späteren Rechtsphilosophie – Rechtsfähigkeit der Person – Abkoppelung des Rechtssystems von Inbesitznahme und Eigentumsordnung – Soziale Antagonismen im Gefüge der späten Rechtsphilosophie – Staat jenseits der bürgerlichen Gesellschaft – Instanzen der Vermittlung behaftet mit Widersprüchen – Geschichtsphilosophische und systemlogische Perspektivierung – Sistierung von Dialektik als Grenze des Systems
3
Die Arbeit, die Gesellschaft und die Künste. Ein abschließender Blick auf Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Dialektik potenziert – Antipode Hegel als geistiger Ziehvater – Jenseits Hegels – System der Bedürfnisse und entfremdete Arbeit – Gelungene Vergegenständlichung: Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Arbeit – Geburt des Menschen als allseitig entfaltetes Gattungswesen – Aufhebung der Dichotomie Individuum/Gesellschaft – ›Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften‹ – Opus maximum posthumum – Basis-Überbau-Theoreme obsolet – Experimentierfeld Kunst – Nachleben der Werke – Kindheitstage der Kunst – Produktion und Sprache, systematisch und historisch angeschaut – ›Selbständige Individuen. 18.-Jahrhundert-Ideen‹: Paradigma Robinsonaden – Robinsons Arbeit ins Gesellschaftliche übersetzt – ›Arkadien und Utopien‹: Ein Blick auf Bloch und Benjamin
Bibliographie der Schriften von Klaus Garber 2004 bis 2011/12 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Vorwort der Herausgeber Jubiläen verdienter, bedeutender Gelehrter, die zumal über Jahrzehnte mit gewichtigem Wort am wissenschaftlichen Leben nicht nur partizipierten, sondern dieses in ihrem Fachgebiet – und über dessen Grenzen hinaus – auch mitgestalteten, bieten gemeinhin Anlaß für Ehrungen in Form von Festschriften. Geradezu selbstverständlich eignet diesem Genre eine Rückschau auf das Geleistete, das hörbar nachklingt und um das sich die Festbeiträge von Freunden, Kollegen und Schülern würdigend und reflektierend, aufgreifend und fortführend gruppieren. Zu der im Jahr 2004 erfolgten Emeritierung von Klaus Garber, der drei Jahrzehnte lang als Professor für Literaturtheorie und Geschichte der Neueren Literatur an der Universität Osnabrück gewirkt hat, wurde eine umfangreiche Festschrift vorgelegt.1 An ihr haben sich Weggefährtinnen und Weggefährten aus Deutschland, Europa und den USA bis hin nach Japan und Brasilien mit Aufsätzen beteiligt, welche die ganze Bandbreite des wissenschaftlichen Werkes des zu Ehrenden umgreifen. Zum 75. Geburtstag von Klaus Garber, der in diesem Jahr zu feiern ist, sollte deshalb kein zweites Werk dieser Façon erscheinen. 2005 tat sich Klaus Garber ein wenig schwer mit dem Gedanken, daß mit einer Festschrift stets schon eine Art von Retrospektive, ein erster Ansatz von memoria und nicht bloß – wie seinerzeit – der Abschied aus dem aktiven Leben des Hochschullehrers dokumentiert wird. Die Zwischenbilanz, die damals gezogen wurde, sollte, durfte nicht als Bilanz mißverstanden werden. Zu viele Pläne trug der Emeritus noch in sich, zu viel hatte er wissenschaftlich noch zu sagen. Aufsätze und vor allem Bücher mußten noch geschrieben werden, Forschungsprojekte wollten noch – immer auch im Blick auf die beruflichen Perspektiven der langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Ort – formuliert und realisiert werden. In einer schier atemraubenden Folge sind seither Monographien und Sammelbände, Tagungsakten, Abhandlungen und Aufsätze publiziert worden, unermüdlich wurden große Forschungsprojekte fortgeführt, beendet oder auf den Weg gebracht. In seinem 75. Lebensjahr begegnet einem Klaus Garber als überaus aktiver und engagierter Wissenschaftler, der neugierig geblieben ist, der neue Ergebnisse und Erkenntnisse dem eigenen Wiederholen vorzieht, der an den aktuellen Fachdiskursen dezidiert, mitunter auch provokant, teilhat, der – und das ist das Entscheidende – die Leidenschaft für den poetischen Text be1
Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. Hrsg. von Axel E. Walter.- Amsterdam, Atlanta/GA: Rodopi 2005 (= Chloe; 36).
XII
Vorwort
sitzt, der entziffert werden will, der zu erklären und einzuordnen ist in seine historischen und kulturellen Kontexte. Und dabei steht Klaus Garber vor allem das große Werk vor Augen, das noch geschrieben werden muß – die Darstellung der europäischen Arkadien-Utopie als ›Geschichte eines literarischen Wunschbildes im Spiegel der Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung Alteuropas‹. In drei Bänden ruft sie die wichtigsten Stücke dieses mit Anspielungen, Verschlüsselungen, mit eruditio wie prudentia prangenden, hoch-artifiziellen, aber nicht nur in seinen Spitzenstücken poetisch beeindruckenden Genres auf und widmet ihnen eingehende interpretatorische Lesungen. Vergleichbares fehlt bislang in der europäischen Kulturgeschichtsschreibung. Ebenso wie der strikt auf das System der literarischen Gattungen ausgerichtete ›Versuch einer historischen Rekonstruktion im Grundriß‹ im ersten Band wird auch die Geschichte der deutschsprachigen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts im zweiten Band als eine Gattungsgeschichte präsentiert werden. Die Vers- und Prosaekloge, die schäferliche Liebesdichtung in Gestalt der Schäferlyrik, des Schäferdramas (mit einem Blick auf die Schäferoper) und des Schäferromans, die Landlebendichtung sowie die geistliche Schäferdichtung werden jeweils über ausführliche Interpretationen einzelner Texte zur Darstellung gelangen. Ein abschließender dritter Band ist der deutschen Bukolik und Georgik sowie der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts vorbehalten. Die ursprüngliche dreiteilige Form, wie sie aus einer historischen Grundlegung und einer Biographie Opitzens, einer exemplarischen Behandlung einzelner bukolischer Texte und schließlich einer sozialphilosophischen Betrachtung resultierte, hat sich also verwandelt in eine gleichfalls dreiteilige Gattungsgeschichte. Von diesem alle Forschungsarbeiten Klaus Garbers grundierenden und perspektivierenden Zentralmassiv, dessen Vermessung weit fortgeschritten ist, führt eine direkte Linie zu den hier vorgelegten und – von einer Ausnahme abgesehen – bislang unveröffentlichten Studien, die eine lange, teilweise vierzig Jahre zurückliegende Vorgeschichte haben, über die ein Wort zu sagen ist. Im Vorwort zu seiner 1969 abgeschlossenen und 1974 publizierten Dissertation hat Garber zum Ausdruck gebracht, daß er die Untersuchung, auf die er viele Jahre in der Bonner Promotionszeit bei Richard Alewyn gewandt hatte, inzwischen nur noch als Prolegomenon zu einer künftigen Arbeit über die europäische Arkadien-Utopie begreifen könne.2 Er hat das Glück gehabt, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft ihm auf Empfehlung von Richard Alewyn und Erich Trunz unmittelbar im Anschluß an das im Sommer 1971 abgelegte Staatsexamen zunächst ein Forschungs- und sodann ein Habilitations-Stipendium für das Arkadien-Projekt gewährte. Es war die Überzeugung des Autors, daß einer großangelegten Arbeit insbesondere eine gediegene sozialphilosophische Fundierung gegeben werden müs2
Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts.- Köln, Wien: Böhlau 1974 (= Literatur und Leben; 16).
Vorwort
XIII
se. Der erste Schritt zur Realisierung des Arkadien-Projekts bestand daher in der Erarbeitung einer Studie, die sich gemäß ihrem Arbeitstitel mit dem Problem ›Subjektivität und bürgerliche Gesellschaft im Frühwerk Hegels‹ befaßte. Sie wurde 1971/72 in Göttingen geschrieben und weitete sich rasch zu einem eigenen Buch aus. Dazu trug bei, daß sie mit einer Betrachtung Kants eröffnet und mit einer weiteren zum Nachleben einiger Hegelscher Motive bei Marx beendet wurde. Die Studie blieb mit Rücksicht auf den Zusammenhang des ArkadienVorhabens unpubliziert und beschließt als Teil III den vorliegenden Band. Erst danach erfolgte die Rückkehr zur Literaturgeschichte und damit in das 17. Jahrhundert. Geplant war seinerzeit, das Arkadienwerk mit einer kulturpolitischen Biographie Martin Opitzens zu eröffnen. In ihr sollten die formativen Kräfte im Ursprung der neueren deutschen Kunstdichtung aufgezeigt werden. Ein erster Versuch galt Opitzens kulturpolitischen Äußerungen im ›Aristarchus‹, in der ›Poeterey‹ und in der Vorrede zu den Gedichten von 1625 sowie seinen Landlebengedichten und der ›Schäferei von der Nimfen Hercinie‹. Er entstand 1972 gleichfalls in Göttingen, konnte vor allem aus den reichen Beständen der Universitätsbibliotheken in Breslau und Göttingen erarbeitet werden und bildet nun das Kapitel 2.2 in Teil II dieses Bandes. Danach trat eine Unterbrechung ein, da der Autor von Albrecht Schöne gebeten wurde, die Vertretung einer zeitweilig vakanten Wissenschaftlichen Ratsstelle am Göttinger Seminar für deutsche Philologie zu übernehmen. Vom Wintersemester 1972/73 bis zum Sommersemester 1974 nahm Klaus Garber diese Option wahr. Er hat gelegentlich geäußert, daß die dreisemestrigen Göttinger Seminare, aus der eine Reihe von Dissertationen hervorgingen, zu den schönsten seines Lebens gehören. Schon Ende 1973 erreichte ihn ein Ruf auf eine Professur an der soeben gegründeten Universität Osnabrück. Mit Rücksicht auf seine Forschungsvorhaben hat Klaus Garber die Annahme dieses Rufes so lange wie irgend möglich herausgezögert. Erst zum Sommersemester 1975 trat er seinen Dienst in Osnabrück an. Zwischenzeitlich brachte er eine wiederum buchförmige Abhandlung zur Rezeptionsgeschichte Martin Opitzens zum Abschluß, auch sie im Blick auf das Arkadien-Projekt geschrieben. Der nachhaltigen Intervention von Volker Sinemus, zu dem sich in Göttingen ein enger Arbeitskontakt hergestellt hatte, ist es zu verdanken, daß der Autor den Text für die Publikation freigab.3 Schon nach vier Semestern Lehrtätigkeit ließ sich Klaus Garber unter Fortfall der Dienstbezüge für ein Jahr beurlauben, um in Göttingen an dem Arkadienwerk fortzuarbeiten. Dieses mit mancherlei Opfern verbundene Jahr erschien ihm im Rückblick – wie er später wiederholt gesagt hat – als das fruchtbarste seines wissenschaftlichen Schreibens. Vom Winter 1977 bis zum Winter 1978 entstanden drei große Manuskripte zu verschiedenen Aspekten einer Geschichte der abendländischen Utopie Europas, auch sie wiederum für das Arkadienbuch geschrieben und in diesem Band erstmals zum Abdruck gelangend. 3
Martin Opitz – ›der Vater der deutschen Dichtung‹. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.- Stuttgart: Metzler 1976.
XIV
Vorwort
Einen Schwerpunkt sollte das damals geplante Arkadienwerk in der Analyse der Nürnberger Schäfereien besitzen, die sich als besonders ergiebig für die verfolgte Fragestellung erwiesen hatten. Der Autor hatte Gelegenheit gehabt, auf dem zweiten Wolfenbütteler Barock-Kongreß im Jahre 1976, für den die Schäferdichtung ein Schwerpunkt-Thema bildete, in einem Plenarvortrag erste Richtlinien seines Ansatzes zur Diskussion zu stellen.4 Seine Nürnberg-Studien setzte er gleich zu Beginn des Freijahrs in Mannheim fort, wohin der Nachlaß Sigmund von Birkens zur Erstellung eines Repertoriums unter der Leitung von Dietrich Jöns zeitweilig gelangt war. Danach erfolgte in Göttingen die Ausarbeitung. Es entstanden zwei Aufsätze, in denen der Nachlaß eingehend beschrieben und der Grundriß für eine Birken-Edition entwickelt wurde.5 Eine umfängliche Studie zum Nürnberger Hirten- und Blumenorden indes blieb wiederum unveröffentlicht und wird hier als Kapitel 3 in Teil II vorgelegt. Vordringlich schien dem Autor nach der philosophischen nun auch die historiographische Grundlegung des Werkes. Er hatte das Glück, in seinem jüngeren Bruder, dem Historiker Jörn Garber, einen engagierten Fachmann an seiner Seite zu wissen. Zudem hatte sich in Göttingen ein enger Kontakt zum Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte und seinem Direktor Rudolf Vierhaus hergestellt. Beides kam der Einarbeitung in ein dem Literaturwissenschaftler nur am Rande vertrautes Gebiet zugute. Unter dem Titel ›Absolutismus, Adelskultur und kritische Theorie der feudal-absolutistischen Gesellschaft‹ faßte Klaus Garber sein Exposé zusammen. Als Teil I steht der bisher noch unveröffentlichte Text dem vorliegenden Band voran. Die verbleibende Zeit in dem Freijahr widmete der Autor neuerlich Martin Opitz. Von der geplanten kulturpolitischen Biographie konnte der erste Teil über den jungen Martin Opitz abgeschlossen werden. Auch er blieb unpubliziert, bildete jedoch die Grundlage für das Opitz-Porträt, das Klaus Garber in den von Harald Steinhagen und Benno von Wiese herausgegebenen Deutschen Dichtern des 17. Jahrhunderts veröffentlichen konnte, wofür ihm von den Herausgebern ein besonders üppig bemessener Platz eingeräumt wurde.6 Das 1978/79 entstandene Manuskript selbst gelangt gleichfalls in diesem Band erstmals zum Druck und eröffnet nun als Kapitel 2.1 die dreiteilige Opitz-Sequenz in Teil II. Sie 4
5
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Vergil und das ›Pegnesische Schäfergedicht‹. Zum historischen Gehalt pastoraler Dichtung.- In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Hrsg. von Martin Bircher, Eberhard Mannack.- Hamburg: Hauswedell 1977 (= Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur; 3), S. 168–203. Sigmund von Birken. Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historisch-soziologischer Umriß seiner Gestalt – Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes.- In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hrsg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen.- Hamburg: Hauswedell 1978 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 7), S. 223–254; Private literarische Gebrauchsformen im 17. Jahrhundert. Autobiographika und Korrespondenz Sigmund von Birkens.- In: Briefe deutscher Barockautoren. Probleme ihrer Erfassung und Erschließung. Hrsg. von Hans Henrik Krummacher.- Hamburg: Hauswedell 1978 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 6), S. 107–138. Martin Opitz.- In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Harald Steinhagen, Benno von Wiese.- Berlin: Schmidt 1984, S. 116–184.
Vorwort
XV
wird beschlossen mit einer Studie zu Martin Opitz in Paris, die der Autor im Anschluß an einen Forschungsaufenthalt in Paris im Sommer und Herbst 1980 in der Bibliothèque Nationale in Paris erarbeite. Wesentliche Teile gingen bereits ein in zwei in französischer und in deutscher Sprache erschienene Studien.7 Als ganze blieb auch die Untersuchung jedoch unpubliziert und gelangt nun als Kapitel 2.3 in Teil II zum Abdruck. Vom Wintersemester 1980/81 bis zum Sommersemester 1982 durfte der Autor nochmals eine ungestörte Zeit des Schreibens erleben. Auf Einladung von Wilhelm Voßkamp nahm er zunächst ein Jahr lang am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld an dem von diesem geleiteten Projekt zur ›Funktionsgeschichte literarischer Utopien in der Frühen Neuzeit‹ teil. Daran schloß sich ein – wiederum von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewährtes – Forschungsfreisemester im Winter 1981/82 unmittelbar an. Diese Zeit verwendete Klaus Garber so gut wie ausschließlich dazu, die literaturwissenschaftliche Grundlegung des Arkadien-Projekts in europäischer Perspektive zu betreiben. Es entstand ein mehrere hundert Seiten umfassendes Manuskript zur Schäfer- und Landlebendichtung in der europäischen Literatur, das bis unmittelbar an das 17. Jahrhundert in Deutschland heranführt. Es wird in überarbeiteter Version den ersten Band des Arkadienwerkes bilden. Ein Resümee der anderthalbjährigen Forschungen bildet der Beitrag zu der dreibändigen Dokumentation des Bielefelder Utopie-Projekts.8 Die nachfolgenden Jahre standen – neben Arbeiten zu Walter Benjamin – im Zeichen großer Bibliotheksreisen durch die Vereinigten Staaten, Osteuropa und die Sowjetunion. Sie bilden den Ausgangspunkt für die zahlreichen buch- und bibliothekskundlichen Arbeiten Garbers vor allem zu den wiederaufgefundenen Büchern und Handschriften aus den Bibliotheken des alten deutschen Sprachraums im Osten, die inzwischen auch gesammelt bzw. zu Monographien ausgearbeitet vorliegen.9 7
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A propos de la politisation de l’humanisme tardif européen. Jacques Auguste de Thou et le ›Cabinet Dupuy‹ à Paris.- In: Le juste et l’injuste à la Renaissance et à l’âge classique. Éd. par C. Lauvergnat-Gagnière, B. Yon.- Saint Etienne: [s.p.] 1986, S. 157–177. Eine wesentlich veränderte Fassung unter dem Titel: Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy.- In: Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann.- Wiesbaden: Harrassowitz 1987 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 14), S. 71–92. Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopische Literaturform Europas.- In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band I–III. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp.- Stuttgart: Metzler 1982, Band II, S. 37– 81. [1985 auch als suhrkamp-taschenbuch der wissenschaft (Band 1159) erschienen.] Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.- München: Fink 2006; Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum.- Köln, Wien, Weimar: Böhlau 2007 (= Aus Bibliotheken, Archiven und Museen Mittel- und Osteuropas; 3); Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2012 (= Aus Bibliotheken, Archiven und Museen Mittel- und Osteuropas; 4).
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Vorwort
Noch einmal bot sich im Rahmen eines Akademie-Stipendiums der VolkswagenStiftung im Wintersemester 1987/88 und im Sommersemester 1988 die Chance, das Arkadienwerk intensiv zu fördern. Und noch einmal ging es dem Autor um eine fundierende Untersuchung. Ein Manuskript zur ›Idee der Nationalsprache und Nationalliteratur in der Frühen Neuzeit Europas‹ entstand. Es ist mehr als zwanzig Jahre später in einem Band mit Studien zur europäischen Literatur veröffentlicht worden und steht dort neben einer ebenfalls unveröffentlichten und neu aus den Quellen erarbeiten Abhandlung zum Gelehrtenadel, dessen motivische und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung für die Schäferdichtung Europas im Arkadienbuch herausgearbeitet werden wird.10 In dem Freijahr wurde der Autor von Wilhelm Kühlmann in Osnabrück vertreten. Die enge Freundschaft der beiden Wissenschaftler rührt her aus dieser Zeit. So lag es nahe, daß ein gleichfalls in dieser Zeit entstandenes Manuskript zu der Festschrift des Jubilars beigesteuert wurde, waren doch Gedanken in den Text eingegangen, die sich vielfach von den damals mit dem Freund geführten Diskussionen herschrieben.11 Die Herausgeber haben diesen Beitrag als Auftakt zur Sequenz mit literaturwissenschaftlichen Arbeiten im Mittelteil des Bandes aufgenommen, weil er in der seinerzeit niedergeschriebenen Version die kulturgeschichtlichen und politischen Kontexte für diese Studien absteckt. Es handelt sich um den einzigen veröffentlichten Beitrag in diesem Band, der hier ohne die erst für die Festschrift beigefügten Anmerkungen zum Abdruck gelangt. Alle in diesem Band vereinigten Studien erscheinen in der originären Gestalt. Das gilt insbesondere auch für die Anmerkungs-Apparate. Sie wurden in der seinerzeitigen Form belassen, um einerseits den Stand der Forschung und Diskussion zu dokumentieren, der bei ihrer Verfassung erreicht war. Auf eine Einarbeitung danach erschienener Arbeiten wurde grundsätzlich verzichtet. Dadurch zeigt sich andererseits, in wie vielen Aspekten und in welchem Maße diese Aufsätze bereits trotz vieler seither vorgelegten Studien auf nach wie vor aktuelle und keineswegs abschließend geklärte Forschungsfragen und Aufgaben unseres Faches vorausweisen. Nur in ganz wenigen Fällen, in denen von Klaus Garber formulierte dringende Desiderate inzwischen eingelöst worden sind, haben die Herausgeber die Anmerkungen mit aller Zurückhaltung ergänzt. Daß nicht selten der Autor selbst in den letzten Jahrzehnten Einschlägiges zu den hier behandelten Themen vorgelegt hat, mag in diesem Vorwort wenigstens erwähnt werden; auf entsprechende Nachträge in den Anmerkungen wurde auch im Blick auf das angehängte Schriftenverzeichnis verzichtet, das die in der erwähnten Festschrift von 2005 präsentierte Publikationsliste fortsetzt. 10
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Die Idee der Nationalsprache und Nationalliteratur in der Frühen Neuzeit Europas.- In: Klaus Garber: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit.- München: Fink 2009, S. 107–213; ›De vera nobilitate‹. Zur Formation humanistischer Mentalität im Quattrocento.- In: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit, S. 443–503. Faktoren der klassizistischen Dichtungsreform im Deutschland um 1600. Eine Einleitung zur Geschichte der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts.- In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Hrsg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel, Christian von Zimmermann.- Berlin: de Gruyter 2011, S. 181–198.
Vorwort
XVII
Die Herausgeber sind der Überzeugung, daß in den vorgelegten Studien zahlreiche Aspekte enthalten sind, die der gegenwärtigen Forschung ungeachtet ihres zumeist weiten Zurückliegens mit Gewinn zugeführt werden können. Die Manuskripte haben die Lehr- und Vortragstätigkeit von Klaus Garber über mehrere Jahrzehnte geprägt und standen dem engeren Kreis der Schülerinnen und Schüler stets zur Verfügung. Diese Studien zu dem besonderen Zeitpunkt, wie er sich mit dem 75. Geburtstag ihres Verfassers verbindet, einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist mehr als nur eine dankbare Ehrenbezeugung für den akademischen Lehrer. Die Arkadien-Utopie bahnt in vielgestaltiger Weise in der europäischen Literatur einen Weg in die Moderne. Die mit diesem Band vorgelegten Studien sind Exempel eines interdisziplinären kulturgeschichtlichen Forschens, das auch in den gegenwärtigen Zeiten kontroverser kulturwissenschaftlicher Theoriediskussionen ›nach der Sozialgeschichte‹ die unverzichtbaren Anteile einer sozialgeschichtlich fundierten, mit einem klaren theoretischen Ansatz verfolgten Fragestellung belegt. Bestärkt wurde der Entschluß zu dieser Publikation nicht zuletzt auch durch den Umstand, daß Klaus Garber derzeit damit befaßt ist, das Arkadienbuch selbst zum Abschluß zu führen. Zusammen mit dem hier vorgelegten Band wird es dokumentieren, was seinen Verfasser unter dem Stichwort ›Arkadien‹ während eines langen Forscherlebens denkend und quellenerschließend umtrieb. Neben die Bücher zu Richard Alewyn und Walter Benjamin, seine Aufsätze zur europäischen und deutschen Literatur, seine buch- und bibliotheksgeschichtlichen Arbeiten und die Stadt-Porträts – eröffnet mit einem Erinnerungsbuch an das alte Königsberg und demnächst fortgesetzt mit dem alten Breslau – tritt nun erstmals sichtbar ein größeres Buch aus dem Umkreis Arkadiens hervor. Von dort nahmen alle Arbeiten ihren Ausgang, dorthin kehren sie am Ende zurück ... Abschließend bleibt den Herausgebern noch die angenehme Pflicht, denjenigen Personen zu danken, ohne deren Einsatz und Unterstützung dieser Band nicht zustande gekommen wäre. Unser besonderer Dank gilt an erster Stelle Frau Dr. Ulrike Krauß, die dieses Projekt im Verlag durchgesetzt und mit Frau Susanne Mang betreut hat. Daß unsere Idee, einen Band auf der Basis teilweise jahrzehntealter Manuskripte zu edieren, überhaupt in wenigen Monaten realisiert werden konnte, ist einer Reihe von Personen zu verdanken, die mit Akribie und großem Engagement die verschiedenen Korrekturphasen begleitet haben. Hier sind zum einen als studentische Hilfskräfte Renate Westrup sowie Sven Musiol, Charlotte Schlie und Michaela Schneider zu nennen. Zum anderen gilt unser herzlicher Dank Frau Irmhild Garber als kritischer Leserin und Mareike Garber, die große Teile des Manuskript schon vor Jahren abgeschrieben und gegengelesen hat.
Osnabrück/Klaipơda, im Mai 2012 Stefan Anders und Axel E. Walter
Teil I
Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne. Ein historiographischer Konspekt Absolutismus, Adelskultur und kritische Theorie der ›feudal-absolutistischen‹ Gesellschaft Historischer Gehalt von Gattungen Die Innovationen in Theorie und Praxis der Literaturwissenschaft während des vergangenen Jahrhunderts haben sich der Erforschung des 17. Jahrhunderts bisher nur vereinzelt und am Rande mitgeteilt. Anders als die beiden angrenzenden Jahrhunderte bot das ›Zeitalter des Barock‹ auf den ersten Blick keine markanten Einsatzpunkte, die einen aktuellen Zugriff erlaubt hätten. Im 16. Jahrhundert war durch die Kontroversen um die ›frühbürgerliche Revolution‹ von historischer Seite her ein Diskussionszusammenhang vorgegeben, der auch der Literaturhistorie theoretische Modelle vermittelte.1 Und im 18. Jahrhundert sprang die ––––––––– 1
Die maßgebliche Dokumentation: Reformation oder frühbürgerliche Revolution. Hrsg. von Rainer Wohlfeil.- München: Nymphenburger Verlagsanstalt 1972 (= Nymphenburger Texte zur Wissenschaft; 5). Aus dem Nachbargebiet der Literaturwissenschaft wäre etwa zu erinnern an: Max L. Baeumer: Gesellschaftliche Aspekte der ›Volks‹-Literatur im 15. und 16. Jahrhundert.- In: Popularität und Trivialität. Fourth Wisconsin Workshop. Hrsg. von Reinhold Grimm, Jost Hermand.- Franfurt a.M.: Athenäum 1974, S. 7–50. Vgl. von Baeumer auch den späteren Forschungsbericht: Sozialkritische und revolutionäre Literatur der Reformationszeit.- In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5 (1980), S. 169–233. Hinzuzunehmen die grundlegenden Sammelbände aus dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR: Ingeborg Spriewald, Hildegard Schnabel, Werner Lenk, Heinz Entner: Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert.- Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1972; Renaissanceliteratur und frühbürgerliche Revolution. Studien zu den sozial- und ideologiegeschichtlichen Grundlagen europäischer Nationalliteraturen. Hrsg. von. Robert Weimann, Werner Lenk, JoachimJürgen Slomka.- Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1976; Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hrsg. von Robert Weimann.- Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1977. Vgl. auch: Sibylle Badstübner, Heinz Entner, Karl-Heinz Klingenburg (Leitung), Edith Neubauer, Ingrid Schiewek, Hildegard Schnabel: Deutsche Kunst und Literatur in der frühbürgerlichen Revolution. Aspekte, Probleme, Positionen.- Berlin: Henschelverlag 1975. Als verwandte Unternehmungen hinzuzunehmen: Deutsche Kunst der Dürer-Zeit. Ausstellung im Albertinum. Red.: Werner Schmidt.- Dresden: Staatliche Kunstsammlungen 1971 (= Dürer-Ehrung der DDR 1971), hier der einleitende Beitrag von Ernst Ullmann: ›Die deutsche Kunst im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution‹, S. 17– 26; Albrecht Dürer. Zeit und Werk. Eine Sammlung von Beiträgen zum 500. Geburtstag von Albrecht Dürer. Hrsg. von Ernst Ullmann, Günter Grau, Rainer Behrends.- Leipzig:
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
kritisch-utopische Funktion der Literatur bei der Lösung des Bürgertums von den Ordnungsprinzipien der altständischen Feudalgesellschaft allzu deutlich hervor, als daß sie sich einer historisch und dialektisch neu geschulten Literaturwissenschaft nicht alsbald erschlossen hätte.2 Das 17. Jahrhundert schien sich einer Integration in den übergeordneten Problemkomplex der Konstitution und Entfaltung bürgerlicher Gesellschaft und Kultur zu widersetzen. Gerade dieser aber mußte für eine Rekonstruktion historischer Prozesse aus marxistischer Perspektive Vorrang besitzen. Sie ließ sich prägnanter an das Zeitalter von Reformation und Revolution anknüpfen als an die Phase des Hochabsolutismus im 17. Jahrhundert und dessen kulturelle Manifestationen. Hinzu kam die kulturpolitisch gar nicht zu überschätzende katalysatorische Funktion der Geschichts- und Literaturwissenschaft der DDR für die Neue Linke des Westens. Seit Beginn der fünfziger Jahren war sogleich vor allem in der Erforschung der europäischen Aufklärung Pionierarbeit geleistet worden, verbunden mit großangelegten Forschungen zur Frühgeschichte des Bürgertums und seiner kulturellen Tradition.3 Daran konnte seit der Mitte der sechziger Jahre in –––––––––
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Karl-Marx-Universität 1971; Albrecht Dürer. Kunst im Aufbruch. Vorträge der kunstwissenschaftlichen Tagung mit internationaler Beteiligung zum 500. Geburtstag von Albrecht Dürer. Hrsg. von einem Kollektiv unter Leitung von Ernst Ullmann.- Leipzig: Karl-MarxUniversität 1972, hier wiederum ein einleitender Beitrag von Ernst Ullmann: ›Albrecht Dürer und die frühbürgerliche Kunst in Deutschland‹, S. 3–16. Schließlich sei an einen wichtigen Sammelband aus einem benachbarten Forschungsfeld erinnert: Der arm man 1525. Volkskundliche Studien. Hrsg. von Hermann Strobach.- Berlin: Akademie-Verlag 1975 (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte; 59). Ein symptomatisches Zeugnis dafür der in der Freien Universität zu Berlin in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren erarbeitete Grundkurs 18. Jahrhundert. Vgl.: Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert. Literatur im historischen Prozeß. Ansätze materialistischer Literaturwissenschaft. Analysen, Materialien, Studienmodelle. Hrsg. von Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe.- Kronberg/Taunus: Scriptor 1973 (= Literatur im historischen Prozeß; 1); Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Die Funktion der Literatur bei der Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18. Jahrhundert. Band I: Analysen. Band II: Materialien. Hrsg. von Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe.- Kronberg/Taunus: Scriptor 1974 (= Literatur im historischen Prozeß; 4/1–2). Rekurriert wird in dem Berliner Projekt bevorzugt auf ein Werk aus den dreißiger Jahren, das eben jetzt in den frühen siebziger Jahren nach Jahrzehnten des Verschwindens wieder in die Diskussion eingeführt wurde: Leo Balet in Arbeitsgemeinschaft mit E. Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert.- Leipzig, Straßburg, Zürich: Heitz 1936 (= Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen; Collection d’études musicologiques; 18). Eine neue Auflage mit einer Einleitung ›Widerspiegelung im Stilwandel‹ und erstmaligen wissenschaftlichen Beigaben veranstaltete Gert Mattenklott 1973 als Ullstein-Taschenbuch (Nr. 2995). Vgl. den – ohne Erwähnung eines Herausgebers publizierten – Sammelband: Grundpositionen zur französischen Aufklärung.- Berlin: Rütten & Loening 1955, mit dem die von Werner Krauss und Hans Mayer betreute Reihe Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft eröffnet wurde. Der Band enthält u.a. Beiträge von Jürgen Kuczynski, Hans Mayer, Manfred Naumann, Werner Bahner und Walter Markov. Es folgten – gleichfalls ohne Nennung eines Herausgebers, aber versehen mit einer ›Vorbemerkung‹ von Werner Krauss: Neue Beiträge zur Literatur der Aufklärung.- Berlin: Rütten & Loening 1964 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 21). Hinter dem Aufbau der Aufklärungsforschung stand bekanntlich Werner Krauss. Vgl. ders.: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung.- Ber-
Ein historiographischer Konspekt
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der Bundesrepublik angeknüpft werden. Vergleichbare Impulse sind auf die Barockforschung bekanntlich nicht übergegangen. Und der einzige Versuch einer (allzu frühen) literarhistorischen Synopsis war kaum geeignet, das Vertrauen in die Tragfähigkeit marxistischer Ansätze bei der Erforschung des 17. Jahrhunderts zu fördern.4 Anders als für das vorausgehende und das nachfolgende Jahrhundert sind hier die Grundlagen für eine sachgemäße historisch-dialektische Erschließung der literarischen Produktion überhaupt weitgehend erst noch zu entwickeln. Gerade die Integration der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts –––––––––
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lin: Rütten & Loening 1963 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 16); Die Literatur der französischen Frühaufklärung.- Frankfurt/Main: Athenäum 1971 (= Schwerpunkte Romanistik; 7); Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung.- Berlin: Akademie-Verlag 1978. Vgl. auch die Festschrift für Werner Krauss zum 70. Geburtstag: Beiträge zur französischen Aufklärung und zur spanischen Literatur. Hrsg. von Werner Bahner.- Berlin: Akademie-Verlag 1971 (= Schriften des Instituts für romanische Sprachen und Kultur; 7). Die Neuen Beiträge zur Literaturwissenschaft sind das wichtigste Forum für die Beiträge zur Aufklärungsforschung in der DDR geblieben. Verwiesen sei – aus der hier vor allem zur Rede stehenden Frühzeit – etwa auf: Richard N. Coe: Morelly. Ein Rationalist auf dem Wege zum Sozialismus.- Berlin: Rütten & Loening 1961 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 13); Kurt Schnelle: Aufklärung und klerikale Reaktion. Der Prozeß gegen den Abbé Henri-Joseph Laurens. Ein Beitrag zur deutschen und französischen Aufklärung.- Berlin: Rütten & Loening 1963 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 18); Martin Fontius: Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei G.C. Walther veröffentlichten Werke Voltaires.- Berlin: Rütten & Loening 1966 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 24); Rolf Geissler: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung.- Berlin: Rütten & Loening 1967 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 30); Lew S. Gordon: Studien zur plebejisch-demokratischen Tradition in der französischen Aufklärung.- Berlin: Rütten & Loening 1972 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 32). Hinzuzunehmen vor allem die Studien von Eduard Winter: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert.- Berlin: AkademieVerlag 1953 (= Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik; 2); ders.: Frühaufklärung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-slawische Begegnung.- Berlin: Akademie-Verlag 1966 (= Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens; 6). Schließlich seien zwei weitere Sammelbände in Gestalt einer Gemeinschaftsarbeit aus dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie eine wenig später nachfolgende, wichtige Quellenpublikation namhaft gemacht: Winfried Schröder (Leitung). Helga Bergmann, Brigitte Burmeister, Martin Fontius, Rolf Geissler, Eckart Richter, Manfred Starke: Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung.- Leipzig: Reclam 1974 (= Reclams Universal-Bibliothek; 562); Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Hrsg. von Claus Träger unter Mitarbeit von Frauke Schaefer.- Leipzig: Reclam 1975 (= Reclams Universal-Bibliothek; 597). Joachim G. Boeckh, Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Klaus Gysi, Paul Günter Krohn, Hermann Strobach: Geschichte der deutschen Literatur 1600 bis 1700. Mit einem Abriß der Geschichte der sorbischen Literatur, erster Teil.- Berlin: Volk und Wissen 1962 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 5). Eine lange Zeit geplante Neubearbeitung des Werkes ist nicht mehr zustandegekommen. Wohl aber wurde zu vergleichsweise später Stunde ein sehr gehaltreicher Sammelband der Forschergruppe zum 17. Jahrhundert im Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR erarbeitet: Heinz Entner, Werner Lenk (Leitung), Ingrid Schiewek, Ingeborg Spriewald: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert.- Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1984.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
in den Prozeß der Formierung bürgerlicher Gesellschaft und Kultur wirft eine Reihe prinzipieller Schwierigkeiten auf. Diese betreffen einerseits den ästhetischen Status der deutschen ›Barockliteratur‹, andererseits die von den historischen Disziplinen bereitgestellten epochalen Kategorien. Die neuere deutsche Kunstdichtung, wie sie vor allem in der Opitzschen Version theoretisch und praktisch propagiert wurde, scheint sich einer Exegese ihres geschichtlichen Gehalts weitgehend zu widersetzen. So wie jede andere künstlerische Hervorbringung kann sie ein Objekt literatursoziologischer Forschung abgeben. Die Bedingungen literarischer Produktion und Rezeption im 17. Jahrhundert ziehen erst neuerdings ein erhöhtes und selbstverständlich legitimes Interesse auf sich.5 Ihr Zentrum besitzt eine historisch-dialektisch orientierte Literaturwissenschaft jedoch in der Ermittlung des Realitätsgehalts der Werke selbst. Dieser ist nur in Funktion zu den vorgegebenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu begreifen, die insofern einen unveräußerlichen Bestandteil literarhistorischer Forschung bilden. Maßgeblich bleibt jedoch die geschichtliche Dechiffrierung der ästhetischen Transposition von gesellschaftlicher Realität, wie sie jeweils im Werk vollzogen wird. Und das nicht, wie vielfach unterstellt, um das Werk auf gesellschaftliche Daten hin zu inspizieren, sondern um seinen im Medium der Fiktion sich vollziehenden Beitrag zur Bewältigung der jeweils vorgegebenen geschichtlichen Aufgaben wahrnehmen und damit die Ausnutzung des geschichtlichen Handlungsspielraums bestimmen zu können.6 Gerade gegen eine derartige Exegese aber scheint die Literatur des 17. Jahrhunderts wie keine sonst abgedichtet zu sein. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach besteht ihr vorrangiges Ziel darin, die sprachliche Kompetenz und das formale und artistische Niveau der vorangehenden Nationalliteraturen Europas zu erreichen, wenn nicht zu überbieten. Die ästhetischen wie die gehaltlichen Normen erscheinen durchgehend als geschichtlich vorgegebene. Die Anstrengung gilt dem Versuch, einen Vergleich mit den großen Mustern auszuhalten und endlich kompatibel zu werden. Macht sich in bezug auf gehaltliche Normen – die bevorzugt im religiös-erbaulichen und im moralisch-didaktischen Bereich liegen – ein Interesse geltend, so gleichfalls stets im Rückgriff auf überkommene Autoritäten. Umgekehrt werden Stoffe, die der zeitgenössischen Geschichte entnommen sind, alsbald mit dem Nimbus typologischer Würde versehen; die ihnen angemessene Art der Behandlung erscheint als Entindividualisierung und Enthistorisierung im Medium allegorischer Deutung und Exemplifikation.7 ––––––––– 5
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Verwiesen sei hier nur auf den Sammelband: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Albrecht Schöne.- München: Beck 1976 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände; [1]). Vgl. Klaus Garber: Thirteen Theses on Literary Criticism.- In: New German Critique 1 (1973), S. 126–132. Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hrsg. von Rolf Tiedemann.Frankfurt/Main: Suhrkamp 1963 (erste Ausgabe Berlin: Rowohlt 1928); Dietrich Walter Jöns: Das ›Sinnen-Bild‹. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius.Stuttgart: Metzler 1966 (= Germanistische Abhandlungen; 13); Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage.- München: Beck 1968 (erste Auflage 1964).
Ein historiographischer Konspekt
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In dieser Situation bedarf es einer Reihe von Vorkehrungen, um einer historisch-dialektischen Exegese der Werke zum Erfolg zu verhelfen. Dichtung, die so sehr wie diejenige des 17. Jahrhunderts im Bann der Tradition steht, kann nur im Wechsel von mikrologischer Analyse einzelner signifikanter Textpartien und weitausholender gesamthistorischer Fundierung begriffen werden. Die Verflechtung der europäischen Nationalliteraturen seit dem italienischen Frühhumanismus und ihre gemeinsame Basis in der römischen Antike manifestiert sich am deutlichsten in der auch im 17. Jahrhundert noch intakten Bindung der einzelnen Werke an feste Gattungstraditionen. Der historisch signifikante Gehalt der Werke kann daher nur im Spannungsfeld von Gattungsnormen und deren je besonderer Adaption im einzelnen Gattungsexemplar aufgesucht werden. Nur in Kenntnis aller in der Tradition einer Gattung ausgebildeten einschlägigen Muster – und damit zugleich der in ihr artikulierbaren Positionen – läßt sich das für den jeweiligen Untersuchungszeitraum Spezifische ermitteln, das sich durchweg als variierende imitatio eines Vorgegebenen zu erkennen gibt.8 Deshalb sind auch und gerade historisch-dialektische Untersuchungen zum 17. Jahrhundert auf einzelne Gattungen als Materialgrundlage verwiesen. Doch dürfen wiederum gerade sie sich keinesfalls auf die jeweils innovativen Züge der Gattung konzentrieren. Auch die über einen langen Zeitraum tradierten und weitgehend unverändert sich erhaltenden Motive bedürfen der historischen Erklärung. Es setzt eine langwierige Schulung im Umgang mit der jeweiligen Gattung voraus, die tatsächlich noch aktuellen Bedeutungsträger von dem historisch irrelevant gewordenen Traditionsgut sondern zu können. Diese wichtigste Aufgabe einer jeden historisch angelegten Gattungsanalyse ist jedoch nur im gesamthistorischen Kontext zu lösen. Hier ein historisch-dialektisches Verfahren zu beobachten, meint nichts anderes und nichts geringeres, als auf der Basis einer Rekonstruktion der jeweiligen gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse den sozialen Ursprung und die soziale Funktion der Gattung bzw. einzelner ihrer Dokumente im Untersuchungszeitraum festzulegen und als historisch signifikant das auszumachen, was im gesamtgesellschaftlichen Gefüge geeignet ist, den am ästhetischen Kommunikationsprozeß eben dieser Gattung zu diesem Zeitraum beteiligten Produzenten und Rezipienten ein geeignetes Medium ihrer Selbstdarstellung und ihrer sozialen Bedürfnisse zu bieten: Literatur als Seismograph historischer Kräftekonstellationen und als Katalysator standesspezifischer Interessen.9 –––––––––
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Dieser Gedanke entwickelt in dem – mit Blick auf den Wolfenbütteler Kongreß Albrecht Schönes 1974 (vgl. Anm. 5) vorbereiteten, dann jedoch zurückgezogenen – Beitrag von Klaus Garber: Vergil und das ›Pegnesische Schäfergedicht‹. Zum historischen Gehalt pastoraler Dichtung.- In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Hrsg. von Martin Bircher, Eberhard Mannack.- Hamburg: Hauswedell 1977 (= Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur; 3), S. 168–203. Zum Grundsätzlichen vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition.- Bad Homburg, Berlin, Zürich: Gehlen 1966 (= Ars poetica; 1); Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen.- Tübingen: Niemeyer 1970. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die theoretische Grundlegung in Klaus Garber: Martin Opitz – ›der Vater der deutschen Dichtung‹. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsge-
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
So kehrt der schon angesprochene Gegensatz zwischen literatursoziologischem und historisch-dialektischem Ansatz an dieser Stelle wieder. Gewiß ist es unerläßlich, die historische Erklärung bis ins Detail voranzutreiben und zu den einzelnen Gebilden jeweils alle Aufschluß bietenden historischen Daten beizubringen. Doch die hier zu leistende Aufgabe ist prinzipiell eine kommentierende. Daneben muß die gesamthistorische weitausgreifende Fundierungsanalyse ihren vorrangigen Platz behaupten. Und zwar deshalb, weil Aufstieg und Verfall von Gattungen stets an historische Umbrüche gebunden sind, die bestimmt sein wollen, wenn anders die historische Relevanz der die Gattung bestimmenden Momente überhaupt erkannt werden soll.10 Und um auszumachen, ob die Motive, in denen sich soziale Konstellationen und insbesondere Antagonismen des Umbruchs niedergeschlagen haben, immer noch geschichtliche Virulenz besitzen oder aber bereits zum ›topischen‹, nur noch mitgeschleppten Gattungsinventar abgesunken sind, bedarf es gleichfalls der historischen Analyse des gewählten Untersuchungszeitraums. Denn nur die soziale Funktionsanalyse vermag Entscheidungshilfe zu bieten, wo die gattungsimmanente Traditionsanalyse notwendig versagen muß. In historischen Untersuchungen prägt sich dieses Ineinander von mikrologischer Textanalyse (einschließlich der Berücksichtigung aller einschlägigen kontingenten Momente) und der makrohistorischen Grundlegung (die ihre zeitlichen Orientierungspunkte prinzipiell in der zeitlichen Erstreckung der Gattung findet) notwendig in einem Nacheinander beider Untersuchungseinheiten aus. Dieses wird anhalten, so lange wie über die in Frage stehenden historischen Grundlagen des jeweiligen Untersuchungszeitraums nicht auch in den kunsthistorischen Disziplinen wenigstens prinzipiell Konsens besteht. Erst dann erübrigt sich ein generelles Aufrollen in Spezialarbeiten. Für das 17. Jahrhundert bleibt diese Aufgabe weitgehend noch zu leisten, um so mehr, wenn eine so exponierte Frage wie die der Genesis bürgerlichen Bewußtseins angemessen eingeführt werden soll.11 Der folgende Beitrag versucht, das hier vorliegende Problem in Form eines kritischen, teilweise auch ideolo–––––––––
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schichte der Germanistik.- Stuttgart: Metzler 1976. Einschlägig auch: Dieter Richter: Geschichte und Dialektik in der materialistischen Literaturtheorie.- In: Alternative 15 (1972), S. 2–14; wieder abgedruckt mit einem ›Nachwort‹ in: Zur Kritik literaturwissenschaftlicher Methodologie. Hrsg. von Viktor Žmegaþ, Zdenko Škreb.- Frankfurt/Main: Athenäum 1973 (= Fischer-Athenäum-Taschenbücher. Literaturwissenschaft; 2016), S. 216–234. Vgl. Erich Köhler: Über die Möglichkeiten historisch-soziologischer Interpretation (aufgezeigt an französischen Werken verschiedener Epochen).- In: ders.: Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania.- Frankfurt/Main, Bonn: Athenäum 1966, S. 83–103. Das Werk wurde 1984 – nachdem es 1972 bereits eine zweite Auflage erlebt hatte – im Fink-Verlag von Dietmar Rieger wieder vorgelegt, auch hier der Beitrag S. 83–103. Vgl. Klaus Garber: Gibt es eine bürgerliche Literatur im 17. Jahrhundert? Eine Stellungnahme zu Dieter Breuers gleichnamigem Aufsatz.- In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 31 (1981), S. 462–470. Der Beitrag entstand als Antwort auf Dieter Breuer: Gibt es eine bürgerliche Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts? Über die Grenzen eines sozialgeschichtlichen Interpretationsschemas.- In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 30 (1980), S. 211–226.
Ein historiographischer Konspekt
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giekritischen Forschungsberichts einer Lösung entgegen zu führen. Dieses Verfahren bietet den Vorteil, die Konstitution der später verwendeten historischen Kategorien und Erklärungsmodelle mitvollziehen und deren Provenienz sogleich identifizieren zu können. Literarhistorische Arbeiten, die ihrerseits ein umfängliches, teilweise noch gar nicht gesichtetes oder ausgeschöpftes Quellenmaterial zu verarbeiten haben wie die folgende Untersuchung, können in der Regel nur auf bereits vorliegende historische Untersuchungen zurückgreifen. Ist ihnen aber die eigene historische Quellenarbeit in der Regel versagt oder nur in bestimmten Detailfragen gestattet, dann ist es sinnvoller, gleich aus der Perspektive des eigenen Untersuchungsansatzes einen Einstieg auf der historiographischen Metaebene zu nehmen und dort die einschlägigen Positionen zu markieren, statt ein historisches Hintergrundgemälde zu entwerfen, dessen historiographische Provenienz unscharf bleibt und folglich auch nicht angemessen überprüfbar ist.
Der Beitrag der Verfassungsgeschichte: Das Werk Otto Hintzes Hier ist zunächst auf den Beitrag der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zur Erschließung des 17. Jahrhunderts einzugehen. Mit ihm datiert nicht nur zeitlich in der Geschichtswissenschaft eine neue Phase der Erforschung des 17. Jahrhunderts. Vielmehr gibt der institutionsgeschichtliche Ansatz zugleich den Blick auf eine der folgenreichsten berufssoziologischen Prozesse frei, der für die Konstitution des Begriffs ›Bürgertum‹ im 17. und 18. Jahrhundert wie für die geschichtliche Situierung der deutschen Literatur in diesem Zeitraum gleichermaßen von Bedeutung ist. Diese neue Forschungsstrategie ist – nach dem bahnbrechenden Vorgang Gustav von Schmollers – vor allem an den Namen Otto Hintzes geknüpft. In seinen vergleichenden verfassungs- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen und mit seiner Rezeption der entstehenden Soziologie erwies er sich [...] als der methodisch fortschrittlichste, wenn nicht überhaupt als der bedeutendste deutsche Historiker des späten Kaiserreichs und der Zwischenkriegszeit.12
Drei vielfach miteinander verzahnte Schichten zeichnen sich im Lebenswerk Hintzes ab: »Studien zur engeren preußischen Geschichte, zur allgemeinen vergleichenden Verfassungsgeschichte und zur allgemeinen Geschichtstheorie«.13 –––––––––
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Jürgen Kocka: Otto Hintze.- In: Deutsche Historiker. Band III. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe; 343– 345), S. 41–64, S. 41. Auf diesen kritischen, die Grenzen Hintzes bezeichnenden, seiner Leistung jedoch voll gerecht werdenden Beitrag Kockas, ist hier generell hinzuweisen. Dietrich Fischer: Die deutsche Geschichtswissenschaft von J.G. Droysen bis O. Hintze in ihrem Verhältnis zur Soziologie. Grundzüge eines Methodenproblems.- Diss. phil. Köln 1966, S. 129.– Hinzu kommen die politisch-publizistischen Arbeiten Hintzes. Dementsprechend ist der Artikel von Dietrich Gerhard: Otto Hintze. His Work and His Significance in Historiography.- In: Central European History 3 (1970), S. 17–48, nach einer einleitenden Charakteristik vierteilig gegliedert. Heranzuziehen zu Hintzes historischen Arbeiten sind vor allem die Einleitungen von Fritz Hartung zum ersten sowie von Gerhard Oestreich zum
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
Hier geht es vornehmlich um die Preußen gewidmeten Arbeiten. Sie entstammen zumeist der ersten Schaffensperiode Hintzes und fanden in der bekannten Gesamtdarstellung Die Hohenzollern und ihr Werk (1915) ihren ersten Abschluß. Mit diesen Arbeiten scheint sich Hintze in die Tradition der borussischen Historiographie zu stellen. Tatsächlich gewinnt der neue Ansatz Hintzes jedoch vor diesem Hintergrund Relief. Als äußerer Indikator für die von Hintze vollzogene Wendung mag dessen Absage an die vermeintlich nationale Mission gelten, welche die preußische historiographische Schule dem aufsteigenden Geschlecht der Hohenzollern als bestimmenden und bewußten Beweggrund politischen Handelns unterstellt hatte.14 Gleichwohl bewahrt auch für Hintze die Geschichte Preußens paradigmatischen –––––––––
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zweiten und dritten Band der Gesammelten Abhandlungen Hintzes: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Gerhard Oestreich mit einer Einleitung von Fritz Hartung. 3., durchgesehene und erweiterte Auflage.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970 (= Gesammelte Abhandlungen; 1); Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte. Hrsg. und eingeleitet von Gerhard Oestreich. 2., erweiterte Auflage- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964 (= Gesammelte Abhandlungen; 2); Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preussens. Hrsg. und eingeleitet von Gerhard Oestreich. 2., durchgesehene Auflage mit Personen- und Sachregister zu den Gesammelten Abhandlungen Band I–III.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967 (= Gesammelte Abhandlungen; 3). Vgl. auch Fritz Hartung: Zur Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland.- In: ders.: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze.- Berlin: Duncker & Humblot 1961, S. 431–469, bes. S. 448 ff. (Erstdruck 1956), sowie Gerhard Oestreich: Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland.- In: Historische Zeitschrift 208 (1969), S. 320–363 (mit Schwerpunkt auf der Darstellung Lamprechts, jedoch wiederholt auch das Werk Hintzes und dessen historischen Ort berührend). Zum Wesen des preußischen Staates, so Droysen in der Einleitung zu seiner Geschichte der preußischen Politik (Band I–V und Indexband, Berlin: Veit 1855–1886) gehöre »jener Beruf für das Ganze, dessen er fort und fort weitere Theile sich angegliedert hat. In diesem Beruf hat er seine Rechtfertigung und seine Stärke. Er würde aufhören nothwendig zu sein, wenn er ihn vergessen könnte; wenn er ihn zeitweise vergaß, war er schwach, verfallend, mehr als einmal dem Untergange nah« (Band I, S. 4). Dagegen Hintze: Geist und Epochen der preußischen Geschichte.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen III (Anm. 13), S. 1–29 (Erstdruck 1903), S. 2: »Es ist nicht richtig, daß die Hohenzollernfürsten von jeher den Gedanken der Regeneration Deutschlands in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt haben. [...] Was sie schaffen wollten und geschaffen haben, das war ein machtvoll selbständiger preußischer Staat; um Kaiser und Reich haben sie sich dabei nicht mehr gekümmert, als ihrem Interesse zuträglich war. Sie waren harte Partikularisten«.– Zur preußisch-nationalen Historiographie, der Hintze gleichwohl vielfach verpflichtet blieb, sei hier nur verwiesen auf: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft. Band I: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben. Hrsg. von Joachim Streisand.- Berlin: Akademie-Verlag 1963 (= Schriften des Instituts für Geschichte. Reihe 1; 20), insbesondere Hans Schleier: ›Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke)‹, S. 271–310; Georg G. Iggers: Der Gipfel des historischen Optimismus. Die ›Preußische Schule‹.- In: ders.: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart.- München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1971 (= Wissenschaftliche Reihe; 4059), S. 120–162 (englische Erstausgabe 1968); Günther List: Historische Theorie und nationale Geschichte zwischen Frühliberalismus und Reichsgründung.- In: Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Po-
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Rang, weil sich am Beispiel Preußens – auf der Basis eines glänzenden und gerade von Hintze miterschlossenen Quellenmaterials – innerhalb der Grenzen des alten Reichs der sukzessive Aufbau einer zentralen Regierungs- und Behördenorganisation, sowie auf der Provinzial- und Kreisebene die Paralysierung von ständischen Herrschaftsgewalten und Vertretungen, durch die Schaffung nachgeordneter Provinzial- und Kreisinstitutionen bzw. durch fürstliche Kommissare detailliert studieren ließ. Mit den Arbeiten Hintzes nahm – angeregt vor allem durch die Studien und Aktenpublikationen seines Lehrers Schmoller – die seit Ranke traditionell auf die Außenpolitik und das Wirken der großen Gestalten fixierte Geschichtsschreibung eines Droysen, Sybel und Treitschke eine Wendung nach ›innen‹ zur Soziologie und Geschichte staatlicher Institutionen.15 In ihnen sah Hintze ein ungleich konsistenteres, weil an feste gesellschaftliche Einrichtungen gebundenes Substrat staatlicher Souveränitätsbildung als im regentischen Machtwillen, wenngleich er kontingenten personalen Einflüssen durchaus ihr Recht in seiner vom Ansatz her strukturell orientierten Historiographie einzuräumen bereit war. Welche Beweggründe hat Hintze für diesen Zuwachs staatlicher Exekutivgewalt geltend gemacht; in welches Konzept geschichtlicher Evolution ist er einbezogen? Statt die Details des materiellen Ertrags der historischen Forschung hier wie im folgenden auszubreiten, sind es funktionsorientierte Fragen dieser Art, auf die die Aufmerksamkeit sich richten muß, weil auf dieser Ebene Fortschritte und Defizite am deutlichsten hervorspringen und entsprechende Anknüpfungen und Weiterführungen erlauben. In erster Linie griff Hintze auf außenpolitische Erklärungsmodelle zurück. Derart bewahrt sich vor allem das Erbe Rankes in seinem Werk. Seinen Modellbildungen liegen jedoch gleichermaßen politische wie theoretische Implikate zugrunde. Erstere sind erst kürzlich in einer sorgfältig dokumentierten und in der Einschätzung durchweg zutreffenden Studie entfaltet worden.16 Nicht die autonome Entfaltung der Gesellschaft, sondern Organisation und Machtentfaltung des Staates, wie er sie in der preußisch-deutschen, in der kontinentaleuropäischen Geschichte vor sich hatte, war seine politische Grunderfahrung. An Hintze läßt sich beobachten, wie schwer der politische Erfahrungshorizont einer Gesellschaft, einer Schicht selbst für ein wissenschaftlich-unabhängiges Mitglied zu überschreiten ist. Der ›Staat‹ besaß im politischen Bezugssystem Hintzes die dominierende Position: er erschien als das eigentliche Subjekt, der Akteur der Politik – souverän nach außen und nach innen. [...] Machtpolitische Effektivität, überhaupt Funktionsfähigkeit der Regierung, nicht justitia distributiva
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sitionen und gegenwärtige Aufgaben. Hrsg. von Bernd Faulenbach.- München: Beck 1974 (= Beck’sche Schwarze Reihe; 111), S. 35–53 und S. 171–173 (Anmerkungen). Zum Beitrag Schmollers in diesem Zusammenhang vgl. Fritz Hartung: Gustav von Schmoller und die preußische Geschichtsschreibung.- In: ders.: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit (Anm. 13), S. 470–496 (Erstdruck 1938). Vgl. Ernst Köhler: Bildungsbürgertum und nationale Politik. Eine Studie zum politischen Denken Otto Hintzes.- Bad Homburg, Berlin, Zürich: Gehlen 1970. Vgl. auch W.M. Simon: Power and Responsibility: Otto Hintze’s Place in German Historiography.- In: The Responsibility of Power. Historical Essays in Honor of Hajo Holborn. Hrsg. von Leonard Krieger, Fritz Stern.- Garden City, NY: Doubleday 1967, S. 199–219.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne ist für Hintze das entscheidende Kriterium einer guten Regierungsverfassung, das wichtigste Argument für die Monarchie.17
In der wissenschaftlichen Argumentation kehrte diese politische, am preußischen Obrigkeitsstaat orientierte Erfahrung wieder. Hintze lehnte es ab – und bekräftigte dies verschiedentlich – inneren sozioökonomischen Faktoren einen bestimmenden oder gar alleinigen Einfluß auf die Bildung staatlicher Institutionen einzuräumen. Statt dessen entwickelte er sein Konzept der Wechselwirkung zwischen außenpolitischer Konstellation und innerstaatlicher Formierung. Es ist eine einseitige, übertriebene und darum falsche Vorstellung, als ob die sozialen Klassenkämpfe das ausschließlich bewegende Moment in der Geschichte gewesen seien; die Völkerkämpfe sind noch weit wichtiger gewesen, und zu allen Zeiten hat der Druck von außen maßgebend auf die innere Struktur gewirkt; er hat auch oft den inneren Zwist niedergehalten oder zu seiner Ausgleichung gezwungen.18
Zu einer Anerkennung der gesellschaftlichen Interessenverbände und ihrer politischen Vertretung in Parteien und vor allem im Parlament hat sich Hintze – ungeachtet der Lösung vom preußischen Modell nach 1918 – nie vorbehaltlos durchringen können. Sie blieben mit dem Stigma des Niederen, Elementaren, Vorbewußten behaftet; Dignität eignete allein dem Staat und seinem rationalen, auf das Allgemeine zielenden Handeln. Diese Optik prägt auch Hintzes historiographische Arbeit. Deren Grenzen sind inzwischen deutlich sichtbar.19 Das darf aber nicht daran hindern, den innerhalb dieses Rahmens erzielten unveräußerlichen Ertrag seiner Studien festzuhalten und in die literarhistorische Arbeit einzubringen. Fixpunkt der innerstaatlichen Formationsprozesse blieb für Hintze das System der europäischen Nationalstaaten. Deren Zusammenbruch nach dem ersten Weltkrieg begünstigte die Erkenntnis seiner inneren Einheit und zeitlichen Extension. Der moderne Staat bildet sich nach dem Zerfall des mittelalterlichen Universalreiches und der damit einhergehenden Paralysierung der Feudalherrschaft heraus, indem er die aus der Feudalität herrührenden politischen Hoheitsrechte an sich zieht und monopolisiert. Das Ende des modernen Staates fällt zusammen mit der Krise der im Schoße dieses modernen Staates entstandenen bürgerlichen Gesellschaft und dem Versagen ihrer politischen Transformation nach dem Muster des klassischen Liberalismus. Der Sowjetkommunismus auf der einen Seite, der Faschismus in der italienischen Version auf der anderen markieren dieses Ende. In den Feudalreichen des Mittelalters hat sich der grundbesitzende Kriegerstand neben der Geistlichkeit die Ausübung der wichtigsten politischen Funktionen vorbehalten oder angeeignet, und die Entstehung des modernen Staates ist im wesentlichen nichts anderes als der Vorgang einer Verstaatlichung dieser feudalen Gesellschaftsorganisation. Dabei entsteht dann unter der Botmäßigkeit der souveränen, d.h. absoluten Staatsgewalt, eine neue indivi-
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Köhler: Bildungsbürgertum und nationale Politik (Anm. 16), S. 11 und S. 92 f. Hintze: Staatsverfassung und Heeresverfassung.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 52–83 (Erstdruck 1906), S. 55; vgl. auch ebd. I, S. 35 f.; I, S. 425 f.; II, S. 19 f. Vgl. Köhler: Bildungsbürgertum und nationale Politik (Anm. 16), passim, insbes. S. 131 ff.
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dualistisch aufgebaute bürgerliche Gesellschaft, die den Normen eines allgemeinen Privatrechts unterworfen ist; und diese bürgerliche Gesellschaft emanzipiert sich schließlich weitgehend von der Botmäßigkeit des absoluten Staates und steht dem voll entwickelten modernen Staat, dem liberalen Staat des 19. Jahrhunderts als eine ebenbürtige Organisation des Volkes auf individualistischer Basis gegenüber, durch die parlamentarische Repräsentativverfassung mit ihm verknüpft, aber sonst in einer staatsfreien Sphäre sich bewegend. Die große politische und soziale Krise der Gegenwart scheint zu einem neuen Zustand hinüberführen zu wollen, in dem diese staatsfreie Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft aufgegeben werden muß [...].20
Staatstheorie und Absolutismus Hier geht es um die Frühphase des modernen Staates, den Aufbau der absoluten Staatsgewalt. Der außenpolitische Selbstbehauptungs- und Expansionswille, der Macht- und Konkurrenzkampf zunächst von drei, dann fünf und schließlich von sechs europäischen Führungsmächten kehrt im Inneren als Zwang zum Ausbau schlagkräftiger und effizienter Institutionen zurück. In diesem nicht mehr ableitbaren Hegemonialstreben erblickte Hintze die geschichtliche Notwendigkeit für eine Ablösung der dualistischen Stände- durch den souveränen absolutistischen Machtstaat. Über den alten Landesverfassungen erhob sich der werdende Einheitsstaat, und seine Verfassung war die des fürstlichen Absolutismus. Der Absolutismus war damals unvermeidlich, hauptsächlich darum, weil die Idee des neuen, waffengewaltigen Großstaates nur allein in dem Haupte des Fürsten und seiner Diener lebte, weil sie in den einzelnen Landen nirgends Verständnis und Unterstützung fand. Und doch war ihre Verwirklichung eine Notwendigkeit, wenn man in dem Schieben und Drängen der Mächte einen festen, aufrechten Stand behaupten wollte. Die alten Landesverfassungen sind niemals förmlich aufgehoben worden, aber der neue Staat hat sie mit seinen Einrichtungen überbaut, so daß ihnen allmählich Licht und Luft benommen wurde; ihre Organe sind verkümmert aus Mangel an Tätigkeit.21
Der bleibende Beitrag Hintzes für die Erforschung des Absolutismus liegt darin, diesen allmählich fortschreitenden Aufbau staatlicher Souveränität in zahllosen, zumeist Preußen gewidmeten Einzelstudien auf verschiedenen Ebenen herauspräpariert und die Ergebnisse – vor allem in den späteren Veröffentlichungen in großangelegten komparatistisch-typologischen Studien – einer allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte insbesondere der germanisch-romanischen Völker integriert zu haben. Mit ihnen hat Hintze zu einem guten Teil selbst realisiert, was er als Desiderat nach Lektüre von Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft (dessen säkulare Bedeutung er sofort erkannte) geäußert hatte: Die Kategorie der Entwicklung spielt in seinen Betrachtungen nur eine untergeordnete Rolle. Sie mußte zurückgedrängt werden, wenn die Systematik klar und durchsichtig herauskommen und die Soziologie sich nicht in Geschichte auflösen sollte. In der rücksichtslos energischen Durchführung dieses Standpunktes liegt eine Stärke des Weberschen Werkes;
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Hintze: Wesen und Wandlung des modernen Staats.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 470–496 (Erstdruck 1931), S. 473. Hintze: Geist und Epochen der preußischen Geschichte (Anm. 14), S. 10 f.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne aber da alles gesellschaftliche Sein zugleich ein Werden ist, so ist damit unvermeidlich die Schwäche verbunden, daß die dynamische Spannung der Verhältnisse nicht ganz zu ihrem Rechte kommt. Diese Soziologie schreit gleichsam nach einer verfassungsgeschichtlichen Ergänzung.22
Souveränität meint für ihn die: »Herauslösung des Staates als eines Individuums aus der Gebundenheit alter Gemeinschaftsverhältnisse, Übergang zu individueller Selbstbestimmung. Voraussetzung dazu ist: Unabhängigkeit nach außen und Ausschließlichkeit der Staatsgewalt im innern.«23 Der souveräne Staat tritt geschichtlich zuerst als souveräner Fürstenstaat in Erscheinung. Die Souveränität ist zunächst historisch: Fürstensouveränität mit der Neigung zum Absolutismus, der mit der absoluten ausschließlichen Geltung der Staatsgewalt sich leicht verbindet, der aber nur in solchen Ländern wirklich auftritt, wo das Staatsgebiet durch die zusammenfassende monarchische Politik erst neu geschaffen worden ist.24
Als solcher ist er »Machtstaat. Er muß sich in der neuen Staatengesellschaft behaupten können.«25 Der Aufbau stehender Heere pflegt als wichtigstes Mittel zur Durchsetzung und Demonstration fürstlicher Souveränität erwähnt zu werden. Auch Hintze hat die entscheidende Rolle dieses neuen Machtinstruments in den Händen der Fürsten vielfach gewürdigt. Wie anderwärts so bildet auch im Preußen des Großen Kurfürsten das Heer ein hervorragendes Bindeglied zwischen den heterogenen und ursprünglich autonomen Provinzen. Nächst der auswärtigen Politik, die von Zeit zu Zeit mit den gewaltigen Hammerschlägen kriegerischer Aktionen dies Staatswesen fester zusammengeschmiedet hat, ist es ihr Instrument, die stehende Armee, die, nun auch in Friedenszeiten den beständigen Druck von außen zur Empfindung bringend, auch seine zusammenhaltende Wirkung für das Innere bewährt hat. Sie ist geradezu die Grundsäule der monarchischen Staatseinheit geworden.26
Hintze ist allerdings hinter dieses Faktum zurückgegangen und hat die verfassungsgeschichtlichen Folgewirkungen des Heeresaufbaus studiert. Das Heer bedarf der Institutionen zur Einquartierung, zur Versorgung und Besoldung etc. Die gleichfalls unter dem Großen Kurfürsten neu geschaffenen Kriegskommissariate auf Kreis- und Provinzebene sowie das später unter Friedrich I. eingerichtete zentrale Generalkriegsdirektorium genügen diesem Bedürfnis. Eben diese Behörden unterminieren jedoch das bis dahin den Ständen vorbehaltene Recht der Steuereinnahme und Verwaltung. Mit der Erhebung der Akzise in den Städten, der Kontribution auf dem flachen Land geht die allmähliche Übernahme der gesamten Verwaltungs- und Wohlfahrtspflege durch die ––––––––– 22
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Hintze: Max Webers Soziologie.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen II (Anm. 13), S. 135–147 (Erstdruck 1926), S. 144. Hintze: Wesen und Wandlung des modernen Staats (Anm. 20), S. 478. Ebd., S. 479. Ebd. Hintze: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen III (Anm. 13), S. 313–418 (Erstdruck 1900), S. 315; vgl. beispielsweise auch ebd. III, S. 13 f.; III, S. 381 ff.
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fürstlichen Interessenvertretungen Hand in Hand, wie sie im zeitgenössischen Schrifttum unter dem Titel des ›Polizeiwesens‹ zusammengefaßt werden. Es ist eine wahre Revolution, die damit über die alte ständisch-territoriale Landesverfassung kommt. Diese Kommissarien sind die eigentlichen Pioniere des Einheitsstaates. Sie bilden von vornherein eine zusammenhängende hierarchisch-gegliederte Organisation mit einheitlicher Spitze: im Zentrum der Generalkriegskommissar, ad latus des obersten Kommandeurs, des Generalfeldmarschalls; in den einzelnen Ländern und Provinzen die Oberkriegskommissare, ebenfalls in ständiger Berührung mit den Truppenkommandeuren, in den unteren Bezirken, in Kreisen und Städtekomplexen die Land- oder Kreiskommissarien, die commissarii locorum.27
So nimmt es nicht Wunder, daß den Ständen diese neuen Behörden noch mehr verhaßt sind als die Amtskammern auf den fürstlichen Domänen. Diese werden gleichfalls im 17. Jahrhundert mit dem Zweck neu organisiert, dem Adel das Kammergut aus der Hand zu reißen, eine geordnete, strenge und genaue Verwaltung einzuführen, die verdunkelten oder in Vergessenheit geratenen Ansprüche des Domänenfiskus klarzustellen und festzuhalten, unter Umständen auch gerichtlich zu verfolgen [...].28
Die wachsenden Ansprüche haben auch auf diesem Sektor noch im 17. Jahrhundert (1683) zur Gründung einer zentralen Behörde, der Hofkammer, geführt, die nach ihrer Reorganisation im Jahre 1713 unter der Bezeichnung ›Generalfinanzdirektorium‹ firmierte, bevor sie infolge ständiger Kompetenzstreitigkeiten 1723 mit dem ›Generalkriegskommissariat‹ zum ›Generaldirektorium‹ zusammengefaßt wurde. Auch die auswärtigen Angelegenheiten waren gleichermaßen schon seit längerem einer besonderen Konferenz einiger geheimer Räte vorbehalten, bevor es zu Anfang des 18. Jahrhunderts zur Gründung eines förmlichen Departements für Auswärtiges kam. »Was dem alten Geheimen Ratskollegium übrigblieb, das waren vor allem die Justizverwaltung und die geistlichen Angelegenheiten.«29 Während sich derart auf der Ebene der Zentrale der Zuwachs an Kompetenzen in zunehmender Differenzierung und Spezialisierung auswirkte, verloren in den Provinzen die alten Landesregierungen im gleichen Maß ihre Regierungsfunktion wie der Zentralisationsprozeß voranschritt. »Sie nahmen mehr und mehr den Charakter von Justizkollegien an, die allerdings zugleich auch Kirchen- und Schulsachen und die sogenannten Hoheitssachen zu besorgen hatten.«30 In der Justiz hinkte die Entwicklung am weitesten hinterher. Hier war erst zu Beginn ––––––––– 27
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Hintze: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König (Anm. 26), S. 321; vgl. weiter auch III, S. 11; III, S. 421 ff. (glänzende Zusammenfassung); I, S. 431 (Übernahme ›polizeilicher‹ Aufgaben). Als große komparatistische Studie vgl. Hintze: Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 242–274 (Erstdruck 1910). Hintze: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König (Anm. 26), S. 320. Hintze: Die Entstehung der modernen Staatsministerien.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 275–320 (Erstdruck 1908), S. 298. Hintze: Der preußische Militär- und Beamtenstaat im 18. Jahrhundert.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen III (Anm. 13), S. 419–428 (Erstdruck 1908), S. 422.
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des 18. Jahrhunderts »unter der Einwirkung der allgemeinen auf den Einheitsstaat gerichteten Tendenzen der Zeit [...] der große Gedanke eines allgemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten entsprungen«, wie er dann schließlich im Allgemeinen Landrecht von 1794 seine Realisierung fand.31 Auf wirtschaftlichem Sektor hingegen hat Hintze wiederum in einer quellenmäßig glänzend dokumentierten Fallstudie den Aufbau eines gänzlich neuen Industriezweiges, der Seidenindustrie, auf staatliche Verfügung hin und einzig orientiert an staatlichen Interessen dokumentieren können.32 Darauf ist sogleich im systematischen Zusammenhang zurückzukommen. Hintzes Fazit: »Im Zeitalter des Absolutismus hatte bei uns der Staat, d.h. der obrigkeitlich-militärische Staat, die Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen Interessen fast ganz verschlungen«.33 Der Kapitalismus ist nicht vom Staat geschaffen worden – sein Ausgangspunkt ist ein ganz anderer als der der staatlichen Wirtschaftspolitik –, aber in der Verbindung mit dem Staat, in seinem Dienst, durch seinen Schutz und seine Förderung ist er zu der maßgebenden Wirtschaftsform herangewachsen. Sein Frühstadium fällt mit der Epoche der merkantilistischen Wirtschaftspolitik zusammen.34
Und schließlich hat Hintze für die Konstitution uneingeschränkter staatlicher Souveränität auch deren Ausdehnung und Behauptung gegenüber den Konfessionen erkannt. Die Reformation hatte in praxi zur Verquickung territorialer und konfessioneller Interessen geführt, in der ein mittelalterliches Erbe in anderer Gestalt nachlebte. Dieses mußte beseitigt werden, wenn anders der absolute Staat keine rivalisierende Macht neben sich und keine Vermischung der Kompetenzen dulden, sondern seinerseits »einen von Konfessionalismus ganz freien, über den Parteien erhabenen Standpunkt« einnehmen wollte.35 Die Voraussetzungen dafür waren mit dem Übertritt Johann Sigismunds zum Calvinismus 1613 geschaffen worden. Er erfolgte auch aus Gründen der Staatsraison. Im Verzicht auf das territorialstaatliche Recht des ius reformandi manifestierte sich ein neues Prinzip der Toleranz. Das war eine Toleranz, die nicht eigentlich aus religiöser, sondern aus politischer Quelle stammte: in dem konfessionell so stark gespaltenen Deutschland konnte nur ein Fürstenhaus, das religiöse Duldung übte, sich zu einer Großmacht erweitern. Es war ein neues Prinzip, das damit in die deutsche Staatenwelt eintrat. Der in sich abgeschlossene konfessionelle Kleinstaat war überwunden; Kirche und Staat, die bisher zusammengefallen waren, begannen sich begrifflich voneinander zu sondern. [...] Geistliches und weltliches Regiment waren jetzt nicht mehr zwei Funktionen ein und desselben, in Glauben und Bekenntnis geeinten christlichen Körpers, sondern das geistliche Regiment erschien nun als
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Hintze: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König (Anm. 26), S. 396. Hintze: Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen. Band III: Darstellung.- Berlin: Parey 1892 (= Acta Borussica. Denkmäler der Preußischer Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. Seidenindustrie). Hintze: Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 359–389 (Erstdruck 1911), S. 365. Hintze: Wesen und Wandlung des modernen Staats (Anm. 20), S. 482. Hintze: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König (Anm. 26), S. 400.
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ein Attribut der weltlichen Herrschaft, als ein Zubehör der Staatsgewalt. Erst jetzt wurde die Kirche Staatskirche, dem Staate ein- und untergeordnet. Die alte Auffassung der kirchenregimentlichen Gewalt, die aus dem Reformationszeitalter stammte, war die gewesen, daß der Landesherr als Summus episcopus nur das erste Glied der Landeskirche sei, daß er sein Regiment zu führen habe nach den Bekenntnisschriften der Kirche und im Einverständnis mit ihren Lehrern. Jetzt erschien das Kirchenregiment als der Ausfluß eines Staatshoheitsrechtes, das dem Regenten seine Stelle nicht sowohl innerhalb einer einzelnen Kirchengemeinschaft, als vielmehr über den verschiedenen Konfessionen anwies, die er zu friedlicher Gemeinschaft, zu ungestörtem Zusammenleben durch sein Machtgebot zwingen konnte.36
Grenzen des Ansatzes Damit sind zentrale Momente staatlicher Souveränitätsbildung im Zeitalter des Absolutismus, wie sie Hintze am Beispiel Preußens entfaltet hat, im Umriß gekennzeichnet. Es liegt nicht im Interesse dieser Studie, weiter ins Detail zu gehen. Ebenso soll davon Abstand genommen werden, die Aufnahme und Fortführung der Forschungen Hintzes vor allem im Umkreis seiner Berliner Schule weiter zu verfolgen.37 Hier geht es darum, konkurrierende Theorieansätze in re––––––––– 36
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Hintze: Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen III (Anm. 13), S. 56–96 (Erstdruck 1906), S. 72 f. und ders.: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König (Anm. 26), S. 399. Ich verweise hier nur auf die thematisch unmittelbar in den Zusammenhang gehörigen Arbeiten von Fritz Hartung, die in den Aufsatzsammlungen Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen (Leipzig: Koehler & Amelang 1940), sowie in dem schon herangezogenen Band Staatsbildende Kräfte der Neuzeit (Anm. 13) vereint sind. Einschlägig in der ersten Sammlung: ›Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte‹ (1932); ›Der deutsche Territorialstaat des 16. und 17. Jahrhunderts nach den fürstlichen Testamenten‹ (1912); ›Die politischen Testamente der Hohenzollern‹ (1913); in der zweiten Sammlung: ›Herrschaftsverträge und ständischer Dualismus in deutschen Territorien‹ (1952); ›Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung‹ (1942– 48). Heranzuziehen ist auch ders.: Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 9. Auflage.- Stuttgart: Koehler 1969 (erste Auflage 1914). Vgl. auch den gemeinsam mit Roland Mousnier verfaßten Beitrag: Quelques problèmes concernant la monarchie absolue.- In: Relazioni del X congresso internazionale di scienze storiche. Band IV: Storia moderna.- Firenze: Sansoni 1955, S. 1–55, sowie die Festschrift: Forschungen zu Staat und Verfassung. Festgabe für Fritz Hartung. Hrsg. von Richard Dietrich, Gerhard Oestreich.- Berlin: Duncker & Humblot 1958, insbesondere die Beiträge zu dem Abschnitt ›Regierung, Verwaltung und Selbstverwaltung‹. Des weiteren Gerhard Oestreich: Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit.- In: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze.- Berlin: Duncker & Humblot 1969, S. 201–234 (Erstdruck 1935); ders.: Der brandenburg-preußische Geheime Rat vom Regierungsantritt des Großen Kurfürsten bis zu der Neuordnung im Jahre 1651. Eine behördengeschichtliche Studie.- Diss. phil. Berlin 1935 (zugleich Band 1 der von Hartung herausgegebenen Reihe Berliner Studien zur neueren Geschichte, Würzburg: Triltsch 1937); ders.: Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches.- In: Bruno Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Band II: Von der Reformation bis zum Ende des Absolutismus. 16. bis 18. Jahrhundert. 8., vollständig neubearb. Auflage.Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1955, S. 317–365 (in der 9. Auflage auch
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präsentativer Gestalt zu skizzieren und den Akzent auf die Differenzen in den Ansätzen zu legen, um derart das Spektrum der Extreme zu vergegenwärtigen. Die Arbeiten von Hintze und seinen Schüler waren zentriert um die ›staatsbildenden Kräfte der Neuzeit‹, um den treffenden Titel einer Aufsatzsammlung seines Nachfolgers Fritz Hartung aufzugreifen. Hintzes Bedeutung zeigt sich gerade darin, daß er die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte mit dem außenpolitischen Mächtespiel auf der einen, dem inneren sozialen Kräftefeld auf der anderen Seite zu vermitteln suchte. Das führte ihn notwendig zur Berücksichtigung sozialer und ökonomischer Strukturen jenseits bzw. am Rande staatlicher Integrationsmechanismen.38 Seine querschnittartigen Strukturanalysen stehen hierfür ebenso ein wie ein Fragment seiner niemals publizierten und heute verschollenen [inzwischen jedoch partiell wieder aufgefundenen!] großen vergleichenden Verfassungsgeschichte. Gerade dieses Fragment zur Verfassungsgeschichte Polens zeigt, in welchem Umfang sozialen und ökonomischen Faktoren Eingang in die Verfassungsgeschichtsschreibung gewährt werden sollte.39 Aber gedacht wird doch in der Regel von ›oben‹, vom Staate her, und die außerstaatlichen Elemente kommen vornehmlich im Lichte der Staatsbildung als stimulierende oder retardierende Elemente zur Geltung.40 Die politischen, inzwischen überzeugend diagnostizierten Implikationen dieses Ansatzes wurden angedeutet. Daß die Faszination durch den preußischen Militärstaat auch in der ––––––––– 38
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selbständig in der Wissenschaftlichen Reihe (Nr. 4211) des Deutschen TaschenbuchVerlags als Band XI (1974) von Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte). Ich verweise hier vor allem auf den wiederholt herangezogenen Aufsatz Hintzes: Staat und Gesellschaft unter dem ersten König (Anm. 26), besonders den Schlußabschnitt ›Die wirtschaftlich-sozialen Zustände und die Anfänge des Polizeistaates und des Merkantilismus‹, S. 400 ff. Vgl. aber auch von Hintze: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Band VI/1: Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II.- Berlin: Parey 1901 (= Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Behördenorganisation und allgemeine Staatsverwaltung), besonders den ersten Abschnitt: ›Geist und System der preußischen Verwaltung um 1740‹. Hintze: Verfassungsgeschichte Polens vom 16. bis 18. Jahrhundert.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 511–562 (aus dem Nachlaß publiziert); dazu S. 511 die Anmerkung des Herausgebers sowie die Einleitungen von Hartung und Oestreich. Dazu sehr ausgewogen Kocka: Otto Hintze (Anm. 12), S. 43 ff. Hintzes Ansatz ermöglichte es, »die Verwaltung nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch in ihren vielfältigen Funktionen darzustellen; auf Grund der tief ins ökonomische und soziale Leben eingreifenden Tätigkeit der absolutistisch-merkantilistischen Verwaltung wurde Hintzes Verwaltungsgeschichte damit in einigen Teilen zur äußerst konkreten, wenn auch immer vom Blickpunkt der Verwaltung aus geschriebenen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; [...] Seine dementsprechende methodische Grundentscheidung, nämlich: unter ständiger Berücksichtigung des Wechselverhältnisses von Außen- und Innenpolitik (mit leichter Neigung zum Primat der Außenpolitik) Geschichte ›von oben‹ her zu schreiben, etwa sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Momente als Widerstände, Resultate und Begleiterscheinungen der vielseitigen Verwaltungstätigkeit zu erfassen sowie Verwaltungsgeschichte im gekennzeichneten umfassenden Sinn als Kern der Gesamtgeschichte zu verstehen – diese Grundentscheidung erwies sich für seine Untersuchungen des 17. und 18. Jahrhunderts als sehr erfolgreich und relativ angemessen [...].« (S. 43–45).
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Historiographie des Absolutismus zur Zeit des Faschismus ein fatales Nachspiel hatte, ist bekannt und korrespondiert mit der gleichfalls inzwischen erforschten Rezeption des ›Barock‹ in der Literaturwissenschaft.41 Auf die Arbeiten Hintzes, der angesichts des heraufziehenden Dritten Reichs verstummte, konnte sich die faschistische Aktualisierung des Absolutismus an keiner Stelle berufen. Sie ist nicht zuletzt verantwortlich für den Wechsel der Forschungsstrategien und der Erkenntnisinteressen nach dem zweiten Weltkrieg, wie sie sich auch an der Absolutismus-Forschung deutlich ablesen lassen.42
Alteuropäische Wende: Der Wiederaufstieg der Stände Die nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und des Faschismus in zweimaligem Anlauf erfolgte Etablierung parlamentarischer Regierungsformen lenkte den Blick auf deren Vorgeschichte. Er traf jenseits der nationalstaatlichen Ordnungsprinzipien des 19. Jahrhunderts, die sich gleichfalls inzwischen diskreditiert hatten, im vorrevolutionären Europa auf gesellschaftliche Formationen und Herrschaftsinstitutionen, in denen sich ›alteuropäische‹ Gemeinsamkeiten manifestierten, die ihrerseits einer neuen supranationalen Orientierung nach 1945 entgegenkamen. Im Gegensatz zum etatistischen Ansatz der älteren Absolutismus-Forschung richtete sich das Augenmerk nun auf die vom staatlichen Formierungsprozeß nicht erreichten bzw. intakt gebliebenen alteuropäischen Korporationen und insbesondere auf die Rolle der landständischen Vertretungen. Auch diese Forschungsrichtung ist wiederum mit zentralen Aspekten unserer literaturwissenschaftlichen Untersuchungen verbunden und muß deshalb in ihren Grundzügen rezipiert werden. Führt von der Schmoller/Hintze-Schule aus der Weg zur Geschichte und Soziologie der Staatsbeamtenschaft, so von der neueren antietatistischen Ständeforschung zur ›alteuropäischen Adelswelt‹ und zu ihrer Rolle im Zuge des sich formierenden absolutistischen Staates. Die Verknüpfung dieser beiden für die Geschichte der neueren europäischen Nationalliteraturen so entscheidenden Momente geleitet derart auch zu den historischen Grundlagen der hier verfolgten Gattungsanalytik.
Nochmals die Stimme Otto Hintzes Wenn hier zunächst nochmals auf Hintzes Beiträge zur Geschichte und Typologie ständischer Vertretungen hinzuweisen ist, so zeigt sich darin ein weiteres –––––––––
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Dazu Hannelore Lehmann: Zum Wandel des Absolutismusbegriffs in der Historiographie der BRD.- In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 22 (1974), S. 5–27, S. 8 f. Grundlegend für die parallelen Vorgänge in der Literaturwissenschaft auf dem Sektor der ›Barockforschung‹: Hans Harald Müller: Barockforschung. Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870–1930.- Darmstadt: Thesen-Verlag 1973 (= Germanistik; 6), insbesondere S. 169 ff. Dazu grundsätzlich Lehmann: Zum Wandel des Absolutismusbegriffs (Anm. 41), S. 10 ff.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
Mal die Spannweite seines Werkes.43 Noch immer knüpft die gegenwärtig lebhafte Diskussion um dieses Thema an seine Forschungen an. Schon in seinen Arbeiten zur Verfassungs- und Behördengeschichte Preußens hatte sich Hintze mit den Herrschaftsverhältnissen und Verfassungsorganen auf Kreis- und Lokalebene immer wieder zu befassen – nicht zuletzt, um hier die Fusionierung herkömmlicher Rechte und Gewalten mit den modernen Zentralisierungstendenzen im einzelnen studieren zu können. Die Abhandlung über den ›Ursprung des preußischen Landratsamts in der Mark Brandenburg‹ (1915) bietet hierfür ein Muster. In den zwei weiteren erhaltenen Akademieabhandlungen über die ›Wurzeln der Kreisverfassung in den Ländern des nordöstlichen Deutschland‹ (1923) und zur ›Staatenbildung und Kommunalverfassung‹ (1924) fanden diese Studien ihre gültige Zusammenfassung. Die letzten großen Arbeiten sind dann – neben dem Thema des modernen Staats – aus umfassend komparatistischtypologischer und welthistorischer Perspektive, die die Anregung Max Webers nirgendwo verleugnen, zugleich jedoch stets als Korrektiv fungieren, den ständischen Vertretungen und der Repräsentativverfassung gewidmet – dem beherrschenden Thema auch der jüngeren Absolutismusforschung, die Hintze derart gleichfalls vielfach vorwegnimmt. Hintzes Arbeiten zum Ständewesen und zu den geschichtlichen Wurzeln der Repräsentativverfassung bilden das Komplement zum Thema seines Lebens, der Phänomenologie des modernen Staates und seiner Formierung im Zeitalter des Absolutismus. Die Physiognomie des absolutistischen Staates gewinnt in der Rekonstruktion der Ständeverfassung und ihrer geschichtlichen Basis nochmals an Schärfe des typologischen Umrisses und der zeitlichen Sequenzierung. Nur darum soll es hier gehen. Zwei Beweggründe hat Hintze immer wieder namhaft gemacht, die im Zusammenspiel mit weltgeschichtlichen Konstellationen dafür verantwortlich sind, daß sich Ständewesen und Repräsentativverfassung nur auf dem Boden des christlichen Abendlandes ausgebildet haben: die Existenz der römisch-katholischen Kirche und die Fundamentierung ökonomischer, sozialer und politischer Organisation des Mittelalters im System des Feudalismus. Bildet – in Assimilierung germanischer Vorstellungen – die Bindung des Herrschers an göttliches Recht, wie sie in der Formel dei gratia zum Ausdruck kommt, »eine Abmilderung des heidnischen magisch-sakralen Charakters der Herrscherwürde und zugleich auch eine Garantie gegen ihre Entartung zu tyrannischer Willkür und universaler Allgewalt« – und auf diese Weise zugleich den »geistige[n] Nährboden für die ständischen Verfassungen des Abendlandes« (die im übrigen in der geistlichen Hierarchie und im Kurienwesen maßgebliche Vorbilder fin––––––––– 43
Vgl. zum folgenden Gerhard Oestreich: Ständestaat und Ständewesen im Werk Otto Hintzes.- In: Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. von Dietrich Gerhard.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969 (= Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte; 27), S. 56–71, sowie die Einleitung Oestreichs zu Band III der Gesammelten Abhandlungen Hintzes: ›Otto Hintze und die Verwaltungsgeschichte‹, S. 7*– 31*, hier S. 24* ff. Vgl. auch Fritz Hartung: Otto Hintze.- In: ders.: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit (Anm. 13), S. 497–520 (Erstdruck 1941), S. 515 ff.
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den) –,44 so die feudale »Exemtion gewisser Personen oder Gruppen von der unmittelbaren Einwirkung der öffentlichen Herrschergewalt und der Übergang öffentlich-rechtlicher Gewalten auf eben diese Personen oder Gruppen mit der Folge abgesonderter lokaler Selbstregierung« den rechtlich-politischen Nährboden, der selbstverständlich in der »wirtschaftliche[n] und soziale[n] Ungleichheit die tatsächliche Grundlage« hat.45 Dieser von Hintze differenziert entwickelte Sachverhalt kann hier nicht rekapituliert, sondern nur die Stellung des absolutistischen Staates in der geschichtlichen Evolution des Repräsentativsystems markiert werden. Hintze hat die ständischen Vertretungen entwicklungsgeschichtlich durchaus als Vorstufen und Vorbilder für die modernen konstitutionellen Repräsentativsysteme angesehen. Beide seien – wie er sagte – »Glieder einer zusammenhängenden historischen Entwicklungsreihe«.46 Im Rahmen dieser genetischen Zusammengehörigkeit wurden dann jedoch die prinzipiellen Gegensätze um so schärfer akzentuiert. Die Möglichkeit dazu hatte sich Hintze vor allem durch seine nochmals bahnbrechende Abhandlung über ›Wesen und Verbreitung des Feudalismus‹ (1929) geschaffen. Ständische Vertretungen sind keine Volksvertretungen. In dieser Kategorie ist nicht nur der Begriff des ›Volkes‹ fehl am Platze, »weil der moderne Begriff des Volkes als einer handlungsfähigen Gesamtheit auf jene älteren Zustände nicht anwendbar ist«.47 Vielmehr gilt auch der Begriff der Vertretung nur in einem eingeschränkten und sehr speziellen Sinn. Denn hier handelt es sich ja nicht um Vertretung auf Grund eines Mandats, sondern auf Grund traditionaler Rechte, ohne daß den Vertretenen dabei eine Willensäußerung zustände. Sie gelten als politisch unmündig oder wenigstens als unselbständig. Sie werden kraft geltenden Rechtes von den landtagsfähigen Elementen vertreten, wie etwa eine Familie durch den Hausvater oder ein Mündel durch den Vormund.48
Die bekannte, von Hintze akzeptierte Formel, daß die Stände ›das Land sind‹, meint eben, daß herkömmliches Feudalrecht »diese ständischen Schichten mit Privilegien ausgestattet hat, kraft deren sie allein als politisch selbständige und berechtigte Elemente betrachtet werden.«49 Ihre Exemtion von der Einwirkung öffentlicher zentraler Herrschaftsgewalt begründet jenen Dualismus, der für den feudalen Ständestaat als charakteristisch gekennzeichnet wird. Er besteht im Grunde darin, daß dem ständischen Staat, wenn man ihn so nennen will, noch die Einheit und Geschlossenheit des modernen Staates, insonderheit die Einheit der Staatsgewalt, fehlt; daß er vielmehr gleichsam aus zwei Hälften, einer fürstlichen und einer stän-
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Hintze: Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 120–139 (Erstdruck 1930), S. 151. Hintze: Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung.- In: ders.: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 140–185 (Erstdruck 1931), S. 146 und S. 123. Hintze: Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung (Anm. 45), S. 140. Hintze: Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes (Anm. 44), S. 121. Ebd. Ebd., S. 122.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne dischen, besteht, die noch nicht als Organe ein und derselben Staatspersönlichkeit erscheinen, weil dieser moderne Staatsbegriff im Mittelalter überhaupt noch nicht existiert. [...] Es gibt noch kein allgemein gleiches Staatsbürgerrecht. Statt des Prinzips der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit herrscht vielmehr das der rechtlichen Ungleichheit, das Privilegienrecht.50
Die Bildung von Ständen stellt jedoch insofern einen ersten wichtigen Schritt auf dem Wege zum modernen Staat dar, als die Vielfalt feudaler mittelalterlicher Herrschaftsgewalten in einem unverkennbaren Akt der Rationalisierung und Intensivierung herrschaftlicher Funktionen zu einem dualen System zusammengefaßt werden. Diesen Prozeß der Ständebildung sieht Hintze in den deutschen Territorien – ungeachtet aller regionalen Differenzen – unter Führung des Fürstentums vonstatten gehen; sie sind im ganzen mehr »als eine Schöpfung der Landesherren« anzusehen.51 Die fürstliche Macht behauptet sich schon hier als ›Hauptträger‹ der modernen Staatsbildung. Sie bedient sich bei ihrem Werke natürlich in erster Linie derjenigen Elemente der Bevölkerung, die durch Besitz und durch lokale obrigkeitliche Autorität zu militärischen und finanziellen Leistungen besonders befähigt sind und die so zu Helfern der fürstlichen Gewalt beim Aufbau des neuen Staates werden: das sind eben die sogenannten ›Stände‹.52
Die Opposition fürstlicher und ständischer Gewalt kann daher zugleich als Integration der privilegierten Mächte in den sich konsolidierenden Territorialstaat betrachtet werden. Politische Mitwirkung und soziale Privilegierung gehen Hand in Hand; ja, die Möglichkeit des ständischen Zusammenschlusses kann selbst als vornehmstes Privileg der maiores et meliores verstanden werden. Im Zeitalter des Absolutismus vollzieht sich dann »der Übergang von dem früheren Konglomerat kleinstaatlicher Bildungen zu den zentralisierten Großstaaten«.53 In diesem Prozeß erweisen sich die Stände als Hemmnisse. Die geschichtliche Aufgabe des Absolutismus erblickt Hintze folglich darin, auf dem Wege zum territorialen bzw. nationalen Einheitsstaat den für den Ständestaat charakteristischen Dualismus zu brechen und staatliche Souveränität in einer Hand zu monopolisieren. Aus globaler historischer Perspektive nimmt sich dieser Vorgang jedoch nur als Übergangszustand aus. So wie sich der Ständestaat als Zwischenglied zwischen dem lockeren feudalen Herrschaftsverband und dem zentralistischen absolutistischen Staat darstellt, so dieser als Zwischenglied zwischen dem ständischen Korporationsverband und den nachrevolutionären repräsentativen Systemen. Sobald die durch die politische Notwendigkeit geforderte Großstaatbildung vollzogen ist, sehen wir das repräsentative Prinzip zugleich mit dem Erwachen eines politischen Nationalbewußt-
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Ebd., S. 122 f. Ebd., S. 133. Hintze: Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung (Anm. 45), S. 147. Ebd., S. 180. Vgl. dazu ders.: Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppenheimers System der Soziologie.- In: Gesammelte Abhandlungen II (Anm. 13), S. 239–305 (Erstdruck 1929), S. 302 f.
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seins in diesen zentralisierten Großstaaten wieder aufleben in der neuen Form der konstitutionellen Verfassung.54
Im übrigen sieht Hintze sehr wohl, daß die ständischen Mächte im Absolutismus allenfalls zurückgedrängt, keinesfalls jedoch ausgeschaltet werden. Und vor allem hat er mit aller Deutlichkeit immer wieder herausgestellt, daß die tendenzielle politische Entmachtung mit der Aufrechterhaltung und teilweisen Steigerung sozialer und ökonomischer Privilegien vor allem des Adels einhergeht, der auf diese Weise gleichermaßen an den Staat gebunden wird, wie er sich als dessen Stütze behauptet. In seiner Abhandlung über den Feudalismus hat Hintze gezeigt, wie diese Privilegien bis tief ins 19. Jahrhundert hineinreichen und nur sukzessive abgebaut werden. Feudalismus sieht Hintze durch drei Funktionen gekennzeichnet: 1. die militärische: Aussonderung eines hochausgebildeten, dem Herrscher in Treue verbundenen berufsmäßigen Kriegerstandes, der auf Privatvertrag beruht und eine bevorrechtigte Stellung einnimmt, 2. die ökonomisch-soziale: Ausbildung einer grundherrschaftlichbäuerlichen Wirtschaftsweise, die diesem privilegierten Kriegerstand ein arbeitsfreies Renteneinkommen gewährt, 3. lokale Herrenstellung dieses Kriegsadels und maßgebender Einfluß oder auch selbstherrliche Absonderung in einem Staatsverband, der dazu prädisponiert ist durch eine sehr lockere Struktur, durch das Überwiegen der persönlichen Herrschaftsmittel über die anstaltlichen, durch Neigung zum Patrimonialismus und durch eine sehr enge Verbindung mit der kirchlichen Hierarchie.55
Jedes dieser Momente bestimmt eine der drei Phasen in der geschichtlichen Entfaltung des Feudalismus: erstens eine Epoche des Frühfeudalismus, in der der militärische Faktor überwiegt – sie reicht etwa bis zum Ende des 12. Jahrhunderts; zweitens eine Epoche des Hochfeudalismus, in welcher der Kriegsadel seinen politischen Einfluß zu einem Höhepunkt steigert, sei es in der Form partikularistischer Absonderung im lockeren Staatsverband und fürstenmäßiger Selbstherrlichkeit wie in Deutschland, sei es in der Form eines ständisch-korporativen Zusammenschlusses innerhalb eines festeren Staatsverbandes gegenüber der Krongewalt wie in England – sie reicht etwa bis zum 16. oder 17. Jahrhundert; drittens eine Epoche des Spätfeudalismus, in der das vorwiegende Interesse des Adels sich auf die Erhaltung und Ausnutzung seiner ökonomisch-sozialen Stellung als Grundherr oder Gutsherr konzentriert – sie reicht bis an die Epoche der Französischen Revolution und bis zu der Auflösung der alten ländlichen Verfassung überhaupt im 19. Jahrhundert.56
Zunächst verschwindet also die militärische Funktion des Absolutismus, die freilich im Offizierkorps noch lange nachwirkt, sodann auch die politische, vielfach ständisch gefärbte, im Zeitalter des Absolutismus und Parlamentarismus; zuletzt die ökonomisch-soziale, die sich am zähesten behauptet hat, bis sie dem Prinzip der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit und des Kapitalismus weichen mußte.57
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Hintze: Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung (Anm. 45), S. 180. Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus.- In: Gesammelte Abhandlungen I (Anm. 13), S. 84–119 (Erstdruck 1929), S. 94 f. Ebd., S. 95. Ebd. Zur rechts- und verfassungsgeschichtlichen Tradition dieser Vorstellungen vgl. ErnstWolfgang Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahr-
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Derart sah Hintze die sozioökonomischen Privilegien des Adels tief in die Welt des Absolutismus hineinragen, auf die er auch in seinen großen historischen Querschnitten immer wieder aufmerksam machte. Nicht zuletzt darin zeigt sich sein fundamentaler Beitrag zur Erforschung des Absolutismus, an den an späterer Stelle wieder angeknüpft werden muß.
Alteuropäische Adelswelt: Der Beitrag Otto Brunners Otto Brunner ist in seinem berühmten Buch Land und Herrschaft (1939) auch wiederholt auf Hintzes Arbeiten eingegangen. Ihren reichen sachlichen Ertrag hat er anerkannt. Doch prinzipiell sah er in ihnen die gleichen Mängel fortwirken, die er an den Vertretern des Rechtspositivismus und der reinen Staatslehre, an Roth und Sohm, H. Brunner und Below, Jellinek, Kelsen und Heller diagnostiziert hatte: die Übertragung bzw. Verwendung moderner politisch-soziologischer Kategorien (Trennung von Staat und Gesellschaft, von öffentlich- und privatrechtlich) auf die ganz anders gearteten Rechtsverhältnisse des Mittelalters. Betont Brunner speziell gegen Hintze, es sei »in den älteren Jahrhunderten unmöglich, politische Verfassung und Heeresverfassung zu trennen [...] unmöglich, das grundherrlich-bäuerliche Verhältnis als ein rein wirtschaftliches zu beschreiben«, sowie unzureichend, eine »Beschränkung der Begriffe ›staatlich‹, ›politisch‹ auf den König, auf den doch alle öffentlichen Rechte zurückgeführt werden«, vorzunehmen, so beweisen schon die knappen Paraphrasen und Zitate auf den vorstehenden Seiten, daß Hintze weit davon entfernt war, diese ihm unterlegten Ansichten zu vertreten.58 Genauso unhaltbar ist Brunners mit Bezug auf Hintzes ständegeschichtlichen Arbeiten erhobener Vorwurf, dieser lasse die – richtige – Aussage, die Stände ›seien‹ das Land, unerörtert.59 Diese Einzelfälle sind für Brunner aber nur Illustrationen für die von Hintze – und seinen Vorgängern – nicht gebührend berücksichtigte Gefahr, »eine Institution nicht aus den ursprünglichen Kräften, die sie geschaffen haben, zu verstehen, sondern bloß nach ihrer Unterscheidung von den jüngeren ›vollkommeneren‹ Gebilden abzufragen.« Unbeantwortet bleibe »die Frage nach dem hier notwendigen Gestalt- und Funktionswandel einer unter Umständen äußerlich identischen Einrichtung und den besonderen geschichtlichen Voraussetzungen dieses Wandels«.60 Wie so oft ist die historiographische Wende, die das Werk Brunners in gewisser Weise bezeichnet, verbunden mit einer überzogenen Poin–––––––––
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hundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder.- Berlin: Duncker & Humblot 1961 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte; 1), bes. S. 177 f.: ›Der Übergang von einer politisch orientierten Verfassungsgeschichte zur ›juristischen‹ Rechtsgeschichte: Roth, Sohm, H. Brunner, Below‹. Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 6. Auflage.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 161. Vgl. ebd., S. 422. Ebd., S. 421.
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tierung der forschungsgeschichtlichen Differenzen. Brunner vermißt bei Hintze und anderen eine angemessene Reflexion auf die Historizität der verwendeten Terminologie; insbesondere die Gegenstände der Mediävistik drohten unter dem Zugriff wesensfremder Kategorien entstellt und in ihrem inneren Gefüge nicht mehr erkannt zu werden. Der von Brunner propagierte und praktizierte Ausweg besteht im Rückgang zu den Quellen und der Interpretation der in ihnen vorgefundenen einschlägigen Wendungen.61 Die Aporien einer solchen Historisierung des kategorialen Apparates liegen inzwischen jedoch ebenso auf der Hand wie die von Brunner monierte Übertragung nachrevolutionärer Begriffe auf die politischen und sozialen Strukturen der vorrevolutionären ›altständischen‹ Feudalgesellschaft. Droht hier die Einebnung der historischen Differenzen, um die es gerade geht, so dort die Gefahr, »das Selbstverständnis einer vergangenen Epoche bloß zu wiederholen, statt es zu begreifen«, d.h. aber, »›die Sprache der alten Quellen‹ der schon von der klassischen Historiologie empfohlenen ›Kritik des Richtigen‹ unterwerfen« zu müssen.62 Diese Aufgabe ist gleichbedeutend mit der rasch formulierten, aber schwer vollziehbaren, das in den Quellen niedergelegte Selbstverständnis einer historischen Erklärung zu unterziehen, d.h. den sozialen Ort des Schreibers, des Adressaten, des Rezipienten und damit den perspektivischen, interessengebundenen Charakter der Quelle zu ermitteln, der herrührt aus der gesellschaftlichen Präformierung der Kommunikation. ›Ideologiekritik‹ führt derart nicht aus der Geschichte heraus, wohl aber über die pure Faktizität der Quelle, deren Sachgehalt sich eben erst historischer Rekonstruktion erschließt. Wenn hier Veranlassung besteht, im Rahmen eines Berichts über die Gewinnung historiographischer Kategorien zur Erschließung des 17. Jahrhunderts auch auf das Werk Brunners einzugehen, so nicht in erster Linie deshalb, weil von Brunner auch eine der grundlegenden historischen Monographien für diesen Zeitraum vorliegt. Maßgeblicher ist vielmehr, daß Brunners Absage an das begriffliche Instrumentarium der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts für die Mediävistik Hand in Hand ging und mit der Statuierung eines geschichtlichen Raumes, dessen Grundstrukturen ungeachtet allen Wandels über das Mittelalter hinaus bis in die Zeit der bürgerlichen Revolutionen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert intakt blieben. Erst mit seinem Untergang, seiner Ablösung durch die moderne ›Industriegesellschaft‹ konstituieren sich im Reflex auf die geschichtliche –––––––––
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In späteren Arbeiten ist er vielfach zu einer differenzierteren Reflexion von Problemen der historischenTerminologie vorgedrungen. Vgl. beispielsweise Brunner: Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte.- In: ders: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2., vermehrte Auflage.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 80–102, S. 102; ders.: ›Feudalismus‹. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte.- Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1959 (= Abhandlungen der Geistes-und Sozialwissenschaftlichen Klasse; 10), S. 128–159, S. 159 eine durchaus antihistoristische Stellungnahme Brunners. Günter Birtsch: Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung.- In: Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert (Anm. 43), S. 32–55, S. 42.
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Umwälzung jene Kategorien, die nach Brunner fälschlich seither immer wieder auf den vorangehenden Zeitraum angewendet werden. In der Evolution der ›alteuropäischen‹, ›altständischen‹ Welt stellt die Formierung des Absolutismus gewiß eine wichtige, von Brunner auch stets herausgehobene Etappe dar. Doch sein Interesse gilt nicht nur der Entfaltung des Neuen, und hier speziell der Entfaltung des Absolutismus und des modernen Staates, sondern in gleichem, wenn nicht in größerem Maße der Beharrung des Alten. Und dies um so mehr, als Brunner das ›innere Gefüge‹ des Abendlandes nicht von ›oben‹, von der staatsbildenden Sphäre her, sondern von ›unten‹, von den Bauprinzipien der Grundherrschaft und des ›Landes‹ her zu begreifen sucht. Land und Herrschaft Sieht man einmal von den methodologischen Erörterungen ab, kann Land und Herrschaft als der großangelegte Versuch gelesen werden, in phänomenologischer Manier die Eigenart polyzentristischer politischer Gewalt und Rechtsverhältnisse im Mittelalter, deren Bindung an die Grundherrschaft sowie deren Nexus mit einer prinzipiell gleichstrukturierten Landesherrschaft darzutun. Günter Birtsch hat in seinem bereits zitierten Bericht über ›die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung‹ daher zu Recht einen längeren Passus den Brunnerschen Forschungen gewidmet, ohne ausdrücklich auf Brunners Theorie landständischer Verfassung, wie sie in Land und Herrschaft zum Abschluß entworfen wird, im Detail einzugehen. Ungeachtet aller wichtigen Einzelbeiträge liegt Brunners forschungsgeschichtliche Bedeutung für die historische Erkenntnis des 17. Jahrhunderts im Wechsel der Perspektive, die er vor allem angeregt und legitimiert hat. Wenn die altständische Gesellschaft von der sozio-ökonomischen wie der rechtlich-politischen Grundeinheit des ›ganzen Hauses‹ bestimmt war, dessen Strukturen jedoch erst im Übergang zur ›Industriegesellschaft‹ aufgesprengt wurden, lag es nahe, auch im 17. (und 18.) Jahrhundert intensiver als bisher nach dem Fortleben mittelalterlicher Institutionen und Herrschaftsfunktionen zu fragen. In diesem Sinn darf das Werk Brunners als maßgebliches Stimulans ständegeschichtlicher Forschung zum 17. (und 18.) Jahrhundert gelten, in der sich nach 1945 vor allem das Interesse an den vorrevolutionären Mächten verdichtete.63 Ist Land und Herrschaft der Extrapolation einer quellenmäßig adäquaten Begrifflichkeit zur Analyse adeliger Herrschaft gewidmet, so Adeliges Landleben und europäischer Geist von 1949 deren Anwendung und Erprobung am Beispiel eines adeligen Lebens und Werkes im Spannungsfeld des sich konstituierenden Absolutismus und im Umkreis der kulturellen Überlieferung des euro––––––––– 63
Angedeutet schon bei Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19 Jahrhundert (Anm. 57), S. 16 f., und dort ausdrücklich legitimiert. Vgl. auch Lehmann: Zum Wandel des Absolutismusbegriffs (Anm. 41), S. 14 f.; dort auch S. 19 f. zur geschichtlichen Funktion der Opposition von ›alteuropäischer‹ Adelswelt und moderner ›Industriegesellschaft‹.
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päischen Adels seit der Antike. Beide Werke müssen daher gemeinsam im Blick bleiben. Die Affinität einzelner Momente des Mittelalter-Buches zur zeitgenössischen politischen Erfahrung im Jahre 1939 springt heute ins Auge. Sie wurde gleich nach Erscheinen des Buches in einer kompendiösen Rezension von Heinrich Mitteis in der Historischen Zeitschrift ihres latenten und durchaus okkasionellen Charakters entkleidet und in die einschlägige Terminologie überführt.64 Darauf ist wiederholt hingewiesen worden. Hier kann es nur um die Optik gehen, in der Adel und Bauerntum im Zuge des aufsteigenden Absolutismus erscheinen, und nur mit Rücksicht darauf soll vorbereitend an dieser Stelle ein Blick auf Brunners älteres Werk eingeblendet werden. Am folgenschwersten erweist sich darin die Eliminierung sozialantagonistischer Züge aus dem Mittelalterbild. Wirft Brunner Hintze vor, daß dieser in der traditionellen »›soziologischen‹, das heißt Staat und Gesellschaft im Sinne des 19. Jahrhunderts als allgemeine historische Kategorien unterscheidenden und dabei die ›gesellschaftlichen‹ Kräfte stärker betonenden Haltung« steckenbleibe, dann schwingt darin auch die Aversion gegen die bei Hintze sehr viel offener zutagetretenden wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten der mittelalterlichen Feudalgesellschaft mit.65 ›Konflikte‹ spielen in das große Fehdekapitel des Brunnerschen Buchs vielfach hinein; hier jedoch, um an einem besonders sinnfälligen Sachverhalt die politische Autogenität der adeligen Herrenschicht im Rahmen prinzipiell gleichgewichtiger Rechtsprivilegien und damit das Fehlen eines einheitlichen staatlichen Hoheitsmonopols aufzuzeigen. In dem Achsenkapitel über ›Haus und Herrschaft‹, plaziert zwischen der Explikation der Termini ›Land‹ und ›Landrecht‹ sowie ›Landherrschaft und Landesgemeinde‹, erscheint das Verhältnis zwischen Grundherrn und Bauern als eines der wechselseitigen Treue. Das am Besitz von Grund und Boden haftende Verfügungsrecht über Personen findet seine Limitierung in sittlichen Normen, die als traditionale Rechtsanschauungen Herrn und Grundholden verbinden, indem sie sie als religiös fundierte umgreifen. Das Herrschaftsverhältnis materialisiert sich in der Verpflichtung zu ›Schutz und Schirm‹ auf seiten des Herrn, dem die Verpflichtung zu ›Rat und Hilfe‹ auf seiten des Holden korrespondiert. Steuer (›Robot‹), d.h. Arbeitsleistungen, und ›Reise‹, d.h. Wehrdienste, bilden deren Substrat. Soweit der Quellenfund. Brunner fragt sich, ob mit deren systematisierender Rekapitulation überhaupt ein Zugang zur Realität vor allem des bäuerlichen Daseins zu gewinnen sei. Man kann sagen: Zugegeben, alle diese hier vorgebrachten Dinge sind recht wichtig, wichtiger wahrscheinlich, als man bisher annehmen wollte. Aber sind sie wirklich für das bäu-
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Heinrich Mitteis: Land und Herrschaft. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch Otto Brunners.- In: Herrschaft und Staat im Mittelalter. Hrsg. von Hellmut Kämpf. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964 (= Wege der Forschung; 2), S. 20–65 (Erstdruck 1941); hier auch S. 1–19 eine von Brunner selbst stammende Zusammenfassung seines Hauptwerkes unter dem Titel ›Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte‹ (Erstdruck 1939, Neufassung 1955). Brunner: Land und Herrschaft (Anm. 58), S. 421. Zum folgenden Lehmann: Zum Wandel des Absolutismusbegriffs (Anm. 41), S. 14 f.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne erliche Leben ausschlaggebend? Bestimmen nicht ganz andere Lebenskreise, Interessen, Sorgen das bäuerliche Leben des Alltags? Liegen nicht doch die Bindungen und die Gegensätze des grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in der Ebene des ›Wirtschaftlichen‹? Sind nicht die Fragen der Höhe der Abgaben und Zinse, der Nutzung von Wald und Weide, die mannigfachen Konflikte zwischen Herrn- und Bauernrechten das eigentlich Entscheidende, das den Alltag Bestimmende? Das ist ohneweiters zuzugeben. Aber alle diese Auseinandersetzungen spielen in den von uns gezeichneten Bahnen, die Formen der Auseinandersetzungen sind dadurch völlig bestimmt. Es geht darum, die Verfassung des bäuerlichen Hauses, des Dorfes, der Grundherrschaft und endlich des Landes richtig zu bestimmen, um die Voraussetzungen für eine der Wirklichkeit entsprechende Darstellung von Grundherrschaft und Bauer zu gewinnen. Die Grundherrschaft ist weder ein wesentlich wirtschaftliches noch ein wesentlich politisches Gebilde, in ihr liegen vielmehr beide Elemente in einer untrennbaren Gemengelage.66
Genau hier liegt das Problem des Brunnerschen Buches. Deutlich zeichnet sich die Gefahr ab, das Herrschaftsverhältnis zwischen Grundherrn und Holden in den Kategorien der ideologiekritisch nicht ausdrücklich exegierten Quellen auszulegen, also die in den Quellen tradierte Bestimmung von Herrschaft als getreuen Indikator der sozialen Realität zu nehmen. Statt hier sogleich eine ›Gemengelage‹ zu konstatieren, müßte der Weg strikter Trennung zwischen der sozioökonomischen Analyse einerseits, der Restitution der Rechtsbegriffe andererseits verfolgt, diese mit jener konfrontiert und derart der Realitätsgehalt der Quellensprache, der eben stets vom zeitgenössischen Selbstverständnis zu trennen ist, rekonstruiert werden. Bei Brunner dagegen tauchen Äußerungen zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation der Bauern immer nur sporadisch auf, ohne systematisch entwickelt zu werden. Brunner weiß, daß sich vom Bauern leichter als vom Stadtbürger Steuern abpressen lassen, denn »die Lage des waffenlosen oder doch nicht voll wehrfähigen Bauern [ist] eine andere wie die der Bürgergemeinde«.67 Desgleichen werden »Robotleistung und Robotgeld [...] zu einer drückenden Last für die Bauern. Robotstreitigkeiten gehören im 16.–18. Jahrhundert zu den häufigsten Konflikten zwischen Herrschaft und Bauer.«68 Und schließlich entpuppt sich auch die Wehrpflicht als ein zweischneidiges Schwert. »Die Herren schwanken zwischen dem Wunsch, den Bauern völlig waffenlos zu sehen und so ihre Herrschaft über ihn zu sichern und der Notwendigkeit, einigermaßen bewehrte und gerüstete Bauern im Falle der Not aufbieten zu können.«69 Diese Sachverhalte wären mit den über Jahrhunderte tradierten und häufig topischen Wendungen zur Beschreibung von Herrschaftsverhältnissen zu konfrontieren. Statt dessen macht sich Brunner nicht selten seinerseits zum Sprecher harmonistischer bzw. personalistischer Lösungen oder zementiert das Herrschaftsverhältnis als quasi naturgesetzliche Gegebenheit. Die Herrengewalt setzt sich durch und droht den Bauern zu entrechten. All das wäre nicht möglich, wenn der Bauer ohne den Schutz des Herrn zu existieren vermöchte. Ist der Bauer
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Brunner: Land und Herrschaft (Anm. 58), S. 343 f. Ebd., S. 295. Ebd., S. 300. Ebd., S. 302.
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darum der Herrengewalt hilflos ausgeliefert? Keineswegs. [...] Es ist ganz unmöglich, von ›der‹ Lage des Bauern zu sprechen. Hängt doch die Beziehung zwischen Herrn und Holden in stärkstem Maße vom persönlichen Wesen des Herrn ab. Ein harter und einsichtsloser Herr wird vor verstockten und widerwilligen Bauern stehen. Ein Personenwechsel, ein Abgang kann die Verhältnisse von Grund aus umgestalten. [...] Der Herr ist eben der Herr und der Holde ist sein Untertan. Es ist ein Abgrund zwischen diesen beiden Welten, der der Herren mit ihrer ritterlich-höfischen Kultur und der ›törperhaften‹ Welt der Bauern. [...] So tief die Kluft zwischen höfischer Bildungswelt und bäuerlichem Dasein empfunden worden sein mag, im Alltag waren doch Herr und Bauer auf einander angewiesen. Und dieses Aufeinanderangewiesensein, dieses Verhältnis von Schutz und Hilfe überwindet eben doch die zahllosen Konflikte, die hier innerhalb der Grundherrschaft immer wieder aufbrechen müssen.70
Folgerichtig erscheint der Bauernkrieg nicht primär als elementare Krise feudaler Grundherrschaft, sondern als Folge des sich etablierenden modernen Territorialstaates.71 Auf Landesebene kehrt der antiliberale, antikonfliksoziologische Ansatz wieder. »Dem Landesherrn tritt die Landschaft, die Landesgemeinde gegenüber. Wenn beide gemeinsam handeln, haben wir das Land in seiner realen geschichtlichen Existenz vor uns.«72 Die Herausbildung ständischer Körperschaften als feste Institutionen und damit der Dualismus zwischen Landesherrn und ›Landesgemeinde‹ nimmt sich von daher eher schon als Krise des ehemals gleichfalls auf Schutz und Schirm, auf Tat und Hilfe aufgebauten Systems aus.
Adeliges Landleben und europäischer Geist In Adeliges Landleben und europäischer Geist ist der hier verfolgte Problemkreis klarer und schärfer gesehen, jedoch gleichfalls nicht gelöst.73 Auf zwei Ebenen stößt Brunner in seiner exemplarischen Adelsstudie auf jene in Land und Herrschaft generell entwickelten Strukturelemente grundherrlicher Adelsherrschaft: in der Nachzeichnung des Lebensweges Wolf Helmhard von Hohbergs und in der Charakteristik der Grundherrschaft im Rahmen von Hohbergs Hauptwerk Georgica curiosa (1682 und öfter). Relativ ausführlich beschreibt Brunner die Güter, die die Basis adeliger Herrschaft im Leben Hohbergs abgeben, Süßenbach und Oberthumeritz im nördlichen Niederösterreich, sodann die Herrschaften Rohrbach und Klingenbrunn im Westen Niederösterreichs, durch die Hohberg in die räumliche Nähe der Stubenbergs auf der Schallaburg und der Greiffenbergs in Seisenegg kam. Der Bestand an Äckern, Wiesen und Wäldern, an Rindvieh und Schafen etc. wird exakt reproduziert, die Erträge, die die (vergleichsweise kleinen) Herrschaften abwerfen, errechnet; selbst die Zahl der untertänigen Bauern ist eruiert. ––––––––– 70 71 72 73
Ebd., S. 344–346. Vgl. ebd., S. 347 f. Ebd., S. 394. Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688.- Salzburg: Müller 1949.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
Man könnte »von einer großbäuerlichen Wirtschaft sprechen, wenn nicht dazu die Herrschaftsrechte, die Aufgaben der Lokalverwaltung und Niedergerichtsbarkeit träten«. Diese werden gleichfalls im Detail aufgezählt. Als Leistung der Grundholden wird nur die in der Regel auf zwölf Tage im Jahr beschränkte Robot namhaft gemacht. »Sie wurde im Falle des gesteigerten Arbeitsbedarfes bei Anbau und Ernte in Anspruch genommen und war schon durch die geringe Ausdehnung der herrschaftlichen Äcker begrenzt.«74 Unklar bleibt, ob es dabei sein Bewenden hatte, unklar auch, ob und wenn ja in welchem Umfang Mitteilungen über das Schicksal der Grundholden auf Hohbergs Besitzungen auf uns gekommen sind. Geschrieben wird aus der Herrenperspektive; das Dasein der Holden bleibt weitgehend ins Dunkel gehüllt. Die Bauern neigten, wie wir aus manchen Beispielen wissen, namentlich bei kleinen und schwachen Herren, zu allerhand Übergriffen. Ein energischer Herr, der seine Position von Anfang an zu wahren wußte ohne seine Ansprüche zu übersteigern, wird am ehesten hier gesunde und klare Verhältnisse geschaffen haben. Es hing in so engem Kreis außerordentlich viel von der Persönlichkeit und der Haltung des Herrn ab. [...] Wolf Helmhard von Hohberg stand mit seinen Bauern gewiß nicht nur an Festtagen, sondern auch in den Mühen und Sorgen des Alltags, im Guten und Schlimmen in engster Berührung.75
Anlaß für diese Einschätzung bieten die Georgica. Hier auf der ›Metaebene‹ kehrt das Verhältnis zwischen Grundherrn und Holden gleich im zweiten Kapitel über den ›Hausvater‹ wieder. Eindringlich warnt Hohberg die »christliche Obrigkeit« davor, die »armen bedrängten Untertanen« mit Lasten zu überhäufen, sondern statt dessen sie so zu behandeln, wie man sich selbst von Gott behandelt wissen möchte. Es war selbstverständlich nicht Hohbergs Absicht, das Verhältnis von Grundherrschaft und Bauern so darzustellen, wie es im wirklichen Leben tatsächlich war, sondern die Normen aufzustellen, nach denen der Grundherr handeln sollte. Niemand konnte besser wissen wie er selbst, daß der Durchschnitt seiner Standesgenossen sich nicht nach diesem Idealbild verhielt.76
Der Hiat kann jedoch nicht vermessen werden, weil nähere Informationen über die Holden fehlen. Gerade um »das Normale, immer Wiederkehrende, Typische« gehe es. »Dieses kann nur durch eine eingehende Erforschung der rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erschlossen werden.«77 Diese gewiß außerordentlich schwierige Ausschöpfung der Quellen wird jedoch nicht vollzogen, statt dessen nur auf die Georgica zurückgegriffen. So verbleibt auch hier, ungeachtet des schärfer artikulierten Desiderats, eine nicht wirklich analysierte soziale Sphäre. Dem große Kapitel über ›Ethos und Bildungswelt des europäischen Adels‹ korrespondiert keines über die Lage und kulturelle Tradition des Holdenstandes, der das adelige Dasein materiell überhaupt erst ermöglicht. –––––––––
74 75 76 77
Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 45 f. Ebd., S. 286. Ebd., S. 288.
Ein historiographischer Konspekt
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Der heraufziehende Absolutismus unterminiert dann in einem langanhaltenden Prozeß die Grundlagen alteuropäischer Adelsherrschaft, bis in der Mitte des 19. Jahrhunderts die letzten Relikte grundherrlicher Verfügungsrechte getilgt sind. Schon in Land und Herrschaft fungierte der Absolutismus wiederholt als Gegenpol, wenn es galt, die Eigenart mittelalterlicher ›Staatlichkeit‹ zu profilieren. Die faktische Konzentration staatlicher Souveränität in den Händen des Monarchen, wie sie theoretisch ihr Gegenstück im Werk Bodins hat, stellt das genaue Gegenteil der Polyzentrie autogener Herrschaftsrechte im Mittelalter dar. Souveränität kann einer bestimmten Gewalt nach außen wie im Inneren nur zugeschrieben werden, wenn sie tatsächlich die Voraussetzungen besitzt, ihre Entscheidungen als inappellabel durchzusetzen. Dieser Zustand, der die Ausschaltung von Fehde und Widerstand als rechtmäßiger Gewalt voraussetzt, ist vom mittelalterlichen Landesherrn nicht erreicht worden. Er bleibt nicht nur an das ihm und dem Landvolk übergeordnete Recht gebunden. Seine Entscheidungen sind auch stets der Möglichkeit des Widerstandes derer, die diese Entscheidung als unrechtmäßig empfinden, unterworfen. Erst wenn der Herrscher diese Gefahr praktisch ausschaltet und tatsächlich allein entscheidet, ist Herrschersouveränität vorhanden. Das ist aber vor dem 16. Jahrhundert nicht der Fall. Dazu bedarf es allerdings keiner ›Verfassungsänderung‹ im modernen Sinn, sondern einer tatsächlichen Steigerung der Fürstenmacht und der Organisierung eines ihr dienenden, dauernd funktionierenden Behördenapparates, der jeden Widerstand der Einzelnen unmöglich macht.78
Die Monarchie in Frankreich ist in dieser Richtung bekanntlich am frühesten aktiv geworden und am weitesten fortgeschritten. Brunner hat den auf französischem Boden vor sich gehenden Abbau traditionaler Mächte insbesondere in seinen Aufsätzen immer wieder beschrieben, um die Genesis einer ihrer Herrschaftsrechte entkleideten, nur noch staatlich privilegierten ›altständischen Feudalgesellschaft‹ zu fassen, deren politische Funktionslosigkeit das System des Ancien régime einer um so radikaleren Kritik aussetzte. Wo der ›institutionelle Flächenstaat‹ wirksam wird, da verliert die Seigneurie ihre ursprüngliche Aufgabe von ›Schutz und Hilfe‹ (protection et assistance) und verwandelt sich in einen Komplex von Feudalrechten, die, auch wenn sie an sich gering waren, doch immer mehr als sinnlos und daher drückend empfunden wurden, weil ihnen keine echte Gegenleistung der ihrer wesentlichen Funktionen entkleideten Seigneurie gegenüberstand. [...] Der französische Seigneur hat keine ›intermediäre‹ Stellung mehr zwischen Bauern und Königsstaat, er hat nur noch Privilegien, aber keine echte Gewalt (pouvoir), die Feudalität war aus einer ›politischen‹ eine ›zivile‹ Einrichtung geworden.79
––––––––– 78 79
Brunner: Land und Herrschaft (Anm. 58), S. 392 f. Otto Brunner: Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft.- In: ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte (Anm. 61), S. 187–198 (Erstdruck 1954), S. 195. Die Verwendung des Begriffs ›altständisch‹ in den Arbeiten Brunners bedürfte einer genaueren Untersuchung. Er erscheint einmal zur Kennzeichnung der durch den Absolutismus politisch entmachteten ständischen Gewalten. Vgl. dazu z.B. auch S. 133 f. in Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Er kann jedoch auch gerade die »auf den Immunitäten beruhende Sozialstruktur« vor Einbruch des Absolutismus bezeichnen. Vgl. ders.: Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte.- In: Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte (Anm. 61), S. 80-102 (Vortrag 1953), S. 97.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
Analoges gilt für die Entwicklung der ständischen Vertretungen. Landstände erhalten sich nur in den Randprovinzen (pays d’états), der größere Teil Frankreichs ist in den Generalständen unmittelbar vertreten. Hatten hier wie anderwärts Herren und Stadtgemeinden die Stände gebildet, so verwandelt sich der dritte Stand (Tiers état) der königlichen Städte seit dem Ausgang des Mittelalters in den Stand der Bürger und Bauern, die direkt den königlichen Lokalbehörden unterstanden und nach Bailliages ihre Vertreter unmittelbar in die Generalstände wählten. Dieser Wandel war nur konsequent, denn die lokalen Ämter übten ja den Rechtsschutz und forderten Kriegsdienst und Steuern. Dies war einst Sache der Seigneurs gewesen, die ihre Untertanen ›vertreten‹ hatten, weil sie ihre Herren gewesen waren. Diese Entwicklung konnte auch die anderen Stände, Klerus und Adel, nicht unberührt lassen. Sie besaßen keine echte Herrenstellung mehr, sondern nur einen Komplex von Feudalrechten. Nicht als lokale Herren, sondern als Angehörige einer ›sozialen‹ Schicht wählten auch sie nach Bailliages ihre Vertreter in die Generalstände.80
Solcherart arbeitet, wie Brunner immer wieder betont hat, der Absolutismus der Einebnung der ständisch zerklüfteten Gesellschaft auf politischem und rechtlichem Sektor vor, ohne die sozialen Privilegien des ehemaligen Herrenstandes anzutasten. Er setzt tendenziell eine homogene, politisch entmündigte Untertanengesellschaft frei, die sich als ›bürgerliche Gesellschaft‹ nach den Revolutionen unter der politischen Parole der Volkssouveränität neu formiert. An Stelle der mannigfaltigen, lokalen und ständischen Rechte und Freiheiten ist die Freiheit der unter einem einheitlichen Recht stehenden ›Gesellschaft‹ von ›Staatsbürgern‹ (Citoyens) getreten. Daher erscheint in enger Verbindung mit der Idee der Freiheit, die der Gleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit, die nun die ganze Nation umfaßt, während es früher Rechtsgleichheit nur innerhalb der durch ihre Rechte und Freiheiten bestimmten ständischen Gruppen gegeben hatte. Zugleich wird in den ›Menschen- und Bürgerrechten‹ die Rechtssphäre des einzelnen gegenüber dem Staat abgegrenzt.81
So wenig dieser Prozeß in Deutschland in einer Revolution einen geschichtlich konsequenten Abschluß fand, sondern von oben gesteuert wurde, so anders vollzog sich hier die Ablösung grundherrlicher Autonomie. Brunner hat in seiner Hohberg-Studie die Chance genutzt, diesen Vorgang in seinen verschiedensten Aspekten zu verfolgen. Die Jugend Hohbergs fällt in die Zeit entschiedenster Ausdehnung der kaiserlich-zentralistischen Staatsmacht. Vorgearbeitet war hier vor allem bereits durch Maximilian I. und Ferdinand I., die eine behördenmäßig durchorganisierte Zentralverwaltung schufen. Nur sie war imstande, der Praxis des Fehdewesens und damit der ›Adelsanarchie‹ wirklich Einhalt zu gebieten und zu entscheiden, was im Zweifelsfall Rechtens sei, auch gegenüber den ständischen ›Rechten und Freiheiten‹. Damit ist der entscheidende Ansatz gewonnen, von dem der Weg zum Absolutismus führt. Denn wenn die letzte Entscheidung beim Herrscher liegt, so ist jetzt dessen Rechtssphäre gesichert und kann von ihrer mittelalterlichen Grundlage her allmählich ausgebaut werden. Die landesfürstliche Gewalt wird zur modernen Souveränität weiterentwickelt. Die Rechte der Stände aber sind ›prekär‹ geworden.82
––––––––– 80 81 82
Brunner: Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft (Anm. 79), S. 195 f. Ebd., S. 197. Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist (Anm. 73), S. 25.
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Wie überall in Westeuropa ist auch in Niederösterreich der Aufstieg des Absolutismus an konfessionspolitische Auseinandersetzungen geknüpft. Die Verpflichtung auf das katholische Bekenntnis wird zum wichtigsten Mittel, um den Adel an das Kaiserhaus zu binden, dem Staat zu integrieren und oppositionelle Kräfte auszuschalten. Wolf Helmhards Kinderjahre fallen in die Zeit, da der seit langem schwebende Kampf zwischen Gegenreformation und Protestantismus, zwischen ständischer Adelsmacht und dem zum Absolutismus strebenden Fürstentum der Entscheidung zudrängte. Es handelt sich bei dieser Auseinandersetzung ja keineswegs um die religiöse Frage allein, diese ist vielmehr mit dem Ringen von Landesfürst und Landständen untrennbar verbunden, hier allerdings das wichtigste Kampfobjekt.83
Die Auseinandersetzung, die das ganze 16. Jahrhundert über anhält, endet nach dem gescheiterten Unternehmen des Winterkönigs, an dem große Teile des niederösterreichischen Adels (auch aus dem direkten familiären Umkreis Hohbergs) beteiligt sind, mit dem Sieg der Gegenreformation – und damit der fürstlichen Zentralmacht. Die Konfiszierung der Güter jener Edelleute, die die Erbhuldigung verweigert hatten – die einzige Waffe, um die Bestätigung der hergebrachten Rechte an die Anerkennung des Regenten zu binden, dessen dynastische Legitimation die Stände freilich schon nicht mehr in Frage stellten – vermehrte den Reichtum der Krongewalt erheblich. Die nicht emigrierenden, bei ihrem Glauben verharrenden Geschlechter mußten in aller Regel auf eine Karriere bei Hof bzw. im Staatsdienst verzichten. So auch im Falle Hohbergs. Wolf Helmhard war wie sein Geschlecht Protestant und ist es sein ganzes Leben lang geblieben. Dadurch ist sein Lebensschicksal sehr wesentlich bestimmt worden. Der Weg zu den Hof- und Staatsämtern, ein so wesentliches Moment adeligen Aufstiegs in dieser Zeit, war ihm verschlossen, auch ein ständisches Amt durfte er nicht bekleiden. Er konnte, wenn er nicht auswandern und in fremde Dienste treten wollte, nur als Landadeliger auf seinen Gütern leben. Schließlich stand den Protestanten damals wie später die Offizierslaufbahn im kaiserlichen Heer offen. Wolf Helmhard hat beide Wege betreten.84
Somit bewährte sich das konfessionspolitische Instrument, um die politischen Rechte weiter Teile des niederösterreichischen Adels zu dispensieren; »das Jahr 1620 [hatte] endgültig zugunsten des Absolutismus und gegen die Ständemacht entschieden«.85 Im eingeschränkten Kreis seiner Besitzungen vermochte auch der Protestant Hohberg seine angestammten Herrschaftsrechte weiter auszuüben. Auf der lokalen Ebene griff der Absolutismus nur allmählich durch. Die minutiöse Nachzeichnung dieser kaum merklichen Prozesse in dem das Buch abschließenden Kapitel über den ›Untergang der Adelswelt‹ gehört zugleich zu den großen Leistungen sozial- und verfassungsgeschichtlicher Forschung zum Spätabsolutismus. Während bis in das 18. Jahrhundert hinein die Strukturen grundherrlicher Herrschaft – ebenso wie in fast allen Teilen des Reiches – erhalten blieben, be–––––––––
83 84 85
Ebd., S. 23. Ebd., S. 38. Ebd., S. 52.
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zeichnen die im aufgeklärten Absolutismus unter Maria Theresia und Joseph II. eingeleiteten Reformmaßnahmen zum Schutz des Bauernstandes zugleich den entscheidenden Einbruch in die weitgehende rechtliche und ›polizeiliche‹ Autonomie der Grundherrschaft. Wichtig sind hier weniger die einzelnen Maßnahmen, als der Umstand, daß der Staat durch seine Gesetze in die Sphäre der autogenen Herrschaft tief eingriff, althergebrachte Rechte aufhob und die fortbestehenden durch die staatliche Ordnung garantierte. [...] Der Bauer wird nicht nur seiner Abgaben und Dienste an die Grundherrschaft ledig. Sie hört für ihn auf, Gerichts- und Verwaltungsbehörde zu sein. An Stelle von Herrschaft und Dorfgemeinde treten lokale staatliche Behörden und die politische Ortsgemeinde. Von der Grundherrschaft bleibt nur der Großgrundbesitz übrig, der nun nach agrarkapitalistischen Grundsätzen betrieben wird.86
Agrarreform und Neuorganisation des staatlichen Behördenapparats greifen also ineinander. Wenn dieser Reformprozeß durch die Revolution gestoppt und tatsächlich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Abschluß gebracht wird, so ist damit nicht nur ein Nährboden liberaler Kritik geschaffen worden. Vielmehr verzögert sich auch der Übergang zum Agrarkapitalismus, der erst nach der Freisetzung von 1848 ungehindert vollzogen werden kann. Derselbe Staat, der durch seine bürokratisch-absolutistische Struktur nicht das wenigste dazu beigetragen hatte, daß die Grundherrschaft von innen heraus zerstört wurde, hielt ihre äußere Form aufrecht. So hat erst die Revolution von 1848 zur Grundentlastung und damit zur vollständigen Liquidation der Grundherrschaft geführt.87
Die nämliche Paralysierung althergebrachter Rechte vollzieht sich seit dem 18. Jahrhundert auf der Ebene der landständischen Vertretungen. Zwar besaß die Aristokratie über ihre Hof- und Staatsstellungen eine Möglichkeit der beständigen und starken Einflußnahme, doch wurde eben dadurch zugleich die konsequente Wahrnehmung ständischer Eigeninteressen verhindert. »Die Einheit der Monarchie lag beim Herrscher und dem von diesem aufgebauten bürokratischen Staatsapparat.«88 Schon nach dem erfolgreichen Schlag gegen die Protestanten im Jahre 1620 waren die ständischen Vertretungen de facto politisch entmachtet, ohne daß ihre rechtliche Stellung davon berührt worden wäre. Deren Auflösung vollzog sich erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als auch dem kapitalistischen Großbürgertum – Großkaufleuten, Bankiers, Industriellen – der Erwerb der Landstandschaft möglich wurde. Hier liegen die Wurzeln der ›neuständischen‹ Bewegung. Denn diese Schichten wurden nicht auf Grund traditionaler Privilegien, sondern sozialen Aufstiegs zugelassen. Bezeichnenderweise, so Brunner, beginne der literarische Aufstieg der untergegangenen alteuropäischen Adelswelt am frühesten in dem Land, in dem der Prozeß der Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war: in der ›Präromantik‹ Englands.
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86 87 88
Ebd., S. 316 und S. 314. Ebd., S. 323. Ebd., S. 325.
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Das Alteuropa der ›longue durée‹: Ein Blick in die Arbeiten von Dietrich Gerhard Otto Brunner wies mit seinen Arbeiten eine Möglichkeit, die Herausbildung des Absolutismus aus der Perspektive des ›Landes‹ zu inspizieren, statt aus der des ausgebildeten Staates. Er verlieh damit einer nicht mehr primär vom Staate herkommenden Forschung nach 1945 maßgebliche Impulse.89 Diese konzentrierte –––––––––
89
Eine der Brunnerschen Studie im exemplarischen Ansatz vergleichbare Arbeit liegt bekanntlich vor in Walter Schlesinger: Die Landesherrschaft der Herren von Schönburg. Eine Studie zur Geschichte des Staates in Deutschland.- Münster, Köln: Böhlau 1954 (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit; 9/1). Schlesingers Untersuchung hat auch für die Absolutismus-Forschung erhebliche Bedeutung, weil in ihr neben dem Aufbau der Landesherrschaft durch die Herren von Schönburg gerade auch deren Aushöhlung durch das aufsteigende Fürstengeschlecht der Wettiner zur Darstellung kommt. Der Aufbau der Landesherrschaft durch das ehemals edelfreie, unter Barbarossa zur Reichsministerialität übergehende Geschlecht der Schönburg erfolgte auf dem klassischen Weg: Ausübung der Hoch- bzw. Blutgerichtsbarkeit, Aufbau eines Wehrwesens mit Hilfe der meist dem niederen Adel unfreier Herkunft entstammenden ritterlichen Vasallenschaft, Aufbau eines geordneten Finanzwesens, Gründung von Städten (mit Zoll- und Geleitsabgaben etc.). Ungeschieden blieben bis ins 18. Jahrhundert in der kleinen Herrschaft die Gesamtregierung und die zentrale Justizbehörde, die Verwaltungsund Finanzbehörde. Erst 1714 erfolgte die Gründung eines Konsistoriums, bis dahin oblag auch das Kirchen- und Schulwesen samt der Armenpflege der Gesamtregierung. Die Lokalverwaltung war in Ämter gegliedert. Es gelang den Schönburgs nicht, die Hintersassen der Rittergüter einheitlich der Obergerichtsbarkeit der Ämter zu unterstellen; vielfach behaupteten die Vasallen der Schönburgs diese selbst. Da die Vasallen in Rechtsangelegenheiten sich keinesfalls allein an den Schönburgschen Lehenshof in Glauchau, sondern auch immer wieder an kursächsische Gerichte wandten und ebenso selbst Mitglieder des Schönburgschen Geschlechts bei Rechtsstreitigkeiten vor kursächsische Gerichte zogen, bot sich für die Wettiner die Möglichkeit, hier den Hebel anzusetzen. Ihre Politik zielte darauf ab, die Reichsunmittelbarkeit der Schönburgs zur Landsässigkeit umzudeuten, die territoriale Obrigkeit zunächst über die sächsischen Lehen der Schönburgs zu behaupten und sodann die Differenz zu den Reichs- bzw. den böhmischen Reichsafterlehen systematisch zu verdunkeln. Vor allem während und nach dem Dreißigjährigen Krieg erwies sich die Schönburgsche Herrschaft als nicht in der Lage, die Finanzen zu sanieren und die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Sukzessive zog Kursachsen die landesherrlichen Rechte der Schönburgs an sich und leitete daraus nachträglich die territoriale Superiorität ab. Dem Kurfürstentum gelang, was die Schönburgs nicht zustandebrachten: die Integration der landesherrlichen Rechte in einem territorium clausum, das gegenüber Ansprüchen von außen hermetisch abgedichtet war. 1740 wurde das jahrhundertelange Ringen zugunsten der Wettiner förmlich ratifiziert. »Der Kurfürst von Sachsen schob sich auf dem Wege des Vertrages zwischen den Kaiser und die Grafen von Schönburg, deren Reichsstandschaft erhalten blieb, als Inhaber einer ›landesfürstlichen Oberbotmäßigkeit‹ ein. Es handelt sich also [...] um eine Mediatisierung im eigentlichen Sinne. Die Herrschaft Schönburg verlor ihre Reichsunmittelbarkeit. Der Kurfürst erhielt das Recht der Gesetzgebung sowie die Oberinstanz in Verwaltung und Rechtspflege. Die Grafen von Schönburg durften sich nicht mehr ›Landesherren‹ nennen.« (S. 156). »Die Ausschließlichkeit und Undurchdringlichkeit, die zum Wesen einer voll ausgebildeten landesstaatlichen Gewalt gehören, sind in der Herrschaft Schönburg nicht erreicht worden. Die Untertanen machten mit ihren Prozessen und Appellationen augenscheinlich, daß sie den wettinischen Landesstaat als die Schönburg übergeordnete Instanz erachteten, zunächst in gerichtlicher Hinsicht, doch lag es nahe, dies
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sich freilich bald auf das speziellere Problem des Fortlebens der ständischen Vertretungen im Absolutismus, und damit auf eine – wie weit auch immer gefaßte – verfassungsgeschichtliche Frage. Dietrich Gerhard und Kurt von Raumer haben hier im deutschsprachigen Raum vor allem programmbildend gewirkt. Schon in dem ersten einschlägigen Aufsatz Gerhards über ›Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte‹ wird nicht nur der geschichtliche Raum Europas von den beiden Hegemonialmächten des 20. Jahrhunderts – Amerika und der Sowjetunion – abgegrenzt, sondern zugleich als eine vom 11./12. bis zum 18. Jahrhundert sich erstreckende innere Einheit begriffen.90 Sie hat ihr Fundament in traditionalen Privilegien von HerrschaftsKorporationen, die ihrerseits gleichermaßen in germanischen Rechtsvorstellungen wie in kirchlichen Ordnungsprinzipien wurzeln. Alle die vielfachen Zwischengewalten – die regionale Selbstverwaltung, die Städte, die Grundherrschaften – wirkten als erfolgreiche Gegenspieler der nur mühsam vorwärtsschreitenden Krongewalt. Sie alle schützten zugleich die regionalen Belange, selbstisch gewiß und in den Städten zumal im 17. und 18. Jahrhundert zur Vetternwirtschaft erstarrend; aber mit ihrer passiven Resistenz, mit ihrer überall mit der Krone konkurrierenden Gewalt erhielten sie eine Fülle regionaler Mittelpunkte. Es sei nur daran erinnert, welche Rolle in Frankreich noch bis ins 18. Jahrhundert hinein das in lokalen Korporationen, teilweise von regionaler Bedeutung, zusammengefaßte Juristentum gespielt hat und wie vor allem die parlements als geistige und soziale Mittelpunkte der Landschaft gewirkt haben. Und wo, wie etwa im deutschen Kleinstaat, das Fürstentum diese Stelle innehatte, da war es doch umgeben und beschränkt von der adligen Gesellschaft mit ihren Privilegien, wie etwa mit ihrem Anspruch auf die Besetzung der Adelsbank in Regierungen und Gerichten.91
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zu verallgemeinern.« (S. 182). Die Schönburgs verharrten im vorabsolutistischen, auf dem Lehenswesen basierenden Zustand; sie übten Landesherrschaft aus, schritten aber nicht zum Landesstaat weiter.– Zur Auseinandersetzung Schlesingers mit Brunners Land und Herrschaft vgl. vor allem das letzte Kapitel ›Die Landesherrschaft der Herren von Schönburg im Rahmen der deutschen Verfassungsgeschichte‹, S. 161–191, besonders S. 183 ff. Vgl. auch Walter Schlesinger: Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchungen vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen. 1. Teil [mehr nicht erschienen].- Dresden: Baensch 1941 (= Sächsische Forschungen zur Geschichte; 1), sowie ders.: Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte.- In: ders.: Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters. Band I: Germanen, Franken, Deutsche.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, S. 9–52 (Erstdruck 1953). Dietrich Gerhard: Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte.- In: ders.: Alte und neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 10), S. 13–39 (Erstdruck 1952). Hinzuzuziehen sind der im gleichen Sammelband abgedruckte Aufsatz ›Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte‹, S. 40–56 (Erstdruck englisch 1956, deutsch 1962), sodann die unter dem Titel ›Zur Geschichte Alteuropas‹ versammelten Studien Gerhards in ders.: Gesammelte Aufsätze.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 54), S. 13–129, sowie schließlich ders.: Probleme ständischer Vertretungen im früheren achtzehnten Jahrhundert und ihre Behandlung in der gegenwärtigen internationalen Forschung.- In: Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert (Anm. 43), S. 9–31. Zur Auseinandersetzung mit Gerhard vgl. erneut Lehmann: Zum Wandel des Absolutismusbegriffs (Anm. 41), S. 15 ff. Ebd., S. 24.
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Gerhard hat eine Reihe von Entwicklungen namhaft gemacht, mit denen Europa auf der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert seine politische und geistige Identität fand; sie brauchen hier nicht rekapituliert zu werden. Wichtiger ist von diesem Ansatz her, daß keine der herkömmlichen ›neuzeitlichen‹ Epochenscheiden als definitive Zäsur akzeptiert werden kann.92 Das gilt sowohl für die Renaissance, die Gerhard wenigstens in politischer Hinsicht vor allem als ein Italien betreffendes Ereignis bewertet wissen möchte, wie auch für den Absolutismus. Die Neuanfänge sind auch hier in der Spätzeit ›Alteuropas‹ – gleichfalls dem Ansatz entsprechend – nicht scharf und eher geistesgeschichtlich markiert. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts freilich hebt sich aus dem alteuropäischen Kontinuum hervor. In ihr »zeigt sich eine zunehmende Verweltlichung, wird die Metaphysik von der Wissenschaft verdrängt und löst die Frage nach dem ›Warum‹ und nach dem ›Werden‹ die alte Fixierung auf das ›Was‹ und das ›Sein‹ ab.«93 In ihr gewinnen von langer Hand vorbereitete Begriffe wie ›Staatsraison‹ und ›Interessen der Staaten‹ Breitenwirkung. Dementsprechend scheint es bezeichnend, daß die Begriffe ›europäisches Gleichgewicht‹ und ›Staatensystem‹ zentrale Vorstellungen für die politische Theorie erst in einer Zeit wurden, als der Begriff Mittelalter geprägt und dieses Mittelalter endgültig der Vergangenheit zugezählt wurde: im ausgehenden 17. Jahrhundert.94
Manifestieren sich hier Ansätze zur Emanzipation von christlichen Ordnungsgedanken, so liegt die große ›Zeitwende‹ doch erst bei der ›Industriellen und der Französischen Revolution‹. Bis dahin haben die alteuropäischen, korporativ-regionalen Mächte nicht nur ihren Platz ausgefüllt, sondern auch als bestimmende Lebensformen gewirkt. Es war keine bloße vis inertiae, durch die die regionalen Gegenkräfte der zentralistischen und expansiven Tendenz der absolutistischen Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend entgegenzuwirken vermochten.95
An dieser Stelle zeichnet sich der auch für die Literaturgeschichte bedeutsame Beitrag der ständegeschichtlichen Schule ab. Gerhard hat an vielen Stellen seine Überzeugung vorgetragen, daß die Gerechtigkeit des Historikers gebiete, nicht immer nur nach den dynamischen, nach vorne weisenden Kräften zu fragen, sondern auch den statischen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. In dieses historische, dem antitotalitären Europa-Enthusiasmus der fünfziger Jahre entgegenkommende Bekenntnis, mischt sich ein Gutteil konservativer Irritation über den »Druck des modernen, zum Totalitären hindrängenden Staates und der ––––––––– 92
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Vgl. zum folgenden vor allem den Aufsatz von Gerhard: Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte (Anm. 90). Gerhard: Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte (Anm. 90), S. 51. Vgl. auch die ähnliche Charakteristik Gerhards in: Probleme des dänischen Frühabsolutismus.- In: ders.: Gesammelte Aufsätze (Anm. 90), S. 89–111, S. 89. Gerhard: Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte (Anm. 90), S. 50. Gerhard: Regionalismus und ständisches Wesen (Anm. 90), S. 14.
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nicht weniger anspruchsvollen, auf Konformität hindrängenden modernen Gesellschaft.«96 Immerhin war in dieser Perspektive der Blick freigegeben nicht allein auf die in den Absolutismus hineinragenden ständischen Privilegien, sondern auch auf die von der Krone im Eigeninteresse bewußt vollzogenen Refeudalisierungen. Ein besonders ergiebiges Arbeitsfeld eröffnete sich hier auf der Ebene des Ämterwesens im Absolutismus. So haben sogar auf die Institution, mit der das Fürstentum die von ihm selbst herbeigeführte politische Konsolidation der Stände parierte, auf das Beamtentum, immer wieder regionale und korporative Einflüsse gewirkt, es nicht zu einem ausschließlichen Werkzeug fürstlichen Willens und staatlicher Notwendigkeit werden zu lassen.97
Die Frage der ›Amtsträger zwischen Krongewalt und Ständen‹98 sowie die ihr korrespondierende des im 17. Jahrhundert beginnenden, im 18. Jahrhundert zum Abschluß kommenden geburtsständischen Abschließungsprozesses führt in das Zentrum des Realitätsgehalts zahlreicher Texte des 17. Jahrhunderts und wird daher sogleich wieder aufzugreifen sein.
Absolutismus, Etatismus und Totalitarismus: Kurt von Raumers kritisches Werk der Reinigung Drei Momente haben in den Augen Kurt von Raumers einen sachlich angemessenen Zugang zum Zeitalter des Absolutismus erschwert: die großen bürgerlichen Revolutionen an seinem Ausgang, die borussische etatistische Schule und vor allem die Erfahrung totalitärer Staaten im 20. Jahrhundert.99 Der ›geistige Ansatz‹ der Revolutionen von 1776 und 1789 hat, wenn nicht die Geschichtsschreibung – Tocqueville! –, so doch das öffentliche Bewußtsein weitgehend bestimmt, und »mit dem Rechte und der Kraft, aber auch mit der Einseitigkeit, die politischen Erneuerungsbewegungen eigentümlich sind, das alte Europa, das sie weithin unter sich begruben, zum Popanz werden« lassen.100 In Frankreich galt das Interesse den Ursprüngen der Revolution, in Deutschland dagegen dem Ursprung und Aufstieg Brandenburg-Preußens. Raumers abgewogenes Urteil über Droysen und Schmoller, Koser, Hintze und Hartung: Bei allem Interesse für die breite Bevölkerung, das die Absolutismus-Forschung mit dem Absolutismus selber teilt, ist sie doch stark herrschaftlich bezogen, sie sieht die Dinge von oben her, von den Maßnahmen der Regierung, blickt (neben der großen Politik) vornehmlich auf die Innenverwaltung, die fast als deren rangüberlegener Rivale erscheint, auf Verfassung und Behördenorganisation, auf das Verhältnis von Staat und Kirche, auf Verwal-
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100
Ebd., S. 39. Ebd., S. 24. So der Titel eines Aufsatzes von Gerhard in: Gesammelte Aufsätze (Anm. 90), S. 71–88. Vgl. Kurt von Raumer: Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit.- In: Absolutismus. Hrsg. von Walther Hubatsch.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973 (= Wege der Forschung; 314), S. 152–201 (Erstdruck 1957). Ebd., S. 160.
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tungsapparat und Verwaltungsgeschichte, auf das großartige Werk der eigentlichen Träger dieses Absolutismus, der Beamten, in staatlicher Wirtschaft- und Wohlfahrtspolitik, Rechtspflege, Peuplierung und Siedlung.101
Am ausführlichsten widmet sich Raumer der »Vereinseitigung und Überschattung des Absolutismus-Begriffs« durch den Totalitarismus. Bei allem Wechsel der Generallinien, die je nachdem das Trennende oder das Gemeinsame zwischen dem absoluten und dem totalitären Staat mehr in Erscheinung treten lassen, sind doch die totalitären Machthaber immer wieder der Versuchung erlegen, in der Bemühung um nationale Vorläufer den Staat des ›ancien régime‹ geradezu zu mythisieren [...].102
In der sowjetischen Forschung sieht Raumer einen inneren Zwiespalt am Werk, insofern neben einer »Beurteilung des Absolutismus als ›höchsten und letzten Stadiums ... des Feudalstaats‹ und (seinem Klasseninhalt nach) als ›Diktatur der Adelsklasse‹«, gleichwohl eine gewisse Faszination von Gestalten wie Peter dem Großen unverkennbar sei.103 Der hiermit zusammengebrachten faschistischen Apotheose absolutistischer Staatsgewalt, die schon angesprochen wurde, begegnet Raumer mit dem Hinweis, »daß auch nach der eigenen Selbstinterpretation der Imperialismus der Rassenlehre etwas völlig anderes war als das vom Volk weitgehend getrennte Wesen des alten Preußen.«104 Wichtiger ist für Raumer die fragwürdige Affinität zur Tradition des modernen Machtstaats schlechthin, die im Faschismus dann ihre Perversion erfährt. Ausdrücklich begegnet der Name Gerhard Ritters in diesem Zusammenhang. Der Betrachter ist bereit, jeden Zuwachs an Macht und jeden Verlust an Freiheit, den jene Jahrhunderte gebracht haben, zwar nicht mit dem Herzen zu billigen, aber mit dem Verstand zu bejahren [sic!], weil sie ›notwendig‹ gewesen seien. Der absolute Staat in Europa – eine notwendige Durchgangsstufe zwischen der Zeit des Feudalismus und der Moderne: dies ist die allgemein übliche, ein wenig simple, aber überall und stets ohne viel Nachdenken anwendbare Rubrizierung dieser drei Jahrhunderte.105
An solchen Stellen treten die Beweggründe für die Wende der neueren Absolutismus-Forschung deutlich hervor. Die hybride Extension staatlicher Gewalt unter dem Deckmantel völkischen Gemeinschaft beförderte nach dem Zusammenbruch die Entdeckung und Würdigung der nicht vom Staat ausgehenden geschichtlichen Kräfte. Sie waren nicht etatistisch, nationalistisch oder rassistisch diskreditiert, sondern erschienen im Gegenteil als Hort wenn nicht persönlicher, so doch korporativer Freiheiten, an die das 19. Jahrhundert vielfach anknüpfen konnte. Jene gegenläufige Tendenz, die als Unterton innerhalb der Absolutismus-Forschung die Wichtigkeit der ›retardierenden Momente‹ in der Umbildung der alteuropäischen Gesellschaft in den Vordergrund stellt, ist tief berechtigt [...]. Jene beharrenden Kräfte, die neben bloßem Ballast und geschichtlichem Leergut auch Lebendiges und Zukunftsvolles in sich
––––––––– 101 102 103 104 105
Ebd., S. 161. Ebd., S. 163. Ebd. Ebd., S. 164. Ebd., S. 164 f.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne bargen, sind auch 1789 nicht völlig geschlagen worden, so sehr der Vordergrundseindruck der Nacht des 4. August dafür spricht. Vor allem darf man sie aber nicht schon vor dieser Nacht im Dauerzustand sei es des jahrhundertelangen bloßen Hinvegetierens, oder der kurzund eigensinnigen Interessenpolitik und der ›feudalen Anarchie‹ sehen, die sich über das öffentliche Dasein hinwegsetzte. Daß es an alledem nicht gefehlt hat, darf doch nicht blind machen gegen die Beobachtung, daß öffentlicher Geist, soweit er mit dem Sinn für Freiheit und mit der Höherbewertung des allgemeinen Daseins über den wirtschaftlichen Eigennutz, insbesondere den Anpassungsgeist des Erwerbsdenkens, zusammenhängt im ›ancien régime‹ gerade bei den zunehmend depossedierten alten Mächten ruhte; in Frankreich beim Adel, der Geistlichkeit, der Robe. Der Kampf, den der Geist alteuropäischer Indépendance von Ständen und Landschaften nicht nur gegen die Revolution, sondern Jahrhunderte hindurch gegen den vordringenden Absolutismus geführt hat, gehört keineswegs zu den so unrühmlichen Überlieferungen Alteuropas, daß man ihn leichten Herzens vergessen sollte.106
Wie bei Gerhard ist auch bei Raumer ein Moment der résistance gegen die Machtsteigerung vor allem des modernen Staates unverkennbar.107 Und wie so häufig im Konservativismus ist der Sympathie für die adelige Welt Alteuropas eine Irritation gegenüber dem bürgerlichen Primat des Ökonomischen inhärent. Was nun das Prinzip altständischer Libertät angeht, so ist Europa davon, noch beim Ausgang des Absolutismus im 18. Jahrhundert, förmlich übersät. Gehört es doch zum Wesen des Absolutismus, daß er, was allgemein und genauestens bekannt und doch nicht hinreichend bewußt und für das Geschichtsbild wahrgemacht ist, sich fast nirgendwo ganz durchgesetzt hat. Einerseits erreicht er durch den verhältnismäßig dünnen Schleier, den das staatliche Beamtentum darstellt, nur ganz unzureichend die Breite des eigentlichen Volkes und Landes, die weithin in ihren historischen Bedingungen weiterleben, andrerseits ist er auch als Herrschaftsverband überlagert von älteren Formen: Lehnsstaat, Ständestaat, Frühtypen des parlamentarischen Staats, genau wie umgekehrt auf seinem Boden die staatsrechtlichen Theorien und gesellschaftsphilosophischen Konstruktionen des 17. und erst recht des 18. Jahrhunderts Elemente des konstitutionellen oder repräsentativen Staates vorwegnehmen.108
Die bemerkenswerten Illustrationen, die Raumer für Spanien, für Frankreich, das Reich und die Territorien bietet, können hier unberücksichtigt bleiben. Wie Gerhard stößt auch Raumer vor allem beim Adel auf ein vom Absolutismus hingenommenes Prinzip ständischer Abkapselung, das als Exempel die Ausschließlichkeit und den Kastengeist auch der anderen Stände beeinflußt hat und wirksam geblieben ist weit übers ancien régime hinaus, vielleicht noch verhängnisvoller für das Freiheitsbewußtsein als für die Freiheit selber [...].109
Was im Blick etwa auf die Wirklichkeit bäuerischen Daseins hinter einer solchen kryptischen Formulierung steckt, zeichnet sich – den Autor ehrend – in wünschenswerter Deutlichkeit ab. ––––––––– 106 107
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Ebd., S. 166. Vgl. etwa ebd., S. 201: »1776 und 1789 schützt sich der Mensch durch formulierte ›Grundrechte‹ gegen die Übergriffe des Absolutismus und gegen das ›Privileg‹ von Korporationen, er wird aber ›immediat‹ gegenüber einem Staate, der auf dem Weg neuer Machtsteigerung und damit neuer Freiheitsbedrohung abermals fortschreitet.« Ebd., S. 170 f. Ebd., S. 181.
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Raumer greift Brunners Beschreibung des grundherrlichen Herrschaftsverhältnisses, wie es im Begriff der ›Treue‹ kulminierte, durchaus auf. Und doch! Welcher Mißbrauch, mit dem ›Staat‹ und ›korporative Libertät‹ förmlich wetteiferten, der eine in seinem Bedürfnis nach Menschen und Geld, die andre im Kampf um ihre wirtschaftliche, auf Steuerfreiheit beruhende Selbstbehauptung. [...] Die Steigerung bäuerlicher Abhängigkeit zu einer rechtlich bis ins einzelne fixierten Erbuntertänigkeit, die ›Gutsherrschaft‹ mit ihrer Kombination von Befugnissen, welche öffentliche Gewalt und wirtschaftlich-soziales Privileg bis zur Unlösbarkeit verbanden, die immer rationellere Heranziehung des Landvolkes zu Lasten und Diensten: dies alles wurde besonders gegen Ende des ancien régime um so drückender empfunden, je mehr der Adel wirtschaftlich, geistig und sozial seine überlieferte Lebensform zu sprengen begann, für den Markt zu wirtschaften anfing, in die gewerblichen Berufe einstieg und in die Mobilisierung von Grund und Boden (und damit in die beginnende Niederlegung der Barriere von Adel und Bürgertum und von Stadt und Land) nicht nur einwilligte, sondern selbst (wie z.B. in Schlesien) ihr wichtigster Träger wurde.110
Und während sich die Publizistik schließlich zu Ende des Jahrhunderts in vorher unbekannter Weise für das Schicksal der Bauern zu interessieren begann, rechtliche Ungleichheit so sehr als mit Wesen und Würde des Menschen schlechthin unvereinbar empfand, daß nach einem Worte Kants sich beim Anblick der Erbuntertänigkeit die Eingeweide im Leib herumdrehten, lebte die Mehrzahl der Menschen nicht nur in solcher Ungleichheit und Unfreiheit, sondern in einer wirtschaftlichen Not weiter, die ihre persönliche Abhängigkeit erst vollständig machte.111
An Partien wie diesen zeigt sich, welche Chancen der Erkenntnis einer Forschungsrichtung offenstanden, die nicht mehr auf den staatlichen Formierungsprozeß im Absolutismus fixiert war, sondern die vom Staat nicht oder nur am Rande tangierten Kräfte einzuschätzen suchte. Ist es wirklich nur die gesteigerte Sensibilität für soziale Antagonismen, wenn die hier von Raumer vorgelegten Befunde dem Leser heute glaubwürdiger und zutreffender dünken als die Pointierung sozialer Mobilität im Ancien régime, die doch auf wenige Institutionen eingeschränkt war, zutreffender und glaubwürdiger auch als das mit Montesquieu und Tocqueville angestimmte Lob der mannigfachen korporativen Freiheiten im Absolutismus, die doch fast nur die des Adels und Patriziats waren?
Ein Votum aus dem angelsächsischen Raum: F.L. Carstens ›Princes and Parliaments in Germany‹ Schwerlich dürfte es ein Zufall sein, daß die erste große ständegeschichtliche Arbeit nach diesen Anstößen aus England kam: F.L. Carstens Princes and Parliaments in Germany.112 Wie Gerhard und von Raumer geht es auch Carsten ––––––––– 110 111 112
Ebd., S. 189 und S. 188. Ebd., S. 191. F.L. Carsten: Princes and Parliaments in Germany. From the Fifteenth to the Eighteenth Century.- Oxford: Clarendon Press 1959. Das letzte, hier vor allem interessierende Kapitel dieses Buches erschien auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel: Die deutschen
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darum, den Ständen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dementsprechend scharf ist die Polemik gegen die jüngere Berliner Schule, gegen Hartung, aber auch gegen Oestreich.113 Carsten räumt ein, die Stände ––––––––– 113
Landstände und der Aufstieg der Fürsten.- In: Die Welt als Geschichte 20 (1960), S. 16– 29; hiernach wird im folgenden zitiert. Carstens Polemik richtet sich gegen einzelne Passagen in Hartungs Kapitel über die ›landständische Verfassung‹ in dessen Deutscher Verfassungsgeschichte (Anm. 37), S. 82–92, und solche in dessen erstmals 1952 erschienenem Aufsatz ›Herrschaftsverträge und ständischer Dualismus in deutschen Territorien‹ in: ders.: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit (Anm. 13), S. 62–77, sowie schließlich gegen den Abschnitt ›Landständische Verfassung‹ des Oestreichschen Artikels ›Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches‹ (Anm. 37), S. 345–348 (Bezugspunkt für die unten von Carstens aufgegriffene und zitierte Äußerung aus dem Jahre 1955). Hartung hat in dem 1961 erfolgten Wiederabdruck seines Aufsatzes – der seinerseits eine Weiterführung und Antwort auf Werner Näf: Herrschaftsverträge und Lehre vom Herrschaftsvertrag.- In: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 7 (1949), S. 26–52; ders.: Frühformen des ›modernen Staates‹ im Spätmittelalter.- In: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. Hrsg. von Hanns Hubert Hofmann.- Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1967 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 17), S. 101–114 (Erstdruck 1951), darstellt – Carstens ›günstigere Beurteilung‹ der Landstände zurückgewiesen: »Ich möchte aber hervorheben, daß die Stände nicht einmal da, wo sie wie in Württemberg bis zum Ende des alten Reichs in anerkannter Wirksamkeit geblieben sind, es verstanden haben, dem Absolutismus der Fürsten mit Erfolg entgegenzutreten, geschweige denn die Regierung positiv zu beeinflussen. Auch in Mecklenburg hat ihre im Erbvergleich von 1755 bestätigte Machtstellung nichts zur Förderung der rechtlichen und wirtschaftlichen Lage der große Masse der Bevölkerung geleistet.« (S. 63 f., Anm. 4). Oestreich hat den von Carstens inkrimierten Satz, daß die Stände nicht nur zur »landesherrlichen Sparsamkeit«, sondern zugleich auch zu »gewissem Verzicht auf militärische Macht und aktive auswärtige Politik« erziehen würden (›Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches‹ (Anm. 37), S. 347) in der folgenden 9. Auflage (Stuttgart 1970) deutlich abgemildert: Die Stände »bestärken die Zurückhaltung der Außenpolitik des Landesherrn [...].« (S. 402). Oestreich hat darüber hinaus auch explizit nochmals den Versuch unternommen, zwischen den divergierenden Positionen Hartungs und der ständegeschichtlichen Schule hinsichtlich der Bewertung landständischer Leistungen zu vermitteln: Ständetum und Staatsbildung in Deutschland.- In: ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze.Berlin: Duncker & Humblot 1969, S. 277–289 (Erstdruck 1967). Für diese Zwecke bedient Oestreich sich eines Dreistadien-Schemas. Er unterscheidet »die Vorform oder Frühform eines dualistischen politischen Verbandes im 14./15. Jh.«, in der sich die Stände formieren und mit der Artikulierung von Gravamina zur Meliorisierung der Territorien beitragen, sodann »die erste Stufe des frühmodernen Staates im 16. Jh.«, in der das Ständewesen voll ausgebildet ist und vor allem über die Steuergesetzgebung eine maßgebliche Rolle spielt, und schließlich »die zweite Stufe des frühneuzeitlichen Staates« als Militär-, Wirtschaftsund Verwaltungsstaat seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der nur in den fortgeschrittensten absolutistischen Staaten voll zur Ausbildung kommt (S. 279). Erst jetzt sieht Oestreich die Stände »aus Vertretern des allgemeinen Interesses zu Vertretern ihrer korporativen Interessen« sich wandeln, während der »Staatsverband fürstlicher Prägung [...] – gewiß mit einem dynastischen Vorzeichen und der sozialen Einschränkung – die salus publica« vertritt (S. 288). Deutlich betont auch Oestreich die soziale Reprivilegierung der Stände, vor allem des Adels, in dieser Phase. Zu inaugurierende Forschungen auf regionaler und provinzialer Ebene dürften – auch und gerade für Preußen – bestätigen, »daß die Stände in der letzten Periode, die man mit dem immer verdächtiger werdenden Begriff des Absolutismus belegt, als politische Faktoren auf der zentralen Ebene zwar ausgeschaltet
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wollten nicht ein Teil des neuen Staates werden, sondern ihre Autonomie und ihre Privilegien aufrechterhalten. Es war die gleiche Haltung, die die Fürsten gegenüber dem Reich zeigten, oder der Adel des Südwestens gegenüber den Fürstentümern, von denen er sich emanzipierte, um zu Freien Reichsrittern aufzusteigen.114
Ihre relative Autonomie auf der Grundlage stets erneut bekräftigter Privilegien erscheint ihm aber gerade als Garant für die Eindämmung staatlich-zentralistischer Macht, als förderliches Gegengewicht, nicht als Hemmnis staatlicher Souveränität. Doch im 16. und 17. Jahrhundert übten viele Stände einen starken Einfluß auf die Politik ihrer Fürsten aus, verhinderten viele eigenmächtige Handlungen und Willkürlichkeiten und, durch ihre Vorsicht bei Steuerbewilligungen, viele Abenteuer auf dem Gebiete der Außenpolitik. Man hat mit Bedauern festgestellt, daß diese Entwicklung das Aufgeben einer aktiven Außenpolitik und der militärischen Macht mit sich brachte: eine Ansicht, die ziemlich merkwürdig klingt, wenn sie im Jahre 1955 veröffentlicht wird, und die wohl zu einer früheren Zeit der deutschen Geschichte verständlicher gewesen wäre. Vor allem aber läßt sie die Realitäten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts außer Betracht, einer Zeit, in der eine aktive Außenpolitik sich nur gegen benachbarte Fürsten richten konnte und einen ewigen Bürgerkrieg hervorgerufen haben würde. Daß der Krieg nicht ewig, sondern nur zeitweise geführt wurde, war zum Teil das Verdienst der Stände.115
Der am staatlichen Machtzuwachs orientierten Optik setzt Carsten seine am englischen Parlamentarismus geschulte der balance of powers entgegen. Die Behauptung, »daß die Stände nicht willens waren, dauernde Verpflichtungen auf sich zu nehmen, daß sie die Bedürfnisse des modernen Staates nicht verstanden, daß die Organisation der Verwaltung erstarrte, wo sie vorherrschten«, weist er zurück.116 Die Tendenz zu sozialer Abkapselung, zur Bildung privilegierter Oligarchien, sieht auch er, auf der anderen Seite soll die enge Tuchfühlung mit den Untergebenen aber auch die Milderung administrativer Zwänge im Gefolge gehabt haben. Es ist sicher richtig, daß die Stände – ob nun die Junker im Osten oder die Ehrbarkeit in Württemberg – im Interesse der Klasse handelten, die sie vertraten, daß ihr Horizont eng war, und daß sie nicht für die Freiheit im modernen Sinn des Wortes eintraten. Aber andererseits, wenn sie ihre Freiheiten verteidigten und ihre Beschwerden vorbrachten, z.B. in Handelsfragen oder gegen die fürstlichen Monopole, verteidigten sie oft die wahren Interessen des Landes gegen den Fürsten und seine Beamten. Wenn sie sich über schwere Arbeits- und Fuhrdienste und den großen Schaden, der durch das Wild und andere Tiere angerichtet wurde, beklagten, so traten sie damit für die Interessen der Bauern ein. Durch ihre Opposition gegen Zwangsaushebungen und zu schwere Militärlasten verhinderten sie manche der schlimmsten Exzesse eines kleinlichen Despotismus.117
Geradezu eine zentrale Stelle im Gebäude der Argumentation Carstens nimmt die These ein, daß Liberalismus und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhun––––––––– 114 115 116 117
sind, aber als sozio-politische Gruppen auf der regionalen und lokalen Ebene eine bedeutende Rolle spielen konnten.« (S. 289). Carsten: Die deutschen Landstände und der Aufstieg der Fürsten (Anm. 112), S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Ebd.
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derts dort die besten Chancen hatten, wo die älteren ständischen Institutionen überlebt hatten. Es ist doch sicherlich kein Zufall, daß die liberale Bewegung des 19. Jahrhunderts in den Teilen Deutschlands am stärksten war, wo es den Ständen gelang, die Zeit des Absolutismus zu überleben. Nicht nur der Gedanke der Freiheit, sondern auch die Grundprinzipien der Selbstverwaltung wurden von den Ständen am Leben erhalten [...].118
Ein Versuch der Vermittlung: Umrisse des Absolutismus im Werk von Rudolf Vierhaus Mit dem Buch von Carstens legte sich das Schwergewicht der Forschung auf das Schicksal der Stände in ›Alteuropa‹. Der reiche Ertrag dieser Arbeit auf nationaler wie auf internationaler Ebene braucht hier nicht ausgebreitet zu werden.119 Deutlich zeichnet sich derzeit eine Vermittlung der ehemals antinomischen Positionen in der Erforschung des Absolutismus ab. Die jüngste Arbeit von Rudolf Vierhaus zu diesem Fragenkreis ist dafür symptomatisch. In ihr konstatiert er, daß die mit revisionistischem Eifer gegen die lange gepflegte und ertragreiche Erforschung staatlicher Behörden auftretende und recht produktive Erforschung nichtstaatlicher, lokaler und regionaler ständischer Institutionen der frühen Neuzeit der Gefahr nicht entgangen [ist], ih-
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Ebd., S. 23. Vgl. auch F.L. Carsten: Die Ursachen des Niedergangs der deutschen Landstände.- In: Historische Zeitschrift 192 (1961), S. 273–281, S. 281: »Überall, wo ihre [der Landstände] Freiheiten zerstört wurden, wurde der Freiheit das gleiche Los zuteil. Obwohl Freiheiten und Freiheit nicht das gleiche bedeuteten, waren sie doch eng miteinander verknüpft. Die Landstände gehören zum Hauptstrom der deutschen Geschichte, ebenso wie in der Mehrzahl der europäischen Länder.« Eine interessante Auseinandersetzung mit dem Werk von Carstens findet man bei Peter Herde: Deutsche Landstände und englisches Parlament. Bemerkungen zu F.L. Carsten, Princes and Parliaments in Germany. From the Fifteenth to the Eighteenth Century.- In: Historisches Jahrbuch 80 (1961), S. 286–297. Über die schon erwähnte Literatur hinaus sei hier nur verwiesen auf die beiden großen Sammlungen: Études présentées à la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États (ab 1937); Ancien Pays et Assemblées d’États / Standen en Landen. Recueils de la Section Belge de la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États (ab 1950). Vgl. hier vor allem den instruktiven Überblick bei É. Lousse: La société d’ancien régime. Organisation et représentation corporatives.- Louvain: Ed. Universitas 1943 (= Études présentées à la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États; 6), sowie: The Old Reich. Essays on German Political Institutions 1495–1806. Hrsg. von James A. Vann, Steven W. Rowan.- Bruxelles: Librairie Encyclopédique 1974 (= Études présentées à la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États; 48), sowie Gerhard Oestreich, Inge Auerbach: Die Ständische Verfassung in der westlichen und in der marxistisch-sowjetischen Geschichtsschreibung.- Heule: UGA 1976 (= Anciens Pays et Assemblées d’Etats; 67), S. 5–54 (mit reichhaltigen Literaturangaben; leicht veränderte Fassung des Artikels ›Ständische Verfassung‹ aus: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. Band VI.- Freiburg, Basel, Wien: Herder 1972. Vgl. auch: Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten. Band II: Reichsstände und Landstände. Hrsg. von Heinz Rausch.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974 (= Wege der Forschung; 469).
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ren Gegenstandsbereich zu überschätzen. Nicht, daß die ständegeschichtliche Forschung die landesherrlichen, ›staatlichen‹ Einrichtungen so unbeachtet gelassen hätte wie zuvor die ältere Verwaltungs- und Verfassungshistorie das Ständewesen! Aber sie tendierte doch dazu, ständische Einrichtungen zu isoliert zu betrachten und überdies zu unkritisch in ihnen die Chance einer anders verlaufenden, weniger etatistischen politischen Entwicklung zu erkennen.
Die ständegeschichtliche Forschung arbeitet nach Vierhaus oft noch »ohne zureichende Kenntnisse der komplexen Strukturen des sozialen und politischen Lebens im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit«. Sie kommt daher an die gleichsam naturwüchsige Verschränktheit der Institutionen nur schwer heran, aus der sich die staatsbürgerliche Gesellschaft und der bürokratische Anstaltsstaat der Moderne erst langsam herausentwickelt haben. In der Vorstellungswelt der Zeitgenossen hatte diese Verschränktheit nichts Irreguläres! Für sie bestanden die Grenzen zwischen privat- und öffentlichrechtlichem Bereich, die Zuständigkeiten und Herrschaftsmonopole späterer Zeit nicht.120
In einer Reihe prägnanter Formulierungen hat Vierhaus in seinem jüngsten Aufsatz diese Verquickung aufweisen und damit bis zu einem gewissen Grade den forschungsgeschichtlichen Dualismus überbrücken und schlichten können. Auszugehen ist hier nach dem Vorgang Brunners von den nicht klar verlaufenden Trennungslinien zwischen öffentlichem und privatem Bereich. Bezogen auf den politischen Handlungsspielraum in der vorgegebenen Verfassungswirklichkeit besagt dies, daß die Stände »ihre Ausschaltung von der zentralen ›staatlichen‹ Ebene, die Aberkennung aller Mitregierungsrechte und selbst des Bewilligungsrechts für die Erhebung regelmäßiger Steuern, wenn sie von den Landesherren durchgesetzt werden konnten«, zu akzeptieren imstande waren, solange wie ihre lokalen und regionalen Selbstverwaltungs-Kompetenzen davon unberührt blieben, wie das zumeist der Fall war.121 Hier übten sie als Rittergutsbesitzer, Prälaten und Magistrate selber Herrenrechte aus, und deshalb war ihnen die Überlassung einer ›öffentlichen Sphäre‹ an den ›Staat‹ ein ebenso fremder Gedanke wie die allgemeine Staatsbürgerschaft. [...] So ist praktisch und gewohnheitsrechtlich eine breite Zone vielschichtiger Durchdringung landherrlicher und landständischer Kompetenzen entstanden, wobei die Kleinheit der Staaten und der Mangel an Mitteln häufig zu zweiseitigen Beauftragungen von Amtsträgern führten. Mit dem Interesse landtagsberechtigter Familien am landesherrlichen Dienst und mit der Verwendung juristisch gebildeter Fachleute auf beiden Seiten, die die gleiche Sprache verwendeten, schließlich mit der im 18. Jh. eher stärker als schwächer werdenden Solidarität zwischen Hof und landsässigem Adel waren weitere Voraussetzungen gegeben, die eher das Arrangement als die strenge Abgrenzung förderten.122
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Rudolf Vierhaus: Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert.- In: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 40–60, S. 40 f. Ebd., S. 55 f. Ebd. Vgl. von Vierhaus auch den gehaltreichen Aufsatz: Ständewesen und Staatsverwaltung in Deutschland im späteren 18. Jahrhundert.- In: Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer. Hrsg. von Rudolf Vierhaus, Manfred Botzenhart.- Münster: Aschendorff 1966 (= Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung; 9), S. 337–360.
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Integration des marxistischen Ansatzes in das ForschungsTableau: Ein Blick in die Frühschriften von Karl Marx Die aus der Staatsperspektive argumentierende Forschung stieß auf das Beamtentum als den wichtigsten Träger des Staatsbildungsprozesses, und damit auf den Vorgang ständischen Aufstiegs vor allem aus dem Bürgertum in den fürstlichen bzw. staatlichen Dienst. Die ›alteuropäische‹ Schule, wenn diese Abbreviatur erlaubt ist, traf bei der Erkundung der Bauprinzipien der altständischen Gesellschaft auf die adelige Grundherrschaft als fundamentaler politischer und rechtlicher, sozialer und ökonomischer Organisationseinheit. Der marxistische Ansatz, der nun vorzustellen ist, begreift den Aufstieg des Absolutismus im Spannungsfeld von adeliger Herrschaft und bürgerlicher Emanzipation und koinzidiert daher – ungeachtet der vorzunehmenden Zuspitzung dieses Ansatzes auf das Gelehrtentum – prinzipiell mit dem Befund in den Quellen, die unserer Untersuchung zugrundeliegen. Rudolf Vierhaus hat in seiner instruktiven Skizze des marxistischen Forschungsbeitrags darauf hingewiesen, daß für Marx selbst die »›absolute Monarchie‹ (den Begriff ›Absolutismus‹ verwendet er nicht) eine Erscheinung [ist], die sich in Deutschland noch als unmittelbare Realität seiner Gegenwart darstellt.«123 Wesentliche Momente der absoluten Monarchie begegneten dem jungen Marx zugleich auf der Ebene der Theoriebildung – und daran hat er, wie so oft, zunächst angeknüpft.
Kritik der Hegelschen Staatstheorie In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) unternimmt Hegel bekanntlich den Versuch, das moderne Prinzip der in der französischen Revolution gesellschaftlich und politisch freigesetzten bürgerlichen Gesellschaft mit dem im Staat zur Erscheinung gelangenden sittlichen Allgemeinen zu vermitteln. Dem letzten Teil dieses Werkes widmete Marx 1843 einen ausführlichen Kommentar und stieß gerade hier auf die von Hegel zur Konstruktion des Staates wiederaufgegriffenen Verfassungselemente des Ancien régime. Marx hat darauf mit dem ihm eigenen Sarkasmus in Auseinandersetzung mit Hegels Rekonstruktion der ›fürstlichen Gewalt‹ reagiert. Die »Souveränität, das Wesen des Staats«, werde in der Person des Monarchen »als ein selbständiges Wesen betrachtet, vergegenständlicht.«124 Der empirischen Person des Monarchen werde aufgebürdet, die Idee des Staates zu verkörpern, doch die »Idee der fürstlichen Gewalt« sei in Wahrheit nichts anderes »als die Idee des Willkürlichen, ––––––––– 123
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Rudolf Vierhaus: [Artikel] ›Absolutismus‹.- In: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. Band I.- Freiburg, Basel, Wien: Herder 1966, Sp. 17–37, Sp. 18. Karl Marx: [Kritik des Hegelschen Staatsrechts].- In: ders.: Werke – Schriften – Briefe. Band I: Frühe Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber, Peter Furth.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, S. 258–426, S. 284.
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der Entscheidung des Willens.«125 Wird die Einheit des Staates in der Individualität des Monarchen gesucht, so verdankt dieser nur einem natürlichen Moment seine Einheit, unterliegt also einer Naturbestimmung. »Die ›Staatsvernunft‹ und das ›Staatsbewußtsein‹ ist eine ›einzige‹ empirische Person mit Ausschluß aller anderen, aber diese personifizierte Vernunft hat keinen anderen Inhalt als die Abstraktion des ›Ich will‹. L’Etat c’est moi.«126 Der Monarch, so Marx, kann allenfalls die Einheit des Volkes repräsentieren, nicht aber als Inkarnation der Staatssouveränität gelten, denn dann wäre es sinnlos, von einer Souveränität des Volkes zu sprechen. »Die Volkssouveränität ist nicht durch ihn, sondern umgekehrt er durch sie.«127 Folgerichtig hat Marx denn auch in der ›Kritik des Hegelschen Staatsrechts‹ seine expliziteste Theorie der Demokratie entwickelt, in der die Dichotomie von Staat und Gesellschaft aufgehoben und die Menschheit zur Objektivation ihres Gattungswesen gelangt ist. Von dieser Position aus läßt sich die Hegelsche Bindung der Idee des Staats an die natürliche Person des Monarchen nur ironisch traktieren. Die Souveränität, die monarchische Würde, würde also geboren. Der Leib des Monarchen bestimmte seine Würde. Auf der höchsten Spitze des Staats entschiede also statt der Vernunft die bloße Physis. Die Geburt bestimmte die Qualität des Monarchen, wie sie die Qualität des Viehs bestimmt.128
Ebenso demontiert Marx die Einführung von ›Bürokratie‹ und ›Ständen‹ in der Hegelschen Rechtsphilosophie und entkleidet sie ihrer ihnen von Hegel zugedachten Würde. Um den Staat als das sittliche Allgemeine mit der ihm wesensfremden bürgerlichen Gesellschaft zu vermitteln, greift Hegel auf seiten des Staates zur Beamtenbürokratie wie auf seiten der bürgerlichen Gesellschaft zu den ständischen Korporationen. In beiden Institutionen soll sich jener Sinn für das Allgemeine bereits ausgebildet haben, das sich ihm mit der Idee des Staates stets verbindet, welches er auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft in deren dissoziierten, nur dem Privatinteresse folgenden Mitgliedern jedoch nicht vorfindet. Auf die tief ins Detail vordringende Kritik Marxens sei hier nur verwiesen; ihre Dialektik versagt sich dem Resümee. Der Hegelsche Versuch einer Anknüpfung der bürgerlichen Gesellschaft an den Staat über Bürokratie und neuständische Korporationen ist in Marxens Augen a priori zum Scheitern verurteilt, weil bürgerliche Gesellschaft und Staat in ein antinomisches Verhältnis gesetzt sind und gesetzt sein müssen, solange wie sich die gesellschaftliche Aneignung der Natur naturwüchsig in der Teilung von Lohnarbeit und Kapital vollzieht, statt von den assoziierten Individuen vernünftig und das heißt planvoll ins Werk gesetzt zu werden. ––––––––– 125 126 127 128
Ebd., S. 285. Ebd., S. 288. Ebd., S. 290. Ebd., S. 297.
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Janusgesicht des absoluten Fürstenstaats Marx hat schon in seiner ›Kritik des Hegelschen Staatsrechts‹ der politischen Funktion der absoluten Monarchie eine hellsichtige Passage gewidmet. Es ist ein Fortschritt der Geschichte, der die politischen Stände in soziale Stände verwandelt hat, so daß, wie die Christen gleich im Himmel, ungleich auf der Erde, so die einzelnen Volksglieder gleich in dem Himmel ihrer politischen Welt, ungleich in dem irdischen Dasein der Sozietät sind. Die eigentliche Verwandlung der politischen Stände in bürgerliche ging vor sich in der absoluten Monarchie. Die Bürokratie machte die Idee der Einheit gegen die verschiedenen Staaten im Staate geltend. Indessen blieb selbst neben der Bürokratie der absoluten Regierungsgewalt der soziale Unterschied der Stände ein politischer, ein politischer innerhalb und neben der Bürokratie der absoluten Regierungsgewalt. Erst die französische Revolution vollendete die Verwandlung der politischen Stände in soziale oder machte die Ständeunterschiede der bürgerlichen Gesellschaft zu nur sozialen Unterschieden, zu Unterschieden des Privatlebens, welche in dem politischen Leben ohne Bedeutung sind. Die Trennung des politischen Lebens und der bürgerlichen Gesellschaft war damit vollendet.129
Wie in allen Äußerungen Marxens tritt auch in dieser das Janusgesicht der absoluten Monarchie deutlich hervor. Ihr progressives Moment entdeckt Marx darin, daß sie die Umfunktionierung der politischen Stände der mittelalterlichen Feudalgesellschaft in soziale einleitet. Erst die französische Revolution bringt jedoch die politische Depossedierung der alten Feudalgewalten zum Abschluß. Die in der Bürokratie verkörperte Einheit der Staatssouveränität gelangt im Absolutismus keineswegs voll zum Durchbruch; die zentrifugalen feudalen Kräfte vor allem des Adels behaupten ihre politischen Herrschaftsrechte, derer sie erst 1789 in Frankreich beraubt werden. Erscheint hier – wiederum in Übereinstimmung mit bereits vorgetragenen Anschauungen – die monarchisch-bürokratische Spitze als das eigentlich dynamische Moment des Staatsbildungs- und Modernisierungsprozesses, so hat Marx darüber hinaus besonderes Gewicht auf die sozioökonomische Funktionsanalyse des Absolutismus legen müssen. Die wohl umfassendste und dichteste Formulierung seiner diesbezüglichen Einschätzung liegt wiederum in einer polemischen Rezension vor: ›Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral. Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte. Gegen Karl Heinzen von Karl Marx‹ (1847).130 Heinze, ein radikaler Republikaner, gibt sich in dem von Marx aufgespießten Beitrag als Verächter des Fürstentums zu erkennen. Marx, der auch mit dieser Anzeige wieder ein rhetorisch-dialektisches Musterstück vorlegt, dringt auf historische Erklärung, statt auf moralische Kritik. ––––––––– 129 130
Ebd., S. 361. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band IV.- Berlin: Dietz 1959, S. 331–359. Marx bezieht sich auf Heinzens Artikel ›Ein ›Repräsentant‹ der Kommunisten‹ in der DeutschenBrüsseler Zeitung Nr. 84 vom Oktober 1847 und bemerkt dazu in einer Fußnote zu seinem Artikel: »Ich antworte Herrn Heinzen nicht, um auf den Angriff gegen Engels zu replizieren. Der Artikel des Herrn Heinzen macht keine Replik nötig. Ich antworte, weil das Heinzensche Manifest der Analyse belustigenden Stoff darbietet.« (S. 331).
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Der kernhafte ›gesunde Menschenverstand‹ glaubt das Fürstentum zu erklären, indem er sich für seinen Gegner erklärt. Die Schwierigkeit bestände für diesen Normalverstand aber darin, darzutun, wie der Gegner des gesunden Menschenverstandes und der moralischen Menschenwürde geboren wurde, und sein merkwürdig zähes Leben Jahrhunderte fortschleppte. Nichts einfacher. Jahrhunderte entbehrten des gesunden Menschenverstandes und der moralischen Menschenwürde. In andern Worten, der Verstand und die Moral von Jahrhunderten entsprachen dem Fürstentum, statt ihm zu widersprechen. Und eben diesen Verstand und diese Moral vergangener Jahrhunderte versteht der ›gesunde Menschenverstand‹ von heute nicht. Er begreift ihn nicht, aber dafür verachtet er ihn. Aus der Geschichte flüchtet er in die Moral, und nun kann er das sämtliche schwere Geschütz seiner sittlichen Entrüstung spielen lassen.131
In Reaktion gegen diese natürlich keineswegs nur bei Heinze anzutreffende, sondern im Umkreis des Liberalismus gängige Absolutismus-Kritik, hat dann Marx eine eigene Absolutismus-Theorie skizziert, in der die fortan bestimmenden Momente der marxistischen historischen Diagnose bereits versammelt sind. Die moderne Geschichtsschreibung hat nachgewiesen, wie die absolute Monarchie in den Übergangsperioden erscheint, wo die alten Feudalstände untergehen und der mittelalterliche Bürgerstand zur modernen Bourgeoisklasse sich heranbildet, ohne daß noch eine der streitenden Parteien mit der andern fertig geworden wäre. Die Elemente, auf denen sich die absolute Monarchie aufbaut, sind also keineswegs ihr Produkt; sie bilden vielmehr ihre soziale Voraussetzung, deren geschichtliche Entstehung zu bekannt ist, um sie hier zu wiederholen.132
Erneut erweist sich auch an dieser Stelle, daß die Marxsche Theorie nur aus dem aktuellen Diskussionszusammenhang zu begreifen ist, an den gerade in den Frühschriften durchweg angeknüpft wird. Legt sein Gegner den Selbsterzeugungsprozeß des Fürstentums dar und suggeriert damit, daß die Fürsten »ihre gesellschaftliche Unterlage gemacht haben und täglich von neuem machen«, so arbeitet Marx die Negation dieser Position heraus.133 Die absolute Monarchie ist – ungeachtet der hier bewußt nicht thematisierten Faktoren persönlicher fürstlicher Politik – geschichtlich nur aus dem Antagonismus zwischen den alten, dem Untergang geweihten Feudalgewalten, und dem Aufstieg des nachmittelalterlichen Großbürgertums (Handels-, Finanz-, Industriebourgeoisie) herzuleiten. Die absolute Monarchie verdankt ihr Dasein also dem Konflikt zwischen einem absteigenden Stand und einer aufsteigenden Klasse, ohne daß dieser bereits mit dem Sieg einer der beiden Mächte geendet hätte. Die gewisse politische Selbständigkeit des absoluten Staates rührt eben von jenem tendenziellen Kräftegleichgewicht zwischen Adel und Bürgertum her, das stets wieder auszubalancieren die eigentliche raison d’etre des Absolutismus darstellt.134 ––––––––– 131 132 133 134
Ebd. S. 344 f. Ebd., S. 346. Ebd., S. 345. Engels hat diese Bestimmung dann später wieder aufgenommen, so in seiner Abhandlung ›Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats‹ (1884). »Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrück-
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Rudolf Vierhaus hat in seinem schon herangezogenen Absolutismus-Artikel die einschlägigen genetischen Momente zur Herausformung des Absolutismus zusammengestellt, die Marx hervorhebt und die gleichfalls seiner Heinze-Kritik besonders deutlich zu entnehmen sind. Demnach trägt gerade das große Handels- und Manufakturkapital zum Aufstieg der absoluten Monarchie bei, indem sie den alten Feudaladel auspowern und derart der »absoluten Monarchie über die so unterminierten großen Feudalen zum Sieg verhalfen«.135 Der Preis dafür ist eine finanzielle Abhängigkeit der Krone vom Großbürgertum, auf die Marx immer wieder hingewiesen hat. Umgekehrt – und darauf liegt bei Marx der Akzent – verwandelt sich die absolute Monarchie in dem Maße zur politischen Stütze des Adels, wie das Bürgertum sich über die feudalen ökonomischen und sozialen Schranken hinwegsetzt und in eins damit die politische Monopolstellung der Krone zunehmend in Frage stellt. Die absolute Herrschaft ist selbst die geschichtlich letzte und höchste Form adeliger Herrschaft, und insofern an eine intakte wenn nicht politische, so doch soziale Hierarchie der ständischen Feudalgesellschaft gebunden. Die von ihr forcierte politische Egalisierung einer homogenen Untertanengesellschaft muß um den Preis ihres Überlebens durch eine um so rigorosere Zementierung der ständischen Grenzen aufgefangen werden. Die gewaltsam reaktionäre Rolle, in der das Fürstentum auftritt, beweist nur, daß in den Poren der alten Gesellschaft eine neue Gesellschaft sich herangebildet hat, welche auch die politische Hülse – die naturgemäße Decke der alten Gesellschaft – als eine naturwidrige Fessel empfinden und in die Luft sprengen muß. Je unentwickelter diese neuen auflösenden Gesellschaftselemente, desto konservativer erscheint selbst die heftigste Reaktion der alten politischen Gewalt. Je entwickelter die neuen auflösenden Gesellschaftselemente, desto reaktionärer erscheint selbst der harmloseste Konservationsversuch der alten politischen Gewalt. Die Reaktion des Fürstentums, statt zu beweisen, daß es die alte Gesellschaft macht, beweist vielmehr, daß es abgemacht ist, sobald die materiellen Bedingungen der alten Gesellschaft sich überlebt haben. Seine Reaktion ist zugleich die Reaktion der alten Gesellschaft, die noch die offizielle Gesellschaft, und darum auch noch im offiziellen Besitz der Gewalt oder im Besitz der offiziellen Gewalt ist. Haben sich die materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft so weit entwickelt, daß die Umwandlung ihrer offiziellen politischen Gestalt eine Lebensnotwendigkeit für sie geworden ist, so verwandelt sich die ganze Physiognomie der alten politischen Gewalt. So versucht die absolute Monarchie nun, statt zu zentralisieren, worin ihre eigentliche zivilisierende Tätigkeit bestand, zu dezentralisieren. Aus der Niederlage der feudalen Stände hervorgegangen, und selbst den tätigsten Anteil an ihrer Zerstörung nehmend, sucht sie jetzt
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ten Klasse. So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält. So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Adel und Bürgertum gegeneinander balanciert; so der Bonapartismus des ersten und namentlich des zweiten französischen Kaiserreichs, der das Proletariat gegen die Bourgeoisie und die Bourgeoisie gegen das Proletariat ausspielte.« Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band XXI.- Berlin: Dietz 1962, S. 25– 173, S. 166 f. Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral (Anm. 130), S. 340.
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wenigstens den Schein der feudalen Unterschiede festzuhalten. Den Handel und die Industrie und gleichzeitig damit das Aufkommen der Bürgerklasse früher begünstigend als notwendige Bedingungen sowohl der nationalen Macht als des eignen Glanzes, tritt die absolute Monarchie jetzt dem Handel und der Industrie, die immer gefährlichere Waffen in den Händen einer schon mächtigen Bourgeoisie geworden sind, überall in den Weg. Von der Stadt, der Geburtsstätte ihrer Erhebung, wirft sie den ängstlichen und stumpf gewordenen Blick auf das Land, das mit den Leichen ihrer alten, reckenhaften Gegner gedüngt ist.136
Damit sind die beiden großen Themen von Marx angeschnitten, denen auch gegenwärtig das vorrangige Interesse der marxistischen Absolutismus-Forschung gilt: die Stabilisierung und Reprivilegierung der altständischen Feudalgewalten – und damit vor allem auch die Konservierung und der Ausbau der grundherrschaftlichen Rechte – auf der einen Seite, die Ablösung der Allianz von Monarchie und Großbürgertum durch eine sozialkonservative, die Emanzipation der aufsteigenden Klasse behindernde Interventionspolitik zur Wahrung dynastischer und ständisch-feudaler Interessen auf der anderen Seite.
Zeitgeschichtliche Diagnostik am Beispiel Frankreichs Die Absolutismus-Theorie Marxens ist in ihren tragenden Bestandteilen natürlich an den fortgeschrittenen Monarchien Westeuropas ausgerichtet. In seinen großen zeitgenössischen politischen Analysen, dem ›Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‹ (1852) und dem ›Bürgerkrieg in Frankreich‹ (deutsch erstmals 1891), ergriff Marx die Gelegenheit, am Beispiel Frankreichs den Zusammenhang von Absolutismus und Revolution darzulegen, die Rolle der absolutistischen Staatsorgane hervorzuheben und nochmals auf die retardierenden Momente hinzuweisen, die sich der Durchsetzung des absoluten Staates bis ins 18. Jahrhundert hinein in den Weg stellten und konsequent erst in der bürgerlichen Revolution beiseite geräumt wurden. Die Exekutivgewalt mit ihrer ungeheuren bürokratischen und militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen und künstlichen Staatsmaschinerie, ein Beamtenheer von einer halben Million neben einer Armee von einer andern halben Million, dieser fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netzhaut um den Leib der französischen Gesellschaft schlingt und ihr alle Poren verstopft, entstand in der Zeit der absoluten Monarchie, beim Verfall des Feudalwesens, den er beschleunigen half. Die herrschaftlichen Privilegien der Grundeigentümer und Städte verwandelten sich in ebenso viele Attribute der Staatsgewalt, die feudalen Würdenträger in bezahlte Beamte und die bunte Musterkarte der widerstreitenden mittelalterlichen Machtvollkommenheiten in den geregelten Plan einer Staatsmacht, deren Arbeit fabrikmäßig geteilt und zentralisiert ist. Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, alle lokalen, territorialen, städtischen und provinziellen Sondergewalten zu bre-
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Ebd., S. 347. Vgl. auch seine ›Rede vor den Kölner Geschworenen‹ (1849) in Karl Marx: Werke – Schriften – Briefe. Band III/1: Politische Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 94–120, S. 103: Das »absolute Königtum« als »höchste[r] politische[r] Ausdruck der alten Gesellschaft« bzw. S. 116: »Das Königtum von Gottes Gnaden, der höchste politische Ausdruck, der höchste politische Repräsentant der alten feudal-bürokratischen Gesellschaft, kann daher der modernen bürgerlichen Gesellschaft keine aufrichtigen Zugeständnisse machen.«
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne chen, um die bürgerliche Einheit der Nation zu schaffen, mußte entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte: die Zentralisation, aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt. Napoleon vollendete diese Staatsmaschinerie.137
Dieser Charakteristik aus dem ›achtzehnten Brumaire‹ sei diejenige aus dem ›Bürgerkrieg in Frankreich‹ zur Seite gestellt, weil in ihr der regressive Aspekt des Absolutismus nach dem mit seiner Hilfe vollzogenen Aufstieg des Bürgertums akzentuiert erscheint. Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen – stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plane einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit – stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie, wo sie der entstehenden Bourgeoisgesellschaft als eine mächtige Waffe in ihren Kämpfen gegen den Feudalismus diente. Dennoch blieb ihre Entwicklung gehemmt durch allerhand mittelalterlichen Schutt, grundherrliche und Adelsvorrechte, Lokalprivilegien, städtische und Zunftmonopole und Provinzialverfassungen. Der riesige Besen der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts fegte alle diese Trümmer vergangener Zeiten weg und reinigte so gleichzeitig den gesellschaftlichen Boden von den letzten Hindernissen, die dem Überbau des modernen Staatsgebäudes im Wege gestanden.138
Deutsche Verspätung Auf dem Boden des deutschen Reiches hat sich eine ähnlich konsequente Entwicklung wie in dem westlichen Nachbarland nicht abgespielt. Marx hat auch dafür gewichtige historische Gründe angeführt und den Schlüssel zur Erklärung dieses Tatbestandes vor allem in dem vergleichsweise schwach entwickelten Bürgertum Deutschlands gesucht. Dessen Glanzzeit war bereits überschritten, als im Westen die großen Monarchien aufstiegen. In Deutschland ist der Kampf der Zentralisation mit dem Föderativwesen der Kampf zwischen der modernen Kultur und dem Feudalismus. Deutschland verfiel in ein verbürgerlichtes Feudalwesen in demselben Augenblicke, wo sich die großen Monarchien im Westen bildeten, aber es wurde auch von dem Weltmarkt ausgeschlossen in demselben Augenblicke, wo dieser sich dem westlichen Europa eröffnete. Es verarmte, während sie sich bereicherten. Es verbauerte, während sie großstädtisch wurden.139
Die Formierung der absoluten Monarchie in Deutschland bleibt davon nicht unberührt, bildet doch eine ihrer Voraussetzungen die Existenz einer potenten bürgerlichen Klasse. Daß sie sich hier später ausbildete, länger währt, erklärt sich nur aus dem verkrüppelten Entwicklungsgang der deutschen Bürgerklasse. Die Rätsel dieses Entwicklungsgangs findet man gelöst in der Geschichte des Handels und der Industrie.
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Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.- In: ders.: Politische Schriften (Anm. 136), S. 268–387, S. 374. Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich.- In: ders.: Werke – Schriften – Briefe. Band III/2: Politische Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 882–957, S. 919. Karl Marx: Programme der radikaldemokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt.- In: Politische Schriften (Anm. 136), S. 8–13, S. 12.
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Der Untergang der spießbürgerlichen deutschen freien Städte, die Vernichtung des Ritterstandes, die Niederlage der Bauern – die daraus hervorgehende Landeshoheit der Fürsten – der Verfall der deutschen Industrie und des deutschen Handels, die ganz auf mittelalterlichen Zuständen beruhten, in demselben Augenblick, wo der moderne Weltmarkt sich eröffnet und die große Manufaktur aufkömmt – die Entvölkerung und der barbarische Zustand, den der 30jährige Krieg zurückgelassen hatte – der Charakter der wieder sich erhebenden nationalen Industriezweige, wie der kleinen Leinenindustrie, welchen patriarchalische Zustände und Verhältnisse entsprechen –, der Charakter der Ausfuhrartikel, die größtenteils der Agrikultur angehörten, und darum fast nur die materiellen Lebensquellen des Landadels und darum seine relative Macht den Bürgern gegenüber vermehrten –, die gedrückte Stellung Deutschlands auf dem Weltmarkt im allgemeinen, wodurch die den Fürsten von Fremden gezahlten Subsidien eine Hauptquelle des Nationaleinkommens wurden, die daher erfolgende Abhängigkeit der Bürger vom Hof – usw., usw., alle diese Verhältnisse, worin sich die Gestalt der deutschen Gesellschaft und eine ihr entsprechende politische Organisation ausbildeten,
müßten zur Erklärung der spezifischen Gestalt, die die absolute Monarchie in den deutschen Territorialfürstentümern annahm, herangezogen werden.140 In der nur rudimentär entwickelten bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland sah Marx gleichermaßen die Ursache für die Hypertrophie einer (sakrosankten) Staatssphäre wie für die mangelnde Artikulation (bürgerlichen) politischen Bewußtseins. In der avanciertesten theoretischen Position des 18. Jahrhunderts in Deutschland, der Philosophie Kants, erscheine folglich der materielle Gehalt der bürgerlichen Revolutionen der westlichen Nachbarländer transformiert zu einer Philosophie der reinen praktischen Vernunft. Bezeichnend ist, daß die Leinenmanufaktur, d.h. die auf dem Spinnrad und Handwebstuhl beruhende Industrie in Deutschland gerade zu derselben Zeit zu einiger Bedeutung kam, als in England diese unbeholfenen Instrumente durch Maschinen verdrängt wurden. Am bezeichnendsten ist ihre [der deutschen Bürger] Stellung zu Holland. Holland, der einzige Teil der Hanse, der zu kommerzieller Bedeutung kam, riß sich los, schnitt Deutschland bis auf zwei Häfen (Hamburg und Bremen) vom Welthandel ab und beherrschte seitdem den ganzen deutschen Handel. Die deutschen Bürger waren zu ohnmächtig, der Exploitation durch die Holländer Schranken zu setzen. Die Bourgeoisie des kleinen Hollands mit ihren entwickelten Klasseninteressen war mächtiger als die viel zahlreicheren Bürger Deutschlands mit ihrer Interesselosigkeit und ihren zersplitterten kleinlichen Interessen. Der Zersplitterung der Interessen entsprach die Zersplitterung der politischen Organisation, die kleinen Fürstentümer und die freien Reichsstädte. Wo sollte politische Konzentration in einem Lande herkommen, dem alle ökonomischen Bedingungen derselben fehlten? Die Ohnmacht jeder einzelnen Lebenssphäre (man kann weder von Ständen noch von Klassen sprechen, sondern höchstens von gewesenen Ständen und ungebornen Klassen) erlaubte keiner einzigen, die ausschließliche Herrschaft zu erobern. Die notwendige Folge davon war, daß während der Epoche der absoluten Monarchie, die hier in ihrer allerverkrüppeltsten, halb patriarchalischen Form vorkam, die besondre Sphäre, welcher durch die Teilung der Arbeit die Verwaltung der öffentlichen Interessen zufiel, eine abnorme Unabhängigkeit erhielt, die in der modernen Bürokratie noch weiter getrieben wurde. Der Staat konstituierte sich so zu einer scheinbar selbständigen Macht und hat diese in andern Ländern nur vorübergehende Stellung – Übergangsstufe – in Deutschland bis heute behalten. Aus dieser Stellung erklärt sich sowohl das anderwärts nie vorkommende redliche Beamtenbewußtsein wie die sämtlichen in Deutschland kursierenden Illusionen über den Staat, wie die scheinbare Unabhängigkeit, die die Theoretiker hier gegenüber den Bürgern haben – der scheinbare Wider-
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Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral (Anm. 130), S. 346.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne spruch zwischen der Form, in der diese Theoretiker die Interessen der Bürger aussprechen, und diesen Interessen selbst. Die charakteristische Form, die der auf wirklichen Klasseninteressen beruhende französische Liberalismus in Deutschland annahm, finden wir wieder bei Kant. Er sowohl wie die deutschen Bürger, deren beschönigender Wortführer er war, merkten nicht, daß diesen theoretischen Gedanken der Bourgeois materielle Interessen und ein durch die materiellen Produktionsverhältnisse bedingter und bestimmter Wille zugrunde lag; er trennte daher diesen theoretischen Ausdruck von den Interessen, die er ausdrückt, machte die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeoisie zu reinen Selbstbestimmungen des ›freien Willens‹, des Willens an und für sich, des menschlichen Willens, und verwandelte ihn so in rein ideologische Begriffsbestimmungen und moralische Postulate. Die deutschen Kleinbürger schauderten daher auch vor der Praxis dieses energischen Bourgeoisliberalismus zurück, sobald diese sowohl in der Schreckensherrschaft als in dem unverschämten Bourgeoiserwerb hervortrat.141
Schwache dritte bürgerliche Kraft in der Moderne Die Folgen der deutschen Sonderentwicklung, die Marx im besonderen Schicksal des deutschen Bürgertums verwurzelt sah, reichten bis in die Gegenwart hinein und forderten Marx gleichermaßen zur theoretischen Analyse wie zu einer – darauf gegründeten – politischen Antwort heraus. Wie immer bei Marx dient die historische Erkenntnis der Diagnose der Gegenwart, so wie umgekehrt stets erst aus der voll entwickelten gesellschaftlichen Formation in der Gegenwart und ihrer Antagonismen die historische Anatomie gelingen kann. Es liegt daher im Gebot der Sache, wenn hier die Marxsche Position eben noch angedeutet wird. Das deutsche Bürgertum befindet sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der – verglichen mit den wesentlichen Nachbarstaaten – historisch einmaligen Situation, die Rudimente des Absolutismus immer noch nicht überwunden zu haben und sich gleichzeitig bereits mit den weiterreichenden Forderungen der neuen Klasse des Proletariats konfrontiert zu sehen. Deutschland hat [...] ein eigenes christlich-germanisches Pech. Seine Bourgeoisie hat sich so sehr verspätet, daß sie in dem Augenblick ihren Kampf mit der absoluten Monarchie beginnt und ihre politische Macht zu begründen sucht, wo in allen entwickelten Ländern die Bourgeoisie schon im heftigsten Kampf mit der Arbeiterklasse begriffen ist und wo ihre politischen Illusionen bereits im europäischen Bewußtsein überlebt sind. In diesem Land, wo die politische Misère der absoluten Monarchie noch besteht mit einem ganzen Anhang verkommener halbfeudaler Stände und Verhältnisse, existieren anderseits partiell auch schon infolge der industriellen Entwicklung und Deutschlands Abhängigkeit vom Weltmarkt die modernen Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse und der daraus hervorgehende Kampf – Beispiele die Arbeiteraufstände in Schlesien und Böhmen. Die deutsche Bourgeoisie befindet sich also schon im Gegensatz zum Proletariat, ehe sie noch als Klasse sich politisch konstituiert hat. Der Kampf zwischen den ›Untertanen‹ ist ausgebrochen, ehe noch Fürsten und Adel zum Land hinausgejagt sind, allen Hambacher Liedern zum Trotz.142
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Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie.- In: ders.: Werke – Schriften – Briefe. Band II: Frühe Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber, Peter Furth.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 5–655, S. 222 f. Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral (Anm. 130), S. 351.
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Die großen westeuropäischen Revolutionen finden das Bürgertum an der Spitze der Bewegung gegen die Gewalten des Ancien régime und im Bewußtsein, Anwalt aller unterdrückten Schichten zu sein. Das Proletariat und die nicht der Bourgeoisie angehörigen Fraktionen des Bürgertums hatten entweder noch keine von der Bourgeoisie getrennte Interessen, oder sie bildeten noch keine selbständig entwickelten Klassen oder Klassenabteilungen. Wo sie daher der Bourgeoisie entgegentreten, wie z.B. 1793 bis 1794 in Frankreich, kämpfen sie nur für die Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie, wenn auch nicht in der Weise der Bourgeoisie. Der ganze französische Terrorismus war nichts als eine plebejische Manier, mit den Feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum, fertig zu werden. Die Revolutionen von 1648 und 1789 waren keine englischen und französischen Revolutionen, sie waren Revolutionen europäischen Stils. Sie waren nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft über die alte politische Ordnung; sie waren die Proklamation der politischen Ordnung für die neue europäische Gesellschaft. Die Bourgeoisie siegte in ihnen; aber der Sieg der Bourgeoisie war damals der Sieg einer neuen Gesellschaftsordnung, der Sieg des bürgerlichen Eigentums über das feudale, der Nationalität über den Provinzialismus, der Konkurrenz über die Zunft, der Teilung über das Majorat der Herrschaft, des Eigentümers des Bodens über die Beherrschung des Eigentümers durch den Boden, der Aufklärung über den Aberglauben, der Familie über den Familiennamen, der Industrie über die heroische Faulheit, des bürgerlichen Rechtes über die mittelalterlichen Privilegien. Die Revolution von 1648 war die Revolution des 17. Jahrhunderts über das 16. Jahrhundert, die Revolution von 1789 der Sieg des 18. Jahrhunderts über das 17. Jahrhundert. Diese Revolutionen drückten mehr noch die Bedürfnisse der damaligen Welt als der Weltausschnitte aus, in denen sie vorfielen, Englands und Frankreichs.143
Ganz anders in Deutschland, zumal in Preußen. Die Junirevolution in Frankreich hatte erstmals in der europäischen Geschichte die radikale Dissoziierung bürgerlicher und proletarischer Interessen an den Tag gebracht.144 Als das deutsche Bürgertum mit einem halben Jahrhundert Verspätung zum Kampf gegen den Absolutismus antritt, liegen derartige Erfahrungen bereits lähmend über ihren Aktivitäten. Marx hat das vor allem in seiner Artikelfolge ›Die Bourgeoisie und die Konterrevolution‹ in der Neuen Rheinischen Zeitung im Dezember 1848 sowie in seiner ›Rede vor den Kölner Geschworenen‹ im Februar 1849 gezeigt. Wieder werden zunächst die sozioökonomischen Bedingungen für den Aufstieg des liberalen Bürgertums in Preußen umrissen, um daraus den materiellen Gehalt der revolutionären Forderungen ableiten zu können. ––––––––– 143
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Karl Marx: Die Bourgeoisie und die Konterrevolution.- In: ders.: Politische Schriften (Anm. 136), S. 65–93, S. 71 f. Vielfach von Marx herausgearbeitet, vor allem in ›Die Klassenkämpfe in Frankreich‹, in der Neuen Rheinischen Zeitung (1850) erschienen, der Titel nach der separaten Engelsschen Publikation (1895) in: Marx: Politische Schriften (Anm. 136), S. 121–245. In der Junirevolution, so Marx, wurde »die erste große Schlacht geliefert [...] zwischen den beiden Klassen, welche die moderne Gesellschaft spalten. Es war ein Kampf um die Erhaltung oder Vernichtung der bürgerlichen Ordnung. Der Schleier, der die Republik verhüllte, zerriß. [...] Die Fraternité, die Brüderlichkeit der entgegengesetzten Klassen, wovon die eine die andere exploitiert, diese Fraternité, im Februar proklamiert, mit großen Buchstaben auf die Stirne von Paris geschrieben, auf jedes Gefängnis, auf jede Kaserne – ihr wahrer, unverfälschter, ihr prosaischer Ausdruck, das ist der Bürgerkrieg, der Bürgerkrieg in seiner fürchterlichsten Gestalt, der Krieg der Arbeit und des Kapitals.« (S. 147 f.).
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne Die großen Grundbesitzer und Kapitalisten, die ausschließlich auf dem Vereinigten Landtage vertreten waren, mit einem Worte die Geldbeutel, hatten an Geld und Bildung zugenommen. Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Preußen – d.h. mit der Entwicklung der Industrie, des Handels und des Ackerbaus – hatten einerseits die alten Ständeunterschiede ihre materielle Grundlage verloren. Der Adel selbst war wesentlich verbürgerlicht. Statt in Treue, Liebe und Glauben, machte er nun vor allem in Runkelrüben, Schnaps und Wolle. Sein Hauptturnier war der Wollmarkt geworden. Andererseits war der absolutistische Staat, dem seine alte gesellschaftliche Grundlage unter den Füßen durch den Gang der Entwicklung weggezaubert war, zur hemmenden Fessel geworden für die neue bürgerliche Gesellschaft mit ihrer veränderten Produktionsweise und ihren veränderten Bedürfnissen. Die Bourgeoisie mußte sich ihren Anteil an der politischen Herrschaft vindizieren, schon ihrer materiellen Interessen wegen. Sie selbst war allein fähig, ihre kommerziellen und industriellen Bedürfnisse gesetzlich zur Geltung zu bringen. Sie mußte einer überlebten, ebenso unwissenden als arroganten Bürokratie die Verwaltung dieser ihrer ›heiligsten Interessen‹ aus der Hand nehmen. Sie mußte Kontrolle des Staatsvermögens, dessen Schöpfer sie sich dünkte, für sich in Anspruch nehmen. Sie besaß auch den Ehrgeiz, nachdem sie der Bürokratie das Monopol der sogenannten Bildung entwendet hatte und sie an wirklicher Kenntnis der bürgerlichen Gesellschaftsbedürfnisse weit zu überragen sich bewußt war, eine ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechende politische Stellung erzwingen zu wollen. Sie mußte, um ihren Zweck zu erreichen, ihre eigenen Interessen, Ansichten und die Handlungen der Regierung frei debattieren können. Das nannte sie das ›Recht der Pressefreiheit‹. Sie mußte sich ungeniert assoziieren können. Das nannte sie das ›Recht der freien Assoziation‹. Religionsfreiheit und dergl. mußte ebenfalls als notwendige Folge der freien Konkurrenz von ihr verlangt werden. Und die preußische Bourgeoisie war vor dem März 1848 auf dem besten Wege, alle ihre Wünsche sich verwirklichen zu sehen.145
Nahm diese Entwicklung eine andere als die eingeschlagene Richtung, so weil die Liberalen, die (in alter Tradition) die ›Vereinbarung‹ mit der Krone suchten, durch den Aufstand von ›unten‹, des Volkes, mitgerissen wurden, ohne doch – wie noch 1789 – Illusionen über die Harmonie der Interessen hegen zu können. Die deutsche Bourgeoisie hatte sich so träg, feig und langsam entwickelt, daß im Augenblicke, wo sie gefahrdrohend dem Feudalismus und Absolutismus gegenüberstand, sie selbst sich gefahrdrohend gegenüber das Proletariat erblickte und alle Fraktionen des Bürgertums, deren Interessen und Ideen dem Proletariat verwandt sind. Und nicht nur eine Klasse hinter sich, ganz Europa sah sie feindlich vor sich. Die preußische Bourgeoisie war nicht, wie die französische von 1789, die Klasse, welche die ganze moderne Gesellschaft den Repräsentanten der alten Gesellschaft, dem Königtum und dem Adel, gegenüber vertrat. Sie war zu einer Art von Stand herabgesunken, ebenso ausgeprägt gegen die Krone als gegen das Volk, oppositionslustig gegen beide, unentschlossen gegen jeden ihrer Gegner einzeln genommen, weil sie immer beide vor oder hinter sich sah; von vornherein zum Verrat gegen das Volk und zum Kompromiß mit dem gekrönten Vertreter der alten Gesellschaft geneigt, weil sie selbst schon zur alten Gesellschaft gehörte; nicht die Interessen einer neuen Gesellschaft gegen eine alte, sondern erneute Interessen innerhalb einer veralteten Gesellschaft vertretend; nicht an dem Steuerruder der Revolution, weil das Volk hinter ihr stand, sondern weil das Volk sie vor sich herdrängte; nicht an der Spitze, weil sie die Initiative einer neuen, sondern nur weil sie die Ranküne einer alten Gesellschaftsepoche vertrat; eine nicht zum Durchbruch gekommene Schicht des alten Staates durch ein Erdbeben auf die Oberfläche des neuen Staates geworfen [...].146
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Marx: Die Bourgeoisie und die Konterrevolution (Anm. 143), S. 67 f. Ebd., S. 73. Vgl. auch S. 78 f.: Das Ministerium Camphausen bildete »die Vermittlung zwischen der auf den Volksschultern emporgehobenen Bourgeoisie und der Bourgeoisie, die
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Eben dieses vorsichtige Taktieren zwischen Volk und Krone ließ das Bürgertum nach einem kurzen Intermezzo (Kabinett Hansemann) zum Opfer der Monarchie werden, die die liberalen Errungenschaften alsbald zurücknahm – die entscheidende Weichenstellung für die Geschichte des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Studien zum Feudalismus und Absolutismus in der DDR: Gerhard Heitz und seine Schule Wie im Vorangegangenen, so soll auch im Anschluß an die Rekapitulation der Marxschen Position kein detaillierterer Bericht zur Geschichte der marxistischen Absolutismus-Forschung folgen. Es ging und geht um die möglichst prägnante Bezeichnung von Ansätzen, nicht um einen Nachvollzug der weiteren Entwicklung. Begreift der Marxismus den Aufstieg des Absolutismus im Spannungsfeld von Feudalismus und Kapitalismus, lag es nahe, daß sein Augenmerk vornehmlich entsprechenden funktionsgeschichtlichen Untersuchungen gelten mußte. Will man sich ein Bild von der inzwischen sehr ergiebigen Spezialforschung machen, so darf man sich nicht auf die Arbeiten beschränken, die den Begriff des ›Absolutismus‹ ausdrücklich im Titel führen. Das gilt insbesondere für die Studien, die sich der Rekonstruktion feudaler Wirtschafts- und Sozialprinzipien im Zeitalter des Absolutismus widmen, auf die hier abschließend exemplarisch nur eben noch hingewiesen werden soll. Gerhard Heitz – dessen Rostocker Lehrstuhl das eine der beiden agrarwissenschaftlichen Zentren neben dem Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften in Berlin mit seinem (von der Germanistik viel zu wenig wahrgenommenen) Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte bildet – hat jenseits zahlreicher Einzelstudien auch eine Arbeit über den ›Zusammenhang zwischen den Bauernbewegungen und der Entwicklung des Absolutismus in Mitteleuropa‹ vorgelegt.147 Heitz geht aus von der für Frankreich von Poršnev entwickelte These, daß der Übergang von der ständisch beschränkten zur absoluten Monarchie durch verschärfte Klassenkämpfe bewirkt worden ist, durch die Notwendigkeit für die herrschende Adelsklasse, sich der bäuerlichen Bewegungen durch die Macht eines zentralisierten und absoluten Staates zu erwehren.148
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nicht mehr der Volksschultern bedurfte; zwischen der Bourgeoisie, welche scheinbar das Volk der Krone, und der Bourgeoisie, die wirklich die Krone dem Volke gegenüber vertrat; zwischen der Bourgeoisie, die sich von der Revolution losschälte, und der Bourgeoisie, die als Kern der Revolution herausgeschält war.« Gerhard Heitz: Der Zusammenhang zwischen den Bauernbewegungen und der Entwicklung des Absolutismus in Mitteleuropa.- In: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Zum XII. Internationalen Historikerkongreß in Wien 1965.- Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1965 (= Sonderheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft), S. 71–83. Ebd., S. 72.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
Deren Verifikation am Beispiel Brandenburg-Preußens, Mecklenburgs und Kursachsens gelingt freilich nur mangelhaft, weil Heitz – im Gegensatz zu früheren Arbeiten – in generellen Erwägungen über »die Sozialstruktur, den Klassenkampf und den Feudalstaat« steckenbleibt und die drei Territorien nur eben streift.149 So behält das Fazit den Charakter einer nicht hergeleiteten und darum nicht überprüfbaren Behauptung. Der Kampf der feudal ausgebeuteten Bauern und der übrigen Dorfbewohner nimmt insgesamt im Zeitalter des Absolutismus (im Spätfeudalismus) zu. Es gibt eine Kette von Klassenkämpfen in den verschiedensten Formen, die nur in Einzelfällen und unter besonderen Bedingungen überlokalen Charakter annehmen oder zu Bauernaufständen werden. Diese Klassenkämpfe verschärfen sich ständig und sind damit ein wesentliches Merkmal der ganzen Periode. Sie verschärfen sich, weil die Feudalherren, unabhängig von der juristischen Form ihrer Klassenherrschaft, die Ausbeutung immer mehr zu erhöhen suchen.150
Daß hinter derartigen Statements inzwischen eine ganze Reihe von empirisch fundierten Untersuchungen steht, kann hier nur an einem Beispiel gezeigt werden; im übrigen muß ein Verweis auf die wichtigsten Arbeiten genügen.151 So ––––––––– 149 150 151
Ebd., S. 74. Ebd., S. 80. Vgl. von Heitz vor allem seine materialreichen älteren Arbeiten: Sozialstruktur und Klassenkampf in Mecklenburg im 18. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der ostelbischen Bauern in der Periode der 2. Leibeigenschaft.- Habil.-Schrift Leipzig 1960 (masch.); Feudales Bauernlegen in Mecklenburg im 18. Jahrhundert.- In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960), S. 1342–1377; Die Sozialökonomische Struktur im ritterschaftlichen Bereich Mecklenburgs zu Beginn des 18. Jahrhunderts. (Eine Untersuchung für vier Ämter).- In: Beiträge zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts.-Berlin: Akademie-Verlag 1962 (= Schriften des Instituts für Geschichte. Reihe 1: Allgemeine und deutsche Geschichte; 10), S. 1–80. Von den jüngeren, teilweise nur knapp resümierenden Arbeiten von Heitz seien erwähnt: Zum Charakter der ›Zweiten Leibeigenschaft‹.- In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20 (1972), S. 24–39; ders.: Zu den bäuerlichen Klassenkämpfen im Spätfeudalismus.- In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (1975), S. 769–782; ders.: Die Differenzierung der Agrarstruktur am Vorabend der bürgerlichen Agrarreformen.- In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 25 (1977), S. 910– 927.– Darüber hinaus sei hier insbesondere auf die beiden Forschungsberichte von Heitz verwiesen: Die Erforschung der Agrargeschichte des Feudalismus in der DDR (1945– 1960).- In: Historische Forschungen in der DDR. Analysen und Berichte. Zum XI. Internationalen Historikerkongreß in Stockholm August 1960.- Berlin: Rütten & Loening 1960 (= Sonderheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft), S. 116–141; ders., Hanna Haack, Sigrid Dillwitz, Marti Polzin, Hans Georg Wilhelm: Forschungen zur Agrargeschichte.- In: Historische Forschungen in der DDR 1960–1970. Analysen und Berichte. Zum XIII. Internationalen Historikerkongreß in Moskau 1970.- Berlin: Verlag der Wissenschaften 1970 (= Sonderheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft), S. 121–146; Karlheinz Blaschke: Grundzüge und Probleme einer sächsischen Agrarverfassungsgeschichte.- In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 82 (1965), S. 223–287. Vgl. auch den kritischen Bericht von Rudolf Berthold: Feudales Bauernlegen im Spiegel der westdeutschen Geschichtsschreibung.- In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1961), S. 1298–1320.– Ansonsten sei – neben den zahlreichen Abhandlungen in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und dem Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte – auf die folgenden Monographien hingewiesen: Johannes Nichtweiss: Das Bauernlegen in Mecklenburg. Eine Untersuchung zur Geschichte der Bauernschaft und der zweiten Leibeigenschaft in Mecklenburg bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.- Berlin: Rütten & Loening
Ein historiographischer Konspekt
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ist etwa Hartmut Harnisch in einem Aufsatz über ›die Gutsherrschaft in Brandenburg‹ die bruchlose Vereinigung quellenkritischer Extrapolation und weitreichender theoretischer Folgerungen gelungen.152 Er kann auf Basis reichhaltigen Materials statistisch zeigen, wie die Gutswirtschaft seit dem 16. Jahrhundert kontinuierlich ausgeweitet und gesteigert, die Natural- und Geldrente eingefro–––––––––
152
1954; Rosemarie Strehlke: Der Verlauf der Domänenerbpacht im 18. Jahrhundert. Dargestellt an einigen Beispielen im Herzogtum Magdeburg.- Diss. phil. Berlin 1954 (masch.); Rudolf Lehmann: Die Verhältnisse der niederlausitzischen Herrschafts- und Gutsbauern in der Zeit vom Dreißigjährigen Kriege bis zu den preußischen Reformen.- Köln, Graz: Böhlau 1956 (= Mitteldeutsche Forschungen; 6); Willi Boelcke: Bauer und Gutsbesitzer in der Oberlausitz. Ein Beitrag zur Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsgeschichte der ostelbischen Gutsherrschaft.- Bautzen: Domowina 1957 (= Schriftenreihe des Instituts für sorbische Volksforschung; 5); Paul Steinmann: Bauer und Ritter in Mecklenburg. Wandlungen der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse im Westen und Osten Mecklenburgs vom 12./13. Jahrhundert bis zur Bodenreform 1945.- Schwerin: Petermänken 1960; Jan Peters: Die Landarmut in Schwedisch-Pommern. Zur sozialen Entwicklung und politischen Bedeutung der landarmen und landlosen ländlichen Produzenten in Vorpommern und Rügen 1630– 1815.- Diss. phil. Greifswald 1961 (masch.); Günter Vogler: Probleme der feudalen Arbeitsrente und des bäuerlichen Widerstandes im 18. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel des kurmärkischen Domänenamtes Badingen.- Diss. phil. Berlin 1962 (masch.); Kurt Wernicke: Untersuchungen zu den niederen Formen des bäuerlichen Klassenkampfes im Gebiet der Gutsherrschafts 1648–1789.- Diss. phil. Berlin 1962 (masch.); Józef LeszczyĔski: Der Klassenkampf der Oberlausitzer Bauern in den Jahren 1635–1720.- Bautzen: Domowina 1964 (= Schriften des Instituts für sorbische Volksforschung in Bautzen bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin; 21); Evamaria Engel, Benedykt Zientara: Feudalstruktur, Lehnbürgertum und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg.- Weimar: Böhlau 1967 (= Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte; 7); Manfred Wille: Das herrschaftlich-bäuerliche Verhältnis vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im nordwestlichen Teil der Altmark. Dargestellt am Domänenamt Salzwedel und an den Gräflich von der Schulenburgschen Rittergütern Beetzendorf, Osterwohle und Wismar.- Diss. phil. Berlin 1967 (masch.); Hanna Haack: Die sozialökonomische Struktur mecklenburgischer Feudalkomplexe im 16. und 17. Jahrhundert. Untersucht am Beispiel der Eigentumskomplexe der Familie Hahn und der Domanialämter Güstrow, Ivenack und Stavenhagen.- Diss. phil Rostock 1968 (masch.); Hartmut Harnisch: Die Herrschaft Boitzenburg, Untersuchungen zur Entwicklung der sozialökonomischen Struktur ländlicher Gebiete in der Mark Brandenburg vom 14. bis 19. Jahrhundert.- Weimar: Böhlau 1968 (= Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam; 6); Elisabeth Schwarze: Soziale Struktur und Besitzverhältnisse der ländlichen Bevölkerung Ostthüringens Mitte des 16. Jahrhunderts.- Diss. phil. Leipzig 1970 (masch.); Rolf Rodigast: Die Greifswalder Stadtbauern im Spätfeudalismus. Untersuchungen zur Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der bäuerlichen Produzenten im Bereich der Greifswalder Gutsherrschaft 1648–1806.- Diss. phil. Greifswald 1974 (masch.).– Vgl. zuletzt den mit einer ausführlichen Bibliographie ausgestatteten Sammelband: Der Bauer im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges und der bäuerlichen Klassenkämpfe im Spätfeudalismus. Hrsg. von Gerhard Heitz, Adolf Laube, Max Steinmetz, Günter Vogler.- Berlin: Akademie-Verlag 1975. Hartmut Harnisch: Die Gutsherrschaft in Brandenburg. Ergebnisse und Probleme.- In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1969), Nr. 4, S. 117–147. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die – auf der oben (Anm. 151) erwähnten ungedruckten Dissertation fußende – Abhandlung von Günter Vogler: Die Entwicklung der feudalen Arbeitsrente in Brandenburg vom 15. bis 18. Jahrhundert. Eine Analyse für das kurmärkische Domänenamt Badingen.- In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1966), Nr. 1, S. 142–174.
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Alteuropäische Welt und Heraufkunft der Moderne
ren, hingegen die Arbeitsrente laufend erhöht wurde, so daß die Krone im 18. Jahrhundert eingreifen mußte, um die Subsistenz der Fronbauern sicherzustellen, wie die Erlöse aus dem Getreidehandel ständig wuchsen und das finanziell auf die Steuern angewiesene Kurfürstentum mit entsprechenden politischen Zugeständnissen reagieren mußte – eine mustergültige Exemplifizierung dessen, was ›zweite Leibeigenschaft‹, Refeudalisierung und Reprivilegierung des Adels in concreto meinte. Die wesentlichste Fernwirkung des Getreideexports war der wachsende Reichtum des Landadels, der dadurch sowohl gegenüber den Städten als auch dem Landesherrn an Macht gewann. [...] Die ungeheuren Schuldenlasten, die nahezu jeder Fürst anhäufte, führten zum Eingreifen der Landstände zwecks Tilgung dieser Schulden. Auch in Brandenburg haben die Stände mehrfach große Schuldenlasten übernommen. Der Adel nutzte seine Machtstellung innerhalb der Gesamtstände und gegenüber den Kurfürsten, seine ökonomischen und politischen Ziele durchzusetzen, und diese lagen eben ökonomisch im Ausbau seiner Eigenwirtschaften und politisch in der Durchsetzung gutsherrschaftlicher Verhältnisse.153
Ausblick Die Verifikation einer der marxistischen Zentralthesen zum Absolutismus, nämlich der Stabilisierung adeliger Herrschaft vornehmlich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die sich durchweg im Bündnis mit der landesherrlichen Gewalt vollzog und immer zu Lasten der abhängigen Bauernschaft ging, ist also sehr wohl möglich. Die für eine der Gelehrtendichtung gewidmete Untersuchung entscheidende Frage lautet jedoch, wie es um die Privilegierung des Adels im Bereich des Hofdienstes und vor allem in den zentralen Behörden sowie in den lokalen Ämtern bestellt war. Diese Frage ist sinnvoll nur im gleichzeitigen Blick auf den Statuskonkurrenten, das gelehrte Bürgertum, zu erörtern. Folglich wäre nun nach einem ersten forschungsanalytischen Exposé in einem zweiten Schritt der Übergang zu systematischen Fragestellungen zu vollziehen und also die Kategorie ›Bürgertum‹ zu exponieren. Gerade weil eine gewisse Aversion gegen die Liaison von ›Bürgertum‹ und ›Barock‹ in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Forschungsphase noch bemerkbar ist, bleibt eine historisch und kategorial möglichst stringente Fassung dieses Begriffs wünschenswert. Alle drei skizzierten Strategien zur Erschließung des Absolutismus enthalten wichtige Elemente zur Lösung dieser Aufgabe. Sie sollten zueinander in Beziehung gesetzt und über die einschlägigen Spezialabhandlungen exemplifiziert werden. So müßte es gelingen, gegenwärtig teilweise kontroverse, aber noch wenig artikulierte Positionen zu vermitteln und den hier verfolgten Ansatz gelehrter Mentalitätsbildung im Spannungsfeld von Fürstentum, Adel und gelehrtem Bürgertum in Anknüpfung an bisher in der Barockforschung eingeführte Verfahren zu präzisieren und forschungsgeschichtlich zu lokalisieren.
––––––––– 153
Harnisch: Die Gutsherrschaft in Brandenburg (Anm. 152), S. 143 f.
Teil II
Absolutismus und Konfessionalismus – Kulturpolitik und Literatur. Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung 1
Faktoren der klassizistischen Dichtungsreform im Deutschland um 1600
Eine Einleitung zur Geschichte der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts Die deutschsprachige Schäfer- und Landlebendichtung ist als ausgebildetes Formensystem wie zahlreiche andere Gattungen der neueren deutschen Literatur ein Produkt des 17. Jahrhunderts. Die Literaturwissenschaft hatte diesen Sachverhalt in allen ihren Versionen, vorzüglich aber natürlich im Rahmen von Gattungsgeschichten, immer wieder zu konstatieren. Eine umfassende, systematisch angelegte, die zahlreichen, überaus heterogenen Faktoren zusammenführende Theorie des Ursprungs der deutschen ›Nationalliteratur‹ und damit der einzelnen Gattungs-Subsysteme steht jedoch nach wie vor aus. Sie darf als vordringliches Desiderat der Literaturgeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts – oder, wenn man so will: des ›Barock‹ – gelten. Deutschland hatte frühzeitig und in imponierender sozialer, territorialer und formaler Vielfalt an der Erneuerung der antiken Literatur teilgenommen. Um so erstaunlicher, daß der Übergang zur deutschsprachigen klassizistischen Dichtung im Vergleich zur Romania und England, ja selbst zu den Niederlanden und Polen vergleichsweise spät erfolgte. Die Gründe dafür sind überaus komplexer Natur; die Philologie der Frühen Neuzeit ist derzeit weit davon entfernt, eine umfassende historische Exposition dieses einschneidendsten Paradigmenwechsels der neueren deutschen Literaturgeschichte präsentieren zu können. Ja, fraglich scheint gelegentlich, ob überhaupt ein hinlänglich ausgebildetes Bewußtsein für das hier verborgene Problem vorhanden ist. Wiederholt Deutschland nicht nur, was vor ihm Italien, Spanien und Frankreich, sodann England, die Niederlande und in gewissem Maße auch Polen praktizierten? Reicht es nicht hin, den begreiflichen Wunsch zu konstatieren, eine diesen Ländern gleichwertige deutsche Kunstdichtung zu etablieren? Ist es wirklich erforderlich, auch in diesem Fall – wie in so vielen anderen der deutschen Kulturgeschichte – spezielle deutsche Faktoren zu kalkulieren, allemal dazu angetan, die Rede vom deutschen Sonderweg zu bekräftigen? Die hier zur Rede stehende Gattungsgeschichte ist geleitet von der Überzeugung, daß sich das Besondere der Werke im Rahmen der Gattungsreihen, um
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
das es in jedem Fall gehen muß, nur im Blick auf die geschichtlichen Räume ermitteln läßt, denen sie zugehören und die sich stets aus einem Ensemble divergierender Kräfte zusammenfügen. Keineswegs wird es möglich oder auch nur erforderlich sein, dieses jeweils in toto nachzuzeichnen; vielfach reicht es hin, das Spezifische, Abweichende, vielleicht gar Singuläre der jeweiligen literarischen Landschaft – ob Stadt oder Territorium – namhaft zu machen. In jedem Fall darf sich der Gattungshistoriker von der regionalen Differenzierung des auch kulturgeographisch so zerklüfteten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation den reichsten Ertrag für die Eruierung des historischen Gehalts seiner Quellen versprechen, der unablösbar ist von deren ästhetischer Faktur. Entsprechend wird der Leser der in Vorbereitung befindlichen Gattungsgeschichte wiederholt eingeladen werden zu einem Rundgang durch die literarischen Landschaften des alten deutschen Sprachraums. Zuvor jedoch muß ein Wort zu den konstitutiven Bedingungen der deutschsprachigen Dichtung um 1600 gesagt werden. Das kann und soll an dieser Stelle nur einleitend und skizzenhaft geschehen. Jeder weiterreichende Versuch erheischte alsbald eine gesonderte monographische Darstellung. Eine Gattungsgeschichte jedoch, die mehr sein will als eine Reihung und Exegese der einschlägigen Zeugnisse, muß stets erneut auf die formativen Bedingungen ihres Gegenstandes rekurrieren. Deren eingehende Entfaltung behalte ich einer literaturgeschichtlichen Darstellung der Literatur des 17. Jahrhunderts und damit einer Revision des ›Barock‹ als Epochenbegriff vor. Hier geht es um die Skizze des Ansatzes. »Es ist ein allgemeines Gesetz, daß nach einer Ausdehnung der Cultur in weite Kreise sich diese wieder verengern, so wie, daß nach Erschöpfung der Bildung in dem Einen Stande ein anderer an dessen Stelle tritt.«1 Mit dieser kultursoziologischen Erkenntnis eröffnet Gervinus den dritten, vornehmlich dem 17. Jahrhundert gewidmeten Band seiner Literaturgeschichte. ›Rücktritt der Dichtung aus dem Volke unter die Gelehrten‹ lautet dementsprechend der erste, im späten 16. Jahrhundert verharrende Abschnitt seiner Darstellung, bevor mit dem folgenden ›Eintritt des Kunstcharakters der neuern Zeit‹ das 17. Jahrhundert, gruppiert um die Fruchtbringende Gesellschaft und Opitz, erreicht wird. An anderer Stelle wurde gezeigt, daß Gervinus vermöge seines evolutionistischen und dialektischen Ansatzes in der Lage ist, die historische Funktion auch jener Perioden der deutschen Literaturgeschichte zu erschließen, die schon vor ihm unter dem Verdikt des Gelehrten standen und alsbald wieder stehen sollten.2 Gewiß gehörte sein Herz der Dichtung des 16. und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das hinderte ihn nicht, das historisch Notwendige und gelegentlich Gelungene der Dichtung des 17. Jahrhunderts wahrzunehmen und in vielfach treffenden Wendungen zu charakterisieren. ––––––––– 1
2
Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 2. Auflage. Band III: Vom Ende der Reformation bis zu Gottsched's Zeiten.- Leipzig: Engelmann 1842, S. 3. Vgl. Klaus Garber: Martin Opitz – ›der Vater der deutschen Dichtung‹. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.- Stuttgart: Metzler 1976, S. 112–121: Geschichtliche und soziologische Konkretion bei Gervinus.
Faktoren der Dichtungsreform um 1600
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Seit Opitz ward die Poesie in der Nationalsprache unter den gelehrten Lateinern emancipirt, und so wie bisher eine kurze Zeit lang die Volkspoesie die Gelehrten dominirt hatte, so dominirte nun die Gelehrtenpoesie eine Zeit lang das Volk. Erwägt man dies etwas genauer, so findet man, daß der Sieg der Gelehrten nur ein scheinbarer ist; er konnte nur erfochten werden mit den unmittelbarsten geistigen Waffen des Volks, mit seiner Sprache. Der Uebergang der gelehrten und gekrönten Dichter und Humanisten zum Gebrauch des Deutschen statt des Lateins erhielt in gefahrvollen Zeiten unsere Volkssprache vor Verderbniß und Untergang, daher ist auch jeder dieser klassischen Humanisten zugleich ein deutscher Patriot, ein Anbeter der deutschen Sprache. Was nur diese Klasse feindlich stimmte gegen die Volksdichtung, war ihre große Gesunkenheit in Stoff und Form. Den Adel, den die Dichtung haben soll, hatte sie ja ganz verloren, sie war ganz plebejisch geworden. Eine adlige Periode setzte sich diesem Extrem noch einmal extrem entgegen und stritt sich vielfach mit ihm. Am Ende des 30jährigen Kriegs schien noch einmal der derbe Volkston siegen zu wollen, gleich darauf aber verstieg man sich wieder in noch höhere Sublimitäten als zu Opitz’ Zeit. Es dauerte lange, bis nach so viel Reibungen und Gegensätzen das Höfische und Bäurische, das Erhabene und Pöbelhafte sich ausglich und eine Dichtung entstand, die Würde mit Natur, Adel mit Popularität paarte und dann nicht mehr einseitige Adels- und Gelehrtenpoesie, nicht mehr Pöbelpoesie war, sondern Volksdichtung in dem erhöheten Sinne des Worts, in welchem unsere letzte Glanzperiode allein und immer die deutsche Literatur vertreten und darstellen wird.3
Wann je in unserer Literaturgeschichtsschreibung zum 17. Jahrhundert wäre ein so imponierender Aufriß wieder erreicht worden? Das gelehrte Fundament der auf Opitz fußenden Dichtung des 17. Jahrhunderts ist ohne Verächtlichkeit bezeichnet und zugleich das Transitorische der Reform mit Blick auf den Prozeß der deutschen Dichtung im Europa der Frühen Neuzeit namhaft gemacht. Denn auch dieses sollte man nicht vergessen: So wie Gervinus seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts eine schlechterdings nur als genial zu bezeichnende Skizze der Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit voranstellte, so ist seine Literaturgeschichte durchsetzt mit hellsichtigen Ausblicken auf die europäische Literatur, die der universale Historiker sowohl in der spätaufgeklärten wie der romantischen Tradition übersah und aus dem Vormärz-Liberalismus neu zu charakterisieren und zu bewerten wußte. Entsprechend geht auch dem Eingangskapitel zum 17. Jahrhundert eine gedanken- und anregungsreiche Retrospektive der romanischen und germanischen Spielarten der europäischen Renaissance-Poesie (mit vielen Konsonanzen zur Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts) voraus. Die deutsche Literaturwissenschaft jedoch hat allen Anlaß, den komplementären, aber weniger beachteten Aspekt der Konstruktion des Gervinus wieder zur Geltung zu bringen und in ihren materialen Untersuchungen zu bewähren: die Vorbereitung der Aufklärung bis hin zur Klassik im Medium der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Und dies gleichermaßen unter formalen wie unter gehaltlichen Kriterien. Diese Sicht der Dinge war in der – vielfach verschütteten – Historiographie zwischen Frühaufklärung und Vormärz, zwischen Leibniz und Gottsched dort, Gervinus und Kurz hier, durchaus üblich und tauchte selbst im Positivismus gelegentlich noch auf. Aber sie war immer wieder zugleich gefährdet durch die geschichtlich nicht vermittelte Opposition zwischen Natur, Volk und Ur––––––––– 3
Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (Anm. 1), S. 5.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
sprung auf der einen, Form, Esoterik und imitatio auf der anderen Seite, die regelmäßig zu Ungunsten der gelehrten Dichtung ausfiel. Mit der Konstitution der Wissenschaft vom Barock geriet der Zusammenhang mit Renaissance und Aufklärung dann zunehmend aus dem Blick und muß dem literaturwissenschaftlichen Diskurs gegenwärtig mühsam, beharrlich und in Anknüpfung an die großen Zeugen der Vergangenheit wieder zurückgewonnen werden. Es ist dieser Aspekt, der es rechtfertigen mag, eine der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts gewidmete Untersuchung mit der Stimme eines Repräsentanten dieser Tradition zu eröffnen. Insgesamt wird man sagen dürfen, daß die Literaturgeschichtsschreibung, sofern sie sich einläßlich auf die sozialen Grundlagen der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts besann, das von Gervinus als Leitfaden seiner Untersuchungen entworfene Gesetz geistig-künstlerischer Bewegungen und deren maßgeblicher Trägerschichten nur bestätigen konnte. Es ist wohl der bleibendste Ertrag der Barockforschung der zwanziger und dreißiger Jahre und ihrer erneuerten Version in den sechziger und siebziger Jahren, den immensen Fundus gelehrter Tradition auch der deutschen klassizistischen Dichtung freigelegt, ihre institutionellen Kristallisationsformen neu ins Auge gefaßt und ihre prägende Funktion für die ästhetische Faktur der Werke bis ins einzelne aufgewiesen zu haben. In einer 1977/1978 geschriebenen und in Teil I dieses Buches erstmals publizierten historiographischen Untersuchung wurde dargelegt, wie die forcierte Distanzierung vom ›Volk‹, sprich: dem zünftigen Bürgertum, mit einer um so entschiedeneren Hinwendung zu Adel und Fürstentum einherging – genau so wie von Gervinus geschildert und in seiner inneren Logik erkannt. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem dieser literatursoziologische Prozeß in seinen Konsequenzen en detail studiert und in seiner schlechterdings formativen Rolle für die historische Physiognomie der Quellen dargelegt sein will. So gewiß es ist, daß die zuletzt von Jörg Jochen Berns in ihrer vollen Berechtigung akzeptierte Frage nach den ›bürgerlichen‹ Elementen in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts nur an einem breit gestreuten Material bündig zu entwickeln ist, so sehr hoffen wir, von dem hier gewählten Gattungskorpus her nun zu verifizierbaren und überzeugenden Antworten zu gelangen, die vielfach zugleich als epochenspezifische plausibel erscheinen dürften. Vor den einzelnen Texten und nirgends sonst hat sich der hier verfolgte Ansatz zu bewähren. Bedarf er heute vielleicht nicht mehr jener umständlichen Begründung wie noch vor einigen Jahren, so muß doch betont werden, daß er einseitig bliebe, wo ihm nicht ein gleich wichtiger konfessionspolitischer an die Seite gestellt würde. Wie die soziale will die konfessionelle Konfiguration beobachtet sein, in der die neuere deutsche Dichtung in ihrer bewußt von den stadtbürgerlichen Überlieferungen geschiedenen Version sich ausprägt. Auch hierfür gibt es Ansätze, die wir dankbar aufgreifen. Eine hinlänglich konsistente Theorie existiert jedoch nicht. Während die Geschichtswissenschaft derzeit mit großer Intensität den staatsbildenden Kräften im nachreformatorischen Zeitalter nachgeht, steht der Literaturwissenschaft die Integration konfessionsgeschichtlicher Fragestellungen weitgehend noch bevor. An ihr hängt die seit langem fällige neue Profilierung
Faktoren der Dichtungsreform um 1600
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und Rehabilitierung des deutschen Späthumanismus, wo nicht gar die geschichtliche Situierung und Perspektivierung des nachfolgenden 17. Jahrhunderts und seiner Binnendifferenzierung insgesamt. Es scheint daher ergänzend zu dem in der erwähnten historischen Grundlegung Gebotenen an dieser Stelle unumgänglich, den wie auch immer problematischen Versuch zu unternehmen, wenigstens die Grundzüge eines Epochenkonspekts zwischen 1560 und 1620 zu umreißen, die im folgenden dann differenziert und konkretisiert zu werden vermögen. Für die Erkenntnis des Ursprungs der neueren deutschen Dichtung – und damit der hier untersuchten Gattung – wird sich ein solcher Versuch als unumgänglich erweisen. Daß der Zeitraum im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert unvergleichlich viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat als das Zeitalter der Reformation selbst auf der einen, das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges auf der anderen Seite, ist hinlänglich bekannt und sehr wohl dazu angetan, das Dringliche eines derartigen Versuchs zu unterstreichen. Etikettierungen wie ›Gegenreformation‹ oder auch ›Manierismus‹ sind wenig dazu angetan, der epochalen Komplexität gerecht zu werden. Der neuerdings favorisierte und auch von uns aufgenommene umfassendere Begriff des ›konfessionellen Zeitalters‹ indiziert das bereits. Hier muß es mit Verweis auf die einschlägige Literatur und die sachdienlichen Hilfsmittel vor allem um die literarhistorischen Konsequenzen aus dem in der modernen Geschichtswissenschaft und in der Kirchengeschichte entworfenen Bild gehen. Der Augsburger Religionsfriede darf heute gleichermaßen als versuchsweise abschließende Fixierung der mit der Reformation inaugurierten konfessionellen Dissoziierung Deutschlands wie als Auftakt zu der erst jetzt voll sich durchsetzenden Polarisierung der konfessionspolitischen Parteiungen begriffen werden. [...] die Augsburger Ordnung, die zum ersten Mal in der Geschichte der westlichen Christenheit die kirchliche Sonderung staatsrechtlich legitimierte, [erging] noch im Namen jenes Kaisers, der ein Leben lang die Wahrung der kirchlichen Einheit als sein Ziel betrachtet hatte. [...] Die Einheit der christlichen Welt, die der Kaiser in politischer Form zu schaffen und in kirchlicher Form zu erhalten versucht hatte, war in keiner sichtbaren Gestalt mehr gegenwärtig.4
Doch die staatsrechtlich sanktionierte Sonderung betraf nur die Confessio Augustana! Zwinglianer und Calvinisten waren von ihr ebenso ausgeschlossen wie Täufer und Sektierer. Sie alle wurden umstands- und unterschiedslos vom Ketzerrecht im Reich getroffen. Es sollte sich rasch zeigen, daß in dieser verfehlten Lösung der Sprengstoff für die Zukunft beschlossen lag. Genauso wenig jedoch entsprach die reichsrechtliche Festschreibung des konfessionspolitischen Status quo dem Expansionsdrang des erneuerten Tridentiner Katholizismus. Calvinisten wie Katholiken rüttelten alsbald an ihm, stellten ihn de facto in Frage und profilierten sich als die beiden dynamischen, die politischen wie die kulturellen Geschicke fortan bestimmenden Kräfte, während das Luthertum seinen gestal––––––––– 4
Heinrich Lutz: Propyläen Geschichte Deutschlands. Band IV: Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1490 bis 1648.- Berlin: Propyläen-Verlag 1983, S. 309 f.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
tenden Einfluß nach der territorialkirchlichen Lösung eher verlor, sich in der Abgrenzung vom reformierten Bekenntnis verzehrte und um so eifriger die definitive Fixierung des theologischen Lehrgebäudes betrieb. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte »begannen sich auf konfessioneller Grundlage ›Parteien‹ zu bilden.«5 Aber die Initiative lag nicht mehr bei dem ehemals auslösenden Faktor der Umwälzung, bei den Lutheranern, sie ging über auf die Calvinisten und die sich neu formierende alte Kirche. Der Politisierung der Reformation im Zeichen des Genfer Calvinismus korrespondierte die Militarisierung des Katholizismus im Zeichen eines neuen universalen Anspruchs, wie er im Jesuitenorden am prägnantesten manifest wurde. Und so treten sich seit der Mitte des Jahrhunderts Katholizismus und Protestantismus in neuer Ausrüstung gegenüber. Calvinisten und Jesuiten sind ihre Vorfechter. Die Frömmigkeit hat auf beiden Seiten kämpferisch-politische Gestalt angenommen. Die Religion wird wieder (aber in einem neuen Sinne!) Sache der Politik und die Politik Sache der Religion. Die unauflöslich enge Verflechtung religiöser und weltlicher, machtpolitischer Gegensätze ineinander wird zum eigentlichen Kennzeichen der Epoche.6
Daß sich in ihnen zugleich sozioökonomische Antagonismen verbergen, ist bekannt. »Die unzufriedenen bürgerlichen Stände mit kommerziell ausgerichteter, protestantischer Ethik wollten sich nicht mehr in die katholisch absolutistischen Monarchien Spaniens, Österreichs und Polens eingliedern.«7 Spätestens seit Nadlers Literaturgeschichte ist der machtvolle Impetus der katholischen Reform auf das Literaturgeschehen in den katholischen Territorien mit Wien und München als den monarchischen Zentren ein für alle Mal klargestellt und ins öffentliche Bewußtsein gerückt.8 Dieter Breuer vor allem gebührt das Verdienst, die Erforschung der oberdeutschen Literatur nicht nur materialiter entschieden vorangetrieben, sondern ebenso entschieden in den forschungsgeschichtlichen Kontext eingerückt zu haben. Die Hinwendung zur vornehmlich bayerischen literarischen Überlieferung erfolgt in der doppelten Absicht, den territorialen gegenüber dem nationalen und damit den bikonfessionellen gegenüber dem stets auf den Protestantismus fixierten literaturwissenschaftlichen Diskurs zur Geltung zu bringen. Die vereinheitlichende Darstellung vor allem der Literatur des 17. Jahrhunderts mag von einem historisch bedingten konfessionspolitischen und/oder nationalen Standpunkt her verständlich sein. Zudem hat die in der Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung übliche Ablösung der Sprache und Literatur aus ihren historisch-politischen Verhältnissen, näherhin: aus ihren territorialen und konfessionellen Bedingungen, solche Vereinheitlichungsversuche sicherlich begünstigt und einer Kritik entzogen. Die Hinwendung der allgemeinen Geschichtsschreibung zu territorialgeschichtlichen Fragestellungen, die intensiven For-
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R.J.W. Evans: Rudolf II. Ohnmacht und Einsamkeit.- Graz, Wien, Köln: Styria 1980, S. 14 (zur englischen Originalausgabe vgl. Anm. 20). Gerhard Ritter: Die Weltwirkung der Reformation. 2. Auflage.- München: Oldenbourg 1959, S. 23. Evans: Rudolf II. (Anm. 5), S. 14. Vgl. Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. 3. Auflage. Band I: Die altdeutschen Stämme (800–1740).- Regensburg: Habbel 1929, Buch V: Barock, 1. Gruppe: Die Baiern, S. 397–450; hier S. 404–422 das große Wien-Kapitel.
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schungen der letzten Jahrzehnte zur Entstehung der frühmodernen Staaten in Europa machen jedoch eine Korrektur auch der bisherigen literaturgeschichtlichen Perspektiven unumgänglich. Die vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert überkommene finale Perspektive auf eine einheitliche Schriftsprache, auf eine Nationalliteratur bzw. auf einen deutschen Einheitsstaat trägt zur Erkenntnis des vorfindlichen Quellenmaterials wenig bei. Dieses Material läßt sich angemessener bearbeiten, wenn man, die territorialstaatliche Verfaßtheit des Reiches berücksichtigend, mehrere konkurrierende deutsche Schriftsprachen und mehrere deutschsprachige Literaturen annimmt.9
Diese regionale Wende der Literaturgeschichtsschreibung – auch für das 17. Jahrhundert allerdings keineswegs ohne Anknüpfungspunkte! – ist zu begrüßen, und dies um so mehr, wenn sie – wie bei Breuer – einhergeht mit exemplarischen und eben deshalb exakten und verifizierbaren Betrachtungen zur Funktion der Dichtung im frühabsolutistischen Staat, für den das Bayern Maximilians I. in vielerlei Hinsicht prototypisch steht. Und doch sollte dieses Forschungsprogramm nicht so angelegt sein, daß es falschen Alternativen Vorschub leistet. Die regionale und konfessionelle Differenzierung des literarischen Lebens, wie sie der Forschung gegenwärtig obliegt, verträgt sich richtig gehandhabt sehr wohl mit einer nationalliterarischen bzw. gar einer universalhistorischen Perspektivierung. Mehr noch: diese wird im protestantischen wie im katholischen Bereich durch die Quellen selbst nahegelegt. Der protestantischen, insbesondere von Opitz inaugurierten Dichtung ist die Dialektik von territorialer, zumeist adressatenbezogener Beschränkung und nationalem Anspruch im Medium der normierten Hochsprache und im Gewand der klassizistischen Formgebung inhärent. Hier setzt sich keinesfalls ein einfacher Mechanismus der Rückprojektion in den nationalen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts durch, vielmehr wird ein prospektives Moment der Quellen selbst aufgegriffen und sachgemäß einem nationalen literarischen Evolutionsprozeß zugeordnet.10 Desgleichen leistete auch die territorial spezifizierte oberdeutsche Literatur vor allem im Theater (aber keineswegs nur in ihm) ihren effektiven Beitrag zur Rückgewinnung universaler konfessioneller Normen im Zeichen Roms, Madrids und Wiens. ––––––––– 9
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Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit.- München: Beck 1979 (= Beihefte der Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte. Reihe B; 11), S. 15 f. Dieses Moment seinerzeit in einer glücklichen Formulierung Conrad Wiedemanns genau getroffen. Vgl. ders.: Barockdichtung in Deutschland.- In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Band IX–X: Renaissance und Barock. Hrsg. von August Buck. Teil II.Frankfurt/Main: Athenaion 1972, S. 177–201. Hier heißt es S. 181: »Deutschland erlebt im 17. Jahrhundert ein ähnliches politisches Chaos, wie es im 16. Jahrhundert der Konsolidierung Frankreichs vorausgegangen war, nur um ein Vielfaches gesteigert und mit ungleichem Ausgang. Der Schritt zum modernen Zentralstaat, und das kann in dieser Zeit nur heißen: zum Reichsabsolutismus, gelingt nicht. Als ästhetische Vorausprojektion eines solchen jedoch müssen wir ihrer Struktur nach die Opitzsche Reform verstehen. Sie wendet sich unmißverständlich an ein nationales (kein soziales) Ganzes, kämpft für sprachliche und formale Einheit und gegen regionale Sonderansprüche, unterstützt ein hierarchisches Ordnungsbewußtsein und praktiziert auf ihrem Gebiet das Prinzip strenger Gesetzeslenkung.« Als ›literarische Utopie‹ wird diese nationale ›ästhetische Vorausprojektion‹ zutreffend qualifiziert.
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Gefordert ist folglich ein Verfahren, das sich auf die partikularen wie die universalen Momente der Werke gleichermaßen einläßt. Es ist dies im übrigen nur die Konsequenz aus der Konfessionalisierung aller Lebensbereiche, die Theologisierung und Säkularisierung stets in eins meint. Die Konfessionen wurden zur Partei, zur ›Religionspartei‹ als einer geistlich-weltlichen Macht, in der das religiöse Bekenntnis, politische Macht, kulturelles und nationales Erbe, moralische Kultur und gesellschaftliche Struktur jeweils zu einer spezifischen Gesamtheit verschmolzen. Das Geistliche wirkte dabei nur zum Teil als das treibende und tragende Moment; zum Teil wurde es von seinen eigentlichen Intentionen abgelenkt und mit viel Wesensfremdem vermischt. Und die Bekenntnisse prallten sodann als mächtige Blöcke in einer gigantischen Konfrontation quer durch Europa geistlich wie weltlich aufeinander.11
Diesem Sachverhalt darf nur ein Verfahren hoffen gerecht zu werden, das sich der dialektischen Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem noch in der literarischen Miszelle versichert hält. Die Kritik an der Vernachlässigung der katholischen Variante unserer literarischen Überlieferung im 17. Jahrhundert, wie sie Breuer so vehement vorträgt, verliert durch das Gesagte nichts von ihrem Recht. Doch gilt es auch hier, eingeschliffene Zuweisungen und starre binäre Schematisierungen zu durchbrechen. Wird der nationalliterarisch-protestantische Duktus der Literaturgeschichte mit der Aufwertung allein der katholischen Literatur Oberdeutschlands beantwortet, so droht unter anderen Vorzeichen ein Gegensatz befestigt zu werden, der dem historischen, dem konfessionellen, dem literarischen Kräftefeld um 1600 nicht gerecht wird. Die Polarisierung von Katholizismus und Calvinismus nach 1555 hat nämlich literaturgeschichtlich ihre Entsprechung nicht nur in der stets wahrgenommenen Stimulierung der katholischen Literaturpraxis zumal im Umkreis der Jesuiten, sondern zugleich in einer verborgeneren und indirekteren des Calvinismus auch auf deutschem Boden. Sie ist in literaturgeschichtlichen Darstellungen und vor allem in den großen Werken von Gervinus, Nadler, Schöffler und anderen immer wieder gestreift, nie aber zum Gegenstand einer dringlich benötigten Monographie erhoben worden. Bei den Kalvinisten soll hingegen die Kunst Gott dienen. Alle irdischen Mittel müssen dafür in Anspruch genommen werden. Deshalb findet man unter den Humanisten und den Dichtern der Renaissance so viele Kalvinisten. Sie griffen als erste die neue Ästhetik der Renaissance auf und verwendeten sie in ihren Übersetzungen der Psalmen oder entdeckten sie gerade durch diese. [...] Deutsche Dichter, die in der Tradition des Renaissance-Klassizismus schreiben, erreichen nicht das sprachlich-dichterische Niveau, das Poeten anderer europäischen [sic!] Literaturen derselben Zeit aufweisen; jedoch, die meisten großen literarästhetischen Schwerpunkte der deutschen Literatur jener Periode finden sich eben innerhalb des kalvinistischen Milieus, oder stehen unter direktem und entscheidendem Einfluß dieser kalvinistischen Zentren.12
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12
Martin Heckel: Deutsche Geschichte. Hrsg. von Joachim Leuschner. Band V: Deutschland im konfessionellen Zeitalter.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1490), S. 10. Kare Langvik-Johannessen: Die Rolle der Kalvinisten in der ästhetischen Entwicklung der deutschen Literatur.- In: Dikt og idé. Festskrift til Ole Koppang. Redigert av Sverre Dahl.Oslo: Germanistisches Institut 1981 (= Osloer Beiträge zur Germanistik; 4), S. 59–72, S. 71.
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Diese völlig unabhängig von unseren konfessionell-literarischen Forschungen gewonnenen Feststellungen haben in der deutschen Barockforschung keine Tradition. Plausibilität dürfte ihnen nur im Rahmen weitausgebreiteter Studien zu den Aktionsformen des zentraleuropäischen Calvinismus im Kontext der internationalen konfessionellen Verflechtungen zu sichern sein. Wo aber von den Rahmenbedingungen der deutsche Literatur um 1600 die Rede ist, sollte die calvinistische Komponente in Zukunft nicht mehr fehlen. Die Gravitationszentren der neuen deutschen Kunstdichtung sind mehr oder weniger eng mit dem so verheißungsvollen Aufbruch des Calvinismus auf deutschem Boden verknüpft, wie jede kulturgeographisch und konfessionspolitisch angelegte Betrachtung der deutschen Literatur zu Eingang des 17. Jahrhunderts lehrt. Eine Gattungsgeschichte kann diese Zusammenhänge nur im Ausschnitt zeigen. Es wird einer neuen Literaturgeschichte bedürfen, um den spannungsgeladenen Einsatz unserer neueren Literatur zwischen Breslau und Heidelberg hier, München und Wien dort angemessen zur Geltung zu bringen und den kommunalen lutherischen Beitrag nach dem Untergang des zentraleuropäischen Calvinismus in den Dezennien vor und nach der Jahrhundertmitte davon abzuheben. Immerhin: Die territoriale und konfessionelle Gliederung unserer Studien zur Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts wird dazu beitragen, diesem jungen Forschungszweig Relief zu verschaffen. Aufs engste verknüpft mit dem Konfessionalisierungs- ist der Staatsbildungsprozeß. Natürlich setzt er lange vor den Konfessionskriegen ein. Aber diese verleihen ihm eine grundsätzlich andere Qualität und schlagen selbst auf jene Staaten bzw. Fürstentümer zurück, in denen die Einheit der Konfession gewahrt bleibt. Der zeitweilig parallele Kampf gegen England, Frankreich und die Niederlande schmilzt Kirche und Staat in der spanischen Monarchie fester denn je zusammen, sichert jedoch zugleich der Krone im Existenzkampf das entscheidende Übergewicht. Umgekehrt formen sich England, Frankreich und die Niederlande auf je eigene Weise überhaupt erst im Abwehrkampf gegen den Hegemonialanspruch Spaniens in Europa. Die Genese nationaler Identität – auch auf deutschem Boden und zumal in den einzelnen, konfessionell exponierten Territorien – gehört zu den faszinierenden, den Quellen vielfach direkt zu entnehmenden Facetten in diesem blutigen Ringen. Das Resultat schließlich variiert von Land zu Land. Das moderne Europa und die divergierende Physiognomie seiner Nationen zeichnen sich überhaupt erst am Ende des konfessionellen Zeitalters ab. Und doch gab es um 1600 über die Landesgrenzen hinweg zugleich eine überraschende Homogenität in den Antworten auf die Fragen der Zeit. Wo in den katholischen Staaten und Territorien das Band zwischen Kirche und Krone gefestigt erscheint (bei merklicher Prärogative auf seiten der politischen Gewalt), da zeitigen die konfessionspolitischen Bürgerkriege – die stets auch solche zwischen Krone, Adel und (in wechselnder Betroffenheit) Stadtregiment sind – vielfach über die Grenzen hinweg ein neues Staatsverständnis, das in die Moderne geleitet. Und das am konsequentesten in dem Land, das den Weg zur autogenen Nation im europäischen Staatenverband am frühesten beschritten hatte und auf ihm
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am tiefsten aus der Bahn geworfen wurde, in Frankreich.13 Die Dissoziierung und Paralysierung der staatlichen Gewalt war zwischen 1560 und 1590 mehr als einmal manifest. So lag es in der Logik der Sache, wenn der Staat in den fortgeschrittensten Theorien von der Religion als seiner ehemals stabilen Stütze und fortan destabilisierenden Macht getrennt und als weltanschaulich wie religiös neutrale Instanz jenseits der konfessionellen und sozialen Parteiungen konzipiert wurde. Hier ist wiederum nicht der Ort, Einzelheiten bereits näherzutreten. Aus der Perspektive des Literarhistorikers geht es zunächst um einen einzigen entscheidenden Aspekt: den Beitrag der europäischen Späthumanisten und damit auch der gelehrten Dichter in diesem ebenso vielschichtigen wie folgenreichen Modernisierungsprozeß. Wilhelm Kühlmann hat in seinem bedeutenden Buch zur Filiation von Späthumanismus und Fürstenstaat der Literaturwissenschaft mit dem zeitgenössischen politischen Schrifttum ein weitverzweigtes, durchweg bislang kaum und nur sporadisch zur Kenntnis genommenes Quellenkorpus zugeführt. Die ihm entnommenen Merkmale sind gerade auch für die Literaturwissenschaft von erheblicher Tragweite, weil sie die Kontrolle und Verifizierung der gattungsgebundenen, vielfach topischen, in ihrer aktuellen Intention schwer eruierbaren Argumentationsfiguren im nichtfiktionalen theoretischen Schrifttum gestatten. Nur zwei Momente in dem schwer übersehbaren, von Kühlmann sehr differenziert entworfenen Bild seien hier akzentuiert.14 Auf der einen Seite konnte Kühlmann an den Quellen heterogener Provenienz ein mehr oder weniger durchgängiges Bewußtsein der Krise, der Verunsicherung, ja des Umbruchs konstatieren, wie sie in der Rede von den todkranken Studien ihren beredtesten Ausdruck fand. Die kultur- und zeitkritischen Diagnosen, welche [...] sich als deutscher Zweig eines übernationalen geschichtspessimistischen Argumentationssystems erkennen ließen, entwickeln ein Bewußtsein der ›Modernität‹ – verstanden als bedachte ›Abscheidung‹ des Vergangenen von der Gegenwart –, indem sie die eigene Epoche als Periode des Verfalls verstehen. Der Höhepunkt der sich nach der immanenten Logik des Kreislaufs vollziehenden geschichtlichen Entwicklung wird in die Vergangenheit gelegt, die Zukunft erscheint drohend und gefahrvoll, die Gegenwart gezeichnet durch den fühlbaren Beginn einer Wende zum Schlechteren. Die in der Figur der laudatio temporis acti, in der spezifischen Applikation des Topos ›a tempore‹ vorgetragenen Anklagen artikulieren im Sinne einer rückwärtsgewandten Utopie jeweils ex negativo zu interpretierende Gegenbilder vollendeter, jedoch verlorener Ordnung und Harmonie. In der Perspektive der Dekadenz werden aktuelle Er-
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14
Vgl. immer noch: Martin Göhring: Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich (vom Mittelalter zu 1789).- Tübingen: Mohr 1946 (2. Auflage 1947); Ernst Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. Untersuchungen über die politischen Denk- und Handlungsformen im Späthumanismus.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 21); Rudolf von Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus.- Marburg: Simons 1951 (= Archiv für Kulturgeschichte. Beiheft; 1). Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters.- Tübingen: Niemeyer 1982 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 3).
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fahrungen gesellschaftlicher Veränderungen auf die historische Ebene projiziert, die Pathologie der Gesellschaft impliziert zugleich noch die Frage der Pathogenese.15
Sie aber geleitet zwangsläufig zurück zu jenen unter dem Schlagwort der Krise zwischen 1550 und 1650 zusammengeführten und diskutierten Symptomen und Syndromen, die sich im Zusammenbruch der una societas christiana, im Aufstieg des modernen Staates, in den angesprochenen ökonomischen und sozialen Umschichtungen mentalitätsprägend resümieren. Es liegt auf der Hand, daß eine Gattung wie die Bukolik mit ihrem eminenten retrospektiven utopischen Potential auf epochale Umwälzungen dieser Dimension sensibel reagiert. Auf der anderen Seite – und in genuin dialektischer Verschränkung damit – zeichnen sich in der Krise Umrisse einer Antwort ab, die sehr wohl dazu angetan waren, ein Bewußtsein von Modernität unter der intellektuellen Elite zu befördern, ja gelegentlich sogar die Rede von einer neuerlichen felicitas saeculi zu legitimieren schienen. Die Klage über den Niedergang der Studien war ja nicht zuletzt der Einsicht geschuldet, daß diese sich den Ansprüchen und Erwartungen des frühmodernen Staates zu bequemen hätten, wenn anders sie überleben sollten. Gerade die Späthumanisten haben diese Transformation der artes entscheidend vorangetrieben, wie sich etwa am Programmschrifttum des Beuthener Gymnasiums auch auf deutschem Boden in aller wünschenswerten Deutlichkeit ablesen läßt.16 Ihnen allen aber bleibt eines gemeinsam, das sich genauerer Betrachtung sehr wohl erschließt: die Abkunft aus dem Chaos, die Proklamation von Ordnung über einem erschreckend sichtbar gewordenen Abgrund. Die individuelle, von der Stoa so tief geprägte Ethik wie die neue Philosophie des Staates als eines Garanten friedlichen Überlebens haben hier ihre Wurzel. Darum wird sich jeder dialektisch geschulten Betrachtung die tiefe, so gut wie gar nicht aufgenommene Beobachtung Walter Benjamins bestätigen, daß Geschichte im 17. Jahrhundert immer wieder sistiert erscheint, zurückgenommen auf räumliche Statik und Simultaneität.17 Der Rückzug auf ein in stoischer Gelassenheit zu bewährendes Selbst und der Bann der Geschichte im Akt höfischer Repräsentation sind nur zwei Aspekte des nämlichen Sachverhalts: der Punktualisierung von Geschichte, die gleichbedeutend ist mit ihrer Entwertung als heilsgeschichtliches bzw. säkular-utopisches Medium. Es gehört zu den großen Verdiensten des Kühlmannschen Werks, diese Fragen am Beispiel des politischen Schrifttums um 1600 wieder aufgegriffen und einer – Benjamin vielfach überraschend bestätigenden – Lösung entgegengeführt zu haben. Entwertung des Übels, Versicherung der Identität und geistig-moralischen Autonomie, dementsprechend der Verantwortung des Menschen, Abschneiden einer jeden innerhistori-
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Ebd., S. 136. Vgl. hierzu S. 94 ff. in Teil II, Kapitel 2.1 dieses Buches. Dazu Klaus Garber: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin.- Tübingen: Niemeyer 1987 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 22), S. 59–120: Benjamins Bild des Barock.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung schen Perspektive, eines jeden retrospektiven oder antizipatorischen Utopismus, Aufruf zur Bewährung und Orientierung in bzw. an den gegebenen Verhältnissen, Bestimmung der Ordnung und Festigung des Gottvertrauens gerade im Horizont negativer Erfahrung, Anerkennung des ›Neuen‹ in der Geschichte, jedoch nicht als Signum offener Historizität, sondern geknüpft an die Versicherung des ›Stabilen‹ selbst angesichts phänomenaler Depravationen, deshalb zugleich die Reduktion veränderter gesellschaftlicher und politischer Erfahrungen auf die im Exempelarsenal der Geschichte vorgegebenen, d.h. vorinterpretierten Gesetze und Handlungsmuster – mit diesen resümierenden Stichworten läßt sich die Gesamttendenz der Argumentation zusammenfassen, in denen die Dekadenzperspektive der Spätrenaissance überwunden wird.18
Doch dieser Problemprospekt weist bereits tief ins 17. Jahrhundert, in das Zeitalter des ›Barock‹ voraus. Wenn hier zunächst der Zeitraum zwischen 1560/70 und 1620/30 ins Blickfeld gerückt wird, so mit Rücksicht auf die besonderen Chancen und damit die erkennbaren Alternativen, die diesen Dezennien eigneten. Sie voll wahrgenommen zu haben, ist das vielleicht größte geschichtliche Verdienst der europäischen Späthumanisten. Sie haben allzu lange im Schatten der Generation um Erasmus und der Reformatoren gestanden. Doch besitzt diese geistige Elite Europas eine durchaus eigene, eben durch die politisch-konfessionelle Situation geprägte Physiognomie. Die internationale Kohärenz dieses Standes, das lehrt jedes Studium etwa der Briefe, ist verblüffend. Sie verdankt sich gewiß auch den großen Leitfiguren. Diese aber sind in der Regel nicht nur philologische Autoritäten, sondern zugleich auch politische Denker und Organisatoren großen Stils. Das Netz ihres Kommunikationssystems bietet fruchtbarste Anhaltpunkte auch für die Fragen der literarischen Formation um 1600. Es gehört zu den Charakteristika dieser Gruppenkultur, daß sie konfessionell nicht determiniert, sondern vielmehr gleichermaßen geprägt ist durch die gemäßigten Katholiken in den katholischen Monarchien wie durch die calvinistischen Wortführer der – stark divergierenden Bekenntnisse – in den reformierten Nationen und Territorien. Wiederum wird ein Quellenstudium bestätigen, daß diese interkonfessionelle Gelehrten- und Politikergemeinschaft sich verbunden weiß im Mißtrauen gegen den Expansionsdrang Spaniens, die konfessionelle Militarisierung Roms und die durchaus bereits spürbare Rekatholisierung in den Habsburgischen Erblanden, die eben gegenläufig war zu der auf Ausgleich bedachten Politik Maximilians II. und Rudolfs II. Wo immer dem Späthumanismus politischer Einfluß vergönnt war, hat er die Zentralgewalten im Kampf gegen den religiösen Hader im Inneren wie gegen den katholischen Druck im Äußeren unterstützt und sich zum Anwalt nationalen und übernationalen Zusammenhalts gemacht. Dies und keineswegs allein der – selbstverständlich nicht preisgegebene – philologische Impetus steht hinter der Formierung des europäischen Späthumanismus im konfessionell-frühabsolutistischen Zeitalter, der für die Anfänge der Nationalliteraturen vielfach und gerade auch in Deutschland so wichtig werden sollte. Erst nach dem Zusammenbruch dieser Bewegung auf deutschem Boden im Umkreis des Calvinismus wurde jenem Geschichtspessimismus, jener Paralyse geschichtlichen Bewußtseins mäch––––––––– 18
Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat (Anm. 14), S. 162.
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tig Vorschub geleistet, wie sie im Luthertum bereits eine Heimstatt besaß und im 17. Jahrhundert so rapide sich ausbreitete. Und erst die Stabilisierung der deutschen wie der europäischen Staatenwelt begünstigte zugleich neue, in die Frühaufklärung herüberleitende geschichtsphilosophische Ideen und pragmatische Konzeptionen. Ist Konfessionalisierung aber leitendes Motiv der Epoche und zumal der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, so muß einer Blüte gedacht werden, die sie wider Willen auch zeitigte, und der eben deshalb Dauer beschieden war. Dem religiösen Durchbruch, getragen von der überwältigenden Erfahrung der unaussprechlichen Güte Gottes, wie sie dem jungen Luther zuteil wurde, folgte die Kodifizierung des Neuen auf dem Schritt – mit den bekannten und qualvollen Manövern wechselseitiger Aus- und Abgrenzung. Dem Prinzip der Schrift als einziger Quelle der Offenbarung und alleiniger Instanz gültiger Lehre antwortete die gesamte ›linke Reformation‹ mit dem emphatischen Bekenntnis zur Autogenität und Dignität der religiösen Erleuchtung des je Einzelnen und der Heteronomie ihrer Quellen, unter denen die Natur zum vornehmsten Katalysator religiöser Erfahrung und spiritualer Bedeutung aufrückte. Von Franck über Schwenckfeld, Weigel, Böhme, Franckenberg, Czepko, Knorr von Rosenroth und ungezählte andere bis hin zu Arnold als ihrem großen Historiographen verläuft eine kontinuierliche, besonders eng mit Schlesien verknüpfte Linie, die – religions-, sprach- und literaturgeschichtlich gleich wichtig – die zweite große Manifestation des Aufbruchs in die Neuzeit neben dem Humanismus markiert. Man hat zuweilen die Pansophie als einen Rückfall in blindeste Narrheit, als die Unwissenschaftlichkeit ôëü’ ġÿøíò÷ angesehen. Aber man wird in der Epoche der rechnenden, exakten Naturwissenschaft nicht vergessen dürfen, daß unsere heutige Naturwissenschaft das Kind eben der Mutter ist. Erst durch die Pansophie, als deren Blüte ich ja die Rosenkreutzerei hinstellte, wurde den Menschen der Blick für das Diesseitige geöffnet. Der theologisch gerichtete Mensch des Mittelalters sucht aus dem Kosmos Gott zu erkennen; das war die Übergangsphase zu einer Zeit, die nur noch daran dachte, in der Natur bewegende Kräfte aufzufinden. Es scheint mir nicht wunderlich, daß Newton, der unsichtbare Kräfte im Weltall fand, in ›Böhmesche Phantastereien verstrickt gewesen ist‹. Daß Kepler den Rosenkreutzern nicht feindlich gegenüberstand. Daß Leibniz hier Wahrheit suchte. [...] Es scheint mir doch, als ob dies Suchen nach Kräften im Kosmos nur eine Abwandlung gewesen ist des Suchens der Rosenkreutzer und Pansophen nach jener einen Kraft, die sie Gott nannten, und deren Kenntnis die Weisheit war. Und deren Besitz das Ausmaß aller Künste verbürgte. Wenn man mir das zugibt, dann brauchen wir nicht mehr von einem Bruch im 18. Jahrhundert zu reden, denn dann ist die Aufklärung nichts als die letzte Auswirkung des Suchens nach dem, was hinter allem steht.19
So die Stimme jenes Forschers, der sich auf der Grundlage der unerschöpflichen schlesischen Quellen wie niemand sonst um die Rettung dieser Traditionslinien lebenslänglich bemüht hat, die Stimme Will-Erich Peuckerts. Sprachlich von einer bis heute nicht versiegenden Kraft, Anschaulichkeit und Originalität der philosophisch-theologischen Diktion, wie sie kaum jemals im Umkreis der klassizistischen Literatur Deutschlands erreicht wurde, ist der unerhörte Reichtum ––––––––– 19
Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation.- Jena: Diederichs 1928, S. 381 f.
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der Ausdrucksmöglichkeiten keinem programmatischen Vorsatz geschuldet und entsprechend nicht begleitet von kulturpolitischen Ambitionen, wie sie für die Literatur des Humanismus zwischen Celtis und Gottsched so typisch sind. Daß die in der Rosenkreuzer-Fiktion gipfelnde Bewegung gleichwohl keineswegs im politischen Niemandsland verlief, haben die tiefdringenden Forschungen von Frances A. Yates, dann von Robert J.W. Evans gezeigt.20 Wie vom Späthumanismus, so verläuft vom Separatismus – oder wie immer man diesen ›linken Flügel‹ der Reformation nennen will – eine fortan nicht mehr übersehbare Linie vom Prag Rudolfs II. über das kurpfälzische Heidelberg (mit dem emblemreichen Hortus Palatinus) bis hin zum Hof Elisabeths I. und Jakobs I. in London. Die Mystifizierung der humanistischen Sozietätsidee im Umkreis Andreaes war ja nicht nur der konfessionellen Vorsicht geschuldet. Sie korrespondierte aufs genaueste den späthumanistischen Bemühungen um Entkonfessionalisierung und konnte deshalb so große Attraktivität auf diese Schicht ausüben. Die Erforschung einer Gattung jedenfalls, in der die Natur eine so prägende Rolle spielt, darf von der Erwartung geleitet sein, den Fundus religiöser und spekulativer Erfahrung, wie ihn der mystische Spiritualismus des 16. und des 17. Jahrhunderts zeitigte, auch in ihr verarbeitet zu finden. Deren Analyse im Hinweis auf leitende Kategorien und formative Bedingungen vorzubereiten und deren inneres Gefüge wenigstens anzudeuten, mag Rechtfertigung genug für diese kleine Skizze sein. Im Blick auf die Texte wird sie sich mit Leben füllen; im Blick auf einen der Protagonisten der Epoche des Späthumanismus wie Martin Opitz mit sinnfälliger Repräsentanz.
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Frances A. Yates: The rosicrucian enlightenment.- London, Boston: Routledge & Kegan 1972 (deutsch unter dem Titel: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes.- Stuttgart: Klett 1975); R.J.W. Evans: Rudolf II and his world. A study in intellectual history 1576–1612.Oxford: Clarendon Press 1973 (zur deutschen Fassung vgl. Anm. 5).
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Beginn mit Martin Opitz
2.1 Der junge Martin Opitz. Umrisse einer kulturpolitischen Biographie Theoretisches Prolegomenon: Werk und Nachgeschichte Der Eingang mit der Gestalt Martin Opitzens anläßlich der Behandlung der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ist durch eine lange Tradition beglaubigt.1 Fraglich ist allerdings, ob eine historisch-dialektische Literaturgeschichtsschreibung diesen Sachverhalt nur ratifiziert, indem sie ebenso verfährt, oder ob es andere als herkömmliche bzw. pragmatische Motive für diesen Einstieg gibt. Ein kulturpolitisch ernstzunehmender Widerstand gegen die Opitzsche Führerrolle ist bezeichnenderweise nur vom Südwesten ausgegangen.2 Hier bestand in der Tat alle Veranlassung, die autochthonen Ansätze vor und neben Opitz hervorzukehren. Nur eine Darstellung, der es gelingt, den südwestdeutschen Beitrag mit der Opitzschen Reformbewegung angemessen zu vermitteln, darf hoffen, eine Kluft wenn nicht zu schließen, so doch zu schmälern, die die Überlieferungsgeschichte der deutschen Dichtung des frühen 17. Jahrhunderts durchzieht. Dazu besteht mannigfache Veranlassung. Die Kontroversen um die Priorität in der Behandlung des Alexandriners aus der Frühzeit der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ sind heute nicht mehr von Interesse. Auch hier kommt es jedoch darauf an, die anfängliche kurzfristige Trübung des Verhältnisses zwischen Opitz und der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ nicht nachträglich aufzubauschen, sondern im Gegenteil die Interaktion zu rekonstruieren, die allein den Durchbruch Opitzens verstehen lehrt. Fügen wir die gelegentlichen kritischen bzw. reservierten Verlautbarungen aus dem Umkreis der Satiriker und der zweiten Schlesischen Schule hinzu, so sind die Exponenten der schwachen Opposition im 17. Jahrhundert gegen Opitz bereits bezeichnet.3 Regt sich dort der Widerstand gegen den radikalen Bruch mit der altdeut–––––––––
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Dazu ausführlich Klaus Garber: Martin Opitz – ›der Vater der deutschen Dichtung‹. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.- Stuttgart: Metzler 1976. Vgl. zur zeitgenössischen Opitz-Rezeption zuletzt ausführlich Erich Trunz: Opitz und die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts.- In: Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil. Mit einem Anhang: Florilegium variorum epigrammatum. Unter Mitwirkung von Irmgard Böttcher und Marian Szyrocki hrsg. von Erich Trunz.- Tübingen: Niemeyer 1975 (= Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock; 3). Nachwort des Herausgebers, S. 76*–112*. Harsdörffers Monitum mangelnder Kraft der inventio steht im 17. Jahrhundert offensichtlich allein. Vgl. Trunz: Nachwort (Anm. 2), S. 105 f., sowie Theodor Verweyen: Daphnes
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
schen Tradition durch die Verpflichtung auf die außerdeutschen Paradigmen der europäischen Renaissance, so hier das Bewußtsein der Modernität im Zeichen Marinos gegenüber dem der Vergangenheit angehörenden Begründer der neuen Richtung. Der Einwand der ›Altdeutschen‹ erledigte sich mit dem durchschlagenden Erfolg Opitzens; derjenige der Schlesier mit der Zurückweisung durch Galante und Klassizisten, die sich uneingeschränkt zulasten der ›Manieristen‹ durchsetzte.4 Und das Heer der Opitz-Lobredner im 17. Jahrhundert ist auch heute noch dazu geeignet, den Blick auf die Ursachen der säkularen Wirkung Opitzens zu lenken. Das Merkmal gerade der repräsentativen und umfänglichen zeitgenössischen Äußerungen über Opitz, wie sie etwa von Rist oder Colerus vorliegen, besteht ja darin, daß in ihnen der gesellschaftlich-politische Aktionsradius von Opitz gleichrangig und gleichgewichtig neben seinem poetisch-poetologischen behandelt wird. Sein Aufstieg in die höfische Welt, seine über die humanistische nobilitas literaria hinausreichenden gesellschaftlichen Kontakte, seine diplomatisch-politischen Missionen – sie faszinierten schon die Zeitgenossen, bestätigten das Bild, das er selbst vom welterfahrenen Poeten entworfen hatte, bekräftigten den Nimbus, der Dichter und Dichtung im frühabsolutistischen Staat zugewachsen war, und formten sich insgesamt zum Exempel, das anspornende und verheißende Kraft für seine Nachfolger gewann. Nur eine Darstellung, die diesen öffentlichen, diesen ›politischen‹ Zug im Wirken Opitzens zur Geltung zu bringen vermag, wird daher der zeitgenössischen Aufnahme seines Wirkens gerecht. Denn Lebensweg, Theorie des gesellschaftlichen Auftrags der Dichtung und des Dichters sowie poetische Praxis sind im Falle Opitzens vielfach miteinander vermittelt. Daß die literaturkritische und historische Rezeption Opitzens – angefangen bei Gottsched – an seiner Gestalt und an seinem Werk ein dankbares Objekt für die eigenen kulturpolitischen Aktivitäten gefunden hat, ist bekannt und begründet die Faszination, die von seiner Überlieferungsgeschichte ausgeht. Ihr entzieht man sich nicht durch die Statuierung eines vermeintlich ›ideologiefreien‹ Standpunktes, sondern durch den kritischen Einbezug der Nachgeschichte in den eigenen Ansatz.5 Dessen Tragfähigkeit bemißt sich nach Maßgabe der aufschließenden Kraft, die er gegenüber dem literarhistorischen Gegenstand als dem Substrat aller nachfolgenden rezeptiven Akte wie gegenüber diesen selbst besitzt. Ein derartiges Verfahren sucht das ganze Spektrum des in der Nachgeschichte –––––––––
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Metamorphosen. Zur Problematik der Tradition mittelalterlicher Denkformen im 17. Jahrhundert am Beispiel des ›Programma Poeticum‹ Sigmund von Birkens.- In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen, Klaus Haberkamm.- Bern, München: Francke 1972, S. 319–379, S. 378 f., Anm. 10. Dazu erschöpfend Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Storia della sua ricezione. Band I: 1661–1800.- Pisa: Athenaeum 1975 (= Athenaeum; 1). Deutsche Fassung unter dem Titel Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Band I: 1661– 1800. Aus dem Italienischen von Heribert Streicher.- Tübingen: Niemeyer 1978. Vgl. Garber: Martin Opitz (Anm. 1), S. 7 ff.
Der junge Martin Opitz
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freigesetzten Bedeutungspotentials in die geschichtliche Erschließung und Kritik Opitzens einzubringen, umgekehrt jedoch die historische Entzifferung des Opitzschen Werkes mit der Geschichte seiner Tradierung zu konfrontieren und diese gegebenenfalls zu relativieren. Nichts anderes meint das Benjaminsche Diktum, daß das Werk als Zeuge gegen seine Überlieferung aufzubieten sei und umgekehrt. Als untrüglicher Indikator des geschichtlichen Prozesses bestätigt auch die Opitz-Rezeption, daß die historisch adäquate Tradierung kultureller Zeugnisse an den Auf- und Abstieg der die Rezeption tragenden Klasse gebunden ist. Die Tatsache, daß sich das Bürgertum des 18. wie des 19. Jahrhunderts im Falle Opitzens mit dem führenden Repräsentanten der auf den absolutistischen Staat eingeschworenen Gelehrtenschicht konfrontiert sah, verleiht dieser Konstellation ihren besonderen Reiz und geschichtlichen Zeugniswert.
Stationen der Opitz-Rezeption Für Gottsched selbst, der auch seinerseits nochmals die Protektion des Fürstentums suchte, hatte diese Symbiose nichts Problematisches. Ihn fasziniert an Opitz die Transformation des lateinischen in den deutschsprachigen Humanismus, die ihm die Voraussetzung für den Ausbruch aus dem gelehrten Bildungsmonopol und damit für die ›Aufklärung‹ breiterer Kreise des Bürgertums zu sein dünkt. Sein emphatisches Bekenntnis für die Opitzschen Stilqualitäten der Klarheit und Verständlichkeit und sein Kampf gegen die künstliche Verdunkelung durch die Schlesier haben hier ihren Ursprung. Genauso verwendet sich noch Lessing im Namen aufklärerischer perspicuitas für Opitz. Das ganze 18. Jahrhundert über ist eine latente nationale Komponente in der Opitz-Rezeption zu gewahren. Opitz begründet jenen Eindeutschungsprozeß des – über die Renaissance vermittelten – antiken Erbes, in dessen Gefolge sich die Dichter des 18. Jahrhunderts sehen. Am radikalsten artikuliert sich der damit gesetzte, gleichfalls latente antihöfische Zug im Rekurs Herders auf die altdeutsche kulturelle Überlieferung. Er kann Opitz mitumfassen, weil sein programmatischer Einsatz geeignet erscheint, der frankophilen Orientierung der Höfe, mit der Herder sich noch in der Gegenwart konfrontiert sah, entgegenzusteuern. Bleibt die höfische Orientierung Opitzens im 18. Jahrhundert eher abgeblendet, so bildet der produktive Rückbezug auf den ›Boberschwan‹ auch für eine Untersuchung wie die vorliegende eine nicht gering zu schätzende Stütze bei dem Versuch, Opitz und die Sprachgesellschaften aus der Perspektive ihrer Vorgeschichte für das 18. Jahrhundert neu ins Blickfeld zu rücken. Die Anknüpfung, das zeigt Gottsched besonders klar, ist auch im 18. Jahrhundert keinesfalls nur eine sprachlich-formale, sondern sehr wohl auch eine humanistischideologische, den Aufstieg des bürgerlichen Gelehrten im absolutistischen Staat flektierende. Wenn nach der ästhetischen Umwertung durch Klassik und Romantik eine affirmative stilistische Berufung auf Opitz und die Seinen nicht mehr möglich war, entschied es fortan über den Rang der einschlägigen literar-
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historischen Darstellungen, ob und in welchem Maße es gelang, die geschichtliche Funktion der Opitzschen Reform aufzudecken. Hier bezeichnet Gervinus einen nicht wieder erreichten Gipfel. Selbst wie Goedeke und so viele andere Literarhistoriker des 18. Jahrhunderts der ›Volksdichtung‹ der Reichsstädte des 16. Jahrhunderts zugeneigt, hat er gleichwohl den Zuwachs formaler Kompetenz der deutschen Sprache und Dichtung in den Händen der Gelehrten ebenso gewürdigt wie das historisch notwendige Bündnis mit dem Territorialfürstentum. Wenn sich nach ihm die Antithese zwischen höfischer Überfremdung und deutsch-nationaler Mission immer mehr durchsetzte, so ist dies ein Indiz für die nach 1848 statthabende Auszehrung geschichtlichen Bewußtseins. Gerade bei den Adepten der vermeintlich nationalen Verdienste Opitzens im Bismarckreich ist sein Werk nicht legitim aufgehoben, so beträchtlich dessen Beitrag zur Konstitution einer deutschen Nationalliteratur auch war. Es muß aus der Dialektik von territorialstaatlicher Bindung und linguistischpoetischer Vorausprojektion nationaler Einheit begriffen werden. Diese aber ist nach 1848 kaum noch in das Blickfeld getreten.6 Wenn an den Anfang der literarhistorischen Partien dieses Buches eine Skizze zur politischen Biographie Martin Opitzens gerückt wird, so liegt einer solchen Disposition mehr als nur das Interesse an der Bildungsgeschichte und dem Sozialcharakter dieses Autors zugrunde. Die Entfaltung seines räumlich weitgefächerten und zeitlich von einer tiefen geschichtlichen Zäsur geprägten Lebensweges gibt Gelegenheit, literarische und institutionelle, konfessionelle und politische Voraussetzungen im Ursprung der neueren deutschen Kunstdichtung zu erörtern, die bislang keinesfalls hinreichend geklärt sind. Zufällige Fügungen, vorgegebene kulturpolitische Traditionen und nicht zuletzt ein Gespür für die Brennpunkte kultureller und politischer Innovation haben Opitz wiederholt an die historischen Zentren Europas herangeführt. Sie zu umreißen, ist nicht nur geboten, um ihren Einflüssen auf den Autor Martin Opitz nachzugehen. Vielmehr sind hier konstitutive Bedingungen der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts schlechthin in der für die Zwecke dieser Arbeit gebotenen Konzentration überhaupt zu erfassen.
Rolle des Calvinismus Als entscheidende Determinante, sowohl für das Opitzsche Lebenswerk wie für die Rezeption der europäischen Renaissanceliteratur insgesamt, muß der Umstand begriffen werden, daß beide zu Anfang in die Zeit intensivster und weitgespanntester konfessionspolitischer Hoffnungen des westeuropäischen Calvinismus fallen. Opitz hat in diesem Zusammenhang mit zahlreichen führenden Persönlichkeiten Kontakt aufnehmen können, ja sein Lebensweg bis in die Mit––––––––– 6
Das schließt natürlich nicht aus, daß auch nach 1848 noch bedeutende Einzelentwürfe zustandegekommen sind, wie etwa diejenigen Nadlers oder Schöfflers, auf die zu gegebener Zeit ausführlich zurückzukommen ist.
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te der zwanziger Jahre erscheint im nachhinein als eine fast ununterbrochene Kette von Begegnungen mit den politischen und kulturellen Exponenten des reformierten Bekenntnisses. Dieser Umstand ist geeignet, die weit über seine Person hinausreichenden Konstellationen, geschichtlichen Bedingungen und aktuellen Bezüge im Ursprung der neueren deutschen ›Nationalliteratur‹ gebührend zu akzentuieren. Institutionell sind diese Implikationen vor allem an die Pfalz und damit den Heidelberger Dichterkreis sowie an die – mit dem Opitzschen Bildungsgang zeitlich parallel verlaufenden – Anfänge der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ geknüpft. Erst wenn dieser doppelte Einsatz im calvinistisch ausgerichteten Späthumanismus einerseits, im reformierten Fürstenbund der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ andererseits hinlänglich deutlich herausgearbeitet ist, läßt sich die ganze Tragweite des Niedergangs der Reformierten im Reich auch in ihren literarhistorischen Konsequenzen ermessen. Mit der Schlacht am ›Weißen Berg‹ und der Niederlage der Pfalz wird auch literarhistorisch eine Entwicklung abgeblockt, der, wie die literarische Überlieferung im Umkreis des Winterkönigs zeigt, eine große Zukunft gehört und die der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ohne Zweifel eine andere Physiognomie verliehen hätte. Was unter dem Titel der Vorläuferschaft zur Opitzschen Dichtung im Eingang des 17. Jahrhunderts in den literarhistorischen Kompendien zumeist nur knapp abgehandelt zu werden pflegt, muß in Wahrheit als Gegenpol zur sogenannten ›Barockliteratur‹ in den städtischen Sprach- und Dichtergesellschaften rekonstruiert werden, wie sie sich nach einer erheblichen zeitlichen Zäsur seit den dreißiger und vor allem den vierziger Jahren auszubreiten beginnt. Die Dominanz der Kasualpoesie für private Anlässe, der Rückgang der explizit politischen Dichtung, der eher indirekt legitimistische als offen propagandistische Gestus dieser Literatur hat seine geschichtlichen Wurzeln in der Niederlage, die der Calvinismus 1620 in Deutschland erleidet und dem die Verlagerung des literarischen Geschehens zu den lutherischen Städte Nord-, Mittel- und Ostdeutschlands korrespondiert. Die gänzlich anders geartete Stellung des Luthertums zur weltlichen Obrigkeit und zum systemkritischen politischen Handeln schlägt auch in der Dichtung durch. Opitz partizipiert in seiner Jugend rückhaltlos an der Kultur- und Konfessionspolitik des Calvinismus, bevor er sich nach der Niederlage der Pfalz vorsichtigerem politischem Taktieren anbequemen muß und zeitweilig sogar in den Dienst des gegnerischen katholischen Lagers gerät. Seine Nachfolger in den städtischen protestantischen Sozietäten berufen sich auf einen Autor, der in seinen Anfängen ungleich radikalere Positionen eingenommen hat als es den Lutheranern je in den Sinn gekommen wäre. Die publizistische Unterdrückung des Trostgedichtes ist dafür nur das sinnfälligste Beispiel. Es ist diese Stellung zwischen den Fronten und zugleich diese Brückenfunktion zwischen dem älteren literarischen Späthumanismus und den nachfolgenden kommunalen ›Sprachgesellschaften‹, die die Chance eröffnet, anhand von Leben und Werk Opitzens der Grundkonstellationen der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ansichtig zu werden. Nur das gibt dem folgenden Versuch die Legitimation.
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Historische Physiognomie Schlesiens Immer wieder hat sich die Literaturgeschichtsschreibung um die Lösung des Rätsels bemüht, warum ausgerechnet von Schlesien die Entfaltung der neueren deutschen, in der Klassik gipfelnden Kunstdichtung ihren Ausgang nahm. Mit dem Auftreten Opitzens und seiner Freunde läßt Schlesien erstmals seine Rolle als Rezipient und Repetent vorausgegangener kultureller Bewegungen im Südwesten des Reiches und in Böhmen hinter sich und ergreift seinerseits eine literarische Führungsposition.7 Schlesien hatte intensiv am lateinischsprachigen Humanismus partizipiert, der sich vor allem im gut entwickelten Schulwesen des Landes zu etablieren vermochte.8 Führende Gestalten wie Georg Sauermann oder Caspar Ursinus hatten eine den üblichen Gelehrtenrahmen bereits sprengende Karriere am Wiener Hof bzw. der Kurie einschlagen können; einzelne ––––––––– 7
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Grundlegend und unüberholt: Hans Heckel: Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien. Band I: Von den Anfängen bis zum Ausgange des Barock.- Breslau: Ostdeutsche Verlagsanstalt 1929 (= Einzelschriften zur Schlesischen Geschichte; 2) [mehr nicht erschienen]. Vgl. auch die komprimierte und instruktive Fassung von Hans Heckel und Hans M. Meyer ›Literatur und Geistesleben‹ im zweiten Band der unter Anm. 10 zitierten Geschichte Schlesiens (1973), S. 181–229, 307–315. Stets heranzuziehen auch Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Band II: Sachsen und das Neusiedelland 800–1786. 2. Auflage.- Regensburg: Habbel 1923 (hier – wie im folgenden stets – nach der zweiten Auflage zitiert, in der die Trennung nach Alt- und Neustämmen in der Organisation des Stoffes im Gegensatz zur ersten Auflage (Band I: 1912, Band II: 1913) konsequent durchgeführt ist), S. 109 ff., S. 259 ff. und S. 291 ff. Grundlegend zum schlesischen Humanismus die von Gustav Bauch in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens (seit Band 40: für die Geschichte Schlesiens) (= ZGS) publizierten Arbeiten. Vgl. Gustav Bauch: Das Leben des Humanisten Antonius Niger.- In: ZGS 16 (1882), S. 180–219; ders.: Laurentius Corvinus, der Breslauer Stadtschreiber und Humanist. Sein Leben und seine Schriften.- In: ZGS 17 (1883), S. 230– 302; ders.: Beiträge zur Litteraturgeschichte des schlesischen Humanismus I–VIII.- Teil I in: ZGS 26 (1892), S. 213–248 (behandelt Johannes Heß, Bartholomäus Stenus, Heinrich Rybisch, Franciscus Faber, Johannes Troger d.J.); II in: ZGS 30 (1896), S. 127–164 (behandelt Sigismund Fagilucus und Gregorius Agricola); III in: ZGS 31 (1897), S. 123–164 (behandelt Vincentius Longinus Eleutherius, Gregorius Nitsch, Nicolaus Fabri, Wigand von Salza, Johannes Borscus, Fabian und Mathias Funck, Wieprecht Schwab, Wenceslaus Neander, Bernhardinus Bogentantz, Heinrich Rybisch); IV in: ZGS 32 (1898), S. 49–104 (behandelt Hans Metzler und Georg Werner); V in: ZGS 37 (1905), S. 120–168 (behandelt Bernhardinus Feyge und Nicolaus Winmann); VI in: ZGS 38 (1904), S. 292–342 (behandelt das Breslauer Domkapitel und den Humanismus); VII in: ZGS 39 (1905), S. 156–198 (behandelt Andreas Hundern, Johannes Martini, Johann Lange, Christoph Schönfeld, Matthias Auctus, Anselmus Ephorinus, Apicius von Kohlow); VIII in: ZGS 40 (1906), S. 140– 184 (behandelt Nicolaus Merboth, Nikolaus Tuuchen, Bernhard Mikisch). Das Humanismus-Kapitel bei Heckel: Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien (Anm. 7), S. 76 ff. Zum vorreformatorischen und reformatorischen Schulwesen in Breslau gleichfalls noch immer grundlegend Gustav Bauch: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation.- Breslau: Hirt 1909 (= Codex Diplomaticus Silesiae; 25); ders.: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation.- Breslau: Hirt 1911 (= Codex Diplomaticus Silesiae; 26). In diesem Zusammenhang auch heranzuziehen ders.: Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule.- Berlin: Weidmann 1921 (= Monumenta Germaniae Paedagogica; 57).
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Förderer oder Mäzene erwuchsen der Bewegung auch aus dem städtischen Patriziat, wie die Gestalt Rhedigers zeigt.9 Die Reformation setzte dann auch in Schlesien die rege Pflege der deutschsprachigen geistlichen Lyrik und des Kirchenliedes in Gang. Die Schulen – gleichfalls durch die Reformation entscheidend gefördert – nahmen sich des lateinischen und – mit erheblicher Verspätung – des deutschen Schuldramas an. Und zu einem Zeitpunkt, als die alte reichsstädtische Kunstübung vor allem in Gestalt des Meistergesangs im Reich selbst bereits den Höhepunkt überschritten hatte, zeitigte sie in Schlesien nochmals eine kurzlebige Blüte. Der Name Puschmanns steht dafür vor allem ein. Sein Interesse ist bezeichnenderweise – neben der durchaus epigonalen Produktion – vorwiegend auf die Sammlung und Kodifizierung des Meistergesangs gerichtet. Noch Wagenseil zehrt zu Ende des 17. Jahrhunderts wesentlich von den in Puschmanns Gründlichem Bericht des Deutschen Meistergesangs (1571) verarbeiteten Materialien und Rezepten. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand. Das Städtewesen und damit das bürgerliche Element hat – von der Ausnahme Breslau abgesehen – im 15. und 16. Jahrhundert nicht entfernt die gleiche Bedeutung gewinnen können wie im Südwesten des Reichs.10 Die schon im Mittelalter bedeutende und für Schlesien so typische Bunt- und Edelmetallgewinnung und -verarbeitung geriet zunehmend unter den Einfluß des oberdeutschen Kapitals und bildete wie anderwärts seit dem 16. Jahrhundert die Domäne der landesherrlichen Wirtschaftspolitik.11 In dem zweiten großen Gewerbezweig Schlesiens, der Textil- und speziell der Leinenindustrie, war der Einschlag des ländlichen Produktionsfaktors so groß –––––––––
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Zu Caspar Ursinus Velius vgl. Gustav Bauch: Caspar Ursinus Velius, der Hofhistoriograph Ferdinands I. und Erzieher Maximilians II.- Budapest: Kilian 1886. Vgl. außerdem zu Georg Sauermann und Caspar Ursinus Velius die Artikel von Hans Heckel und zu Thomas Rehdiger den Artikel von Arthur Biber sowie die dort angegebene Literatur in: Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Friedrich Andreae, Erich Graber, Max Hippe.Breslau: Priebatsch 1931 (= Schlesische Lebensbilder; 4), S. 6 ff., S. 12 ff. und S. 113 ff. Zur schlesischen Geschichte liegen zwei generell heranzuziehende Standardwerke vor: Colmar Grünhagen: Geschichte Schlesiens. Band I–II.- Gotha: Perthes 1884–1886; Geschichte Schlesiens. Hrsg. von Ludwig Petry, Josef Joachim Menzel. Band I: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526. 3. Auflage.- Stuttgart: Brentano 1961; Band II: Die Habsburgerzeit 1526– 1740.- Darmstadt: Bläschke 1973. Von polnischer Seite in deutscher Sprache: Beiträge zur Geschichte Schlesiens. Hrsg. von Ewa MaleczyĔska.- Berlin: Rütten & Loening 1958. Vgl. Konrad Wutke: Studien über die Entwicklung des Bergregals in Schlesien.- Berlin: Stargard 1897, sowie die von Wutke edierte Quellensammlung: Schlesiens Bergbau und Hüttenwesen. Band I: Urkunden (1136–1528).- Breslau: Morgenstern 1900 (= Codex Diplomaticus Silesiae; 20); Band II: Urkunden und Akten (1529–1740).- Breslau: Wohlfahrt 1901 (= Codex Diplomaticus Silesiae; 21). Des weiteren Felix Rachfahl: Das Bergregal in Schlesien.- In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 10 (1898), S. 55–78. Vgl. auch Hans-Wilhelm Büchsel: Rechts- und Sozialgeschichte des oberschlesischen Berg- und Hüttenwesens 1740–1806.- Breslau, Kattowitz: Schlesien-Verlag 1941 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Schlesien. Reihe III: Forschungen zur schlesischen Wirtschaftsgeschichte; 1), S. 6–18: ›Die Entwicklung des Bergregals in Schlesien zu vorpreußischer Zeit‹. Vgl. auch die einschlägigen Abschnitte bei Hermann Aubin in den beiden in Anm. 10 zitierten Bänden zur Geschichte Schlesiens sowie die – im Namens- und Sachregister leicht aufzufindenden – diesbezüglichen Abschnitte in: Hand-
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wie nirgends sonst im ostmitteldeutschen Raum.12 Hier sahen sich die Städte einer ganz erheblichen Konkurrenz der potenten Gutsherrschaften ausgesetzt, die gleichfalls im 16. Jahrhundert im Zuge der zweiten Leibeigenschaftsbewegung immens expandierten.13 Auch in Breslau selbst bildete das Gewerbe kein hervorstechendes Charakteristikum der Stadt.14 Die traditionell enge Verflechtung mit den oberdeutschen Städten, vor allem mit Nürnberg, sicherte die Versorgung mit Gewerbeerzeugnissen aller Art, vor allem aus der Metallbranche. Wenn Breslau zu einer der großen Metropolen des osteuropäischen Raumes aufsteigen konnte, so auf Grund seines Handels im Dreieck zwischen Leipzig und Görlitz, Krakau und Prag sowie Wien.15 Das Stapel- und Niederlagsrecht sicherte der Stadt eine konkurrenzlose Vormachtstellung in Schlesien. So ist es nur folgerichtig, wenn die Kaufmannschaft das beherrschende Element im Breslauer Rat darstellte, das freilich seit dem Humanismus eine erhebliche Ergänzung durch die bürgerlich-gelehrte Beamtenschaft erfuhr; die Ansprüche der Zünfte konnten hier wie anderwärts erfolgreich abgewehrt werden.16 ––––––––– 12
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buch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Hrsg. von Hermann Aubin und Wolfgang Zorn. Band I.- Stuttgart: Union 1971. Dazu grundlegend Gustav Aubin, Arno Kunze: Leinenerzeugung und Leinenabsatz im östlichen Mitteldeutschland zur Zeit der Zunftkäufe. Ein Beitrag zur industriellen Kolonisation des deutschen Ostens.- Stuttgart: Kohlhammer 1940, insbes. S. 13 f. und S. 348 ff. Speziell zu Schlesien Hermann Aubin: Die Anfänge der großen schlesischen Leineweberei und -handlung.- In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 35 (1942), S. 105– 178, sowie Ursula Lewald: Die Entwicklung der ländlichen Textilindustrie im Rheinland und in Schlesien. Ein Vergleich.- In: Zeitschrift für Ostforschung 10 (1961), S. 601–630. Generell zur Wirtschaftsgeschichte Schlesiens heranzuziehen die zusammenfassenden Artikel von Hermann Aubin in der oben in Anm. 10 zitierten Geschichte Schlesiens, Band I, S. 401–483; Band II, S. 136–180. Vgl. Felix Rachfahl: Zur Geschichte der Grundherrschaft in Schlesien.- In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 16 (1895), S. 108–199, sowie Heinz von zur Mühlen: Zur Entstehung der Gutsherrschaft in Oberschlesien. Die bevölkerungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Verhältnisse in der Herrschaft Oberglogau bis ins 18. Jahrhundert.- In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 38 (1951), S. 334–360, und die einschlägigen Abschnitte in den wirtschaftsgeschichtlichen Beiträgen Hermann Aubins innerhalb der in Anm. 10 zitierten Geschichte Schlesiens. Zu den Grundlagen vgl. Josef Joachim Menzel: Jura Ducalia. Die mittelalterlichen Grundlagen der Dominialverfassung in Schlesien.- Würzburg: Holzner 1964 (= Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte; 11). Vgl. Franz Eulenburg: Drei Jahrhunderte städtischen Gewerbewesens. Zur Gewerbestatistik Alt-Breslaus 1470–1790.- In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (1904), S. 254–285. Zur Handelsgeschichte Breslaus vgl. den exemplarischen Beitrag von Ludwig Petry: Die Popplau. Eine schlesische Kaufmannsfamilie des 15. und 16. Jahrhunderts.- Breslau: Marcus 1935 (= Historische Untersuchungen; 15). Sehr instruktiv auch die knappe Skizze von Hermann Aubin: Antlitz und geschichtliche Individualität Breslaus.- In: Bewahren und Gestalten. Festschrift Günther Grundmann. Hrsg. von Joachim Gerhardt, Werner Gramberg.Hamburg: Christians 1962, S. 15–28. Vgl. Rudolf Stein: Der Rat und die Ratsgeschlechter des alten Breslau.- Würzburg: Holzner 1963; Gerhard Pfeiffer: Die Entwicklung des Breslauer Patriziats.- In: Deutsches Patriziat 1430–1740. Büdinger Vorträge 1965. Hrsg. von Hellmuth Rössler.- Limburg/Lahn:
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Erst als zu Beginn des 17. Jahrhunderts die folgenreiche und hier zu betrachtende kulturpolitische Umorientierung von den Städten weg auf das Fürstentum hin erfolgt, ergreift Schlesien die Führung. Seit je hatte in Schlesien die politische Initiative bei den Erbfürstentümern der böhmischen Krone und insbesondere den Fürstentümern der Piasten gelegen, während die Städte mit der einen Ausnahme Breslaus lange ihre administrative Unabhängigkeit eingebüßt hatten. Hier ist nicht der Ort, die komplizierte verfassungsrechtliche und geschichtliche Entwicklung Schlesiens sowie die Situation in den einzelnen Fürstentümern nachzuzeichnen.17 Zu Anfang des 17. Jahrhunderts ist der mit Matthias Corvinus einsetzende und von den Habsburgern seit Ferdinand I. fortgeführte Versuch, die Eigenständigkeit der Fürstentümer zu brechen und die zentralen gesamtstaatlichen schlesischen Organe unter die Botmäßigkeit der Krone zu bringen, weit fortgeschritten. Inmitten des Dreißigjährigen Krieges wird ein gewisser Abschluß dieser Bestrebungen zugunsten der kaiserlichen Zentralgewalt erfolgen. Die Einrichtung eines Oberappellationsgerichts in Prag nach mehreren Anläufen, die Bildung der schlesischen Kammer als eine Institution der landesherrlichen Finanzverwaltung (1558) und schließlich die Umwandlung der Oberhauptmannschaft Schlesiens, deren Besetzung dem Herkommen nach in den Händen der schlesischen Fürstentümer gelegen hatte, in ein Oberamtskollegium, dessen Beamte der Kaiser ernennt (1629), bezeichnen die entscheidenden Schritte. Literatursoziologisch war diese sukzessive Einschränkung der Autogenität der schlesischen Fürstentümer jedoch von sekundärer Bedeutung. Entscheidend blieb vielmehr, daß auf vergleichsweise engem Raum die gelehrten Dichter eine Reihe fürstlicher Adressaten für ihre Dichtung fanden, und Hof, Verwaltung –––––––––
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Starke 1968 (= Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit; 3), S. 99–123; Julius Krebs: Rat und Zünfte der Stadt Breslau in den schlimmsten Zeiten des 30jährigen Kriegs.- Breslau: Hirt 1912 (= Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte; 15).– Die Arbeit von Theodor Goerlitz: Verfassung, Verwaltung und Recht der Stadt Breslau. Teil I: Mittelalter. Hrsg. von Ludwig Petry.- Würzburg: Holzner 1962 (= Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte; 7) soll fortgesetzt werden unter Einarbeitung der bisher unpublizierten Habilitationsschrift von Ludwig Petry: Breslau und seine ersten Oberherren aus dem Hause Habsburg 1526–1635. Ein Beitrag zur politischen Geschichte der Stadt (1937). Immer noch grundlegend Felix Rachfahl: Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreissigjährigen Kriege.- Leipzig: Duncker & Humblot 1894 (= Staatsund socialwissenschaftliche Forschungen; 13/1). Fortgeführt durch Hans Hübner: Die Gesamtstaatsverfassung Schlesiens in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.- Diss. phil. Frankfurt/Main 1922 (masch.). Knappes Resumee bei dems.: Die Verfassung und Verwaltung des Gesamtstaats Schlesien in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.- In: ZGS 59 (1925), S. 74–89. Überaus gehaltvoll und im ganzen zu wenig berücksichtigt wurde auch das Kapitel ›Schlesien‹ in: Otto Hintze: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Band VI /1: Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II.Berlin: Parey 1901 (= Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Behördenorganisation und allgemeine Staatsverwaltung), S. 495–556. Vgl. auch den – leider nur im ersten Band als eigenständiges Sachgebiet ausgewiesenen – Artikel von Heinrich von Loesch: Die Verfassung im Mittelalter.- In: Geschichte Schlesiens (Anm. 10), Band I (1961), S. 304–400, insbes. S. 364 ff.
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und Diplomatie die Möglichkeit zur Karriere im fürstlichen Dienst eröffneten. Vor allem jedoch sahen sich die Gelehrten und Dichter zu Beginn des 17. Jahrhunderts in die intensiven konfessionspolitischen Auseinandersetzungen hineingestellt, deren geheimer machtpolitischer Charakter nirgends deutlicher als in Schlesien hervortrat, ging es doch darum, mit der Wahrung des evangelischen Bekenntnisses vor allem in Breslau und den Piastenherzogtümern die ständische Souveränität gegenüber dem zentralistischen Kaiserhaus zu behaupten, für das der Katholizismus die maßgebliche territorialpolitische Klammer bildete.18 Das Engagement für eine deutschsprachige Literatur diente in diesem verzweifelten Ringen der Protestanten nicht zuletzt der kulturellen, konfessionellen und politischen Behauptung ihrer Identität. Zugute kam Schlesien dabei die überaus enge personalpolitische Verflechtung mit der calvinistischen Pfalz, in der sich bereits früher und radikaler der antikatholische Impetus mit dem nationalsprachlichen verbunden hatte. Nur die Erkenntnis der engen Filiation Schlesiens mit der Pfalz und damit dem westeuropäischen Calvinismus überhaupt vermag der Frage nach dem Ursprung der neueren deutschen Kunstdichtung historisch gerecht zu werden. Bis hin zu Nadler und Schöffler gab es auch in der Literaturwissenschaft ein Bewußtsein dieses kulturpolitischen Kräftefeldes. Seine Rekonstruktion wird nur in der Synopsis aus exemplarischer Detailstudie und weitgespanntem historischem Rahmen gelingen können. Globale, nicht verifizierbare Theorien helfen hier ebensowenig wie blinde theorielose Materialerschließung und vermeintlich neopositivistische Faktengläubigkeit. Schwerlich dürften sich die hier zur Erörterung anstehenden Fragen besser exemplifizieren lassen als am Lebensgang des Protagonisten der Bewegung, eben Martin Opitzens.19 ––––––––– 18
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Verwiesen sei hier vorerst nur auf Hellmut Eberlein: Schlesische Kirchengeschichte. 4., unveränderte Auflage.- Ulm: Verlag ›Unser Weg‹ 1962 (= Das evangelische Schlesien; 1); Max Lehmann: Staat und Kirche in Schlesien vor der preußischen Besitzergreifung.- In: Historische Zeitschrift 50/N.F. 14 (1883), S. 193–230; Paul Konrad: Die Einführung der Reformation in Breslau und Schlesien. Ein Rückblick nach 400 Jahren.- Breslau: Hirt 1917 (= Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte; 24); Heinrich Ziegler: Die Gegenreformation in Schlesien.- Halle/Saale Niemeyer 1888 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte; 24); Georg Loesche: Zur Gegenreformation in Schlesien. Troppau, Jägerndorf, Leobschütz. Neue archivalische Aufschlüsse. Band I–II.- Leipzig: Haupt 1915– 1916 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte; 117–118 und 123); Dorothee von Velsen: Die Gegenreformation in den Fürstentümern Liegnitz, Brieg, Wohlau. Ihre Vorgeschichte und ihre staatsrechtlichen Grundlagen.- Leipzig: Heinsius 1931 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; 15); Joachim Köhler: Das Ringen um die Tridentinische Erneuerung im Bistum Breslau. Vom Abschluß des Konzils bis zur Schlacht am Weissen Berg 1564–1620.- Köln, Wien: Böhlau 1973 (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands; 12); Georg Jaeckel: Die staatsrechtlichen Grundlagen des Kampfes der evangelischen Schlesier um ihre Religionsfreiheit. Teil I–III.In: Jahrbuch für Schlesische Kirche und Kirchengeschichte N.F. 37 (1958), S. 102–136; 38 (1959), S. 74–109; 39 (1960), S. 51–90. Die brauchbarste Biographie stammt aus der Feder von Marian Szyrocki: Martin Opitz.Berlin: Rütten & Loening 1956 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 4). 2., überarbeitete Auflage.- München: Beck 1974 (hier ohne die wichtigen bibliographischen Anhänge!). Immer noch unentbehrlich die zeitgenössische Gedenkrede des Opitzfreundes Chri-
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Aufstieg aus kleinbürgerlichem Milieu Opitz entstammt dem zünftigen Bürgertum Bunzlaus. Der Vater stand mit seinem Beruf als Fleischermeister bereits in einer längeren Familientradition.20 So wenig wie in anderen Städten hatten die zünftigen Gewerbe in Bunzlau einen problemlosen Zugang zum Rat der Stadt. Nach Magdeburger Recht wurde der Rat alljährlich gewählt, so zwar, daß der abgehende den neuen für das folgende Jahr bestimmte. Die Stadt zeigt ursprünglich einen aristokratischen Charakter, insofern als die Einwohner adliger Herkunft und die Kaufleute das Regiment in den Händen haben.21
Aus Wernickes Chronik der Stadt läßt sich leider kein hinlänglich deutliches Bild der Geschichte des Rates gewinnen. In den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts ist einmal ein Fleischer im Ratskollegium bezeugt. 1404 finden sich –––––––––
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stoph Colerus, die dieser im Jahr 1639 im Breslauer Magdaleneum hielt und die erst 1665 erstmals zum Druck gelangte: Laudatio Honori & Memoriae V. CL. Martini Opitii paulò post obitum ejus A. MDC.XXXIX. in Actu apud Uratislavienses publico solenniter dicta.Leipzig: Fuhrmann 1665. Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen: H. lit. biogr. IV 3501. Wieder abgedruckt bei Henning Witte: Memoriae Philosophorum, Oratorum, Poetarum, Historicorum, Et Philologorum Nostri Secvli Clarissimorum Renovatae Decas Prima.- Frankfurt/Main: Hallervord 1677, S. 439–477 (SUB Göttingen: H. lit. biogr. I 1148). Ein nochmaliger Druck nebst Übersetzung in der überaus wichtigen Dokumentation zu Leben und Werk Opitzens aus dem Kreis seiner schlesischen Verehrer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Umständliche Nachricht von des weltberühmten Schlesiers, Martin Opitz von Boberfeld, Leben, Tode und Schriften, nebst einigen alten und neuen Lobgedichten auf Jhn. Erster [und] Anderer Theil. Hrsg. von D. Kaspar Gottlieb Lindnern.- Hirschberg: Krahn 1740–1741. Hier Theil I, S. 113–278 (einschl. der reichhaltigen Anmerkungen Lindners). Vielfach einschlägiges Material zur Biographie Opitzens und zu seinen persönlichen und gelehrten Kontakten vor allem bei: Briefe G.M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Nach Handschriften hrsg. und erläutert von Alexander Reifferscheid.- Heilbronn: Henninger 1889 (= Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des 17. Jahrhunderts; 1) [mehr nicht erschienen]. Gleichermaßen zur Biographie und zum geschichtlichen Umfeld stets heranzuziehen Hermann Palm: Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Mit einem Bildnisse von M. Opitz.- Breslau: Morgenstern 1877. Reprint: Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik 1977. Schließlich finden sich reiche Beigaben in dem von Erich Trunz veranstalteten Reprint der Ausgabe letzter Hand Martin Opitz: Geistliche Poemata 1638. 2., überarbeitete Auflage.- Tübingen: Niemeyer 1975 (= Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock; 1); Weltliche Poemata 1644. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Christine Eisner hrsg. von Erich Trunz. 2., überarbeitete Auflage.- Tübingen: Niemeyer 1975 (= Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock; 2); Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil (Anm. 2). Von der erstmaligen neuen kritischen Ausgabe liegen bei Abfassung dieser Studie im Jahr 1977/78 vor: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Band I: Die Werke von 1614 bis 1621.Stuttgart: Hiersemann 1968 (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart; 295); Band II: Die Werke von 1621 bis 1626. 1. Teil [1621–1624].- Stuttgart: Hiersemann 1978 (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart; 300). Vgl. Ewald Wernicke: Chronik der Stadt Bunzlau von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.- Bunzlau: Kreuschmer 1884, unter den im Register ausgewiesenen Stellen, sowie Szyrocki: Martin Opitz (Anm. 19), S. 13. Wernicke: Chronik der Stadt Bunzlau (Anm. 20), S. 81.
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unter den achtzehn Ratsmitgliedern sechs Handwerksmeister, darunter einer aus dem Geschlecht der Opitz.22 Ob und für welchen Zeitraum dieses Zahlenverhältnis als repräsentativ gelten darf, bleibt unklar. Immerhin ist ein Jahrhundert später, 1577, ein Aufstand der Bürgerschaft gegen den Rat der Stadt bezeugt, bei dem es um die mangelnde Berücksichtigung der Interessen der Handwerker – vertreten durch ihre Geschworenen und Ältesten – im Rat geht.23 Anläßlich der Wahl des neuen Bürgermeisters spitzt sich der Konflikt zu, und die ›Aufrührer‹ wissen ihren Forderungen durch Drohung mit ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit Nachdruck zu verleihen. Wenn sie dennoch am Ende als Verlierer dastehen, wie in so vielen anderen Städten auch, so nur dank der dezidierten Parteinahme des Herzogs von Liegnitz, der die Wortführer gefangennehmen läßt und eine hohe, kaum aufzubringende Geldbuße erpreßt. Den Vertretern der Zünfte wird die Beteiligung bei der Wahl des neuen Rats ausdrücklich verwehrt; dieser rekrutiert sich weiterhin durch Kooptation. So dürfte es denn auch nur symptomatisch sein, daß Opitzens Vater als Vertreter der angesehenen Fleischerzunft der Zugang zum Rat erst offenstand, als der Sohn Karriere gemacht hatte und der Vater am Ruhm seines Sohnes partizipierte.24 Opitz mußte also seinen Ausgangspunkt vom zünftigen Bürgertum nehmen und genoß weder den Vorzug, bereits einem akademisch geprägten Elternhaus zu entstammen, das von Jugend an gelehrte Anregungen und ein literarisches Fluidum hätte vermitteln können, noch dem Patriziat anzugehören, das ihm Bildungsreisen und ein Studium im Ausland gestattet hätte. Es ist genau diese Konstellation von niederer Herkunft und raschem Aufstieg in die gelehrte und höfische Welt, die sich den Zeitgenossen als Symbol für den Erwerb sozialer Reputation vermittelst eruditärer und poetischer Leistung einprägte. Opitz bewies, daß und wie man im frühabsolutistischen Staat Karriere machen konnte. Aus dem Umkreis der Familie vermochte hier der Onkel Christoph Opitz erste Hilfestellung zu leisten, der das Amt des Rektors in der schon zu Ende des 14. Jahrhunderts bezeugten städtischen Lateinschule bis 1606 bekleidete, bevor ihn Valentin Senftleben ablöste.25 Der Übergang ins Breslauer Magdalenäum wurde dem mittellosen, aus einer kinderreichen Familie stammenden Dichter im Jahr 1614 durch ein Stipendium der Dotation Martin Rothmanns ermöglicht.26 Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich auch hier familiäre Verbindungen bewährten: die Mutter Opitzens entstammte dem angesehenen, ratsfähigen Geschlecht der Rothmanns. ––––––––– 22 23 24 25
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Vgl. ebd., S. 83 und S. 98. Vgl. ebd., S. 157 ff. Vgl. ebd., S. 474. Vgl. ebd., S. 138 ff., sowie Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 140 ff.; S. 239 ff. über Senftleben; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 14. Vgl. Carl Schönborn: Beiträge zur Geschichte der Schule und des Gymnasiums zu St. Maria Magdalena in Breslau. Teil I: Von 1266–1400; Teil II: Von 1400–1570; Teil III: Von 1570–1617; Teil IV: Von 1617–1643.- Progr. Magdaleneum Breslau 1843, 1844, 1848 und 1857. Dort Teil III, S. 48, kurz über Opitzens Besuch des Gymnasiums. Vgl. auch Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 54 f. und 149 ff.; Szyrocki: Martin Opitz (Anm. 19), S. 14 f.
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Schon in Breslau geriet der junge Opitz in die Einflußsphäre teilweise weitgereister, konfessionspolitisch engagierter Gestalten, die seine geistig-künstlerischen Interessen zu prägen und zu steuern vermochten. Im Hause des Breslauer Arztes und Dichters Daniel Rindfleisch übernahm Opitz in guter humanistischer Tradition das Amt eines Hauslehrers und gab damit zugleich wiederum ein Beispiel für so viele seiner Nachfolger in dieser Position im 17. Jahrhundert.27 Der patrizischem Geschlecht entstammende Rektor des Magdalenäums Johannes von Hoeckelshoven geriet zeitweilig in Verdacht, calvinistischen Tendenzen an seinem Institut Vorschub zu leisten.28 Bei Nikolaus Henel von Hennenfeld, dem großen Juristen und Historiographen Schlesiens, und Caspar Cunrad, dem Gelehrten, Dichter und Nachfolger von Rindfleisch im Amt des Stadtmedikus, trat diese Affinität zum reformierten Bekenntnis sogleich nach dem Einzug des Winterkönigs in Breslau hervor.29 Beide gehörten zu den treibenden Kräften bei der Einrichtung einer reformierten Gemeinde unter der Obhut des Pfälzers. Sie hatten sich auf Studienreisen u.a. im Südwesten aufgehalten, unterhielten weiterhin Kontakte mit Heidelberg und Straßburg und lenkten so den Blick Opitzens auf dieses nach wie vor bedeutendste Kulturzentrum des Reiches. Wie zielstrebig und hellsichtig sich Opitz von Anfang an der Fesseln seiner Herkunft zu entledigen trachtete und die Ratsgeschlechter und insbesondere die Akademikerschicht als Adressaten seiner Dichtung zu gewinnen suchte, zeigt sein erstes kleines Sammelwerk Strenarum Libellus (Ende 1615, Anfang 1616).30 Es ist Valentin Senftleben gewidmet und enthält u.a. Huldigungsgedichte an Bunzlauer Ratsmitglieder (Nr. 2: Georg Tieffenbach, Nr. 3: Elias Namsler, Nr. 7: David Preibisch) sowie an die akademischen Honoratioren des Ortes, den königlichen Hofrichter (Nr. 8: Christoph Stöberkeil), den Stadtsyndikus (Nr. 9: Johann Seiler), die Schulmänner (Nr. 6: Valentin Senftleben, Nr. 12: Zacharias Schubert, Nr. 17: Caspar Bergmann, Nr. 18: Martin Tscherning), die Pastoren (Nr. 4: Martin Nüßler, Nr. 11: Matthäus Wieland), den Diakon (Nr. 10: Melchior Pöpler), ––––––––– 27
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Vgl. Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 57 f. und 150 f.; J[ohann]. F[ranz]. A[lbert]. Gillet: Crato von Crafftheim und seine Freunde. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. Teil I–II.Frankfurt/Main: Brönner 1860, Teil II, S. 413 f.; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 744 f.; Szyrocki: Martin Opitz (Anm. 19), S. 14; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 11. Vgl. Schönborn: Beiträge (Anm. 26), Teil III, S. 21 f.; Gillet: Crato von Crafftheim (Anm. 27), Teil II, S. 408 f. Dazu grundlegend Gillet: Crato von Crafftheim (Anm. 27), Teil II, S. 419 ff. Zu Henelius ebd., Teil II, S. 411 ff.; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 737.– Zu Cunrad vgl. Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 57 f. und 150 f.; Gillet: Crato von Crafftheim (Anm. 27), Teil II, S. 414 f.; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 731 f. und S. 1010 (Register). Einschlägiges zu Cunrad auch bei Max Hippe: Christian Cunrad. Ein vergessener schlesischer Dichter (1608–1671).- In: Silesiaca. Festschrift Colmar Grünhagen. Hrsg. vom Verein für Geschichte und Altertum Schlesiens.Breslau: Morgenstern 1898, S. 253–288, S. 254 f.; Szyrocki: Martin Opitz (Anm. 19), S. 14 f.; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 3 ff. Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 13–25. Dort auch im Kommentar die nähere biographische Identifizierung der Adressaten.
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die Mediziner (Nr. 5: Georg Cober, Nr. 13: Nikolaus Froben, Nr. 15: Martin Opitz, »Medicinae Candidato«) und schließlich den städtischen Kantor (Nr. 16: Georg Sauer). Das ist genau jene Schicht, welche die Opitzsche Reformbewegung in den Städten, teilweise institutionalisiert in den sogenannten ›Sprachgesellschaften‹, zu tragen und weiterzuführen bestimmt war. Eine Skizze zur politischen Biographie eines Autors ist nicht gehalten, sämtliche Details zu seinem Leben und Werk nochmals zu versammeln. Sie darf sich auf die Herausarbeitung der markanten Wendepunkte beschränken und erkauft den Verzicht auf Vollständigkeit mit der Chance, die prägenden historischen Einflüsse und Begegnungen angemessen profilieren zu können.
Das Geschlecht der von Schoenaichs Den ersten lebensbestimmenden Schritt tat der junge Opitz 1616 mit dem Eintritt in das Schoenaichsche Gymnasium in Beuthen an der Oder. Es ist das Verdienst von Jörg-Ulrich Fechner, auf die Bedeutung dieser Bildungsinstitutionen in jüngster Zeit wieder aufmerksam gemacht zu haben.31 An Fechner anzuknüpfen heißt jedoch zugleich, entschieden über seine Ausführungen hinauszugehen. Die Beuthener Institution ist jener politischen und konfessionellen Kraft zuzuordnen, die für den Ursprung der neuen europäischen Nationalliteraturen einschließlich der deutschen eine gar nicht zu überschätzende Bedeutung besaß: dem Calvinismus. Mit ihm kommt Opitz in Beuthen zum ersten Mal nachhaltig in Kontakt. Das Beuthener Gymnasium ist eine Gründung Georg von Schoenaichs. Dessen politische Aktivitäten und insbesondere bildungs- und konfessionspolitische Bestrebungen bleiben ohne Kenntnis des Lebenswerks seines Vorgängers Fabian von Schoenaich unverständlich.32 Letzterer begründet die im schlesischen Raum nicht unerhebliche Rolle der Schoenaichs, indem er das Geschlecht mit dem für den Erwerb einer freien Standesherrschaft unerläßlichen Grundbesitz ausstattet, ohne doch bereits in der Lage zu sein, dem Erworbenen die rechtlich verbindliche kaiserliche Absicherung zu verschaffen. 1509 geboren, nimmt Fabian einen steilen Aufstieg vor allem in Militärdiensten für den Kaiser, bevor er sich in der zweiten Lebenshälfte dem Ausbau und der Arrondierung des zusam––––––––– 31
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Jörg-Ulrich Fechner: Der Lehr- und Lektüreplan des Schönaichianums in Beuthen als bildungsgeschichtliche Voraussetzung der Literatur.- In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hrsg. von Albrecht Schöne.- München: Beck 1976, S. 324–334. Zur Geschichte des Geschlechts vgl. Christian David Klopsch: Geschichte des Geschlechts von Schönaich. Heft I–IV.- Glogau: Gottschalk 1847–1856; Günther Grundmann: Die Lebensbilder der Herren von Schoenaich auf Schloß Carolath.- In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6 (1961), S. 229–329 (vielfach auf Klopsch fußend, doch willkommen wegen der strafferen Führung der Linien). Speziell zu Fabian von Schoenaich: Klopsch, Heft II (1850), S. 82 ff.; Grundmann, S. 241 ff., sowie K. Wutkes Artikel ›Schönaich, Ritter Fabian‹ in der ADB.
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mengebrachten Grund und Bodens widmet. Sein Einsatz im Schmalkaldischen Krieg bringt ihm die Ritterwürde und die Trägerschaft des Ordens vom Goldenen Vlies. Seitdem (1547) nutzt er die permanente Finanznot des Kaisers, um sich in Schlesien einzukaufen, und steht zu Ende der sechziger Jahre als einer der größten Grundbesitzer Schlesiens da – ein Erfolg, der freilich zu Ende seines Lebens (1591) durch systematische Bestreitung aller Rechtsansprüche von kaiserlicher Seite erneut in Frage gestellt wird. Erst Georg von Schoenaich (1557–1619) gelingt unter nochmaligem hohen finanziellen Einsatz die Vereinigung der Güter Carolath, wo er das aufwendige Renaissanceschloß erbaut (bis 1945 Stammsitz der Schoenaichs), Beuthen und Milkau; die Herrschaft Parchwitz freilich hat auch er dem Geschlecht nicht wieder zuzuführen vermocht.33 Auf diesem Besitzstand basiert die seit 1601 betriebene und 1610 definitiv kodifizierte Gründung eines Majorats, das die Besitzverhältnisse der Schoenaichs auf eine feste Rechtsgrundlage stellte. Der Erwerb eines kaiserlichen Hofrattitels (später eines wirklichen Geheimen Rats und Kanzlers bei Hof), sowie die Freiherrenwürde besiegelten den Aufstieg. Zu den vier Freiherren in Schlesien – Abraham Burggraf zu Dohna auf Wartenberg, Joachim von Malzahn auf Militsch, Weighard von Promnitz auf Trachenberg, Abraham von Promnitz auf Pleß – waren die Schoenaichs als fünfte freie Standesherrschaft getreten – ein wichtiger Schritt für die später erfolgende Erhebung in den Reichsgrafen- und Fürstenstand.34 Im vorliegenden Zusammenhang muß die Aufmerksamkeit zunächst auf die konfessionspolitische Haltung der Schoenaichs gelenkt werden. Sie läßt sich nur fragmentarisch eruieren. Christian David Klopsch, Rektor des Gymnasiums zu Glogau und Historiograph des Hauses Schoenaich, ist ihr leider nicht in der gleichen Ausführlichkeit nachgegangen, mit der er sich – gerade im Falle Fabians – Schlachtbeschreibungen und Gütertransaktionen widmet. Kristallisationspunkte bilden die Vorgänge in Sagan und Beuthen.35 In Sagan hatte Paul Lemberg seit 1522 damit begonnen, das alte Augustiner-Stift dem evangelischen Bekenntnis zuzuführen, konnte sich jedoch gegen den Widerstand einer Minorität unter den Stiftsbrüdern nicht durchsetzen; 1528 wechselte er in den Dienst der treibenden protestantischen Kraft in Schlesien, des Herzogs Friedrich II. von Liegnitz und Brieg über. Der katholische Gegendruck war nicht zuletzt von der Sagan unter––––––––– 33
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Zu Georg von Schoenaich vgl. Klopsch: Geschichte des Geschlechts von Schönaich (Anm. 32), Heft III (1853), S. 11 ff.; Grundmann: Die Lebensbilder der Herren von Schoenaich (Anm. 32), S. 255 ff.; ders.: Georg Freiherr von Schönaich.- In: Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts (Anm. 9), S. 68–74. Vgl. Klopsch: Geschichte des Geschlechts von Schönaich (Anm. 32), Heft III (1853), S. 25. Zur verfassungsrechtlichen Stellung der freien Standesherrschaften vgl. Otto Hintze: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert (Anm. 17), S. 500 f. Vgl. außer der Darstellung von Klopsch in diesem Zusammenhang J[ohann]. G[ottlob]. Worbs: Geschichte des Herzogthums Sagan.- Züllichau: Frommann 1795, insbes. Kap. IV: ›Geschichte der Religion und Litteratur in dieser Periode‹, S. 269 ff., sowie Arthur Heinrich: Geschichte des Fürstentums Sagan. Teil I: Bis zum Ende der sächsischen Herrschaft im J. 1549.- Sagan: Schoenborn 1911 [mehr nicht erschienen].
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stellten Propstei in Beuthen ausgegangen. Erst als die reformatorische Bewegung in breitere Teile der städtischen Bevölkerung eingedrungen war, gab die Propstei 1640 auf. Das Verfahren bei der Reformation der Pfarrkirche zu Beuthen war ganz so, wie zu Glogau und fast in allen Städten Schlesiens. Man stellte einen evangelischen Prediger an und trug ihm auf, nach dem Evangelium zu predigen und das heilige Abendmahl unter beiderlei Gestalt zu reichen; alle übrigen Formen des Gottesdienstes blieben ungeändert.36
Ebenso bedurfte es in Sagan selbst des Drucks von unten, bevor 1539 die evangelische Lehre eingeführt werden konnte. Zehn Jahre später ging das Fürstentum von den Wettinern auf die Habsburger über; Ferdinand I. bestellte Fabian alsbald als Burggrafen. Schon Klopsch hat sich die Frage vorgelegt, wieso dieser eifrige militärische Parteigänger des Kaisers in seinen Besitzungen selbst, wie am Beispiel Sagans und Beuthens zu verfolgen, als tatkräftiger Beschützer der Evangelischen auftrat, ohne eine verifizierbare Antwort zu finden: War er vorher [vor seinem Einzug in Sagan] schon für Luthers Lehre gestimmt, war ers nicht? Wir können darauf keine andere Antwort geben, als die: bis zu jenem Einzuge komme in allen Nachrichten über ihn keine Spur vor, daß er außer dem Schlachtfelde und dem Schwert noch einen Altar und ein Kreuz gehabt habe. Also ist er entweder ein zweiter Moriz von Sachsen gewesen, der Karl dem Fünften und Ferdinand dem Ersten nur diente, um sich durch sie zu erheben und bei der Gelegenheit auch die evangelische Lehre, oder die Bürgerschaft zu Sagan hat durch ihren brennenden Eifer für die evangelische Lehre ihn vermogt, derselben nachzudenken und beizufallen. Wir glauben das erstere, weil sein Verfahren von seinem Einzuge in Sagan an den klugen Mann verräth, der sich nach allen Seiten hin deckt und die Freundschaft der Mächtigen warm hält, um bei der gemachen und leisen Förderung seiner verborgenen Absichten keinerlei Widerstand zu finden.37
Jedenfalls wußte Fabian einerseits die Evangelischen in Sagan so gut wie nur irgend möglich gegen katholische Ansprüche zu schützen und sich andererseits doch die Augustiner durch finanzielle Zuwendungen zur Abwehr der Ansprüche des später von Opitz besungenen Seifried von Promnitz zu verpflichten. Daraufhin wurde ihm 1564 von Sagan das Patronat über die Pfarrkirche in Beuthen unterstellt. Im Jahre 1582 wurde dieser Akt ausdrücklich mit dem Verweis bekräftigt, daß Karl V., Ferdinand I. und Maximilian II. diese zwei Religionen, eine der katholischen Kirche, die andre der augsburgischen Confession mit und neben einander gehen lassen und, (sie) frei und ungehindert zu haben, geduldet werden sollten [...].38
Damit war die Grundlage für die nun deutlicher sich abzeichnende konfessionspolitische Linie Georg von Schoenaichs geschaffen. Noch zu Lebzeiten Fabians (1576) war Peter Tietz als erster evangelischer Pfarrer von dem neuen Patronatsherren in Beuthen ernannt worden. Er drang energisch auf die Abstellung des Exorzismus in der Taufe und verletzte damit den klerikal-konservativen Sinn der Einwohnerschaft. Die von der königlichen Kammer in Breslau vorge––––––––– 36 37 38
Klopsch: Geschichte des Geschlechts von Schönaich (Anm. 32), Heft I (1847), S. 83. Ebd., Heft II (1850), S. 94. Ebd., Heft I (1847), S. 87.
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brachten Anschuldigungen gegen Tietz konvergierten im Calvinismus-Verdacht, begründet in der Versorgung beuthenischer Bürger mit calvinistischen Büchern und in der Zuneigung zur calvinistischen Variante der Abendmahlslehre. Überaus bedeutsam ist nun die 1598 von Georg von Schoenaich auf neuerliche Vorhaltungen des Adels hin abgegebene Erklärung in dieser Kontroverse. Der Exorzismus sei biblisch nicht legitimiert und in der Abendmahlsfrage mache auch er sich die Calvinische Formel von der Gegenwart Christ in Brot und Wein unter den gläubigen Kommunikanten zu eigen. Im übrigen: Religion und Gewissen lasse er in seinem Gebiete jedem frei, und zwinge niemand zu einer andern, als ihm seine Erkenntniß und Andacht gebe. Unter seinen Unterthanen wären eine große Anzahl der päpstlichen und auch andern Religionen zugethan, welche alle von ihm mit Sanftmuth geduldet würden.39
Derart erweist sich – bei erkennbarer Prävalenz für den Calvinismus – Georg von Schoenaich als entschiedener Verfechter überkonfessioneller Irenik und Toleranz. Es ist genau jene aus dem Geist des Humanismus gespeiste Haltung, die auch die Schöpfung seines Gymnasiums prägt. Hier begegnet Opitz zum ersten Mal jener Verbindung humanistischer ›Aufklärung‹ in Religionsangelegenheiten mit einer calvinistisch inspirierten, tätigen Frömmigkeit, die eben in dieser Gestalt als eines der produktivsten Fermente bei der Herausbildung des absolutistischen Staates und seines überkonfessionellen Souveränitätsanspruchs gelten darf. Im Wirken Georg von Schoenaichs bewährte sich die Symbiose – wenn man Klopsch folgt – in der Fürsorge für die Kranken und Armen seines Herrschaftsgebiets und im Schutz der verfolgten Evangelischen. Unter seinem Nachfolger Johannes von Schoenaich, dem ›Unglücklichen‹, tritt wie bei den anderen protestantisch-calvinistischen Fürsten Schlesiens die politische Konsequenz dieser Überzeugung im Engagement für die Sache des Winterkönigs hervor, die auch für Opitz zu einer einschneidenden politischen Erfahrung wurde.40 Johannes, soviel darf abschließend nach diesem kurzen Blick auf die Geschichte des Geschlechts der Schoenaichs gesagt werden, bezahlte sein Bekenntnis zum calvinistischen Pfälzer mit einer von Karl Hannibal von Dohna – Opitzens späterem ›Dienstherrn‹ – betriebenen Kontributionspflicht, die die Kräfte des Geschlechts überstieg. So war dessen politisches Überleben nochmals in Frage gestellt, bevor dann unter seinem Bruder Sebastian die endgültige Konsolidierung erfolgte, die im Erwerb der Fürstenwürde zu Beginn der Preußischen Zeit Schlesiens gipfelte.41
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Ebd., Heft III (1853), S. 35. Vgl. ebd., Heft IV (1856), S. 1 ff.; Grundmann: Die Lebensbilder der Herren von Schoenaich (Anm. 32), S. 265 ff. Klopsch: Geschichte des Geschlechts von Schönaich (Anm. 32). Heft IV (1856), S. 183 ff.; Grundmann: Die Lebensbilder der Herren von Schoenaich (Anm. 32), S. 275 ff., zu Fürst Hans Carl zu Carolath-Beuthen S. 289 ff.
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Das Gymnasium Schoenaichianum zu Beuthen an der Oder Die Geschichte des von Georg von Schoenaich ins Leben gerufenen Beuthener Gymnasiums ist durch zwei ältere, inzwischen überaus schwer greifbare Darstellungen in Umrissen geklärt und vor allem durch einige wichtige Dokumente gut rekonstruierbar.42 Dabei standen Klopsch wie für seine Geschichte des Geschlechts der Schoenaichs so auch für die des Beuthener Gymnasiums die Archivbestände in Carolath uneingeschränkt zur Verfügung. Hering hatte sich in seinen – allzu bescheiden als »Nachlesen« zu Ehrhardts Presbyterologie des Evangelischen Schlesiens (1780–1789) titulierten – Studien nur auf anderweitige Zeugnisse stützen können. Wenn gleichwohl heute den Forschungen Herings vor denen Klopschs der Vorzug zuzusprechen ist, so wegen ihres höheren Sachgehalts. Klopsch gibt sich im Zeichen des erwachenden Historismus als vermeintlich voraussetzungsloser Chronist: »Jch fing an, in jener guten, alten Zeit zu leben und gewann sie immer lieber, jemehr ich sie kennen lernte.«43 Er charakterisiert die einschlägigen Gestalten und deren Programmschriften ahnungslos in den Begriffen seiner Zeit und ebnet damit jede historische Differenz schlicht ein.44 Das Beuthener Gymnasium ist der gewichtigste Bestandteil eines größeren, Kirchen-, Hospital- und Schulgründungen umfassenden Stiftungswerkes, wie es Georg von Schoenaich mit der Aufrichtung des Majorats betrieb. Die Grenzen zum schon früher installierte Paedagogium sind denn auch entsprechend fließend. Dessen Anfänge reichen bis in die Wende zum 17. Jahrhundert zurück.45 –––––––––
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Vgl. Daniel Heinrich Hering: Geschichte des ehemahligen berühmten Gymnasiums zu Beuthen an der Oder. Nachlese I–IV.- Breslau: Graß 1784–1788; ders.: Ein Anhang zur Geschichte des Beuthnischen Gymnasiums.- Breslau: Kreuzer 1789 (es handelt sich um Programmschriften des Königlichen Friedrichs-Gymnasiums zu Breslau, die im SchlesischLausitzischen Kabinett der Biblioteka Uniwersytecka (BU) in Wrocáaw verwahrt werden, die dem Verfasser dankenswerterweise Mikrofilme anfertigte; ein Exemplar mit vier der Nachlesen befindet sich auch in der Staatsbibliothek Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz); C[hristian]. D[avid]. Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums zu Beuthen an der Oder, aus den Urkunden des Fürstlich-Carolatischen Archivs und den besten darüber vorhandenen Schriften gesammelt.- Groß-Glogau: Günter 1818. Exemplare in der Berliner Staatsbibliothek sowie der BU Wrocáaw (welcher der Verfasser wiederum für die Anfertigung von Mikrofilmen zu danken hat). Fechner hat offensichtlich für seine in Anm. 31 zitierte Spezialstudie über das Schönaichische Gymnasium beide Arbeiten nicht herangezogen, obgleich sich noch ein Zugang entweder über Szyrockis OpitzBiographie (Anm. 19), Schulz-Behrends Opitz-Ausgabe (Anm. 19) oder die alten Kataloge der Deutschen Staatsbibliothek Berlin/DDR angeboten hätte.– Zu weiteren Quellen unten Anm. 55. Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. I. Wertvoll bleibt die Wiedergabe der Quellen sowie vor allem der dritte, gleichfalls jedoch vielfach auf Hering fußende Teil seines Buches ›Nachrichten von dem Leben der beuthnischen Pfarrherrn, Professoren und Lehrer‹, S. 201–322, sowie das ›Verzeichniß der Aemter an dem Gymnasium und dem Pädagogium zu Beuthen, mit Angabe der Männer, welche sie bekleidet haben, nach ihrer Zeitfolge‹, S. 323–330. Vgl. Hering: Geschichte. Nachlese IV (Anm. 42), S. 6; Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 12 ff.
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Sie knüpfen sich insbesondere an den Namen des schon oben erwähnten Peter Tietz.46 Er kümmerte sich weniger um die damals mit widrigem Eifer auf Kathedern und Kanzeln geführten theologischen Streitigkeiten, als um die Reinigung und Besserung seiner Gemeine, und wenn er gleich manche Meinung der strengen, lutherischen Gottesgelehrten standhaft und öffentlich bekämpfte, weil sie ihm mit der heiligen Schrift im Widerspruche zu stehen schien, so drang er doch noch eifriger auf die Abstellung widersinniger Gebräuche, rauschender Lustbarkeiten und einen christlich=frommen Wandel. Seiner eindringlichen Predigt war es gewiß zum größten Theile zuzuschreiben, daß Rath und Bürger der Stadt den kleinen Gelehrten=Staat, der jetzt in ihren Mauern gegründet wurde, mit besonderer Willigkeit aufnahmen und die Lehrer mit Segen wirken konnten.47
Ihm zur Seite stand Adam Liebig, Professor der griechischen Sprache in Goldberg, der nun die wichtigen Elemente des berühmten Trozendorfschen Gymnasiums in die Schoenaichsche Gründung einbringen konnte.48 Als dritte einflußreiche Gründergestalt ist Jeremias Coler zu erwähnen, Pfarrer zu Carolath und Hofprediger des Freiherrn.49 Beide Pfarrer, Tietz und Coler, pflegten – wie Georg von Schoenaich selbst, der gleichfalls »mit entschiedener Vorliebe sich auf die Seite der schweizerischen Kirchenverbesserer« neigte – genaue Verbindungen mit den reformirten Gottesgelehrten im westlichen Deutschland, vorzüglich mit Johann Piscator, Professor in Herborn, und Abraham Scultetus, Hofprediger des Churfürsten Friedrich V. von der Pfalz. Durch diese und andere Männer ward die Schule im Auslande als eine reformirte bekannt, und fleißig von daher besucht.50
Doch ging die Politik Schoenaichs und seiner Vertrauten dahin, die Kluft unter den Protestanten nicht zu vergrößern, sondern womöglich zu verringern. Liebig ist denn auch – wie mancher andere der späteren Professoren – Philippist. Der Name der Reformirten und Calvinisten ward nicht geduldet, die Einführung ihrer Gebräuche in die Kirchen der Herrschaft nicht übereilt, in den niedern Classen der Schule nach dem lutherischen Katechismus, auf dem Gymnasium späterhin nach Melanchthons ›locis communibus‹ unterrichtet; Georg selbst erklärte sich oft und bestimmt gegen theologisches Gezänk und Sectengeist, untersagte seinen Nachfolgern im Majorat sowohl, als allen Lehrern an Kirchen und Schulen, sich in Streitigkeiten über Glaubensfragen einzulassen, deren Entscheidung doch nicht zum frommen Leben und zur Seligkeit führen könne, und machte den ersteren insbesondere zur Pflicht, fest an dem augsburgischen Bekenntniß zu halten.51
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Über Tietz vgl. – außer der schon herangezogenen Geschichte des Geschlechts von Schönaich von Klopsch (Anm. 32) – Hering: Geschichte. Nachlese I (Anm. 42), S. 8; II, S. 7; IV, S. 3 f. und 6; Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 15 f. und 289 ff.; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 81. Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 16. Vgl. Hering: Geschichte. Nachlese V (Anm. 42), S. 13 f.; Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 16 ff. Vgl. auch Gustav Bauch: Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule (Anm. 8), S. 416 ff. Vgl. Hering: Geschichte. Nachlese II (Anm. 42), S. 6 f.; Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 19 f. und S. 209 ff. Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 24. Ebd., S. 25. Zum Philippismus vgl. auch Hering: Geschichte. Nachlese I (Anm. 42), S. 10.
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Deshalb konnte der durchweg evangelische Adel Schlesiens seine Söhne unbedenklich dem Schoenaichianum anvertrauen. Doch gelang es den Gegnern des Gymnasiums – treibende Kraft ist hier nach den Forschungen von Klopsch der Inhaber der Professur für Geschichte Balthasar Exner –, den Verdacht der Ketzerei geschickt zu schüren und damit dem Kaiser den willkommenen Vorwand zur finanziellen Erpressung Johannes von Schoenaichs und den Jesuiten zur Beseitigung der verhaßten Anstalt zu geben. Ende 1628, Anfang 1629 erlosch die mit so viel Umsicht ins Leben gerufene Schöpfung Georg von Schoenaichs. Sie war aus dem Zusammenbruch des Protestantismus in Schlesien nach dem Untergang der Pfalz nicht herauszuhalten. Schlesien blieb die dauerhafte Gründung einer protestantischen hohen Schule im alten Reich versagt.52
Eine irenische Stiftungsurkunde im Zeichen des ›vhraltten Catholischen Christlichen Glaubens‹ Die Aufbauphase des Paedagogiums kam mit der von Liebig verfaßten und 1614 publizierten Schulordnung zum Abschluß.53 Im gleichen Jahr wurde auch die Berufungspolitik für das Gymnasium intensiviert. Die Namen der für die neun Lehrstühle gewonnenen Professoren sind wiederholt aufgezählt worden, ebenso die von ihnen vertretenen Disziplinen.54 Keinesfalls ausgeschöpft – auch nicht bei Fechner – ist dagegen das wichtigste Dokument des Instituts, Georg von Schoenaichs von langer Hand gewissenhaft vorbereitete und im Januar 1616 unterschriebene Stiftungsurkunde.55 Einzig Hering, dem im Zuge seiner Publikationen über das Gymnasium eine Abschrift in die Hand geriet, bewies auch hier den Blick für das geschichtlich Wesentliche, indem er in seiner Paraphrase dieses Zeugnisses Schoenaichs konfessionspolitisches Vermächtnis im Wortlaut wiedergab.56 In vier knappen Artikeln wird die Kernsubstanz des christlichen Glaubens von Schoenaich resümiert: Dreieinigkeit Gottes gemäß Altem und Neuem Testament, den drei Hauptbekenntnissen und den vier Hauptkonzilien; sola gratiaTheologie »in wahrem Glauben ergrieffen«; Taufe und Abendmahl »des Leibes ––––––––– 52
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Dazu Hering: Geschichte. Nachlese II (Anm. 42), S. 5 f.; ausführlich Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42) im zweiten Teil seines Buches, S. 93 ff., dem die Aufklärung der Vorgänge im einzelnen zu danken ist. Neudruck in: Die evangelischen Schulordnungen des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Reinhold Vormbaum.- Gütersloh: Bertelsmann 1863 (= Evangelische Schulordnungen; 2), S. 109– 135. Paraphrase bei Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 30 ff. Vgl. insbes. die zweite und fünfte Nachlese in dem Werk Herings und die Biographien im dritten Teil des Werkes von Klopsch (beide Anm. 42) sowie das dort angefügte Amts- und Stelleninhaberverzeichnis. Einen Neudruck veranstaltete dankenswerterweise Konrad Kolbe: Stiftungsurkunde der Schule und des Gymnasiums zu Beuthen an der Oder aus dem Jahre 1616.- In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 3 (1893), S. 209–268. Vgl. Hering: Geschichte. Nachlese III (Anm. 42), S. 8 ff.
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vnnd Blutts Christi, alss heiliger Sacramentten«, Gebet und »gutte wergke alss früchte dess Glaubenss«.57 Dieser Kondensierung des christlichen Glaubensgehaltes liegt die Erfahrung des konfessionspolitischen Bürgerkriegs in Europa zugrunde. Bewußt wird auf alles Beiwerk verzichtet, um keinen Anlaß zu religiösen Zwistigkeiten in Schule und Gymnasium und der Herrschaft insgesamt zu geben. Die theologische Legitimation dafür ist parat. Sie läuft auf eine Auszehrung des christlichen Dogmengehalts heraus, wie sie in der Aufklärung mit der konsequenten Ethisierung der christlichen Botschaft dann ihren Abschluß erreicht. Zur Seligkeit des Menschen, so Georg von Schoenaich, reichten diese vier Artikel aus, ob Er gleich von vielen anderen Bey- vnnd neben Puncten, fragen vnd strittigkeitten, keinen oder wenigen Bericht vnndt wissenschafft habe, noch denselben beypflichte vnnd sich damit Beschwere. Den Christus am Jüngsten Gericht einen nicht richten wirdt, nach deme, Wie gelehrt vnndt hochuerstendig Er gewesen, wie zierlich, wol vnnd fundamentaliter Er von striettigen Fragen vnndt Puncten discúriren vnnd reden können; wasser profession vnndt confession Er gewesen, sondern wie er gelebet, vnnd seinen glauben vnndt Christenthumb mitt gutten wercken erwiesen. Darumb besser, es werde einer auf Christi nachfolge, denn auf wissenschafft vieler striettigen fragen gewiesen vnndt verpflichtett.58
Dieser »vhraltte Catholische Christliche Glaube« soll in der Herrschaft Schoenaich in Kirche, Schule und Gymnasium gelehrt, und alle zur gelehrten Korporation Gehörigen sollen jetzt und in Zukunft darauf verpflichtet werden, »vber iezo gemelte vier Articul, auch in allen andern Religions-Puncten, Fragen vnndt Ceremonien mit einander, so viel möglich, gleicher vnnd nit wiederwertiger mainung« zu sein. Dieser Aufforderung zum Konsens korrespondiert die zur Toleranz, »sonderlich in den iezigen Religionssstriettigkeitten der Augspurgischen Confessions Verwandten«, sofern nur die Anerkennung des Kerngehalts gewährleistet bleibt.59 Aller newen fragen, opinionen vnnd mainungen, in religionssachen, vnnd wegen unserer seligkeitt, Sie sindt wie sie wollen, sol man sich bey dieser Kirchen, Schulen vnndt Gymnasio, so viel möglich, Christlich vnnd veranttlich, genzlichen entthalten, vnnd daruon weder vor dem gemeinen Man, noch der studirenden Jugendt offendlich zu disputiren, zu predigen, zu reden vnnd gespräche zu halten, gar nicht verstattet vnnd zugelassen sein. Dan die erfahrung bezeugts, wass die Zeit hero newe fragen vnnd artt zu reden bey vielen Christlichen Gemeinen vnnd Kirchen vor zerrüttligkeitt, vnheyl vnnd verderb verursachet vnndt angerichtet, darumben sich deroselben genzlichen zu enthalten.60
Das Neue ist in der Berufung auf einen überkonfessionellen Wahrheitsgehalt des Christentums aber längst gegenwärtig, dem gegenüber die etablierten Konfessionen und deren Institutionen zu einem Sekundären herabsinken. Der geordnete und störungsfreie, friedfertige und ruhige Betrieb der Bildungsanstalt hebt ––––––––– 57 58 59 60
Konrad Kolbe: Stiftungsurkunde (Anm. 55), S. 240. Ebd., S. 240. Ebd., S. 240 f. Ebd., S. 241.
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sich als der übergeordnete Zweck vom konfessionspolitischen Hader ab. Abweichungen sind entsprechend solange gestattet, wie gewährleistet bleibt, daß der Abweichler die andern darbey vnndt darüber nit verunruhe, verachtte oder verdamme, sondern mit denselben freundtlich, friedtlich vnnd ruhig, in lieb vnndt einigkeitt lebe, vnndt sich dess gehorsambs, nach dieser stiefftung aussazes vnnd ordnung vorhalte [...].61
Genau im Zeichen dieser Argumentationsfigur legitimiert sich der frühabsolutistische Staat und etabliert sich über den konfligierenden Parteien. ›Zerrüttligkeitt, vnheyl vnnd verderb‹ ereilen nicht nur die christliche Kirche, sondern berühren zugleich den staatlichen Souveränitätsanspruch. Dieser formiert sich am Ende der ersten großen Bürgerkriegswelle um 1600 unter Berufung auf seine übergeordnete Pazifizierungspflicht. Vorbedingung dafür ist die prinzipielle konfessionspolitische Neutralität. Sie zeichnet sich um der Abwendung der Antagonismen willen auch klar in den Schoenaichschen Schöpfungen ab. Hier in Beuthen gerät Opitz in den Umkreis eines ›aufgeklärten‹ Bildungsbewußtseins, wie es den Späthumanismus um 1600 insgesamt auszeichnet und zur Symbiose mit einem Staat qualifiziert, der in seinem überkonfessionellen irenischen Gestus seine Rechtfertigung und für eine Weile seine durchaus progressive Funktion findet.
Professores pietatis et morum Das bildungsorganisatorische Komplement zu diesen Vorstellungen stellt die Schaffung eines Lehrstuhls für Frömmigkeitspraxis – pietas – neben einem solchen für wissenschaftliche Theologie – also vornehmlich Exegese und Dogmatik – dar.62 Dieser Zweiteilung – auch das hat Hering als einziger schon wahrgenommen – entspricht in den klassischen Disziplinen der Ethik und Politik die Zuordnung eines eigenen Lehrstuhls für Sittenlehre – mores.63 Sie ist das ureigenste Werk Georg von Schoenaichs und hat kein Vorbild. Die herausragende Stellung der Professuren für pietas und mores kommt auch in der gehaltlichen Hierarchisierung zum Ausdruck. Explizit werden sie in der Stiftungsurkunde an die Spitze gesetzt. Obliegt es dem Professor pietatis, die Jugend darin zu unterweisen, Wie Sie in ihrem Christentumb sich verhalten, ein recht Gottseliges heyliges Leben führen, vnndt die ganze Theologiam, vnnd alless wass inn altten vnnd Newen Testament zum Christenthumb gehörig, ad realem praxin vnndt würckliche vȰbung in omni vitae genere bringen möge[,]
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Ebd. Ebd., S. 243 f.: »So viel nun den Professorem Pietatis belanget, So ist meine Mainung nit, dass derselbige [...] der studirenden Jugendt ex sacris Biblijs wass interpretiren oder die Capita doctrinae Christianae nach dem gemeinen modo, wie sunsten in Schulen üblich, vndtt breuchlich proponiren oder derogleichen wass commentiren solte.« Vgl. Hering: Geschichte. Nachlese II (Anm. 42), S. 7.
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so dem Professor morum, die studierende Jugend für »dass gemeine weltliche wesen vnnd zustandt« angemessen zu präparieren.64 Deutlich artikuliert sich in der nochmaligen Zurückweisung kontroverstheologischer Polemik das obrigkeitsstaatliche Interesse an gehorsamen Untertanen, denn andernfalls wachsen »vnruhige vnnd zancksüchtige Leutte« heran, die »folgends vȰbell oder langsam zu einem demüttigen niedrigen Geiste vnnd Gottseeligem eingezogenem stillen Leben vnndt wandel zu bringen sindt.«65 In der Professur morum behaupten dagegen die öffentlichen, die ›politischen‹ Interessen das Feld: meine Mainung ist, das Er [der Professor morum] die Jenige, so ihre studia mehrentheilss absolviret, vnndt vorhabenss sein, in einen gewissen Standtt zutretten, vnndt entweder selbst zu regiren, zu diehnen, oder sich bediehnen zu lassen, informiren, vntterweissen vnnd lehren solle; Wie sie sich im reden vnnd geberden tam publicè quam privatim, in omnibus actionibus et in qúovis vitae genere, gegen Jedermenniglichen, so wol dehnen, so Standesvnndt ehren halben vȰber Sie, alss denen so Standess vnnd Ehren halben Ihnen gleich, auch vntter Ihnen sein, verhalten sollen, alss da sindt nach dem Königlichen: Fürstlichen: Grafen: vnnd Herren Standt (welche nitt weniger alss andere Ihre Information in moribús bedurffendt) der Adeliche Ritterstandt, die Rhätte der Könige vnnd Fürsten, die Regenten vnnd Haubtleutte, so in hohen Ämbtern siezen, vnndt nit vor sich, sondern wegen eines andern zu regiren haben: Item Krieges Obriste vnnd Befelichshabere, Richtter, Gerichtshalter, Burgermeister, Rhattmanne, Theologi, Jurisconsulti, Medict, Philosophi, Patresfamilias vnndt andere derogleichen publicae et privatae personae, so vntterrichts bedürffen, Dan die erfahrung bezeuget, dass den gelertten vntter den Euangelischen so niedriges Standess sindt, sonderlich den Theologis, Pastoribus vnnd Philosophis an Ihrem aufnemben, fortkomben, vnnd nüzlichen anlegen Ihrer Studien offtmalss nichts mehr vorhinderlich ist, denn dass Sie in moribús so gar nicht vntterrichtet, vnnd sich gar nit gegen den Obern, vnnd in dass gemeine weltliche wesen vnnd zustandt, zu schicken vnnd zu richten wissen, gereicht auch der Euangelischen Kirchen nit zu geringer verachttung. Diesem grossen gebrechen vnnd mangell nun, etzlicher massen abzuhelffen, erachtte Ich, solte obgemelte profession nit vndienstlich sein.66
Die an den Schluß der Studien verlegte Schulung ist für den regierenden Hochadel ausdrücklich mitbestimmt, hat ihren expliziten Adressaten jedoch in den Angehörigen der ›mittleren‹ Stände, es seye gleich einem Adelichen, Ritterssman oder Regentten, oder Theologo vnnd Pastore, oder Andern, vnnd zwar solchen Personen oder Ständen, darzu vermuttlich die Auditores gelangen, oder mit denen Sie in künfftig zu negotijren haben werden.67
Vornehmste Bezugsgruppe neben dem kleineren Adel ist die gelehrte Beamtenschaft des Territorialstaats sowie die kommunale gelehrte Bedienstetenschicht. Das gravierendste Defizit ist bei dem sich aus den niederen und unstudierten Schichten rekrutierenden Personenkreis zu konstatieren. Wurde bekanntlich das Theologiestudium vielfach wegen der kirchlichen Dotationen gewählt, die auch dem Unbemittelten einen Universitätsbesuch gestatteten, so verschärfte sich bei ––––––––– 64 65 66 67
Kolbe: Stiftungsurkunde (Anm. 55), S. 244 und S. 246. Ebd., S. 244. Ebd., S. 246. Ebd., S. 247.
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dieser in den Staatsdienst aufsteigenden Schicht das Problem der angemessenen Integration. Im Dokument Schoenaichs erfolgt die Argumentation aus der Perspektive der Betroffenen. Gerade den Unterprivilegierten sollen mittels des Studiums der mores der berufliche Aufstieg und die gesellschaftliche Anpassung erleichtert werden. Tatsächlich stellt es jedoch zugleich ein Zeugnis für den ständeübergreifenden Anspruch des frühabsolutistischen Staates dar, sich in einer homogenen Beamtenschicht angemessen repräsentiert zu wissen. Die erstmals reklamierte Professur morum belegt ein Doppeltes: Die Adaption der vom frühabsolutistischen Staat deklarierten Normen auf seiten des Adels – Georg von Schoenaich hatte bei seinen prekären Verhandlungen in Wien und Prag um die Restitution seines Familienbesitzes allen Anlaß, die ›politischen‹ Tugenden schätzen zu lernen – und die Umpolung, die Zuspitzung der tradierten humanistischen Wissenschaften auf Praxis und staatliche Fungibilität hin. Die Entdogmatisierung der theologischen Disziplinen und die Funktionalisierung der Wissenschaften in Hinsicht auf die Ansprüche des frühmodernen säkularisierten Staates gehören zusammen. Opitz hätte an keiner Stelle eine ›modernere‹ Ausbildung erhalten können. Die Gestalt Caspar Dornaus Für die Professur der Sitten konnte bekanntlich der berühmte Gelehrte Caspar Dornau gewonnen werden. Seine Berufung trug wesentlich zum Ruhm der neu gegründeten Anstalt, vor allem im Südwesten, bei. Es muß als Indiz für den Zustand der Barockforschung gelten, daß uns zwar jedes Jahr ungezählte neue Versuche über Grimmelshausen, Gryphius etc. beschert werden, die Biographie einer Schlüsselgestalt zu Beginn des 17. Jahrhunderts aber – wie die so vieler anderer einflußreicher Persönlichkeiten an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert – nach wie vor aussteht. Fechner hat auf dieses Defizit völlig zu Recht zuletzt hingewiesen.68 In der Neuen Deutschen Biographie wurde sogar der Artikel über Dornau gestrichen. Hier kann in gar keiner Weise ein wie auch immer gearteter Ersatz geleistet werden. Dornaus Vita weist manche Parallele mit derjenigen Opitzens auf – Folge einer sie umgreifenden geschichtlichen Konstellation.69 Dornau ist gleich im ––––––––– 68 69
Fechner: Der Lehr- und Lektüreplan des Schönaichianums in Beuthen (Anm. 31), S. 329 f. Rekonstruktion der Vita Dornaus nach der Leichenpredigt des Superintendenten und Hofpredigers zu Liegnitz Johann Neomenius die 1632 in Brieg gedruckt wurde, erstmals bei Hering: Geschichte. Nachlese V (Anm. 42), S. 4 ff. Vgl. auch ebd., Nachlese I, S. 11 ff.; II, S. 8; IV, S. 9. Vgl. des weiteren Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 47 ff. und S. 214 ff., sowie Johann Karl Gottfried Schütt: Zur Geschichte des städtischen Gymnasiums zu Görlitz bis zu Baumeister’s Amtsantritt.- Progr. Görlitz 1865, S. 27 f. und S. 53 f. Der Dornau-Artikel in der ADB V (1877), S. 351–352 stammt von Hermann Palm. Vgl. auch: Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 708 und S. 1011 f. (Register). Die Sammlung Reifferscheids ist auch im Blick auf ihren reichhaltigen Anmerkungsteil grundsätzlich für die Vita Dornaus hinzuzuziehen.
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Anschluß an ein dreijähriges Studium der Philosophie und Medizin an der Universität Jena (ab 1594) mit der höfischen Welt in Kontakt gekommen, und zwar in Begleitung eines venezianischen Patriziers, des Chemikers und Alchimisten Gregorius Jordanus, für den er aus dem Lateinischen und Deutschen übersetzte. Ein Aufenthalt in Prag knüpfte zunächst den Kontakt zum kaiserlichen Hofmedicus Hektor Muscaglia, einem Veronesen, bei dem Dornau seine medizinische Ausbildung vervollständigte. Entscheidend wurde dann jedoch – nach Hauslehrertätigkeiten im böhmischen Adel – der Übertritt in den Dienst des böhmischen Barons Sigismund von Smirziz. Dessen Sohn Jaroslaus begleitete Dornau zunächst nach Görlitz, sodann 1603 nach Basel, wo er selbst 1604 den Doktor der Medizin erwarb und in einem Akt besonderer Auszeichnung in die medizinische Fakultät Basels aufgenommen wurde. Von Basel aus ging er 1605 – immer noch im Dienste Jaroslaus von Smirziz’ – weiter nach Heidelberg, einer Stadt, mit der die Kontakte fortan erhalten blieben; Gruter sandte noch im Jahr 1617 ein Glückswunschgedicht zum Amtsantritt in Beuthen. 1606 hatte Dornau dann Gelegenheit, den jungen von Smirziz auf seiner Kavaliersreise durch die politisch maßgeblichen Länder Westeuropas, durch Frankreich, England und die Niederlande, zu begleiten; über Sachsen und Meißen ging die Reise nach Böhmen zurück. 1608 heiratete Dornau die Tochter eines Adligen, Johann Glich von Milziz, in Görlitz und übernahm das Rektorat des dortigen Gymnasiums, das er bis zur Übernahme seiner Beuthener Professur 1616 innehatte. Wie seinen großen Schüler Opitz – und in schöner Übereinstimmung mit seiner philosophia morum – hielt es ihn jedoch nicht auf Dauer im akademischen Milieu. Seit 1620 war er im Auftrag schlesischer Fürsten und Stände in diplomatischen Missionen tätig, zunächst in Ungarn, wo er mit Bethlen Gábor zusammentraf, danach in Warschau. 1622 übernahm er die Stelle eines fürstlichen Rates und Leibarztes bei Johann Christian von Brieg, dem Dienstherrn und Mäzen auch Opitzens, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1632 innehatte. Dornau war also weitgereist und erfahren im Adelsdienst, bevor er seine Lehrtätigkeit in Görlitz und Beuthen aufnahm. Es ist selbstverständlich, daß diese Erfahrungen in seinen programmatischen Schriften Spuren hinterlassen mußten und seinen Lehrbetrieb bestimmten. Aber auch seine politische Aktivität blieb davon nicht unberührt, nachdem er spätestens in der Pfalz mit dem politischen Credo des Calvinismus in Berührung gekommen war. Hering berichtet bereits – und zwar unter Bezugnahme auf Briefe Dornaus, die später in Reifferscheids Anthologie gedruckt wurden – von einem in Beuthen verfertigten »›Encomium Silesiae‹, welches er dem erwähnten böhmischen Könige Friederich von der Pfalz in der Gestalt einer Lobrede zuschreiben woll––––––––– Dazu Max Rubensohn: Der junge Opitz.- In: Euphorion 2 (1895), S. 57–99; Euphorion 6 (1899), S. 24–67 und S. 221–271, Teil II, S. 44 f. und S. 224 ff.; Curt von Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹. Eine Neuwertung.- In: Publications of the Modern Language Association of America 69/3 (1954), S. 566–590, S. 567 ff.; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 26 f. [jetzt maßgeblich Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk.- Tübingen: Niemeyer 1994 (= Frühe Neuzeit; 20)].
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te.«70 Von Bibran und von Senitz rieten jedoch ab – offensichtlich, um zu verhindern, daß sich Dornau politisch exponierte. Über seine politischen Sympathien kann es dennoch keinerlei Zweifel geben. Dornau gehört – genau so wie Tobias von Schwanensee und Bregoschütz in Beuthen – in die illustre Reihe der Vermittler westeuropäisch-calvinistischen Gedankenguts und ästhetischer Theorie und Praxis, denen Opitz in seinen Jugendjahren in dichter Folge begegnete.71
Dornaus Antrittsrede ›Charidemus‹ Im Januar 1617 trat Caspar Dornau sein neues Amt in Beuthen mit erheblicher Verzögerung nach einer längeren Krankheit an. Opitz weilte bereits in Beuthen. Er dürfte Dornaus Antrittsrede gehört haben: Charidemus, hoc est, De Morum Pulchritudine, Necessitate, Utilitate, ad civilem conversationem, Oratio Auspicalis, Habita in Illustri Panegyre gymnasii Schönaichii ad Oderam.72 Sie ist zuletzt von Fechner in Bezug auf ihren hochinteressanten Lektürekatalog behandelt worden.73 Hier soll ein Blick auf die leitenden Gedanken der Rede selbst geworfen werden. Die – überaus ergiebige – Exegese der zahllosen weiteren Reden und Programmschriften Dornaus würde den Rahmen sprengen und muß einer Biographie vorbehalten bleiben.74 ––––––––– 70
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Hering: Geschichte. Nachlese IV (Anm. 42), S. 9. Vgl. in der Reifferscheidschen Sammlung (Anm. 19) die Briefe Nr. 51, 57 und 74 von Dornau an von Bibran und Nr. 75 an von Senitz. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Verbindung Dornaus zum böhmischen Baron Wenzel von Budowa (in älteren Biographien – und noch bei Schütt/Struve – häufig verwechselt mit von Smirziz), auf dessen Schloß sich Dornau 1615/16 von einer Krankheit erholte (Rubensohn: Der junge Opitz (Anm. 69), Teil II, S. 230 f.). Budowa wurde als Parteigänger Friedrichs V. im Juni 1621 in Prag hingerichtet. Vgl. Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 717. Auch über Tobias von Schwanensee und Bregoschütz gen. Scultetus – »important figure in the cultural world of Silesia before Opitz« (Leonard Forster: Charles Utenhove and Germany (1971).- In: ders.: Kleine Schriften zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert.- Amsterdam: Rodopi 1977 (= Daphnis. Beiheft; 1), S. 81–100, S. 89) – fehlt eine Biographie. Vgl. Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 155 f.; Martin Opitzens ›Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae‹ und ›Buch von der Deutschen Poeterey‹. Hrsg. von Georg Witkowski.- Leipzig: Veit 1888, S. 15 f.; Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹ (Anm. 69), S. 567; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 40. Vgl. auch die Ekloge ›Daphnis‹ von Opitz für Scultetus ebd., S. 77–80 [vgl. jetzt Klaus Garber: Daphnis. Ein unbekanntes Epithalamium und einer wiederaufgefundene Ekloge von Martin Opitz in einem Sammelband des schlesischen Gymnasiums Schönaichianum zu Beuthen in der litauischen Universitätsbibliothek Vilnius.- In: ders: Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2012 (= Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas; 4), S. 1–157]. Dornaus Rede Charidemus erschien 1617 bei dem Drucker des Gymnasiums Johann Dörffer. Zitiert im folgenden nach dem Exemplar in der Sammlung Faber du Faur (Nr. 64). Vgl. Fechner: Der Lehr- und Lektüreplan des Schönaichianums (Anm. 31), S. 330 ff. Eine Bibliographie der Schriften Dornaus findet sich bei Hering: Geschichte. Nachlese V (Anm. 42), S. 6 (Ergänzung zu Ehrhardts Angaben) sowie bei Klopsch: Geschichte des berühmten Schönaichischen Gymnasiums (Anm. 42), S. 221–229. Eine Sammlung seiner Schriften in Caspar Dornau: Orationum aliorumque scriptorum tomus I–II. Ed. Antonius
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Die Rede ist einem seiner adeligen Zuhörer gewidmet, unter dessen Schutz nun die Publikation gestellt wird, Georg Rudolf von Zedlitz. Er sei zwar keiner der Großen des Landes, doch ausgezeichnet in Wissenschaften und Tugenden und derart den Ruhm des ehrwürdigen Geschlechts erst vollendend – ein Gemeinplatz gewiß, der indes auch durch häufigen Gebrauch nichts an Aktualität einbüßte. Die Rede selbst hat ihren Schwerpunkt zunächst im traditionellen, auf Platon sich berufenden Preis der in der Vernunft fundierten Schönheit und ihrem vornehmsten Ausdruck, der menschlichen Rede. Doch schon in diesem aus dem älteren Humanismus überlieferten Argumentationsmuster erscheinen einzelne Elemente akzentuiert, die auf das geheime Zentrum der Rede verweisen, die Umfunktionierung und Neubegründung der alten philosophia practica. Auffällig ist bereits die Insistenz, mit der Dornau die in alter Tradition postulierte Harmonie von innerer und äußerer Schönheit in den gesellschaftlichen Bereich hinein verlängert und mit Beispielen speist. In der häßlichen, die Harmonie verletzenden Gebärde, dem unschönen Auftreten, verrät sich ein Mangel an mondänem conduite, zu der der »candidatus elegantiae« gerade hingeführt werden soll.75 Das elegantia-Ideal, dem sich Dornau verpflichtet weiß, schließt auch in der gelungenen Rede die ständige Bezugnahme auf den Adressaten und also den fleißigen Gebrauch von Beispielen ein. So figuriert denn Diogenes in Dornaus Antrittsrede als wiederholt zitierte Inkarnation unmenschlichen – weil ungeziemenden – Verhaltens. In die Ablehnung seiner Lebensmaximen fließen gewiß auch theologische und moralphilosophische Reflexionen ein. Verworfen wird jedoch vor allem sein Desinteresse an Schönheit, insofern sich in ihm die Mißachtung gesellschaftlicher Form, gesellschaftlichen Umgangs manifestiert. Die von Dornau – gemäß dem Auftrag Schoenaichs – konzipierte Disziplin der mores, »quae tota activa est«, steht selbständig neben den alten Wissenschaften der Ethik und der Politik.76 Separata nempe est ab ea Philosophiae parte; quae hactenus pro pulpitis Scholarum, Ethices ac Politicae nomine tractata fuit. Quanquam enim haec quoque recens Professio, inaudita superioribus seculis, cum virtute omne suum habet commercium; adque eam ducit Elegantiae Candidatos: id tamen proprium obtinebit; ut praecepta omnia non nisi vitae activae et conversationi civili accommodet.77
Diese philosophia morum hat lange vor der ›politischen‹ Philosophie Weises ihr Telos in der Schulung weltklugen Handelns. Das aber setzt, wie Dornau immer wieder betont, vor allem und in erster Linie die Kenntnis der Situation, d.h. der Umstände, der Zeit und des Orts, des gesellschaftlichen Milieus und der rhetori–––––––––
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Schmiedt.- Görlitz: Zipper 1677. Zu den Briefen Dornaus vgl. Fechner: Der Lehr- und Lektüreplan des Schönaichianums (Anm. 31), S. 330, Anm. 12. Dringend einer eingehenden Interpretation bedürfte vor allem Dornaus Görlitzer Programmschrift ›De severitate ac lenitate in republica et schola‹ in: Gymnasii Gorlicens. Disciplina Et Doctrina edita à Caspare Dornavio.- Görlitz: Rhamba 1609, Bl. E1r–H1v. Exemplar des Einzeldrucks in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 202.21 Quod. (5). Dieser Ausdruck mehrfach in der Rede. Dornau: Charidemus (Anm. 72), Bl. D1v. Ebd., Bl. G1v f.
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schen Wirkungen voraus, denn nur so ist Effizienz verbürgt. Dazu gehört nicht zuletzt die genaue Beobachtung der ständischen Ordnung, der gesellschaftlichen Hierarchie. Die Rede ist getragen von tiefer Sympathie für die Beachtung des Zeremoniells und vor allem die Beobachtung höfischer Umgangsformen. Bitterer Spott ergießt sich dagegen über jene, die die gesellschaftlichen Rangverhältnisse in ihrem Verhalten nicht respektieren. Insbesondere die mangelnde Ehrerbietung gegenüber Regenten (und Amtsträgern, wie das Beispiel Diogenes zeigt) unterliegt der Kritik von seiten Dornaus. Elegantes Auftreten – so das immer wieder bemühte Gegenbeispiel des Aristippos – weiß sich den Großen angenehm zu machen. Auf den Hof hin ist dieses Erziehungsprogramm konzipiert, in ihm hat es seinen offenen und geheimen gesellschaftlichen Bezugspunkt. »Nos in aula aequè ac locorum alibi personam tuebimur cum dignitate nostram: ubi haec nostra philosophandi ratio, quasi quaedam comes atque gubernatrix menti providae adjungatur.«78 Daß diese philosophia morum die Regulation der Affekte mitumfaßt, ist selbstverständlich. Die Beispiele aus Historie und Politik, die Dornau gemäß der Forderung Schoenaichs immer wieder einzuflechten weiß, demonstrieren zur Genüge, wie gefährlich die passio dem Untergebenen gerade im Umkreis des Hofes werden kann. Deshalb vermag die Verspottung des Stoikers Diogenes mit der Rehabilitierung der Stoa von seiten der Späthumanisten angesichts der aufsteigenden absolutistischen Monarchien Hand in Hand zu gehen. Immer wieder verweist Dornau auf den öffentlichen Frieden und die private Eintracht (»paci publicae, privataeque concordiae«) als Früchte praktizierter philosophia morum.79 Ihre disziplinierende Funktion wird expressis verbis hervorgehoben: »Hac disciplinâ Imperator saepè dissolutum exercitum redegit in ordinem: hac disciplinâ Magistratus retinuit intra legum observantiam cives«.80 In Beuthen, wo Opitz von Anfang 1616 bis 1618 weilte, konnte er die Bekanntschaft mit der neuen überkonfessionellen Irenik im Zeichen eines ›aufgeklärten‹ Calvinismus machen, die militanten Antikatholizismus keinesfalls ausschloß, wie sogleich zu zeigen. Zugleich war er auch Zeuge der Konstitution einer neuen philosophia practica, in der – ungeachtet des fortlebenden theologischen Rekurses – der okkasionelle, auf die höfische Welt bezogene Aspekt dominierte. Der in Beuthen entstandene Aristarchus spiegelt diesen Umschwung bereits. Leben und Werk blieben jedoch den vom Gymnasium in Beuthen ausgegangenen Impulsen verpflichtet.
Frankfurter Interim Der Beuthener Aufenthalt Opitzens galt der Vorbereitung auf das Universitätsstudium. Ein ordnungsgemäßes Studium, womöglich sogar verbunden mit einer ––––––––– 78 79 80
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Reise zu den renommierten Bildungsstätten des Auslands, war ihm aus finanziellen Gründen verwehrt: Was Opitz an gelehrtem Wissen zusammenbrachte, verdankte er einem zähem Selbststudium und Anregungen einflußreicher Persönlichkeiten, denen er näherzutreten und die er für sich zu interessieren vermochte. An der Schlesien nahe gelegenen protestantischen, seit 1613 reformierten Universität Frankfurt/Oder hat sich Opitz kurzfristig aufgehalten.81 Es ist fraglich, ob es sich bei dem Martin Opitz in den Matrikeln für das Wintersemester 1612 um den vorab inskribierten Dichter oder um einen Namensvetter handelt. Angesichts der durchaus geläufigen Praxis, auch Minderjährige vor einer möglichen Aufnahme des Studiums zu inskribieren, dürfte ersteres zutreffen.82 In die Frankfurter Zeit Opitzens fällt die Bekanntschaft mit Ernst Schwabe von der Heyde, auf die hier nicht näher einzugehen ist.83 Opitz weilte mit dem Jugend- und Schulfreund Bernhard Wilhelm Nüßler in Frankfurt.84 Dieser strebte über ein juristisches Studium von vornherein ein höfisches Amt an. Sein erstes gedrucktes Werk, der Princeps literatus (1616), ist Georg Rudolf von Liegnitz gewidmet, der sich als Dienstherr für Opitz und seinen Jugendfreund vor allem anbot. Über eine Hauslehrerstelle beim Liegnitzer Rat Andreas Geisler avancierte Nüßler zum fürstlichen Sekretär und sodann zum Rat der Fürsten von Liegnitz und Brieg. Er blieb in dieser Position eine wichtige, wiederholt für Opitz tätig eingreifende Mittelsperson zum Hof der Piasten. Colerus berichtet, daß Opitz sich unter dem Einfluß Henel von Hennenfelds den schönen Wissenschaften und der Rechtsgelehrsamkeit widmen wollte. Nimmt man die Angabe von Colerus hinzu, daß sich Nüßler und Opitz in Frankfurt/Oder »den Weg zu dem Herzog–––––––––
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Zur Bedeutung der Universität Frankfurt an der Oder für Schlesien liegen zwei neuere, zeitlich aufeinander abgestimmte Untersuchungen vor: Gottfried Kliesch: Der Einfluß der Universität Frankfurt (Oder) auf die schlesische Bildungsgeschichte, dargestellt an den Breslauer Immatrikulierten von 1506–1648.- Würzburg: Holzner 1961 (= Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte; 5), hier S. 12 ff.; Otto Bardong: Die Breslauer an der Universität Frankfurt (Oder). Ein Beitrag zur schlesischen Bildungsgeschichte 1648– 1811.- Würzburg: Holzner 1970 (= Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte; 14), hier S. 9 ff.; darüber hinaus wichtige Überblicke über die Bedeutung anderweitiger europäischer Universitäten für Schlesien. Zum Aufenthalt Opitzens in Frankfurt zuletzt Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹ (Anm. 69), S. 575 f. Vgl. zuletzt Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 22, Anm. 2; Kliesch: Der Einfluß der Universität Frankfurt (Oder) (Anm. 81), S. 20, Anm. 55 (bezieht die Inskription von Martin Opitz im Winter 1612 auf den Dichter); S. 66 f. zur Betonung des Calvinismus-Einflusses auf Opitz schon in der Breslauer Gymnasialzeit; S. 160 f. eine Kurzbiographie. Ein Hinweis auf die Bedeutung des Übertritts der Kurfürsten von Brandenburg zum Calvinismus für die Universität, S. 19. Vgl. Paul Schultze: Martin Opitz und Ernst Schwabe von der Heyde.- In: Archiv für Litteraturgeschichte 14 (1886), S. 241–247; Max Rubensohn: Ernst Schwabe von der Heyde.In: Euphorion 1 (1894), S. 58–63 und 384–385; ders.: Der junge Opitz (Anm. 69), Teil II, bes. S. 237 ff.; R. Schlösser: Ronsard und Schwabe von der Heide.- In: Euphorion 6 (1899), S. 271–276; Martin Opitzens ›Aristarchus‹ (Anm. 71), S. 24 f.; Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹ (Anm. 69), S. 586 f. Zu Nüßler vgl. Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 149; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 709 f. und das Register S. 1028; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 30 ff.
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lichen Hofe nach Lignitz« bahnten, der nicht nur über die poetische Produktion erfolgen konnte, auf die Colerus für Opitz verweist, so spricht manches für ein auch von Opitz intendiertes Jurastudium, denn nur dieses öffnete die begründete Aussicht auf ein Hofamt.85 Während Nüßler jedoch in Schlesien verblieb, bot der vorzeitige Abbruch des Studiums in Frankfurt für Opitz die Chance, außerhalb Schlesiens neue Anregungen zu empfangen. Sein Aufenthalt in Heidelberg und die daran sich anschließenden Reisen stellen einen Höhepunkt in seiner Biographie dar. Opitz gelangt damit ins Gravitationszentrum politischer und konfessioneller, gelehrter und ästhetischer Innovationen. Aufbruch nach Heidelberg Heidelberg als Residenz der Pfälzer Kurfürsten bildete im Reich die Vorhut des Calvinismus mit den entsprechenden, zeitweilig lebhaften politischen Kontakten zum westeuropäischen Calvinismus insbesondere der Niederlande und Frankreichs. Gab es im Reich und insbesondere in Schlesien eine Hoffnung auf die Stabilisierung der protestantischen Position und speziell bei den Calvinisten auf ihre reichsrechtlich verbindliche Anerkennung und Selbstbehauptung sowohl gegenüber Katholiken wie gegenüber Protestanten, so knüpfte sie sich an die Pfälzer Dynastie. Wie kaum jemals wieder in der Geschichte der deutschen Barockliteratur sind die Anfänge der neuen deutschen Kunstdichtung in Heidelberg mit den gleichzeitigen konfessionspolitischen Aktivitäten aufs engste verknüpft. Dichtung begreift sich hier nicht nur indirekt legitimistisch, sie nimmt in den verschiedensten literarischen Medien engagiert für die calvinistische Sache Partei und treibt auf ihre Weise den politischen Prozeß durch gezielte und unverhüllte Voten mit voran. Opitz inauguriert diese literaturpolitischen Unternehmungen keineswegs, sondern findet sie bei seinem Eintreffen bereits vor. Wie sehr er jedoch alsbald in ihren Bann gerät, und in Schlesien vorbereitete Positionen nun ihre Konkretisierung erfahren, zeigen seine in Heidelberg entstehenden politischen Dichtungen. Sie haben bisher sehr viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen als seine Liebesgedichte und seine Kasualproduktion im engeren Sinne. Und doch vermitteln gerade sie einen Begriff von den Möglichkeiten, die die neue humanistisch geprägte deutsche Kunstdichtung, begünstigt und stimuliert durch eine politische Konstellation von größter geschichtlicher Tragweite, einen Moment lang in ihren Anfängen besaß. Sie hat die hier sich eröffnenden Chancen im Rahmen des historisch Möglichen voll genutzt. Wenn später im Umkreis der ––––––––– 85
Colerus: Lobrede (Anm. 19), S. 156. Vgl. dazu den entsprechenden Passus in der Rede des Colerus, hier S. 59 f. Auch in Heidelberg hörte Opitz ja römisches Recht. »Anscheinend nur ein Kolleg ungern und ohne Erfolg, weshalb er es nie zu der angestrebten Stelle im Staatsdienst brachte, die Kirchner und Nüssler ohne Mühe erreichten.« (Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹ (Anm. 69), S. 576).
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städtischen Sprach- und Dichtergesellschaften anstelle der großen historischen Perspektive so häufig provinzielle Enge tritt, so ist dieser Umstand nicht zuletzt dem geschichtlichen Umbruch geschuldet, der durch das Scheitern des Winterkönigs so sinnfällig bezeichnet wird. Anders als dem Nachbarvolk blieb den reichsdeutschen Calvinisten unter Pfälzer Führung der politische Erfolg versagt. Die literaturpolitischen Konsequenzen waren einschneidend. Das zeigt sich auch am Beispiel Opitzens. Die von seiner Gestalt ausgehende Faszination gründet nicht zuletzt darin, daß er am politisierenden Heidelberger Späthumanismus partizipiert hatte und sich nach dem Untergang der Pfalz nun arrangieren mußte. Der geschichtliche Gehalt, die politische Dimension und Perspektive seiner Heidelberger Dichtung erschließt sich – wie stets nur – in der Rückprojektion auf den geschichtlichen Prozeß. Er ist daher hier in aller gebotenen Kürze zunächst zu skizzieren.86
Die Pfalz mit der Heidelberger Residenz als Vorhut des Calvinismus Die Reformation hatte die Pfalz schon früh erreicht, ohne sich freilich zunächst der Förderung von seiten der monarchischen Spitze zu erfreuen. Die Pfalz blieb unter dem im alten Glauben verharrenden Ludwig V. (1508–1544) ein ›konfessionelles Neutrum‹, womit zugleich gesagt ist, daß sie reformatorischen Einwirkungen keinen Widerstand entgegensetzte.87 Insbesondere die Ritterschaft wechselte vielfach zum Luthertum herüber.88 Wichtig für die protestantische Sache waren die traditionell engen Beziehungen zu den oberrheinischen reformierten Metropolen Straßburg und Basel. Während die vordem unter Kurfürst Philipp führende humanistische und moderne Universität mehrheitlich am Katholizismus festhielt und zahlreiche der vom reformierten Protestantismus angezogenen Studenten verlor, zogen umgekehrt viele bürgerliche graduierte Räte aus Oberdeutschland in die pfälzische Hauptstadt und bildeten das maßgebliche Ferment beim Übergang des Kurfürstentums zum reformierten Bekenntnis. ––––––––– 86
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Das folgende in Anlehnung an Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619.- Stuttgart: Klett 1970 (= Kieler Historische Studien; 7). In der Arbeit von Press ist die gesamte einschlägige Literatur angeführt und ausgeführt. Das gleiche gilt für den instruktiven Artikel von W[ilhelm]. Volkert: Kurzpfalz zwischen Luthertum und Calvinismus (1559–1620).- In: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. von Max Spindler, Andreas Kraus. Band III: Franken, Schwaben, Oberpfalz bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Teilband II.- München: Beck 1971, S. 1306–1317. Eine bibliographische Wiederholung erübrigt sich daher an dieser Stelle. Knappes Resumee auch bei Claus-Peter Clasen: The Palatinate in European History 1555–1618.- Oxford: Blackwell 1966. ›Revised edition‹ des erstmals 1963 unter gleichem Obertitel, jedoch mit dem variierenden Zusatz ›1559–1660‹ erschienenen Werkes. Grundlegend zur Geschichte der Pfalz immer noch: Ludwig Häusser: Geschichte der rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen. Band I–II.- Heidelberg: Mohr 1845. Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86), S. 172. Dazu die außerordentlich instruktive Studie von Volker Press: Die Ritterschaft im Kraichgau zwischen Reich und Territorium 1500–1623.- In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 122/N.F. 83 (1974), S. 35–98.
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Dieser Zustrom gelehrt-reformierter Kräfte schwoll unter der Regentschaft Friedrichs II. (1544–1556) insofern noch an, als nach dem Schmalkaldischen Krieg die oberdeutschen reformierten Zentren (Straßburg, Ulm, Augsburg) auf kaiserlichen Druck zum – reichspolitisch konservativen – Luthertum hinübergedrängt wurden. In Heidelberg selbst blieb der Rat unter Friedrich II. während der konfessionspolitischen Schwankungen infolge des Schmalkaldischen Krieges ein Element protestantischer Kontinuität. Unter der kurzen Regentschaft Ottheinrichs (1556–1559) kam der Protestantismus voll zum Durchbruch und fand neben dem Rat auch in der Universität eine Stütze, da diese von einer immer noch eher scholastischen Korporation zu einer evangelischen landesherrlichen Institution mit entsprechender Berufungspolitik umgestaltet und damit zugleich die Voraussetzung für die Installation des Heidelberger Späthumanismus geschaffen wurde.89 Gleich unter dem Nachfolger Friedrich III., dem ›Frommen‹ (1559–1576), vollzog sich dann der letzte und entscheidende Schritt mit dem offenen Übertritt zum reformierten Bekenntnis und der Einführung des von Olevian und Ursinus geschaffenen sogenannte Heidelberger Katechismus.90 Treibende Kraft war bezeichnenderweise wiederum ein Exulant, nämlich der Augsburger Patriziersohn Ehem, wie überhaupt die Exulanten im Ober- wie im Kirchenrat das reformierte Rückgrat bildeten und zugleich die nötigen Außenkontakte mit den Niederlanden und Frankreich knüpften. Denn im Reich selbst drohte der Pfalz zunehmend die Gefahr politischer Isolierung. Und das um so mehr, als der konfessionspolitische Status der Reformierten nicht eindeutig rechtlich fixiert war, und der Religionsfrieden explizit nur für die Katholiken und die Mitglieder der ›Confessio Augustana‹ galt. Wenn die Gefahr der politischen Isolierung und konfessionellen Ächtung vorerst gebannt werden konnte, dann vor allem, weil Friedrich und seine Räte auf dem Augsburger Reichstag von 1566 die dem Protestantismus nach einer definitiven Spaltung drohenden Gefahren überzeugend deutlich machen konnten.91 Es kam hinzu, daß Kursachsen, welches die Westkontakte der –––––––––
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Die bekannte Untersuchung von Gerhard Ritter: Die Heidelberger Universität. Ein Stück deutscher Geschichte. Band I: Das Mittelalter (1386–1508).- Heidelberg: Winter 1936, ist leider nicht fortgeführt worden. Daher bleibt bis auf weiteres heranzuziehen: Johann Friedrich Hautz: Geschichte der Universität Heidelberg. Band I–II.- Mannheim: Schneider 1862– 1864 (führt bis 1803). Wichtig auch August Thorbecke: Statuten und Reformationen der Universität Heidelberg vom 16. bis 18. Jahrhundert.- Leipzig: Duncker & Humblot 1891. Dazu Walter Hollweg: Neue Untersuchungen zur Geschichte und Lehre des Heidelberger Katechismus.- Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins 1961 (= Beiträge zur Geschichte und Lehre der Reformierten Kirche; 13); ders.: Neue Untersuchungen zur Geschichte und Lehre des Heidelberger Katechismus. Zweite Folge.- Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins 1968 (= Beiträge zur Geschichte und Lehre der Reformierten Kirche; 28). Vgl. auch die Einleitung von Johann Friedrich Gerhard Goeters zu: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Hrsg. von Emil Sehling. Band XIV: Kurpfalz.- Tübingen: Mohr 1969, insbes. S. 39 ff. Vgl. Walter Hollweg: Der Augsburger Reichstag von 1566 und seine Bedeutung für die Entstehung der Reformierten Kirche und ihres Bekenntnisses.- Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins 1964 (= Beiträge zur Geschichte und Lehre der Reformierten Kirche; 17).
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Pfalz keinesfalls billigte, am konfessionellen Status quo nicht rütteln ließ – das freilich nur solange, wie die Philippisten dort dominierten, also bis 1570.92 Die weitere Assimilation des Calvinismus einschließlich der entsprechenden westeuropäischen politischen Orientierung erfuhr durch den lutherisch gebliebenen Ludwig VI. (1576–1583) eine zeitweilige Unterbrechung. Nur durch die institutionelle Verankerung in den weltlichen und kirchlichen Behörden und den Ausbau des Fürstentums Pfalz-Lautern unter Johann Casimir (1583–1592) war das Überleben des reformierten Bekenntnisses gewährleistetet. Johann Casimir hatte 1568 in Frankreich in den Religionskriegen auf der Seite der Hugenotten teilgenommen, hatte in das Geschlecht der Brederode geheiratet, das an der Spitze des Aufstandes in den Niederlanden stand, und schließlich durch Bestellung Ludwigs von Wittgenstein zum Großhofmeister den fortan ausschlaggebenden Kontakt zu den Calvinisten in der Wetterau geknüpft. Unter Friedrich IV. (1592–1610) traten die Vorbereitungen zur großen konfessionspolitischen Auseinandersetzung, die wie anderorts in Westeuropa auch im Reich mit der Begründung der neuen deutschen Kunstdichtung zusammenfiel, in ihr entscheidendes Stadium.
Profile im Umkreis des Kurpfälzischen Hofes Einen gar nicht zu unterschätzenden Anteil daran hatten einerseits die kompromißlos calvinistischen Mitglieder im Oberrat, andererseits eine Reihe auswärtiger Gestalten, darunter vor allem die Wetterauer Grafen und insbesondere jene Persönlichkeit, die bis zur Schlacht am Weißen Berg als Schlüsselfigur der Pfälzer Politik gelten darf: Christian von Anhalt.93 Als Hofmeister des jungen Friedrich IV. fungierten Otto von Grünrade und Georg Ludwig von Hutten. Ersterer war über den sächsischen Philippismus zum Calvinismus gekommen und hatte bereits entscheidenden Einfluß auf die Durchsetzung des reformierten Bekenntnisses in der Wetterau genommen, bevor er 1584 dem Ruf nach Heidelberg folgte. Hutten, ein humanistisch gebildeter Ritter, stand gleichfalls den Reformierten nahe. Er scheint der ritterlich-höfischen Erziehung seines Zöglings den Vorzug vor der wissenschaftlich-politischen gegeben zu haben. Mit Hutten trat aber vor allem ein Exponent der immer noch einflußreichen Pfälzer Reichsritterschaft in die Szene, der die ehemals von Johann Casimir mit Unterstützung der bürgerlichen Gelehrten verfolgte Mediatisierungs- und territoriale Arrondierungspolitik bremste und weitgespannte Pläne mit diesem untergehenden Stand unter Pfälzer Führung hegte.94 Erst nach seinem Sturz war der Weg für eine vorbehaltlos calvinistisch orientierte Politik der gelehrten Räte wie der auswärtigen Kräfte frei. Neben die –––––––––
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Zur sächsischen Haltung zuletzt mit entsprechender Literatur Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86), S. 237. Zum folgenden ebd., S. 369 ff. Vgl. Press: Die Ritterschaft im Kraichgau (Anm. 88), S. 67 ff.
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adeligen Hoferzieher trat Georg Michael Lingelsheim als religiöser Präzeptor Friedrichs IV. Er entstammte der reformierten Minorität Straßburgs, hatte in Heidelberg und Basel studiert und bewahrte seinen humanistischen Neigungen und seinen gelehrt-epistolarischen Kontakten lebenslänglich die Treue, während er dreißig Jahre lang im Pfälzer Oberrat mitwirkte und dort unbeirrt zur aktiven calvinistischen Bündnisfront hielt. Ihm zur Seite stand Volrad von Plessen, Hofgerichtsrat und gleichzeitig Kammerjunker des jungen Kurfürsten, auch er ein hochgebildeter adeliger Humanist sowie überzeugter Calvinist und in dieser Verbindung ebenso wie Lingelsheim zentrale Figur des Heidelberger Späthumanismus. Nimmt man die Gestalt von Michael Loefenius, eines gleichfalls radikalen Calvinisten, hinzu, so ist der Kreis der progressiven und nach dem Sturz Huttens maßgeblichen Kräfte im Oberrat bezeichnet; alle drei stammten nicht aus der Pfalz oder ihrer näheren Umgebung, hatten in Basel studiert und waren unbedingte Calvinisten, wenn auch mit unterschiedlicher Elastizität. Sie bildeten eine geschlossene Fraktion, blieben aber zunächst im Hintergrund. Mit der Reichsritterschaft hatten sie keinerlei gemeinsame Interessen, wohl aber waren sie den wetterauischen Grafen, vor allem Wittgenstein, eng verbunden.95
Unterstützung erhielt diese Gruppe aus dem Hofgericht, vor allem durch die für den Heidelberger Späthumanismus gleichfalls zentrale Gestalt des Ludwig Camerarius.96 Zu den im Pfälzer Dienst bereits bewährten Wittgensteiner und Nassauer Grafen trat dann unter Friedrich IV. als vorwärtstreibende Kraft Christian von Anhalt. Sein Ruhmesstern war als Heerführer auf hugenottischer Seite 1591 in Frankreich aufgegangen. Über die eigens auf seine Person zugeschnittene Statthalterschaft in der Oberpfalz gelang es der Kurpfalz, konkurrierende Angebote von kaiserlicher Seite abzuwehren. Aus philippistischem Haus – das Anhaltiner Zerbst seines Vaters Joachim Ernst sollte bald eine wichtige Zufluchtsstätte für ›kryptocalvinistische‹ Exulanten werden –, in Sachsen in Berührung mit der ›zweiten Reformation‹ gekommen, verheiratet mit Anna von Bentheim, ausgestattet mit glänzenden Kontakten zu Heinrich IV., wuchs sein Einfluß auf die Pfälzer Politik beständig. Er wollte die evangelischen Stände Deutschlands einigen, um ihnen im Bunde mit außerdeutschen protestantischen Mächten im Reiche eine Machtstellung zu verschaffen, an der die katholischen Reichsstände, der Kaiser und selbst die gefürchteten Spanier nicht rütteln konnten.97
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Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86), S. 393. Dazu grundlegend die große Biographie von Friedrich Hermann Schubert: Ludwig Camerarius 1573–1651. Eine Biographie.- Kallmünz/Oberpfalz: Lassleben 1955 (= Münchener historische Studien. Abt. Neuere Geschichte; 1). Vgl. auch den Aufsatz von Schubert: Die pfälzische Exilregierung im Dreißigjährigen Krieg. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Protestantismus.- In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 102/N.F. 63 (1954), S. 575–680. Annelise Tecke: Die kurpfälzische Politik und der Ausbruch des dreißigjährigen Krieges.Diss. phil. Hamburg 1931, S. 58.
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Christian von Anhalt war der Initiator auf dem von der Pfalz seit langem angesteuerten Weg zur Union – ein Plan, der ganz auf der Linie Heinrichs IV. lag.98 Und über ihn verlief der Kontakt zu den böhmischen Ständen.99 Über ihn erfolgte die Annäherung an den Führer des ober- und niederösterreichischen protestantischen Adels, Erasmus von Tschernembl, der die Idee eines nichtkatholischen Herrscherhauses ins Spiel bringt, wie sie unter Friedrich V. dann für eine kurze Frist – lebhaft unterstützt vom Heidelberger Dichterkreis – Wirklichkeit werden sollte.100
Schlesisch-pfälzischer Brückenschlag Opitz bewegte sich mit seinem Übertritt von Schlesien in die Pfalz und damit im weiteren Sinn in den reformierten südwestdeutschen Raum auf Bahnen, die durch namhafte Vorgänger, aber auch durch Altersgenossen und Freunde geebnet waren. Der Übergang zum reformierten Bekenntnis unter Friedrich III. hatte einen beträchtlichen Bedarf an reformierten Kräften erzeugt. So ist es kein Wunder, daß die geschichtlich bedeutsamsten Köpfe zumeist Theologen waren. Schlesien – selbst vielfach zum Calvinismus tendierend – konnte hier ein beträchtliches Potential zur Verfügung stellen. »Man wird geradezu sagen können, daß zu jener Zeit Schlesier in der Pfalz kulturell und geistig treibende Kräfte und führende Köpfe waren.«101 Das beginnt, um hier nur die bekanntesten Namen zu nennen, mit Zacharias Ursinus aus Breslau, der 1561 in das neben der Hochschule bedeutendste Bildungsinstitut der Kurpfalz, das Sapienzkollegium, eintrat. Zusammen mit Olevian – gleichfalls ein zugereister Exulant (aus Trier), der später maßgeblich am Aufbau des Calvinismus in der Grafschaft Nassau mitwirkte – schuf er den Heidelberger Katechismus, nach dessen Durchsetzung dann weitere Reformierte, auch aus Schlesien, angelockt wurden.102 –––––––––
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Dazu immer noch unentbehrlich Moriz Ritter: Geschichte der Deutschen Union von den Vorbereitungen des Bundes bis zum Tode Kaiser Rudolphs II. (1598–1612). Band I–II.Schaffhausen: Baader [1865]–1873; ders.: Politik und Geschichte der Union zur Zeit des Ausgangs Rudolfs II. und der Anfänge des Kaisers Matthias.- In: Abhandlungen der Historischen Klasse der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften XV/2 (1880), S. 83–170; Julius Krebs: Die Politik der evangelischen Union im Jahre 1618.- Progr. RealGymnasium Breslau 1890 und 1891. Hans Georg Uflacker: Christian I. von Anhalt und Peter Wok von Rosenberg. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des pfälzischen Königtums in Böhmen.- Diss. phil. München 1926. Dazu grundlegend die große Biographie von Hans Sturmberger: Georg Erasmus Tschernembl. Religion, Libertät und Widerstand. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation und des Landes ob der Enns.- Graz/Köln: Böhlau 1953 (= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs; 3). G. Hecht: Schlesisch-kurpfälzische Beziehungen im 16. und 17. Jahrhundert.- In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 81/N.F. 42 (1929), S. 176–222, 178. Vgl. ebd., S. 179 ff., sowie oben Anm. 90.
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Die bedeutendste und einflußreichste Gestalt aus Schlesien ist zweifellos Abraham Scultetus.103 Er wurde 1595 als Hofprediger an die Seite des gleichfalls aus Schlesien stammenden Bartholomäus Pitiscus berufen, dessen Stelle er 1614 übernahm. Als Mitglied des Heidelberger Kirchenrats und Inspektor der Kirchen und Schulen, als Reformator in der Oberpfalz (Amberg) und Begleiter Christians von Anhalt im Jülicher Erbfolgekrieg und Friedrichs V. nach England anläßlich seiner Hochzeit, als Mitwirkender an der Installation des reformierten Bekenntnisses in Brandenburg nach dem Übergang der Hohenzollern vom lutherischen zum calvinistischen Glauben und schließlich – schon Professor für Theologie an der Universität Heidelberg – als Delegierter der Dordrechter Nationalsynode besaß er einen weit über die Pfalz hinausreichenden Einfluß und Wirkungskreis, der in der kurzen Episode als Hofprediger Friedrichs V. in Prag gipfelte, bevor dann der Absturz zusammen mit dem Hause folgte, in dessen Dienst er sich gestellt hatte. Der Reigen der aus Opitz’ Kreisen gen Westen ziehenden Personen beginnt mit dem fünf Jahre älteren Schul- und Jugendfreund Kaspar Kirchner.104 Er war Opitz nach Breslau vorangegangen. Von dort brach er 1615 zum Studium nach Straßburg auf. Bernegger bezeichnet dann auch Kirchner ausdrücklich als einen der Erneuerer der deutschen Dichtung neben Opitz und Zincgref.105 Von Straßburg aus war Kirchner nach zwei Jahren in die Niederlande weitergezogen und hatte Zugang zu Daniel Heinsius gewonnen – auch darin Opitzens Lebensweg präformierend. Er dürfte es denn auch gewesen sein, der dem jungen Opitz die Bekanntschaft mit Heinsius’ Nederduytschen Poemata (1616) vermittelte. Anders als dieser konnte Kirchner weiter nach Belgien, Frankreich und England reisen; Belgien und England hat Opitz nie gesehen, Frankreich erst später. In Breslau unterhielten alle für Kirchner wie für Opitz bedeutsamen Persönlichkeiten Kontakte mit den Gelehrten und Dichtern des südwestdeutschen Späthumanismus. Namentlich pflegten Nikolaus Henel, Daniel Rindfleisch und Kaspar Cunrad zahlreiche höflichkeitsbeziehungen zu den gelehrten und poeten des Oberrheines. Die erinnerung an Paulus Melissus war
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Vgl. zu ihm Gustav Adolf Benrath: Reformierte Kirchengeschichtsschreibung an der Universität Heidelberg im 16. und. 17. Jahrhundert.- Speyer am Rhein: Zechner 1963 (= Veröffentlichungen des Vereins für Pfälzische Kirchengeschichte; 9), S. 16–37; ders: Abraham Scultetus (1566–1624).- In: Pfälzer Lebensbilder. Band II. Hrsg. von Kurt Baumann.Speyer: Verlag der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1970, S. 97–116. Heranzuziehen auch: Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus (1566–1624). Hrsg. von Gustav Adolf Benrath.- Karlsruhe: Verlag Evangelischer Presseverband 1966 (= Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden; 24). Vgl. Ernst Höpfner: Strassburg und Martin Opitz.- In: Beiträge zur deutschen Philologie. Julius Zacher dargebracht als Festgabe zum 28. October 1879.- Halle/Saale: Buchhandlung des Waisenhauses 1880, S. 293–302, S. 295 ff.; Rubensohn: Der junge Opitz (Anm. 69), Teil II, S. 61 ff.; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 133 ff. Vgl. auch die Vita Kirchners aus der Feder Opitzens in: Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 545 ff. Vgl. Höpfner: Strassburg und Martin Opitz (Anm. 104), S. 296 f.
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in diesen kreisen noch frisch; mehr als einer, der hier ab und zu gieng, hatte Melissus persönlich gekant, ja von seinen händen den lorbeer empfangen und von daher den ehrentitel eines Melisseischen poeten geführt. Cunrad selbst hatte sein doctordiplom 1604 in Basel erworben und am Oberrhein, namentlich in Heidelberg, eine reiche ernte von bekantschaften gemacht. Kein wunder, dass auch in Cunrads kreise der hauch von einem neuen geiste unter den gelehrten zu spüren war.106
In Beuthen lenkte Tobias von Schwanensee und Bregoschütz, genannt Scultetus, als Pfalzgraf und gekrönter lateinischer Dichter, der seine 1594 in Heidelberg erschienenen lateinischen Gedichte Schede Melissus gewidmet hatte, den Blick Opitzens in den Westen.107 Schließlich hatte Dornau selbst in Basel promoviert und sich in Heidelberg aufgehalten.108 So trat Opitz die Bedeutung der großen Metropolen des Oberrheins und Westeuropas in der Begegnung mit Freunden und Gönnern vor Augen, bevor er selbst sich auf die Reise machte und zum Heidelberger Dichterkreis stieß.
Der Heidelberger Dichterkreis im Zeichen von Späthumanismus und Calvinismus Der Heidelberger Dichterkreis hat sich während der neopositivistischen Ära einer gewissen Aufmerksamkeit erfreuen können.109 Hier wie anderswo zehrt die Barockforschung nach wie vor von der damals geleisteten Grundlagenarbeit. ––––––––– 106 107 108 109
Ebd., S. 296. Vgl. oben S. 102 sowie Anm. 71. Vgl. oben S. 101. Grundlegend für jede Beschäftigung mit den Heidelbergern ist die schon vielfach herangezogene Quellensammlung von Alexander Reifferscheid mit den Briefen Georg Michael Lingelsheims, Matthias Berneggers und ihrer Freunde sowie mit den hervorragenden Registern am Schluß des Bandes. Besonders wichtig sodann gerade auch für die geschichtliche Situierung der Heidelberger ist Ernst Höpfner: Reformbestrebungen auf dem Gebiete der deutschen Dichtung des XVI. und XVII. Jahrhunderts.- Progr. Königl. Wilhelms-Gymnasium Berlin 1866. Es handelt sich offensichtlich um das Konzentrat einer umfassenderen, nicht zum Druck gelangten Arbeit Höpfners, aus der separat nur das Schlußkapitel über Weckherlin erschien; vgl. ders.: G.R. Weckherlins Oden und Gesänge. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung.- Berlin: Stilke & van Muyden 1865. Wichtig sodann die Einleitung Georg Witkowskis zu seinen Editionen des Aristarchus sowie der Poeterey (Anm. 71), S. 1–74, und zu Martin Opitz: Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1624 mit den Varianten der Einzeldrucke und der späteren Ausgaben. Hsrg. von Georg Witkowski.- Halle/Saale: Niemeyer 1902 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts; 189–192), S. III–XXVIII. Während der geisteswissenschaftlichen Phase der deutschen Barockforschung hat sich vor allem Erich Trunz mit den Anfängen der deutschen Kunstdichtung um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert und damit auch mit den Heidelbergern befaßt. Verwiesen sei hier auf Erich Trunz: Die Entwicklung des barocken Langverses.- In: Euphorion 39 (1938), S. 427–468, insbes. S. 431 ff. und 445 ff. Vgl. auch ders.: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur.- In: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 21 (1931), S. 17–53. Wieder abgedruckt in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hrsg. von Richard Alewyn.Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 7). S. 159 f. mit Anm. 19 über Heidelberg.
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Erst neuerdings mehren sich die Anzeichen dafür, daß den Anfängen der Kunstdichtung im Südwesten und speziell in Heidelberg ein regeres Interesse entgegengebracht wird. In dem Maße, wie auch die Barockforschung den Kontakt zur Geschichte wiederfindet und ihre Gegenstände einer geschärften historischen Optik aussetzt, muß die politische Brisanz gerade der Anfänge der neueren deutschen Kunstdichtung in der Pfalz hervortreten. Dieter Mertens und Theodor Verweyen haben dieses Terrain jüngst wieder beschritten. In einer Reihe grundlegender Untersuchungen zeichnet sich das neue Bild bereits in Umrissen ab. Es koinzidiert aufs genaueste mit dem hier entworfenen.110 Die Vorstellung einer entpolitisierten späthumanistischen Bewegung, die – festgelegt auf ihre gelehrten Praktiken und Bräuche – als akademische Kaste den Kontakt zur geschichtlichen Realität weitgehend verloren habe, bedarf auch hinsichtlich des Heidelberger Dichterkreises einer energischen Korrektur. Voraussetzung dafür ist allerdings – auch das haben Mertens und Verweyen gezeigt –, daß der in der Literaturgeschichtsschreibung übliche Zuschnitt der Heidelberger auf die Gestalt Opitzens revidiert wird. Der Heidelberger Kreis ist mehr als ein Appendix zur Opitzschen Reformbewegung. Insbesondere die Gestalt Zincgrefs ist hier in eine verzerrte Perspektive gerückt worden. Die neue große Zincgref-Ausgabe wird eine erhebliche Korrektur bewirken.111 Den entscheidenden Anstoß zur poetischen Realisierung seiner calvinistischen Sympathien, wie sie sich in Schlesien bilden konnten, hat Opitz in Heidelberg empfangen. Zincgref war ihm gerade darin entschieden vorausgegangen. Vorstöße zur Erkenntnis des Heidelberger Dichterkreises in dieser Richtung sind inzwischen durch die gewichtigen Arbeiten von Volker Press, insbesondere zu den pfälzischen Oberbehörden, vorzüglich flankiert.112 Es bleibt zu hoffen, daß auch der andere Brennpunkt der Bewegung, die Heidelberger Universität des 16. und 17. Jahrhunderts, recht bald eine neue, sozialgeschichtlich orientierte Darstellung erfährt. Denn institutionell ist der Heidelberger Dichterkreis, über den hier nur das im Zusammenhang Erforderliche gesagt werden muß, vor allem über die Universität und den Pfälzer Hof, speziell die Oberbehörde, verankert. Zwei Namen stehen dafür vornehmlich ein: Janus Gruter und Georg Michael Lingelsheim.
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Vgl. Dieter Mertens, Theodor Verweyen: Bericht über die Vorarbeiten zu einer ZincgrefAusgabe.- In: Jahrbuch für Internationale Germanistik IV/2 (1972), S. 125–150; Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern von Schede bis Zincgref.- In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 103/3 (1974), S. 200–241. Weitere Arbeiten der Verfasser sind angekündigt. Vielfach berührt wird Heidelberg auch in den Arbeiten von Leonard Forster. Vgl. insbes. die unter dem Titel ›Zu den Vorläufern von Martin Opitz‹ vereinigten Beiträge in: Forster: Kleine Schriften zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert (Anm. 71), S. 57–160. Hrsg. von Dieter Mertens und Theodor Verweyen in den Neudrucken deutscher Literaturwerke, Tübingen: Niemeyer 1978 ff. Vgl. oben Anm. 86 und 88.
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Janus Gruter und Georg Michael Lingelsheim Beide Gestalten verbindet zugleich die ältere und jüngere Generation der Heidelberger Dichter. Opitz verstand es wiederum – mittels Eigeninitiative und Referenzen – zu beiden in engen Kontakt zu treten. Während für Lingelsheim die dringend erwünschte Biographie immer noch fehlt, sind wir über die Gestalt Janus Gruters ausnahmsweise gut informiert.113 Opitzens Gönner in Beuthen, Tobias von Schwanensee und Bregoschütz, empfahl Opitz den berühmten Heidelberger Gelehrten. Noch bevor Opitz in das Land selbst kam, das wie kein anderes in Europa vom konfessionspolitischen Antagonismus geprägt war, lernte er in Heidelberg den Vertreter eines Geschlechts kennen, dessen Schicksal zutiefst von der Geschichte des reformierten Bekenntnisses in den Niederlanden bestimmt war. Sein Vater Wouter de Gruytere war von Anfang an im ›Bund der Edlen‹ tätig und ritt 1566 unter der Führung Brederodes mit in die Hauptstadt Antwerpen ein, um die Forderungen der Geusen gegenüber der spanischen Statthalterin Margarethe von Parma zu bekräftigen. Gruters Mutter stand »unter der Anklage, in Abwesenheit ihres Gatten Geusen bzw. um des Glaubens willen Verdächtigte beherbergt zu haben. Sie entschlossen sich zu schnellster Flucht nach England.«114 Den englischen Jahren Janus Gruters hat Leonard Forster seine tiefdringende Studie gewidmet.115 Zurückgekehrt in die Niederlande (1577), war Gruters Vater später (1584–85) zusammen mit Marnix, Loefdeel und anderen führend an der Verteidigung Antwerpens gegen die Spanier beteiligt. Nach dem Fall der Stadt und damit der endgültigen Abtrennung der südlichen Niederlande floh Wouter de Gruytere nach Danzig, wo seit langem eine reformierte Gemeinde bestand. Der Sohn, zunächst kurze Zeit an der Universität in Oxford, hatte eben noch an der neugegründeten Universität Leiden sein Jurastudium, das ihn u.a. mit Donellus, Janus Dousa, Lipsius und seinem Altersgenossen Arminius zusammengeführt hatte, mit der Promotion abschließen können (1584). Seine Wanderjahre brauchen hier nicht rekapituliert zu werden.116 Nach Heidelberg führte ihn 1592 der Umstand, daß er sich als Calvinist geweigert hatte, die in Wittenberg nach –––––––––
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[Zu Lingelsheim jetzt Axel E. Walter: Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims.- Tübingen: Niemeyer 2004 (= Frühe Neuzeit; 95).] Die maßgebliche Biographie Gruters stammt von Gottfried Smend: Jan Gruter. Sein Leben und Wirken. Ein Niederländer auf deutschen Hochschulen. Letzter Bibliothekar der alten Palatina zu Heidelberg.Bonn: Universitätsdruckerei Scheur 1939. Vgl. des weiteren Palm: Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 19), S. 158 ff. und 178 ff.; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 1017 f. (Register); Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 1 f. Smend: Jan Gruter (Anm. 113), S. 15. Vgl. Leonard Forster: Janus Gruter’s English Years. Studies in the Continuity of Dutch Literature in Exile in Elizabethan England.- Leiden: University Press, London: University Press 1967 (= Publications of the Sir Thomas Browne Institute, Leiden; 3). Dazu Smend: Jan Gruter (Anm. 113), S. 26 ff.
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dem Tode Kurfürst Christians I. von den Professoren verlangte Unterschrift unter die Konkordienformel zu setzen. Den schnell zu den kurfürstlichen Räten – darunter Lingelsheim – hergestellten Kontakten dürfte es zu danken sein, daß sich Friedrich IV. selbst nachhaltig – und gegen den Widerstand des Senats der Universität – für eine Professur Gruters im Fach Geschichte verwendete (1593). Sein eigentliches, ihn ungleich befriedigenderes Amt fand er jedoch in der Verwaltung der ›Bibliotheca Palatina‹ seit 1602.117 Als deren Vorsteher, als berühmtem Editor und Kommentator vornehmlich römischer Texte und Herausgeber des großen Sammelwerks Inscriptiones Antiquae (1. Auflage 1602/1603), der mit glänzenden gelehrten Verbindungen in ganz Europa ausgestattet war, galt ihm die Aufwartung Opitzens.118 Es versteht sich von selbst, daß er – ungeachtet aller humanistischen Irenik – ganz auf der Seite des Winterkönigs stand.119 Ins Haus Lingelsheims gelangte Opitz als Erzieher.120 Lingelsheim hatte neben seiner einflußreichen politischen Tätigkeit als Oberrat seine gelehrten Kontakte und Neigungen stets weiterzupflegen gewußt. Seine Freunde und Kollegen in Heidelberg waren Studierte der höheren Fakultäten, in der Mehrzahl graduierte Juristen; sie sind entweder in den Spitzenpositionen der kurpfälzischen Behörden und Politik tätig oder Universitätslehrer in einer höheren Fakultät und damit etwa doppelt so hoch bezahlt wie die Artisten. Als Räte und Beisitzer in Hofgericht, Oberrat und Reichskammergericht sind sie die dauernden und selbständigen Partner oder Konkurrenten der adeligen Räte und Beisitzer.121
Hinzu kommen die ausgedehnten epistolarischen Verbindungen, von denen der noch im 17. Jahrhundert gedruckte Briefwechsel mit Jacques Bongars, die bei Reifferscheid gedruckten Briefwechsel vor allem von und mit Bernegger, Goldast, Grotius, Gruter, Venator und Zincgref sowie der ungedruckte mit Ludwig von Wittgenstein Zeugnis ablegen.122 Lingelsheim war kein Vertreter einer militanten reformierten Orthodoxie mehr, doch bei aller Irenik hielt er entschieden am reformierten Glauben fest und nahm stets Anteil am Schicksal der calvinischen Minorität seiner Heimatstadt [Straßburg].123
Obgleich Lingelsheim weniger überzeugt auf den Erwerb der böhmischen Königskrone setzte, geriet auch er in den Strudel der Katastrophe. ––––––––– 117
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Der Aufbau von Gruters berühmter Privatbibliothek ist eng mit seiner Tätigkeit als Bibliothekar der Palatina verbunden. Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Das Schicksal einer Heidelberger Professorenbibliothek. Jan Gruters Sammlung und ihr Verbleib.- In: Heidelberger Jahrbücher 11 (1967), S. 98–117. Zu Gruters gelehrten Kontakten vgl. Smend: Jan Gruter (Anm. 113), S. 75 ff. Dazu ebd., S. 80 ff. Vgl. das reichhaltige Material in Reifferscheids Ausgabe: Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 1023 ff. (Register), sowie Smend: Jan Gruter (Anm. 113), S. 73, insbes. Anm. 155; Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86), S. 379 f. und öfter (vgl. das Register). Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 229. Vgl. die entsprechenden, über das Register leicht zu erschließenden Zeugnisse in Reifferscheids Brief-Anthologie (Anm. 19). Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86), S. 371.
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Paul Schede Melissus Die drei Autoren Schede, Denaisius und F[riedrich]. Lingelsheim repräsentieren eine ältere, von Opitz unabhängige Heidelberger Dichtungstradition. [...] Bedeutsam ist, daß alle drei Autoren sich um das Haus Lingelsheims gruppieren. Er [Schede] gehört wie Denaisius zu den in Lingelsheims Briefen an J. Bongars immer und immer wieder genannten ›amici‹.124
Die für die Pfalz und den Oberrhein überhaupt typische Orientierung hin zum calvinistischen Westeuropa bewährt sich auch bei ihnen. Vor allem Schede Melissus ist diesem dichten politischen und ästhetischen Kommunikationsnetz integriert:125 »Melissus was the leading German literary humanist of his day, like Utenhove personally acquainted with the Pleiade poets and with England, and like him polyglot, writing verses in Latin, German and French.«126 Die Kontakte zur ›Pléiade‹ sind durch die Monographie von Nolhac so gut wie erschöpfend erhellt.127 Die Kenntnis von Schedes Aufenthalt in England hat kürzlich in anderem Zusammenhang eine überraschende Vertiefung erfahren.128 Melissus, der Frankreich (vor allem Paris), Genf und Italien bereits kannte, wurde von Hans von Tschernembl dazu ausersehen, dessen beide Söhne Georg Erasmus und Hans Christoph auf ihrer Kavalierstour zu begleiten. Die erste nachhaltige Berührung des späteren führenden Kopfes des niederösterreichisch-protestantischen Widerstands erfolgte zweifellos über Melissus, der von 1568 bis 1571 im Genf Calvins und Bezas geweilt hatte.129 Dieser Auftrag Tschernembls brachte Melissus nicht nur eine ausgedehnte Wiederbegegnung mit Paris (Sommer 1584 bis Frühjahr 1585), sondern auch die Begegnung mit dem protestantischen England Elisabeths I., der Melissus seine Gedichte überreichen konnte.130 Interessant aber für den Pfälzer Hof, der ihn 1586 von der Tschernemblschen Hofmeisterstelle abberief und ihm die Lei–––––––––
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Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 227 f. Zu Schede Melissus vgl. Otto Taubert: Paul Schede (Melissus). Leben und Schriften.Progr. Torgau 1864. Dazu die wichtige und weiterführende Rezension von Ernst Höpfner in: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 19 (1865), S. 337–352. Vgl. auch ders.: Reformbestrebungen (Anm. 109), S. 26 ff. Des weiteren Karl Preisendanz: Zur Heidelberger Gelehrtengeschichte.- In: Neue Heidelberger Jahrbücher 17 (1913), S. 1–8 (zu Briefen von Schede in der Uffenbach-Wolfschen Sammlung); Ludwig Krauß: Paul Schede-Melissus. Sein Leben nach den vorhandenen Quellen und nach seinen lateinischen Dichtungen als ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte jener Zeit. Band I–II.- Nürnberg 1918 (handschr.); JörgUlrich Fechner, Leonard Forster: Das deutsche Sonett des Melissus (1972).- In: Forster: Kleine Schriften zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert (Anm. 71), S. 57–79; Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde.Wiesbaden: Steiner 1976, S. 65–108. Forster: Kleine Schriften zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert (Anm. 71), S. 87. Vgl. Pierre de Nolhac: Un poète rhénan ami de la Pléiade. Paul Melissus.- Paris: Champion 1923 (= Bibliothèque littéraire de la Renaissance;. Nouv. sér. 9). Vgl. Sturmberger: Georg Erasmus Tschernembl (Anm. 100), S. 37 ff. Über mögliche calvinistische Einflüsse auf Tschernembl während seiner Studienzeit in Altdorf vgl. ebd., S. 34 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang James E. Phillips: Elizabeth I as a Latin Poet: An Epigram on Paul Melissus.- In: Renaissance News 16 (1963), S. 289–298.
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tung der berühmten Palatina anvertraute, war Melissus wegen seiner Verbindung zu den hugenottischen Psalmendichtern und Tonsetzern während seines ersten Aufenthaltes in Paris (1567/68) und in Genf geworden.131 Psalmendichtung und Psalmengesang bilden in ganz anderer Weise als das Gemeindelied der Lutheraner ein Ferment konfessioneller Identität und politischer Selbstbehauptung unter den Reformierten und speziell unter den französischen Hugenotten. Der ohnehin im Calvinismus intensivere Rückbezug auf das Alte Testament fand in den Psalmen jene religiöse Auserwähltheit artikuliert, die nicht nur ein zentrales calvinistisches Dogma bestätigte, sondern auch ein Kraftzentrum des Widerstands bildete. Der gemeinschaftliche Psalmengesang hat für das Hugenottentum eine gar nicht zu unterschätzende gruppenbildende Funktion ausgeübt. Melissus geriet in Frankreich und in der Schweiz nicht nur in literarischen bzw. persönlichen Kontakt mit den beiden führenden Psalmenübersetzern und Reformierten, Clément Marot und Theodore de Bèze. Er gewann auch eine Anschauung davon, welche Konsequenzen eine öffentliche Praktizierung des Psalmengesangs für die Gläubigen zeitigen konnte, wie sie sich schon im Lebensweg Marots abzeichneten und dann in der Ermordung Goudimels, des berühmten Musikers der Hugenotten, während der Hugenottenverfolgungen in Lyon ihren ebenso grausamen wie sinnfälligen Ausdruck fanden.132 Das Erscheinungsjahr der ersten Gesamtausgabe der Psalter in der Übersetzung Marots und Bezas war zugleich das Jahr, in dem die Bürgerkriege in Frankreich anhoben: 1562. So war in Deutschland die calvinistische Vorhut der Pfalz der gegebene Lebensraum für Melissus. Von Genf aus holte ihn Kurfürst Friedrich III. 1571 nach Heidelberg und betraute ihn mit der Übersetzung der Psalmen Marots und Bezas.133 –––––––––
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Zur Psalmendichtung der Hugenotten vgl. die beiden Standardwerke mit reichhaltigen kulturgeschichtlichen Materialien von Félix Bovet: Histoire du psautier des églises réformées.Neuchatel: Sandoz, Paris: Grassart 1872; Orentin Douen: Clément Marot et le psautier huguenot. Étude historique, littéraire, musicale et bibliographique.- Paris: Impr. Nationale 1878. Reprint: Nieuwkoop: de Graaf 1967. Speziell zur Psalmenübersetzung Marots: Philipp August Becker: Clément Marots Psalmenübersetzung.- In: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse. Band 72 (1920), Heft 1.- Leipzig: Teubner 1921; ders.: Clément Marot. Sein Leben und seine Dichtung.- München: Kellerer 1926 (= Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig. Forschungsinstitut für neuere Philologien. IV: Romanistische Abt.; 1). Vgl. auch die kritische Ausgabe unter Berücksichtigung der Handschriften von Samuel Jan Lenselink: Les psaumes de Clément Marot.- Assen: van Gorcum; Kassel, Basel: Bärenreiter 1969. Dazu M. Albaric: Le psautier de Clément Marot.- In: Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 54 (1970), S. 227–243. Melissus ist auch direkt in die kriegerischen Auseinandersetzungen hineingeraten. In Orléans sah er zu Beginn des dritten Bürgerkrieges die Truppen Johann Casimirs aus der Pfalz zur Unterstützung der Hugenotten einmarschieren. In der Bourgogne und in Dôle geriet er zeitweilig sogar in katholische Gefangenschaft. Vgl. Nolhac: Un poète rhénan (Anm. 127), S. 23 f. Während seines Aufenthalts mit den Tschernembls in Frankreich erlebte er die Gründung der Liga (1585), die am Beginn einer neuen Serie von Bürgerkriegen stand. Vgl. ebd., S. 85 ff. (mit Abdruck eines unveröffentlichten Gedichts von Melissus aus dem Nachlaß der Dupuys). Zu den deutschen Übersetzungen der reformierten Psalmendichtung grundlegend die Arbeiten von Erich Trunz. Vgl.: Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters.- In:
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Seine Übersetzung der ersten fünfzig Psalmen erschien bereits 1572, vermochte sich freilich gegenüber der ein Jahr später erscheinenden Ausgabe des Ambrosius Lobwasser nicht durchzusetzen.134 Als berühmter, vom Kaiser gekrönter Dichter (1564) fand er in Heidelberg als direkter Vorgänger Gruters in der Palatina eine Wirkungsstätte bis zu seinem Tode (1602).
Petrus Denaisius als politischer Publizist Das Wirken des Petrus Denaisius ist unvergleichlich viel enger und intensiver mit dem Pfälzischen Raum verbunden, als das des humanistischen Kosmopoliten Melissus.135 Der poetische Ertrag an deutschsprachiger Dichtung ist – soweit bisher übersehbar – gering.136 Dafür zeichnet sich die für die Heidelberger um den Winterkönig so typische politisch-publizistische Wirksamkeit in seinem Werk um so deutlicher ab. Sie ist getragen von einem kämpferischen calvinisti–––––––––
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Euphorion 29 (1928), S. 578–617; ders.: Über deutsche Nachdichtungen der Psalmen seit der Reformation.- In: Gestalt, Gedanke, Geheimnis. Festschrift Johannes Pfeiffer. Hrsg. von Rolf Bohnsack, Hellmut Heeger, Wolf Hermann.- Berlin: Verlag ›Die Spur‹ 1967, S. 365–380. Vgl. auch ders.: Die Entwicklung des barocken Langverses (Anm. 109), S. 431 ff. Instruktive und ausführliche Einleitung zur Psalmenübersetzung des Melissus bei: Die Psalmenübersetzung des Paul Schede Melissus (1572). Hrsg. von Max Hermann Jellinek.Halle/Saale: Niemeyer 1896 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts; 144–148). Dazu Karl Drescher in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 27 (1901), S. 332–335. Unergiebig dagegen Wilhelm Procop: Die Psalmen des Paulus Melissus in ihrem Verhältnisse zur französischen Psalmen-Übersetzung des MarotBeza und zur Vulgata. Eine sprachliche Untersuchung.- Progr. Rosenheim 1898/99. Vgl. zu den Psalmendichtungen des 16. Jahrhunderts Helmut Lerche: Studien zu den deutschevangelischen Psalmendichtungen des 16. Jahrhunderts.- Diss. phil. Breslau 1936. Zum 17. Jahrhundert: Klaus-Peter Ewald: Engagierte Dichtung im 17. Jahrhundert. Studie zur Dokumentation und funktionsanalytischen Bestimmung des ›Psalmdichtungsphänomens‹.Stuttgart: Heinz 1975 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 6). Engagement der Psalmendichter ist für Ewald »affirmatives Engagement«, d.h. »Motiviertsein zur Herstellung gesellschaftsbestätigender Texte zum Zwecke der eigenen Existenzsicherung bzw. -verbesserung. [...] Die bedeutendste Wirkung der Psalmen zeigt sich in ihrer Fähigkeit, Trost zu spenden, von real erfahrener Not abzulenken oder diese Not zur geistlichen Prüfung zu verklären.« Psalmendichtung als ein »Trost-, Beruhigung- und Ablenkung-Leisten« (S. 18 f.). So einfach kann es sein, wenn man sich den Weg über die Geschichte weitgehend erspart. Grundlegend Erich Trunz: Ambrosius Lobwasser. Humanistische Wissenschaft, kirchliche Dichtung und bürgerliches Weltbild im 16. Jahrhundert.- In: Altpreußische Forschungen 9 (1932), S. 29–97. Zu Denaisius vgl. Julius Zacher: Die deutschen Sprichwörtersammlungen nebst Beiträgen zur Characteristik der Meusebachschen Bibliothek. Eine bibliographische Skizze.- Leipzig: Weigel 1852, S. 45–55; Höpfner: Reformbestrebungen (Anm. 109), S. 42; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 1010 (Register); Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86), S. 361; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 225. Vgl. das ›Hochzeitlied‹ in der Zincgrefschen Anthologie. Letzter Neudruck in Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 225–228. Vgl. auch die Übersetzung des Widmungssonetts zu einem unten Anm. 138 zitierten Fürstenspiegel Jakobs I., Bl. a5r.
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schen Ethos, wie es bei den jüngeren Heidelberger Dichtern, insbesondere bei Zincgref, dann fortlebt. Denaisius entstammte einer Hugenottenfamilie, die während der Bürgerkriege im Elsaß Zuflucht fand, wo er 1560 in Straßburg geboren wurde. Denaisius hatte sein Rechtsstudium in Padua absolvieren können, schloß es mit der Promotion in Basel ab und trat dann durch Vermittlung Lingelsheims in den diplomatischen Dienst des kurpfälzischen Hofes, für den er u.a. als Gesandter am polnischen und englischen Hof tätig wurde. Von 1590 bis zu seinem frühen Tod 1610 war er als Vertreter der weltlichen Kurfürsten Beisitzer des Kammergerichts in Speyer. Denaisius, seit 1589 Schwiegersohn des Oberratsmitgliedes und Vizekanzlers Culmann, wohnte während seiner sechs Heidelberger Jahre (1584–1590) zumindest zeitweise im Hause des Laurentius Zincgref, des Vaters des Dichters, und blieb auch während seiner Tätigkeit als Beisitzer am Reichskammergericht in Speyer (seit 1590) mit den Lingelsheim und Zincgref in engem Kontakt.137
Die große Tradition politisch-konfessionellen Schrifttums aus calvinistischem Geist in der Pfalz repräsentiert Denaisius durch seine Gegenschrift Dissertatio De Idolo Hallensi (1605) zu Lipsius’ mariologischem Alterswerk Diva Virgo Hallensis (1604) sowie durch die evangelische Antwort Drey Jesuwiten Latein (1607) und schließlich durch zwei Übersetzungen von Antoine Arnaulds Le franc et véritable discours au Roi, Sur le restablissement qui lui est demandé pour les Jésuites (1602) und Jakobs I. Fürstenspiegel B A Ȉ ǿ ȁ ǿ Ȁ ȅ ȃ ǻ ȍ ȇ ȅ ȃ (1604).138 Während die Widmungsschrift des ›Basilicon Doron‹ an Friedrich IV. ––––––––– 137 138
Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 228. Vgl. zum ganzen den instruktiven NDB-Artikel von Kurt Hannemann, in dem diese Angaben erstmals versammelt sind. Zu Denaisius’ Antwort auf Lipsius vgl.: Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 693 f. Zu Denaisius’ Drey Jesuwiten Latein vgl. Zacher: Die deutschen Sprichwörtersammlungen (Anm. 135), S. 45 ff. Die beiden Übersetzungen von Denaisius sind von Lingelsheim veranlaßt. Vgl. dazu die Reifferscheidsche Briefausgabe (Anm. 19), S. 688 und S. 694. Der Titel der Arnauld-Übersetzung von Denaisius: Bedencken | An die Königliche | May: in Franckreich/ | Vber der Jesuiter bey deroselben gesuch= | ten außsöhnung/ vnd widerein= | kommung in jhrer May. | Landen. | Newlicher tagen außgangen/ vnd auß der | Frantzösischen in vnsere Teutsche | Sprach versetzet. | Sampt einer Vorred/ vnd zu ende angeheffter | Erklärung etlicher dunckeler Päß | darinnen. | Heidelberg 1602. Die gleich im folgenden Jahr (ohne Ortsangabe) erscheinende zweite Auflage ist – im Gegensatz zu dem bei Hannemann erweckten Anschein – textlich identisch. Zu den ehemaligen Besitzverhältnissen vgl. den Deutschen Gesamtkatalog s.v. ›Arnauld, Antoine‹. In der Staatsbibliothek Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat sich nur die Übersetzung Heidelberg 1602 erhalten. Die im Gesamtkatalog verzeichneten Exemplare der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) München sind weiterhin zugänglich. Ein weiteres Exemplar der Übersetzung Heidelberg 1602 z.B. in Wolfenbüttel.– Der Titel der Übersetzung des Fürstenspiegels Jakobs I. von Denaisius: B A Ȉ ǿ ȁ ǿ Ȁ ȅ ȃ | ǻ ȍ ȇ ȅ ȃ | Oder | Jnstruction vnd | Vnderrichtung | IACOBI deß Ersten dieses namens | in Engelandt/ Schottlandt/ | Franckreich/ vnd Jrrlandt | Königs/ | an | Seiner Kön. Mayt. geliebten | Sohn | Printz Henrichen. | Auß dem Englischen verteutscht. | Gedruckt in der Keys. Reichsstatt | Speyer/ durch Melchior Harmann. | Jm Jahr 1604. Die Widmungsschrift ist unterzeichnet mit »P.D.«. Auch dieses Werk wurde sogleich wieder aufgelegt. Kritische Ausgabe des englischen Textes: The Basilicon Doron of King James VI. With an Introduc-
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von der Pfalz nur eine captatio benevolentiae enthält, liefert Denaisius in der Vorrede zur Übersetzung der antijesuitischen Kampfschrift des Pariser Parlamentsmitgliedes Arnauld eine selbständige Einschätzung des Vorgangs. Sie erweist Denaisius als brillanten politischen Analytiker und gewandten deutschsprachigen Publizisten. Ihm geht es in seiner Vorrede um die Identifizierung derer, die hinter dem Gesetz zur Ausweisung der Jesuiten im Jahre 1594 stehen. Es sind dies nach Denaisius gute Katholiken, nämlich die vier Fakultäten der Pariser Universität, der Pariser Klerus und die Räte und Beisitzer des Pariser Parlaments. Was den Klerus angehe, so habe sich dieser dadurch ausgezeichnet, daß er die Reformierten nicht nur – wie die Jesuiten – des Landes verwiesen habe, sondern im Rauch gen Himmel geschickt/ vnnd nachmaln alle so viel deren noch vberig sind/ gern in einem löffel erdrencken möchten/ da es bey jhrem willen vnd vermögen stünde/ oder ohn endliche zerrüttung deß gantzen Königreichs geschehen köndte.139
Die Parlamentsmitglieder jedoch, nicht »weniger von wegen jres einbrünstigen eiffers zur Römischen/ vnd tragenden eussersten haß vnd neids gegen der Reformirten Religion bekandt«, hätten die Edikte zugunsten der Ligisten und zur Ausrottung der Hugenotten unter Franz I. und Heinrich II. mitgetragen, dagegen das von Heinrich IV. erneuerte Toleranzedikt beharrlich sabotiert.140 Endlichen hat jhre May: anders wollen frieden im Land haben/ vnd sein Reich vor vnummgänglichen vntergang erretten/ so hat er die publication dem Parlament mit gewalt/ vnd hernach mit dem schwerth müssen abnötigen vnd aufftringen.141
Auch Arnauld als Verfasser des von Denaisius übersetzten Gutachtens ist ja Parlamentarier und Katholik. Für ihn wie für die übrigen Ankläger der Jesuiten ist denn auch allein maßgebend, daß der militante geistliche Orden zu einer Gefahr für die Einheit des Staates, die eben sich formierende absolutistische Monarchie, geworden ist. Als »verführer der jugend/ zerstörer der gemeinen Ruhe/ vnd feind des Königs vnd Königreichs« wird er verdammt, denn »vmb vndertruckung vnd zerzerrung der Königlichen Eminentz vnnd Frantzösischen Monarchi« sei es den Jesuiten zu tun gewesen.142 Diese aber vermögen gleichwohl den Anschein zu erwecken, als seien es ihre Glaubensgegner, die ihre Verweisung aus Frankreich betrieben. Sie wiederholen damit ihre bekannte Praxis, alle die jenigen/ so jhnen zu weit in die charten sehen/ andre vor jhrem spiel warnen/ vnnd sich jhrem vornehmen entweders widersetzen oder auch nicht theilhafftig machen wollen/ für Ketzer/ oder ja für solche Leuth/ die mit den Ketzern leichen/ vnd einer Politischen Religion anhengig weren/ auß zuschreien vnd offentlich zu beschüldigen. Vnd ist jhnen gleichwol anfangs solcher griff nit vbel gerathen/ sondern so lang gut gethan/ biß jhr intent endlich außgebrochen/ vnd die zeit selbsten jhnen das Visier abgezogen/ jhre heucheley
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tion, Notes, Appendices, and Glossary. Edited by James Craigie. Band I: Text, Band II: Introduction, Notes etc.- Edinburgh, London: Blackwood 1944–1950. Denaisius: Bedencken (Anm. 138), Bl. a5r. Ebd., Bl. a5r f. Ebd., Bl. a6v f. Ebd., Bl. a7r und Bl. a4r.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung entdeckt/ vnd menniglichen (aber vielen gar zu spaht) zu erkennen geben/ warmit sie vnter solchem deckmantel der Religion vnnd angemastem Schaffskleid schwanger gangen.143
Dieses Zitat dürfte den in der calvinistischen Pfalz vernehmbaren Ton der konfessionspolitischen Polemik hinlänglich prägnant charakterisieren. Eine derartige Sprache schonungsloser Demaskierung forderte zu erbarmungsloser Abrechnung heraus. Die bestialische Brutalität der Eroberer nach dem Fall Heidelbergs im Jahr 1622, die Ausrottung des calvinistischen Nests, war die Antwort auf eine Publizistik nach der Art des Denaisius.
Friedrich Lingelsheim und der jüngere Heidelberger Dichterkreis Schließlich ein Wort über Friedrich Lingelsheim.144 Als ältester Sohn aus der ersten Ehe Georg Michael Lingelsheims mit Claudine Virot studierte er zunächst in Heidelberg Jura, seit 1613 zusammen mit Zincgref in Orléans und starb schon frühzeitig im Anschluß an eine Bildungsreise nach Italien. So wie Denaisius im Zincgrefschen Anhang zur Opitz-Ausgabe mit einem Hochzeitsgedicht auf Georg Michael Lingelsheims zweite Heirat mit der Tochter des angesehenen Heidelberger Oberrats Michael Loefenius hervortrat, so Friedrich Lingelsheim mit einem Epithalamium anläßlich der dritten Ehe seiner Schwester Salome – eines von sieben Geschwistern – mit Petrus de Spina, einem promovierten Mediziner (1615 Basel) und seit 1620 Professor für Medizin in Heidelberg, seit 1622 Hofmedikus.145 Über die Lingelsheims verliefen die Kontakte zu den jüngeren Heidelberger Dichtern, vor allem zu Zincgref. Der soziale Status dieser Schicht ist eindeutig. Die erwähnten Personen um Georg Michael Lingelsheim – mit Ausnahme von Melissus und dem Jurastudenten Friedrich Lingelsheim – »gehören der höchsten bürgerlichen Beamtenschicht der Pfalz an« und sind als solche geschieden von der Schicht der Kirch- und Schuldiener bzw. von den Mitgliedern der Artistenfakultät, über die Mertens instruktiv am Beispiel Johannes und Thomas Ludolf Adams gehandelt hat.146 Besonders aufschlußreich sind die gleichfalls von Mertens aufgedeckten, ästhetischen Konsequenzen dieser sozialen Differenzierung. Für die niederen, mit geringerem sozialem Prestige ausgestatteten akademischen Berufe bleibt das La––––––––– 143 144
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Ebd., Bl. a3r. Zu Friedrich Lingelsheim vgl. Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 728 ff.; Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 270 f. Letzter Druck in Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 270–272. Zu Petrus de Spina d.J. vgl. ebd., S. 271, und Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 767. Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 228. Mit dieser Arbeit von Mertens, die eben vorwiegend den Adams gewidmet ist, ist die kurz vorher erschienene Studie von JörgUlrich Fechner: Thomas Ludolf Adam. Ein bislang unbeachteter Angehöriger des frühbarocken Heidelberger Dichterkreises.- In: Euphorion 65 (1971), S. 419–427, hinfällig geworden.
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teinische Vehikel und Ausdruck beruflicher Qualifikation. »Solange und überall dort, wo dieser funktionale Zusammenhang zwischen Beruf und Dichten besteht, sind im Druck publizierte deutsche Gedichte kaum zu erwarten.«147 Für die akademische und beamtete Oberschicht in der Pfalz »besteht kein solcher Zusammenhang zwischen Beruf und Dichten, so daß in ihrer Poesie Sprache, Formen und Motive ohne berufsbezogene Rechtfertigungen und Rücksichten Verwendung finden können.«148 Sie ist es denn auch, die ohne Statusgefährdung das Experiment einer deutschsprachigen Kunstdichtung wagen kann. Als Opitz 1619 in Heidelberg eintraf, hatte sich die Situation gegenüber derjenigen um 1600 hinsichtlich der Personenkonstellation wie auch in Bezug auf die politische Lage entscheidend geändert.149 Schede und Denaisius aus der älteren Generation waren tot; die personelle Kontinuität wahrten Lingelsheim und Gruter. Das in der neulateinischen Triga amico-poetica repräsentierte Dreiergespann Friedrich Lingelsheim / Zincgref / Weidner war nicht mehr beisammen. Lingelsheim war 1616 gestorben, Weidner lebte seit 1615 als Schulrektor zunächst in Elberfeld, dann in Monschau. Es ist bezeichnend, daß nicht er [Zincgref], sondern Weidner die ›Triga‹ (1619) herausgab, die größtenteils wie eine Fortsetzung der ständisch bestimmten neulateinischen Poesie wirkt; der Schulrektor Weidner legte mit ihr den traditionellen Beweis seiner Sprachbeherrschung und zugleich ein Zeugnis seiner für einen Schulmann ungewöhnlichen Freundschaften und Bekanntschaften vor.150
Julius Wilhelm Zincgref und seine Anthologie im Anhang zu Opitzens ›Poemata‹ von 1624 Zincgref widmete sich dagegen der Produktion und Organisation der deutschsprachigen Dichtung. So steht neben der Triga, in der er mit 184 Gedichten gleichfalls reichhaltig vertreten ist, die von ihm zusammengebrachte Anthologie deutschsprachiger Dichtung vor und neben Opitz im Anhang zu der gleichfalls von ihm veranstalteten Opitz-Ausgabe von 1624. Von den 13 im Anhang zu Wort kommenden Dichtern waren nur noch Zincgref, J. Gebhardt, B. Venator sowie vielleicht J. Creutz in Heidelberg anwesend, als Opitz dort 1619 erschien; H.A. Hamilton kam ein halbes Jahr später hinzu.151 Über Schede, Denaisius und Friedrich Lingelsheim wurde bereits gesprochen. Weckherlin und Schallenberg stehen dem Heidelberger Kreis ohnehin fern. Aber auch die beiden in Straßburg ansässigen I. Habrecht und B. Wesselius können trotz der engen Verbindungen zwischen Straßburg und Heidelberg noch nicht hinzugezählt werden, da ihre Beiträge zum Anhang erst später, kurz vor dem Abschluß der Sammlung, entstanden sind. Hätten sie sich schon früher als deutschsprachige Dichter hervorgetan, so hätte Zincgref
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Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 230. Ebd., S. 229. Dazu ebd., S. 231 ff. Ebd., S. 231. Vgl. ebd., S. 226.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung 1623/1624 in Straßburg gerade ihre Arbeiten am ehesten erhalten können. C. Kirchner, der von 1615 bis etwa Mitte 1617 in Straßburg gewesen war, zog nach Leiden, als Zincgref von seiner fünfjährigen Bildungsreise zurückkehrte. Daß Zincgref während dieser Reise Weckherlin getroffen haben könnte, ist denkbar, aber nicht nachzuweisen.152
Über die Dichter des Anhangs informiert knapp und mit den nötigen Verweisungen George Schulz-Behrend im Apparat zu seiner Opitz-Edition, in der erfreulicherweise erstmals wieder die Zincgrefsche Edition in der authentischen Gestalt in einem Neudruck zugänglich gemacht wird.153 So erübrigen sich hier Wiederholungen. Treibende Kraft im Transformationsprozeß der lateinischen zur deutschsprachigen Dichtung war Julius Wilhelm Zincgref. Er ist mit der weitaus größten Zahl deutschsprachiger Gedichte im Anhang vertreten. Dieser Einsatz für die deutschsprachige Kunstdichtung geht bei ihm sehr viel deutlicher als bei Opitz Hand in Hand mit seiner Artikulation als politischer Schriftsteller im Medium der deutschen Sprache. Sein Biograph Franz Schnorr von Carolsfeld hat darauf in einer bahnbrechenden Abhandlung vor mehr als hundert Jahren sogleich hingewiesen, und die jetzt erscheinenden Arbeiten von Mertens und Verweyen bestätigen diesen Aspekt seines Wirkens nicht nur, sondern bekräftigen ihn mit neuen Dokumenten und Argumenten.154 Hier wurde in unmittelbarem Kontakt mit der Politik des Winterkönigs und seiner Räte ein Typ von politischer Dichtung und Agitation freigesetzt, in der der Einsatz der deutschen Sprache in den Dienst publizistischer Breitenwirkung tritt.155 Die interessanteste Gestalt neben Zincgref unter den fünf jüngeren Dichtern der Anthologie, die Opitz in Heidelberg kennenlernte, ist zweifellos Balthasar Venator.156 Ihm hat Opitz in der Schäfferey von der Nimfen Hercinie ein Denkmal gesetzt. Seine literarische Wirksamkeit fällt allerdings zum größten Teil in die Zeit nach der Zerstörung Heidelbergs. Venator hatte zunächst noch am kurpfälzischen Hof in Heidelberg als Sekretär arbeiten (1617–1622) und Kontakte zu Lingelsheim, Gruter, de Spina, sowie zu Opitz und Zincgref und zu den Räten wie Camerarius, Rusdorf, Pawel, Plessen knüpfen können. Straßburg – und hier wieder das Haus des gleichfalls geflüchteten Lingelsheim – boten dann zu––––––––– 152 153
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Ebd., S. 226 f. Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 218–290. Vgl. auch die Einleitung von Wilhelm Braune zu dem von ihm veranstalteten Neudruck: Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten gesammelt von Julius Wilhelm Zincgref. 1624.- Halle/Saale: Niemeyer 1879 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts; 15), sowie Franz Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften.- In: Archiv für Litteraturgeschichte 8 (1879), S. 1–58, S. 446–490; hier insbes. S. 449 ff. und S. 470 ff. Vgl. – neben der oben in Anm. 153 zitierten Arbeit von Schnorr von Carolsfeld – Mertens, Verweyen: Bericht über die Vorarbeiten zu einer Zincgref-Ausgabe (Anm. 110), sowie Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), insbes. S. 231 ff. In den beiden Aufsätzen von Mertens und Verweyen auch die gesamte einschlägige Spezialliteratur. Vgl. dazu unten S. 136 ff. Vgl. Erich Volkmann: Balthasar Venator.- Diss. phil. Berlin 1936, sowie Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 451 ff.; Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), S. 780 f. und S. 1043 f. (Register). Vgl. auch Friedrich von Gundolf: St. Helena Als Irdisches Paradies.- In: Modern Language Quarterly 6 (1945), S. 329–331.
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nächst Asyl, bevor Venator eine Hauslehrerstelle bei dem Augsburger Patrizier Markus von Rechlingen annahm. Sie ermöglichte ihm u.a. eine Hofmeisterreise nach Frankreich und in die Schweiz, bevor er schließlich im Dienst des Pfalzgrafen von Zweibrücken seine Lebensstellung fand. Venators von seinem Biographen Volkmann knapp resümiertes Œuvre beweist, wie die im Umkreis Heidelbergs empfangenen antikatholischen Impulse auch nach dem Untergang des geistigen und materiellen Zentrums fortlebten und in der Propaganda für eine evangelische Union, wie sie so typisch ist für den Heidelberger Calvinismus, nochmals Gestalt gewannen. Zincgref hat seiner Anthologie deutschsprachiger Gedichte vor und neben Opitz mit dem Arrangement der Anfangs- und Schlußbeiträge einen wohlüberlegten und programmatischen Akzent verliehen.157 Dieser korrespondiert seiner Widmungszuschrift an den elsässischen Adligen Eberhard von Rappoltstein. Sie belegt, daß bei den Heidelbergern nicht nur die generellen, aus dem Aristarchus bekannten Argumente für eine deutschsprachige Dichtung im Umlauf waren, sondern zugleich ein sensibles Bewußtsein für die politischen Implikationen und Konnotationen dieses Programms bestand. Greifen die Deutschen weiterhin zum fremden Idiom, statt zu dem eigenen, so müssen sie sich darüber im klaren sein, daß »sie sich muthwillig zu Sclaven frembder Dienstbarkeit machen/ sintemahl es nicht ein geringeres Joch ist/ von einer außländischen Sprach/ als von einer außländischen Nation beherrschet vnd Tyrannisiret werden.«158 Politische Unterwerfung – die hier noch nicht, wie dann später zumeist, auf Frankreich gemünzt ist, sondern primär das lateinischsprachige katholische Imperium meint – und ästhetische Defizienz gehen Hand in Hand. Dieser Sachverhalt gestattet den Höfen die vorbehaltlose Propagierung der Opitzschen Reformbewegung für eine Weile. Natürlich hat auch Zincgref Fürstentum und Adel als Adressaten im Auge, wie seine Widmung zeigt. Hier bei den Heidelbergern bildet das Plädoyer für die deutsche Sprache jedoch einen gewichtigen Beitrag zur calvinistischen antihabsburgischen Unierungspolitik. In der älteren Forschung ist davon eine Ahnung lebendig gewesen, die freilich in den nationalstaatlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts nur inadäquat zu artikulieren war: Wenn die historische Wichtigkeit dessen, was von Martin Opitz und seinen Genossen auf dem Gebiete der deutschen Dichtkunst erstrebt und geleistet worden ist, weniger in dem Kunstwerthe ihrer dichterischen Producte selbst, weniger auch in der Einführung verbesserter Formen und Regeln, welche ihr Verdienst ist, zu suchen ist als darin, dass sie es wagten, mit althergebrachten Anschauungen und Gewöhnungen des deutschen Gelehrtenstandes zu brechen, und die Muttersprache von dem Range einer lingua vulgaris nach jahrhundertelanger Vernachlässigung wieder zu dem einer Litteratursprache zu erheben bemüht waren, so gebührt Zincgref der Ruhm, diesen in der Nachwirkung wichtigsten Theil der reformatorischen Bestrebungen seines Zeitalters mit vollster Klarheit ins Auge gefasst und mit grösster Entschiedenheit verfochten zu haben. Seinem Muthe (dieser Ausdruck ist hier wirklich am Platz) war es wesentlich zu danken, dass die erste, bekanntlich
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Die Beobachtung auch schon bei Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock. 1400– 1600. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage.- Stuttgart: Metzler 1950 (= Epochen der deutschen Literatur. Geschichtliche Darstellungen; II/1), S. 493 f. Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 169.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung von ihm herausgegebene Sammlung von Opitzens deutschen Gedichten dem Publicum übergeben ward, seine Einsicht sorgte dafür, dass diese ungewohnte Gabe im rechten Sinne aufgenommen und verstanden werden musste, und seine der Ausgabe beigefügte, dem Tyrtaeus nachgedichtete ›Vermanung zur Dapfferkeit‹ war ein directer Aufruf an den Patriotismus, welcher für die beabsichtigte Wirkung der ganzen, von einem aufstrebenden nationalen Geiste getragenen Veröffentlichung eine nothwendige Voraussetzung war.159
Dementsprechend hat Zincgref im Eingang zu seiner Sammlung – in Analogie zu Opitzens ›An die Teutsche Nation‹ – die kulturpolitisch-programmatischen Beiträge von Habrecht, ihm selbst und Melissus plaziert. Opitz führt seine Liebesgedichte mit der Bitte um günstige Aufnahme bei der »Teutsche[n] Nation voll Freyheit Ehr vnd Tugendt« ein.160 In den drei Carmina der Zincgrefschen Anthologie wird dagegen ausschließlich die Würde der deutschen Poesie thematisiert, bevor sodann der Übergang vornehmlich zu Liebes- und Gelegenheitsgedichten der Sammlung erfolgt. Zincgref rückt die Pflege der deutschen Dichtung ausdrücklich in den Dienst an »Teutschlandes Ehr«.161 Am weitesten geht Melissus in seiner vielzitierten Strophe über Deutschlands Kunst, in der er diese schon jetzt über die anderer Völker stellt und sich dazu ausdrücklich auf seine Erfahrungen im Ausland beruft.162 Eben sie machten ihn auch auf ästhetischem Sektor zum geschätzten Ahnherrn und Patron unter den Heidelbergern. Die direkte politische Konsequenz zieht jedoch der politische Kopf des Kreises, Zincgref. Seine berühmte ›Vermanung zur Dapfferkeit‹, das Schlußgedicht der Anthologie, ist – wie das Titelblatt eines 1632 erschienenen Einzeldrucks zeigt – mitten in die Belagerung Heidelbergs im Jahre 1622 durch die Truppen Tillys hineingesprochen, als Zincgref als Generalauditor in der eingeschlossenen Stadt fungierte: Soldaten Lob, Oder Vnvberwindlicher Soldaten Trutz, Von Eigenschafften, vnd vortrefflichen, vnvberwindlichen Dapfferkeit der Edlen Soldaten, so mit vnerschrockenem Hertzen vnd Frewdigkeit, zu hindertreibung deß, von dem Feind, dem Vatterland angeträweten Vntergangs, jhr Leben Ritterlich wagen, vnd in Gefahr setzen. Nach Art der Verß deß vhralten Griechischen Poeten Tyrtæi, durch welche die Spartaner jhre Kriegsknecht zum Streit vorzubereiten, vnd zur Dapfferkeit zu ermahnen pflegten.163
Dieses Vaterland droht dem Untergang zu verfallen durch einen Widersacher, der auch Deutscher ist, aber katholisch. So schießen der poetische und der politische Bedeutungsgehalt dieses Begriffs zusammen, und sein stets latentes geschichtliches Potential wird manifest. ––––––––– 159
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Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 466 f. Martin Opitzens ›Aristarchus‹ (Anm. 71), S. 15. Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 220. Ebd., S. 220 f. Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten (Anm. 153), S. IX. Hier versehen mit dem Zusatz: »Nach Zacher, Sprichwörtersammlungen S. 38 und Weller, Annalen II, 386 gibt es auch einen Einzeldruck o.O. 1625, der dann wahrscheinlich die Vorlage des Frankfurter Drucks von 1632 ist.« Vgl. auch Oskar Fischl: Quelle und Nachwirkung von Julius Wilhelm Zinkgrefs ›Vermanung zur Dapfferkeit‹.- In: Euphorion 18 (1911), S. 27–41.
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Das Gedicht selbst ist denn auch kein rhetorisches Exerzitium zum Preis des Todes für das Vaterland, so sehr ältere Kritiker sich über das generelle und reflexive Moment verwundert haben angesichts der konkreten Situation.164 Es gewinnt seinen überzeugenden Duktus, der das gelungene Barockgedicht von der Fingerübung trennt, durch das Vertrauen auf die gerechte Sache, die der Calvinist und seine Freunde auf ihrer Seite wissen. Es ist der gleiche Geist, der auch aus Opitzens Trostgedichte spricht. Der Sprecher ist überzeugt, [...] es sey viel besser einer sterb/ Als daß das gantze Volck vnd Vatterland verderb. [...] Verlest sich auff die Stärck seiner gerechten sach. Die gute sach jhn tröst/ solt’ auch der Feind obsiegen/ So werd die Warheit doch mit nichten vnden liegen/ Sein vnschuld selber sich zu einem Bürgen stelt/ Daß sie doch endlich noch behalten werd das Feldt.165
Der Begriff der Freiheit, der hier bei Zincgref und ein wenig später dann bei Opitz im Mittelpunkt steht, meint stets die kulturelle, konfessionelle und politische zugleich. Er definiert sich in Opposition zur Suprematie des lateinischen Katholizismus und Universalismus, für die der Begriff der Tyrannei einsteht. Wie jhr die Sonn/ wann sie am aller tiefsten stehet Zum vndergang geneigt/ am aller grösten sehet: So auch erzeiget sich in seinem letzten streit Sein vnerschrocken Hertz mit dopler Herrligkeit[.]166
Es ist dies zugleich eine Metapher für die kurze Blüte politischer Dichtung in Heidelberg, die mit dem Untergang des Calvinismus nicht nur in der Pfalz so rasch wieder verschwand.
Der Aufbruch des Pfälzer Kurfürsten nach Prag in konfessionspolitischer Perspektive: Luthertum und Calvinismus Das böhmische Unternehmen Friedrichs V. und seine publizistische dichterische Begleitung kann hier nicht annähernd ausgeleuchtet werden. Es darf aber auch nicht ausgespart bleiben, markiert es doch nicht nur eine Wende im Leben Opitzens, sondern in der Formierung der deutschen Literatur schlechthin. Man darf es mit Recht als ein geschichtliches Datum von europäischem Rang bezeichnen. Der faktische Hergang ist oft genug Gegenstand der historischen Forschung gewesen. An dieser Stelle sind daher nur einige wenige grundsätzlichere Erwägungen am Platze.167 –––––––––
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Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 473. Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band II/1, S. 287 f. Ebd., S. 288. Vgl. – neben dem bereits zitierten Werk von Häusser: Geschichte der rheinischen Pfalz (Anm. 86) – des weiteren Anton Gindely: Geschichte des Böhmischen Aufstandes von
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Zu den prägenden Erfahrungen, die der Pfalz und ihren Repräsentanten im Kontakt mit dem westeuropäischen Calvinismus zuteil geworden waren, gehörte jene des Bürgerkriegs und des aktiven Widerstands gegen die etablierte katholische Obrigkeit. Eine solche hatte sich im Raum des Luthertums niemals durchzusetzen vermocht. Der Schmalkaldische Krieg war in der Geschichte des Protestantismus eine Episode geblieben, das Schmalkaldische Bündnis selbst von vornherein als reine Defensivallianz konzipiert worden. »Seine Führer verstanden es nicht, ihren Kampf unter ein positives politisches Ziel zu stellen, von dem eine werbende Kraft ausging.«168 Das hatte Folgen, beförderte es doch eine skrupulöse Mentalität gegenüber dem Kaiser. Diese wurde nicht nur durch die Niederlage genährt, die die Evangelischen bei ihrem ersten kriegerischen Auftreten sogleich bitter zu schmecken bekommen haben. Sie war der lutherischen Theologie selbst inhärent.169 Indem –––––––––
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1618. Band I–III.- Prag: Tempsky 1869–1878 (= Geschichte des dreißigjährigen Krieges. 1. Abt.), insbes. Band I, S. 442 ff.; II, S. 172 ff. und S. 291 ff.; Julius Krebs: Zur Geschichte der kurpfälzischen Politik am Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618–19).- Progr. Städtisches Gymnasium Ohlau 1875; Onno Klopp: Der dreißigjährige Krieg bis zum Tode Gustav Adolfs 1632. Zweite Ausgabe des Werkes: Tilly im dreißigjährigen Kriege. Band I.Paderborn: Schöningh 1891 [mehr nicht erschienen], S. 398 ff.; Moriz Ritter: Die pfälzische Politik und die böhmische Königswahl 1619.- In: Historische Zeitschrift 79/N.F. 43 (1897), S. 239–283; ders.: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreissigjährigen Krieges (1555–1648). Band I–III.- Stuttgart: Cotta 1889–1908 (= Bibliothek Deutscher Geschichte; 8), Band III, S. 47 ff.; Helmut Weigel: Franken, Kurzpfalz und der Böhmische Aufstand 1618–1620. 1. Teil: Die Politik der Kurpfalz und der evangelischen Stände Frankens Mai 1618 bis März 1619.- Erlangen: Palm und Enke 1932; John Gustav Weiß: Beiträge zur Beurteilung des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz.- In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 85/N.F. 46 (1933), S. 385–422; ders.: Die Vorgeschichte des böhmischen Abenteuers Friedrichs V. von der Pfalz.- In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 92/N.F. 53 (1940), S. 383–492; Schubert: Ludwig Camerarius (Anm. 96), S. 66 ff.; Hans Sturmberger: Aufstand in Böhmen. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges.- München, Wien: Oldenbourg 1959 (= Janus-Bücher; 13), S. 53 ff.; Josef Hemmerle: Die Calvinische Reformation in Böhmen.- In: Stifter-Jahrbuch 8 (1964), S. 243–276, insbes. S. 252 ff.; Josef Polišenský: Der Krieg und die Gesellschaft in Europa 1618–1648.- Prag: Academia; Wien, Köln, Graz: Böhlau 1971 (= Documenta Bohemica Bellum Tricennale Illustrantia; 1), S. 54 ff. Weitere reichhaltige Literaturangaben – vor allem unter Berücksichtigung des tschechischen Schrifttums – bei Karl Richter: Die böhmischen Länder von 1471 bis 1740.- In: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder. Hrsg. von Karl Bosl. Band II: Die böhmischen Länder von der Hochblüte der Ständeherrschaft bis zum Erwachen eines modernen Nationalbewußtseins.- Stuttgart: Hiersemann 1974, S. 97–412, 267 ff. Ernst Walter Zeeden: Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden (1648).- In: Handbuch der europäischen Geschichte. Hrsg. von Theodor Schieder. Band III: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Josef Engel.Stuttgart: Union 1971, S. 445–580, S. 536. Ich verweise hier nur auf den von Gunther Wolf herausgegebenen Sammelband: Luther und die Obrigkeit.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 (= Wege der Forschung; 85), und die darin enthaltene Auswahlbibliographie für das Schrifttum zwischen 1910 und 1970, S. 469–482. Vgl. auch die einschlägigen Beiträge in: Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen. Hrsg. von Heinz-Horst Schrey.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969 (= Wege der Forschung; 107), hier S. 557–
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diese ihr ganzes Gewicht auf die innere Erneuerung, die innere Glaubenserfahrung legte, sank das Äußere zu einem Sekundären herab. Staat und Gesellschaft nahm Luther denn auch als gegebene Größen hin. Lag über der Sanktionierung des ständischen ordo-Gedankens der Widerschein göttlicher Schöpfungsordnung, der seine Weiterbildung in der ständischen Berufsethik Luthers fand, so nahm der Staat in seiner Anschauung zunehmend den Charakter einer gottverordneten Zwangsanstalt an. Der schroffe Dualismus der Lutherischen Theologie fand darin seine problematische, um nicht zu sagen: seine verhängnisvolle Konsequenz. Ist menschliche Natur nur sola gratia gerechtfertigt, der Akt der Gnade ganz ins Innere verlegt, müssen um so striktere Vorkehrungen getroffenen werden, die abgefallene Natur im äußeren, im staatlichen Bereich zu zügeln. Eine utopische Perspektive im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich ist dem Luthertum daher fremd. Der erbarmungslose Kampf mit dem linken Flügel der Reformation ist in der Lutherischen Theologie selbst vorgezeichnet. Der tiefe Pessimismus der Lutherischen Anthropologie begünstigt die Hinnahme staatlicher Gewalt per se ebenso wie sie die Artikulation eines prononcierten Widerstandsrechts verhindert. Ganz anders im Calvinismus. Die Idee der Prädestination ist hier unlösbar an die Manifestation im individuellen, im kirchlichen und im staatlichen Bereich geknüpft.170 Die Affinität der Calvinischen Theologie zum Alten Testament rea–––––––––
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566 ebenfalls eine reiche Bibliographie zum Thema, sowie die ›Bibliographie zur ZweiReiche-Lehre‹ in: Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers. Mit einer Einführung von Gerhard Sauter und einer kommentierten Bibliographie von Johannes Haun.- München: Kaiser 1973 (= Theologische Bücherei; 49), S. 215–245. Grundlegend insbes. die Arbeiten von Johannes Heckel. Hier sei nur verwiesen auf: Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre. Zwei Abhandlungen zum Reichs- und Kirchenbegriff Martin Luthers.- München: Kaiser 1957 (= Theologische Existenz heute. N.F.; 55). Zum Kontext Hans Scholl: Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten.- Stuttgart [etc.]: Kohlhammer 1976 (= Urban-Taschenbücher; 616). Ergiebig auch die beiden Sammelbände: Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546. Hrsg. von Heinz Scheible.Gütersloh: Mohn 1969 (= Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte; 10); Widerstandsrecht. Hrsg. von Arthur Kaufmann in Verbindung mit Leonhard E. Backmann.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 (= Wege der Forschung; 173). Das klassische, inkommensurable Werk zum gesamten Fragenkomplex: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften. Band I: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen.- Tübingen: Mohr 1912. Dritte, photo-mechanisch gedruckte Auflage.- Tübingen: Mohr 1923. Reprint Aalen: Scientia 1961. Hier im dritten Kapitel ›Der Protestantismus‹ die beiden ersten Abschnitte: ›Das soziologische Problem des Protestantismus‹ und ›Das Luthertum‹, S. 427–512 und S. 512–605. Aus der reichen Literatur sei verwiesen auf das große und schlechterdings grundlegende Kapitel ›Der Calvinismus‹ in dem in der vorigen Anmerkung zitierten Werk Troeltschs, S. 605–794. Vielfach darauf fußend und ausdrücklich auf Troeltsch Bezug nehmend die aus einer Dissertation hervorgegangene Arbeit des Meinecke-Schülers und späteren großen Renaissance-Forschers Hans Baron: Calvins Staatsanschauung und das Konfessionelle Zeitalter.- Berlin, München: Oldenbourg 1924 (= Historische Zeitschrift. Beiheft; 1). Aus den zahlreichen Arbeiten des führenden Calvin-Forschers Josef Bohatec sei hier erwähnt: Calvin und das Recht.- Feudingen: Buchdruckerei und Verlagsanstalt; Graz: Böhlau 1934. Reprint Aalen: Scientia 1971; ders.: Calvins Lehre von Staat und Kirche. Mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens.- Breslau: Marcus 1937 (= Untersuchungen zur
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lisiert sich nicht zuletzt in ihrer ausgeprägten theokratischen Substanz. Gehört es zur religiösen Verpflichtung des Calvinisten, für eine im göttlichen Gebot fundierte politische Ordnung zu wirken, so ist darin das Recht und die Pflicht zum Widerstand gegen eine Obrigkeit eingeschlossen, die gegen dieses Gebot verstößt. Der theokratische Utopismus hat daher sein Äquivalent in den Theorien der Monarchomachen gefunden.171 Jenseits der Theorie jedoch legte der Calvinismus im Raum der Geschichte ein bleibendes Zeugnis seines theologischen wie politischen Heroismus in den Bürgerkriegen in England, Frankreich und den Niederlanden ab. Die Pfalz als Vorhut des Calvinismus in Deutschland war in diese konfessionspolitischen Auseinandersetzungen mehr als einmal verwickelt.172 Friedrich III., der Begründer des Pfälzer Calvinismus, hatte bei seinen Hilfsaktionen noch jegliche Vorsicht walten lassen. Unter Johann Casimir und Friedrich IV. häuften sich dann die militärischen und finanziellen Interventionen in Frankreich und den Niederlanden zur Unterstützung der bedrängten Glaubensgenossen. In ih–––––––––
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Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte; 147). Reprint Aalen: Scientia 1968. Hier in der Einleitung ein instruktiver Forschungsbericht. Hervorzuheben die Arbeit von Ludwig Cardauns: Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volks gegen die rechtmässige Obrigkeit im Luthertum und im Calvinismus des 16. Jahrhunderts.- Diss. phil. Bonn 1903; Gisbert Beyerhaus: Studien zur Staatsanschauung Calvins. Mit besonderer Berücksichtigung seines Souveränitätsbegriffs.- Berlin: Trowitzsch 1910 (= Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche; 7); Kurt Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens.- Breslau: Marcus 1916 (= Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte; 126). Reprint Aalen: Scientia 1968. Vgl. auch John William Allen: A History of Political Thought in the Sixteenth Century.- New York: Barnes & Noble 1928. Reprint with revised Bibliographical Notes.- London: Methuen 1957, S. 49–72; Pierre Mesnard: L’essor de la philosophie politique au XVIe siècle. Troisième édition.- Paris: Vrin 1977 (= De Pétrarque à Descartes; 19), S. 267–385: ›Un effort de reconstruction: la politique calviniste‹ (Erstauflage 1936); Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. Band I: The Renaissance. Band II: The Age of Reformation.- Cambridge [etc.]: Cambridge University Press 1978, Band II, S. 187–358: ›Calvinism and the Theory of Revolution‹. Dieser Band, ein glänzend disponiertes dreiteiliges Werk (Part one: ›Absolutism and the Lutheran Reformation‹; Part two: ›Constitutionalism and the Counter Reformation‹), ist mit einer umfassenden Bibliographie ausgestattet. Vgl. die große Einleitung des Herausgebers zu dem wichtigen Quellenwerk: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen. Übersetzt von Hans Klingelhöfer. Hrsg. und eingeleitet von Jürgen Dennert.- Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1968 (= Klassiker der Politik; 8). Hier auch eine ›Ausgewählte Bibliographie‹, S. 346–357. Verwiesen sei neben den in Anm. 170 aufgeführten Werken gezielt auf Ernst Wolf: Das Problem des Widerstandsrechts bei Calvin.- In: Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt. Hrsg. von Bernhard Pfister, Gerhard Hildmann.- Berlin: Duncker & Humblot 1956, S. 45–58. Eingegangen in den Sammelband: Widerstandsrecht (Anm. 169), S. 152–169. Vgl. außer den in Anm. 86 erwähnten Arbeiten zur Geschichte der Pfalz auch speziell Peter Krüger: Die Beziehungen der Rheinischen Pfalz zu Westeuropa 1576–82. Die auswärtigen Beziehungen des Pfalzgrafen Johann Casimir 1576–82.- Diss. phil. München 1964; Bernard Vogler: Die Rolle der Pfälzischen Kurfürsten in den französischen Religionskriegen (1559–1592).- In: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 37/38 (1970/71), Teil I, S. 235–266.
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nen gewann das Haupt der Pfälzer Politik, Christian von Anhalt, seine militärischen und strategischen Erfahrungen, aber auch die Grundbegriffe seines politischen Katechismus.173 Ganz anders als in den binnendeutschen lutherischen Territorien bildete sich in dem Außenposten des deutschen Protestantismus im direkten politischen und militärischen Kontakt mit den westeuropäischen Staaten ein Bewußtsein der militanten Kraft der Gegenreformation und damit zugleich ein Bewußtsein der Gefahren, die dem Bestand des Protestantismus auf europäischer Ebene insgesamt drohten.174 Hier haben die gleichfalls von Christian von Anhalt unermüdlich betriebenen Unierungs- und Bündnisaktivitäten der Pfalz ihren Ursprung. Stets traten im Calvinismus – und so auch in der Pfalz – irenische und polemisch kämpferische Züge hart nebeneinander auf.175 Die vermeintliche Aporie löst sich auf, sofern sie ins geschichtliche Kräftefeld zurückprojiziert wird. Gegenüber dem lutherischen Protestantismus sind von calvinistischer Seite im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts alle erdenklichen Anstrengungen wenn nicht nur zur Verschleifung der dogmatischen Gegensätze, so doch zu ihrer Überwölbung im Zeichen eines gemeinsamen antikatholischen Ursprungs unternommen worden. Insofern tritt im Calvinismus frühzeitig eine moderne irenische Strömung hervor, wie sie – unter ganz anderen Voraussetzungen – auch dem frühmodernen absolutistischen Staat eigen ist. Wenn jedoch der Staat seinen Souveränitätsanspruch kraft konfessionspolitischer Neutralität statuiert, so eignet der calvinistischen Toleranz nichts weniger als Überparteilichkeit im Streit der Konfessionen. Ihr liegt vielmehr die klare politische Erkenntnis zugrunde, die alle ihre Führer inspirierte, daß nur mittels Zusammenfassung aller protestantischen Kräfte eine Selbstbehauptung, wenn nicht gar eine Expansion der evangelischen Bewegung möglich sei. Es gehört zur Tragik der Geschichte des europäischen Protestantismus, daß diese Einschätzung im Luthertum nicht nur nicht durchgesetzt werden konnte, sondern zunehmend auf Widerstand stieß. Der Untergang des Philippismus und der Sieg der Orthodoxie in Kursachsen stehen dafür symptomatisch ein.176 Kur–––––––––
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Vgl. außer den in Anm. 97–100 zitierten Arbeiten des weiteren Julius Krebs: Christian von Anhalt und die Kurpfälzische Politik am Beginn des dreissigjährigen Krieges (23. Mai – 3. October 1618).- Leipzig: Duncker & Humblot 1872, sowie Friedrich Hermann Schuberts hervorragenden Artikel ›Christian I., Fürst v. Anhalt-Bernburg‹ in der NDB III (1957), S. 221–225; mit weiterer Literatur). Auch die einschlägigen Passagen über Christian von Anhalt bei Press: Calvinismus und Territorialstaat (Anm. 86) bleiben heranzuziehen, die über das Register leicht zu erschließen sind. Paradigmatisch gezeigt am Beispiel des Ludwig Camerarius in der gleichnamigen Biographie Schuberts (Anm. 96), S. 20 ff. Vgl. auch Aart A. van Schelven: Der Generalstab des politischen Calvinismus in Zentraleuropa zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges.- In: Archiv für Reformationsgeschichte 36 (1939), S. 117–141. Vgl. Wilhelm Holtmann: Die Pfälzische Irenik im Zeitalter der Gegenreformation.- Diss. theol. Göttingen 1960 (masch.). Vgl. Thomas Klein: Der Kampf um die Zweite Reformation in Kursachsen 1586–1591.Köln, Graz: Böhlau 1962 (= Mitteldeutsche Forschungen; 25). Dort weitere Literatur, darunter die Arbeiten von Robert Calinich, Walter Friedensburg, August Kluckhohn.
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sachsen ist es denn vor allem – mit Ausnahme der kurzen Episode Christian I. – auch anzulasten, daß alle Bündnisbestrebungen sabotiert oder nur mit ängstlichem Blick auf Kaiser und Reich exekutiert wurden. Es muß wie ein Siegel auf die politischen Aporien der lutherischen Theologie wirken, daß ausgerechnet das Ursprungsland der Reformation diese Wandlung nahm, wie sie schließlich im Separatfrieden mit dem Kaiser definitiv ratifiziert wurde. Schwerlich dürfte zu übersehen sein, wie sich in dieser Abwehr gegenüber dem Calvinismus – die Philippisten werden bezeichnenderweise als Kryptocalvinisten denunziert – ein Bewußtsein der Unterlegenheit, wo nicht gar des Verrats gegenüber dem dynamischen, welterobernden Impetus des Protestantismus regte, der aus der Orthodoxie vertrieben war und im westeuropäischen Calvinismus fortlebte. Der zunehmenden Isolierung der Pfalz gegenüber den lutherischen Territorien korrespondierte zwangsläufig die intensivierte Bündnispolitik mit dem westeuropäischen Ausland. Und auch hier muß es im Blick auf die protestantische Sache als verhängnisvoll bezeichnet werden, daß dieser Politik nur zögernd Unterstützung zuteil wurde. Frankreichs großangelegte antihabsburgische Koalitionspolitik, die sich im Jülicher Erbfolgekrieg hätte bewähren sollen, war nach der Ermordung Heinrichs IV. zusammengebrochen. England – nach der Hochzeit Friedrichs V. mit Maria Stuart, der Tochter Jakobs I., der Pfalz direkt verbunden – operierte unter Jakob I. mit äußerster Vorsicht und stetem Blick nach Wien und trug die Intervention in Böhmen nicht mit.177 Die Kräfte der Niederlande aber waren zu erschöpft, als daß auf sie ernsthaft hätte gesetzt werden können. So trat zu den Divergenzen in der mit unsäglicher Mühe nach mehr als 15 Jahren zustande gebrachten evangelischen Union eine unglückliche außenpolitische Konstellation, die nichts Gutes für das ›böhmische Abenteuer‹ Friedrichs V. verhieß. Dialektik der Pfälzer Böhmen-Politik Diesem Unternehmen ist eine denkwürdige, bisher keinesfalls zureichend entfaltete Dialektik eigen. Die Interessen Böhmens und der Pfalz koinzidierten nur partiell, d.h. insofern sie die gemeinsame evangelische Sache betrafen. Ansonsten war die Situation der evangelischen Stände Böhmens nicht vergleichbar mit der des ranghöchsten weltlichen Kurfürstentums im alten Reich.178 Der Konflikt ––––––––– 177
178
Vgl. Elmar Weiß: Die Unterstützung Friedrichs V. von der Pfalz durch Jakob I. und Karl I. von England im Dreißigjährigen Krieg (1618–1632).- Stuttgart: Kohlhammer 1966 (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; 37). Zur Hochzeit Friedrichs V. mit Elisabeth, der Tochter Jakobs I., vgl. Anton Chroust: Die Hochzeit des Winterkönigs (1613).- In: ders.: Aufsätze und Vorträge zur fränkischen, deutschen und allgemeinen Geschichte.- Leipzig: Harrassowitz 1939, S. 128–144 (Erstdruck 1897); Leonard Forster: Die Festlichkeiten bei der Trauung Friedrichs von der Pfalz 1612–1613.- In: Anglia 62 (1938), S. 362–367. Zu den böhmischen Ständen und speziell zum böhmischen Aufstand und seinen Hintergründen vgl. außer der in Anm. 167 zitierten Literatur Julius Krebs: Beiträge zur Geschichte des böhmischen Aufstandes von 1618.- In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der
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mit den katholischen Habsburgern war in Österreich selbst und in den Ländern der böhmischen Krone – Böhmen, Mähren, Schlesien und den Lausitzen – sowie in Ungarn überall klar vorgezeichnet.179 Stets ging es mit der Behauptung des evangelischen Bekenntnisses auch um die Wahrung ständischer Autogenität und Libertät gegenüber dem zentralistisch-frühabsolutistischen Anspruch Habsburgs, wie er sich hinter der forcierten Rekatholisierung verbarg. Dementsprechend mischten sich auch im böhmischen Aufstand ständischkonservative und konfessionell-protestantische Elemente: Was uns in dieser Zeit als überschäumende und bestimmende Kraft des alten Ständegedankens entgegentritt, ist eine Form der heftigen und leidenschaftlichen, temporär auch sehr wirksamen Reaktion gegen die Neubegründung der Herrschergewalt. Das Ständetum bäumte sich zu einer noch immer imponierenden Höhe auf unter dem Druck der sich stärkenden Fürstenmacht, die in Theorie und Praxis an den Tag trat. Dabei kam diesen adeligen und bürgerlichen Korporationen die konfessionelle Frage außerordentlich zu Hilfe. Die Stände wurden zu Trägern des neuen Glaubens, der durch ihre politische Machtstellung sich erst gegen die Abwehr der alten Kirche und des katholischen Landesfürstentums abschirmen konnte. Es war die wechselseitige Verknüpfung zwischen Ständetum und Protestantismus, welche das eine wie das andere zu größerer Wirkung brachte. Sie profitierten beide von einander.180
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Deutschen in Böhmen 26 (1888), S. 171–197; Rudolf Stanka: Die böhmischen Conföderationsakte von 1619.- Berlin: Ebering 1932 (= Historische Studien; 213); Hans Sturmberger: Kaiser Ferdinand II. und das Problem des Absolutismus.- München: Oldenbourg 1957 (= Schriftenreihe des Arbeitskreises für Österreichische Geschichte), insbes. S. 24 ff.; Josef Polišenský, Miroslav Hroch: Die böhmische Frage und die politischen Beziehungen zwischen dem europäischen Westen und Osten zur Zeit des dreissigjährigen Krieges.- In: Probleme der Ökonomie und Politik in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Karl Obermann.- Berlin: Rütten & Loening 1960 (= Schriftenreihe der Kommission der Historiker der DDR und ýSR; 3), S. 23–55; Josef Polišenský: ›Vorwort‹ zu: Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Der Kampf um Böhmen. Quellen zur Geschichte des Böhmischen Krieges (1618–1621). Hrsg. von Miroslav Toegel, Josef Janáþek.- Prag: Academia; Wien, Köln, Graz: Böhlau 1972 (= Documenta Bohemica Bellum Tricennale Illustrantia; 2); Josef Polišenský: Changes in the Composition of the Bohemian Nobility.- In: ders.: War and Society in Europe 1618–1648. Unter Mitarbeit von Frederick Snider.- Cambridge: Cambridge University Press 1978, S. 202–216; Reinhard Rudolf Heinisch: Habsburg, die Pforte und der Böhmische Aufstand (1618– 1620).- In: Südost-Forschungen 33 (1974), S. 125–165; 34 (1975), S. 79–124. Eine Auswahlbibliographie auch in: Der Dreißigjährige Krieg. Perspektiven und Strukturen. Hrsg. von Hans Ulrich Rudolf.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977 (= Wege der Forschung; 451), S. 541–547. Weitere, insbes. tschechische Literatur wiederum bei Richter: Die böhmischen Länder (Anm. 167), S. 268 ff. Zu Österreich vgl. – außer den bereits zitierten Monographien Sturmbergers über Tschernembl (Anm. 100) und Ferdinand II. (Anm. 178) – auch Grete Mecenseffy: Geschichte des Protestantismus in Österreich.- Graz, Köln: Böhlau 1956. Vgl. auch Hans Sturmberger: Adam Graf Herberstorff. Herrschaft und Freiheit im konfessionellen Zeitalter.- München: Oldenbourg 1976. Zu Böhmen das schon zitierte Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder (Anm. 167). Zu Mähren Christian Ritter d’Elvert: Beiträge zur Geschichte der Rebellion, Reformation, des dreißigjährigen Krieges und der Neugestaltung Mährens im siebzehnten Jahrhunderte.- Brünn: Ritsch 1867 (= Schriften der historisch-statistischen Sektion der k.k. mährisch-schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde; 16). Sturmberger: Aufstand in Böhmen (Anm. 167), S. 19.
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Daß diese Deklaration ständischer Autonomie durchaus vom Gedanken der Volkssouveränität begleitet sein konnte – die freilich an die Repräsentanz in den Ständen gebunden blieb –, zeigt das politische Konzept des vielleicht größten religiösen Widerstandskämpfers auf deutschem Boden im konfessionellen Zeitalter, Georg Erasmus Tschernembl.181 In Konsequenz dieser Vorstellung legt die ›Confoederatio Bohemica‹ von 1619 denn auch ein Wahlkönigtum für Böhmen fest.182 Die eigentliche Staatsgewalt liegt in den Händen einer ständischen Oligarchie, die sich auch das Widerstandsrecht gegenüber dem König sichert. Hier wäre auch mit dem reformierten böhmischen Königtum der Pfälzer der Konflikt vorprogrammiert gewesen, wenn dieses länger als fünfzehn Monate, nämlich vom August 1619 bis zum November 1620, gewährt hätte. Für die Kurpfalz und ihre aktivsten Köpfe, Christian von Anhalt und Ludwig Camerarius, ging es hingegen nicht um die Konservierung oder Restaurierung ständischer Privilegien, sondern um die Sicherung des evangelischen Bekenntnisses und damit die Abwehr der katholisch-habsburgischen Umklammerung, wie sie sich seit den siebziger Jahren in Auswirkung des Tridentinums immer deutlicher abzeichnete. Zugleich lockte mit dem Gewinn der böhmischen Krone der Erwerb einer weiteren, nämlich dritten evangelischen Kurwürde, und nicht zuletzt schien auf diese Weise der Ausbau der kurpfälzischen Hausmacht garantiert. Wenn also auch auf Pfälzer Seite jene Komplexion aus konfessionellen und machtpolitischen Motiven in Anschlag zu bringen ist, wie sie in den Konfessionskriegen allenthalben aufbrachen, so sind es hier dynastische und nicht ständische Interessen, die sich im politischen Wirken vor allem bei Christian von Anhalt, zeitweilig aber auch bei Camerarius, geltend machten.183 Sie laufen den libertären Interessen der böhmischen Frondeure diametral entgegen, ohne daß der latente Antagonismus in der kurzen Spanne, die dem Winterkönigtum Friedrichs V. beschieden war, bestimmend zum Vorschein gelangt wäre. Mit Gewißheit aber ist an dieser Stelle einer der Gründe für die Reserve zu suchen, der Friedrich beim Rothenburger Unions-Treffen sogleich nach seiner Wahl zum böhmischen König begegnete. Die Vormacht der Pfalz im alten Reich – gerade auch gegenüber Kursachsen – wäre endgültig besiegelt gewesen.
Die verlorene Schlacht am Weißen Berg als historische Wende von europäischer Dimension Mit der überstürzten Flucht aus Prag im November 1620 endete die böhmische Regentschaft Friedrichs V. Nicht nur die Überlegenheit der Gegenreformation, ––––––––– 181
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Dazu Sturmberger: Georg Erasmus Tschernembl (Anm. 100), S. 106, S. 344 und S. 404; ders.: Aufstand in Böhmen (Anm. 167), S. 43. Vgl. ebd., S. 50. Dazu die Biographie über Camerarius von Schubert (Anm. 96) sowie ergänzend der NDBArtikel von demselben.
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sondern auch die Krise des Protestantismus, wie sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang im Gegensatz zwischen Heidelberg und Dresden, Genf und Wittenberg geschwelt hatte, traten damit offen zutage. Am Weißen Berg siegten Prinzipien: der Katholizismus der Gegenreformation über den Geist der Reformation, der Gedanke des Fürstenstaates über die Idee der ständisch-aristokratischen Staatsgestaltung. Auch hier erwies sich Tschernembl als ein Analytiker des Geistes der Zeit; sein Wort: ›Religio und Libertas hangen aneinander‹ deutete treffend die fast unlösliche Verflechtung konfessioneller und staatspolitischer Momente im Denken dieser Zeit. Wer könnte die politische Bedeutung der Prager Schlacht in ihrer Auswirkung auf die späteren Jahrhunderte aber besser kennzeichnen als dies Bismarck tat, wenn er meinte, bei einem anderen Ausgang dieses Treffens würden die Kriege von 1864 bis 1870 vermeidbar gewesen sein?184
In der Tat ist der Zusammenbruch der Pfälzer Böhmenpolitik nur in den weitesten geschichtlichen Dimensionen zu erfassen. Wäre es der Pfalz gelungen, sich in Böhmen zu behaupten, hätte davon nicht allein der Calvinismus, sondern der europäische Protestantismus insgesamt profitiert. So aber wurde mit dem Sieg der katholischen Seite nicht nur die Grundlage für die dreihundertjährige Herrschaft des Hauses Habsburg und den Ausbau der Wittelsbacher Dynastie in Bayern mit dem Erwerb der Kurwürde und der Annexion der Oberpfalz gelegt.185 Indem der Calvinismus in seinem deutschen Zentrum, der Kurpfalz, tödlich getroffen wurde, verlor der deutsche Protestantismus insgesamt seine Verbindung zu den westeuropäischen Reformierten. Die Entfremdung Deutschlands von den westeuropäischen Nationalstaaten und dem in ihnen statthabenden Aufbau bürgerlicher Demokratien nahm hier ihren Ausgang und wurde im Zeitalter der französischen und amerikanischen Revolution zu Ende des 18. Jahrhunderts besiegelt. Schon unter Friedrichs V. Nachfolger Karl Ludwig (1632–1680) ist deutlich erkennbar, wie die politische Inspiration durch den Calvinismus an Kraft verlor und einem toleranteren Religionsverständnis wich, wie es in allen Staaten Westeuropas am Ende der hundertjährigen konfessionspolitischen Bürgerkriege Platz greift.186 In den protestantischen Territorien aber, denen ohnehin eine feste Tradition konfessioneller, ständisch-libertärer oder nationaler Freiheitsbewegung fehlte, verfestigte sich die obrigkeitsstaatliche Mentalität. Die Folgen davon teilten sich auch der Literatur mit. Im Umkreis des Pfälzer Calvinismus wurde eine politisch inspirierte, agitatorische Literatur freigesetzt. ––––––––– 184 185
186
Sturmberger: Aufstand in Böhmen (Anm. 167), S. 92 f. Zu Maximilian von Bayern vgl. Dieter Albrecht: Die auswärtige Politik Maximilians von Bayern. 1618–1635.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; 6). Vgl. auch Franziska Neuer-Landfried: Die Katholische Liga. Gründung, Neugründung und Organisation eines Sonderbundes 1608–1620.- Kallmünz/Oberpfalz: Lassleben 1968 (= Münchener historische Studien. Abt. Bayerische Geschichte; 9). Dazu Häusser: Geschichte der rheinischen Pfalz (Anm. 86), Band II, S. 519 ff.; Gustav Adolf Benrath: Die konfessionellen Unionsbestrebungen des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz (†1680).- In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 116/N.F. 77 (1968), S. 187–252.
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Ihre Spuren haben sich in der Geschichte der deutschen Barockliteratur verloren. Denn deren Institutionalisierung vollzog sich – mit Ausnahme der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹, in der die calvinistischen Impulse fortlebten – in den städtischen Sozietäten lutherischer Provenienz. Das hat ihren Gestus zutiefst bestimmt. So gesehen bezeichnet die Schlacht am Weißen Berge auch eine Wende in der Konstitutionsphase der deutschen Kunstdichtung, deren Folgen wie in politicis so auch in literaricis bis tief in das 18. Jahrhundert hinein spürbar blieben.
Politische Publizistik im Umkreis des ›Winterkönigs‹ Das böhmische Unternehmen Friedrichs V. ist publizistisch wie literarisch von einer lebhaften Produktion begleitet gewesen.187 Zahllose Zeugnisse aus den schlesischen Dichter- und Gelehrtenkreisen – zumeist anläßlich der Huldigungsreise Friedrichs nach Schlesien entstanden – haben sich in Breslau erhalten. George Schulz-Behrend hat darauf wieder aufmerksam gemacht.188 Sie belegen, welche Hoffnungen sich auch in Schlesien an den Übergang der böhmischen Krone von den Habsburgern auf die Pfälzer knüpften. Unter den Heidelberger Dichtern sind Zincgref und Opitz mit größeren Beiträgen auf den Winterkönig hervorgetreten. Im Falle Zincgrefs eröffnet dessen Epos auf Friedrich V. die lebhafte politische Publizistik, mit der dieser für die –––––––––
187
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Vgl. dazu Rudolf Wolkan: Der Winterkönig im Liede seiner Zeit.- In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1889), S. 390–409; Deutsche Lieder auf den Winterkönig. Hrsg. von dems.- Prag: Calve’sche Universitäts-Buchhandlung 1898 (= Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen; 8); ders.: Politische Karikaturen aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges.- In: Zeitschrift für Bücherfreunde 2 (1899), Heft 11, S. 457–467; F.W.E. Roth: Volkslieder auf die Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm und Friedrich V.- In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 22 (1898), S. 71–76. Vgl. neben den unten Anm. 188 zitierten Arbeiten von Bruchmann noch: Der Prager Fenstersturz i.J. 1618. Flugblätter und Abbildungen. Hrsg. von Friedel Pick.- Prag: Gesellschaft deutschern Bücherfreunde 1918 (= Pragensia; 1), sowie Thema insgesamt Reinhold Koser: Der Kanzleienstreit. Ein Beitrag zur Quellenkunde der Geschichte des dreißigjährigen Krieges.- Halle/Saale: Gesenius 1874 (= Hallesche Abhandlungen zur Neueren Geschichte; 1); Johannes H. Gebauer: Die Publicistik über den böhmischen Aufstand von 1618.- Halle/Saale: Niemeyer 1892 (= Hallesche Abhandlungen zur Neueren Geschichte; 29); Karl Mayr-Deisinger: Die Flugschriften der Jahre 1618–1620 und ihre politische Bedeutung.- Habilitationsschrift München 1893; Karl Lorenz: Die kirchlich-politische Parteibildung in Deutschland vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Spiegel der konfessionellen Polemik.- München: Beck 1903; Schubert: Ludwig Camerarius (Anm. 96), S. 108–143: ›Camerarius als Publizist‹. Vgl. Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 171. Genaue Beschreibung des Materials bei Karl Bruchmann: Die auf den ersten Aufenthalt des Winterkönigs in Breslau bezüglichen Flugschriften der Breslauer Stadtbibliothek. Ein Beitrag zur Quellenkunde des dreißigjährigen Krieges.- Progr. König-Wilhelms-Gymnasium Breslau 1904/05. Vgl. auch ders.: Die Huldigungsfahrt König Friedrichs I. von Böhmen (des ›Winterkönigs‹) nach Mähren und Schlesien.- Breslau: Hirt 1909 (= Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte; 9). Besonders wichtig der im Schlesisch-Lausitzischen Kabinett der BU Wrocáaw verwahrte Sammelband: Yb 47/1–26.
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Pfälzische Sache Partei ergreift; Opitz erscheint hier durchaus als Lernender. Weller und Schnorr von Carolsfeld wiesen auf diesen Aspekt im Wirken Zincgrefs bereits hin.189 Mertens und Verweyen haben ihn jetzt wieder aufgegriffen und energisch akzentuiert:190 Schien 1867 die Formulierung Wellers ›Zinkgref als Politiker‹ noch allzu kühn zu sein, so kann heute nach den Ausführungen Schnorr von Carolsfelds und dem Fund des ›Epos‹ behauptet werden, daß Zincgrefs literarische Produktion aus der Zeit zwischen 1619 und 1623 vornehmlich als politische Publizistik aufzufassen ist.191
An deren Anfang steht Zincgrefs Gedicht auf Friedrich V., das – entgegen der Fiktion – durchaus nach Annahme der Königskrone durch Friedrich geschrieben sein kann, also nach dem August 1619; an deren Ende stehen die schon herangezogene ›Vermanung zur Dapfferkeit‹ (1622) und die Flugschrift Quodlibetisches Weltkefig (1623).192 Dazwischen liegen die Newe Zeitungen Von vnterschiedlichen Orten (1619) und die Zeitung auß der ChurPfaltz (1621).193 Diese Schriften – ebenso wie die Facetiae Pennalium (1618) und die Emblematum Ethico-Politicorum Centuria (1619) – sind nicht mehr aus einem gegebenen gesellschaftlichen Anlaß für eine kleine Gruppe geschrieben, sondern aus politischem Anlaß entstanden, mit öffentlichen Problemen befaßt und für ein größeres Publikum in und außerhalb der Pfalz bestimmt. Der Weigerung Zincgrefs, die standesübliche Karriere einzuschlagen, entspricht das Abrücken von der ständischen Gesellschaftspoesie. Seine literarische Tätigkeit ist nicht mehr an den Konventionen einer begrenzten Personengruppe ausgerichtet, sondern zielt auf ein Sachprogramm, als dessen Elemente der politische Kampf der Pfalz und die ›Teutsche Musa‹ zu nennen sind.194
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Vgl. die unten Anm. 193 und 199 zitierten Schriften sowie Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 40 ff. Vgl. Mertens, Verweyen: Bericht über die Vorarbeiten (Anm. 110), S. 144 ff.; Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 231 ff. Der Verfasser ist Dieter Mertens (Freiburg/ Breisgau) zu großem Dank verpflichtet, daß ihm eine Kopie des einzigen erhaltenen und in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen bewahrten Exemplars des Zincgrefschen Epos zugänglich gemacht wurde (vgl. Anm. 195). Wichtig zur Erkenntnis Zincgrefs als eines politischen Autors auch Rudolf Sillib: Kurpfälzische Emblematik.- In: Kurpfälzer Jahrbuch 1927, S. 210–215, sowie Curt von Faber du Faur: The Author of the ›Sapientia Picta‹.- In: The Yale University Library Gazette 28 (1954), S. 156–160. Mertens, Verweyen: Bericht über die Vorarbeiten (Anm. 110), S. 149 f. Zum letzten Text siehe unten S. 139 ff. mit Anm. 199 und 200. Abdruck der Newe Zeitungen Von vnterschiedlichen Orten (1619) nach der dritten Auflage von 1621 in: Der Dreiszigjährige Krieg. Eine Sammlung von historischen Gedichten und Prosadarstellungen. Hrsg. von Julius Opel, Adolf Cohn.- Halle/Saale: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1862, S. 371–392. Abdruck der Zeitung auß der ChurPfaltz, von dem jetzigen Verlauff (1621) bei Franz Schnorr von Carolsfeld: Eine Ergänzung zu ›Opel und Cohn, der Dreissigjährige Krieg‹.- In: Archiv für Litteraturgeschichte 3 (1874), S. 464– 471, hier S. 466–469. Zur bisherigen nicht geklärten Verfasserfrage vgl. Opel und Cohn (s.o.), S. 476 ff.; Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 47 ff. Mertens: Zu Heidelberger Dichtern (Anm. 110), S. 232.
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Das Zincgrefsche ›Epos‹ auf den Pfälzer Kurfürsten Am ehesten bleibt das Epos auf Friedrich in neulateinischer gebundener Rede den humanistisch gebildeten Dichter-, Gelehrten- und Beamtenkreisen in Heidelberg verhaftet. Dementsprechend ist es durchsetzt mit den Versatzstücken der lateinischen Herrscherlob-Topik. Diese aber schließt die aktuelle Wendung nicht aus, sondern ermöglicht sie in gewisser Weise überhaupt erst, indem das neue, noch nicht artikulierte Argument dem vorgegebenen Schema integriert werden kann. Wie nicht anders zu erwarten, versteht Zincgref sein Epos vorbehaltlos als ein Instrument, um Friedrich zur Annahme der böhmischen Krone zu ermuntern, den Zögernden zu aktivieren. Der Begriff des ›Epos‹ gewinnt hier seinen Sinn nicht aus der schmalen Form, den 184 Hexametern, sondern aus dem Vorwurf, der geschichtlichen Substanz. Der Barockphilologie fehlt eine Geschichte der verhinderten Epos-Projekte. Auch im Kreis um Opitz träumte man von dem großen nationalsprachigen Epos. Wenn es einen politischen Rückhalt dafür gab, dann in der calvinistischen Kurpfalz. Das verleiht dem hochgegriffenen Zincgrefschen Terminus seinen tieferen Sinn. Das Scheitern der politischen Hoffnungen besiegelt auch das Schicksal des epischen Genus im protestantischen Deutschland des 17. Jahrhunderts. Es sind die Edlen in der Pfalz, die Friedrich inständig bitten, den Thron zu besteigen, hänge doch das Wohl der Völker davon ab: Quid cessas, F R I D E R I C E ? Deo quid cedere porrò Cunctatrix dubitat virtus, cum vita salusque A te tantorum populorum pendeat uno, Et caput hoc tot regnorum sibi fecerit ordo? Exigit hoc dudum nutrix Germania, sese Hostibus externis, et quod damnosius hoste, Externis vitiis praedae indignata futuram. En, F R I D E R I C E , tuis ipsos cum supplice mundo Affusos genibus proceres, tantumque timentes, Ne reputes ausis indigna pericula, Princeps, Illa tuis, et digna tuâ sua regna repulsâ; Magnanimo cum nota tibi sub pectore virtus, Virtus digna legi majora ad sceptra regenda[.]195
Es muß offen bleiben, ob darin auch eine Anspielung auf die aktive Rolle der Berater Friedrichs liegt, die den Kurfürsten zuweilen mehr als Objekt insbesondere der Interessen Christians von Anhalt denn als energischen Führer in der Böhmenpolitik erscheinen lassen. Wahrscheinlicher ist dagegen, daß es dem Autor um die bruchlose Identität der politischen Ziele des Kurfürsten mit seinem Land, insbesondere dem Adel, geht. Sehr genau jedenfalls bildet sich im Text die Sorge vor der Habsburger Umklammerung ab, die typisch für den Calvinis––––––––– 195
Julius Wilhelm Zincgref: Ad Fridericum Bohemiae regem pium felicem inclytum B. RP. N. Epos. 1619. Exemplar in Det Kongelige Bibliotek København: 68–40. 4°. Das vorgelegte Zitat hier S. 4 f.
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mus blieb. Die humanistische Reminiszenz an die nutrix Germania empfängt von daher ihren Sinn. Der Böhmenpolitik der Pfalz ist auch eine latente ›nationale‹ Komponente eigen, die ihr ästhetisches Äquivalent in der Dichtungsreform hat: eine politische, konfessionelle und kulturelle Einung der protestantischen Territorien im Angesicht der bedrohlichen supranationalen katholischen Hegemonie. Unmittelbar aber geht es um die Zusammenfassung der böhmischen Kronländer mit der Pfalz unter dem Schutze Englands, welche die Position des Protestantismus in Deutschland unangreifbar gemacht und eine unabsehbare expansive Schubkraft entwickelt hätte: Ingredere ô Heros, tecumque Britannica Diva, Quâ cuncti gens una sumus, Palatinus et Anglus, Lusatus Moravusque Silesius atque Boëmus. Ingredere ô Dominos nobis paritura Virago, Rege E L I S A Viro felix, felicior ille Te magni Regis gnatâ, Regumque parente.196
Ganz zum Schluß wird Zincgref deutlich in der Identifizierung des Gegners. Spanien, die Katholiken, haben nur einen schmählichen Frieden anzubieten. Mit ihm assoziiert sich alsbald die Vorstellung der Tyrannis: Et quis praetereà bellum, belloque moretur Pejorem multò, quam spondet Iberia, pacem? Quis paveat, variâ quos parturit arte Tyrannus Ille vel ille dolos, orbis praedo ille vel ille, Incolumi hoc vinclo, quod jungit U T R U M Q U E L E O N E M ? 197
Wohlgerüstet liebt Friedrich den Frieden. »Impia bella« zu führen, steht ihm nicht zu. Friedrichs Zug nach Böhmen, seine Erhebung gegen die Macht der Tyrannis, ist – wie es in Majuskeln heißt – eine »pro patria, pro relligione«.198
Zincgrefs ›Quodlibetisches Weltkefig‹ Vier Jahre später, nach dem schmählichen Ende in Böhmen, der Zerstörung der Pfalz, dem großen Exodus aus Heidelberg, hat Zincgref nochmals als politischer Publizist das Wort ergriffen. Der allegorische Titel signalisiert einen Umschlag: Quodlibetisches Weltkefig/ Darinnen gleichsamb/ als in einem Spiegel/ das gegenwertige Weltgetümmel/ gehümmel/ vnd Getrümmel/ Wüten vnd Toben/ Liegen/ Triegen vnd Kriegen/ Jrren/ Wirren vnnd Synceriren/ Schwarm vnd Alarm zusehen (1623).199 ––––––––– 196 197 198 199
Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 6. Zum Quodlibetischen Weltkefig Zincgrefs vgl. Emil Weller: Der Dichter Zinkgref als Verfasser des Welt- und Hummel-Käfigs.- In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N.F. 3 (1856), S. 297–300; J. Franck: Eine anonyme Schrift Jul. Wilh. Zincgref’s.- In: Sera-
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Der Übergang in das ›Zeitalter des Barock‹ scheint vollzogen zu sein. Die geschichtliche Katastrophe, bis zur Mitte des Jahrhunderts sich perpetuierend, ruft das Bild des ›Weltkefigs‹ hervor, in den eingeschlossen die Völker Europas auf deutschem Boden wüten. Es ist die gleiche geschichtliche Erfahrung, welche die Aufnahme und Weiterbildung der Fortuna-Allegorie im 17. Jahrhundert begünstigt. Folgerichtig stellt sich denn auch gleich zu Anfang des politischen Traktats das Bild der Narren ein, die den ›Weltkefig‹ bevölkern. Statt politischer Agitation, Scheidung in Freunde und Gegner der Pfälzer Sache und also Identifizierung der widerstreitenden konfessionspolitischen Parteien nun das entpolitisierte allegorische Bild der umstandslos der Narretei ergebenen Menschheit? Mitnichten, wie schon der Titel der späteren Auflagen beweist, die ins »grosse Wunder Jahr 1632« fallen, dem Befreiungsjahr der Pfalz und des Todes Gustav Adolfs: Quotlibetisches Welt vnd Hummel Kefig: Darinnen das jtziger Zeit gegenwertiges tyrannisirende rauberische Weltgetümmel/ Gehümmel vnd Getrümmel/ wüten vnd toben/ jrren/ verwirren/ sinceriren, liegen/ triegen/ vnd kriegen/ gleichsam als in einem klaren Spiegel vor Augen gestellet/ vnd erwiesen wird/ Daß in Teutschland kein beständiger Fried zu hoffen/ ehe vnd zuvor die Ketzer alle gut Catholisch seyen.200 Genau mit diesem Fazit hatte auch die erste Auflage von 1623 geschlossen. Damit aber spezifiziert sich die Allegorie geschichtlich. Das Bild des ›Weltkefigs‹ ist von der über Deutschland sich ausbreitenden katholischen Tyrannis inspiriert. In ihm agieren die verhaßten katholischen Widersacher. Die protestantische Seite erscheint 1623 in Gestalt der ohnmächtig Duldenden. Die Mächtigen des Reichs teilen dieses Los mit dem niedrigen ›Schäfer‹, dem Dichter: Können Teudsche Fürsten/ Graffen vnd Herren/ vnd fürnehme Städte vertragen/ daß sie einem jeden Spannischen Geisthirten/ oder Römische[n] Kuttenhengste zu Gebot stehen müssen. So kan ichs der ich ohne das nie vber den Schäfferstab kommen bin/ noch weit bessers dulden.201
Das hindert indes nicht, daß der Dichter seines Amtes waltet und die Machenschaften des Gegners aufdeckt, in einer großen, glänzend geschriebenen satirisch-allegorischen Kampfschrift ungeachtet der desolaten Situation die Bundesgenossen wachrüttelt und den Widerstand zu schüren sucht. Spornt das Epos –––––––––
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peum 27 (1866), S. 262–263; Emil Weller: Zinkgref als Politiker.- In: Serapeum 28 (1867), S. 156; Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 44 ff. Es handelt hierbei sich um die Ausgabe D in der von Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 58, beigefügten Bibliographie mit vier Drucken des Weltkefigs. Vgl. auch ebd. S. 44 ff. zum Vergleich der Drucke. Die Ausgabe B, »Getruckt im Grossen Wunder Jahr« und von Schnorr von Carolsfeld ins Jahr 1623 gesetzt, dürfte wie C und D im Jahr 1632 erschienen sein.– Zitate im folgenden, wenn nicht anders vermerkt, nach einem bei Schnorr von Carolsfeld nicht aufgeführten Druck aus dem Jahr 1623 (SUB Göttingen: 8 H. Germ. un. VIII,77 (40)). Der Verfasser dankt auch hier Dieter Mertens für die Vermittlung einer Kopie des Druckes von 1632 (Ausgabe D) nach dem Exemplar der BSB München: Hist. Germ. C. 527,57. Zincgref: Quodlibetisches Weltkefig, 1623 (Anm. 200), S. 13.
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Zincgrefs Friedrich V. zum Marsch nach Prag an, so deckt das Quotlibetische Weltkefig die Hintergründe und Konsequenzen des Unternehmens auf, das nun abgeschlossen ist und der Reflexion offensteht. Das Urteil über die katholisch-jesuitische Seite ist so vernichtend wie einige Jahre vorher bei Denaisius. Der Böhmenzug Friedrichs, so das Fazit der mit zahlreichen Argumenten gestützten These Zincgrefs, hat das Schicksal der Pfalz nicht besiegelt, weil dieses ihr schon viel früher von katholischer Seite zugedacht war. Den Angelpunkt seiner Analyse findet Zincgref im Tridentinischen Konzil: So lange ein Füncklein vom Concilio Tridentino glimmet/ [...] ist das Vrtheil den Ketzern schon gefellet/ der Stab vorlengst gebrochen/ vnd hat nur bißhero gemangelt an des Bapst Executorn, dem Käyser vnd Spanier/ vnnd mögen alle Vncatholische dieses kecklich glauben/ daß wie die Gense jhre Mertens Nacht/ vnd die Frantzosen jhre Bartels Nacht haben/ Also die Teudschen (aber es ist wahr/ diese haben keine Nacht/ sondern halten nur den Tag) Jch wolte sagen/ also haben sie jhre gewisse Schlacht= vnd Metzeltag nach gewissem vmblauff der Zeiten/ bald zu Costantz am Bodensee/ bald in NiederTeudschland/ bald in Steyermarck vnd anders wo.202
Die Wahl Ferdinands von Tirol zunächst zum König der Kronländer, dann zum Kaiser erfolgte, »damit die Pfaffen [...] nur allein einen Keyser hetten/ vnd die Ketzer keinen.«203 So kann die Annahme der böhmischen Krone – wie Zincgref unmißverständlich herausstellt – als Akt der Usurpation gegenüber dem Kaiser hingestellt werden: O wie seyn sie so froh gewesen/ daß Fritz den Böhmen willfahret/ es ist jhnen angst gewesen/ er werde nicht so keck seyn/ daß er die Cron annehme/ vnd werden sie also keine Vrsach an jhn haben können/ jhre längst gefaste Vrtheil gegen jhme zu exequiren/ vnd per consequens dermal eins das Kalb mit der Kuhe zu würgen/ darumb sagt der Spanisch Gesandt/ Er könte seinem König keine frölichere Bottschafft bringen/ als eben diese/ daß Fritz dem Keyser die Cron gestohlen/ vnnd muß sich also auch hinein des Käysers Nahm mißbrauchen lassen/ vnd wer des Käysers Freund seyn wil/ Christum als ein verführer des Volcks vnd seine Glieder/ als des Käysers Rebellen verdammen helffen/ [...].204
Auch habe Bayern schon lange vor dem Böhmenzug nach der Kurwürde geschielt, und das ungeachtet legitimerer Ansprüche. Derart enthüllt Zincgref nun umgekehrt die Gegenseite als Zerstörer der hergebrachten Ordnung im Reich – »daß diese Leute mit den Reichs Constitutionen vmbgehen/ wie eine Saw mit einem Lumpen«.205 Vor diesem Hintergrund, der den Blick auf die europäische Bürgerkriegsszene einschließt, gewinnt das leidenschaftliche Bekenntnis Zincgrefs zur monarchomachischen Theorie seine Gewalt. Es beweist, daß der materielle Zusammenbruch in der Pfalz keinesfalls mit dem geistigen einherging, sondern ganz im Gegenteil Papst und Kaisertum die Züge des antichristlichen Tyrannen annahmen, gegen die es in Theorie und Praxis Widerstand zu leisten galt. Derart ––––––––– 202 203 204 205
Ebd., S. 3 f. Zincgref: Quotlibetisches Welt vnd Hummel Kefig, 1632 (Anm. 200), S. 7. Zincgref: Quodlibetisches Weltkefig, 1623 (Anm. 200), S. 6. Ebd.
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tragen die Gegner ex negativo zur Ausformung der säkularisierten modernen Staatstheorie und Staatsgewalt inmitten der Bürgerkriege bei: Ich gestehe daß die Obrigkeit von Gott ist/ aber die Obrigkeit die wieder Gott ist/ vnd thut/ die sag ich/ sey vom Teuffel/ vnd keine Dienerin Gottes/ sondern des Satans/ der auch ein Fürst genandt wird dieser Welt. So heist es derohalben/ man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Seynd also die jenige Vnterthanen mit nichten lesae majestatis terrenae schüldig/ die einen reum Majestatis divinae, vnd einen per duellem, den sie zuvor selbst erhöhet/ wieder absetzen; Sondern dieser ist ein Reus lesae reipubl: der wieder Eyd vnd Pflicht/ Capitulation vnd leges fundamentales handelt/ den statum vnd formam eines freyen Landes zuverendern/ vnd ein Erbland daraus zu machen vnterstehet/ (also per consequens ein Tyrannus).206
Opitzens ›Oratio ad Fridericum Regem Bohemiae‹ Damit ist das geschichtlich-politische Umfeld umrissen, in dem Opitz sich während seiner Heidelberger Zeit bewegt. Die tiefsten Spuren hat es in seiner größter Dichtung hinterlassen, dem TrostGedichte Jn Widerwertigkeit Deß Krieges. Es ist ohne die Erfahrungen in der Pfälzer Residenz undenkbar. Erst im räumlichen und im (freilich geringfügigen) zeitlichen Abstand läuterte sich die an den Namen Heidelbergs geknüpfte politische Bildungsgeschichte Opitzens zum erhabenen genus grande des epischen Lehrgedichts. Direkten Bezug auf die Situation und Politik der Pfalz nehmen dagegen Opitzens Oratio ad Fridericum Regem Bohemiae, seine Panegyris auf Ludwig Camerarius sowie sein Gedicht ›Ein Gebet/ dass Gott die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treiben‹.207 Letzteres ist von Zincgref noch nach der ›Beschluß Elegie‹ in der von ihm veranstalteten Straßburger Ausgabe der Gedichte Opitzens plaziert worden, entweder, weil er den verbliebenen Raum auf der Seite füllen wollte oder weil er es zu spät erhielt. Hier reicht ein Blick auf Opitzens Rede an Friedrich V. aus. Die in Heidelberg empfangenen Impulse bestimmen sein Lebenswerk. Sie sind daher auch nur sukzessive zur Darstellung zu bringen. Stärker noch als in Zincgrefs Epos auf Friedrich tritt in Opitzens Oratio die panegyrische Tendenz hervor, die – wie schon Wels beobachtet hat – den ersten Teil beherrscht. Damit wird einem Gattungsgesetz genüge getan.208 Zugleich aber verschafft sich der Autor derart eine Lizenz für sein politisches Credo im zweiten Teil. ––––––––– 206 207
208
Ebd., S. 9. Zu diesen Schriften – freilich vielfach problematisch in der Argumentation – vgl. K[urt]. H[einrich]. Wels: Opitzens politische dichtungen in Heidelberg.- In: Zeitschrift für deutsche Philologie 46 (1915), S. 87–95. Zu Opitzens Rede auf Friedrich V. vgl. auch Mertens und Verweyen: Bericht über die Vorarbeiten (Anm. 110), S. 148 f.– Erster Abdruck des Opitzschen Panegyrikus auf Camerarius (aus dessen Nachlaß in der BSB München) mit Erläuterung bei Hermann Palm: Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 19), S. 149–157: ›Opitz und Ludwig Camerarius‹. Dazu zuletzt mit reichhaltiger Literatur Theodor Verweyen: Barockes Herrscherlob. Rhetorische Tradition, sozialgeschichtliche Aspekte, Gattungsprobleme.- In: Der Deutschunterricht 28/2 (1976), S. 25–45.
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An der Spitze der breit aufgefächerten Tugenden Friedrichs und seines Geschlechts ist die Pflege der Religion angesiedelt: Religionis amor, sine quo nemo unquam magnus fuit, cum ipsa haereditate ad te transiit: cujus vindicatio proprium familiae vestrae opus, cuius arx et sedes eadem quae vestra Haidelberga est; celeberrima Academia, tam quod te, quam quod illam fovit.209
Im Zeichen der pietas steht auch die böhmische Regentschaft Friedrichs. Sie entspringt, so Opitz, dem Mitgefühl mit dem grausamen Schicksal der böhmischen Protestanten, das hier – wie im etwa gleichzeitigen Panegyricus auf Camerarius – schonungslos beschworen wird. Wieder kristallisiert sich die Schmach der Habsburger Herrschaft im Begriff der Tyrannis heraus: »Non enim rejecimus imperium, sed imperantem saevitiam. Parere possumus, tyrannidem perferre non possumus. Serviemus tibi, ut liberi simus.«210 In der vorangehenden Knechtung durch die Gegenseite liegt die tiefere Nötigung für die Übernahme der Krone. Friedrich kann und darf sich der Verpflichtung nicht entziehen, doch geht er sie unwillig (»invite«) ein, wie auch Opitz betont. Dementsprechend stehen die Sorge um das Wohl des Vaterlandes, die Liebe zur Freiheit und zur Religion auf seiten der bedrängten Böhmen als Beweggründe hinter der Wahl Friedrichs zum »rex Bohemiae«. Leitmotivisch zieht sich der Begriff der libertas durch die Schlußpartien der Rede. Und er gewinnt Profil durch die Vergegenwärtigung dessen, wodurch er aktuell bedroht ist. Die Ermordung Heinrichs IV. wie auch die Anschläge auf Jakob I. figurieren als Beispiele, daß die Gegenseite vor Fürstenmord schon lange nicht mehr zurückscheut: »Ruptum fas gentium; respublica velut diluvio inundata; et religio miris dolis turbata est.«211 Die Beschreibung der Greueltaten selbst erreicht gleich zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges in beiden Gedichten eine grelle Drastik, die nicht mehr zu überbieten war. Der Barbarei, stets der Gegenseite zugeschrieben, wird noch einmal im Namen eines konfessionspolitischen Ideals begegnet. Freiheit als Freiheit von der Suppression des Katholizismus zur ungestörten Pflege des eigenen Bekenntnisses heißt das Losungswort. Tatsächlich jedoch bildet die Wahrnehmung der im Namen christlicher Prinzipien verübten Untaten den geschichtlichen Nährboden für den fast unmerklichen Übergang vom ›konfessionellen‹ zum ›aufgeklärten‹ Zeitalter. Die Ansätze dazu sind im Umkreis der von Calvinismus und Neustoizismus getragenen späthumanistischen Bewegung während der Glaubenskriege allenthalben zu beobachten. Auch in Opitzens Lebensweg werden sie manifest. So gesehen fallen die Herausbildung des absolutistischen Staates und die Anfänge der religiösen Aufklärung vielfach zusammen. Die vorgetragenen Erwägungen sollten helfen, das darin vermeintlich liegende Paradoxon begreifen zu lernen. –––––––––
209 210 211
Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 172. Ebd., S. 175. Ebd., S. 178.
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Aufbruch ins Exil Die auf die Katastrophe in Böhmen folgende Katastrophe in der Pfalz riß schon bald darauf auch den Heidelberger Gelehrten- und Dichterkreis auseinander. Er wäre berufen gewesen – inspiriert von großen politischen Hoffnungen, wie sie an der Wiege aller europäischen Nationalliteraturen stehen –, eine neue deutsche Kunstdichtung hervorzubringen und zu tragen, in der formales, an der Antike und der Renaissance geschultes Niveau und politisches Ethos vereint gewesen wären. Die ihm vergönnte Zeitspanne war zu kurz, als daß die verheißungsvollen Anfänge traditionsbildend hätten wirken können. Die Initiative der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹, von ähnlichem Geist beflügelt, blieb gleichfalls frühzeitig stecken. Und als die Opitzsche Bewegung nach einer erheblichen zeitlichen Zäsur nach Nord-, Mittel- und Ostdeutschland übergriff und in den protestantischen Kommunen feste institutionelle Formen fand, da hatte sich die geschichtliche Situation bereits grundlegend gewandelt. Der Protestantismus befand sich überall in der Defensive. Nur der kometenhafte Aufstieg Gustav Adolfs riß noch einmal mit, doch fand er mit dem frühen Tod des genialen Feldherrn und Politikers ein jähes Ende. Deutschland wurde zunehmend zum Objekt auswärtiger, insbesondere französischer Interessen. In der Dichtung flektierte sich diese Misere in der ständigen Klage über die Zerrissenheit und Hilflosigkeit Deutschlands. In der Allegorie der schmerzbewegten Germania verdichtete sich die Erfahrung sinnbildlich. Derart wirkte in der deutschen Barockdichtung ein altes humanistisch-patriotisches Erbe fort. Was fehlte und angesichts der desolaten Situation fehlen mußte, war eine politische Perspektive, eine von Hoffnungen und Erwartungen genährte tätige Kraft. Sie verschwand mit der Auslöschung der Pfalz und damit der Heidelberger Kultur. Exilierung war für viele das bittere Schicksal, allen voran für Friedrich V. selbst, der seine Exilregierung in Den Haag aufbaute. Lingelsheim wich in seine Heimatstadt Straßburg aus, wo er zusammen mit Bernegger wiederum eine wichtige und einflußreiche, stets zu Hilfe bereite Kontaktperson für viele der Jüngeren wurde.212 Die Befreiung Heidelbergs 1632 führte ihn nochmals kurz in die Pfälzer Residenz zurück, bevor die Schlacht bei Nördlingen ihr Schicksal besiegelte. Lingelsheim flüchtete nach Frankenthal, wurde dort eingekerkert und starb zwei Jahre später (1636). Gruter, der Editor und Kommentator, wurde mit dem Verlust der Palatina und seiner Privatbibliothek tödlich in seinem wissenschaftlichen Wirken getroffen.213 Er fand Unterschlupf bei seinem Schwiegersohn Smend in Bretten, erlebte in Tübingen die Huldigung von seiten der Universität und endete als leidenschaftlicher Gärtner auf Smends Gut Berhelden. Im Todesjahr 1627 erreichte ihn nochmals ein ehrenvoller Ruf aus seiner Hei–––––––––
212
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Vgl. die entsprechenden Angaben in: Briefe Lingelsheims, Berneggers und ihrer Freunde (Anm. 19), Register. Vgl. die oben Anm. 113 zitierte Biographie Smends über Gruter.
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mat, aus Groningen, nachdem schon am Anfang seiner Heidelberger Karriere ein konkurrierender Ruf aus Leiden gestanden hatte. Auch für Zincgref war die Eroberung Heidelbergs das Ereignis, »das in seine Lebensverhältnisse mit ganzer Schwere eingriff.«214 Sein Leben ist mit dem Schicksal der Pfalz verflochten, dessen reich gesegnete Fluren, dessen hoch entwickelte Culturblüte unter der eisernen Gewalt eines Krieges verdarben, der für eine ganze Generation nicht ein Zustand der Ausnahme, sondern fortdauernde Bedingung ihres daseins war.215
So begann auch für ihn ein unstetes, von finanziellen Nöten bedrücktes Wanderleben (Heilbronn, Frankfurt, Straßburg, Worms, St. Goar), das sich nur vorübergehend nochmals im Dienste der Zweibrücker Linie der Pfälzer mit der Tätigkeit eines Landschreibers in Kreuznach und Allzey konsolidierte. Zincgref hat die zweite Katastrophe der Pfalz nach der Schlacht bei Nördlingen gleichfalls noch erlebt und starb – wie Lingelsheim – kurz darauf im Jahr 1635. Sein Freund Opitz setzte sich angesichts der herannahenden Truppen Spinolas zunächst nach Holland ab und zog dann weiter nach Jütland. In der Fremde des Exils kelterte er den poetischen Ertrag der Schlesisch-Pfälzer Jahre ab. Das TrostGedichte Jn Widerwertigkeit Deß Krieges ist durchpulst von der Erfahrung der konfessionspolitischen Bürgerkriege in Europa. Noch einmal wurde der katholische Aggressor in der Tradition der Pfälzer Publizistik gebrandmarkt. Und noch einmal erhob sich der Dichter zum Anwalt der nationalen, der deutschen Sache. Sie konnte nur Gestalt annehmen in dem Maße, wie Friede einkehrte und die Konfessionen sich auf ihr gemeinsames Erbe besannen. Wie die großen Späthumanisten Europas steht auch Opitz an der Wiege der Moderne. Ein verinnerlichter, geläuterter, mit sich versöhnter christlicher Glaube blieb bis in die letzten Tage seines polnischen Exils das Vermächtnis, das er als europäischer Humanist in die geschichtliche Wagschale zu werfen hatte. In den Worten seines Trostgedichtes, dem »FriedeFürst« zugesprochen: Laß vnsre Sinnen fegen Durch seiner Liebe Glut/ auff daß wir von vns legen Das alte SündenTuch/ ziehn an das reine Kleidt Der Vnschuldt/ Gottesfurcht vnd newen Frömmigkeit. [...] Gib vns in diesem Schmertzen Ein frewdiges Gemüth vnd Königliche Hertzen/ Damit wir wider Grimm/ Gewalt vnd Vberlast Mit kräfftiger Gedult vnd Hoffnung seyn gefaßt. Schenck vns des Glaubens Helm/ den Sinn der allzeit wache Für dich/ für vnser Land vnd für gerechte Sache; Laß vns der Tyranney frisch vnter Augen gehn/ Vnd also lange wir den Athem haben stehn.216
––––––––– 214 215 216
Schnorr von Carolsfeld: Julius Wilhelm Zincgrefs Leben und Schriften (Anm. 153), S. 21. Ebd., S. 6. Trost-Getichte in Widerwertigkeit des Krieges. Buch IV, Verse 521–524 und Verse 529– 536.- In: Opitz: Gesammelte Werke (Anm. 19), Band I, S. 265.
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2.2 Ständische Kulturpolitik und ländliche Poesie. Ein Auftakt zum Arkadienwerk Theoretisches Prolegomenon: Umgang mit Gattungen und ›Topoi‹ In keiner Epoche der deutschen Literatur hat die Gattung als Instrument literarischer Produktion und Rezeption einen verbindlicheren Charakter besessen als im 17. Jahrhundert; für keine gebietet sich daher zwingender – auch und gerade für eine historisch-soziologische Verfahrensweise – der Ausgang von dem im 17. Jahrhundert maßgeblichen Gattungssystem und seinen Normen. Die Präponderanz der Gattung muß zunächst als Konsequenz der besonderen Bedingungen verstanden werden, denen der Klassizismus im Deutschland des 17. Jahrhunderts unterliegt. Schon der Rückgriff auf die antike Literatur in der italienischen Frührenaissance ist begleitet von der theoretischen Kodifizierung und Legitimierung der poetischen Praxis. Beide haben ungeachtet der Divergenzen zwischen Theorie und Praxis das Gattungsbewußtsein von Produzenten und Rezipienten in erheblichem Maße mitgeprägt und derart die Installierung der Gattungen vorangetrieben. Normative Poetologie und gattungsgebundene Poesie gehen insofern zusammen. Zugleich unterliegen die Bedingungen für die Ausprägung der Gattungen im frühneuzeitlichen Europa jedoch entscheidenden Wandlungen. Und dies nicht allein in dem selbstverständlichen Sinne, daß die spezifischen politisch-historischen und sozio-kulturellen Bedingungen von Land zu Land, von Territorium zu Territorium wechseln. Vielmehr werden mit der Erschließung der antiken Gattungen in der Frührenaissance und deren Evolution und Ausdifferenzierung in den neulateinischen und nationalsprachigen Literaturen Europas traditionsgeschichtliche Voraussetzungen geschaffen, die für jedes Land neu zu rekonstruieren sind. Eine Geschichte der Formation der Gattungen im Europa der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt der ständigen Erweiterung des Repertoires auf der einen Seite, der Verfestigung des Kanons der Überlieferung auf der anderen, steht aus. Gerade für den verspäteten Einsatz der deutschen ›Nationalliteratur‹ dürfte ein gewisser Verlust an Elastizität in der Gattungsbildung mit in Anschlag zu bringen sein. Die Repristination der antiken Gattungen in der italienischen Frührenaissance geschah mit dem erklärten Ziel, den Stand der antiken Literaturpraxis nicht nur zu erreichen, sondern womöglich zu überbieten. Die Diskussion um die Dignität der nachantiken Literatur auf Grund ihres christlichen Sujets hat hier eine ihrer Wurzeln. Sie besitzt ihr Pendant jedoch auch auf der formalen Ebene. Das Experiment mit neuen, so in der Antike nicht vorgegebenen Gattungen ist auch von dem Ehrgeiz geleitet, den antiken Kosmos zu bereichern und eben auf diese Weise zu überbieten. Die Geschichte der bukolischen Gattungen seit der italienischen Frührenaissance bietet dafür ein besonders eindrückliches Beispiel. Die Konsequenz für die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts – und damit auch der Schäfer- und
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Landlebendichtung – liegt darin, daß sie nicht nur und gar nicht in erster Linie auf das antike, sondern vielmehr auf das inzwischen voll ausgebildete europäische Gattungs-Repertoire zurückgreifen kann. Gewiß ist zu keinem Zeitpunkt die gesamte Überlieferung präsent und wirksam. Je nach regionalen, sozialen, konfessionellen Gegebenheiten treten einzelne Segmente der literarischen Tradition hervor, andere zurück. Grundsätzlich und ungeachtet dieser Einschränkung gilt jedoch, daß die literarische Praxis im Deutschland des 17. Jahrhunderts – und somit deren historische Rekonstruktion – unabdingbar an das vorgegebene System der antiken wie der neulateinischen und nationalsprachigen Literaturen Italiens, Spaniens, Portugals, Frankreichs, Englands und der Niederlande gebunden bleibt und eine Chance zur Erkenntnis nur in dem Maße besteht, wie es gelingt, die Ausdifferenzierung der deutschen Literatur vor diesem europäischen Hintergrund zu profilieren. Die Vermittlung des europäischen Gattungssystems mit der jeweiligen Adaption in Deutschland und die Vermittlung der einzelnen Repräsentanten mit den ihnen übergeordneten Gattungsmustern bleibt daher Vorbedingung jedweder literarhistorischen Arbeit im 17. Jahrhundert. Dementsprechend ist auch eine Untersuchung zur Konstitution bürgerlichgelehrten Bewußtseins in der Bukolik und Georgik des 17. Jahrhunderts auf den methodisch ausgewiesenen Rekurs auf das vorgängige europäische Gattungssystem verwiesen. Rechenschaft abzugeben ist in diesem Zusammenhang von dem dabei leitenden Erkenntnisinteresse. Aus der Integration des einzelnen Werkes in den übergeordneten Gattungsrahmen folgt für die literarhistorische Darstellung, daß der geschichtliche Gehalt der Werke nur im Blick auf die Gattungsreihe zu ermitteln ist. Ist dieser schon in Epochen, die die rigide Bindung an Gattungsnormen nicht mehr kennen – also seit der Mitte des 18. Jahrhunderts –, nur unter Beobachtung der jeweiligen geschichtlichen Funktion der ästhetischen Elemente zu ermitteln, niemals jedoch unmittelbar aus dem Werk zu schöpfen, so verdoppelt sich die Problematik in gattungsgebundenen Zeitaltern gleichsam, indem hier alle einschlägigen und historisch offensichtlich signifikanten Partien nicht nur mit ihrer Funktion im Werkgefüge, sondern zugleich im Gattungssystem vermittelt werden müssen. Der übliche Weg liegt in gattungsgeschichtlichen Untersuchungen im Verfahren der Reduktion. Was in vielen Exemplaren der Gattung auftaucht, pflegt als ›topisches‹ Gut behandelt, was singuläre Züge aufweist, pflegt als historisch aufschlußreich qualifiziert zu werden. Natürlich dürfen ungewöhnliche Stoffund Motiv- sowie Form- und Konstruktionselemente innerhalb einer Gattungsreihe besonderes Interesse beanspruchen. Doch ist nachdrücklich vor dem Irrtum zu warnen, den ›Topoi‹ einer Gattung käme als stets wieder aufgegriffenen keine besondere geschichtliche Signifikanz zu. Es zeichnet gerade die klassizistischen Literaturen aus, daß sich Autorintention und Werkrezeption innerhalb einer präfabrizierten Ausdruckswelt bewegen, so daß über das Spezifische der Werke keinesfalls primär unter dem Aspekt des Einmaligen zu befinden ist, sondern nur durch Wahrnehmung von Gewichtungen und Akzentuierungen, Differenzierungen und Verschiebungen innerhalb der vorgegebenen Gattung.
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Die Bindung an objektive, überindividuelle, vorgegebene Ausdrucksformen als Einschränkung zu begreiffen, ist eine moderne Anschauung. Schreiben im Rahmen einer Tradition hat nicht nur vielfach über Jahrhunderte die Konsistenz der ästhetischen Präsentation, sondern auch der geschichtlichen Argumentation sichergestellt. Hier sind innerhalb langwieriger Traditionen Mittel und Wege der individuellen Artikulation, der gezielten Abweichung vom Kanon ausgebildet worden, die sich nur aus der intimen Kenntnis humanistischer Literaturproduktion erschließen. Gattungsgeschichtliche und -theoretische Forschung bildet ein unumgängliches Exerzitium dafür. Doch muß diese ihrerseits fundiert sein in einem gesamthistorischen Ansatz. Denn über die Aktualität einer ›topischen‹ Figur innerhalb der klassizistischen Literatur entscheidet niemals ein gattungsinternes, sondern allein ein historisch-funktionsanalytisches Verfahren. Vorgeprägte, ›klischeehafte‹ Elemente im Arrangement eines humanistischen Textes können solange historische Bedeutungsträger sein, wie sich mittels ihrer die Interessen von Produzenten und Rezipienten zu artikulieren vermögen. Daß eine Formel unter Umständen bereits viele Dutzend Male von Vorgängern benutzt sein kann, besagt also für sich genommen gar nichts. Weit davon entfernt, allein schon durch die Häufigkeit ihres Auftretens disqualifiziert zu sein, mag sie für den geschulten, den gelehrten Leser stets noch den Charakter eines vertrauten und bedeutungsvollen Signals besitzen. Dessen Identifizierung vermittelt auch den Genuß, gelehrte Kompetenz bestätigt zu finden. Darüber hinaus vermag sie jedoch gerade auf Grund ihrer Allgemeinheit und traditionalen Verbürgtheit den Autor an exponierten Stellen zu schützen. Mehr als ein Beleg wird im folgenden dafür heranzuziehen sein, daß der Autor durch Verweis auf seine Gewährsmänner die Brisanz vornehmlich sozialkritischer Expektorationen zu entkräften trachtet. Tradition, das hervorstechendste Merkmal humanistischer Dichtung, fungiert dann als willkommenes Organon latenter Opposition. So gesehen erweist sich der in der Debatte um die Aktualität der Literatur des 17. Jahrhunderts so beliebte Hinweis auf die lange Vorgeschichte ihres disputativen Gehalts als unangemessen gegenüber der Faktur humanistischer Texte. Das gilt auch für die hier verfolgte Frage bürgerlich-gelehrter Mentalität. Erst wo der Nachweis geführt werden kann, daß ein Textelement historisch funktionslos geworden ist, d.h. auf die Bedürfnisse der Trägerschichten eines Textes nicht mehr antwortet, sinkt er tatsächlich zum ›topischen‹, d.h. geschichtlich bedeutungslosen, nur noch aus Gründen der Gattungsraison mitgeführten Ballast herab. Nur eine historisch-dialektisch verfahrende Literaturwissenschaft dürfte folglich eine Chance haben, Vitalität oder Stagnation einer Gattung bzw. einzelner ihrer Elemente plausibel zu machen, weil sie sich strikt um deren Geltung im gesamthistorischen Prozeß bemüht.
Einsatz mit Martin Opitz Schon vor und neben Opitz hat es Ansätze zur Ausbildung einer deutschsprachigen Bukolik und Georgik gegeben. Wenn eine Untersuchung zum histori-
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schen Gehalt der Arkadien-Utopie in Deutschland gleichwohl in jedem Fall mit ihm einzusetzen hat, so bekundet sich darin nur ein weiteres Mal die auch sonst anerkannte säkulare Bedeutung dieses Autors. Sie liegt einerseits in der Konsequenz, mit der Opitz die verschiedenartigsten literarischen Genera der Antike und der europäischen Renaissance durch Übersetzung und schöpferische imitatio dem 17. Jahrhundert verfügbar macht; andererseits in der von ihm mit äußerster Zielstrebigkeit verfolgten kulturpolitischen Strategie, die durchgehend darauf abzielt, der neuen Kunstdichtung sowie ihren Schöpfern einen festen Platz im gesellschaftlichen Gefüge seiner Zeit zu sichern. Daß Opitzens Vita darüber hinaus seinem kulturpolitischen Programm über weite Strecken korrespondierte, insofern es sich überwiegend im Umkreis jener Mächte abspielte, die er für die neue Dichtung zu gewinnen suchte, mag ein zusätzlicher Grund für die Attraktivität sein, die Person und Werk über ein Jahrhundert lang ausgeübt haben. Eine Untersuchung, die an einem ausgewählten, gattungsgebundenen Quellenmaterial – hier der Bukolik und Georgik – die Brechung geschichtlicher Konstellationen und Bewegungen studieren und die Dichtung als Antwort, aber auch als Motor dieser Prozesse begreifen möchte, ist daher gehalten, den Blick über die Dichtung hinaus auf jene Stellen zu richten, an denen sich die kulturpolitische Programmatik am deutlichsten artikuliert, und nach der Koinzidenz beider zu fragen. Nur so kann eine nicht nur zufällige, sondern legitime Motivation dafür gewonnen werden, Martin Opitz an den Anfang einer größeren Arbeit zu rücken. Seit der zeitgenössischen Panegyrik und Biographik hat an der Gestalt Martin Opitzens ein doppelter Aspekt seines Wirkens interessiert: die planmäßige Rezeption der europäischen Renaissanceliteratur und damit die Begründung der neueren deutschen Kunstdichtung auf der einen Seite, die zielstrebige soziale Fundierung der neuen Dichtung und die gesellschaftliche Rehabilitierung ihrer Schöpfer auf der anderen Seite. Selten richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang dieser parallel angelegten Aktivitäten. Insbesondere die kunsttheoretisch und historisch maßgebliche Frage nach dem geschichtlichen Gehalt des Werkes und dessen möglicher Koinzidenz mit der externen literaturpolitischen Strategie wurde bisher eher gestreift als geklärt. Allzu stark hatte die neuere, von den geistesgeschichtlichen Exzessen sich absetzende Barockforschung in bewußter und allzu berechtigter Negation erlebnisästhetischer Kategorien den Akzent auf die handwerklich-artistische und damit auf die strenge Gattungsgebundenheit barocker Kunstproduktion gelegt, als daß das Problem ihres geschichtlichen Erfahrungsgehalts gleichwertig exponiert worden wäre. Dessen Lösung in Angriff zu nehmen, heißt in mikrologischer Analyse nach den Einsatzstellen in den Texten des 17. Jahrhunderts Ausschau zu halten, die – wie vermittelt durch Tradition auch immer – den Blick auf spezifische historische Konstellationen freigeben, und heißt zugleich, weiten Abstand von den Texten zu nehmen, um sie in der Rekonstruktion der geschichtlichen Bewegung als deren dialektisches Moment begreifen zu können. An dieser Stelle soll nicht mehr geschehen, als die Aufmerksamkeit auf drei gewichtige programmatische Äußerungen Opitzens zu lenken und im Anschluß
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daran drei Stücke aus der Gattung der Bukolik und Georgik zu betrachten, die Opitz seinem Jahrhundert in so großer formaler und thematischer Mannigfaltigkeit durch Übersetzung und eigenständige Schöpfung vermittelte. Die geschichtliche Auswertung und Erklärung der ermittelten Befunde selbst muß der größeren Arkadien-Arbeit vorbehalten bleiben. Zur Diskussion steht eine bestimmte Art der Lektüre barocker Texte, die ihnen ihren Realitätsgehalt zurückgewinnen möchte, ohne auf unadäquate ästhetische Prämissen zurückzugreifen.
Der ›Aristarchus‹ als kulturpolitisches Manifest Im Aristarchus (1617), der programmatischen Erstlingsschrift Opitzens, zeichnet sich das literarische Konzept bereits klar ab.1 Die kulturpolitische Strategie hingegen ist allenfalls in einigen Wendungen der Vorrede angedeutet; sie wird erst 1624/25 voll entfaltet. Der junge Dichter, der sich anschickt, die europäische Renaissancedichtung einzudeutschen, hebt an mit einem Preis der alten Germanen. Mit ihm stellt sich Opitz in eine feste humanistische Tradition, die ihrerseits auf Tacitus fußt. Aber erst von seinem Ansatz her werden die aktuellen Potenzen des nationalen Mythos ganz entbunden. Ihm ist eine durchgehend legitimistische Funktion zugedacht. Sie kann sich uneingeschränkt erst an ihn knüpfen, sobald ein Konzept für eine deutschsprachige Kultur vorliegt.2 Für die cisalpinen Völker, insbesondere die Italiener, verbindet sich die Proklamation einer Nationalkultur bruchlos mit der Restitution der (lateinischen) Antike. Die Verpflichtung auf ein von den Schlacken der kirchlichen Überlieferung befreites Latein schließt die Erfüllung eines Anspruchs ein, den die eigene große Vergangenheit an die Nachfahren stellt. Und das Plädoyer für die lingua vulgata kann sich darauf berufen, das Erbe der Vorfahren wo nicht dem Buchstaben so doch dem Geiste nach lebendig zu halten. Dem transalpinen Humanismus fehlt dieser Rückhalt in der nationalen Vergangenheit. Die Anleihen bei ––––––––– 1
2
Zum Aristarchus sei zunächst verwiesen auf die wertvolle Einleitung von Georg Witkowski in der von ihm besorgten Edition, nach der im folgenden zitiert wird: Martin Opitzens ›Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae‹ und ›Buch von der Deutschen Poeterey‹.- Leipzig: Veit 1888. Hier die lateinische Version S. 81–104, die deutsche Übersetzung (ohne die Widmungsschrift und die Ode ›Ad Germaniam‹!) S. 105–118. Zum Zusammenhang mit den humanistischen Äußerungen vgl. vor allem Franz-Josef Worstbrock: Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus.- In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hrsg. von Walter Müller-Seidel.- München: Fink 1974, S. 499– 519. Der Verfasser dankt Herrn Worstbrock für die vorab erfolgte Überlassung eines Manuskripts. Aus der Literatur sei gezielt verwiesen auf: Paul Joachimsen: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Ausgewählt und eingeleitet von Notker Hammerstein.- Aalen: Scientia 1970. Hierin ›Tacitus im deutschen Humanismus‹ (1911), S. 275–295, und ›Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes‹ (1930), S. 325–386. Vgl. des weiteren speziell im Blick auf die Tacitus-Rezeption Else-Lilly Etter: Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts.- Basel, Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn 1966 (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft; 103).
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Tacitus im Zeitalter des Humanismus bezeichnen den Versuch, dem Norden ein Äquivalent zu verschaffen. Daß dieser Rekurs auf die alten Germanen ungeeignet sein muß zur Begründung einer latinisierten Kultur, ist klar. Anders steht es, sofern – wie im Aristarchus – eine deutschsprachige Kultur anvisiert wird.3 Die Vorzüge der Germanen gruppieren sich so wenig wie bei Tacitus und seinen humanistischen Nachfahren in erster Linie um intellektuelle oder künstlerische Fähigkeiten als vielmehr um ethische und sittliche Qualitäten. Diese sind allerdings verschränkt mit der Sprache der Germanen. In ihr flektiert sich deren lauterer, aufrechter Charakter ebenso wie ihr heldenhafter Mut. Über die Jahrhunderte hinweg ist sie den Nachfahren rein und frei von fremden Verunreinigungen weitergereicht worden.4 Die politische und sprachliche Verfassung eines Landes gehören zusammen – das ist die hier erst noch angedeutete These, die Opitz und sein Gefolge im 17. Jahrhundert zu einem schlagkräftigen Argument ausbauen werden. Der fiktiven Konservierung des germanischen Idioms kontrastiert Opitz das Schicksal der lateinischen Sprache. Wenn die Blüte des Lateinischen nicht länger als das Augusteische Zeitalter währte, so ist das nicht Folge eines unergründlichen Schicksals – diesen für einen Moment auftauchenden Gedanken verfolgt Opitz bezeichnenderweise nicht weiter –, sondern vielmehr »Schuld der Herrschenden«, wie Witkowski 1888 übersetzt (»vitio superiorum«). Unter den tyrannischen, verbrecherischen Kaisern »wollte die Sprache nicht besser sein, als die Herrscher ihres Zeitalters.«5 Dadurch wird den Regenten eine Verantwortung für die unter ihrer Herrschaftsgewalt und auf ihrem Territorium praktizierte Sprache und alle in ihr sich artikulierenden kulturellen Manifestationen zuerkannt, die sehr rasch zu handfesten Forderungen führen kann. Sie werden an dieser Stelle noch nicht artikuliert. Deutlich erkennbar bleibt eine gewisse Sprunghaftigkeit des argumentativen Zusammenhangs. Das Ende des römischen Staates und der »aufs feinste ausgebildete[n] Sprache« (»cultissimus sermo«) wird durch den Einfall der Germanen herbeigeführt.6 Was hier als scheinbar äußeres historisches Erklärungsmoment namhaft gemacht wird, muß jedoch vor dem Hintergrund der einleitenden Charakteristik der Germanen gesehen werden. Deren Freiheit, so heißt es dort, be–––––––––
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Die einschlägige Literatur ist rasch rekapituliert: Max Rubensohn: Der junge Opitz.- In: Euphorion 2 (1895), S. 57–99; Euphorion 6 (1899), S. 24–67, S. 221–271; Horst Rüdiger: Martin Opitz.- In: ders.: Wesen und Wandlung des Humanismus.- Hamburg: Hoffmann und Campe 1937 (= Europa-Bibliothek), S. 137–155. Hier zutreffend zum Aristarchus S. 145–151. Des weiteren die herausragende Studie von einem der besten Kenner des 17. Jahrhunderts: Curt von Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹: Eine Neuwertung.- In: Publications of the Modern Language Association of America 69/3 (1954), S. 566–590. Vgl. die Nachweise in Martin Opitzens ›Aristarchus‹ (Anm. 1), S. 106 bzw. S. 88 der lateinische Text: »Eam tam generosam, tam nobilem ac patriam suam spirantem linguam, per ita prolixam tot seculorum seriem, puram nobis & ab omni externa illuvie mundam tradiderunt.« Ebd.: »Imperantibus enim Claudiis, Neronibus & Domitianis monstris hominum ac sceleribus, & quorum sine flagitio ne meminisse quidem possumus; lingua principibus sui temporis melior esse non voluit.« Ebd., S. 107 bzw. S. 89.
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ruhe weniger auf ihren Waffen und Befestigungen, als ihren inneren Qualitäten. Auch die Sprache ist gerade in den Schlachten ein mächtiges Stimulans. Der Abstieg Roms ist also im Inneren des Reiches vorbereitet, bevor er von außen besiegelt wird. Fürstliches Regiment, Volkscharakter, Sprache und äußere Sicherheit eines Landes bilden eine Einheit. Das schält sich als Quintessenz der einleitenden Passagen des Aristarchus heraus. Wie wenig Opitz um eine historisch sachgerechte Argumentation bemüht ist, wie sehr es ihm um eine legitimistische Fundierung seines eigenen Programms geht, zeigt die Behauptung, daß die Sprache der Germanen »bis auf den heutigen Tag unvermengt und unverfälscht den Zungen der Nachkommen verblieben [ist], wie die Treue und Einfalt ihren Herzen.«7 Natürlich ist »die Behauptung, dass alle europäischen Sprachen einer Katastrophe entgegen gingen«, unsinnig; sie wird ja auch nur als vorsichtige Vermutung gestreift.8 Opitz braucht diese Folie, um einen Anknüpfungspunkt für sein eigenes Konzept zu gewinnen, nachdem er – nicht zuletzt, um sich seinen Beuthener Gönnern zu empfehlen – zuvor einen Aufruf zur Pflege der klassischen Sprachen, insbesondere des klassischen Latein, absolviert hatte. Dieser resümiert sich in der bekannten Forderung, daß es an der Zeit sei, den volkssprachigen Literaturen des Auslands eine eigene deutsche zur Seite zu stellen. Das »Ansehen unseres geliebten Vaterlandes« solle dadurch gegenüber dem Ausland gehoben werden.9 Noch gar nicht ausgeleuchtet sind die kulturpolitischen Perspektiven dieses Programms. Das patriotische Argument ist gute humanistische Tradition; die Brücke zum Territorialfürstentum noch nicht geschlagen. Immerhin zeichnet sich bereits ab, daß nationale Selbstbehauptung und Selbstachtung gebieten, sich der eigenen Sprache zu bedienen und sich ihrer nicht zu schämen. Andernfalls »verachten wir uns selbst und werden verachtet.«10 Derart hat Opitz die machtstaatlichen Implikationen scheinbar unpolitischer kultureller Aktionen von Anfang an sehr klar im Auge. Die Schändung der deutschen Sprache durch Gallizismen und Latinismen ist immer auch ein Akt potentieller nationaler Demütigung. Hier liegt die genaue Übereinstimmung mit den Interessen der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹. Opitz weiß sich als zukünftigen Vollstrecker dieses nationalen Auftrags bereits in seiner Erstlingsschrift durch einige Kostproben, vor allem aber durch den Hinweis auf die Priorität seiner Leistung gegenüber anderen Konkurrenten und durch Ankündigung seiner zukünftigen Produktion zu empfehlen. Ernst Schwabe von der Heydes Gedichte, aus denen Opitz zitiert, »habe ich jedoch viel später gesehen, als ich den Gedanken gefaßt habe, in dieser Wei–––––––––
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Ebd., S. 108 bzw. S. 90 der lateinische Text: »Germanorum tamen sermo linguas posterorum, ut fides & candor animos, hucusque [sic!] indivulsus & incorruptus semper est comitatus.« Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹ (Anm. 3), S. 579. Martin Opitzens ›Aristarchus‹ (Anm. 1), S. 108 bzw. S. 91 der lateinische Text: »Ego tamen, non ut utilissima peregrinandi consuetudo intermittatur suadeo: sed ut desideratissimae patriae nostrae dignitas salubri auxilio conservetur.« Ebd., S. 109 bzw. S. 92 der lateinische Text: »Contemnimus itaque nos ipsi, & contemnimur.«
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se zu dichten«, scheut Opitz sich nicht, vor der Versammlung der Schulmänner auszuplaudern.11 Sein Konzept hat brisante politische Umrisse; zugleich ist es geknüpft an die strategisch geschickte Regie des Individuums Martin Opitz. Nichts ist typischer für die Barockdichtung in seinem Gefolge als diese Verquickung eines allgemeinen Anspruchs mit persönlichen Rankünen und Ambitionen: das Signum der Verspätung – und gelegentlich auch das der Provinz. Nachdem Opitz sein dichterisches Erstlingswerk Strenarum Libellus (1616) dem Rektor der Bunzlauer Schule Valentin Senftleben gewidmet hatte, wandte er sich mit seiner ersten programmatischen Schrift an den Adressaten seines Lebenswerkes: den Adel. Der Aristarchus ist zwei Schülern von Caspar Dornau, dem Rektor des Schoenaichschen Gymnasiums in Beuthen, das Opitz seit Januar 1616 besuchte und in dem er im Winter 1617 seine Rede vortrug, zugeeignet: Friedrich von Kreckwitz und Austen sowie Wigand von Gersdorff. Sie müssen wesentlich älter als Opitz gewesen sein, er redet sie ›Nobilissimi Heroes‹ an und bezeichnet sich selbst als ›adolescentem‹. [...] Es handelt sich um zwei Repräsentanten des grundbesitzenden Adels, junge Männer, deren Arbeit in der Verwaltung ihrer Güter, deren Erholung in Jagen und Reiten bestehen musste. Viel anderes war bei der Schwierigkeit des Reisens in Schlesien nicht übrig, das Eichendorff in seinem ›Deutsches Adelsleben am Schlusse des 18. Jahrhunderts‹ noch drastisch genug schildert.12
Von Faber du Faur macht darauf aufmerksam, daß sich diese adelige Lebenswelt ebenso wie die zunehmende Offizierstätigkeit des Adels in der Dichtung des 17. Jahrhunderts so gut wie gar nicht ausprägt: Bei den schreibenden Pfarrern und Schulmeistern ist das begreiflich, aber auch die nicht seltenen dichtenden Kavaliere zeigen nichts von diesem Geist, die Stadtadligen wie Hofmannswaldau und Lohenstein nicht, aber auch nicht A.A. von Haugwitz, Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen, Hans Assmann von Abschatz und Hans von Assig, die Altadligen. Bei ihnen allen bleibt der in der Vorrede zum ›Aristarchus‹ festgelegte Ton, eine Wertschätzung der Studiertheit, der Sprachen- und Weltkenntnis, eine höfische Form, der alles Junkerliche und Arrogante sehr fern liegt. Hätte man nicht Darstellungen wie Paul Winklers ›Edelmann‹ von 1697 oder Christian Reuters ›Graf Ehrenfried‹, so würde man aus dem Schrifttum des Barock eine vorwiegend bürgerliche und gelehrt interessierte Gesellschaftsschicht erschliessen.13
Eine historisch-dialektische Untersuchung darf bei der Beschreibung derartiger Sachverhalte, auch wenn diese noch so sehr mit Anschauung gesättigt ist, nicht stehen bleiben. Ihr geht es um die Deutung aus der standesspezifischen Interessenlage des Autors heraus, die keineswegs mit dessen subjektiven Intentionen zu koinzidieren braucht. Immerhin bedeutet Opitz bereits in seiner theoretischen Erstlingsarbeit dem Adel, daß der Radius dieses Standes mit Reiten und Jagen, mit nichtigen Beschäftigungen oder schändlichem Nichtstun ebensowenig um––––––––– 11
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Ebd., S. 114 bzw. S. 100 der lateinische Text: »Aliter rursum ista Ernesti Schwaben von der Heyde politißimi hominis, & mira suavitate morum commendatissimi: cujus tamen Germanica quaedam carmina longe post vidi, quam de hoc scribendi modo cogitaveram.« Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹ (Anm. 3), S. 576 f. Hier auch eingehender zu Caspar Dornau. Ebd., S. 578 f.
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schrieben ist wie mit willkürlicher Behandlung der Untertanen, die sich einmal von nackter Gewalt, ein anderes Mal von einer menschlichen Regung leiten läßt. Wahrer Adel liegt erst dort vor, wo die Vertreter dieses Standes allen Fleiß auch auf die Wissenschaften werfen, um diejenigen, die sie von Geburt bereits unter sich gelassen haben, auch an Gelehrsamkeit zu übertreffen und damit zu einem auf Urteilskraft und Sachverstand basierenden Handeln in der Lage zu sein. Gleichwohl legt Opitz den Adel nicht auf weltfernes, linkisches Stubengelehrtentum fest, das ihm stets suspekt blieb: Optime autem ii temporis sui calculum ponere mihi semper visi sunt, qui literarum cognitionem externae elegantiae dulci contubernio jungunt. Moderatur enim librorum amorem, ne infra sui generis authoritatem excrescat, polita illa & ad comitatem magis composita calliditas: quam vicissim literatae sapientiae dedita mens flectit & gubernat, ne, dum futilibus & fluxis rebus nimis est intenta, illud propter quod homines sumus, negligat & omittat.14
Das Ideal ist eingeführt als ein allgemeingültiges, nicht auf bestimmte Stände beschränktes. Doch gibt es sich als Symbiose adeliger und bürgerlich-gelehrter Werte zu erkennen, sofern man deren Applikation auf die Adressaten der Widmung hinzunimmt, die – wie könnte es anders sein – das postulierte Ideal in ihrer Person vorbildlich verkörpern: Vos cum politicam illam & civilem prudentiam ametis; literas etiam ac eruditionem non odistis: quotiescunque à domesticis occupationibus respirare vobis datur, ad libellos vestros charissimos, tanquam portum curarum ac asylum, non illibenter confugitis.15
Was vorher mit dem Begriff externa elegantia umschrieben war, wird nun mit dem Terminus technicus benannt: prudentia politica et civilis. Sie ist diejenige Tugend, deren Besitz im öffentlichen Bereich und insbesondere in der höfischen Welt für den Regenten wie den Höfling gleichermaßen obligatorisch ist. Die gelehrten Studien bilden das Gegengewicht zu der öffentlichen Tätigkeit und sind mit dem Nimbus umgeben, daß die Menschen in ihnen im Wechsel der flüchtigen Dinge das finden, »propter quod homines sumus.« Ohne Wissenschaft kein Adel – dieses Thema, das Opitzens Werk und sein Jahrhundert durchziehen wird, klingt in seiner Erstlingsschrift bereits an. Der Adel wird auf die Werte der Gelehrten verpflichtet, so wie umgekehrt den Gelehrten die Fähigkeit gewandten Auftretens nicht abgehen darf. Die Auswüchse einer sich ausschließlich der Bücherwelt verschreibenden Gelehrtenexistenz sind nicht weniger abschreckend wie das barbarische Treiben der ungebildeten Adligen. Wenn sich die Kombination des prudentia-Ideals mit dem Gelehrtentum in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts vor Weise und Thomasius so viel undeutlicher ausprägt als die des eruditio-Ideals mit dem Adel, so hat dies seinen Grund darin, daß die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts größtenteils ein Werk der bürgerlichen Gelehrten ist, denen die Verpflichtung des Kontrahenten auf den eigenen Status wichtiger ist als die Adaption des Ideals der Gegenseite. ––––––––– 14 15
Martin Opitzens ›Aristarchus‹ (Anm. 1), S. 84. Ebd.
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Unter den vielen Konsequenzen dieser Strategie bahnt Opitz schon im Aristarchus eine bewußt an und beweist damit, daß er selbst im Besitz von prudentia ist. Opitz verspricht den adeligen Empfängern seiner kleinen Schrift, daß ihr größere folgen werden, sofern göttliche Wohlgesonnenheit und Patronat der Edlen dem Dichter erhalten bleiben. »Sint Maecenates, non deerunt forte Marones«, so schließt Opitz, Martial variierend, seine Vorrede.16 Nur ein für die gelehrten Gegenstände interessierter Adel kann als Mäzen der Gelehrten fungieren und diese Aufgabe als die seine betrachten. Einen Pfeiler zur ökonomischen Sicherung der Gelehrten, sofern sie eine beamtete Stellung ausschlagen oder nicht bekommen, bildet ein den Wissenschaften gegenüber aufgeschlossener Adel. Diese Aufgeschlossenheit zu befördern, ist der Zweck der Vorrede zum Aristarchus. Die dem Erstling folgenden Schriften werden das Verhältnis der beiden Stände als eines vielfacher und wechselseitiger Abhängigkeit weiter entfalten und vertiefen.
Kulturpolitische Seitenthemen in Opitzens ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey aus dem Jahre 1624, mit dessen Erscheinen für ihn selbst der Aristarchus überholt war, legt das Gewicht in den Partien, die nicht der Poesie im engeren Sinn gewidmet sind, auf die Verteidigung von Dichter und Dichtung.17 Innerhalb des schmalen Rahmens dieses nach eigenem Bekunden in wenigen Tagen geschriebenen Werkes reserviert Opitz insbesondere in den einleitenden Kapiteln beträchtlichen Raum für die kulturpolitische Thematik, die einzig Gegenstand dieser Zeilen ist. Die vielen Paraphrasierungen der ›Poetik‹ und die zahlreichen quellenkritischen Kommentare bleiben prinzipiell unbefriedigend, weil sie versäumen, über den Textbefund bzw. über die Tradition der europäischen Poetik hinaus nach der sozialen Funktion der durchweg ›topischen‹ Argumente zu fragen, über die allein entschieden werden kann, was mitgeschleppter Ballast und was aktueller Zündstoff ist.18 ––––––––– 16 17
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Ebd., S. 85. Wir legen im folgenden unserer kleinen Betrachtung die von Richard Alewyn veranstaltete Edition zugrunde: Martin Opitz. Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von Wilhelm Braune [1876] neu hrsg. von Richard Alewyn. 2. Auflage.- Tübingen: Niemeyer 1966 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke. N.F.; 8). Hinzuzuziehen insbes. im Blick auf die Einleitung und die Stellenkommentare bleibt die Ausgabe von Witkowski (vgl. Anm. 1); der Text hier S. 119–207. Die ältere und durchweg quellenkritische Literatur braucht hier nicht aufgeführt zu werden. Der im folgenden akzentuierte Aspekt ist wiederholt berührt insbes. bei Richard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Analyse der ›Antigone‹-Übersetzung des Martin Opitz.- Heidelberg: Köster 1926. Die Arbeit erschien in den Neuen Heidelberger Jahrbüchern (1926), S. 3–63. Unveränderter Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962 (= Libelli; 79). Vgl. insbes. S. 6 ff. Das ältere Standardwerk stammt bekanntlich von Karl Borinski: Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland.- Berlin: Weidmann 1886. Reprint Hildesheim: Olms 1967.
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Der Germanenmythos wird in der Poeterey nur noch beiläufig bemüht. Bezeugt auch Tacitus, daß den Germanen die Pflege der ›freyen künste‹ unbekannt ist, so bilden sie doch eine auf mündlicher Überlieferung basierende Heldendichtung aus, mit deren Resten Opitz während seines Jütland-Aufenthalts bekannt geworden war. Ausführlicher als im Aristarchus ist jetzt von der mittelhochdeutschen Dichtung die Rede, der dort nur mit einem Gedicht des Marners gedacht worden war. Mußte im Aristarchus noch die fingierte, Jahrhunderte währende Blüte der germanischen Sprache als Anknüpfungspunkt für eine genuin nationale kulturelle Tradition herhalten, so differenziert sich das Bild nun als Folge des Studiums in Heidelberg. Der Freiherr von Wengen und ›der Winsbecke‹, Reinmar von Zweter und der Marner, Meister Sigeherr und vor allem Walther, der mit einem Leich zu Wort kommt, sind die Gewähr dafür, daß auch in der Geschichte der deutschen Dichtung Personen hervorgetreten sind, »die manchen stattlichen Lateinischen Poeten an erfindung vnd ziehr der reden beschämen.«19 An ihr Werk kann Opitz mit seiner Erneuerung der deutschen Dichtung anknüpfen. Das setzt voraus, daß zwischen den erwähnten mittelalterlichen Zeugen und Opitzens Ansatz eine Periode des Verfalls liegt. Über sie äußert sich Opitz nur andeutend und nicht unbedingt eindeutig: Gewißlich wenn ich nachdencke/ was von der zeit an/ seit die Griechische vnd Römische sprachen wieder sind hervor gesucht worden/ vor hauffen Poeten sind herauß kommen/ muß ich mich verwundern/ wie sonderlich wir Deutschen so lange gedult können tragen/ vnd das edele Papir mit jhren vngereimten reimen beflecken.20
Deutschland hat die Erneuerung der Dichtersprache unter den Normen der Antike bisher nur in der neulateinischen Kunstdichtung mitvollzogen, sie jedoch in der Muttersprache versäumt. Die heimische frühbürgerliche Dichtung disqualifiziert sich in den Augen Opitzens und der Seinen auf Grund ihres geringen formalen Niveaus. Eben deshalb hält es Opitz –––––––––
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Hier das Kapitel ›Die Einführung der Renaissance=Poetik durch Opitz‹, S. 56–114, und darin der Abschnitt ›Allgemeines‹, S. 64–74. Zugrunde liegt die Dissertation von Borinski, die schon seinerzeit einen Verweis auf die größere Arbeit enthielt: Die Kunstlehre der Renaissance in Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey. (Abschnitt eines grösseren Werkes über ›Die nationale Poetik in Deutschland von der Renaissance bis auf Lessing‹).- München: Straub 1883. Ich bin Gregor Maurach für die Übergabe eines Widmungsexemplars des Verfassers (»Dem akademisch-philologischen Verein zu München«) dankbar verpflichtet. Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Band I: Barock und Frühaufklärung.- Berlin, Leipzig: de Gruyter 1937 (= Grundriss der Germanischen Philologie; 13/1), verbucht das hier behandelte Problem in seinem Opitz-Kapitel (S. 29–45) unter dem Titel »resolute und formal und kampftaktisch gewandte Entlastungsvorstöße« (S. 37). Zur Sache selbst ist dem Opitz-Abschnitt nichts zu entnehmen. Vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen.- Tübingen: Niemeyer 1970. Hier insbes. das Kapitel ›Die gelehrte Grundlage der deutschen Barockliteratur‹, S. 220–238, darin S. 225–232: ›Literarische Kunstübung und ständische Basis‹. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (Anm. 17), S. 15. Ebd., S. 10.
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für eine verlorene arbeit [...] im fall sich jemand an vnsere deutsche Poeterey machen wolte/ der/ nebenst dem das er ein Poete von natur sein muß/ in den griechischen vnd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist/ vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat.21
Die Antike und die auf ihr fußende Renaissancedichtung bildet die ästhetische Norm, die mittelhochdeutsche Dichtung verschafft die soziokulturelle Legitimation, die stadtbürgerliche Dichtung des 15. und 16. Jahrhunderts wird – ungeachtet ihrer Deutschsprachigkeit – verschwiegen oder denunziert. Sie gilt im direkten Wortsinn als nicht salonfähig; das wird diese Dichtungsart erst wieder, nachdem Opitz die im Ausland in Umlauf gekommenen klassizistischen Ideale auch für Deutschland verbindlich macht. Zurückkehrend in die Vergangenheit, findet Opitz dort einen Anknüpfungspunkt, wo die Dichtung im Umkreis des Adels erwächst. Denn nicht zu übersehen sind die Hinweise auf die soziale Position der erwähnten mittelalterlichen Dichter. Alle bis auf Meister Sigeherr sind Adlige. Reinmar habe zudem Kontakt zum Hof Barbarossas besessen, wie Opitz bemerkt; Walther sei Kaiser Philipps »geheimer raht« gewesen.22 Entscheidend ist die Folgerung, die daraus gezogen wird. Adelige Herkunft und höfische Dienste schließen die Pflege der Poesie nicht aus. Adel und Fürstentum muß man als den intendierten Adressaten jener weitschweifigen Apologien dichterischer Existenz in der Poeterey identifizieren. Ihnen soll verdeutlicht werden, daß gerade der Poet auch für nichtdichterische Zwecke taugt und einsatzfähig ist. Schon in der Vorrede an den Rat von Bunzlau hatte Opitz beteuert, daß »es mit der Poeterey alleine nicht auß gerichtet sey/ vnd weder offentlichen noch Privatämptern mit versen könne vorgestanden werden«.23 Die ganze Reihe der Argumente stellt in Opitzens Augen einen überzeugenden Beweis dar, daß diejenigen einem gravierenden Irrtum unterliegen, welche aus der Poeterey nicht weiß ich was für ein geringes wesen machen/ vnd wo nicht gar verwerffen/ doch nicht sonderlich achten; auch wol vorgeben/ man wisse einen Poeten in offentlichen ämptern wenig oder nichts zue gebrauchen; weil er sich in dieser angenemen thorheit vnd ruhigen wollust so verteuffe/ das er die andern künste vnd wissenschafften/ von welchen man rechten nutz vnd ehren schöpffen kan/ gemeiniglich hindan setze.24
Die ersten vier sowie das siebte und letzte Kapitel der Poeterey sind ein einziges Plädoyer für die Anerkennung der wichtigen öffentlichen Rolle, die einer richtig konzipierten und rezipierten Poesie und damit ihren Schöpfern zukommt. Der größte Lohn, den die Poeten zu gewärtigen hätten, sei der, daß sie nemlich inn königlichen vnnd fürstlichen Zimmern platz finden/ von grossen vnd verständigen Männern getragen/ von schönen leuten (denn sie auch das Frawenzimmer zue lesen vnd offte in goldt zue binden pfleget) geliebet/ in die bibliothecken einverleibet/ offentlich verkauffet vnd von jederman gerhümet werden.25
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Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 9. Ebd., S. 55.
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Daß dieser ›jederman‹ seinerseits nur ein Kundiger der Wissenschaft und Künste sein kann, folgt schon aus dem zitierten Selbstverständnis dieser Poesie. Ausgerichtet ist das Programm Opitzens, das seit 1624 verbindlich bleibt, auf Fürstentum und Adel, die es als Interessenten, als Mäzene und nicht zuletzt als Dienstherren in nichtpoetischer Mission zu gewinnen gilt. Die Verklammerung zwischen diesen Adressaten und der sozialen Funktion der Poesie ist in der Poeterey nicht so evident wie in der Vorrede zu der Ausgabe seiner Gedichte von 1625. Nur allgemein ist von den durchgehend nützlichen Wirkungen der Poesie die Rede, die Opitz vor allem sicherzustellen hat. Gerade die dichterische Einkleidung des Gemeinsten – seit Platons Politeia ständig erneuerter Anlaß zur Bezeichnung des Dichters als Lügner – garantiert für Opitz im Gefolge der Renaissance-Poetik die erzieherische Breitenwirkung von Dichtung.26 Sie genau läßt sich der von Opitz propagierten Reform nicht zusprechen. Wohl aber kann auch seine neue Kunstdichtung für sich in Anspruch nehmen, daß die Menschen »durch die anmutigkeit der schönen getichte zue aller tugend vnnd guttem wandel« gereizt werden – ein Satz, der sich auf die Ursprünge der Poesie bezieht, jedoch wie stets im 17. Jahrhundert eine aktuelle Komponente enthält und sich den obrigkeitlichen Bestrebungen des Landesfürstentums wie der städtischen Magistrate nach durchgehender Reglementierung des privaten Bereichs der Untertanen im Medium der ›Polizei‹ problemlos zuordnet.27 Die Meinung, »die Poeterey bestehe bloß in jhr selber«, diene nicht ihrerseits dem »gemeinen nutze«, wird nachdrücklich von Opitz zurückgewiesen.28 Voraussetzung dafür ist die moralische und intellektuelle Rehabilitierung des Poeten. Sind die Bevorzugung von Wein und Liebe offensichtlich verantwortlich für die communis opinio, »es sey keiner ein gutter Poete/ er musse dann zu gleich ein böser Mensch sein«, mit der sich Opitz auseinanderzusetzen hat, so verfolgt er hinsichtlich des zweiten Punktes die Strategie, das Spektrum der breitgestreuten Qualifikationen der Poeten zu vergegenwärtigen.29 Die Gepflogenheit, massenweise Gelegenheitspoesie zu produzieren, kann im Rahmen der Konstitution eines neuen öffentlichen Auftrags der Poesie gerade nur abträglich sein, weil sie die Poeten dem Verdacht aussetzt, nur den privaten Nutzen im Auge zu haben. Ausdrücklich ausgespart ist der höfische Bereich im Katalog der Anlaßarbeiten. Er ist die Domäne einer Poesie, die sich aus den Niederungen des bürgerlichen Alltags zu erheben sucht und den Anschluß an die Entfaltung des absolutistischen Territorialfürstentums gewinnen will.
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Die entsprechenden Nachweise z.B. bei Christian Wilhelm Berghoeffer: Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey.- Diss. phil. Göttingen 1888, S. 90 ff. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (Anm. 17), S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9.
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Der fürstliche Gründer der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ als Adressat der Gedichte von 1625 Die berühmte Vorrede an Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen zu der ersten von Opitz selbst veranstalteten Sammlung seiner deutschen Gedichte aus dem Jahre 1625, mit der er die nichtautorisierte Zincgrefsche Ausgabe von 1624 ersetzte, stellt diesen Zusammenhang unmißverständlich her. Sie steht seither vor allen Ausgaben der Werke Opitzens und hat grundlegenden und programmatischen Charakter für die Soziologie der deutschen bürgerlichen Gelehrtendichtung des 17. Jahrhunderts insgesamt. Mit ihr schlägt Opitz die Brücke zur ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ und ihrem adeligen Oberhaupt. Es ist bekannt, daß er jahrelang vergeblich auf eine Reaktion von seiten des Fürsten auf seine weitausholende Widmung gewartet hat. Rivalitäten, Fragen der Priorität insbesondere bei der Eindeutschung des Alexandriners durch Tobias Hübner und ähnliches mag eine Rolle gespielt haben. Unabhängig von diesen privaten Querelen, von denen die deutsche Barockdichtung hinter den Kulissen voll ist, markiert die Vorrede in der Wahl des Adressaten ein weiteres Mal Opitzens untrügliches Gespür für das, was an der Zeit ist.30 Nur in der großen, von Fürsten, Herzögen, Grafen und Adligen getragenen nord- und mitteldeutschen Vereinigung konnte seine kulturpolitische Konzeption in die Realität umgesetzt werden, so wie andererseits nur ein Literaturstratege vom Range Opitzens den tastenden und zögernden Versuchen aus dem Umkreis der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ Zielstrebigkeit und Durchschlagskraft zu verleihen vermochte. Die um einige Jahre verzögerte Aufnahme Opitzens als der ›Gekrönte‹ in die renommierte Gesellschaft ist daher nur das Siegel darauf, daß hier zwei Partner aufeinander angewiesen waren, nachdem das katholische Kaiserhaus für ein vergleichbares Bündnis aus vielerlei Gründen nicht in Frage kam. Die Vorrede kreist um ein einziges Thema, wie es sich aus dem Vorhaben Opitzens zwingend ergibt, nämlich um die Rolle, die Dichter und Dichtung am ––––––––– 30
Das Gewicht dieser Vorrede ist bislang, so weit zu sehen, nicht angemessen gewürdigt worden. Es gibt zu denken, daß weder eine Edition der ersten von Opitz veranstalteten Ausgabe seiner Gedichte noch auch nur ein Reprint erfolgte. Der Titel: Martini Opitii Acht Bücher, Deutscher Poematum durch Jhn selber herausgegeben/ auch also vermehret vnnd vbersehen/ das die vorigen darmitte nicht zu uergleichen sindt. Jnn Verlegung Dauid Müllers Buchhandlers Jnn Breßlaw. 1625. Wir zitieren im folgenden nach dem Exemplar der Sammlung Faber du Faur. Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale University Library.- New Haven: Yale University Press 1958. Hier – mit Kommentar – Nr. 204, S. 61. Zum Kontext der Herausgeber der kritischen und chronologisch angelegten Opitz-Ausgabe, von der im Jahre 1972 bislang nur der erste, bis zum Jahr 1621 sich erstreckende Band vorliegt, George Schulz-Behrend: On Editing Opitz.- In: Modern Language Notes 77/4 (1962), S. 435–438; ders.: Die Opitz-Ausgabe.In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 4/2 (1972), S. 74–75. [Inzwischen liegt ein Edition der Gedichtausgabe vor in Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Band II: Die Werke von 1621 bis 1626. 2. Teil [1625– 1626].- Stuttgart: Hiersemann 1979 (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart; 301), S. 524–748.]
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Hofe seit der römischen Kaiserherrschaft gespielt haben. Die zahllosen Beispiele, die Opitz dafür beibringt, entspringen nicht dem Interesse am historischen Detail selbst. Sie sind Exempel, die für Fürstentum und Adel der Gegenwart eine Aufforderung zur Nachahmung enthalten. Dieser adhortative Charakter hält die zahllosen anekdotischen Details zusammen. Geschichte organisiert sich zum dauernden Ärgernis für den auf Werturteilsfreiheit bedachten ›Historisten‹ nach Maßgabe gegenwärtiger Interessen. Dem Verzicht auf das individuelle historische Kolorit korrespondiert der Gewinn an aktueller Verwertbarkeit der Elemente der Überlieferung. Wiederholt wird die schon im Aristarchus vorgetragene These, daß die Entfaltung von Herrschaftsgewalt nach innen und außen Hand in Hand geht mit der Ausbreitung und Pflege der freien Wissenschaften und Künste. Ein Blick auf die Geschichte lehrt, »daß wie Regimentern vnd Policeyen/ also auch mit jhnen der Geschickligkeit vnnd freyen Künsten jhr gewisses Ziel vnd Maß gestecket sey/ vnnd sie auff ein mal mit einander entweder steigen oder zu Grunde gehen.« Als Ursache dafür konstatiert Opitz – außer dem unerforschlichen Willen Gottes – an dieser Stelle, »daß gelehrter Leute Zu= vnd Abnehmen auff hoher Häupter vnd Potentaten Gnade/ Mildigkeit vnnd Willen sonderlich beruhet.«31 Diese Behauptung räumt der Poesie weniger Einfluß auf die Geschicke des Staatswesens ein als nach obigem Zitat zu erwarten wäre; sie wird ausschließlich in Funktion zur Gönnerschaft des Mäzens gesehen. Die Erklärung ist darin zu suchen, daß Opitz auf diese Weise den Rahmen zur Deutung der folgenden Beispiele absteckt, in denen es eben um die Mäzenatenrolle der Regenten geht. In den vom Geiste der rhetorischen Disputationskunst geprägten theoretischen Verlautbarungen des 17. Jahrhunderts kann der intendierte Sinn stets nur aus der Konstellation bedeutsamer – d.h. geschichtlich verifizierbarer – Passagen erschlossen, nicht jedoch den einzelnen Äußerungen mit bestimmten Konnotationen direkt entnommen werden. Dieser Sachverhalt nötigt zum umständlichen, stets neu zu vollziehenden Rückgang zu den Texten selbst, deren Gehalt nur sukzessive entfaltet zu werden vermag. Von den Römern/ vnnd zwar jhrer Poeterey alleine/ zu sagen/ so haben jhre Keyser diese Wissenschafft so lange in jhren Schutz vnd Förderung genommen/ so lange jhr Reich vor Einfall barbarischer Völcker vnnd eigener Nachlessigkeit bey seinen Würden verblieben ist.32
Die Vernachlässigung der Aufgabe, die Poesie zu fördern, ist ein Indiz dafür, daß sich ein Gemeinwesen im Stadium des inneren und äußeren Verfalls befindet. Es bedarf geringer Phantasie, um den Regenten der Gegenwart die entsprechenden Schlußfolgerungen aus diesem Argument nahezulegen. Im Aristarchus hatte Opitz die Blütezeit der lateinischen Sprache ins Augusteische Zeitalter gelegt und gleich mit den Nachfolgern Octavians den Verfall einsetzen lassen. Es ging ihm um den Kontrast zu den stabilen Verhältnissen bei den Germanen. –––––––––
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Die Zitate nach Opitz: Acht Bücher, Deutscher Poematum (Anm. 30), Bl. a2r. Ebd.
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Jetzt benötigt er Beispiele für die Wertschätzung, die die römischen Kaiser insgesamt den Poeten gezollt haben. Nun darf der geschichtliche Zeitraum erweitert werden. Von Cajus Julius Caesar bis Kaiser Julian reicht die Reihe der Liebhaber und Mäzene der Dichtung. Daß es mit den persönlichen Qualitäten ebenso wie mit der Herrschaft der nachaugusteischen Kaiser häufig nicht gut bestellt war, deutet Opitz wiederholt an. Die These von der Symbiose beider Bereiche kann dispensiert werden, solange wie ein anderes Argument verfolgt wird. Sie wird damit nicht falsch, sondern bleibt nur abgeblendet und kann an anderer Stelle schlagartig ihre aktuelle Bedeutung zurückgewinnen. Cajus Julius, der ›Vater‹ des Augustus, »hat das Keyserthumb vnd die Poeterey (gleichsam als sie beysammen seyn müsten) zu einer Zeit auffgerichtet vnd erhöhet.«33 Eben diesen Zusammenschluß, wie er in der heidnischen römischen Antike präfiguriert ist, sucht Opitz zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter den Bedingungen des protestantischen Territorialfürstentums zu wiederholen. Die in die vorangegangene reichsstädtische kulturelle Tradition zurückreichenden Linien werden ignoriert; entsprechende historische Legitimationsmodelle fehlen folglich. Nicht wieder erreichtes Vorbild für die Symbiose von Macht und Kultur ist der Augusteische Hof, er ist »auch ein Auffenthalt vnd Zuflucht gewesen aller Poeten.« Augustus sei selbst produktiv gewesen, doch habe uns »die Vnbilligkeit der zeit« seine Werke vorenthalten. Maecenas erhebt er zu seinem Vertrauten, Gallus macht er – »vngeachtet seiner geringen Ankunfft« – zum Verwalter Ägyptens, Horaz zu seinem Sekretär.34 Und bei ihm beschwert sich der mächtige Herrscher auch, daß er in seinen Schriften so selten erwähnt wird. »Fürchtest du« – so fragt Augustus – »es werde dir bey den Nachkommenen eine Schande seyn/ daß du dich so gemeine mit vns gemacht habest?«35 Ovid steht eine Zeitlang in Gnaden am Hof. Vor allem aber nimmt Vergil eine überragende Rolle am Hofe des Augustus ein. Er kann es sich leisten, sich dem Wunsch des Kaisers auf Übersendung von Teilen der Aeneis zu widersetzen. Als es dann zur Lesung kommt, bricht das Kaiserpaar in Tränen aus und muß den Poeten um Unterbrechung bitten. Augustus versäumt auch die Pflege des Nachwuchses nicht. Er läßt einen Musentempel errichten, daß die Poeten vnnd Redner darinnen sich vben/ vnnd jhre Sachen ablesen köndten. Sind derowegen vber die obgenandten/ Propertius/ Bassus/ Tibullus/ vnd andere schöne Gemüter hauffenweise herfür gebrochen/ vnd haben die Poeterey so hoch getrieben/ daß sie nachmals entweder also verblieben/ oder nothwendig geringer werden müssen.
Selbst Tiberius, der an sich mit Stillschweigen übergangen werden sollte, habe sich doch in der griechischen und der lateinischen Sprache versucht und sich vor allem für die Reinhaltung der lateinischen Sprache verwendet: »An welcher Tugend Ewre Fürstl. Gnade jhme so ähnlich ist/ als sie jhm vnähnlich ist an dem ––––––––– 33 34 35
Ebd. Ebd., Bl. a2v. Ebd., Bl. a2v f.
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jenigen/ was von Regenten fürnemlich erfordert wird.« Diese hier ausdrücklich gezogene Parallele muß man in allen Beispielen mit im Blick haben. Noch der schwachsinnige Claudius hält doch »die Poeten so werth«, daß er sich mit Interesse die Verse des Nonnius anhört und sich in seinem Homer gut auskennt.36 Selbst Nero, von dem man sonst nur Schlechtes zu sagen weiß, »war von Art zur Poeterey geneiget«.37 Seneca wirkt unter ihm, Lucanus widmet ihm einige seiner Schriften. Und so geht die Reihe fort, bis auff ein mal die Gewalt vnd Wissenschafft der ewigen Stadt gemach vnd gemach verdorret [ist]/ vnd [...] aus Römischen Keysern Göttische Tyrannen/ aus Lateinischen Poeten aber barbarische Reimenmacher vnd Bettler worden [sind]. Daß man also beydes fast nichts löbliches gethan/ vnnd wenig artliches geschrieben hat.38
Das Ende in der illustren Galerie bildet Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen. Mit ihm tritt Deutschland als letztes Land in den Kreis der europäischen Nationalstaaten ein, die sich nach dem Verfall des universalen mittelalterlichen Imperiums, wie es Karl der Große begründet hatte, eine eigene volkssprachige Nationalkultur geschaffen haben. Den historischen Fluchtpunkt bilden nun nicht mehr die Germanen, sondern Karl der Große, der »nebenst der Deutschen Regierung auch die Deutsche Poeterey herfür gesucht« hat und am Anfang der vielen fürstlichen und adeligen Dichter steht, die das Mittelalter hervorgebracht hatte.39 Diese historische Reminiszenz kann jedoch im Zeitalter der Bürger- und Religionskriege nicht ausgebaut werden. Die Linien in die Gegenwart auszuziehen, hieße notwendig, den katholischen Kaiser als legitimen Wahrer der von Karl begründeten Tradition zu akzeptieren. Statt dessen setzt ein protestantisch-calvinistischer Territorialherr diese fort, weil nur hier ein Interesse am Aufbau einer deutschsprachig-höfischen Kultur vorhanden war, während das Kaiserhaus weiterhin in universal-hegemonialen Vorstellungen dachte, deren Basis durch Katholizität und Latinität gebildet wird. Die Gunst, die Ludwig »vnserer alten/ reinen vnnd ansehnlichen Sprache beygethan« hat, ist der Anlaß der Widmung. Sie verbindet sich mit der Hoffnung, daß die Förderung der deutschen Sprache und Poesie, wie sie Ludwig in Nachahmung großer Vorbilder praktiziert, nicht ohne Wirkung auf andere Fürstenhäuser bleiben möge: Daß nun Ewre Fürstliche Gnade auch der Poesie die hohe Gnade vnd Ehre anthut/ folget sie dem rühmlichen Exempel oben erzehlter Potentaten so verstorben sind/ vnnd giebet selber ein gut Exempel denen die noch leben.40
An dieser Stelle gibt Opitz für einen Moment den Sinn seines Ausflugs in die Historie kund. Der Anspruch, dem sich Ludwig und seine Nachfolger retrospektiv ausgesetzt sehen, ist ein umfassender. Die mäzenatische Aufgabe beschränkt ––––––––– 36 37 38 39 40
Ebd., Bl. a3r. Ebd., Bl. a3v. Ebd., Bl. a4v. Ebd. Ebd., Bl. b2r.
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sich nicht auf das Interesse an Dichter und Dichtung. Sie schließt die vielfältige Verwendung des Dichters im Dienste des Staates ein. Die Poesie ist in Opitz’ Konzeption nur eines der Medien, in denen sich der Gelehrte dem absolutistischen Staat zur Verwendung anbietet, so wie er selbst in erster Linie als Diplomat in den verschiedensten Missionen tätig war. Wie das Verhältnis des Dichters zum Fürsten näher gedacht ist, werden die gleich zu behandelnden Dichtungen zeigen. Wichtig ist – Barner weist bereits kurz darauf hin –, daß der Nimbus der Poesie ungemein dadurch gefördert wird, daß sich zahllose der von Opitz namhaft gemachten Regenten selbst der Poesie produktiv gewidmet haben.41 Opitz kann dafür aus dem deutschen Sprachbereich nur Beispiele aus der altdeutschen Vergangenheit bringen. Ein Mann wie Herzog Julius von Braunschweig dürfte deshalb fehlen, weil er das Arrangement der Premiere mit Opitz stören würde. Nachdem Ludwig und später dann vor allem Anton Ulrich aus dem hohen Adel dichtend hervorgetreten waren, konnten Theoretiker wie Birken dieses Ereignis gebührend feiern und für das soziale Prestige der neuen deutschen Kunstdichtung reklamieren. Die Voraussetzung dafür schuf Opitz einerseits durch seine theoretische kulturpolitische Arbeit, andererseits durch die formale Disziplinierung der Poesie, die fortan den gehobenen höfischen Ansprüchen genügte und den Vergleich mit dem Ausland nicht mehr zu scheuen brauchte.
Das poetische Gegenstück: Opitzens Landlebengedichte und die ›Nimfe Hercinie‹ Die an den drei zentralen theoretisch-programmatischen Verlautbarungen Opitzens aufgewiesene kulturpolitische Thematik bestimmt nun auch sein dichterisches Œuvre durchgehend. Die neuere Barockforschung seit den zwanziger Jahren, Paradestück methodischer und sachlicher Progression auf dem Felde der Germanistik, hat in berechtigter Negation der ausdrucksästhetischen Normen der Barockforschung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihrerseits den handwerklich-fiktiven, weder biographisch noch zeitgeschichtlich dingfest zu machenden Charakter der Barockdichtung überbetont. Auf die Überwindung jener beiden auf ihre Weise jeweils gleich inadäquaten Ansätze hinzuwirken, bildet eine der Aufgaben dieser Untersuchung. Die Einsichten der neueren Forschung weiterzuführen, ohne in die gänzlich unangemessenen Positionen einer trivialisierten Erlebnisästhetik zurückzufallen, kann nur bedeuten, die Dichtung in den gesamthistorischen Prozeß einzubetten und aus diesem heraus ihre zentralen Motive zu deuten. Das soll im folgenden für einige Werke vorbereitet werden. Voll erschließen wird sich deren Sinn erst, nachdem die Grundkräfte jenes Prozesses selbst namhaft gemacht und mit den ästhetischen Motiven vermittelt sind. Diese Untersuchung basiert in ihren werkinterpretativen Partien auf der Bukolik und Georgik ––––––––– 41
Vgl. Barner: Barockrhetorik (Anm. 18), S. 228 f.
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des 17. Jahrhunderts. Eine derartige Beschränkung auf bestimmte Gattungen ist gerade für eine historisch-dialektische Untersuchung eine Voraussetzung zur Gewinnung gesicherter Ergebnisse, weil nur aus der Konfrontation gattungs- und zeitgeschichtlicher Befunde eine historische Erkenntnis vorsentimentaler Literatur möglich ist. Das schließt den Übergriff auf andere Werke keinesfalls aus. Gewiß ist es jedoch erlaubt zu sagen, daß mit der Analyse der Opitzschen Bukolika und Georgika ein besonders gewichtiger Aspekt seines poetischen Werkes ins Blickfeld rückt, an denen sich alle Momente der zur Verhandlung anstehenden Probleme entnehmen lassen.
›Lob deß Feldtlebens‹: Fischart und Opitz als eigenständige Schüler des Horaz Opitzens erster Versuch in der Gattung der laus ruris, sein Lob deß Feldtlebens, stammt aus einer Zeit, »als ich mich noch auff hohen Schulen befunden«, und wird kurz nach Erscheinen des zweiten Gattungsmusters – des Landgedichts Zlatna von 1623 – gedruckt.42 Maßgeblich für die Verarbeitung des Stoffes ist einerseits der Wunsch, durch Import dieses beliebten Themas der europäischen Tradition »meine Deutsche Poesie/ in dem ich ein ding auff vielerley art zu geben mich befleisse/ reicher zu machen«; andererseits die den Gattungsregularien zugehörige und biographisch gewendete Motivation, den vielfachen Beanspruchungen im Dienste des Hofes ein Bild geruhsamer kontemplativer Existenz entgegenzuhalten.43 Hof und ›Feld‹ werden in antithetischer Relation exponiert; letzteres ist in Anknüpfung an entsprechende antike und moderne Vorbilder utopischer Ort ungestörter gelehrter Existenz. Doch erst Zlatna wird diese Antithese voll entfalten. Für seinen kleinen Versuch erwähnt Opitz als Anregungen das vierte Buch aus den Georgica Vergils und dessen ›Culex‹ sowie Horazens Satiren und insbesondere dessen »schöne[s] Liede: Beatus ille qui procul negotiis, &c. welches ich hier mehrentheils außgedruckt/ mit lebendigen Farben heraus gestrichen« habe.44 Ungenannt bleibt bezeichnenderweise eine Paraphrase des gleichen Themas durch seinen Vorgänger Johann Fischart im Vorspann zur Übersetzung von Charles Estiennes L’Agriculture Et Maison Rustique durch Melchior Sebisch aus dem Jahr 1579 bzw. in der erweiterten Fassung aus dem Jahr 1587, der –––––––––
42
43 44
Wir zitieren im folgenden nach dem Erstdruck aus der Rhedigerschen Bibliothek zu Breslau (4 E 515.12), der eingegangen ist in die Bestände der Biblioteka Uniwersytecka (BU) Wrocáaw (355074): Martini Opitii Lob deß Feldtlebens.- [s.l. s.a]. Kollation: A4–B4. Ein weiteres Exemplar aus der Bernhardiner-Bibliothek zu Breslau (4 V 283) wird gleichfalls in der BU Wrocáaw bewahrt (535425), ist jedoch unvollständig; es fehlen die Blätter B2 und B3. Ein drittes Exemplar entstammt der Reimannschen Bibliothek zu Liegnitz (R 259) und wird heute in der BU Wrocáaw unter der Signatur 427030 geführt. Das vorgelegte Zitat findet sich auf Bl. A2r. Ebd., Bl. A3r. Ebd., Bl. A2v.
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Opitz vielfach folgt.45 Ein Vergleich beider Bearbeitungen der Horazischen Vorlage vermittelt eine Reihe wichtiger Aufschlüsse.46 Das Lob des Landlebens wird gemäß den antiken Mustern stets in Antithese zu anderen Lebensformen entwickelt. In diesen antithetischen Partien kristallisiert sich am ehesten das jeweils aktuelle Interesse an der Gattung heraus. Nur ––––––––– 45
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Der Titel des Erstdrucks von 1579: Siben Bücher Von dem Feldbau/ vnd vollkommener bestellung eynes ordenlichen Mayerhofs oder Landguts. Etwan von Carolo Stephano vnd Johanne Liebhalto/ der Artzenei Doctorn/ Frantzösisch beschrieben. Nun aber seines hohen nutzes halben/ gemeynem Vatterland zu lieb/ von dem Hochgelehrten Herren Melchiore Sebizio Silesio, der Artzenei Doctore, inn Teutsch gebracht. Ferrnern Jnhalt/ was für sonderliche sachen vnd frembde Materien/ durch das gantze Buch tractiert werden/ wird der gönstige Leser hiernach gleich auff der anderen seit dises platts summarisch zu vernemmen haben. Getruckt zu Straßburg bei B. Jobin 1579. Exemplar der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen: 4 OEC I, 190. Dem Werk steht ein ›Summarischer Jnnhallt der fürnemsten sachen vnd Materien/ so inn disen Feldbaubüchern begriffen/ vnd inn den Titul nicht alle haben mögen eingebracht werden‹, voran (Bl. ʌ1v). Es folgt die Widmung an Ludwig von der Pfalz (Bl. ʌ2r–ʌ4v). Daran schließt sich der Beitrag Fischarts an: ›Fürtreffliches artliches Lob/ deß Landlustes/ Mayersmut vnd lustigen Feldbaumans leben/ auß deß Horatij Epodo/ Beatus ille, &c. gezogen vnd verteutschet. D. J.F. G.M.‹ (Bl. ʌ5r–ʌ6r). Auf Bl. ʌ6v befindet sich ein Stich mit dem eindrucksvollen Porträt von Sebisch. Seit dem Jahr 1587 schwoll die Übersetzung auf 15 Bücher an. Seither steht den Ausgaben der Übersetzung von Sebisch auch eine erweiterte der Version des Eingangsgedichts von Fischart voran. Der Titel in der Auflage von 1598, die im folgenden mit der von 1579 verglichen wird: XV. Bücher Von dem Feldbaw vnd recht volkommener Wolbestellung eines bekömmlichen Landsitzes/ vnnd geschicklich angeordneten Meyerhofs oder Landguts/ Sampt allem/ was demselben Nutzes vnd Lusts halben anhängig. Deren etliche vorlängst von Carolo Stephano/ vnd Joh. Libalto/ Frantzösisch vorkommen. Welche nachgehends jhres fürtrefflichen Nutzes halben/ gemeinem Vatterland zu frommen/ theyls vom Hochgelehrten Herrn Melchiore Sebizio/ der Artzney Doctore/ theyls auß letsten Libaltischen zusetzen durch nachgemelten inn Teutsch gebracht seind. Etliche aber an jetzo auffs New/ erstlich auß dem Frantzösischen letstmahls ernewertem vnd gemehrtem Exemplar/ So dann/ auß deß Herrn Doctoris Georgij Marij Publicierter Gartenkunst/ vnd forter/ deß Herrn Joh. Fischarti I.V.D. Colligirten Feldbawrechten vnd Landsitzgerechtigkeiten/ etc. zu lust vnd lieb dem Teutschen Landmann hinzu gethan worden. Gedruckt zu Straßburg/ bey Bernhart Jobins (seligen) Erben/ Jm Jar 1598. Exemplar in der SUB Göttingen: 4 OEC I, 193. Das Werk bleibt Ludwig von der Pfalz gewidmet. In dem Titel des Beitrags von Fischart hat es eine interessante Veränderung gegeben. Statt ›gezogen vnd verteutschet‹ heißt es nun: ›gezogen/ vnnd nach der meynung Teutsch gegeben‹. Der freie Charakter der Übertragung wird also hervorgehoben. Außerdem ist nun eine ›Antwort auff die Reimen vom Lob des Landlusts. D.G. Marij M.D. warnung‹ beigegeben. Die zweite Version der Fischartschen Übertragung wurde wieder abgedruckt in: Johann Fischart's sämmtliche Dichtungen. Hrsg. von Heinrich Kurz. Band I–III.- Leipzig: Weber 1866–1867 (= Deutsche Bibliothek. Sammlung seltener Schriften der älteren deutschen National-Literatur; 8–10), Band III, Nr. XXV: Aus ›XV Bücher vom Feldbaw‹, S. 308–318. Hier S. XLI–XLIII auch eine Auflistung der Kurz bekannten Ausgaben der Übersetzung von Sebisch mit dem Beitrag Fischarts. Der quellenkritische Nachweis wurde zuerst geführt von einem Namensvetter von Martin Opitz, der seinen Vornamen verschweigt. Vgl. Opitz: Opitz als Benutzer Fischarts.- In: Zeitschrift für deutsche Philologie 8 (1877), S. 477–482. Eingehende Behandlung bei Gertraud Wüstling: Fischart und Opitz. Ein Vergleich ihrer Bearbeitungen der 2. Epode des Horaz.- Diss. phil. Halle/Saale 1950 (masch.). Hier S. 45 f. der Nachweis, daß Opitz die erweiterte Version Fischarts benutzte.
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acht Zeilen verwendet Horaz in seinem Prooemium auf die Absetzung ländlichen Lebens von anderen Berufen. Der Landmann ist glücklich, weil er nicht von Wuchergeschäften weiß, den Unbequemlichkeiten und Gefahren der Soldaten und des Seemanns nicht ausgesetzt ist und den Markt sowie die prächtigen Türschwellen der Mächtigen meiden kann.47 Fischart wie auch Opitz bauen dieses Prooemium beträchtlich aus und stellen ihm ein entsprechendes abschließendes Stück zur Seite. Beide tilgen gleichzeitig die Einführung des Sprechers des Gedichts, der sich bei Horaz zum Schluß als Wucherer entpuppt, welcher für einen Moment die Freuden des Landlebens im Gegensatz zu seiner der Spekulation gewidmeten Existenz imaginiert, ohne daraus allerdings Konsequenzen zu ziehen. Diese ironische Pointe des Gedichts durch den antiken Dichter übernehmen die beiden deutschen Dichter nicht. Die Gestalt des Landmanns ist eine vorbildliche, und nur andere Stände werden satirisch gegeißelt ... Fischart verlegt den Schwerpunkt seiner Argumentation in den stadtbürgerlichen Bereich. Das eine Stichwort Horazens vom Wucher erweitert er zu einer vehementen Kritik am frühbürgerlichen Handels- und Finanzkapitalismus. Der Landmann Sitzet nicht inn dem Wechsselgaden/ Jst mit dem Wucher nicht beladen/ Darff andern nicht sein Schweyß verzinsen/ Noch steygerung treiben mit den Müntzen: Darff nicht halten ferr Factoreien Vnd der Venediger Auffschlag scheuen/ Noch wissen was inn Jndien steck Vnd all jr Specerei geschleck/ Was Zucker sei von Candia Vnd Zucker von Canaria/ Noch auß Portugal der Schiff warten/ Sonder gnügt sich an seim Krautgarten. Wol dem/ der jm solch Nahrung schaffet/ Dem wächßt sein gwinn/ wann er schon schlafet.48
Einer ähnlichen Amplifikation unterliegen auch die weiteren bei Horaz angeschlagenen Motive, ohne daß Fischart ein gleiches Interesse an ihrer satirischen Auswertung verriete. Erst mit der bei Horaz angelegten Rückkehr zu dem städtischen Leben verdichtet sich die Kritik erneut. Dem Landmann bleibt es erspart, über andere zu Gericht sitzen zu müssen wie die Juristen; er lebt nicht auf ––––––––– 47
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Der Text leicht greifbar in: Q. Horati Flacci Opera. Rec. Eduardus C. Wickham. Editio altera curante H.W. Garrod.- Oxford: Clarendon Press 1957 (= Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Vgl. auch den Abdruck des Gedichts nebst Kommentar in: Q. Horatius Flaccus: Erklärt von Adolf Kiessling. Teil I: Oden und Epoden. 13. Auflage. Besorgt von Richard Heinze. Mit einem Nachwort und bibliographischen Nachträgen von Erich Burck. Unveränderter Nachdruck der 7. Auflage, Berlin 1930.- Berlin: Weidmann 1968, S. 490–498. Die einschlägige Horaz-Literatur selbst ist hier nicht aufzuführen. Die Verse 11–24 aus den Siben Bücher Von dem Feldbau in der Ausgabe von 1579 (Anm. 45), Bl. ʌ5r; in der Ausgabe von 1598 (Anm. 45) handelt es sich entsprechend um die Verse 13–26 (Bl. ʌ5r).
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engem Raum innerhalb der Stadtmauern und feindet sich daher mit seinem Nachbarn nicht so schnell an; er braucht sich in die Machtkämpfe, wie sie in der Stadt toben, nicht einzuschalten und sich vor den Reichen und Mächtigen der Stadt nicht zu demütigen. Zum Schluß berührt Fischart vergleichsweise knapp den höfischen Bereich. Äußere Pracht, Karrierestreben und Heuchelei, wie sie am Hofe herrschen und sich mit Frömmigkeit nicht vertragen, spielen in seinem Leben keine Rolle. Opitz verfährt anders. Die aus der Anschauung des Stadtbürgers erwachsene und zitierte Beschreibung Fischarts ersetzt er durch zwei Zeilen: [...] darff seinen sin nit krencken/ Mit armer schweiß vnd blut/ weiß nichts von wechselbencken/ Von Wucher vnd Finantz/ [...].49
Sein Interesse gilt dem Hof. Er übernimmt das Karriere-Motiv von Fischart, deutet es jedoch selbständig: Er denckt nit wie er komm’ hoch an das Bret für allen/ Vnd könne Königen vnd Herren wolgefallen. Trit nit auf schlipfferig eiß/ gibt seine Freyheit nicht Vmb eine Hand voll gunst/ die eh als glaß zerbricht.50
Die Schlußpartie greift die Begriffe des Scheins und des Glücks wieder auf, die im 17. Jahrhundert stets mit der Sphäre des Hofs assoziiert sind: Es stehe wer da wil hoch an deß Glückes spitzen/ Jch schätze den für hoch der kan hierunten sitzen/ Da keine Hoffart ist/ kein eusserlicher schein So nur die Augen füllt/ kan seine selber sein. [...] Vertrawet Gott allein sein wesen vnd vermögen/ Siht alles vnter sich/ laufft seinem Tod’ entgegen/ Vnd schewt sein stündlein nicht. Der hat ein schweres endt/ Der allen ist bekandt/ vnd sich nicht selber kennt.51
Fischart hingegen gestaltet am Schluß eine ergreifende Bitte an Gott, den Bauern vor seinem furchtbarsten Feind, dem Krieg, zu bewahren. Denn von seinem Schicksal hängen das Wohlergehen und die innere Sicherheit des ganzen Landes ab: O GOTT deß Fridens/ du verschaffe Das es betrüb keyn Krieges strafe/ Wöllest das Land von Krieg erretten/ Das man es gnieß auch inn den Stätten: Dann on das fridlich Landgebäu Besteht nicht lang eyn Policei.
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Opitz: Lob deß Feldtlebens (Anm. 42), Bl. B1r. Ebd., Bl. B1r f. In der Zincgrefschen Edition der Gedichte von Opitz, in der eine frühe handschriftliche Version zum Druck kommt, steht statt »Königen vnd Herrn« noch »Königen vnd Fürsten«. Die Opitz-Ausgaben seit 1625 folgen dem Erstdruck. Opitz: Lob deß Feldtlebens (Anm. 42), Bl. B4r.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Verhüt das nicht der gbaute Boden Eyn wüste Walstatt werd der toden/ Vnd werd für Himmelstau begossen Mit plut von Menschen hergeflossen/ Welchs die Frücht möcht abscheulich machen Weil auch die Erd scheut ab den sachen. Bhüt vns vor frembder Völcker rauben Das sie nicht gniessen vnserer Trauben: Segne den schönen Feldbaustand Welcher wird der vnschuldigst gnannt: Das sie jn nicht mit Schinden schänden/ Vnd dein Segen durch Geitz abwenden. Wol jnen/ wann sie dem nach kommen Dan solch Feldlust gonnt GOTT den frommen.52
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Die Verse 275–294 aus den Siben Bücher Von dem Feldbau von 1579 (Anm. 45), Bl. ʌ6r; in der erweiterten Version von 1598 (Anm. 45) die Verse 343–390 (Bl. ʌ6v). Hier lautet der entsprechende, u.a. mit Versen aus der ersten Ekloge Vergils angereicherte Passus: O Gott des Fridens/ du verschaffe/ Daß es betrüb kein Krieges straffe/ Wöllest das Land von Krieg erretten/ Daß man deß gnieß auch in den Stätten. Denn ohn das fridlich Landgebäw Besteht nicht lang ein Policey. Denn wie ohn Milch kein Kind auffkompt/ Also kein Statt ohn Feldbaw frombt: Wo nicht die Feldfrucht thut das best/ Sterben die Vögel in dem Nest/ Wo nit ein Land erbawet ist/ Ziecht man darauß vnd leßt es wüst. Drumb hüt daß nicht der gbawte Boden Ein wüste Walstatt werd der Todten/ Vnd werd für Himmelstaw begossen Mit Blut von Menschen her geflossen/ Welchs die Frucht möcht abschewlich machen/ Weil auch die Erd schewt ab den sachen. Bhüt vns vor frembder Völcker rauben/ Daß sie nicht klauben vnser Trauben/ Vnd sprechen zu vns dann zum bossen: Ziecht ab/ jhr Alte Landgenossen. Ziecht ab jhr habt vns vorgebawt: Ach wer hett alsdann diß getrawt. Daß der Arm Landmann muß da fliehen Vnd mit eim Geyßlein kaum abziehen. O liebs trawt Land/ trag du zu schand Vnkraut dem Feind/ der dich nie wand. Der doch zur letz nur auff dein Schewr Ein Roten Hanen steckt von Fewr. Bewar vns vor den Wuchern auch/ Vor der Stulräuber argem brauch. Die durch vntraw/ Mehrschatz/ Fürkauff/ Ziehen des Landmans güter auff. Vnd werden Wibeln vnd Kornkäfer/
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An Opitzens Lehrgedicht läßt sich der Prozeß schöpferischer imitatio, der allein zu der hier angestrebten historisch-soziologischen Analyse gattungsgebundener Literatur berechtigt, besonders gut verfolgen, weil ausnahmsweise den antiken und den neulateinischen und nationalsprachigen Mustern der europäischen Literatur zusätzlich eine deutschsprachige Version aus dem 16. Jahrhundert vorausgeht, die sich auf die gleiche antike Quelle bezieht. Das Einzelstück beweist, was für viele Werke der deutschen Barockliteratur in Anschlag zu bringen ist: sie sind mehr als bloße Fingerübungen gelehrter Übersetzer und mehr auch als Demonstrationsobjekte dafür, daß sich ein überkommenes Thema in der deutschen Sprache traktieren läßt, ohne daß dafür das jeweils singuläre dichterische Ingenium und dessen Erlebnisfähigkeit verantwortlich gemacht werden müßte. Vielmehr sedimentiert sich innerhalb der vorgeschriebenen Bahnen der Gattungstradition die historische Bewegung in einer jeweils besonderen Akzentuierung der an die Gattung gebundenen Stoffe und Motive und wird darin am deutlichsten greifbar. Die Sonderung jener zahllosen schulmeisterlichen Machwerke des 17. Jahrhunderts, aus denen nichts anderes als die Kenntnis des Handwerks spricht, von jenen anderen, in denen eine historisch spezifische Adaption stattgefunden hat, bildet die Voraussetzung kritischer literarhistorischer Arbeit im 17. Jahrhundert. Auch in der Bukolik und Georgik steht das Belanglose neben dem historisch Signifikanten, dem hier allein das Interesse gilt. Fischart gestaltet die zweite Horazische Epode unter dem Eindruck jener ökonomischen und sozialen Tendenzen um, die ihm und seinen Zeitgenossen in den Handels- und Finanzmetropolen des Reiches deutlich genug vor Augen standen. Die Ausbildung des Wechsel- und Kreditwesens mit hohen Zinsen, die künstliche Manipulation des Geldwertes, die Anfänge der Mehrwertbildung auf der Grundlage von Lohnarbeit, die Errichtung weitverzweigter Handelsnetze und Faktoreien mit den entsprechenden Risiken, das Leben von den Zinsen eines angesammelten Kapitals – diese und andere dem Gedicht zu entnehmenden Entwicklungen sprengen den an das zünftige Handwerk und den Kleinhandel gebundenen Erfahrungskreis und den mit ihm verflochtenen Wertekanon. Fischart mobilisiert dieses alte stadtbürgerliche Ethos der Redlichkeit und Rechtschaffenheit gegen die zweifelhaften neueren Praktiken des mächtigen emporgekommenen Großbürgertums und verkörpern es im Landmann: ––––––––– Jn dem sie stellen sich Kornkäuffer. Segne den schönen Feldbawstand Welcher wird der vnschuldigst gnandt: Daß sie jhn nicht mit Schinden schenden/ Vnd dein Segen durch Geitz abwenden. Verhüt das nit der Meyerslust Werd leider zu eim Meyerswust. Ja geb/ daß die so das Feld bawen/ Sich deiner Güt allein vertrawen. Vnd erkennen des standes gnad Darein sie dein Güt rüfft vnd lad. Wol jhnen wenn sie dem nachkommen: Denn solch Feldlust gont Gott den frommen.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Sonder er gnüget sich an kleynem/ Vnd mehrt dasselb/ vnd schad doch keynem/ Jst schlecht/ gerecht/ auffrecht/ eynfaltig/ Was er verheyßt/ das leyst er gwaltig/ Haßt all Spitzfündigkeyt vnd list/ Die nur zum zanck eyn vrsach ist/ Vnd da mancher groß sorg jm macht Wie stattlich er außführ sein pracht/ Vnd seine Geltzinß verzehr järlich/ Vnd inn der frembde vmmreyß gfärlich/ [...].53
Die Maximen, mit denen im Handels- und Finanzbürgertum operiert wird, stellen einen Affront der auf christlichen Vorstellungen basierenden Mentalität des städtischen kleineren Bürgertums dar, mit der sie unvereinbar sind. Dieser Gegensatz prägt sich in der Fischartschen Bearbeitung sehr prägnant aus. Zugleich leiht der Dichter seine Stimme dem geschundenen Bauerntum. Sein Werk ist getragen von tiefer Sympathie für »den schönen Feldbaustand«, den »mit Schinden [zu] schänden«54 und in übermäßiger Armut zu halten, einen Frevel darstellt. Die wichtigste Ursache für dessen erbarmungswürdige Lage sieht Fischart jedoch in den Katastrophen des Krieges, die diesen Stand besonders hart treffen. Seine Fürsprache für das Bauerntum ist folglich eingebettet in die Sehnsucht nach Frieden, die er ohne Rückhalt in der antiken Vorlage an den Schluß seiner Dichtung stellt. Opitz übernimmt die sozialkritischen Partien Fischarts nur am Rande, sein Interesse gilt dem Hof. Während er sonst die ausführlicheren Beschreibungen stark beschneidet, ohne neue Gedanken einzuführen, beschreitet er in der Hofpartie Wege, die durch Fischart nicht vorgezeichnet sind. Es ist dabei von zweitrangiger Bedeutung, ob er hier womöglich anderen Quellen folgt. Ob eigene Schöpfung oder Übernahme bereits geprägter Wendungen – in jedem Fall wird an dieser Stelle der Wunsch nach einer gehaltlichen Erweiterung sichtbar. Höfisches Dasein steht unter dem Gesetz Fortunas. Die Gunst, die dem Emporkömmling einen Moment lang gewährt werden mag, kann bereits im nächsten Moment wieder entzogen sein. Freiheit figuriert als Kontrastbegriff zur Welt Fortunas. Die spezifischen, dem 17. Jahrhundert zugehörigen Momente von Freiheit treten am Schluß des Gedichts zusammen. Freiheit ist geknüpft an die Erkenntnis des Wesens der Welt und des eigenen Selbst. In der Perspektive des Todes enthüllen sich gerade »deß Glückes spitzen«55 als Schein. Die Überwindung der Todesangst ist gleichbedeutend mit der Realisierung dieser Erkenntnis, die jene –––––––––
53
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In den Siben Bücher Von dem Feldbau von 1579 (Anm. 45) die Verse 67–76 (Bl. ʌ5r); in der Ausgabe von 1598 (Anm. 45) die Verse 79–92 (Bl. ʌ5r), erweitert um die Zeilen: Er hält die Grechtigkeit wol wehrt/ Doch mit Rechfertigung vnbschwert/ Weil er weiß daß die Hadersucht/ Jst ein gifftige Natersucht. (V. 85–88) Ebd. in der Ausgabe von 1579 (Anm. 45), Verse 289 und 291 (Bl. ʌ6r), s. oben S. 168. Opitz: Lob deß Feldtlebens (Anm. 42), Bl. B4r; s. oben S. 167.
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Absage an die Welt in sich schließt, wie sie der literarische Landmann im 17. Jahrhundert praktiziert und um derentwillen er dem Barock als Ideal erschien. Im Vergleich zur Dichtung Fischarts ist der Gewinn an metaphysischer Substanz des Landlebenthemas erkauft um den Preis sozialkritischer Prägnanz. Dennoch wäre es verfehlt, der Einführung und Betonung höfischer Züge im Bild der laus ruris ausschließlich allegorische Intentionen zu unterstellen. Das lehrt die Analyse Zlatnas. ›Zlatna‹: Die gedächtnisstiftende Schrift in der Hand des gelehrten Dichters Zlatna ist ein »Flecken oder Städtlein in Siebenbürgen/ seines vornehmen Bergwercks halben sehr berühmet/ drey Meilen von Weissenburg gelegen.«56 Fürst Bethlen Gábor von Siebenbürgen hatte sich im Frühjahr 1622 an den Herzog Johann Christian von Brieg mit der Bitte gewandt, ihm für ein in Alba Julia (Weißenburg), seiner residenz, zu gründendes, allmählich in eine akademie zu erweiterndes ›gymnasium elegantioris literaturae‹ drei oder vier gelehrte und rechtschaffene männer orthodoxen, d.h. hier reformireten glaubens, zu dem sich ja die herzoglichen brüder auch bekannten, als lehrer [zu] gewinnen. Diese verbindung der beiden fürsten war eine folge der damaligen politischen verhältnisse. Beide waren seit 1619 mitglieder der großen gegen Ferdinand II. und zum schutze der evangelischen glaubensgenoßen geschloßenen conföderation gewesen, welcher im November des jahres 1620 die schlacht am weißen berge ein trauriges ende gemacht hatte. Bethlen Gabor stand während jener zeit mit Johann Christian, dem oberlandeshauptmann von Schlesien, vielfach in correspondenz.57
Opitz gehörte zu den vom Herzog Empfohlenen und ist vom späten Frühjahr 1622 bis zum Sommer 1623 als Lateinlehrer am Gymnasium in Weißenburg tätig gewesen. Diesem Aufenthalt entstammten der Plan zu einem großen histo––––––––– 56
57
Martini Opitii Zlatna, Oder von Rhue des Gemütes. [Kolophon:] Jn der Fürstlichen Liegnitschen Druckerey/ durch Sebastian Koch. Hier zitiert nach dem Exemplar der Rhedigerschen Bibliothek der Stadtbibliothek Breslau (4 E 515.11), eingegangen in die BU Wrocáaw (355042). Kollation: ʌ4, A4–C4. Das vorgelegte Zitat hier Bl. C2r. Hermann Palm: Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts.- Breslau: Morgenstern 1877, S. 166. Dort S. 165 ff. weitere biographische Informationen über Opitzens Aufenthalt in Siebenbürgen. Vgl. auch Johann Karl Schuller: Martin Opitz in Weissenburg.- In: Der Siebenbürger Bote. Hermannstadt 1863, Nr. 6. Beiblatt ›Transsilvania‹ N.F. 3 (1863), S. 161–174; Herrmann Antal: Opitz Márton Erdélyben. 1622–23 [Martin Opitz in Siebenbürgen. 1622–23].- Budapest: [s.p.] 1876; Robert Gragger: Martin Opitz und Siebenbürgen.- In: Ungarische Jahrbücher 6 (1926/27), S. 313–320; Karl Kurt Klein: Beziehungen Martin Opitzens zum Rumänentum.- In: Korrespondenzblatt des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde 50 (1927), S. 89–116. Separatdruck Hermannstadt: Krafft & Drotleff 1927; ders.: Germanissimi Germani.- In: Korrespondenzblatt des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde 50 (1927), S. 41–43; ders.: Zur Frage der ›Germanissimi Germani‹ des Dichters Martin Opitz.- In: Südostdeutsches Archiv 4 (1961), S. 19–29. Wieder abgedruckt in ders.: Saxonica Septemcastrensia. Forschungen, Reden und Aufsätze aus vier Jahrzehnten zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen.- Marburg: Elwert 1971, S. 290–301.
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risch-archäologisch-philologischen Werk über die Dacier, an dem er bis zu seinem Tode gearbeitet hat, sowie sein Landgedicht Zlatna.58 Das Goldbergwerk in der Nähe Weißenburgs mit seinem Verwalter Lisabon bildet ein gern aufgesuchtes Refugium während des von mancherlei Mißhelligkeiten begleiteten Aufenthalts in der Residenz Bethlen Gábors, die Opitz zur baldigen Rückkehr nach Schlesien veranlaßten. Die Erinnerung an glückliche Stunden mit dem Freund Lisabon liegt verklärend über dem Gedicht; persönliche Erfahrung und standesspezifisch-gelehrte Thematik gehen in dieser Dichtung eine im 17. Jahrhundert kaum jemals wieder erreichte Symbiose ein.59 Schon die Vorrede präludiert, was Gegenstand des Werkes selbst sein wird: das gegenwärtige Ansehen der Poesie und Gelehrsamkeit und das Verhältnis von Dichter und adeligem Mäzenaten- und Heldentum. Jch mache mir [...] keinen zweifel (wiewol diese grausame vnabläßliche Kriege auf einen allgemeinen vntergang vnd verwüstung der studien deuten) es werde doch noch die zeit kommen/ da es Gelehrten Leuten/ zu spott derselben die nichts können vnd alles verachten/ an billichem rhum vnd dancke nicht mangeln wird. Dann wir gleichwol sehen/ das auch bey wehrendem zweifelhafftigen zustande noch vornehme Leute sich finden lassen/ die sich deß studirens vnd derselben liebhabern trewlich annehmen.60
Die Voraussetzung für eine kontinuierliche Pflege der Dichtung ist, daß sich der Adel ihre Förderung zu seiner Aufgabe macht und das Desinteresse, dem die neue Kunstdichtung offensichtlich gerade in diesen Kreisen begegnete, ablegt. Wie zwei Jahre später in der Vorrede an den Begründer der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ verfolgt Opitz auch in der Adresse an Heinrich von Stange und Stonsdorf die Strategie, diesen Adligen nicht nur als Förderer der Gelehrten zu preisen, sondern ihn selbst als großen Gelehrten hinzustellen, so daß »die Hoheit vnd Ehren/ welche von Politischen Leuten für das meiste gehalten werden/ an E. Gestr. fast das geringste sein.«61 Er habe es als Kaiserlicher und FürstlichLiegnitzscher Rat verstanden, »bey Hofe solche grosse Liebe zu der Weißheit«, bei seinen »wichtigen geschäfften eines müßigen Menschen wissenschafft/ vnd bey solchen würden einer privatPerson Leutseligkeit [zu] behalten [...].«62 Äußerungen dieser Art dürfen nicht nur als individuelle Charakteristik gelesen werden. Sie müssen auch dort, wo ihre exemplarische Funktion nicht eigens betont wird, als Aufforderung an den Adel insgesamt aufgefaßt werden, einem ––––––––– 58
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Vgl. Walter Gose: Dacia Antiqua. Ein verschollenes Hauptwerk von Martin Opitz.- In: Südostdeutsches Archiv 2 (1959), S. 127–144. Dazu die Informationen in der oben Anm. 57 zitierten Literatur. Vgl. vor allem Gragger: Martin Opitz und Siebenbürgen (Anm 57), S. 315–319; Klein: Beziehungen Martin Opitzens zum Rumänentum (Anm. 57), S. 103– 113. Vgl. zu dem Gedicht Joachim G. Boeckh: Poemul ›Zlatna‹ de Martin Opitz.- In: Revista de Filologie Romanicӽ úi Germanicӽ 3 (1959), S. 39–56 (mit deutscher Zusammenfassung); Horst Nahler: Das Lehrgedicht bei Martin Opitz. Teil I–II.- Diss. phil. Jena 1961 (masch.), Teil I, S. 97; George Schulz-Behrend: Opitz’ ›Zlatna‹.- In: Modern Language Notes 77/4 (1962), S. 398–410. Opitz: Zlatna (Anm. 56), Bl. ʌ3r. Ebd. Ebd., Bl. ʌ3r f.
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auf die Wertvorstellungen des Gelehrtentums festgelegten Repräsentanten aus ihrem Kreis nachzueifern – nicht zuletzt, weil ihr Adelsstatus zunehmend an eben den Erwerb jener von den Gelehrten festgelegten Qualifikationen gebunden wird. Die Dichtung selbst entwickelt die Bindung des Gelehrten an Adel und Fürstentum als eine wechselseitige, die zu pflegen keineswegs allein im Interesse der Gelehrten liegt. Der Dichter hat sich das eine Jahr über rege der Sammlung der aus der Römerzeit stammenden Inschriften um Weißenburg gewidmet, die den Grundstock seines verschollenen Werkes ›Dacia antiqua‹ bilden sollten. In seinem Landgedicht kommt er auf das Verhältnis von res gestae und res scriptae zurück. In der Schrift überdauern die Taten der Mächtigen die Zeit: [...] Nun liegt jhr grossen helden/ Vnd laßt/ seid jhr gleich stumm/ die steine von euch melden. Aus ewern Gräbern wächst jetzt manche Blume für/ Wie jhr euch dann gewüntscht vnd steht in voller zier.63
In die Kette der antiken Überlieferung reiht sich der Dichter der Gegenwart mit seinem Werk ein, mit dem er selbst und die von ihm Gehuldigten vor dem Vergessen bewahrt werden: [...] Drumb seid jhr noch bekand/ Vnd werdet nicht vergehn. doch hab’ ich nur das Leben/ So bin auch Jch geneigt euch künfftig das zu geben Was Reichthumb nicht vermag. Die Namen so anjetzt Auff blossen Steinen stehn/ vnd sind fast abgenützt Durch Rost der stillen zeit/ die wil ich dahin schreiben/ Da sie kein Schnee/ kein Plitz/ kein Regen wird vertreiben[.]64
In Opitzens Zlatna setzt der Dichter die Schrift, die als gedruckte der Zeit am ehesten widersteht, als Zeichen seiner Freundschaft zu Lisabon ein, dem Juden aus den südlichen Niederlanden, den die Truppen Albas aus seiner Heimatstadt Antwerpen vertrieben haben und dem Opitz eine von allem falschen Pathos gereinigte Huldigung darbringt. Die Treue, die der Dichter dem Verwalter Zlatnas zu bewahren sich verpflichtet, wird aus seinem Gedicht noch zu entfernten Generationen sprechen. Was hier zu einer von aufrichtiger Freundschaft getragenen Geste gerät, hat in der Regel einen wohlkalkulierten Zweck im Ringen um soziale Reputation. Das verewigende Wort ist das entscheidende Faustpfand in den Händen der Gelehrten, von dem das ganze Jahrhundert in der Nachfolge der europäischen Humanisten ständig Gebrauch macht. Bei ihnen, die auf Grund ihrer Bildung das ängstlich gehütete Monopol auf die angemessene Rede und Schrift haben, liegt es, welches Bild von den Mächtigen in die Geschichte eingeht – ein Sachverhalt, der in allen Variationen den Anspruch der Gelehrten auf Beachtung und Förderung begleitet und nicht selten in die verhüllte Drohung übergeht, von dieser Waffe tatsächlich Gebrauch zu machen. Unter den vielen Argumenten, mit ––––––––– 63 64
Ebd., Bl. A2r. Ebd., Bl. A2r f.
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denen sich die Gelehrten Adel und Fürstentum zu empfehlen wissen und mittels derer sie nicht selten zugleich den Konkurrenzkampf mit dem Adel vor den Fürsten bestreiten, ist dies nicht das geringste, denn hier konnte man von einer soliden Basis aus operieren. Opitz selbst hat dies in der Erstfassung von Zlatna in einem großen Encomium auf die Piastenherzöge zum Schluß des Werkes angedeutet. Nachdem er von seiner Siebenbürgen-Exkursion zurückgekehrt war, mußte er bestrebt sein, neuerlich den Kontakt zu den Herzögen in Liegnitz und Brieg zu knüpfen. Nicht ausgeschlossen, daß schon seine Widmung an den Fürstlich-Liegnitzschen Rat Heinrich von Stange und Stonsdorf einen Zug im Rahmen dieser Strategie bildet. Ganz sicher aber fällt dem Gedicht als ganzem nicht zuletzt diese Aufgabe zu. Hatte der Dichter in dem Werk die Rettung vergangener Taten im Medium schriftlicher Tradierung umkreist, so schlägt er kaum zufällig, nun jedoch in äußerster Zurückhaltung, das Thema auch in seinem Preis der Piasten ein weiteres Mal an: Georgi Rudolph wol! jhr werdet künfftig bleiben/ Vnd ewres Namens rhum/ so lange man wird schreiben Von grosser Leute that; jhr werdet ewig stehn/ Solt’ alles nach der zeit bund über ecke gehn.65
Obgleich der Dichter damit auf seinen eigenen Beitrag zur Verherrlichung Georg Rudolphs von Liegnitz anspielt, hat er allerdings später selbst dazu beigetragen, diesen wieder zurückzunehmen.66 Seit der Gedichtsammlung von 1625 fehlt der Lobpreis auf die Piasten in seinem Gedicht Zlatna. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die neuerliche Annäherung Opitzens an die Piastenherzöge hatte wohl zu einer Reihe ehrenvoller Missionen geführt, nicht jedoch zu einer festen Stelle. Opitz kam nicht daran vorbei, sich auch auf der katholischen Seite umzutun. Eine erste Gelegenheit dazu bot eine Reise nach Wien anläßlich des Todes von Erzherzog Karl von Habsburg Anfang 1625. Die Abordnung der schlesischen Fürsten und Stände wurde von Karl Hannibal von Dohna angeführt, dem getreuesten Gefolgsmann des Kaisers in Schlesien, der während der vorübergehenden Herrschaft des Winterkönigs auf seiten der Habsburger geblieben war und den der Kaiser nach dem Sieg über die protestantischen Stände 1623 zum präsidenten der kaiserlichen kammer in Breslau machte, ursprünglich einer bloßen finanzbehörde, in welcher Dohna aber tatsächlich die oberste leitung der landesangelegenheiten in die hand nahm. Der kaiser brach durch ihn zunächst die macht der schlesischen stände; der fürstliche oberlandeshauptmann herzog von Liegnitz Georg Rudolf verwaltete sein amt jahre lang nur provisorisch und mehr scheinbar, während Dohna, wie man sagte, das kaiserliche absolutum dominium nicht nur anstrebte, sondern in der tat übte.67
Diese Reise zum Wiener Kaiserhaus hat Opitz nicht nur höchstwahrscheinlich die Würde eines poeta laureatus eingebracht, sondern auch den Kontakt zur ––––––––– 65 66 67
Ebd., Bl. C1v. Vgl. Schulz-Behrend: Opitz’ ›Zlatna‹ (Anm. 59), S. 401. Palm: Beitraege (Anm. 57), S. 190 f.
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Schlüsselfigur in Schlesien hergestellt. Ein Jahr später steht er in den Diensten des katholischen Burggrafen als Sekretär und Leiter der geheimen Kanzlei des Kammerpräsidenten.68 Dazwischen fällt die Vorbereitung der ersten von ihm selbst verantworteten Ausgabe seiner Gedichte von 1625. Ein Lob auf die erbitterten Gegner Dohnas an exponierter Stelle in einer seiner großen selbständigen Schriften hätte mit Sicherheit den eben geknüpften Kontakt zu den Katholiken getrübt. So blieb nur die Tilgung jener Passage, die freilich seinen alten Gönnern ihrerseits nicht verborgen bleiben konnte. An diesem Einzelfall deutet sich die Verflechtung der Dichtung des 17. Jahrhunderts mit den bewegten Zeitereignissen an, die eine vorwiegend geistes- und formgeschichtliche Forschung allzu lange ignoriert hat. Noch einen zweiten Abschnitt hat Opitz in der Edition von 1625 und allen darauf folgenden Werkausgaben einer von der Vorsicht diktierten Revision unterziehen müssen. Wie in allen zur Gattung der Georgik gehörigen Werken kontrastiert der Dichter auch in Zlatna die Vorzüge der ländlichen Einsamkeit in Zlatna mit den Nachteilen des Lebens am Hof und in der Stadt.69 Der obligatorische Gegensatz zur Stadt ist erneut mit merklichem Desinteresse und ohne das Fischartsche Engagement eingeführt. Untreue, Geldgier, unflätiges Reden, Verstellung und gegenseitige Übervorteilung erwähnt Opitz als die kardinalen Laster in der Stadt. Beim Thema des Hofes hingegen geht es um die ureigensten Interessen. Da heißt es von dem Landmann: Er darff sein Hüttlein nicht stets in der Hand behalten Wann er nach Hoffe kömpt/ vnd für der Thür erkalten/ Eh’ als er audientz (verhör das ist zu schlecht) Ein mal erlangen kan/ vnd vngerechtes Recht. Da pralet einer her mit grossen weitten schritten/ Der/ wann ein gutter mann jhn hat vmb was zu bitten/ Der besser ist als er/ vnd vielmehr weiß vnd kan/ So sieht er jhn doch kaum halb über Achsel an/ Vnd fertigt jhn kahl ab. Bald trifft sich eine Stunde/ Wann der Fürst mucken hat/ so geht der Held zu grunde/ Der hoch am Brete war/ vnd kriegt ein newer gunst/ So bloß vom Glücke kömpt/ nicht von verdienst vnd kunst/ Die hier dahinten steht. Wie wann ein Kind am rande Deß Meeres niedersitzt/ bawt bald ein Hauß von sande/ Bald reist es wieder ein; so pflegt es hier zu gehn/ Man muß nur/ wie es kömpt/ bald liegen vnd bald stehn.
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Vgl. dazu: Umständliche Nachricht von des weltberühmten Schlesiers, Martin Opitz von Boberfeld, Leben, Tode und Schriften, nebst einigen alten und neuen Lobgedichten auf Jhn. Erster [und] Anderer Theil. Hrsg. von D. Kaspar Gottlieb Lindnern.- Hirschberg: Krahn 1740–1741, Theil I, S. 76 f. (lateinische Version der Rede von Christoph Colerus) und S. 183–185 (Übersetzung von Lindner). Des weiteren Palm: Beitraege (Anm. 57), S. 198 ff., sowie Marian Szyrocki: Martin Opitz.- Berlin: Rütten & Loening 1956 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 4), S. 77–99: ›Im Dienste des Burggrafen von Dohna‹ (mit Anm. S. 149–153). Zu den dabei verwendeten Quellen vgl. insbes. die oben Anm. 59 zitierte Arbeit von George Schulz-Behrend.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Noch blehen sie sich auff/ vnd dörffen sich erheben/ Als jeder/ gebe Gott/ must’ jhrer Gnade leben/ Verbringen mit pancket vnd spielen jhre zeit/ Vnd mangelt jhnen nichts als bloß die Frömigkeit.70
Opitz bemerkt zu dieser Passage in den Anmerkungen seit 1625: »Dergleichen Reden sind alle Bücher voll« und verweist auf Senecas Phaedra und Hercules Oetaeus.71 Beide Stellen enthalten jedoch die zentrale Feststellung nicht, um die es hier geht. Nichts muß den bürgerlichen Gelehrten mehr empören als die Mißachtung von Leistung und Können am Hof. Das gesamte System mühsam aufgebauten Sozialprestiges wird erschüttert, wenn nicht das, was einer »weiß vnd kan«, sondern fürstliche Willkür bei der Besetzung höfischer Ämter den Ausschlag gibt. In der Statuskonkurrenz mit dem Adel bei der Verwendung in dem im Aufbau befindlichen absolutistischen Territorialstaat hat der Gelehrte einzig »verdienst vnd kunst« gegenüber dem in der sozialen Rangordnung höher gestellten, aber in der Regel minderqualifizierten – und überdies in der vorgelegten Partie moralisch anrüchigen – Kontrahenten einzusetzen. Diese Qualitäten gegen den Adel ins Spiel zu bringen und sich dem Fürstentum auf Grund von Wissen für die vielfältigen neuen Aufgaben im diplomatischen Dienst und in den Verwaltungsämter des Territorialstaates zu empfehlen, darin konvergieren die bisher verfolgten Argumente. Opitz hat im übrigen selbst das Bewußtsein gehabt, sich an dieser Stelle zu weit vorgewagt zu haben. Seit 1625 heißt es an der entscheidenden Stelle: Da pralet einer her mit grossen weiten Schritten/ Der/ wann ein guter Mann jhn hat vmb was zu bitten/ Der besser ist als er/ vnd vielmehr weis vnd kan/ So sihet er jhn kaum halb vber Achsel an/ Vnd weiset jhn von sich. Bald trifft sich eine Stunde/ Wann niemand drauff gedenckt/ so geht er selbst zu grunde/ Vnd seine Pracht mit jhm; es pflegt nur so zu gehn/ Man muß hier/ wie es kömpt/ bald liegen vnnd bald stehn.72
Der Hinweis auf die willkürliche Ämterpatronage seitens der Fürsten ist getilgt; statt des Befähigten wird der Günstling selbst ein Opfer des Glücks. Natürlich kann man sagen, Opitz habe keine andere Sorge gehabt als den etwas holprigen Vers aus der Erstfassung mit dem gewichtigen Begriff »Fürst« in der Senkung zu tilgen. Wahrscheinlich ist das nicht. Schulz-Behrend, der die Änderung bereits wahrgenommen hat, sagt: For example, the lines 347–350, enveighing against the arbitrariness of princes, lost their importance when the prince was no longer Bethlen Gabor. Later versions omit these lines, partly of course from political reasons, but also, I feel because too much personal resentment had crept into them.73
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Opitz: Zlatna (Anm. 56), Bl. B2r f. Opitz: Acht Bücher, Deutscher Poematum (Anm. 30), Bl. O4r. Ebd., Bl. M4v. Schulz-Behrend: Opitz’ ›Zlatna‹ (Anm. 59), S. 400.
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Szyrocki hat den Eindruck, daß die Worte dem persönlichen Erleben des Dichters, seinen am Hofe Bethlens erduldeten Demütigungen entströmen [...]. Es ist wahrscheinlich, daß diese Worte Bethlen Gabor betreffen, der eine überaus wankelmütige Politik betrieb.74
Opitz spricht jedoch nicht von einer ›wankelmütigen Politik‹, und von ›erduldeten Demütigungen‹ am Hofe Bethlen Gábors ist nichts bekannt. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Opitz an der fraglichen Stelle den Hof Bethlens im Auge hat, wie auch Schulz-Behrend ohne Kommentar voraussetzt. Desgleichen bleibt das ›personal resentment‹ – offensichtlich ebenfalls auf nicht näher identifizierte Erfahrungen an Bethlens Hof zurückbezogen – eine subjektive Vermutung des Exegeten. Der berechtigte Versuch, einzelnen Passagen barocker Dichtungen ihren Realitätsgehalt zurückzugewinnen, kann durch solche improvisierten Bezüge nur diskreditiert werden. Er ist in aller Regel nicht aus dem singulären historischen Faktum – hier Opitzens Verhältnis zu Bethlen – und schon gar nicht aus einem per Einfühlung rekonstruierten Erleben des Dichters zu eruieren, sondern einzig aus der Konstellation von Standesinteressen im historischen Prozeß. Als stichhaltig für die Erklärung des Fortfalls der erwähnten Verse können nur die von Schulz-Behrend erwähnten ›political reasons‹ gelten. Natürlich blieb es riskant, die Entscheidungsfähigkeit der Fürsten, auf deren Gunst Opitz auf protestantisch-calvinistischer wie auf katholischer Seite angewiesen war, derart unzweideutig in Frage zu stellen. Die hofkritischen Partien in der Bukolik und Georgik sind oftmals nichts anderes als allegorische Chiffren für das Wesen der Welt. Verse wie die zitierten, die der Dichter selbst zurücknimmt, zeigen, daß die konventionelle antithetische Struktur der Gattung momentan auf aktuelle Interessen hin zugespitzt werden kann. Opitz hat auf die kritischen Potenzen, wie sie mit der Gattung gegeben sind, in der Vorrede selbst hingewiesen: Das Jch aber von dem lauff gemeinen wesens etlicher massen deutlich geschrieben/ ist geschehen aus der freyheit welcher sich die Poeten jederzeit gebraucht haben/ vnd aus der alten versen zu sehen ist; welche wann sie jetzige vnsere vnwissenheit/ verachtung der Künste/ leichtfertige sitten vnd thorheit gesehen hetten/ würden sie nicht gelinde vnd in gemein/ wie hier von mir geschehen/ sondern mit jhrem gewöhnlichem eyfer wieder einen jeglichen in sonderheit verfahren sein. Welches weder die secte vnserer zeit zuläßt/ noch auch Jch zu thun begehre. Dann mein vorsatz einig der gewesen/ mich selber in der einsamkeit/ darinnen Jch damahls stackte/ durch die betrachtung der vergänglichen dinge zu etwas höhers auffzumunttern.75
Hier bekundet sich die gleiche Intention, die hofkritischen Äußerungen abzumildern wie in den herangezogenen Marginalien mit den entsprechenden antiken Referenzen. Die zeitlose Versenkung in die Vergänglichkeit alles Irdischen wird als Interpretationsmuster dem Leser an die Hand gegeben. 1625, kurz vor einer durch die politischen Umstände erzwungenen Wende im eigenen Leben, ––––––––– 74 75
Szyrocki: Martin Opitz (Anm. 68), S. 53 f. Opitz: Zlatna (Anm. 56), Bl. ʌ3r.
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paßt sich der Dichter den Maximen der Vorrede an und beschreitet seinen Weg zwischen den konfessionspolitischen Fronten mit noch größerer Vorsicht.
Die ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹: Der Musen verewigendes Vermögen Abschließend bleibt ein Blick auf Opitzens Schäfferey von der Nimfen Hercinie zu werfen.76 1624 war Opitz zusammen mit Georg Rudolf von Liegnitz zwei Monate zu Gast bei dessen Schwager Hans Ulrich von Schaffgotsch in Warmbrunn. Die Hercinie ist ihm und im weiteren Sinn dem Hause Schaffgotsch insgesamt gewidmet. Mit ihr begründet Opitz die Gattung der Gelegenheitsschäferei oder Prosaekloge in Deutschland.77 Die Vorrede zeigt ein weiteres Mal, welche Widerstände bei gewissen, soziologisch nicht näher charakterisierten Kreisen, die vermutlich im Adel zu suchen sind, im Zuge der Durchsetzung der neuen Kunstdichtung zu überwinden waren. Zu große Dunkelheit und allzu pedantischer Purismus sind die Vorwürfe, die Opitz allerdings mit einer gewissen Lässigkeit behandelt. Der erste Einwand fällt auf diejenigen zurück, die sich damit ein Zeugnis ihrer Unbildung ausstellen; den zweiten weiß er ironisch ideologiekritisch zu wenden: Worin läge auch für den Adel noch die Legitimation für die weiten Reisen ins Ausland, wenn man die erworbenen Sprachkenntnisse nicht bei Hofe gehörig unter Beweis stellen könnte? Deutlich läßt Opitz durchblicken, daß »dann jhr ansehen/ daß nemlich auff einwerffung solcher höffligkeiten nicht wenig beruhet/ vmb ein merckliches geschmälert« werde.78 Der dritte, gleichfalls überall wieder begegnende Vorwurf, den man offensichtlich im städtischen Bürgertum lokalisieren muß, bezieht sich darauf, daß die Opitzsche Reform zwar den sprachlichen Zustand der deutschen Dichtung verbessert habe, jedoch um den Preis der »verletzung der alten einfalt/ vndt deutschen fromen sitten: weil in dieser art büchern gleichwol nicht wenig zue finden sey/ daß ärgerniß zue vermeiden wol köndte nachbleiben.«79 Schon die Poeterey hatte vor allem diesem Einwand begegnen müssen und die Verwendung insbesondere der heidnischen Mythologie mit deren allegorischem Charakter und die der weltlichen Liebessprache mit deren fiktivem Wesen zu rechtfertigen versucht. Beides ist eine Mitgift der klassizistischen Renaissancepoesie, die auch ––––––––– 76
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Opitzens ein Jahr früher erschienenes Land- und Lehrgedicht VielGut ist für die hier einleitend verfolgte Fragestellung weniger ergiebig und wird daher an dieser Stelle nur gelegentlich in die Betrachtung mit einbezogen. Martin Opitzen Schäfferey Von der Nimfen Hercinie. Gedruckt zum Brieg/ Jn verlegung David Müllers Buchhandlers in Breßlaw. 1630. Hier zitiert nach einem Exemplar der SUB Göttingen: 8° Poet. Germ. II, 5150. Vgl. auch die leicht greifbare und mit einem vorzüglichen Nachwort versehene Ausgabe Martin Opitz: Schäfferey von der Nimfen Hercinie. Hrsg. von Peter Rusterholz.- Stuttgart: Reclam 1969 (= Universal-Bibliothek; 8594). Zur Quellenkritik, die hier bewußt ausgespart wird, bleibt heranzuziehen Alfred Huebner: Das erste deutsche Schäferidyll und seine Quellen.- Diss. phil. Königsberg 1910. Opitz: Schäfferey Von der Nimfen Hercinie (Anm. 77), S. 4. Ebd.
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Opitz nicht leugnen und beseitigen, sondern nur mit dem Hinweis auf die »viel herrliche exempel/ lehren vndt vnterweisungen« vor den puritanischen Eiferern in Schutz nehmen kann.80 Das Opitzsche Werk wird dieser Anforderung nach Nützlichkeit und Belehrung selbst vielfach Rechnung tragen. Der von Opitz mit der Hercinie geschaffene pastorale Formtypus ist so angelegt, daß einem panegyrischen Mittelteil lockere Diskussionen und poetische Einschübe vorangehen und folgen, die einen mehr oder weniger engen Zusammenhang mit dem Anlaß aufweisen. Opitz widmet den umfänglichen, im ersten Teil zur Verfügung stehenden Raum dem Thema »lieben/ vndt reisen«.81 Das Wesen der Schönheit wird unter Anlehnung an platonisch-stoisches Gedankengut gedeutet, und damit genügt die Erörterung den erwähnten Ansprüchen an die Poesie; das Sujet ›Reisen‹ wird im Mittelteil an bedeutsamer Stelle wieder aufgegriffen. Diese einleitenden Erörterungen in der Gattung, die ihre große Beliebtheit begründeten, werden später auf aktuelle kulturelle und soziale Probleme konzentriert. Opitz hingegen streift Fragen der Ständeordnung erst anläßlich der Ehrung des Hauses Schaffgotsch. Er gibt mit seinen Vierzeilern auf einzelne Mitglieder des Geschlechts Schaffgotsch als Beigabe zu den Statuen das Beispiel für zahllose solcher Inschriften bei seinen Nachfolgern. Besonders wichtig sind diejenigen, die anläßlich der Huldigung erneut das Verhältnis von Adel und Gelehrtentum berühren: Soll ich mich schämen dann des namens der Poeten? Jst kunst vndt wißenschafft dem adel nicht von nöthen? Standt blüet durch verstandt: hett ich nicht standt gehabt/ So hette mich verstandt mitt adel doch begabt.82
Hier ist nochmals dem Adel in den Mund gelegt, was sich sehr wohl als Erkenntnis in diesem Stand selbst angesichts der Anforderungen des absolutistischen Staates durchsetzen mag, was jedoch aus der Feder der Gelehrten stets primär als Fixierung des Adels auf bürgerlich-gelehrte Normen zu dechiffrieren ist, durch die geburtsständische Privilegien relativiert und unterminiert, bürgerlich-gelehrte Qualifikationen hingegen aufgewertet und unentbehrlich für Führungspositionen erklärt werden. Nicht Herkunft, sondern erworbenes Wissen adelt. Wird hier der Weg für die soziale Reputation zunächst der Gelehrten und später breiterer Schichten des Bürgertums über Wissen und Bildung angebahnt, so liegt doch der Skopus der Argumentation darin, daß sich der Adel seinerseits nun in Abhängigkeit von den Gelehrten als den Verwaltern jener sanktionierten Normen vorfindet. Weil die von den bürgerlichen Gelehrten als eigentliche Kriterien für den Adel und alle Spitzenpositionen deklarierten Momente eben von diesen selbst primär repräsentiert werden, kann sich daran der Anspruch auf Äquivalenz knüpfen: ––––––––– 80 81 82
Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 36. Hinweise auf diese und andere signifikante Partien in der Hercinie bereits in dem instruktiven Nachwort von Peter Rusterholz (Anm. 77).
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Jst ferner dis so gut ein starckes Lob erlangen/ Bekandt seyn weit vnd breit/ mit grossem Titul prangen/ Der kaum kan auff den Brieff/ der edlen Ahnen Zahl Zerstümmelt vnd behackt vmb einen gantzen Saal Mit Wapen vnd Panier in jhrer Ordnung weisen? Jch ehre deinen Stand: Doch sol ich dich auch preisen/ So lebe ritterlich/ vnd las mich vnverlacht/ Ob du gleich Edel bist geboren/ ich gemacht.83
Ritterlich zu leben heißt aber für das gelehrte Bürgertum nicht zuletzt, tugendhaft und fromm, gelehrt und kunstverständig zu sein, sich also so zu verhalten, wie sich die Gelehrten bevorzugt unter der Schäfermaske immer schon selbst dargestellt haben. Ist es noch verwunderlich, wenn auch der Gefeierte der Hercinie, Hans Ulrich von Schaffgotsch, auf dieses Ideal hin stilisiert wird? In der Weissagung der Parcen wird antizipiert, was aus der Optik des gelehrten Dichters seinen Lebensweg zu einem vorbildlichen macht: [...] wann dann zue deinen tagen Die sprache kommen wirdt/ so wirst du lernen fragen Nach dem was ritterschafft vndt lob der ahnen ziehrt; Wirst werden zue der lust der weißheit angeführt/ Kein feindt der bücher sein. wirst Rom begierig hören Jn jhrer sprache selbst/ dich laßen von jhr lehren Durch was für witz/ vndt krafft sie jhr die gantze welt/ Was Titan überscheint/ zum füßen hatt gefellt. Es wirdt von tapfferkeit/ von strengem kriegeswesen Dir Leipzig/ Tübingen vndt Altorff weiter lesen/ Vndt sagen/ daß ein heldt der große thaten liebt/ Den thaten noch mehr schein durch kunst vndt klugheit giebt.84
Die großen Reisen nach Italien, Nordafrika und Spanien, Frankreich, England und Holland sind neben spezifisch adeligen Exerzitien nicht zuletzt dem Erwerb umfassender Kenntnisse von »sprachen vndt verstandt« gewidmet.85 Das größte Glück der Gelehrten, die Begegnung mit den Koryphäen der Wissenschaft, krönt auch Hans Ulrichs Kavaliersreise. Opitz hatte umgekehrt zu Beginn der Hercinie von einer großen Reise nach Frankreich im Auftrage seines Gönners Karl Hannibal von Dohna gesprochen, wie er sie 1630 tatsächlich ausführte. Der bürgerliche Gelehrte begibt sich auf eine höchst diffizile diplomatische Mission; der Adlige absolviert eine von humanistischem Ethos getragene Studienreise in den Augen seines Panegyren. Die planmäßige Verzahnung der adeligen mit der gelehrten Welt bekundet sich darin ein weiteres Mal. Significant is the fact that the poet here sets up an examplary model for the members of the German nobility. At the same time Opitz brings to the mind of his cultivated bourgeois readers the intellectual and moral standards by which they may judge the German nobility
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Martini Opitzii VielGut. Jn Verlegung David Müllers/ Buchhendlers in Breßlaw. Anno M DC XXIX. Hier benutzt in einem Exemplar der SUB Göttingen: 8° Poet. Germ. II, 5145. Kollation: A4–B4, C2. Das vorgelegte Zitat Bl. B1r. Opitz: Schäfferey Von der Nimfen Hercinie (Anm. 77), S. 38 f. Ebd., S. 39.
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and by which, when suitably modified to reflect their own social world, they may judge themselves and their peers.86
Die Nymphen in den unterirdischen Gemächern auf dem Schaffgottschen Herrschaftsgebiet halten die Taten des Geschlechts fest und weihen die Hirten, d.h. Opitz, Nüßler, Venator und Buchner, in die Geheimnisse ein, denn – so Hercinie – »wir wißen was der himmel vndt die Musen euch verliehen/ vndt mitt was für begiehr der wissenschafft jhr behafftet seidt.«87 Eine der Nymphen führt den Namen der Muse Thalia: Hetten ewere Deutschen mit solchem fleiße denckwürdige große thaten auffschreiben/ als verrichten können/ oder die blutigen kriege für etzlichen hundert jharen mitt den leuten nicht auch zuegleich das gedächtniß derselbten vndt alle geschickligkeit außgerottet/ so köndte der edelen Schoffe (dann also worden sie vormals genennet) werther name/ vndt die tapfferkeit welche sie zue beschützung des vaterlandes angewendet/ euch mehr vor augen gestellet werden [...].88
Dieses Versäumnis soll sich in der Gegenwart nicht wiederholen. Was in der Hercinie zum ›gedächtniß‹ des Hauses Schaffgotsch den Nymphen in den Mund gelegt ist, ist das Werk von Martin Opitz. Mit seiner »Schrifft/ so zue E. Gn. wolverdientem lobe vndt vnsterbligkeit angesehen ist«, wie es in der Widmung heißt, sorgt er für den Nachruhm des Helden und seines Geschlechts und bestimmt darüber, ob und in welcher Form sein Bild in die Geschichte eingeht.89 »Nicht nur benötigt der Dichter die Förderung durch den Mäzen, sondern es bedarf umgekehrt ebenso der Fürst des Dichters.«90 So will es bei einem Dichter, der so sehr zugleich Meister der Komposition und der rechten Proportionen ist, kaum als Zufall erscheinen, daß das letzte Gedicht des kleinen Werkes, das im Anschluß an poetische Beiträge von Nüßler, Buchner und Venator nun den Namen Opitzens trägt, eben dieses Geschenk der Musen besingt: Auff jhr klugen Pierinnen/ Laßet vns ein liedt beginnen Einem Helden der euch liebt/ Der bey seinen schönen flüßen/ Welche sich herumb ergießen/ Vns auch eine stelle giebt. Weiß er gleich mitt rittersachen Jhm ein solches lob zue machen Das der alten namen gleicht/ So erkennt er doch daß thaten
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87 88 89 90
Ulrich Maché: Opitz’ ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ in Seventeenth-Century Literature.- In: Essays on German Literature in Honour of G. Joyce Hallamore. Edited by Michael S. Batts, Marketa Goetz Stankiewicz. Published in Association with the University of British Columbia.- Toronto: University of Toronto Press 1968, S. 34–40, S. 39. Opitz: Schäfferey Von der Nimfen Hercinie (Anm. 77), S. 29. Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 6. So Peter Rusterholz in seinem Nachwort zur Hercinie (Anm. 77), S. 72.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Jn die lange nacht gerhaten/ Wann jhr nicht die hände reicht. Keine heereskrafft kan streiten Wieder die gewalt der zeiten; Das metall vndt eisen bricht; Kron vndt Zepter legt sich nieder; Aber ewre schöne lieder Wißen von dem tode nicht. Herr/ wo sindt die strengen kriege Deiner Ahnen? jhre siege/ Jhr verdienst liegt vnbeklagt. Was schon bleibet vnbesungen Von der schwestern weiser zungen/ Wirdt nicht lange nachgesagt. Vnser Phebus muß es bringen/ Vndt mitt grüner jugendt dringen Durch der eitelkeiten wahn/ Phebus der mich angetrieben Daß ich diß von dir geschrieben Was des grabes lachen kan. Deine blüte/ deine wercke/ Diese ritterliche stärcke Fühlet endtlich doch die zeit: Komm/ Heldt/ friste dir das leben/ Komm/ Thalia wirdt dir geben Einen krantz der ewigkeit.91
––––––––– 91
Opitz: Schäfferey Von der Nimfen Hercinie (Anm. 77), S. 65 f.
Martin Opitz im Paris Richelieus
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2.3 Im Zentrum der Macht. Martin Opitz im Paris Richelieus Frankreich unter Richelieu Opitz betritt den Boden Frankreichs in dem Jahr, das in der politischen Biographie seines leitenden Staatsmanns Kardinal Richelieu die vermutlich entscheidende Wende bezeichnet.1 ––––––––– 1
Der französische Späthumanismus ist der deutschen Barockforschung bisher unzureichend integriert; im folgenden daher in größerem Maße weiterführende Literaturangaben für hier im einzelnen nicht auszuführende Zusammenhänge. Zur folgenden knappen geschichtlichen Einführung in die Zeit Richelieus wurden herangezogen: Das biographische Standardwerk von französischer Seite von Gabriel Hanotaux: Histoire du Cardinal de Richelieu. Band I– II/2.- Paris: Firmin-Didot 1893–1896; Band III–VI unter Mitarbeit von August de La Force.- Paris: Société de l’Histoire Nationale, Librairie Plon [s.a.]. Besonders wichtig hier Band I, S. 159 ff.: ›Le royaume et la royauté en 1614‹, sowie Band II/2, S. 447 ff.: ›La genèse des idées politiques de Richelieu‹; die späteren Bände sind nicht mehr so konzentriert. Dazu von deutscher Seite Carl Jacob Burckhardts berühmte Monographie: Richelieu. [Band I:] Der Aufstieg zur Macht. 17. Auflage.- München: Callwey 1978; [Band II:] Behauptung der Macht und kalter Krieg. 2. Auflage.- München: Callwey 1966; [Band III:] Großmachtpolitik und Tod des Kardinals. 2. korrigierte Auflage.- München: Callwey 1966; [Band IV:] Nachwort, Anmerkungen, Literaturhinweise, Personenregister. 3. Auflage.München: Callwey 1980. Hier vor allem der frühe, bereits 1935 in einer ersten Auflage erschienene erste Band heranzuziehen. Die ersten zwanzig Jahre der Nachkriegs-Richelieu-Forschung sind hervorragend erfaßt durch William F. Church: Publications on Cardinal Richelieu since 1945. A Bibliographical Study.- In: The Journal of Modern History 37 (1965), S. 421–444. Einzelne Spezialbeiträge aus diesem Zeitraum sind weiter unten berücksichtigt. Von Church stammt auch die vielleicht am tiefsten eindringende und im folgenden vor allem berücksichtigte neuere Monographie: Richelieu and Reason of State.- Princeton, NJ: Princeton University Press 1972. Vgl. von Church auch: The Impact of Absolutism in France. National Experience Under Richelieu, Mazarin, and Louis XIV.- New York [etc.]: Wiley 1969 (= Major Issues in History). Des weiteren aus dem englischen und amerikanischen Raum heranzuziehen: C[icely]. V. Wedgwood: Richelieu and the French Monarchy. New, revised Edition.- New York: Collier Books 1968 (Erstauflage 1949); D[aniel]. P[atrick]. O’Connell: Richelieu.- London: Weidenfeld & Nicolson 1968; G[eoffrey]. R.R. Treasure: Cardinal Richelieu and the Development of Absolutism.- London: Black 1972. Vgl. mit dem Schwerpunkt auf der Verfassungs- und Theoriegeschichte Richard Bonney: Political Change in France under Richelieu and Mazarin 1624–1661.- Oxford: Oxford University Press 1978. Dazu allgemeiner J[ohn]. H.M. Salmon: Society in Crisis. France in the Sixteenth Century.- London, Tonbridge: Benn 1975. Sehr knapp: Robin Briggs: Early Modern France. 1560–1715.- Oxford, London, New York: Oxford University Press 1977, S. 95–128. Als Sammelband mit einer Reihe einschlägiger marxistischer Arbeiten: France in Crisis 1620–1675. Selected, translated, and introduced by P[eter]. J. Coveney.- London, Basingstoke: Macmillan Press 1977. Von den jüngeren französischen Monographien: Georges Mongrédien: La journée des Dupes. 10 novembre 1630.- Paris: Gallimard 1961 (= Trente journées qui ont fait la France; 14); Philippe Erlanger: Richelieu. Band I–III.- Paris: Perrin 1967–1970 (= Présence de l’histoire). In deutscher Übersetzung unter dem Titel: Richelieu. Der Ehrgeizige. Der Revolutionär. Der Diktator.- Frankfurt/Main: Societäts-Verlag 1975. Des weiteren: Richelieu.- Pa-
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung From 1624 to 1629, Richelieu’s major problems on the domestic front consisted of checkmating noble conspiracies and reducing the political power of the Huguenots. These two movements were distinct in themselves but were related and in many ways similar. Their major difference, of course, lay in the religious sphere and all that it implied, but beyond that the parallelisms are striking. Both owed their inception to nobles who, for all their mixed motives, were characterized by a common desire to force concessions from the crown. In this sense, the Huguenot rebellion (which was not supported by a large percentage of the French Calvinists) paralleled the aristocratic conspiracies. Furthermore, Richelieu’s reactions to both were remarkably similar. Although he willingly embarked upon hostilities against the Huguenots for the purpose of combating heresy, his major concern both in reducing La Rochelle and restricting the activities of the nobility was generally the same: to eliminate foci of resistance within the realm which hampered the expansion and exercise of state power and to demonstrate that all Frenchmen, Catholic and Huguenot, noble and commoner, must be docile and loyal subjects of the crown.2
Der entscheidende Schlag gegen die Hugenotten wird bekanntlich mit der Belagerung und Eroberung La Rochelles geführt, der sich die Aufrollung und Schleifung der Hugenotten-Sitze in Südfrankreich anschließt. Der Friede von Alais im Juni 1629 markiert die definitive politische Unterwerfung des französischen Protestantismus unter die Krongewalt und zugleich das Ende des über ein halbes Jahrhundert währenden Bürgerkrieges. Indem Richelieu – ungeachtet des erbarmungslosen Kampfes gegen die Truppen Rohans – die politische Paralysierung des Hugenottentums durch die Sicherung der freien konfessionellen Entfaltungsmöglichkeiten flankiert, stellt er sich in die Tradition der Ediktpolitik Heinrichs IV. Die Suprematie des Staates gegenüber den konfessionspolitischen Parteiungen wird weiter gefestigt. Erst Ludwig XIV. führt dann jene verhängnisvolle Revision der bewährten und im damaligen Europa durchaus progressiven Politik relativer konfessioneller Toleranz und Neutralität herbei, die in der Aufhebung des Edikts von Nantes sowie der Vertreibung des französischen Hugenot–––––––––
2
ris: Hachette 1972 (= Collection génies et réalités); Louis Auchincloss: Richelieu.- London: Joseph 1972 (reichhaltig illustriert); Marc Pierret: Richelieu ou la déraison d’état. Essai. Préface de Georges Lapassade.- Paris: Fayard 1972 (= Le lieu de la personne); Pierre Chevallier: Louis XIII. Roi cornélien.- Paris: Fayard 1979; Roland Mousnier: Paris capitale au temps de Richelieu et de Mazarin.- Paris: Pedone 1978. Von deutscher Seite zuletzt – nach der wichtigen Arbeit von Dieter Albrecht: Richelieu, Gustav Adolf und das Reich.- München, Wien: Oldenbourg 1959 (= Janus-Bücher; 15), und der unverändert wieder vorgelegten Monographie von Willy Andreas: Richelieu. 2., unveränderte Auflage.- Göttingen: Musterschmidt 1967 (= Persönlichkeit und Geschichte; 11) (Erstauflage 1941) – Jörg Wollenberg: Richelieu. Staatsräson und Kircheninteresse. Zur Legitimation der Politik des Kardinalpremier.- Bielefeld: Pfeffer 1977 (mit dem Akzent auf der Bibliothek des Kardinals). Wichtig von marxistischer Seite – neben der bekannten Arbeit von B[oris]. F. Poršnev: Die Volksaufstände in Frankreich vor der Fronde 1623–1648.- Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1954, bzw. in französischer Fassung: Les soulèvements populaires en France de 1623 à 1648.- Paris 1963 (= École pratique des hautes études. VIe section. Centre de recherches historiques. Œuvres étrangères; 4) – A[leksandra]. D. Lublinskaya: French Absolutism. The Crucial Phase 1620–1629. Translated by Brian Pearce. With a foreword by J.H. Elliott.- Cambridge: University Press 1968. Dazu selbstverständlich die hier nicht aufzuführenden internationalen Standardwerke zur französischen Geschichte. Church: Richelieu and Reason of State (Anm. 1), S. 175.
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tentums gipfelt und letzten Endes die Legitimationskrise des Ancien régime im 18. Jahrhundert mitbewirkt. Ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluß erreicht die Auseinandersetzung der Krone mit dem opponierenden Hochadel in der spektakulären Vollstreckung des Todesurteils an Montmorency im Oktober des Jahres 1632. Das nochmalige letzte Aufbäumen der Fronde in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren unter Mazarin zeigt, daß Richelieu hier anders als in der Hugenottenfrage keine definitive Entscheidung herbeizuführen vermochte; klar vorgezeichnet ist sie jedoch in seiner Politik. Das Jahr 1630 nun gilt insofern zu Recht als Wende, als sich Richelieu am ›Tag der Düpierten‹ der so gut wie bedingungslosen Unterstützung Ludwig XIII. gegenüber der seit Jahren intrigierenden Königsmutter Maria von Medici, dem Königsbruder und Kronanwärter Gaston d’Orléans sowie deren gesamtem ultramontanem, spanienorientiertem Trabantensystem zu versichern weiß. Erst jetzt wird er frei zur Einleitung einer zielstrebigen Außenpolitik. Sie führt sogleich 1630 zur ersten offenen Konfrontation mit dem weltgeschichtlichen Rivalen Spanien anläßlich der Erbfolge in Mantua, in der Richelieu nicht nur gegen den Widerstand der Partei der Devoten, sondern auch gegen große Teile der kriegsmüden Bevölkerung den Anspruch Frankreichs unter größten Risiken und zeitweilig völlig vereinsamt kompromißlos und schließlich weitgehend erfolgreich behauptet. 1630 ist zugleich das Jahr einer besonders regen und intensiven französischen Diplomatie. Schon der schwedisch-polnische Waffenstillstand im Jahr zuvor kommt unter maßgeblicher französischer Vermittlung zustande. Das französische Interesse an ihm liegt auf der Hand. Erst jetzt werden die schwedischen Kräfte frei zum Einsatz gegen Frankreichs Widersacher Habsburg. Auf dem Regensburger Kurfürstentag von 1630 beachten Richelieus Emissäre sodann geschickt die oberste Maxime der Deutschlandpolitik des Kardinals in den kommenden Jahren, »je nach Voraussetzung von Stunde und Ort, katholische, evangelische oder ständische Leidenschaft auszunutzen«, wo immer möglich zu vereinigen und gegen den stets neu suggerierten Hegemonieanspruch Habsburgs zu mobilisieren.3 Während sich Richelieu über seinen Mittelsmann Pater Joseph um den Aufbau einer interkonfessionellen Mittelpartei bemüht, an der Lutheraner, Calvinisten und Katholiken gleichermaßen partizipieren, treibt er damit zugleich ein von religiösen Bindungen sich emanzipierendes, ausschließlich an der politischen Konsolidierung Frankreichs orientiertes Moment seines Handelns hervor. Indem Richelieu aus Gründen der Staatsraison den konfessionellen Gedanken überhaupt zurückstellte und den politischen Interessen Frankreichs zuliebe den Katholizismus im Reich seinem Schicksal anheimgab, verlieh er seiner Entscheidung [für Schweden] über alle unmittelbaren Konsequenzen hinaus ein Moment von weltgeschichtlicher Bedeutung.4
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Burckhardt: Richelieu (Anm. 1), Band II, S. 252. Albrecht: Richelieu, Gustav Adolf und das Reich (Anm. 1), S. 85.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
Opitz ›auf diesem politischen Schauplatze‹ So gesehen erfolgt die Reise Opitzens in die französische Hauptstadt in einem Jahr weitreichendster politischer Weichenstellungen. Die näheren Weisungen und Aufträge durch Dohna sind unbekannt. Doch ist es von vornherein wenig wahrscheinlich – wie Palm, Oesterley und andere mutmaßen – daß es sich in erster Linie um eine von Dohna gewährte humanistische Bildungsreise handeln sollte, so sehr eine solche Opitzens eigener Intention auch entgegengekommen sein mochte.5 Es ist Szyrockis Verdienst, dagegen bewußt auf Colerus’ Äußerung zurückgegriffen zu haben.6 Ihr muß als einer zeitgenössischen besonderes Gewicht beigemessen werden, auch wenn sie sich näherer Konkretion aus unbekannten Gründen enthält. Opitz sahe sich auf diesem politischen Schauplatze sehr genau um. Er wurde mit den größten Staatsmännern bekannt. Er erfuhr die wichtigsten Dinge, er lernte sie beurtheilen, und behielt alles in frischem Andenken, damit er seinem Vaterlande völlige Nachricht davon geben könnte. Gemeine Dinge waren ihm hier zu gemein, ob sie schon sonst nicht eben für gar zu gemein zu achten sind. Und um was sich sonst Reisende am gewöhnlichsten bekümmern, das war ihm schon alles aus den Büchern bekannt. Die Gebräuche, die Gesetze, die Lage, die Gerechtsame, die Landschaften, die königliche Regierung, die Beschaffenheit des Parlaments, die Geschichte der Städte und der vergangnen Kriege hatte er schon größtentheils inne. Itzo wollte er eigentlich nur von den Geheimnissen des Staats Nachricht einziehen. Besonders ging sein Absehen dahin, wie es um das Gleichgewicht von Europa beschaffen sey, und welches Land dem andern überwichtig wäre, wenn es in Bewegung kommen sollte?7
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Vgl. dazu Hermann Palm: Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts.- Breslau: Morgenstern 1877. Reprint Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik 1977, S. 207; Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung. Hrsg. von Hermann Oesterley.- Berlin, Stuttgart: Spemann [s.a.] (= Deutsche National-Litteratur. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Joseph Kürschner; 27), S. XXXI (Einleitung). Vgl. Marian Szyrocki: Martin Opitz.- Berlin: Rütten & Loening 1956 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 4), S. 93 ff. Hier in der Übersetzung durch Lindner: Umständliche Nachricht von des weltberühmten Schlesiers, Martin Opitz von Boberfeld, Leben, Tode und Schriften, nebst einigen alten und neuen Lobgedichten auf Jhn. Erster [und] Anderer Theil. Hrsg. von D. Kaspar Gottlieb Lindnern.- Hirschberg: Krahn 1740–1741, Teil I, S. 206 f. Der lateinische Text von Christoph Colerus: Laudatio Honori & Memoriae V. CL. Martini Opitii paulò post obitum ejus A. MDC.XXXIX. in Actu apud Uratislavienses publico solenniter dicta.- Leipzig: Fuhrmann 1665. Wieder abgedruckt bei Henning Witte: Memoriae Philosophorum, Oratorum, Poetarum, Historicorum, Et Philologorum Nostri Secvli Clarissimorum Renovatae Decas Prima.- Frankfurt/Main: Hallervord 1677, S. 439–477. Ein weiterer Abdruck bei Lindner, Teil I, S. 35–112. Hier S. 92 f. der lateinische Text: »In hoc itaqve theatro qvot & qvanta contemplatus est Noster! qvot & qvanta non tam a libris, qvam ab hominibus politioribus conqvisivit, qvae in coelestis abyssum mentis demitteret, judicio digereret, patriae communicanda reservaret! Vulgata illa, non vulgaria tamen, qvae initiantes peregrinatores vident & audiunt, ac reponunt, de Galliae moribus, legibus, situ, juribus, provinciis, urbibus, regimine regio, curiali, casibus urbanis, bellis, eventis veterum, ex libris & conversatione pridem didicerat: sed via ineunda ipsi erat ad arcana praesentis status, an libra Europae in aeqvilibrio immota constet? an haec vel illa lanx mota praevaleat? arbitrandum sibi putabat.«
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Gerade weil Frankreich für alle konfessionspolitischen Parteiungen und über die Konfessionsgrenzen hinweg für die mehr oder weniger gegenüber dem Kaisertum opponierenden Reichsstände ein attraktiver Bündnispartner war, mußten alle Seiten an einem gut funktionierenden Kontakt zur französischen Zentrale interessiert sein. Und das um so mehr, als die französische Innenpolitik mit der Vernichtung des Hugenottentums und der parallelgehenden Pazifizierungsstrategie die gleichen Rätsel aufgab wie in der Außenpolitik mit der gleichzeitigen Umwerbung der Ligisten wie der Unierten.8 Schwerlich wird man unter diesen Umständen davon sprechen können, daß Opitz nach seiner Rückkehr »Dohna mit den in Paris wahrgenommenen Friedenstendenzen bekannt gemacht« haben soll.9 Wohl aber wird er imstande gewesen sein, die auf den ersten Blick undurchsichtigen – und natürlich auch im Reich kontrovers diskutierten – Motive der französischen Politik zu erläutern. Die entscheidende Frage mußte sein, welchem Lager das Frankreich Richelieus sich längerfristig zuwenden würde, und genau diesen Aspekt hält das geschichtlich ernstzunehmende Zeugnis von Colerus fest, wenn es die Frage des politischen Gleichgewichts in Europa in den Mittelpunkt der diplomatischen Mission Opitzens rückt. Darüber hinaus bringt Colerus zwei Institutionen mit der ParisReise seines Freundes in Verbindung: das Parlament und die ›Akademie der Puteanen‹. Als entscheidender Mittelsmann für Opitz in Paris wird Hugo Grotius eingeführt. Es besteht aller Anlaß, diesen Hinweisen von Colerus in gebührender Ausführlichkeit nachzugehen.
Forum der ›Noblesse de robe‹: Das Pariser Parlament Daß Colerus den Kreis der Puteanen erwähnt, ist nicht ungewöhnlich, bildet er doch eines der Zentren des europäischen Späthumanismus. Daß er dagegen zunächst relativ ausführlich auf das Pariser Parlament zu sprechen kommt, darf als Indiz dafür gelten, welch hohes Maß an Reputation diese Institution in Gelehrtenkreisen auch außerhalb Frankreichs gewonnen hatte. Über die Gründe dieser bemerkenswerten Rezeption lassen sich nur Mutmaßungen anstellen, denen jedoch eine gewisse Plausibilität zu verleihen sein dürfte.10 –––––––––
8 9
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Vgl. dazu die in Anm. 1 zitierten Arbeiten, vor allem diejenigen von Church und Bonney. Szyrocki: Martin Opitz (Anm. 6), S. 92. Für die französischen Parlamente und insbes. das Parlament von Paris ist im vorliegenden Zusammenhang mit weniger Nachdruck auf die klassischen großen Standardwerke zur Geschichte dieser Institutionen zu verweisen, denn sie bleiben durchweg in der Rekapitulation der Ereignisse und Organisationsformen stecken, statt dessen ist zu ihrer Sozialgeschichte vorzudringen. Vgl. Ernest-Désiré Glasson: Le Parlement de Paris. Son rôle politique depuis le règne de Charles VII jusqu’à la révolution. Band I–II.- Paris: Hachette 1901. Reprint Genève: Slatkine-Megariotis 1974; Édouard Maugis: Histoire du Parlement de Paris. De l’avènement des rois Valois à la mort d’Henri IV. Band I–III.- Paris: Picard 1913–1916; R[oger]. Doucet: Les institutions de la France au XVIe siècle. Band I–II.- Paris: Picard 1948, Band I, S. 167–188 und S. 210–228; Gaston Zeller: Les institutions de la France au XVIe siècle.- Paris: Presses Universitaires de France 1948, S. 147–163. Wichtig neu-
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Die französischen Parlamente und insbesondere das Pariser Parlament müssen als diejenige Institution in Europa gelten, in denen das Bürgertum, der dritte Stand (Tiers état), am frühesten einen bedeutenden und verfassungsmäßig abgesicherten Einfluß wenn nicht auf die Entscheidungsfindung, so doch auf die Kontrolle politischen Handelns über das Institut der Registratur und der Remonstranz in der Monarchie hat nehmen können. Gewiß war der Zugang zum Parlament auch an finanzielle Konditionen geknüpft. Der systematische Einkauf ins Parlament war nur dem Großbürgertum möglich. Doch blieb er stets an ein juri––––––––– erdings J[oseph]. H. Shennan: The Parlement of Paris.- London: Eyre & Spottiswoode 1968, insbes. S. 188–221: ›The Parlement in the Sixteenth Century‹ und S. 222–254: ›The League, Henry IV and Richelieu‹. Manches auch bei Robert Mandrou: Magistrats et sorciers en France au XVIIe siècle. Une analyse de psychologie historique.- Paris: Plon 1968 (= Thèse pour le doctorat des lettres, présentée à la faculté des lettres et sciences humaines de l’Université de Paris), insbes S. 289 ff., bzw. im Neudruck (Paris: Éditions du Seuil 1980) S. 313 ff. Vgl. auch Roland Mousnier: Les institutions de la France sous la monarchie absolue 1598–1789. Band I: Société et état. Band II: Les organes de l’état et la société.- Paris: Presses Universitaires de France 1974–1980, Band II, S. 253 ff. und 218 ff.; zum Verhältnis von Parlament und Fronde: Band II, S. 594 ff. Zur Vorgeschichte Françoise Autrand: Naissance d’un grand corps de l’état. Les gens du Parlement de Paris 1345–1454. Band I–VI. Thèse d’état présentée devant l’Université de Paris I 1978. Zum 16. Jahrhundert liegt eine interessante sozialgeschichtliche Arbeit (auch mit instruktiven literatursoziologischen Daten) vor: Bernard Quilliet: La situation sociale des avocats du Parlement de Paris à l’époque de la Renaissance (1480–1560).- In: Espace, idéologie et société au XVIe siècle.- Presses Universitaires de Grenoble 1975 (= Documents et travaux de l’équipe de recherche culture et société au XVIe siècle. Université de Paris VIII–Vincennes; 2), S. 121–152. Vgl. außerdem für das 16. Jahrhundert Hélène Michaud: La grande chancellerie et les écritures royales au seizième siècle. (1515–1589).Paris: Presses Universitaires de France 1967; Christopher W. Stocker: The Politics of the Parlement of Paris in 1525.- In: French Historical Studies 8 (1973/74), S. 191–212. Einschlägig zur Nachgeschichte A. Lloyd Moote: The Revolt of the Judges. The Parlement of Paris and the Fronde. 1643–1652.- Princeton, NJ: Princeton University Press 1971; Albert N. Hamscher: The Parlement of Paris after the Fronde. 1653–1673.- Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 1976. Speziell zum Problem der Ämterkäuflichkeit die beiden grundlegenden Arbeiten von Martin Göhring: Die Ämterkäuflichkeit im Ancien régime.- Berlin: Ebering 1938 (= Historische Studien; 346). Reprint Vaduz: Kraus 1965, sowie Roland Mousnier: La vénalité des offices sous Henri IV et Louis XIII. Deuxième édition revue et augmentée.- Paris: Presses Universitaires de France 1971 (= Collection Hier). Weitere aufschlußreiche Spezialbeiträge zum späten 16. und 17. Jahrhundert: François Billacois: Le Parlement de Paris et les duels au XVIIe siècle.- In: Crimes et criminalité en France sous l’Ancien Régime, 17e–18e siècles.- Paris: Colin 1971 (= Cahiers des Annales; 33), S. 33–47; J[ohn]. H.M. Salmon: The Paris Sixteen, 1584–94: The Social Analysis of a Revolutionary Movement.- In: The Journal of Modern History 44 (1972), S. 540–576; Pierrette Girault de Coursac: La monarchie et les Parlements.- In: Découverte 8 (1975), S. 21–39; Denis Richet: Élite et noblesse. La formation des grands serviteurs de l’état (fin XVIe siècle – début XVIIe siècle).- In: L’Arc 65 (1976), S. 54–61; Alfred Soman: The Parlement of Paris and the Great Witch Hunt (1565–1640).- In: The Sixteenth Century Journal 9 (1978), S. 30–44. In unserem Zusammenhang mit besonderem Gewinn herangezogen: Leo Kofler: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Versuch einer verstehenden Deutung der Neuzeit. 4. Auflage.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1971 (= Soziologische Texte; 38), S. 424 ff.; Martin Göhring: Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich (Vom Mittelalter zu
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stisches Studium und damit an Gelehrsamkeit und Leistung gebunden. Im Parlament hatte das gelehrte Bürgertum Europas eine Institution vor Augen, in der der immer wieder reklamierte Anspruch auf politische und soziale Honorierung gelehrten Studiums durch die Krongewalt bis zu einem gewissen Grade eingelöst war und die den Angehörigen des europäischen Späthumanismus Einflußnahme bot. So ist es denn auch kein Zufall, daß zwischen den Parlamenten und den Humanisten die vielfältigsten Verbindungen bestanden, wie gleich zu zeigen sein wird. Der Aufstieg des Großbürgertums – und hier insbesondere der Fraktion des Handelsbürgertums – ist vom alten Feudaladel beunruhigt und besorgt registriert worden. In einem Land wie Frankreich kam der Antagonismus zwischen Adel und gelehrtem Bürgertum viel entschiedener zum Ausdruck, weil hinter dem Gelehrten-, und das heißt insbesondere dem Juristenstand gerade im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert eine potente Großbourgeoisie stand. Infolge der Normalisierung der Verhältnisse während der Friedensjahre einerseits, der königlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik anderseits, wird nun das zur Noblesse de robe aufsteigende Bürgertum die eigentlich tragende Schicht der französischen Monarchie. Diese vor allem aus dem Handel stammenden Kreise kaufen sich Grundbesitz oder Ämter. Auf die ›Vénalité des Offices‹, die sich auf weitere Ämter ausdehnt, kann die königliche Finanzverwaltung nicht verzichten. Sie wird sogar noch ausgebaut und findet einen gewissen Abschluß in der 1604 eingeführten Paulette. Damit war die Erblichkeit der Ämter fixiert; die Noblesse de robe aber hat eine selbständige und starke Stellung im Staate gewonnen. Amtsadel und Krone sind aufeinander angewiesen. Mit dem Eintritt in die Bildungselite und mit dem Erwerb von Adelstiteln trennt sich der Amtsadel von den übrigen Bevölkerungsschichten, indem er sich faktisch und bewußtseinsmäßig aus dem Erwerbsleben zurückzieht und ein Rentnerdasein fristet. Für das höhere Bürgertum läßt sich in dieser Zeit das Bestreben feststellen, im Moment der geschäftlich-finanziellen Erfolge oder dann in der folgenden Generation von den Geschäften zurückzutreten und damit sozial sich von der Schicht, aus der man stammt, zu distanzieren. Die Amtsaristokratie wird aber auch nicht vom alten Feudaladel assimiliert, da sich dieser hartnäckig gegen die frühkapitalistische Wirtschaftsentwicklung wehrt und auf seiner überlieferten Sonderstellung beharrt; die Noblesse de robe gerät als Käufer von feudalem Grundbesitz und als Inhaber von Ämtern, vor allem der Parlamentssitze, in einen gewissen Gegensatz zur Feudalwelt.11
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1789). 2. Auflage.- Tübingen: Mohr 1947, S. 5ff. und S. 62 ff.; Rudolf von Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus.- Marburg: Simons 1951 (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; 1), S. 63–74 (zum Parlament im Spiegel der theoretischen Literatur unter Richelieu); Roman Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates.- Berlin: Duncker & Humblot 1962, passim, insbes. S. 26 ff. und S. 42 ff.; Andreas: Richelieu (Anm. 1), S. 65 ff.; Ernst Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. Untersuchungen über die politischen Denk- und Handlungsformen im Späthumanismus.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 21), S. 218 ff. (zur Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit dem Parlament). Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 10 f. Vgl. auch André Bourde: Frankreich vom Ende des Hundertjährigen Krieges bis zum Beginn der Selbstherrschaft Ludwigs XIV. (1453–1661).- In: Handbuch der europäischen Geschichte. Hrsg. von Theodor Schieder. Band III: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Josef Engel.- Stuttgart: Klett-Cotta 1971, S. 714–850. Hier S. 806: »Die Erb-
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Standespolitische Debatten im Umkreis der ›Etats généraux‹ Für die sozialphilosophische, aber auch für die literarische Verarbeitung dieses latenten Konflikts zwischen noblesse de robe und noblesse d’épée ist die im Verfassungsleben Frankreichs um den Kristallisationspunkt des Parlaments zentrierte Entwicklung von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, die Krise des Feudaladels ins Bewußtsein zu heben und dem gelehrten Bürgertum einen erheblichen Fundus politischer Argumente zu liefern. Das Parlament muß denn auch als der geheime Bezugspunkt der faszinierenden Debatten angesehen werden, die gleichzeitig in den Etats généraux 1614/15 in Blois ablaufen, in denen die noblesse de robe gleichfalls das bestimmende Element innerhalb des dritten Standes bildet. Wie niemals zuvor kam es auf dieser letzten Ständeversammlung vor der Revolution zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Adel und dem tiers état: Der Dritte Stand hatte am meisten Angriffe hinzunehmen, und zwar, ob er wollte oder nicht und wie er sich auch dazu stellte, wegen des Aufstiegs seines Großbürgertums. Am ersten Verhandlungstag erklärte ein Redner der Adelsbänke, der König möge erkennen, welcher Unterschied bestehe zwischen seinem Schwertadel und jenen durch die Geburt untergeordneten Leute, die sich durch Ämter und Ehren herausnähmen, über den alten Rang der wahren Edelleute heraufzusteigen. Die Vertreter des Adels waren der Ansicht, diesem Mißstand des Aufstieges einer ganzen geschlossenen Klasse sei nur zu steuern, wenn die sogenannte ›Paulette‹ abgeschafft werde, das heißt, wenn die Erblichkeit der Ämter aufhöre, indem man das Recht der hohen Beamten durch eine jährliche Abgabe ihr Amt für ihre Nachkommen zu sichern, ein für allemal verschwinden lasse. Der Dritte Stand antwortete sofort auf diesen klassenkämpferischen Antrag hin mit dem Begehren, die dem Adel, vor allem dem Hochadel ausgezahlten unermeßlichen Pensionen möchten abgeschafft werden.12
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lichkeit der Ämter läßt eine Art von zweitrangigem Adel entstehen, der ursprünglich aus der kaufmännischen Bürgerschicht stammt. Gegen diese fortschreitende Entwertung reagiert der Adel natürlich recht heftig. Der neue Amtsadel (noblesse de robe) fühlt sich dem alten Geblütsadel (noblesse d’épée) ebenbürtig, um so mehr, als er ihm an Reichtum und Bildung oft überlegen ist und sich ihm an Würde, Erblichkeit und Lehensbesitz gleich weiß. Anläßlich der Versammlung der Generalstände von 1614 bringen die Delegierten des alten Adels klar zum Ausdruck, daß sie nicht mit den aus dem Bürgerstande stammenden verwechselt werden wollen und den Gedanken an eine soziale Gleichheit weit von sich weisen. Unter Ludwig XIII., der einer Beibehaltung der herkömmlichen Vorrechte des Adels positiv gegenüberstand, wird die Zahl der Adelsbriefe auch verringert; alle nach 1610 vorgenommenen Nobilitierungen werden 1640 rückgängig gemacht. Doch handelt es sich dabei nur um eine vorübergehende Erscheinung; 1661 hat sich diese Zahl schon wieder erheblich vermehrt.« Burckhardt: Richelieu (Anm. 1), Band I, S. 44 f. Vgl. auch Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 75: »Wie kaum je in der Geschichte der Generalstände, stießen 1614 Adel und Dritter Stand aufeinander. Auf der einen Seite kritisierte man die Ämterkäuflichkeit und die Paulette, die Langsamkeit und die hohen Kosten der Justiz und verlangte Reformen in diesem Sinne. Der Dritte Stand hingegen greift die Adelspensionen an, spricht von Verschleuderung der Gelder und weist auf die bedrückte Lage des ›peuple‹ hin; dieses letztere mit einer Schärfe der Sprache, die bisher ungewohnt war.«
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Albertini hat erstmals ein Zeugnis aus dem Kreis des alten Adels erschlossen, das schlagartig die defensive Position beleuchtet, auf die sich die Oberschichten unversehens zurückgedrängt sahen. Der Discours d’un Gentil-Homme François à la Noblesse de France (1614) enthält das unverhohlene Zugeständnis, daß der Adel viel von seiner Bedeutung verloren habe und zwar vor allem, weil ihm die Ämter und die Gerichtsbarkeit entzogen worden seien. Für den dritten Stand hat der Verfasser des Traktats nur größte Verachtung; die Perspektive, die er dem eigenen Stand zuweist, indiziert jedoch treffend das Maß an Verunsicherung: Er sieht mit Schrecken eine neue Klasse Position um Position gewinnen, eine Klasse, die ihre Stellung dem Reichtum verdankt und der er selbst nichts entgegensetzen kann. Eine Zusammenarbeit ist nicht möglich, da sowohl die geistige wie die wirtschaftlich soziale Kluft allzu groß geworden ist. Er verzichtet auf den jahrhundertealten Anspruch, gegenüber der Krone Abstand zu halten, ein Gegengewicht gegen das zu starke Königtum zu bilden, und wirft sich diesem in die Arme, um der wirtschaftlichen Vernichtung zu entgehen und seine Pensionen weiter erhalten zu können.13
Umgekehrt, jedoch aus anderen Gründen, sind auch die noblesse de robe und die sie tragende Institution, das Parlament, auf das Königtum fixiert. Eben dieses Bündnis zwischen Krone und gelehrtem Bürgertum bedarf im Hinblick auch auf das deutsche 17. Jahrhundert einer näheren Betrachtung.
Bündnis mit dem Königtum. Die Rolle der ›politiques‹ Die noblesse de robe ist im Laufe des 16. Jahrhunderts während und nach den Bürgerkriegen zur maßgeblichen staatstragenden Schicht des Ancien régime aufgerückt. Die aus der Ämterkäuflichkeit herrührende Abhängigkeit von der Krone wurde schon gestreift. Hier geht es um die ideologische Affirmation der Staatsgewalt, die in erster Linie ein Werk der Kreise um das Parlament, der politiques, gewesen ist.14 Sie haben am frühesten das politische Fazit aus der Kata––––––––– 13 14
Ebd., S. 79. Maßgeblich aus der älteren Literatur die bekannte Dissertation von Georges Weill: Les théories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion. Thèse présentée à la Faculté des Lettres de Paris.- Paris: Hachette 1891. Weniger ergiebig ist Francis de Crue: Le parti des politiques au lendemain de la Saint-Barthélemy. La Molle et Coconat.- Paris: Plon 1892. Ein stoff- und gehaltreicher Abschnitt über die ›politiques‹ bei John Neville Figgis: Studies of Political Thought. From Gerson to Grotius 1414–1625.- Cambridge: University Press 1907, S. 108–132. Wichtige Bemerkungen am Rande sodann bei Friedrich Meinecke: Werke. Band I: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg. und eingeleitet von Walther Hofer. 2. Auflage.- München: Oldenbourg 1960 (Erstauflage 1924), S. 66 f., S. 116 f. und S. 179 ff. Des weiteren J[ohn]. W. Allen: A History of Political Thought in the Sixteenth Century. Third Edition.- London: Methuen 1951 (Erstauflage 1928), S. 370–377; Franklin Charles Palm: Calvinism and the Religious Wars.- New York: Fertig 1971 (Erstauflage 1932), S. 51–54 und S. 61–63. Sodann überaus instruktiv im Kontext der calvinistischen und jesuitischen Gegenfraktionen Göhring: Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich (Anm. 10), S. 99 ff.; des weiteren Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 105 ff. Das Frankreich-Kapitel bei Joseph Lecler: Geschichte der
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strophe der französischen Monarchie gezogen, in die diese mit der fortschreitenden konfessionellen und sozialen Spaltung des Landes hineingerissen wurde. Repräsentativ steht dafür die große Gestalt des Kanzlers Michel de L’Hospital ein. Mit L’Hospital »vollzog sich der Übergang vom ›Humanisten‹ zum ›Politique‹.«15 Es ist L’Hospital, der dem Regenten rät, sein Schicksal nicht zu eng mit dem der katholischen Religion zu verknüpfen und »als Haupt des Königreiches nicht zwischen seinen religiös getrennten Untertanen Partei zu ergreifen; er könnte Gefahr laufen, sein Reich ins Verderben zu führen.« Diese Empfehlung ist begleitet von der moralphilosophischen Maxime: »Wer sich zwischen beiden Parteien hält und leidenschaftslos auftritt, wird den besten Weg wählen und ihm folgen.«16 Nicht prägnanter könnten der Ursprung des Neustoizismus in den konfessionspolitischen Bürgerkriegen und seine Qualifizierung zur Staatsideologie anstelle der abgewirtschafteten Konfessionen hervortreten. Jenseits der konfligierenden religiösen Parteiungen erblickt die Gruppe der politiques um L’Hospital, die sich fortan vor allem aus dem Parlament rekrutieren wird, in der Inthronisa–––––––––
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Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation. Band I–II.- Stuttgart: Schwabenverlag 1965 (Erstauflage unter dem Titel ›Histoire de la tolérance au siècle de la Réforme‹.- Paris: Ed. Montaigne 1955) ist durchzogen von Bemerkungen zu den ›politiques‹. Vgl. insbes. Band II, S. 70 f., S. 88 f., S. 91 f., S. 109 ff., S. 125 ff., S. 132 ff., S. 162 ff. und S. 187 ff. Einschlägiges auch bei Auguste Bailly: La réforme en France jusqu’à l’Édit de Nantes.Paris: Fayard 1960, S. 383 f., S. 390 ff., S. 476 ff. und S. 545 ff.; W[áadysáaw]. J[ozef]. Stankiewicz: Politics & Religion in Seventeenth-Century France. A Study of Political Ideas from the Monarchomachs to Bayle, as reflected in the Toleration Controversy.- Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1960, S. 41 ff.; Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts (Anm. 10), passim, insbes. S. 14 ff. und S. 65 ff.; Étienne Thuau: Raison d’état et pensée politique à l’époque de Richelieu.- Paris: Colin 1966, S. 359 ff.; Georges Livet: Les guerres de Religion. (1559–1598). 4. édition.- Paris: Presses Universitaires de France 1977 (= Que sais-je?; 1016), S. 63–68. Ausführlich wieder Church in seinem schon herangezogenen Werk Richelieu and Reason of State (Anm. 1), S. 24 ff. und S. 49 ff.; vom dems. – mit Schwerpunkt auf Bodin und L’Hôpital – auch: Constitutional Thought in Sixteenth-Century France. A Study in the Evolution of Ideas.- New York: Octagon Books 1969 (= Harvard Historical Studies; 47), S. 194 ff., S. 205 ff. und S. 243 ff. Überhaupt ist generell die hier nicht aufgeführte ›Bodin‹- und ›L’Hôpital-Literatur‹ zu konsultieren. Zum ganzen vgl. auch Myriam Yardeni: La conscience nationale en France pendant les guerres de religion. (1559–1598).- Louvain, Paris: Nauwelaerts 1971 (= Publications de la faculté des lettres et sciences humaines de Paris-Sorbonne. Sér. ›Recherches‹; 59). Zur engen Verflechtung der ›politiques‹ mit dem Gallikanismus vgl. Victor Martin: Le Gallicanisme et la réforme catholique. Essai historique sur l’introduction en France des décrets du Concile de Trente (1563–1615).- Paris: Picard 1919, S. 166 ff. und S. 345 ff., sowie die unten Anm. 17 angeführte Literatur. Von den bei Church (Anm. 1) erwähnten amerikanischen Dissertationen von W[alker]. Givan: The Politiques in the French Religious Wars (1560– 1593). Advocates of Religious Toleration and Strong Monarchy.- Diss. phil. New Haven, CT (Yale University) 1950, und Edmond Morton Beame: The Development of Political Thought During the French Religious Wars (1560–1595).- Diss. phi. Urbana, IL (University of Illinois) 1957, war mir nur letztere zugänglich. Lecler: Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation (Anm. 14), Band II, S. 92. Ebd., S. 91.
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tion der starken und souveränen Staatsgewalt die einzige Macht, die im allseitigen Umbruch der überkommenen politischen und ideologischen Bewegung einen geschichtlich noch nicht diskreditierten Führungsanspruch erheben darf. Die prinzipielle konfessionspolitische Neutralität des Staates stellt die Voraussetzung für die von ihm zu initiierende und durchzusetzende Politik der Sicherung des Lebensrechtes der heterogenen religiösen Bekenntnisse dar. Derart konkretisiert sich das humanistische Ideal konfessioneller Irenik in Frankreich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts politisch in der Konzeption eines über den Konfessionen stehenden Staates als Garanten religiöser und weltanschaulicher Toleranz. Es ist nicht zuletzt dieser Aspekt, der seine Attraktivität für die humanistisch geschulte Gelehrten- und Beamtenschicht ausmacht. Das noch 1562 nach dem gescheiterten Kolloquium von Poissy zustandegekommene Toleranzedikt für die Hugenotten bildet die erste Station auf dem zum Edikt von Nantes führenden Weg konfessionspolitischer Befriedung im Interesse uneingeschränkter Disposition staatlicher Gewalt.
Gallikanismus und Royalismus Ermöglicht wird diese Entwicklung auch durch den im Parlament vorwaltenden Gallikanismus.17 Gallikanismus und Royalismus gehören zusammen. Gleichweit entfernt von der ultramontanen papst- und spanientreuen Linie des strengen Katholizismus wie des politische und konfessionelle Separatrechte beanspru––––––––– 17
Grundlegend hier die Arbeiten von Victor Martin. Vgl. neben dem in Anm. 14 aufgeführten Werk außerdem ders.: Le Gallicanisme politique et le clergé de France.- Paris: Picard 1929 (= Université de Strasbourg. Bibliothèque de l’Institut de droit canonique; 3). Hervorzuheben der Abschnitt ›La lutte contre les Jésuites jusqu’en 1625‹, S. 87–137, sowie speziell zum Problem Richelieu und der Gallikanismus, S. 245 ff. Zu den Ursprüngen vgl. ders.: Les origines du Gallicanisme. Band I–II.- Paris: Bloud et Gay 1939. Sodann – außer dem Kapitel zum Gallikanismus unter Heinrich IV. bei Maugis: Histoire du Parlement de Paris (Anm. 10), Band II, S. 277–304 – Lucien Romier: Le royaume de Catherine de Médicis. La France à la veille des guerres de religion. Band I–II.- Paris: Perrin 1922, Band II, S. 89– 150; Henri Sée: Les idées politiques en France au XVIIe siècle.- Paris: Giard 1923, S. 35 ff. und S. 51 ff. Stoffreich und instruktiv sodann Joseph Lecler: Qu’est-ce que les libertés de l’église gallicane?- In: Recherches de science religieuse 23 (1933), S. 385–410 und S. 542–568; (1934), S. 47–85. Instruktiv gleichfalls wieder Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 22 ff. Außerdem Stankiewicz: Politics & Religion in Seventeenth-Century France (Anm. 14), S. 41–51; Léopold Willaert: Après le Concile de Trente. La restauration catholique 1563–1648.- [Paris]: Bloud & Gay 1960 (= Histoire de l’église depuis les origines jusqu’à nos jours; 18), S. 367–406; Henri-Jean Martin: Livre, pouvoirs et société à Paris au XVIIe siècle (1598–1701). Band I–II.- Genève: Droz 1969 (= Centre de recherches d’histoire et de philologie de la IVe section de l’école pratique des hautes études. VI: Histoire et civilisation du livre; 3), S. 180 ff.; Church: Richelieu and Reason of State (Anm. 1), S. 401–411. Zuletzt von Aimé-Georges Martimort: Le gallicanisme.- Paris: Presses Universitaires de France 1973 (= Que sais-je?; 1537), insbes. S. 58– 78: ›L’évolution du gallicanisme entre 1563 et 1642‹. Die Quellenschriften bei Jacques Lelong: Bibliothèque historique de la France. Band I.- Paris: Herissant 1768, S. 468–519.
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chenden Hugenottentums treffen sich die Gallikaner mit dem Königtum in der Statuierung der einen Nation als Heimat aller ›Guten Franzosen‹ über die konfessionellen Parteiungen hinweg. Theoretisch fundiert ist der Gallikanismus vor allem durch die Lehre vom droit divin der französischen Monarchie, deren politische Stoßrichtung in der Ausschaltung konkurrierender weltlicher und geistlicher Gewalten neben dem Königtum liegt. Ein Widerstandsrecht – vom Calvinismus wie vom Katholizismus aus ganz verschiedenen Gründen in Anspruch genommen – ist damit ebenso ausgeschlossen wie eine geistliche Suprematie des Papstes über die Krone. Somit fand die Politik nationaler Unabhängigkeit gegenüber Habsburg und dem Papsttum, wie sie als beherrschendes Element sowohl der Politik Heinrichs IV. wie Richelieus hervortritt, in der gallikanischen Doktrin ihre beste Stütze. Die Dupuys und andere Historiker und Theoretiker wurden denn auch von Richelieu direkt in die publizistische Pflicht genommen.18 Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß sich das Zusammenwirken zwischen Parlament und Königtum konfliktlos gestaltet hätte. Immer wieder hatte das Parlament sich gegen die Übergriffe der absoluten Staatsgewalt zu behaupten. Daß die Fronde unter Mazarin zunächst unter der Ägide des Parlaments stand, ist nur der sichtbarste Ausdruck eines auch unter Heinrich IV. und Richelieu latenten Konflikts. Gleichwohl blieben die Mitglieder des Parlaments selbst die besten Verteidiger der monarchischen Gewalt. [...] Die Geschichte schien die Bedeutung und die Stärke des Parlamentes zu belegen. Parlament und monarchische Gewalt schützen sich gegenseitig, und in Zeiten der Regentschaft hatte das Parlament wesentlich zur Sicherung der staatlichen Kontinuität beigetragen. [...] Es ist oberste Rechtsinstanz des Königreiches und richtet sich sowohl gegen die feudalen Gerichtsbarkeiten als auch gegen die kommissarischen Sondergerichte des ›tyrannischen Ministers‹. Das Parlament ist daher unmittelbar beteiligt an der Herstellung und Sicherung der staatlichen Ordnung, die von der Idee des Rechtes geleitet sein sollen. [...] Einem aktiven Politiker wie Richelieu, der sich mit dem Interesse des Staates identisch glaubt, mußte eine solche Interpretation der Rolle des Parlamentes als überlebt erscheinen. Für den politischen Schriftsteller jedoch blieb das Parlament ein Garant der Dauer und der Stärke der französischen Monarchie. Mit dem Hinweis auf das Recht und die Nützlichkeit, königliche Erlasse zu verifizieren, konnte die absolute Gewalt des Monarchen mit der Idee der legitimen und gerechten Monarchie rational in Einklang gebracht werden.19
Geistiges Kräftefeld des Späthumanismus In Paris konnte Opitz das politische und ideologische Zusammenspiel zwischen dem nobilitierten Bürgertum und der königlichen Gewalt beobachten, das gleichermaßen seine Orientierung am Territorialfürstentum in Deutschland bestärken wie seine Reserve gegenüber dem konfessionellen Rigorismus zugunsten staatsloyalistischer Ideologien bekräftigen mußte. ––––––––– 18
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Vgl. Maximin Deloche: Autour de la plume du Cardinal de Richelieu.- Paris: Société française d’imprimerie et de librairie 1920, sowie unten S. 218 ff. Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 73 f.
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Die personelle Brücke zwischen den beiden Institutionen, mit denen Opitz laut Colerus in Paris vornehmlich in Kontakt trat, dem Parlament und der ›Akademie der Puteanen‹, bildet die Gestalt Jacques-Auguste de Thous. Opitz hat ihn persönlich nicht mehr kennenlernen können; er starb 1617. Bei dem von Colerus erwähnten Mitglied des Kreises der Puteanen handelt es sich um den Sohn de Thous. Gleichwohl ist es in einer Studie zur politischen Biographie Opitzens unerläßlich, die Gestalt Jacques-Auguste de Thous d. Ä. in die Betrachtung einzubeziehen. Nicht nur ist sein Leben geprägt von der Erfahrung des Bürgerkriegs, dessen Erinnerung auch im Umkreis der Dupuys lebendig blieb. Vielmehr wird in der Teilnahme de Thous an den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit zugleich das Fundament für seine politische Philosophie gelegt, die sein säkulares Geschichtswerk durchdringt und als sein Vermächtnis im Kreis der Puteanen fortlebt. Es sind die Dupuys und Rigault, die als exzellente Philologen für die Edition des großen unabgeschlossenen Werkes Sorge tragen, es erschließen, mit Beigaben versehen und nicht zuletzt gegen die Angriffe vor allem von seiten der Jesuiten verteidigen. Die Pflege des gelehrten Symposions steht durchaus in einer bereits von de Thou begründeten Tradition, zu dem dieser wie kaum ein zweiter auf Grund seiner umfassenden politischen und gelehrten Kontakte prädestiniert war. Auch der organisatorische Kristallisationspunkt ist der nämliche. So wie de Thou eine große, von den Dupuys später mustergültig erschlossene Bibliothek aufgebaut hatte und zugleich von Heinrich IV. zum Konservator der königlichen Sammlungen bestellt worden war, so gruppierte sich die gelehrte Elite bei den Dupuys um deren famose Privatbibliothek und – nach dem Tode Rigaults – um die Pflege der Königlichen Bibliothek, der sie ihre Schätze teilweise vermachten. Die politischen Überzeugungen der älteren Generation des Bürgerkriegs und der jüngeren, in der Monarchie Richelieus aufsteigenden Generation berühren sich vielfach. Gelehrte Tradition – nicht zuletzt die Erbschaft Pithous – und politische Motivation – nun freilich unter den neuen Bedingungen des Frühabsolutismus – begründen ein dichtes Geflecht von Korrespondenzen. Dieses wird nur sichtbar, wenn man weit genug ins 16. Jahrhundert zurückgeht. Gleichwohl fehlt unbegreiflicherweise für de Thou – genauso wie für die Dupuys – die große moderne Biographie. Die imponierende Erschließung der französischen Geschichte der Frühen Neuzeit insbesondere durch die Schule der Annales ist der biographischen Erforschung des französischen Späthumanismus bisher nicht zugute gekommen. Die vorliegenden Arbeiten sind durchweg veraltet und keineswegs mehr hinreichend. Die dringend benötigten Biographien de Thous und der Dupuys würden bei richtiger Anlage zugleich das Bild der politischen Physiognomie des europäischen Späthumanismus entscheidend verändern. Die nachstehenden Hinweise können für diese Aufgabe in keiner Weise einen Ersatz bieten, sondern allenfalls das intellektuelle und politische Kräftefeld umreißen, in das Opitz in Paris hineingeriet und das mit seiner eigenen politischen Biographie augenfällig konvergierte.
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Der Vater Jacques-Auguste de Thous: Christofle de Thou De Thous Vita ist beruflich wie politisch gleichermaßen durch Familien- wie durch Amtstradition bestimmt. Er entstammte einem Geschlecht, das bereits seit zwei Generationen Parlamentspräsidenten in Paris gestellt hatte und in dieser Funktion über spezifische Bindungen an das Königtum verfügte, wie sie für viele Mitglieder der noblesse de robe typisch blieben. Dem Vater Christofle de Thou gelang der entscheidende Aufstieg zum ersten Präsidenten des Pariser Parlaments; er war eine einflußreiche Gestalt der Politik unter Heinrich II., Karl IX. und Heinrich III. Sein Bild in der Forschung schwankt erheblich, ohne daß es jemals zu einer kontroversen Diskussion gekommen wäre, die eine Klärung in den – gerade in bezug auf seinen Sohn – wichtigen Fragen seiner politischen Orientierung herbeigeführt hätte. Düntzer, der sich vor mehr als einem Jahrhundert um eine gewissenhafte, gleichwohl unzureichende Biographie Jacques-Auguste de Thous bemüht hat, macht sich weitgehend die Glorifizierung zu eigen, mit der der Sohn den Vater in seinem Geschichtswerk und in seinen Memoiren umgeben hat. Danach glaubte er, obgleich selbst Katholik, man dürfe die Hugenotten nicht in blindem Hasse, der damals fast ganz Frankreich zerriß, mit Feuer und Schwert vernichten, sondern müsse sich mit ihnen auf gütlichem Wege abfinden, weil an der Erhaltung des Friedens alles gelegen sey, und, da er bei dem Könige in hohem Ansehen stand, so vermochte er es, jene gewaltigen Umwälzungen, die das Königreich später erschütterten, von ihm abzuhalten, [...].20
Belege vermag der der protestantischen Sache wohlgesonnene Biograph freilich nicht beizubringen. Die Gegenposition kommt in dem wenig später erschienenen Artikel der Nouvelle Biographie Générale zum Ausdruck. Hier figuriert de Thou als Gegner der Toleranzbewegung, als teilweise zynischer Verfechter der Staatsraison, schließlich als freidenkender, jedoch den politischen Einsatz scheuender Taktiker.21 Die Umrisse eines ausgewogeneren Bildes zeichnen sich in der quellenmäßig wohlfundierten, das politische Profil jedoch eher beiläufig streifenden Arbeit von Filhol über de Thou als großen Reformator des Gewohnheitsrechts ab.22 Drei Komponenten hebt Filhol als Konstanten des politischen Wirkens de Thous hervor, die in der Tat bis tief in das 17. Jahrhundert hinein für die de Thous wie für die Dupuys und ihre Freunde verbindlich bleiben werden: seine Katholizität, seinen Gallikanismus und seinen Royalismus. Nachdem Christofle de Thou 1554 zum Präsidenten des Pariser Parlaments avanciert war, kam es 1562 zum ersten gravierenden Konflikt mit dem Königshaus, als sich Teile des Parlaments der Registratur des berühmten Edikts von –––––––––
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Heinrich Düntzer: Jacques Auguste de Thou’s Leben, Schriften und historische Kunst verglichen mit der der Alten. Eine Preisschrift.- Darmstadt: Leske 1837, S. 1 f. Nouvelle biographie générale [...]. Sous la direction de [Ferdinand] Hoefer. Band I–XLVI.Paris: Didot 1852–1866, Band XLV (1866), S. 253 f. René Filhol: Le premier Président Christofle de Thou et la réformation des coutumes. Thèse Poitiers. Faculté de droit.- Paris: Recueil Sirey 1937.
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Katharina von Medici und Karls IX. widersetzten.23 Das Edikt, so lautet der generelle Einwand, »est ouvertement contraire à l’état ancien du royaume, il ›reçoit‹ une nouvelle religion, chose redoutable en une monarchie.«24 Interessant nimmt sich de Thous spezielleres Argument aus. Er bekräftigt, »que le Parlement s’indigne qu’on autorise deux religions dans l’Etat, ›dont la société sera entièrement violée et dissolue, l’unité de religion étant de lieu des Etats‹.«25 Das klingt nicht nach konfessioneller Ereiferung. Für de Thou verlängert sich die konfessionelle Spaltung in der Friktion von Staat und Gesellschaft, die es unter allen Umständen zu verhindern gilt. Die fortgeschrittenere königliche Position, im Namen der etatistischen Norm den Gedanken konfessioneller Toleranz durchzusetzen und institutionell zu verankern, hat er noch nicht mitvollzogen; für ihn ist die Einheit des Staates und der Gesellschaft nur in Liaison mit der einen Staatsreligion gewährleistet. Konfessionelle Mäßigung und vornehmliche Wahrung des Staatsinteresses scheint er denn auch im Fall Anne du Bourgs beobachtet zu haben: Christofle de Thou avait émis une opinion ›de moindre hardiesse et entremeslée de douceurs‹, demandant que l’on continuât à juger en la matière conformément aux arrêts de la Cour. Après l’interminable procès où du Bourg mit en jeu pour sauver sa tête tous les artifices de procédure, ce fut pourtant de Thou qui signa l’arrêt de condamnation. Il s’efforça du moins avec succès de sauver la vie des autres conseillers compromis avec du Bourg et de les faire échapper aux fureurs du président de Saint-André.26
Seinen königstreuen Gallikanismus stellte de Thou mit seiner Zurückweisung der papistischen Ideologie Tanquerels theoretisch und mit seinem Kampf gegen die Einführung der Bestimmungen des Tridentiner Konzils auf französischem Boden praktisch unter Beweis.27 Der von Heinrich III. zeitweilig betriebenen Sammlung der Liga sowie der Restauration des Katholizismus widersetzte er sich folgerichtig im wohlverstandenen Interesse des Staates, das sich bereits bei ihm als Fixpunkt politischen Handelns abzeichnet.28 Schließlich verfügte bereits Christofle de Thou über glänzende Kontakte zu den Humanisten des 16. Jahrhunderts, angefangen bei Ronsard. Er gehörte zum Kreis um Jean Morel, der sich um 1555 in Paris gebildet hatte. Dort verkehrten gleichzeitig oder nacheinander u.a. Ronsard, du Bellay, Turnèbe, die Dichterjuristen Forcadel und Guy du Faur de Pibrac (dem Bodin die ›Six livres de la République‹ widmete), der Erste Präsident des Pariser Parlaments Christofle de Thou, die Kanzler Olivier und Morvillier, und gewissermaßen als Haupt dieser illustren Gesellschaft: Michel de L’Hospital.29
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Vgl. Lucien Romier: Catholiques et huguenots à la cour de Charles IX. Les états généraux d’Orléans, le colloque de Poissy, le ›concordat‹ avec les protestants, le massacre de Vassy (1560–1562).- Paris: Perrin 1924, S. 285 ff., insbes. S. 303 ff. Ebd., S. 303. Ebd., S. 304. Filhol: Le premier Président Christofle de Thou et la réformation des coutumes (Anm. 22), S. 20. Vgl. ebd., S. 20 ff. Vgl. ebd., S. 28 ff. Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 28 f.
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Portrait Jacques-Auguste de Thous So sind wesentliche Elemente der Vita Jacques-Auguste de Thous im Wirken seines Vaters vorgegeben. Wenn sie bei ihm teilweise prägnanter hervortreten, so spiegelt sich darin auch der Fortschritt, den der monarchische Gedanke in Theorie und Praxis unter Heinrich IV. nimmt.30 Obwohl der Name de Thous an entscheidenden Punkten der Politik Heinrichs IV. erscheint, müssen wir in ihm weniger einen politischen Techniker sehen als vielmehr den Repräsentanten einer geistig-politischen Atmosphäre, in der die Politik Heinrichs IV. – von diesem stets pragmatisch begründet – ihren theoretischen ›Überbau‹ erhält. So wird der Einsatz solcher Persönlichkeiten in innenpolitischen Verhandlungen stets zu einer ›Demonstration‹ für eine bestimmte politische Linie und Verfahrensweise.31
Im folgenden geht es wiederum nicht um biographische Details, sondern um signifikante Einsatzstellen. Daß das Erlebnis der Bartholomäusnacht ein lebensbestimmendes wurde, findet man überall hervorgehoben; daß und wie de Thou es verarbeitete, ist nicht zuletzt das Resultat seiner vielfältigen humanistischen ––––––––– 30
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Solange keine Biographie de Thous existiert, bleibt man verwiesen auf die biographischen Abrisse in Michauds Biographie Universelle Ancienne et Moderne (Nouvelle édition. Band I–XLV.- Paris: Desplaces, Leipzig: Brockhaus 1854–1865, Band XLI, S. 436–442) und in Hoefers Nouvelle biographie générale (Anm. 21), Band XLV, S. 255–262. Lesenswert auch der Artikel von Henri Hauser in: La Grande Encyclopédie [...]. Sous la direction de [André] Berthelot. Band I–XXXI.- Paris: Lamirault, Paris: Société Anonyme de la Grande Encyclopédie 1885–1902, Band XXXI, S. 40. Vgl. auch den – vor allem wegen der biographischen Informationen wichtigen – Artikel von Robert Barroux im: Dictionnaire des Lettres Françaises. Le seizième siècle.- Paris: Fayard 1951, S. 664–665. Dazu ergänzend von deutscher Seite: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...]. Band XLIII. Leipzig: Zedler 1745, Sp. 1716–1720; Christian G. Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon [...]. Band IV.- Leipzig: Gleditsch 1751, Sp. 1177–1180. Die hier nicht erneut aufzuführende, unergiebige Preisschriftenliteratur über de Thou verzeichnet in: Catalogue de l’histoire de France. Band X.- Paris: Didot 1870. Reprint Paris: Bibliothèque Nationale 1969, S. 284, sowie bei Alexandre Cioranesco: Bibliographie de la littérature française du seizième siècle.- Paris: Klincksieck 1959, S. 662 f., und bei Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 29, Anm. 14. Immer noch am ausführlichsten (auf der Basis der Memoiren) J[ohn]. Collinson: The Life of Thuanus, with Some Account of his Writings, and a Translation of the Preface to his History.- London: Longman, Hurst, Rees and Orme 1807, S. 1–278. Heranzuziehen auch (ungeachtet vieler nötiger Vorbehalte) die Arbeit von Düntzer: Jacques Auguste de Thou’s Leben, Schriften und historische Kunst (Anm. 20). Genealogisches Material zur Familie auch bei Henry Harrisse: Le Président de Thou et ses descendants. Leur célèbre bibliothèque, leurs armoiries et les traductions françaises de J.A. Thuani historiarum sui temporis, d’après des documents nouveaux.- Paris: Leclerc 1905, S. 141–216: ›Troisième partie: Les de Thou de Meslay, leurs armoiries‹ (mit einer Stammtafel). Schließlich ist zu verweisen ist auf den Eintrag bei Jean Pierre Niceron: Mémoires pour servir à l’histoire des hommes illustres dans la république des lettres. Avec un catalogue raisonné de leurs ouvrages. Band IX.- Paris: Briasson 1729, S. 309–359: Jaques [!] Auguste de Thou. Exemplar der Staatsbibliothek Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Am 344. Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. (Anm. 10), S. 150.
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Kontakte. Er hat nicht nur die Großen der ›Pléiade‹, Ronsard, Baïf, Belleau, noch gekannt. Das Studium der Rechte, zunächst in Orléans und Bourges, dann in Valence, brachte ihn in Verbindung mit Cujas und Joseph Justus Scaliger als zwei überzeugten Vertretern des späthumanistischen Toleranzgedankens. Dessen Praktizierung lernte er in der Figur des Paul de Foix kennen.32 De Foix gehört wie du Bourg zu denjenigen, die 1559 gegenüber Heinrich II. entschieden für religiöse Duldung plädierten. Während du Bourg diesen Einsatz mit seinem Leben bezahlte, kam de Foix heil davon. Doch blieb er mit dem Stigma der Häresie noch behaftet, nachdem er – wie so viele andere Gestalten im Umkreis de Thous – unter Katharina von Medici und Karl IX. eine neuerliche Annäherung an das Könighaus und damit den Katholizismus vollzogen hatte. Während seiner im Auftrag der Krone unternommenen politischen Missionen in Italien sah sich de Foix stets wieder mit dem tiefen Mißtrauen der Kurie konfrontiert. De Thou hat de Foix auf einer dieser Reisen 1573 begleitet. Sie brachte ihm nicht nur die Bekanntschaft weiterer bedeutender Gelehrter vor allem in Venedig und Rom (Muret, Orsini, Manutius, Cardanus u.a.), sondern vermittelte ihm in der unmittelbaren Umgebung von de Foix auch eine Vorstellung von der militanten und völlig unbeugsamen Politik des Katholizismus unter Papst Gregor XIII. Es ist schwer vorstellbar, daß diese Erfahrung nicht seine Lösung von konfessionellen Bindungen befördert haben soll, wie sie sich später als entscheidende Triebkraft seines politischen Denkens und Handelns immer wieder manifestierte. Die sich sodann in Paris anschließenden Beziehungen zu Pithou, zu Claude Dupuy, zu Loisel u.a. waren – vermittelt über die gallikanische Bewegung – geeignet, diese Orientierung zu bekräftigen. Aufschlußreich und bezeichnend ist in diesem Zusammenhang de Thous Agieren unter Heinrich III. angesichts der rapide anwachsenden ligistischen Bewegung. Schon Anfang der achtziger Jahre (1581) hatte de Thou – u.a. wiederum zusammen mit Claude Dupuy – an der Beilegung der Religionsstreitigkeiten zwischen Katholiken und Hugenotten in Guyenne mitzuwirken. Daß Aufgaben dieser Art in streng royalistischer – und das hieß für de Thou jetzt zunehmend in konsequent etatistischer – Gesinnung angepackt wurden, zeigt sich besonders deutlich während der Herrschaft der Guisen in Paris. Es ist de Thou, der von Chartres aus – wo sein Onkel Nicolas de Thou die gleiche königstreue Gesinnung an den Tag legte – in die Normandie gesandt wurde, um dort in allen größeren Ortschaften für Heinrich III. zu werben. »De Thou, bien que sans illusions sur l’habileté politique d’Henri III, était cependant très royaliste« heißt es dazu lakonisch in der Nouvelle Biographie Générale.33 Auch Düntzer streift – in freilich unangemessener Sprache – den Sinn dieser Mission de Thous, wenn er schreibt, daß es in jener Zeit der Erschütterungen die Sorge jedes wohldenkenden Bürgers seyn mußte, den Staat auf jede Weise außer Gefahr zu setzen. Auch war der Name des Königs damals fast
––––––––– 32 33
Vgl. die einschlägigen Lexikon-Artikel. Nouvelle biographie générale (Anm. 21), Band XLV (1866), Sp. 257.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung allgemein verhaßt und keine Hoffnung vorhanden, die Würde desselben wieder herzustellen, ehe dem Staate selbst seine Ruhe wieder gegeben war.34
So liegt es ganz auf dieser Linie, wenn sich de Thou auf der Ständeversammlung in Blois dem – erfolgreich durchgesetzten – Anspruch der Liga widersetzte, Heinrich von Navarra von der Thronfolge auszuschließen. Und entsprechend ist de Thou an der überraschenden Wendung der letzten Regierungsjahre Heinrichs III. keinesfalls unbeteiligt. Die Annäherung an den Gegenspieler Heinrich von Navarra wird von ihm – wie von Gaspard de Schomberg – im Interesse einer Stärkung der königlichen Macht vorbehaltlos mitgetragen. Deshalb vollzog sich – ungeachtet der verschiedenen Bekenntnisse – der Übergang de Thous in den Dienst Heinrichs IV. denn auch reibungslos. Und wiederum im Zusammenwirken mit de Schomberg wirkte de Thou auf Heinrich von Navarra ein, im Staatsinteresse den Übertritt zum Katholizismus zu vollziehen.35 ––––––––– 34
35
Düntzer: Jacques Auguste de Thou’s Leben, Schriften und historische Kunst (Anm. 20), S. 18. Mit de Schomberg tritt de Thou wieder eine Gestalt entgegen, an der sich die hier verfolgte Ausbildung etatistischer Mentalität im Umkreis Heinrichs IV. besonders signifikant beobachten läßt. Schombergs Anfänge standen – gefördert vor allem durch das Sturmsche Gymnasium in Straßburg – ganz im Zeichen des Calvinismus, für den er als geborener Sachse an den deutschen Höfen (Zweibrücken, Kassel) warb und für den er 1562 in Frankreich kämpfte, bevor er den Übertritt zum royalistischen katholischen Flügel vollzog. Er erwies sich nach der Konversion Heinrichs IV. – wie so viele andere – als »duldsame[r] Bekenner der römischen Kirche, [die] wie de Thou, in der Uebung katholischer Ceremonien keinen Abfall von ihrer innersten Ueberzeugung erblickten.« (Friedrich Wilhelm Barthold: Kaspar von Schönberg, der Sachse, ein Wohlthäter des französischen Reichs und Volks.- In: Historisches Taschenbuch N.F. 10 (1849), S. 165–362, S. 211). Was aber heißt das anderes, als daß die konfessionelle und zumal die dogmatische Fixierung einer Paralysierung unterliegt, die ihrerseits als die wichtigste Voraussetzung für den Aufstieg des ›politischen‹ Flügels begriffen werden muß? Gewiß hat de Schomberg dem Königshaus unschätzbare militärische und diplomatische Dienste geleistet. Seinem Geschick ist es zuzuschreiben, wenn es 1568 gelang, die Vereinigung des holländischen Heeres unter Wilhelm von Oranien und der deutschen Truppen unter Wilhelm von Nassau zu verhindern – eines der folgenschwersten Ereignisse in der politischen Geschichte des Calvinismus. Seine große Stunde kam jedoch erst mit dem Aufstieg Heinrichs von Navarra. Sie eröffnete ihm nicht nur die Möglichkeit, den Makel seines Abfalls vom Hugenottentum zu tilgen, sondern auch »den Segen religiöser Duldung über Frankreich herabzurufen.« (Ebd., S. 292). Auch de Schomberg hat sich am Ediktenwerk beteiligt. Seine von de Thou überlieferte Ansprache an Heinrich IV., die Versöhnung zwischen den Ligisten und Royalisten durch die Konversion zu befördern, steht ganz unter dem Leitstern der Friedens- und Staatsidee. »Während die Religion uns gegen einander waffnet, erleichtern wir ihnen [den ausländischen Mächten] die Mittel, den Staat und die Religion selbst umzustoßen. Deshalb, Sire, wenden Sie nicht die Gewalt an, weil der Krieg Ihnen vielleicht eben so unheilvoll als Ihren Feinden sein kann. Denken Sie eher Ihre Unterthanen in einem festen Frieden zu einigen. [...] Gibt es endlich etwas Nützlicheres, als die Ordnung überall nach der Verwirrung durch den Krieg wiedereinzuführen? Ihre Unterthanen ihrer Pflicht wiederzugeben, und Ihr Ansehn wiederzubegründen? Sie dürfen, Sire, vom Frieden alle diese Wohlthaten erwarten. [...] Bürgerkrieg macht Fürsten und Völker gleich! aber gleich nach dem Frieden gewinnt der Fürst bald das Uebergewicht, welches der Krieg ihm entzog; [...].« (Ebd., S. 328 ff.). Es ist dies die gleiche politische Überzeugung, die auch aus de Thous Werk spricht.
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Dieses Verhalten ist Ausdruck seiner von Bürgerkrieg und Späthumanismus gleichermaßen geprägten konfessionspolitischen Überzeugung hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Religion. Die Religion sei zwar – so de Thou in einem traktatähnlichen Brief während seiner Zeit als Parlamentsrat in Tours – ›comme la teste en l’Estat‹, womit de Thou wie alle ›Politiker‹ seiner Zeit deutlich macht, daß er Staat und Religion nicht voneinander trennen will. Die Religion könne aber nicht bestehen ohne den übrigen Teil des ›Körpers‹, es habe keinen Sinn, nur die Religion zu retten, den Körper aber verderben zu lassen. ›Je sçay bien que l’on dira que ce sont langages de politiques; mais je l’avoue, car c’est une qualité fort nécessaire aux princes, et à ceux qui sont appellés au gouvernement des Estats pour les bien policer, et les y maintenir en paix et repos; et c’est pourquoy aussi que ceux qui déseignoient il y a si longtemps de planter la désobéissance, et par la rebellion introduire toute confusion et desordre, ont rendu par leurs impostures ce nom, spécieux en soy, si odieux au simple peuple, auqu’el ils ont fait hair leur bien, pour embrasser ce qui devoit estre enfin leur ruine‹. Das ist die Haltung, die Heinrichs Konversion ermöglicht, ein Schritt, der nur deshalb Erfolg haben kann, weil zwischen den sich bekämpfenden Parteien Kräfte entstehen, die sich von dieser Art der Argumentation faszinieren lassen und sie öffentlich in bewußtem Einsatz für Heinrich anzuwenden bereit sind. So sehen wir de Thou [...] als konsequenten Apologeten des ›sault perilleux‹. Anders als die dogmatischen Protestanten sieht er dieses Ereignis nicht als den Verrat an ihrer Sache, anders als viele Katholiken begrüßt er es nicht einfach als Rückkehr des Königs in den Schoß der alten Kirche, als ›abjuration‹, als Erkenntnis eines früheren Irrtums. Er gibt dem Akt der Konversion an sich einen positiven Sinn, der nicht nur vom ›Politischen‹, von der Staatsräson her zu fassen ist, sondern auch in der Tatsache liegt, daß der König mit diesem Schritt eine Ordnung der Dinge in die Wege leitet und damit ein Gott gefälliges Werk unternimmt.36
Daß er aus dieser Überzeugung heraus »in einer ernsthaft betriebenen politischen Toleranz gegenüber dem Protestantismus den einzigen Weg zu einer Lösung der Probleme sieht, hinter dem die dogmatischen Auseinandersetzungen zurücktreten müssen«, ist selbstverständlich und bestimmt seine Mitwirkung am Ediktenwerk Heinrich IV. als Präsident des Pariser Parlaments.37 Umgekehrt – und wiederum nur konsequent – widersetzt er sich, wie schon sein Vater, der Rezeption der Tridentiner Beschlüsse in Frankreich und insbesondere der Wiedereinsetzung des 1594 vom Pariser Parlament dispensierten Jesuitenordens.38 Die Überarbeitung der Statuten der Pariser Universität atmet den gleichen Geist.39 ––––––––– 36
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Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. (Anm. 10), S. 154. Ebd., S. 151. Vgl. Antoine Arnauld: Relation de ce qui s’est passé en M.DCIV. au rétablissement des Jésuites, tirée de l’Histoire de M. le Président de Thou. Livre 132. M.DCCXVII. [mit gesonderter Paginierung in:] Les plaidoyers de M. Antoine Arnauld [...].- [s.l. s.p.] 1716. Dazu F[rançois].-T[ommy]. Perrens: L’église et l’état en France sous le règne de Henri IV et la régence de Marie de Médicis. Band I–II.- Paris: Durand, Pedone-Lauriel 1872, Band I, S. 172 ff. und S. 228 ff., sowie Martin: Le Gallicanisme et la réforme catholique (Anm. 14), S. 317 ff. Zuletzt Claude Sutto: Le contenu politique des pamphlets anti-jésuites français à la fin du XVIe siècle.- In: XVIIe Colloque international de Tours. Théorie et pratique politiques à la Renaissance.- Paris: Vrin 1977 (= De Pétrarque à Descartes; 34), S. 233–246. Vgl. A. Joseph Rance-Bourrey: La réforme de l’Université de Paris sous Henri IV., d’après deux manuscrits de la bibliothèque Méjanes.- Aix: Makaire 1885.
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So wirkte es wie ein Siegel auf das politische und konfessionelle Vermächtnis de Thous, wenn es seinen Gegnern nach jahrelangem Kampf gelang, das größte Werk zeitgenössischer Geschichtsschreibung, das das 16. Jahrhundert hervorgebracht hat, 1609 auf den Index verbotener Bücher zu setzen.40
Späthumanistisches Vermächtnis de Thous im Spiegel einer deutschen Übertragung von Zacharias Geizkofler Ein Resümee seiner leitenden politischen Vorstellungen hat de Thou in der Einleitung zu seinem großen Geschichtswerk niedergelegt. Sie darf als sein politisches Vermächtnis gelten und stellt zugleich ein gewichtiges Zeugnis politi–––––––––
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Zum Kampf um die Indizierung des berühmten Werkes vgl.: Perrens: L’église et l’état en France (Anm. 38), Band I, S. 341 ff.; A. Joseph Rance-Bourrey: J.-A. de Thou. Son Histoire Universelle et ses démêlés avec Rome.- Thèse théol. Paris 1881, insb. S. 87 ff.; Franz Heinrich Reusch: Der Index der verbotenen Bücher. Band I–II.- Bonn: Cohen 1883–1885. Band II, S. 192–195; Manlio D. Busnelli: Les relations de Fra Paolo Sarpi et du Président J.-A. de Thou d’après leur correspondance inédite Venise – Paris 1604–1617.- In: Annales de l’Université de Grenoble. Section lettres-droit. Nouv. sér. III/2 (1926), S. 1–30. Sodann ausführlich Alfred Soman: De Thou and the Index. Letters from Christophe Dupuy (1603– 1607).- Genève: Droz 1972, S. 13–28: ›Introduction‹. Das von Samuel Kinser: The Works of Jacques-Auguste de Thou.- The Hague: Nijhoff 1966 (= Archives Internationales d’Histoire des Idées; 18), S. VII f., angekündigte Werk: ›The Condemnation of Jacques-Auguste de Thou’s History of his Time. Genf 1967‹, ist m.W. nicht erschienen. In diesem Zusammenhang ist auch de Thous großes, gegen die Anfeindungen von seiten der Jesuiten geschriebenes polemisch-satirisches Gedicht heranzuziehen: Posteritati. J. Aug. Thuani Poematium, In Quo Argutias quorundam importunorum Criticorum in ipsius Historias propalatas refellit. Opus huc usque fere sepultum, nunc redivivum Notisque perpetuis illustratum Operâ atque Studio I. Melanchthonis.- Amsterdam: Elzivir 1678 (Staatsbibliothek Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Yc 8706). Der Text hier S. 1–12, eine eingehende Exegese Melanchthons S. 13–74. Erstdruck in der von Pierre Dupuy und Nicolas Rigault veranstalteten fünfbändigen, mit einem Vorwort von Lingelsheim versehenen Ausgabe Orléans (i.e. Genève) 1620 im Rahmen der – vermutlich gleichfalls von Dupuy und Rigault stammenden – Biographie de Thous: Viri Illvstris Iac. Aug. Thuani [...] Commentariorvm de vita sva, Libri sex. 1621 [mit gesonderter Paginierung in:] Illustris Viri Jacobi Avgvsti Thvani [...] Historiarvm Svi Temporis Ab anno Domini 1543. usque ad annum 1607. Libri CXXXVIII. Band I.- Orléans (i.e. Genève): [s.p.] 1620, S. 1–102, S. 81–87. Dazu die einschlägigen, über das Register leicht zu erschließenden Briefe in: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Nach Handschriften hrsg. von Alexander Reifferscheid.- Heilbronn: Henninger 1889 (= Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts; 1) [mehr nicht erschienen!]. Die Vorrede des fingierten Herausgebers Lingelsheim hier S. 735 f. In französischer Fassung: Apologie pour l’Histoire de Monsieur de Thou. Traduite d’un poème latin dédié à la postérité.- Amsterdam: Desbordes 1705. U.a. wieder abgedruckt in: Mémoires de la vie de Jacques-Auguste de Thou. Première édition. Traduite du latin en françois.- Rotterdam: Leers 1711, S. 210–226: ›A la postérité‹ (Bibliothèque Nationale (BN) Paris: Ln27 19601). Dazu an gleicher Stelle: ›Remarques sur la traduction du poème à la postérité‹, S. 268–276. Englische ›concise translation‹ unter dem Titel ›To posterity. (Written March 15, 1611)‹ bei Collinson: The Life of Thuanus (Anm. 30), S. 76–81. In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch Pierre Dupuys Verteidigungsschrift: Apologie pour Monsieur le Président
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scher Philosophie aus dem Umkreis Heinrichs IV. dar. Dieser Koinzidenz mit der Politik des Königshauses verdankte sie ihre öffentliche Propagierung und ihre rasche, weit über die Grenzen Frankreichs hinausreichende Verbreitung.41 Die erstmals im ersten Teil der lateinischen Fassung des de Thouschen Geschichtswerkes im Jahre 1604 gedruckte Vorrede an Heinrich IV., die seither alle Auflagen begleitete, wurde in der Übersetzung von Jean Hotman de Villiers noch im gleichen Jahr separat gedruckt und – teilweise auch in Übersetzungen – wiederholt vorgelegt.42 In Deutschland wurde sie auszugsweise 1620 durch Zacharias Geizkofler eingeführt.43 Geizkofler entstammte einem berühmten Geschlecht von Juristen- und Humanisten in der schwäbischen Reichsstadt Augsburg, das über das Gaststätten-, Münz- und Baugewerbe den Aufstieg im Dienst der Fugger bzw. des Kaiser–––––––––
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de Thou sur son Histoire. M.DC.XX.- In: Recueil de pièces historiques et curieuses. Band I–II.- Delft: Vorburger 1717 (BN Paris: Lb35 896). Hier im ersten Band mit gesonderter Paginierung die ›Apologie‹ mit der Unterschrift ›Signé P. Dupuy‹. Vgl. zum folgenden und insbes. zur überaus komplizierten Druckgeschichte des de Thouschen Geschichtswerks Kinser: The Works of Jacques-Auguste de Thou (Anm. 40), passim, sowie Harrisse: Le Président de Thou (Anm. 30), S. 91 ff.: ›Les traductions françaises de L’Historia sui temporis de J.-A. de Thou‹ (auch in: Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire (1904), S. 259–267, S. 327–339, S. 392–400, S. 487–497 und S. 541–550). Stets heranzuziehen zur Geschichte des de Thouschen Werkes – insbes. zur Kontroverse mit Rom und den Jesuiten – auch die reichhaltiges dokumentarisches Material enthaltenden Bände der Ausgabe London 1733. Hier Band VII: Sylloge Scriptorum Varii generis et argumenti: In Qua Plurima de vita, moribus, gestis, fortuna, scriptis, familia, amicis et inimicis Thuani, scitu dignissima continentur; ex quibus partim antehac editis, partim ineditis, nunc vero primum collectis, atque huic editioni Historiae additis, conficitur Tomus Septimus.- London: Buckley 1733 (BN Paris: F La20 10). Vgl. zu dieser berühmten, von Samuel Buckley veranstalteten Ausgabe Alfred Soman: The London Edition of De Thou’s History: A Critique of Some Well-Documented Legends.- In: Renaissance Quaterly 24 (1971), S. 1–12. Vgl. auch den entsprechenden Band XV der ersten französischen Gesamtausgabe London (i.e. Paris): [s.p.] 1734. Zur schwierigen Frage der Memoiren de Thous eingehend die Arbeit von Kinser: The Works of Jacques-Auguste de Thou (Anm. 40), S. 168–201. Préface de Monsieur le Président de Thou, sur la première partie de son Histoire. Mise en François par le S[ieu]r de V[illiers] H[otman].- Paris: Le Bret 1604 (BN Paris: La20 12; hiernach im folgenden zitiert). Die Vorrede ist noch dem großen Werk von Élie Benoist: Histoire de l’Edit de Nantes. Band I.- Delft: Beman 1693, vorangestellt (Bl. h2r–i4v). Vgl. Kinser: The Works of Jacques-Auguste de Thou (Anm. 40), S. 297 f. So wie im Deutschen (dazu ebd., S. 298) liegt auch im Englischen ein Auszug mit symptomatischem Titel vor: An Extract out of Thuanus, his Preface to his History [...] Concerning Toleration of Differences in Religion.- London: Brewster 1660 (vgl. ebd., S. 298 f.). Eine englische Übersetzung der gesamten Vorrede dann bei Collinson: The Life of Thuanus (Anm. 30), S. 387– 443, unter dem Titel: ›The Preface of Thuanus; or, Dedication of his History to Henry IV.‹ (dazu ebd., S. 299 f.). Zacharias Geizkofler: Drey Politische Discurs Deß Edlen vnd Gestrengen Herrn Zachariae Geitzkofflers von Gailenbach zu Haunßheim Ritters/ etc.- [s.l. s.p.] 1620. Daran angehängt Bl. F4r–H2r: ›Extract vnnd Auszug auß Herrn Jacobi Augusti Thuani/ deß fürtrefflichen Historici Praefation oder Vorred an König Henrich den IV. in Franckreich/ darauff sich Herr Geitzkoffler in vor gehendem Rahtschlag Referirt vnnd zihet.‹ (BN Paris: M 3433 und 3434).
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hauses genommen hatte.44 Gleich seinem jüngeren (und infolge seiner Selbstbiographie vielleicht bekannteren) Bruder Lucas, der als Syndikus für die Fugger tätig war, wählte Zacharias Geizkofler das juristische Studium u.a. bei Cujas in Bourges, stand zunächst gleichfalls im Dienst der Fugger, wechselte dann jedoch in diplomatischer Mission zu Erzherzog Ferdinand von Tirol über, wurde 1589 von Rudolf II. zum Reichspfennigmeister erhoben und avancierte schließlich zum kaiserlichen wirklichen Rat und Reichsritter – ein Paradigma für sozialen Aufstieg via gelehrte Qualifikation. Auf seinem Rittergut Haunsheim führte er die Reformation ein und schaffte die Leibeigenschaft ab. Da der lateinische wie der französische Text der Vorrede de Thous wiederholt analysiert worden ist, mag es angebracht sein, den Reflex des Traktats auf deutschem Boden kurz in seinen zentralen Kategorien zu studieren. Der Protestant gibt sich in seinem politischen Sendschreiben als Verfechter konfessioneller Toleranz zu erkennen. Nur so seien der »gemeine Fride« und des »Vatterlands wolfahrt« als höchste politische Güter zu bewahren.45 Dieses Konzept liegt auch dem de Thouschen Traktat zugrunde. Geizkofler setzt denn auch unvermittelt sogleich bei den religionspolitischen Passagen de Thous ein; die einleitenden und insbesondere die abschließenden, teilweise extensiven Panegyrica auf Heinrich IV. bleiben weitgehend ausgespart. Heinrich figuriert in ihnen als der große Friedensstifter, qui ayant par une faveur singulière de Dieu dompté tous ces monstres de rebellion et esteint le feu de nos partialitez, avez heureusement rendu la paix à la France, et à ceste paix adiousté deux choses que l’on iugeoit incompatibles: la Liberté et la Royauté.46
Die Freiheit, die dem Frankreich Heinrichs IV. aus Sicht de Thous geschenkt wird, ist eine solche, die es jedermann ermöglicht, »de penser ce qu’il veut et de dire librement ce qu’il aura pensé.«47 Doch signalisiert der Begriff in der bezeichnenden Konjunktion mit dem Begriff der ›Royauté‹ auch und gerade die unter Heinrich IV. sich ausbildende etatistische Souveränität, die es ihrem Repräsentanten gestattet, unabhängig von der Einwirkung staatsfremder – und das heißt vor allem konfessioneller – Mächte zu agieren. De Thous Geschichte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – so versichert die Vorrede zu wiederholten Malen – sucht im Medium der Geschichtsschreibung dieses politische Credo zu befördern. Sie ist ganz von dem aktuellen Inter––––––––– 44
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Zu den Geizkoflers vgl. – neben dem entsprechenden NDB-Artikel mit weiterer Literatur – Johannes Müller: Zacharias Geizkofler 1560–1617. Des Heiligen Römischen Reiches Pfennigmeister und oberster Proviantmeister im Königreich Ungarn.- Baden bei Wien: Rohrer 1938 (= Veröffentlichungen des Wiener Hofkammerarchivs; 3); Friedrich Blendinger: Michael und Dr. Lukas Geizkofler.- In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 8 (1961), S. 108–138; ders.: Zacharias Geizkofler.- In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 8 (1961), S. 163–197; Alois Schweizer: Lucas Geizkofler (1550–1620). Bildungsweg, Berufstätigkeit und soziale Umwelt eines Augsburger Juristen und Späthumanisten.- Diss. phil. Tübingen 1976. Geizkofler: Extract vnnd Auszug (Anm. 43), Bl. F2v. Préface de Monsieur le Président de Thou (Anm. 42), S. 3 f. Ebd., S. 5.
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esse inspiriert, ihrerseits dem konfessionellen Fanatismus und damit der Spaltung des Staatsvolkes entgegenzuwirken, indem sie Präferenzen nicht zu erkennen gibt und sich um größtmögliche Objektivität und Neutralität bemüht. »J’ay tant qu’il m’a esté possible par mes paroles adoucy l’aigreur des choses, sans précipiter mon iugement, ou m’égarer dans la médisance.«48 Entsprechend wird ihr Autor es vorziehen, »estre accusé de temerité que d’ingratitude« – ein im konfessionellen Zeitalter schwerlich vorstellbares Bekenntnis, welches an eine der Wurzeln des prudentia-Ideals im 17. Jahrhundert heranführt.49 Nicht mehr eingegangen in die deutsche Version ist dann auch de Thous beschwörender Appell an Heinrich IV., das Werk der Pazifizierung unter allen Umständen zum Abschluß zu bringen. Empoignez donc, SIRE, l’occasion de cette nouvelle gloire, et tenez pour chose assurée que ce repos duquel nous iouïssons tous si heureusement aujourdhuy avec V.M. ne peut estre de longue durée, si nous ne l’employons à bon escient à l’avancement de la gloire de Dieu et à pacifier les differens en la religion.50
Es ist de Thous unumstößliche, von zahllosen Späthumanisten geteilte Überzeugung, daß die staatliche Antwort auf die konfessionelle Dissoziierung der europäischen Christenheit unter keinen Umständen eine der Gewalt sein darf. Hier setzt Geizkofler ein: Die erfahrung gnugsam beweiset/ daß die Religions trennungen/ als Kranckheiten deß Gemühts/ durch Schwerd/ Fewr/ Landverweiß vnd Verfolgung/ vil mehr entzündet als geheylet worden: Vnd dannenhero nit durch solche mittel/ so den Leib allein angreiffen/ sondern viel mehr durch die Lehr vnd fleißige vnterrichtung/ die das Gemüt fein sanfft einnehme/ den sachen rath zuschaffen seye. Dann alle andere sachen nach Wohlgefallen der weltlichen Obrigkeit vnd Regenten kahn angeordnet vnnd gebotten werden: Allein die Religion läst sich nicht gebieten (oder durch Gebott aufftringen) sondern wirdt auß vorgeschöpffter meinung oder Wahrheit/ vermittels Göttlicher gnad dem Hertzen eingegossen. Das Martern vnd Peinigen hilfft darzu nichts/ ja sterckt vnd steifft viel mehr das Gemüth/ als daß es dasselbe erweiche oder eins andern bereden solte.51
Die religiöse Sphäre scheint dem Zugriff staatlicher Sanktion entzogen. Doch diese Verinnerlichung der religiösen Gewißheit und der Verzicht auf ihre staatlich-politische Objektivierung, von der Katholizismus und Calvinismus gleichermaßen leben, ist nur ein Indikator für die Einbuße ihrer lebensgestaltenden Kraft. Denn in Wahrheit ist auch für de Thou ungeachtet aller religiösen Beteuerungen die Entscheidung bereits für die sakrosankte, dem konfessionellen Hader entzogene und ihr übergeordnete etatistische Norm gefallen. De Thou bewegt sich damit, wie Ernst Hinrichs gezeigt hat, ganz im Vorstellungskreis des Königs und seiner führenden Köpfe. Der Religionsbegriff läßt »gar keine Möglichkeit zur Ausdehnung religiöser Dinge auf staatliche Belange [zu]. [...] Politik und Religion sind grundsätzlich verschiedene Faktoren.« Daher ––––––––– 48 49 50 51
Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 33 f. Geizkofler: Extract vnnd Auszug (Anm. 43), Bl. F4r.
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der Optimismus des Königs, prinzipiell »alle aus der Frage des Religionspluralismus erwachsenden Probleme als lösbar zu betrachten [...].«52 Die Substitution der Religion durch das ›Nationale‹ und das prinzipiell homogene Interesse aller cives sind nur der sichtbare Ausdruck dafür, daß die Religion ihre integrierende und konsensstiftende Funktion verloren hat. Das ›Religiöse‹ in seiner konfessionellen Form scheidet als einigendes Moment aus; [...]. Nicht mehr die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft, wohl aber viele andere politisch-soziale Bindungen können als die Untertanen einigendes Element dienen.53
Es ist denn auch ein durchaus pragmatischer Gesichtspunkt, der de Thous Toleranzempfehlung begründet. Der religiöse Eifer würde durch staatliche Intervention nur gesteigert, und eben nicht gedämpft. In den Worten Geizkoflers: Krieg sei kein rechtmeßiges mittel [...]/ den trennungen in der Kirchen abzuhelffen. Dann das die Protestirenden bey vns/ so zu fridens zeiten an der zal vnd autoritet täglich abgenommen/ bey dem Krieg vnd Zwitracht allezeit gewachsen/ vnd das entweder auß vnzeitigem eyfer gegen der Religion/ oder auß Ehrgeitz vnd begierd der newerung von vnsern Catholischen ein hochschädlicher Jrrthumb begangen worden/ in dem sie den wider die Protestirende offt vorgenommenen vnd wider gestilten jnnerlichen Krieg/ mit der Cron Franckreich gröstem vnheil/ vnd der Catholischen Religion selbsten hoher gefahr/ so offt auffs newe vorgenommen/ ist ohnnot/ mit viel worten zu beweisen/ weil die sach an jhr selbst klar vnd am tag.54
Das aber ist auch de Thous Ziel. Die blutige Verfolgung Andersdenkender noch vor der Reformation, sie hat nicht nur der katholischen Religion geschadet und eben damit den Grund gelegt für die reformatorische Bewegung, sondern sie hat vor allem auch den »gemeine[n] fried vnd wolstand« zerstört, die nun als summum bonum politischer Philosophie am Ende der Bürgerkriege sich herauskristallisieren. Beides hatte Ferdinand I. in seiner nicht zum Abschluß gelangten Religionspolitik gegenüber den Protestanten im Auge; beides bestimmt nun die politischen Maximen Heinrichs IV. In der weisen, von der Gewalt Abstand nehmenden Gestalt des Regenten ist das überlegene, jenseits der Parteiungen angesiedelte Prinzip staatlicher Pazifizierung verkörpert. Die Herrscher, »welche die Religions krieg viel lieber auch mit harten conditionen gütlich beylegen/ als mit gewehrter hand außführen wollen«, handeln als Weise in Übereinstimmung mit den Prinzipien der alten Kirche.55 Auch der religionspolitischen Praxis Heinrichs IV. versucht de Thou ein religiöses Motiv zu unterlegen. Die nach der Konversion als Irrtum erscheinende Zuneigung zum Protestantismus habe sich als Milde gegenüber den Andersdenkenden in sinnvolles staatliches Handeln transformiert. Tatsächlich setzte Heinrich IV. mit seiner Rückkehr in die katholische Kirche ein politisches Zeichen gegenüber den Untertanen, die aufgerufen blieben, auch ihrerseits vom Fana––––––––– 52
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Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. (Anm. 10), S. 297. Ebd., S. 301 f. Geizkofler: Extract vnnd Auszug (Anm. 43), Bl. G3r–G3v. Ebd., Bl. G2v.
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tismus Abstand zu nehmen und sich ins Hergebrachte zu fügen. Sinnfälliger politischer Ausdruck dafür ist das Edikt von Nantes. Es ist in seinen Einzelzügen wie in seinen programmatischen Impulsen ein deutlicher Reflex dessen, was Heinrich IV. in seiner Religionspolitik auf weitere Sicht zu erreichen sucht. Es wird getragen von seinem Willen, in jedem Fall auf friedlichem Wege zur Lösung der Frage zu kommen. Es hat einen durchgehend konservativen Charakter insofern, als es auf die Wiederherstellung eines Zustandes und einer Ordnung drängt, in denen die traditionellen Kräfte, vor allem auch die katholische Religion, ihre Stellung behalten. Es knüpft bewußt an die Ansätze der Vergangenheit zur Überwindung des religiösen Problems an und stellt die Politik Heinrichs damit erneut in die Kontinuität der französischen Monarchie. Es ist traditionell und zukunftsweisend zugleich in dem Bemühen, den religiösen Kräften ihre staatstragende und staatserhaltende Funktion zwar zu sichern, ihren politischen Ambitionen aber den Boden zu entziehen.56
De Thou sieht es ebenso wie die auswärtige Friedenspolitik des Königs von der Hoffnung inspiriert, es würde solcher gestalt die verbitterung allgemach nachlassen/ frid vnd einigkeit gepflantzt/ vnd also mit vnpaßionirten gemüttern desto leichter erkandt werden/ welchs die beste/ das ist/ die elteste Religion seye.57
Diesem Rückgriff auf das Anciennitätsprinzip ist ein Moment der Beliebigkeit unschwer anzumerken. Sie hat ihre Wurzel in der Relativierung der religiösen Wahrheit zugunsten staatlicher Funktionsfähigkeit. Der neustoizistische Appell an die Leidenschaftslosigkeit gibt so ihren säkularen, modernen Aspekt frei. Einen Ausweg aus der Zerrissenheit sieht de Thou in einer Besetzung der kirchlichen wie der weltlichen Ämter mit integren Amtsträgern: Bey dem vnheil aber/ nemblich so wol der Widersacher jrrungen/ als vnserer eignen Leut lastern/ ist meines erachtens besser nicht abzuhelffen vnd zubegegnen/ als das man beides auß der Kirchen vnd Weltlichem Regiment/ das kauffen vnd verkauffen der ämpter auffhebe: die Tugend belohne: Gottselige/ gelehrte/ fromme Männer/ deren verstand vnd bescheidenheit man allbereit erkandt/ der Kirchen vorsetze: nicht newe/ vnlengst eingeschlichene (verstehe die Jesuiten) sondern solche Leut/ deren auffrichtigkeit gnugsam bewust/ die Gottsfürchtig/ vnd dem Geitz feind seyen/ nicht wegen gunst/ oder Geldes/ sondern allein vmb jhrer Tugend willen herfür ziehe. Dann im widrigen fall/ vnd da man ohn vnderscheid gute vnd böse befürdern solte/ leichtlich zuerachten/ das der frid nicht lang würde bestehn mögen/ vnd die jenigen Stätt in vndergang gerahten/ deren Vorsteher zwischen bösen vnd guten keinen vnderscheid machen können/ [...].58
Ist es zufällig, daß der Traktat einmündet in die von den Gelehrten stets proklamierte, von Stand und Konfession, Reichtum und gesellschaftlichem Rang unabhängige Sachkompetenz der Beamten? Es sind die späthumanistischen Gelehrtenkreise, in denen mehr als ein Jahrhundert vor der Aufklärung der Gedanke religiöser Toleranz zuerst gedacht und dem Staat als oberster Norm die Pazifizierung zuerkannt wird. Eben das begründet die Interaktion von Königtum und ––––––––– 56
57 58
Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. (Anm. 10), S. 305. Geizkofler: Extract vnnd Auszug (Anm. 43), Bl. H1v. Ebd., Bl. H2r.
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Gelehrtenschaft, wie sie sich paradigmatisch im Umkreis Heinrichs IV. und de Thous studieren läßt. Die mehr oder weniger deutliche Reserve der Humanisten gegenüber der christlichen Überlieferung und zumal gegenüber der konfessionellen Polemik konkretisiert sich zu Ende des 16. Jahrhunderts im theoretischen Entwurf wie im praktischen Eingriff gleichermaßen, in denen sich der Aufstieg des frühmodernen absolutistischen Staates ebenso flektiert, wie dieser umgekehrt durch das Wirken der Humanisten flankiert und befördert wird. De Thous immenses Geschichtswerk lebt aus diesem Ethos.
Die frères Dupuy und ihr ›Cabinet‹ »Bien que l’on en ait beaucoup parlé, on ne connaît pas grand-chose sur les frères Dupuy, gardes de la bibliothèque du roi.« Mit diesem Satz beginnt Roman d’Amat im Jahre 1970 seinen einspaltigen Artikel über Jacques und Pierre Dupuy im Dictionnaire de Biographie Française.59 Man kann ihn nur vorbehaltlos bestätigen. Dabei waren sich schon die Zeitgenossen bewußt, daß der Kreis der Dupuys eine geschichtliche Darstellung verdiente. Saumaise gibt im Widmungsschreiben zu seinen Observations sur le Droit Attique & Romain contre Monsieur Airauld seiner Hoffnung Ausdruck, daß ein Portrait all jener »excellens hommes qui frequentoient le Cabinet« von denjenigen geliefert würde, »qui nous en donneront une histoire entiere & complette.«60 Nicaise, der in seiner Widmungsschrift zu Les Sirènes, ou Discours sur leur Forme et Figure (1691) »un petit abrégé de l’Histoire du Cabinet« bietet, weil seine ästhetischen Erwägungen dort zunächst vorgetragen worden waren, beruft sich auf Bouillaud und Ménage als seine maßgeblichen, weil noch lebenden Gewährsleute: Ces sçavans hommes pourroient nous faire une belle histoire du Cabinet: mais le grand âge du premier, & sa santé ne luy permettent pas, & le second est tellement occupé à illustrer la Langue Françoise, & à nous en chercher les origines les plus cachées dans l’édition qui s’en fait pour une seconde fois, augmentée d’une infinité d’observations curieuses, dignes de sa grande érudition, qu’il ne peut se donner le temps de penser à d’autres choses.61
Damit war die Chance verloren, aus dem Kreis der Mitglieder des Zirkels selbst eine Darstellung zu erhalten, von der man Authentizität wenigstens im Faktischen hätte erwarten dürfen. Das späte 17. und das 18. Jahrhundert haben vereinzelt biographische Annäherungen gebracht. Die gelehrte Gesellschaft der Dupuys, ohnehin bald in den Schatten der Académie Française geratend, hat das Interesse der französischen Aufklärung offensichtlich nicht nachhaltig zu wecken vermocht. Und im 19. Jahrhundert geriet auch die Académie Putéane in jene – letztlich vom Laizismus ––––––––– 59 60
61
Dictionnaire de Biographie Française. Band XII (1970), Sp. 596 f. Hier zitiert nach Claude Nicaise: Les Sirènes, ou Discours sur leur Forme et Figure.- Paris: Anisson 1691, S. 7. Ebd., S. 6.
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der dritten Republik bestimmte – Libertinage-Diskussion, die noch die größeren Darstellungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts von Pintard und Adam mehr oder weniger deutlich präformiert und die von vornherein wenig geeignet war, der geschichtlichen Physiognomie des Späthumanismus ansichtig zu werden.62 Religiöser Defätismus, politischer Quietismus und moralische Libertinage der Mitte des 19. Jahrhunderts haben mit dem Späthumanismus des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts nichts gemein. Hier ist ein Zugang nur im Kräftefeld von Konfessionalismus und Absolutismus zu gewinnen. Speziell im Falle der Dupuys bleibt jeder Fortschritt unserer Erkenntnis an eine extensive Erschließung des Nachlasses gebunden. Doch steht zu befürch––––––––– 62
Vgl. den – freilich vom Ansatz her immer noch zu unkritischen – Forschungsbericht von Gerhard Schneider: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert.- Stuttgart: Metzler 1970 (= Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft; 4), S. 9–34, sowie den grundlegenden und – was die Libertinismus-Diskussion angeht – gleichfalls äußerst reservierten Abschnitt über den ›französischen Späthumanismus‹ bei Gerhard Hess: Pierre Gassend. Der französische Späthumanismus und das Problem von Wissen und Glauben.- Jena, Leipzig: Gronau 1939 (= Berliner Beiträge zur Romanischen Philologie; IX/3–4), S. 1–41, insbes. die Abschnitte ›Verweltlichung‹, S. 27–33, und ›Die Libertins‹, S. 33–41. Die hier einschlägigen Werke: Jacques-François Denis: Sceptiques ou libertins de la première moitié du XVIIe siècle. Gassendi, Gabriel Naudé, Gui-Patin, Lamothe-Levayer, Cyrano de Bergerac.- In: Mémoires de l’Académie Nationale des Sciences, Arts et Belles-Lettres de Caen 1884, S. 175–254; F[rançois].T[ommy]. Perrens: Les libertins en France au XVIIe siècle.- Paris: Chailley 1896; Fortunat Strowski: Pascal et son temps. Première partie: De Montaigne à Pascal.- Paris: Plon 1907 (= Histoire du sentiment religieux en France au XVIIe siècle); J.B. Sabrié: De l’humanisme au rationalisme. Pierre Charron (1541–1603). L’homme, l’œuvre, l’influence.- Thèse Faculté des lettres.- Toulouse, Paris: Alcan 1913 (= Collection historique des grands philosophes); Henri Busson: La pensée religieuse française de Charron à Pascal.- Paris: Vrin 1933; ders.: La religion des Classiques (1660–1685).- Paris: Presses Universitaires de France 1948 (= Bibliothèque de philosophie contemporaine. Histoire de la philosophie et philosophie générale; 13); ders.: Littérature et théologie. Montaigne, Bossuet, La Fontaine, Prévost.- Paris: Presses Universitaires de France 1962 (= Publications de la faculté des lettres et sciences humaines d’Alger; 42); ders.: Le rationalisme dans la littérature française de la Renaissance (1533–1601). Nouvelle édition, revue et augmentée.- Paris: Vrin 1957 (= De Pétrarque à Descartes; 1); ders.: Les noms des incrédules au XVIe siècle.- In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 16 (1954), S. 273–283; Antoine Adam: Théophile de Viau et la libre pensée française en 1620.- Genève: Slatkine 1966 (Erstdruck 1935); ders.: Histoire de la littérature française au XVIIe siècle. Band I: L’époque d’Henri IV et de Louis XIII.Paris: Domat 1948, S. 292 ff.; ders.: Les libertins au XVIIe siècle.- Paris: Buchet/Chastel 1964 (= Collection Le Vrai Savoir), préface S. 7–31; René Pintard: Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle. Band I–II.- Paris: Boivin 1943; Lucien Febvre: Le problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais. Édition revue.- Paris: Michel 1947 (= Bibliothèque de synthèse historique. L’évolution de l’humanité; 53); Vittorio de Caprariis: Libertinage e libertinismo.- In: Letterature moderne 2 (1951), S. 241– 261; Marcel de Grève: François Rabelais et les libertins du XVIIe siècle.- In: Études Rabelaisiennes 1 (1956), S. 120–150; J[ohn]. S. Spink: French Free-Thought from Gassendi to Voltaire.- London: Athlone Press 1960; Alberto Tenenti: Milieu XVIe siècle, début XVIIe siècle. Libertinisme et hérésie.- In: Annales 18 (1963), S. 1–19; Romana Guarnieri: Il movimento del libero spirito. Testi e documenti.- In: Archivio italiano per la storia della pietà 4 (1965), S. 353–708; Anna Maria Battista: Alle origini del pensiero politico libertino. Montaigne e Charron.- Milano: Giuffrè 1966 (= Istituto di studi storico-politici, Università
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ten, daß gerade seine immensen Dimensionen die Erstellung einer umfassenden Biographie der Dupuys bzw. einer über die bisher so beliebten knappen Einzelporträts hinausgehenden gruppensoziologischen Studie verhindert haben – von einer historisch-politischen Profilierung dieses Kreises ganz zu schweigen. Roman Schnur äußert in seinem bekannten Werk über die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts die Vermutung, daß die »›Académie Putéane‹ wohl das geistige Zentrum in Paris und für ganz Europa« gebildet hat.63 Ein Blick in die Collection Dupuy reicht, um diese Vermutung zu bestätigen. Die internationale und insbesondere die französische Humanismus-Forschung bleibt aufgefordert, diesem Sachverhalt durch eine großangelegte Untersuchung Rechnung zu tragen. An dieser Stelle muß eine knappe Skizze zur Biographie der Dupuys – soweit sie sich bisher übersehen läßt – und zum Kreis der Puteanen ausreichen, um in etwa anzudeuten, welchen politischen und gelehrten Einwirkungen Opitz in Paris ausgesetzt war. Zunächst ein Wort zum Nachlaß.
Charakteristik der ›Collection Dupuy‹ Die sogenannte Collection Dupuy bildet einen der drei großen Nachlaßbestandteile der Dupuys, die in die Bestände der Pariser Nationalbibliothek eingegangen sind.64 Gemäß testamentarischer Verfügung gelangten ihre reichhaltige, ca. 9000 Bände umfassende Bibliothek sowie ihre gleichfalls äußerst wertvolle, bereits vom Vater angelegte Handschriftensammlung nach dem Tod Pierre Dupuys in die Königliche Bibliothek.65 Die mehr als 800 Bände umfassende Sammlung –––––––––
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di Roma, facoltà di scienze politiche; 11); Salvo Mastellone: Gallicans et libertins.- In: Aspects du libertinisme au XVIe siècle. Actes du Colloque international de Sommières.- Paris: Vrin 1974 (= De Pétrarque à Descartes; 30), S. 229–233. Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 29. Zum folgenden grundlegend Suzanne Solente: Les manuscrits des Dupuy à la Bibliothèque Nationale.- In: Bibliothèque de l’École des Chartes 88 (1927), S. 177–250. Hinzuzuziehen desgleichen von ders.: Introduction à la table alphabétique du catalogue de la collection Dupuy par Léon Dorez.- Paris: Leroux 1928, S. I–XXIV. Der maßgebliche Katalog der Collection Dupuy ist von Léon Dorez erarbeitet und von Suzanne Solente durch einen alphabetischen Index hervorragend erschlossen worden: Léon Dorez: Catalogue de la Collection Dupuy. Band I–II.- Paris: Leroux 1899. Table alphabétique par S. Solente.- Paris: Leroux 1928. Zu älteren handschriftlichen Katalogen vgl. Solente: Les manuscrits des Dupuy, S. 214 ff. Vgl. zur Collection Dupuy auch Léopold Delisle: Le cabinet des manuscrits de la Bibliothèque Impériale. Band I–IV.- Paris: Imprimerie Nationale 1868–1881. Index des manuscrits cités dressé par Emmanuel Poulle.- Paris: Imprimerie Municipale 1977, Band I, S. 422–424. Ein umfänglicher zweibändiger Folio-Katalog der gedruckten Bücher und Handschriften (außer der Collection Dupuy!) aus der Feder Jacques Dupuys hat sich erhalten (BN Paris: Mss. latins 10372 und 10373); die Handschriften findet man in Band II, S. 668–681, verzeichnet. Ein Inventar der ›Manuscrits de Pierre et Jacques Dupuy (1657)‹ ist veröffentlicht bei Henri Omont: Anciens Inventaires et Catalogues de la Bibliothèque Nationale. Band I– V.- Paris: Leroux 1908–1921, Band IV, S. 187–211. Ein Verzeichnis der aus der Samm-
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ihrer handschriftlichen Aufzeichnungen war ursprünglich nicht für die Königliche Bibliothek bestimmt, sondern wurde einer für vertrauenswürdig angesehenen Person zur geschlossenen Verwahrung durch Jacques Dupuy vermacht. JacquesAuguste de Thou d.J., Erbe der großen de Thouschen Bibliothek, in der die Dupuys die längste Zeit ihres Lebens gewirkt hatten, erwies sich des einmaligen Erbes als unwürdig; zusammen mit der de Thouschen Bibliothek und den de Thouschen Handschriften wurde es 1677 nach seinem Tode verkauft. Erst 1754 gelangte die Sammlung nach manchen Umwegen und nicht ganz ohne Verluste, aber auch um einige Stücke bereichert, in den Besitz der Königlichen Bibliothek und macht heute eines der Herzstücke der Manuskriptsammlung der Pariser Nationalbibliothek aus.66 Wo sich in Deutschland – wie im Fall des Pegnesischen Blumenordens – ausnahmsweise ein Gesellschaftsarchiv wenigstens in größeren Teilen erhalten hat, entspricht es aufs Ganze gesehen den Erwartungen, mit denen man den humanistischen Gelehrten und ihrer Literatur im 17. Jahrhundert entgegenzutreten pflegt. D.h. es ist zentriert um die literarischen, die wissenschaftlichen, die persönlichen Interessen und Kontakte der nobilitas literaria, wie sie Erich Trunz eindringlich geschildert hat. Anders bei den Dupuys und ihrer Collection. Auch in ihr findet man zwar ein immenses, vor allem um die Briefcorpora gruppiertes literarisches und gelehrtes Material, das für die Geschichte des gesamten europäischen Späthumanismus von gar nicht zu überschätzender Bedeutung ist. Sie enthält ebenso handschriftliche Fassungen, Vorstudien, Paralipomena etc. zu gedruckten Werken. –––––––––
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lung Claude Dupuys überkommenen Handschriften hat Omont gleichfalls wieder zugänglich gemacht und mit einer wichtigen Einleitung versehen: ders.: Inventaire des manuscrits de Claude Dupuy (1595).- In: Bibliothèque de l’École des Chartes 76 (1915), S. 526–531. Zu den Handschriftensammlungen der Dupuys auch Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 192–199, speziell über weitere Kataloge der Manuskriptsammlung, ebd., S. 197 f. Der Druck des Katalogs der Büchersammlung der Dupuys bleibt ein dringendes Desiderat. Dazu eingehend Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 199 ff.: ›La collection Dupuy‹, sowie dies.: Introduction (Anm. 64), S. VI–XIII. Zu den Defiziten dies.: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 218 f., sowie dies.: Introduction (Anm. 64), S. XIII–XXI. Vgl. auch Delisle: Le cabinet des manuscrits (Anm. 64), Band I, S. 422–424, sowie Harrisse: Le Président de Thou (Anm. 30), S. 14 ff. Zur de Thouschen Bibliothek vgl. die extensive Untersuchung von Harrisse: Le Président de Thou (Anm. 30), insbes. Teil I: ›Histoire et catalogues originaux de la bibliothèque‹, S. 1–82; unter dem Titel ›Les de Thou et leur célèbre bibliothèque 1573–1680–1789 (D’après des documents nouveaux)‹ auch in: Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire (1903), S. 465–477, S. 537–548, S. 577–589 und S. 648–662; (1904), S. 10–22, S. 72–90, S. 165–171, S. 259–267, S. 327–339, S. 392–400, S. 487–497 und S. 541–550. Außerdem Delisle: Le cabinet des manuscrits (Anm. 64), Band I, S. 470–472; Ap[ollin]. Briquet: Notes sur la bibliothèque et les armoiries de J.-Aug. de Thou.- In: Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire (1860), S. 896–903; Comte L. Clément de Ris: Les amateurs d’autrefois XVI: Jacques-Auguste de Thou (1553–1617).- In: Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire (1875), S. 225–243; Samuel Kinser: An Unknown Manuscript Catalogue of the Library of J.A. de Thou.- In: The Book Collector 17 (1968), S. 168–176.
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Ihrer Anlage und ihrem inneren Schwerpunkt nach ist sie jedoch kein persönliches Archiv der Gebrüder Dupuy, sondern eine systematisch angelegte und über Jahrzehnte aufgebaute Dokumentensammlung von Autographen und Abschriften zur europäischen Geschichte vornehmlich des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der Impuls, den de Thou mit seinem monumentalen Werk zur Zeitgeschichte bei niemandem nachhaltiger als bei den Dupuys ausgelöst hatte, setzte sich bei den Brüdern in der rastlosen Erschließung und Archivierung einschlägiger Dokumente zur Geschichte der jüngsten Vergangenheit fort. Nur ein einläßliches Studium der vor allem durch Dorez und Solente erschlossenen, fast tausendbändigen Kollektion vermöchte es, einen angemessenen Begriff von der Spannweite des historischen, politischen und schließlich auch literarischen Interesses der Dupuys und ihrer Freunde zu vermitteln. Natürlich dominieren die Zeugnisse zur französischen Geschichte vor allem des Könighauses seit Franz I. (mit einem merklichen Schwerpunkt bei Heinrich IV.) und der wichtigen französischen Provinzen. Aber daneben gibt es – teils in thematisch homogener, teils in vermischter Form – Dutzende von Sammelbänden zur Geschichte und Politik aller relevanten europäischen Mächte, von Italien (einschließlich der einzelnen Stadtstaaten und Fürstentümer sowie der Kurie), Spanien, Portugal und Katalonien über das Haus Habsburg, die Schweiz und die Niederlande, das Reich und seine Territorien bis hin zu England, Dänemark und Schweden, Polen, Ungarn und Rußland sowie dem Vorderen Orient in seiner Verflechtung mit der europäischen Politik. Reichhaltig ist das Material auch zur inneren Geschichte Frankreichs und seiner Institutionen, zu den Parlamenten, zu den Generalständen, zum Wirtschafts-, Finanz- und Militärwesen, zu den königlichen Domänen etc. Am auffälligsten jedoch dürfte das Gewicht sein, das den kirchengeschichtlichen und konfessionspolitischen Quellen seit Einführung der Reformation in Deutschland innerhalb der Sammlung zukommt. Wohl gibt es auch gehaltreiche Bände zur Geschichte des Katholizismus, vor allem zum Tridentiner Konzil und zum Jesuitenorden. Das Interesse der Dupuys jedoch ist fixiert auf das Schicksal des Protestantismus in Frankreich wie in Europa sowie auf die staatliche Antwort auf die von ihm ausgehende Herausforderung. Das erklärt sich wie im Falle de Thous so auch im Falle der Dupuys zu einem guten Teil bereits aus der Geschichte des Geschlechts und der Biographie ihrer Repräsentanten.
Der Vater der Gebrüder Dupuy: Claude Dupuy Wie Jacques-Auguste de Thou, gehörten auch die Gebrüder Dupuy jenen führenden Juristenkreisen Frankreichs an, die in der Institution des Parlaments sowie in der Advokatur ein Zentrum ihres Wirkens besaßen und auf die französische Geschichte während und nach den Bürgerkriegen maßgeblichen Einfluß nahmen. Sie entstammten in der Regel bereits arrivierten Familien der noblesse de robe, bekleideten hohe Ämter der Magistratur und waren fast alle miteinander befreundet, oft verwandt und verschwägert.
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Die Angehörigen der Magistrature waren in der Regel nicht unbegütert. Gleichwohl hatten sie einen Lebensstil entwickelt, der sich von dem prunkvollen und bisweilen recht lockeren höfischen Leben ihrer Zeit durch seine Bescheidenheit deutlich unterschied. Viele Juristen gaben große Summen für Bücher und wertvolle alte Manuskripte aus. Wenn Eschmann sagt, das Ideal der noblesse de robe habe in dem unübersetzbaren Ausdruck ›austérité‹ gelegen, so meint er damit das, was die heutige Soziologie der Eliten unter Askese versteht: Die Ablehnung, den run auf Komfort mitzumachen, um dadurch zu demonstrieren, daß man die herausragende Position primär nicht erstrebt hat, um ›Geld zu machen‹.67
Schon der Großvater Clément Dupuy, war Advokat am Pariser Parlament. Claude Dupuy, der Vater, absolvierte seine juristischen und humanistischen Studien bei den Größten seiner Zeit, bei Turnèbe und Lambin, Dorat und Cujas.68 Wie Christofle und Jacques-Auguste de Thou unterhielt er lebhafte Kontakte zu den großen Humanisten seiner Zeit, zu Muret, Manutius, Scaliger, Pithou, Montaigne, Lipsius und anderen. Nächst den persönlichen Verbindungen, die sich aus der Ausübung des gleichen Berufes ergaben, verband das Interesse an humanistischen Studien viele der einflußreichen Pariser Juristen sowohl untereinander als auch mit anderen führenden Persönlichkeiten des geistigen Lebens in Frankreich wie im übrigen Europa. Die Vitae, Briefwechsel und Memoiren lassen deutlich erkennen, in welchem Maße sich die Mitglieder der Magistrature mit den humanistischen und aufkommenden naturwissenschaftlichen Wissensgebieten beschäftigten. Jeder von ihnen rechnete sich als Ehre an, mehrere antike Texte zu edieren, zu kommentieren oder zu übersetzen. Angesichts ihrer oft engen Verbindungen zu bekannten Humanisten und Dichtern wird man sogar sagen dürfen, daß sie nicht nur Liebhaber von humanistischer Bildung und Dichtung waren, sondern entscheidend auf sie einwirkten und die kulturelle Entwicklung ihrer Zeit in erheblichem Maße prägten: Schwerlich gibt es einen Abschnitt der Geschichte, in dem Juristen einen derartigen Einfluß auf das geistige Leben ihrer Zeit hatten.69
Wie später der Sohn Christophe Dupuy, der sich von Rom aus so wirkungsvoll für de Thous Geschichtswerk einsetzen sollte, weilte auch der Vater schon in Italien, und es waren offenbar primär humanistische Interessen, die Anlaß zu dieser Reise gaben. In Rom ist er eifriger Benutzer der Bibliothek Fulvio Orsinis.70 –––––––––
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Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 27. Eine Monographie – wie im Fall Christofle de Thous – existiert für Claude Dupuy leider nicht. Man ist – neben den Arbeiten zu Jacques und Pierre Dupuy – verwiesen auf die einschlägigen Artikel in: Zedler (Anm. 30), Band XXIX, Sp. 1743 f.; Jöcher (Anm. 30), Band III, Sp. 1814; Biographie Universelle (Anm. 30), Band XII, S. 55; Nouvelle biographie générale (Anm. 21), Band XV, S. 376; Grande Encyclopédie (Anm. 30), Band XV, S. 99; Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 30), Le seizième siècle, S. 279, und Dictionnaire de Biographie Française. Band XII (1970), Sp. 581 f. Abdruck eines Gedichtes von Schede Melissus auf Claude Dupuy bei Pierre de Nolhac: Un poète rhénan ami de la Pléiade. Paul Melissus.- Paris: Champion 1923 (= Bibliothèque littéraire de la Renaissance. Nouvelle série; 9), S. 86–88. Zahllose Briefe Scaligers an Claude Dupuy (wie auch an de Thou, Pithou u.a.) gedruckt in: Lettres françaises inédites de Joseph Scaliger. Publiées et annotées par Philippe Tamizey de Larroque.- Agen: Michel et Médan; Paris: Picard 1879. Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 28. Vgl. Pierre de Nolhac: La bibliothèque de Fulvio Orsini. Contributions à l’histoire des collections d’Italie et à l’étude de la Renaissance.- Paris: Vieweg 1887, S. 65, Anm. 4 (= Bibliothèque de l’école des hautes études. Sciences philologiques et historiques; 74).
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Nach seiner Rückkehr begann er seine Karriere am Pariser Parlament als Parlamentsrat (1575). Die für seine Söhne dann so wichtige Beziehung zu den de Thous wird über den Vater durch seine Eheschließung mit Claude de Sanquin auch verwandtschaftlich befestigt; die Mutter der Gattin ist die Schwester Christofle de Thous. Wie de Thou, so gehörte auch Claude Dupuy zu jenen vierzehn berühmten Richtern des Pariser Parlaments, die gemäß königlichem Edikt vom 26. November 1581 in die Chambre de Guyenne nach Bordeaux gesandt wurden, nachdem das aus beiden Konfessionen paritätisch besetzte Parlament zu Bordeaux funktionsunfähig geworden war. Die Kammer von Guyenne war nur mit Katholiken besetzt. Doch darf man darin, wie Schnur völlig zu Recht betont, nicht einen »Triumph der einen Bürgerkriegspartei sehen.«71 Die Deputierten, zu denen außer Dupuy und de Thou drei Séguiers (Pierre II., Antoine, Jean), Hierôme de Montholon, de L’Hospital, Loisel und Pithou gehörten, waren als royalistische Katholiken gehalten, die konfessionellen Zwistigkeiten zu überwinden und derart das einheitsstiftende Interesse des Staates zur Geltung zu bringen: Die Spaltung des Gerichts in Bordeaux sollte ja gerade durch eine Kammer überwunden werden, auf deren unparteiische Rechtswahrung es ankam. Das war ein großer Beweis für die Wirkungsfähigkeit der Politiques!72
Wie Jacques-Auguste de Thou gehörte Claude Dupuy folglich zur antiligistischen Front des Parlaments und wurde als solcher – wie de Thou – durch die Ligisten in die Bastille verschleppt. Er war Mitglied des in Tours unter de Thou tagenden Parlaments während der Herrschaft der Liga in Paris. Le Parlement séant à Tours le 24 juillet 1592, après lui avoir fait prêter le serment qu’il n’avait pas signé la Ligue, le réintégra dans son office de conseiller et le députa même vers le roi le 12 février 1594.73
Anders jedoch als de Thou, um diese Parallele ein letztes Mal zu ziehen, war es Claude Dupuy nicht mehr möglich, am Hugenotten-Gesetzgebungswerk in seinen verschiedenen Stadien mitzuwirken. Er starb am 1. Dezember 1594 ein Jahr nach der Konversion Heinrichs IV. Unter den Beiträgern seiner Gedenkschrift findet man Joseph Justus Scaliger, Casaubon, Pasquier, Rapin, Rigault, Dousa, Grotius, Heinsius und andere.74
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Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 37. Ebd. Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 180. V[iri]. Amplissimi Clavdii Pvteani Tvmvlvs.- Paris: [s.p.] 1607 (BN Paris: Ln27 6853). Auch handschriftlich in der Collection Dupuy, Band 638, Bl. 119 ff. Vgl. Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 180, Anm. 4. In veränderter Form wieder abgedruckt und um weitere Zeugnisse vermehrt in Nicolas Rigault: Viri Eximii Petri Pvteani, Regi Christianissimo A Consiliis Et Bibliothecis Vita.- Paris: Ex officina Cramosiana 1652, S. 217– 302 (BN Paris: Rés. Ln27 6862Į).
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Im Dienst der Krone: Die Gebrüder Dupuy Das Leben Jacques und Pierre Dupuys gehorcht anderen Gesetzen als dasjenige Claude Dupuys oder Jacques-Auguste de Thous.75 Der Übergang von der Bürgerkriegs- zur Nachbürgerkriegsgeneration wird darin sichtbar. Eine bedeutende politische Karriere machte unter den zehn Kindern Claude Dupuys (acht Söhne, davon zwei schon früh verstorben, und zwei Töchter) nur Christophe Dupuy, der seinen Namensvetter Christofle de Thou zum Patenonkel hatte. Er war es, dem, wie oben angedeutet, als Begleiter des Kardinals Joyeuse in Rom die Aufgabe zufiel, die Verurteilung des de Thouschen Geschichtswerkes zu verhindern, bevor er sodann in der geistlichen Hierarchie zum Generalprokurator des Karteuserordens aufstieg, obgleich er Papst Urban VIII. selbst als zu gallikanisch erschien.76 Auch Pierres beruflicher Weg war zunächst in der Tradition des Vaters auf die Parlamentslaufbahn hin angelegt. Nach Studien bei Théodore Marsile und Isaac Casaubon wurde er – wie sein Bruder Jacques – Advokat am Pariser Parlament: Son jeune frère Jacques fut le compagnon assidu de ses études et plus tard de ses travaux. Tous deux collaborèrent à tel point qu’il est parfois fort difficile de distinguer leur œuvre respective, et on a voulu désigner cette collaboration affectueuse en les unissant sous le nom de ›frères Dupuy‹.77
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Eine moderne Biographie fehlt. Die Beschäftigung mit den Dupuys hat auszugehen von der in der vorigen Anmerkung zitierten Biographie von Nicolas Rigault aus dem Jahr 1652. In ihr sind auch enthalten die Gedächtnisreden von Henricus Valesius und Bernardus Medonius sowie eine anonyme (von Rigault stammende?) Eloge auf Pierre Dupuy. Wiederabdruck der Rigaultschen Gedächtnisschrift und der Rede von Valesius – ›Oratio in obitvm Petri Pvteani Viri clarissimi‹ – ohne die weiteren Beigaben des Rigaultschen Werkes bei William Bates: Vitae Selectorum Aliquot Virorum Qui Doctrinâ, Dignitate, aut Pietate Inclaruere.- London: Wells 1681, S. 660–669 bzw. S. 670–677; Titelauflage London: Wells 1704. Aus den Quellen gearbeitet sodann der knappe biographische Beitrag über die Dupuys bei Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 177–190, speziell zu Jacques und Pierre Dupuy S. 182–190. Unergiebig der Beitrag von M. l’abbé Reure: Notes sur la dynastie littéraire des Dupuy.- In: Bulletin de la Diana 14 (1904/05), S. 244–262. Speziell zu Pierre Dupuys historiographischen Arbeiten im Périgord Albert Dujarric-Descombes: Recherches sur les historiens du Périgord au XVIIe siècle.- In: Bulletin de la Société Historique et Archéologique du Périgord 9 (1882), S. 67–76, S. 162–188, S. 257–293, S. 371–412 und S. 464–486; hier S. 257–278. Weitere Spezialarbeiten unten in den Anmerkungen. Dazu die einschlägigen Lexikon-Artikel: Zedler (Anm. 30), Band XXIX, Sp. 1749 f.; Jöcher (Anm. 30), Band III, Sp. 1817; Biographie Universelle (Anm. 30), Band XII, S. 56–57; Nouvelle biographie générale (Anm. 21), Band XV, S. 377–378; Grande Encyclopédie (Anm. 30), Band XV, S. 99–100; Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 30), Le dix-septième siècle, S. 371–372; Dictionnaire de Biographie Française. Band XII (1970), Sp. 596–597. Weitere Literatur zum Kreis der Dupuys unten Anm. 88. Neben den einschlägigen Lexikon-Artikeln vgl. Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 181, sowie den Anm. 40 zitierten, von Soman edierten Band mit Briefen Christophe Dupuys. Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 183.
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Eine dem Vater ähnliche Karriere wurde von beiden Brüdern – bei Pierre offensichtlich auch aus gesundheitlichen Gründen – zugunsten einer wissenschaftlichen Existenz aufgegeben; das Gleichgewicht zwischen politischer und gelehrter Aktivität verschiebt zur letzteren. Ganz in der Linie der älteren de Thous und Dupuys liegt jedoch der unverbrüchliche Royalismus, der die gelehrten historischen Arbeiten der Dupuys mehr oder weniger direkt inspiriert. Man wird darin schwerlich einen Akt von Opportunismus erblicken dürfen, eher ein Analogon zur etatistischen Orientierung der älteren Generation, welche allein eine Zukunft zu haben schien. Sie realisierte sich in anderen, vornehmlich schriftstellerischen Mitteln, wie sie de Thou bereits so eindrucksvoll gehandhabt hatte. Die erste große wissenschaftlich-archivarische Leistung Pierre Dupuys ist die zusammen mit Théodore Godefroy unternommene Inventarisierung und Reorganisierung des ›Trésor des Chartes‹ 1615.78 Sie verschaffte die maßgebliche Qualifizierung für die in den zwanziger Jahren in großem Stil einsetzenden Arbeiten im Auftrage der Krone. Die enge familiäre Bindung zwischen den de Thous und den Dupuys wurde für die Gebrüder Dupuy dann zu einer lebensbestimmenden Realität, als Jacques-Auguste de Thou sie testamentarisch zu Verwaltern seiner Bibliothek bestimmte. So wurde auch personell die Brücke zwischen diesen beiden großen französischen Buch- und Manuskriptsammlungen auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert hergestellt, die die entscheidende institutionelle Voraussetzung für die ›Académie Putéane‹ darstellte. Die Bearbeitung der de Thouschen Bibliothek war neben der editorischen Erschließung und Verteidigung des de Thouschen Geschichtswerkes das zweite Unternehmen, mit dem die Dupuys im Zusammenwirken mit Rigault ihre Solidarität dem großen Vorgänger gegenüber bewährten. Die fast dreißigjährige Installierung der Gebrüder im ›Hôtel de Thou‹ macht diese enge Verbindung sinnfällig.79 ––––––––– 78
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Dazu grundlegend Henri-François Delaborde: Les travaux de Dupuy sur le Trésor des Chartes et les origines du supplément.- In: Bibliothèque de l’École des Chartes 58 (1897), S. 126–154. Vgl. vom gleichen Verfasser auch die große Studie: Étude sur la constitution du Trésor des Chartes et sur les origines de la série des sacs dite aujourd’hui ›supplément‹ du Trésor des Chartes.- In: Archives Nationales. Layettes du Trésor des Chartes. Inventaires et documents. Band V.- Paris: Plon-Nourrit 1909. Reprint Nendeln/Liechtenstein: Kraus 1977, S. I–CCXXIV. Zu Théodore Godefroy vgl. – neben den einschlägigen Lexikon-Artikeln – D[enis].C[harles]. Godefroy-Ménilglaise: Les savants Godefroy. Mémoires d’une famille pendant les XVIe, XVIIe et XVIIIe siècles.- Paris: Didier 1873. Reprint Genève: Slatkine 1971, S. 109–139. Die leider ungedruckte Arbeit von Nicole Jordan: Théodore Godefroy. Historiographe de France (1580–1649), war mir nicht zugänglich. Vgl. das vielversprechende Inhaltsverzeichnis in: École Nationale des Chartes. Position des thèses (1949), S. 91–95. Die Mehrzahl der Recherchen Dupuys und Godefroys ist ungedruckt und im Nachlaß Dupuy bzw. Théodore Godefroy (Institut de France, Paris) überliefert. Zu letzterem Fritz Dickmann: Rechtsgedanke und Machtpolitik bei Richelieu. Studien an neu entdeckten Quellen.In: Historische Zeitschrift 196 (1963), S. 265–319, S. 285; ders.: Der Westfälische Frieden, 3. Auflage.- Münster: Aschendorff 1972, S. 505 f. Vgl. auch: Lettres du Cardinal de Richelieu à MM. Du Puy et Godefroy.- In: Bulletin de la Société de l’Histoire de France 1851– 1852, S. 304–306. Zur katalogischen Erschließung der Bibliothek de Thous durch die Dupuys vgl. Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 186. Die handschriftlichen Kataloge der Biblio-
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Eine Reise Pierre Dupuys als Begleiter Jean de Thumerys, Sieur de Boissise, nach Holland (1618/19) lag auf der Linie der traditionell engen gelehrten Kontakte zwischen den Niederlanden und Frankreich und führte zur persönlichen Bekanntschaft u.a. mit Heinsius und Grotius. Entscheidend wurde für Pierre Dupuy der königliche Auftrag, nach dem Tode François Pithous (1621) in Troyes die Inspektion und Auswertung der – königliche Rechte bestätigenden – Urkunden vorzunehmen.80 Dupuy und Godefroy rückten derart zu den entscheidenden ideologischen Gewährsmännern Richelieus auf. Immer schon waren die lois fondamentales, zentriert um Dynastie und Dominium, gegen landschaftliche Sonderrechte und ständische Privilegien gerichtet gewesen. Unter Richelieu aber beginnt etwas Neues. Wir finden jetzt mit einemmal, wie diese bisher im Kampf des Königtums gegen die widerstrebenden Kräfte im Innern gebrauchte Waffe auch nach außen gewendet wird. Das geschieht durch die [...] Erweiterung des Begriffes der Domäne. Bisher hatte man nur solche Gebiete dazu gerechnet, die die Krone den Seigneurs abgewonnen hatte; die Publizisten der Zeit Richelieus zählen mehr und mehr alles dazu, was die Könige von Frankreich oder ihre Vorgänger, die fränkischen Herrscher, oder gar die alten Gallier jemals besessen oder beansprucht hatten! Damit wuchsen die Grenzen der königlichen Domäne weit über die gegenwärtigen, mehr oder weniger zufälligen Grenzen des Königreiches hinaus, und wenn man die für sie gültigen Rechtsgrundsätze gar in Verbindung brachte mit den [...] Geschichtskonstruktionen, mit der karolingischen oder gallischen Legende, wenn man sie auf den ganzen Umkreis der ›historischen‹ Ansprüche Frankreichs bezog, so gewann die französische Außenpolitik eine ganz neue Waffe, wurde die Annexion weiter Gebiete, die bisher noch außerhalb der französischen Grenzen lagen, zur ›Reunion‹ im wörtlichen Sinne!81
Diese Arbeit ist maßgeblich von den Dupuys, insbesondere von Pierre, sowie von Théodore Godefroy geleistet worden. Sie ging Hand in Hand mit der für die royalistische Beamtenschaft seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts typischen gallikanischen Orientierung. Die Dupuys sind auch hier zu den großen Erben Pithous herangewachsen und haben den Kampf mit den Jesuiten nicht ge–––––––––
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thek de Thous sind als Band 879 und 880 in der Collection Dupuy erhalten. Ob und in welchem Umfang die Dupuys an der Vorbereitung des gedruckten Catalogvs Bibliothecae Thvanae. A Petro et Jacobo Puteanis ordine alphabetico primum distributus. Tum secundum scientias et artes a Ismaele Bulialdo digestus. Nunc vero editus a Iosepho Quesnel. Band I–II.- Paris: Directionis 1679, beteiligt waren, läßt sich mit Sicherheit nicht mehr feststellen. Vgl. Solente Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64). Die Manuskripte de Thous sind von Pierre Dupuy bereits 1617 inventarisiert worden. Vgl. Collection Dupuy, Band 653, sowie Delisle: Le cabinet des manuscrits (Anm. 64), Band I, S. 470, Anm. 6. Zum Ganzen stets auch heranzuziehen Harrisse: Le Président de Thou (Anm. 30), Teil I. Vgl. vor allem Pierre Dupuy: Traitez Tovchant Les Droits Dv Roy.- Paris: Courbé 1655 (BN Paris: Lb37 3257), sowie ders.: Traité De La Maiorité De Nos Rois, Et Des Régences Dv Royavme.- Paris: Mathurin Du Puis et Martin 1655 (BN Paris: 4° Rés. Le5 2). Grundlegend zur Analyse und zur Rekonstruktion des historischen Zusammenhangs Dickmann: Rechtsgedanke und Machtpolitik bei Richelieu (Anm. 78), S. 284–308. Gleichfalls wichtig auf der Basis bis dahin ungedruckten Quellenmaterials der entsprechende Abschnitt bei Church: Richelieu and Reason of State (Anm. 1), S. 361–372. Einführung in die Propagandaliteratur bei Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 146–159, speziell zu Dupuy S. 147. Darüber hinaus stets heranzuziehen die zitierten Arbeiten von Solente (Anm. 64) und Delaborde (Anm. 78). Dickmann: Rechtsgedanke und Machtpolitik bei Richelieu (Anm. 78), S. 291 f.
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scheut.82 Die äußere Anerkennung dieser für den Aufbau der frühabsolutistischen Monarchie unschätzbaren rechtshistorischen Legitimationsakte ließ nicht lange auf sich warten: Le 31 janvier 1623, le roi, informé des services que lui rendait depuis plusieurs années ›le sieur Dupuy à rédiger par ordre et rechercher les tiltres et chartres concernans le domaine de la Couronne de France et droitz de Sa dite Majesté‹, le retint en la charge de conseiller en ses Conseils d’État et privé. C’est à ce titre que Pierre Dupuy fut membre de la commission chargée de faire valoir les droits du roi sur les territoires contestés des frontières de la Meuse et de la Moselle (1624–1625).83
Ihm wurde eine königliche Pension ausgesetzt »pour reconnaître ses services et ›le travail extraordinaire qu’il faict et continue journellement de faire en la recherche des droits de la Couronne, tant dedans que dehors le royaume‹.«84 Auch Richelieu wußte sich seiner Dienste zu versichern. Die Auszeichnung mit dem Titel eines historiographe de France besiegelte die Symbiose, die die humanistische Geschichtsschreibung zu Anfang des 17. Jahrhunderts bei den Dupuys mit der sich konsolidierenden Krongewalt einging. In mittelbaren königlichen Dienst genommen wurden die Brüder dann am Schluß ihres Lebens, und zwar auf ihrem ureigensten Gebiet der Bücherkonservierung. Seit 1645 waren sie zusammen mit Rigault in der Königlichen Bibliothek in der Rue de la Harpe tätig, wohin sie auch ihre eigene Kollektion überführten und wo sie einen Katalog der Manuskripte und Drucke der Königlichen Bibliothek erstellten.85 Die lebenslange Zusammenarbeit der Brüder bewährte –––––––––
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Vgl. Pierre Dupuy: Traitez Des Droits Et Libertez De L’Église Gallicane [Band I]; Preuves Des Libertez De L’Église Gallicane [Band II].- [s.l. s.p.] 1639 (BN Paris: Fol. Rés. Ld10 7), ders.: Commentaire Svr Le Traité Des Libertez De L’Église Gallicane.- Paris: Cramoisy 1652 (BN Paris: 4° Rés. Ld10 52). Das Dupuysche Kommentarwerk erlebte in erweiterter Fassung zahlreiche Neuauflagen. Grundlegend in diesem Zusammenhang und vor allem zur Auseinandersetzung mit den Jesuiten um die Drucklegung des Werkes Gabriel Demante: Histoire de la publication des livres de Pierre Du Puy sur les libertés de l’église gallicane.- In: Bibliothèque de l’École des Chartes 5 (1843/44), S. 585–606. Vgl. weiter Sée: Les idées politiques en France au XVIIe siècle (Anm. 17), S. 18–81; Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus (Anm. 10), S. 29; Willaert: Après le Concile de Trente (Anm. 17), S. 401 f.; Church: Richelieu and Reason of State (Anm. 1), S. 404 f., sowie den – freilich nicht mit Literaturangaben ausgestatteten – Artikel ›Gallicanisme et les Lettres‹ im Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 30), Le dix-septième siècle, S. 446–449. Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 184 f. Ebd., S. 185. Die Kataloge der Dupuys haben sich erhalten und sind glücklicherweise in gedruckter Form zugänglich. Vgl. Omont: Anciens Inventaires et Catalogues de la Bibliothèque Nationale (Anm. 65), Band III, S. 1–164, Abdruck des 1645 durch die Dupuys bearbeiteten Kataloges von Rigault. Abdruck der Rigaultschen Kataloge aus dem Jahre 1622 ebd., Band II. Nähere Beschreibung des Rigaultschen und Dupuyschen Katalogwerkes in dem Begleitband Henri Omont: Introduction et Concordances.- Paris: Leroux 1921, S. 26–32 und S. 33–35. Vgl. auch Delisle: Le cabinet des manuscrits (Anm. 64), Band I, S. 261–264, zum Wirken der Dupuys in der königlichen Bibliothek; speziell zu ihrem Katalogwerk S. 261– 262, sowie Band III, S. 63. Des weiteren Solente: Les manuscrits des Dupuy (Anm. 64), S. 186–188.
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sich über den Tod Pierre Dupuys hinaus (1651). Sein vorwiegend historiographisches Werk ist – bis auf die erste Auflage des Traitez Des Droits Et Libertez De L’Église Gallicane (1639) – fast ausschließlich in den dem Bruder Jacques verbleibenden fünf Jahren ediert worden. Die von Rigault veranstaltete Gedenkschrift für Pierre Dupuy vermittelt nochmals einen Eindruck von den weitverzweigten Verbindungen, in denen die Dupuys standen.86 Neben der bis heute nicht ersetzten Biographie von Rigault stehen Elogen von Valesius und Medonius sowie Briefzuschriften und Gedichte u.a. von Antonius Halley, Guez de Balzac, Gabriel Naudé, Petrus Hallé, Nicolas Heinsius, Jacques-Auguste Perrot, Isaac Sarravius, Jean Chapelain und Guillaume Colletet.87
Opitz im Umkreis der Dupuys Hier ist nicht der Ort, auf den Kreis der um die Gebrüder Dupuy versammelten Humanisten näher einzugehen; eine derartige Arbeit käme einer Soziologie gelehrten Lebens unter Richelieu und Mazarin über weite Strecken gleich.88 Der ––––––––– 86 87
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Vgl. oben Anm. 74 und 75. Für Jacques Dupuy ist ebenfalls eine Gedenkschrift im Manuskript überliefert: Elegia In Obitvm Illvstrissimi Viri Iacobi Pvteani S. Salvatoris Abbatis, Regiqve Christianissimo A Consiliis Et Bibliothecis Effvsa: Ac Illvstrissimo Excellentissimoqve Viro Iacobo Avgvsto Thvano Iacobi Avgvsti [...] filio [...].- Paris: Martinus 1657 (BN Paris: Mss. Fr. 16793, 380–397). Zum Kreis der Dupuys vgl. Nicaise: Les Sirènes (Anm. 60), S. 4–14; Isaac Uri: Un cercle savant au XVIIe siècle. François Guyet (1575–1655). D’après des documents inédits. Thèse Faculté des lettres Paris.- Paris: Hachette 1886, S. 8–63; Pierre Humbert: Un amateur. Peiresc 1580–1637.- Paris: Desclée de Brouwer et Cie 1933 (= Temps et visages), S. 97–112, insbes. S. 99 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Georges Cahen-Salvador: Un grand humaniste. Peiresc, 1580–1637.- Paris: Michel 1951. Des weiteren Harcourt Brown: Scientific Organizations in Seventeenth Century France (1620–1680).- New York: Russell & Russell 1967 (Erstauflage 1934), S. 6–16; Josephine de Boer: Men’s Literary Circles in Paris 1610–1660.- In: Publications of the Modern Language Association 63 (1938), S. 730–780, hier S. 730–736; Hess: Pierre Gassend (Anm. 62), S. 1–14: ›Der französische Späthumanismus‹ (grundlegend zum humanistischen Umfeld des Kreises); Pintard: Le libertinage érudit (Anm. 62), passim, insbes. S. 92 ff. (die Hoffnungen, die vielerseits an dieses Werk geknüpft waren, haben sich nicht erfüllt); Frances A. Yates: The French Academies of the Sixteenth Century.- London: The Warburg Institute 1947 (= Studies of the Warburg Institute; 15), S. 284, Anm. 5; Adam: Histoire de la littérature française au XVIIe siècle (Anm. 62), S. 187 ff. und S. 297 ff.; ders.: Les Libertins au XVIIe siècle (Anm. 62), S. 12 ff.; Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg (Anm. 10), S. 29 f. (Literaturangaben in Anm. 15); Martin: Livre, pouvoirs et société à Paris au XVIIe siècle (Anm. 17) (die zahllosen einschlägigen Stellen über die Dupuys und ihren Kreis über das Register leicht zu erschließen); Jürgen Voss: Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.- München: Fink 1972 (= Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim; 3), S. 145– 155 (mit zahllosen weiteren Literaturangaben). Der Verfasser ist Herrn Dr. Jürgen Voss für eine Reihe weiterführender Hinweise zu großem Dank verpflichtet. Die folgende knappe soziologische Skizze des Kreises in Anlehnung an de Boer, S. 731 f.
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Kreis umfaßte, um hier nur die bekannteren Namen zu nennen, Politiker wie den secrétaire d’Etat Henri-Auguste de Loménie, den chancelier de France Etienne d’Aligre, den Diplomaten Jean Hotman, Juristen wie Rigault, Kleriker wie die Bischöfe von Chartres, Marseille und Toulouse, Philosophen wie Gabriel Naudé, La Mothe le Vayer, François Luillier als Schüler Montaignes und Charrons, die großen Philologen wie du Vair, Saumaise, du Cange, Denis Petau, François Guyet, Historiker wie Théodore Godefroy und André Du Chesne, die französischen Schriftsteller wie Balzac, Silhon, Ménage, später Bossuet und schließlich als besonderes Element dieses Kreises Naturwissenschaftler wie Peiresc,89 Patin und vor allem Gassendi. Dazu kommen die zeitweiligen auswärtigen Mitglieder bzw. Korrespondenten wie Daniel und Nicolas Heinsius,90 Gronovius, Holstenius,91 Vossius, Gruter, Lambeck, Boecler, Portner, Wicquefort, Campanelle und schließlich Grotius. Daß die Politik – wie aus der Collection Dupuy bereits zu erschließen – eine bedeutsame – und vielfach geschickt kaschierte – Rolle in diesem Kreise spielte, ist mehrfach bezeugt, bisher jedoch nicht zum Angelpunkt einer historischen Darstellung gemacht worden.92 Von Interesse ist an dieser Stelle, welche Gestalten Colerus neben Grotius als Kontaktpersonen Opitzens in Paris hervorhebt.93 Es sind dies selbstverständlich die Dupuys selbst und der mit ihnen aufs engste befreundete Rigault, Nachfolger Casaubons in der Königlichen Bibliothek, zugleich großer Editor und als solcher an der Herausgabe des de Thouschen Werkes beteiligt, wiederum selbst aktiver Politiker, der auch in Deutschland mit seinem Verandtwortnis Schreiben rezipiert wurde.94 Des weiteren Saumaise, »der Varro unserer Zeit«, wie Colerus sich ausdrückt, bekanntlich Calvinist und als solcher Nachfolger Scaligers in Leyden, schließlich der älteste Sohn JacquesAuguste de Thous, François-Auguste, der wie sein Vater den Parlamentsweg eingeschlagen hatte, später jedoch am Rande in die Cinq-Mars-Verschwörung hineingeriet und mit dem Marquis auf Richelieus Betreiben 1642 in Lyon enthauptet wurde – was wiederum den Getreuen der Familie de Thou mit einer ve––––––––– 89
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Lettres de Peiresc aux frères Dupuy. Publiées par Philippe Tamizey de Larroque. Band I–III.- Paris: Imprimerie Nationale 1888–1892 (= Collections de documents inédits sur l’histoire de France. Deuxième série; 7). Vgl. Correspondance de Jacques Dupuy et de Nicolas Heinsius (1646–1656). Ed. Hans Bots.- La Haye: Nijhoff 1971 (= Archives Internationales d’Histoire des Idées; 40). In diesem Zusammenhang heranzuziehen Léon-Gabriel Pélissier: Les amis d’Holstenius. II: Les frères Dupuy.- In: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire. École Française de Rome 7 (1887), S. 62–128; ders.: Lettres inédites de Lucas Holstenius aux frères Dupuy et à d’autres correspondants.- In: Miscellanea Nuziale Rossi-Teiss.- Bergamo: Istituto italiano d'arti grafiche 1897, S. 511–550, hier S. 518–533. Ansätze für eine solche Betrachtungsweise – unter Bezug auf Wicqueforts ›Mémoires touchant les Ambassadeurs‹ – bisher nur bei Brown: Scientific Organizations in Seventeenth Century France (Anm. 88). Vgl. Colerus: Lobrede (Anm. 7), S. 211. Nicolas Rigault: Verandtwortnis Schreiben Vor den aller Christlichsten König/ Ludovicum Den XIII. Wieder der Auffrührischen Erinnerung Schmeheschrifft in Sachen der ›Confoederirten‹ Fürsten.- [s.l. s.p.] 1629. Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: GK 2193 (35).
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hementen (und damit Richelieu indirekt belastenden) Verteidigungsschrift auf den Plan rief.95 Zugleich nutzte Colerus die Gelegenheit zu einer knappen, aber wiederum aufschlußreichen Reverenz vor den großen calvinistischen Vertretern seiner eigenen Heimat Schlesien: Johann Hottomannus, ein würdiger Enkel aus einem berühmten Breßlauischen Rathsgeschlechte [...] und der grosse Gottesgelehrte, Daniel Tilenus, von Goldberg aus Schlesien, und viele andre grundgelehrte Männer, welche damals zu Paris in größter Menge anzutreffen waren,
hätten Opitz’ Weg gekreuzt.96 Jean Hotman war der Sohn des bekannten Calvinisten und politischen Schriftstellers François Hotman – die Hotmans waren unter Ludwig XI. in französische Königsdienste getreten –, der sich die konfessionelle, politische und schriftstellerische Leidenschaft seines Vaters bewahrte und als Diplomat unter Heinrich IV. wie Ludwig XIII. gleichermaßen in wichtigen Missionen vor allem in den protestantischen Fürstentümern des Reiches tätig war, obgleich er die Konversion Heinrichs IV. selbst nicht nachvollzogen hatte, wie dieser jedoch für interkonfessionellen Ausgleich wirkte.97 Und Tilenus, um 1590 aus Schlesien nach Frankreich gekommen, war als Professor für Theologie an der protestantischen Akademie in Sedan an einer der Hochburgen des Calvinismus tätig. Zunächst eifriger Kontraremonstrant, ging er unter dem Einfluß Gorvins später zum Arminianismus über, so daß er – seiner Überzeugung treu – Sedan verlassen mußte und publizistisch seinen Kampf gegen den orthodoxen Calvinismus wie den Papismus Bellarmins als wichtiger Verfechter absolutistischer Staatsgewalt und staatlicher Toleranz in Glaubensfragen fortsetzte.98 So hat Colerus – und unter diesem Aspekt muß seine Bio–––––––––
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Vgl. Pierre Dupuy: ›Mémoires et instructions pour servir à justifier l’innocence de Messire François-Auguste de Thou, Conseiller du Roi en son Conseil d’État.‹ Mit gesonderter Paginierung (S. 6–100) im siebten Band (1733) der Londoner Ausgabe des Geschichtswerks von de Thou bzw. gleichfalls mit gesonderter Paginierung (S. 1–188) im fünfzehnten Band (1734) der Pariser Ausgabe (vgl. Anm. 41). Zum ganzen Church: Richelieu and Reason of State (Anm. 1), S. 332 ff. Colerus: Lobrede (Anm. 7), S. 211. Der entsprechende Passus im Kontext des lateinischen Originals: »Porro non tantum illo, qvem dixi, parario & proxeneta, sed etiam propria virtute praevia & fama sibi fores ubiqve aperiente, accessit in Museo Cl. Salmasium, nunc Scaligeri apud Batavos optionem, nostri Seculi Varronem; in regno suo librario Nicolaum Rigaltium, Bibliothecae regium Praefectum; Puteanos magni parentis magnos filios; Hottomannum avo & patri simillimum, patritio apud Vratislavienses genere oriundum; Franciscum Thuanum, Jacobi filium, ac Danielem Tilenum Aurimontii è Silesia oriundum, magni nominis Theologum, ac summum plane Silesiae olim ereptum sidus, aliosqve innumeros doctissimos viros, qvorum Lutetiae, in compendio illo Galliae, tanta copia & tantus delectus, qvantus vix usqvam alibi gentium & terrarum inveniatur.« (S. 95). Zur Edition seines ›Syllabus irenicorum autorum‹ durch Bernegger vgl. die Brief-Ausgabe von Reifferscheid (Anm. 40), S. 814 f. Zur Familiengeschichte und zu weiterer Literatur vgl. den Artikel von H. Liermann in der NDB IX (1972), S. 655, sowie den entsprechenden Artikel im Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 30), Le seizième siècle, S. 380 f. Zu Tilenus vgl. Hartmut Kretzer: Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert. Die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berück-
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graphie stets auch gelesen werden – den Passus ›Opitz in Paris‹ mit einer versteckten Huldigung an die calvinistisch-irenischen Glaubensgenossen ausklingen lassen, derart der Sache seiner Jugend und der seiner Gleichgesinnten lange nach der Rekatholisierung Schlesiens die Treue bewahrend. Für Opitz hingegen wird man in Paris nicht primär die neuerliche Begegnung mit Protagonisten des irenischen Calvinismus in Anschlag bringen dürfen; dieser Aspekt seiner intellektuellen und politischen Biographie war seit langem in ihm befestigt. Was er in Paris erfahren konnte, betraf den Wiederaufstieg, die Restabilisierung und Ausweitung der absolutistischen Staatsgewalt nach dem Chaos der konfessionspolitischen Bürgerkriege. Sie war nicht zuletzt dem geschickten konfessionsneutralen Wirken Heinrichs IV. und auf andere Weise Richelieus zu danken, an dem die führenden Intellektuellen, die ›politischen‹ Gelehrten und Humanisten, einen so bedeutenden Anteil hatten. Mochte sich Opitzens aufgeklärter Irenismus noch während seiner DohnaZeit in Paris erneut bekräftigt finden, so dürfte er im Zentrum des europäischen Absolutismus vor allem den von ihm maßgeblich inaugurierten Interaktionismus zwischen Gelehrtentum und fürstlicher Territorialstaatsgewalt bestätigt gesehen haben. Nur dieser verhieß, wie Frankreich in großem Stil zeigte, die Überwindung des konfessionellen und sozialen Schismas, dessen blutige Konsequenzen seine schlesische Heimat soeben in voller Gewalt durchlitt. Ist die politische Biographie Opitzens an ihren markanten Punkten von bedeutsamen kultur- und konfessionspolitischen Manifestationen begleitet, so gilt das in gewisser Weise auch für seine Paris-Episode. Daß er im Auftrag Dohnas die Beccanus-Übersetzung zu absolvieren hatte, besagt hier nichts. Wohl aber vermochte er die Übersetzung von Grotius, die er noch in Paris – zweifellos unter dem Eindruck seiner Begegnung mit diesem – in Angriff nahm und im Wetteifer mit Colerus zum Abschluß brachte, seinen politischen Überzeugungen erneut zu assimilieren.
––––––––– sichtigung von Pierre Du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu.- Berlin: Duncker & Humblot 1975 (= Historische Forschungen; 8); ders.: Der Royalismus im französischen Protestantismus des 17. Jahrhunderts.- In: Der Staat 15 (1976), S. 503–520, S. 507.
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Der Nürnberger Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz. Soziale Mikroformen im schäferlichen Gewand
3.1 Die Pegnesen im Gang der Jahrhunderte. Eine rezeptionsgeschichtliche Skizze Gründungslegende Die Gründungsgeschichte des ›Pegnesischen Blumenordens‹ wird erstmals in Sigmund von Birkens Fortsetzung der Pegnitzschäferei (1645) erzählt.1 Sie ist Klaj in den Mund gelegt, dürfte jedoch von Birken stammen. Der junge Dichter führt sich mit seiner ersten größeren selbständigen Veröffentlichung ins literarische Leben Nürnbergs ein, indem er der Hirtengesellschaft an der Pegnitz als Ersatz für den formellen Gründungsakt, wie ihn andere Gesellschaften aufzuweisen haben, eine Gründungslegende verschafft. In dieser mischen sich historische, ätiologische und fabulöse Züge. Den historischen Kristallisationspunkt bildet die Hochzeit zweier Paare aus den Nürnberger Patrizierfamilien der Haller, der Schlüsselfelder und der Tetzel am 14. Oktober 1644. Diese Festivität verklären Harsdörffer und Klaj in ihrem Pegnesischen Schäfergedicht aus dem Jahr 1644, das die lange Kette der Nürnberger Schäfereien eröffnet, deren erstes Glied Birkens Fortsetzung im darauf folgenden Jahr bildet. Schon hier ist das Motiv des Wettkampfs eingeführt, zu dem Fama die beiden Sänger animiert. Sie verspricht eine Trompete als Preis für den Sieger. Bei Birken wird daraus ein Kranz aus Lorbeeren und Feldblumen. Doch Fama drückt sich um den Schiedsspruch, und die beiden Hirten vermögen sich nicht zu einigen, bis die Nymphe Echo den beiden Gratulanten rät, sich jeweils eine Blume aus dem Kranz zu wählen und die übrigen Blumen den später dem Orden beitretenden Mitgliedern zu reservieren.
Ordensembleme Diese Erzählung umspielt poetisch eine – vielleicht auf Harsdörffer und Klaj selbst zurückgehende, vielleicht aber auch erst durch Birkens Erfindung ange––––––––– 1
Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken, Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht 1644–1645. Hrsg. von Klaus Garber.- Tübingen: Niemeyer 1966 (= Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock; 8), Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei, S. 27 ff.
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regte – Gepflogenheit der Dichter des Nürnberger Ordens, neben ihrem Schäfernamen jeweils eine Blume auf einem weißen Seidenband zu tragen. Nicht zufällig ist der Lorbeerkranz Famas mit Feldblumen durchsetzt. Harsdörffer und Klaj hatten ihre Glückwünsche in Form eines Schäfergedichts, einer »Feldabhandlung«, wie es bei Birken heißt, vorgebracht und den niederen Stil der gewählten Gattung mehrfach hervorgehoben.2 Den Adressaten ihres Schäfergedichts hatten sie versichert: St[rephon]. Jhr wisset/ daß unsere Hütten nicht haben Auf Stättisch mit Schminke beschmükete Gaben. Kl[ajus]. Wir bringen hier Bäurische Hirtengedichte Bey unseren Heerden erwachsene Früchte.3
Erst anläßlich der Geburt der Kinder würden ihre »Flöten sich höher aufschwingen«.4 Der fingierten sozialen Deklassierung korrespondiert die Wahl der ›ringfügigen Bemerke‹ der Dichtergesellschaft, nämlich der Feldblumen, auf Grund derer sie, wie Klaj abschließend resümiert, »forthin die Gesellschaft der Blumen Schäfere heissen mag.«5 Darin ist zugleich ein Verweis auf die ›Fruchtbringende Gesellschaft‹ und die Pflanzen-Embleme ihrer Mitglieder enthalten. Harsdörffer hatte die Gründung des Ordens, die informell erfolgte und sich aus den vorliegenden Zeugnissen im einzelnen nicht mehr rekonstruieren läßt, ebenso wie Rist die Gründung des ›Elbschwanenordens‹, im Hinblick auf die ›Fruchtbringende Gesellschaft‹ gesehen.6 So wie er selbst Mitglied der renommierten Gesellschaft war, so sollte auch den begabtesten Dichtern der eigenen Gründung der Übergang in die überregionale Vereinigung erleichtert werden. Die anspruchslosen Feldblumen verweisen u.a. auf diesen bescheideneren Anspruch ebenso wie auf die andersgeartete soziologische Zusammensetzung des Ordens, der seine Entstehung eben nicht fürstlichem Interesse und fürstlicher Beteiligung verdankte.
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Ebd., S. 28. Harsdörffer, Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht (Anm. 1), Bl. A2r. Vgl. auch Birkens ›BlumenSonett‹ in ders.: Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (Anm. 1), Bl. ʌ2r: [...] Es lässt der Einfalts=stand Gelehrten Blumen=safft in Teutsche Sprache rinnen. Jch schlechter Blumenhirt leg mit getreuer Hand Die Früchte meiner Blum zu Eurer Füsse Sand. Die Blumen früchten mehr/ man wird es werden innen. Harsdörffer, Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht (Anm. 1), Bl. A2r. Birken: Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (Anm. 1), S. 31 f. Vgl. Johann Herdegen: Historische Nachricht von deß löblichen Hirten= und Blumen=Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr [...].- Nürnberg: Riegel 1744, S. 4 f. Vgl. auch Anm. 326. In diesem Zusammenhang auch Georg Neumark: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum Oder Ausführlicher Bericht/ Von der Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang/ Absehn/ Satzungen/ Eigenschaft/ und deroselben Fortpflantzung.- Nürnberg: Hoffmann [1669]. Reprint: München: Kösel 1970 (= Die Fruchtbringende Gesellschaft. Quellen und Dokumente; 3), S. 49 ff.
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Schäfermaske Der pastorale Charakter des Ordens ist schon in Birkens Fortsetzung durch das Ordensemblem der Flöte des Hirtengottes Pan versinnbildlicht. Aus dem Motto zu diesem Emblem »Mit Nutzen Erfreulich« ist so wenig über das Selbstverständnis der Nürnberger Dichter zu entnehmen wie aus den sonstigen spärlichen programmatischen Äußerungen, in denen die bekannte Trias aus Tugend, Frömmigkeit und Sprachpflege rekapituliert wird.7 Dieses erschließt sich vielmehr nur einer Analyse der Schäferfiktion selbst. Keine andere Dichtergesellschaft in Deutschland hat das pastorale Maskenspiel mit vergleichbarem Erfindungsreichtum und ähnlicher Intensität praktiziert wie die Nürnberger, nachdem ihre beiden größten Dichter erstmals im Schäfergewand aufgetreten waren und die Etablierung der Gesellschaft unter Bezugnahme auf dieses öffentliche Ereignis erfolgte. Hirt und Dichter sind bei den Nürnbergern zu Synonymen geworden. Viele Gedichte aus ihrem Kreis wahren das pastorale Kolorit, weil Hirten in ihnen auftreten; zahllose andere jedoch führen singende und erzählende Hirten ein, ohne daß sich diese Fiktion in Anlage und Ausstattung des Gedichts noch stilprägend auswirkte. Die von Vergil begründete und durch die europäische Tradition legitimierte Praxis, gesellschaftliche Anlässe unter Hirtennamen zu besingen, ist hier nicht selten zur Konvention erstarrt. Dem 18. Jahrhundert ist der klassizistische Verweisungszusammenhang von Schäfertum und Kasualpoesie – Nachzügler ausgenommen – verloren gegangen. Auf dem Höhepunkt der Gattungsentwicklung im 17. Jahrhundert hingegen, bei den Nürnbergern, ist er voller Bedeutung, bevor die Abnutzung und schließlich im letzten Drittel des Jahrhunderts die Auflösung einsetzt. In eins mit der Rezeption der Gattung Bukolik als des bevorzugten poetischen Mediums der Nürnberger ging die verhüllte Artikulation des sozialen und kulturellen Selbstverständnisses in ihren Schäfereien, die allein Gegenstand dieser Untersuchung ist. Eine in diese Richtung zielende Analyse kann sich in der Forschungsgeschichte auf keine Tradition stützen. Im Gegenteil bot die Vorliebe der Nürn––––––––– 7
Birken: Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (Anm. 1), S. 67. Weitere einschlägige Äußerungen zur Emblematik und Programmatik des Ordens neben Birkens Fortsetzung: Sigmund von Birken: Himmel-klingendes Schaeferspiel: dem Nachruhme deß [...] Johann Michael Dilherrns.- [s.l.] (1669), S. 4 ff.; ders.: Floridans Lieb= und Lob-Andenken seiner Seelig-entseelten Margaris: im Pegnitz-Gefilde/ bey frölicher Frülingszeit/ traurig angestimmet.- [s.l. s.a.]. [Mit gesonderter Paginierung an:] Sigmund von Birken: Todes-Gedanken und Todten-Andenken: vorstellend eine tägliche Sterb-bereitschaft und zweyer christl. Matronen seelige Sterb Reise.- Nürnberg: Kramer 1670, S. 236 ff. und S. 269 ff. (vgl. dazu auch unten Anm. 326 mit ausführlichem Textzitat); ders.: ›Zuschrift‹ an die Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens.- In: Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und DichtKunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy/ mit geistlichen Exempeln [...].Nürnberg: Riegel 1679. Reprint Hildesheim, New York: Olms 1973, Bl. ʌ3r–ʌ6v; Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim= und Dicht=Kunst [...].- Nürnberg: Michahelles und Adolph 1704, S. 44 ff.; Herdegen: Historische Nachricht (Anm. 6), Bl. ʌ5 ff., S. 1–62.
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berger für das pastorale Genre durchweg eher Veranlassung zu Polemik und Kritik statt zu geschichtlich fundierter Erschließung des reichhaltigen Quellenguts. Was insbesondere seit Beginn des 18. Jahrhunderts gegen die allegorische Denaturierung von innerer und äußerer Natur in der Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts vorzubringen war, kristallisierte sich in der Verunglimpfung dieses bei den Nürnbergern exzessiv gehandhabten Prinzips. Einige Stationen der Rezeptionsgeschichte der Nürnberger zu rekapitulieren heißt daher zugleich, an einem signifikanten Einzelfall Einblick zu gewinnen in die Widerstände, die in der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung bis tief ins 20. Jahrhundert hinein einer adäquaten Exegese der Pastoraldichtung des 17. Jahrhunderts entgegenwirkten.8
Kritik der Klassizisten und Galanten Die Auseinandersetzung um den Orden und insbesondere um seine großen Gründergestalten hebt bekanntlich noch im 17. Jahrhundert an, kreist jedoch zunächst fast ausschließlich um sprachlich-stilistische Probleme. Sie nimmt ihren Ausgang offensichtlich von einer knappen kritischen Einlassung Morhofs im Rahmen seiner Skizze zur Entfaltung der deutschen Literatur, mit der die zusammenhanglose Präsentation literarhistorischer Daten im deutschsprachigen poetologischen Schrifttum erstmals überwunden wird.9 Zwar mangle es Dichtern wie Harsdörffer, Klaj und Birken »nicht an Geist/ Erfindung/ sinnreicher Außbildung«.10 »Aber es ist doch etwas frembdes dabey/ daß in den Ohren der Schlesier und Meißner nicht wol klinget. Sie gebrauchen gewisse Freyheiten in versetzungen und beschneidungen der Wörter/ fügung der Rede/ und in dem numero, daß den etwas unlieblich lautet.«11 Omeis, nach Harsdörffer, Birken und Limburger viertes Oberhaupt des Ordens, hat diese Kritik zwanzig Jahre später akzeptieren und zugestehen müssen, daß Clajus/ Floridan und mehrere/ sich in Ersinnung neuer Wörter/ auch der andere insonderheit durch gezwungene Red-Fügung= und Wort-Versetzungen in den Versen zimliche Freiheit genommen; derer sich etliche nachgekommene Mitglieder des Pegniz-Ordens/ welche den sonst sinnreichen Herrn von Birken allzuviel nachahmen wollen/ ebenfalls gebrauchet: wie denn auch meines Orts mich hiervon nicht ausnehme/ und bedaure/ daß ich
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Eine knappe Skizze zur Rezeptionsgeschichte der Nürnberger auch in: Die Pegnitz-Schäfer. Nürnberger Barockdichtung. Hrsg. von Eberhard Mannack.- Stuttgart: Reclam 1968 (= Universal-Bibliothek; 8545–8548), S. 217 ff. Zu Morhof als Literarhistoriker vgl. Sigmund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 2., durchgesehene, um ein Sach- und Personenregister sowie ein chronologisches Werkverzeichnis vermehrte Auflage.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 150 ff.; Marie Kern: Daniel Georg Morhof. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literaturschreibung im 17. Jahrhundert.- Diss. phil. Freiburg/Breisgau 1928, S. 56 ff. Daniel Georg Morhof: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie [...].- Kiel: Reumann 1682, S. 433. Ebd., S. 433 f.
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vor zwanzig und noch weniger Jahren/ die rechte natürliche Wort-Fügung/ secundum con12 structionem prosaicam, wie Herr Weise redet/ in den Versen nicht allezeit beobachtet.
So läßt sich an der einzigen das 17. Jahrhundert produktiv überdauernden Dichtergesellschaft der Einbruch des neuen, von Frankreich inspirierten klassizistischen Stilideals auch auf der Ebene der poetischen Theorie beobachten.13 Seine Inthronisation geht überall Hand in Hand mit einem Rückgriff auf die Begründer der neuen deutschen Kunstdichtung. Unter den Nürnbergern profitiert Harsdörffer von der Aufwertung der Anfänge und der damit verbundenen und im Umkreis des Klassizismus erstmals konsequent vollzogenen Dissoziierung der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, während Birken fortan für den Abfall in stilwidrige manieristische Exzesse einzustehen hat. Dementsprechend kann auch Omeis darauf verweisen, daß schon von vielen Jahren her/ und noch bei Lebens-Zeiten des seel. Herrn Morhofs/ unterschiedliche Gedichte von mehr-belobter Gesellschaft herausgekommen/ darinnen dergleichen neu-ersonnene Red-Arten/ und Wort-Versetzungen in ligata, nicht zu finden. Wir haben uns nemlich die ungezwungene natürliche Schreib-Art in den Reim-Gedichten des Herrn von Rosenroht/ Herrn Morhofs selbsten/ Herrn Weisens/ und dero Erinnerungen/ bestens gefallen laßen/ und unsers hochverdienten Herrn Harsdörfers auch hierinnen ganz richtig= und ungezwungene Schreib-Art/ nach und nach wiederum eingeführet.14
Zurückgewiesen hat Omeis die in Morhofs Kritik gleichzeitig mitschwingende Vorstellung einer gewissen normativen Funktion der schlesischen und Meißner Mundart. Es hat ja iedwedere Haubt-Sprach/ als die Griechische und Teutsche sind/ ihre vielfältig= und besondere dialectos oder Mund-Arten; [...] derer keine sich von der andern gerne neumeistern und reformiren lässet. [...] Zudeme werden die Herren Schlesier und Meißner wol nicht verlangen/ daß alle andere hoch-Teutsche Mund-Arten sich nach ihrem Gehör alleine richten sollen.15
›Neu-meistern‹! Hier erscheint der Name eines zweiten und bei Omeis im entsprechenden Zusammenhang namentlich nicht genannten Kritikers, der sich in seinem bio-bibliographischen Kompendium De poetis Germanicis huius seculi praecipuis dissertatio compendiaria (1695) mehrfach überaus despektierlich über einzelne Ordensmitglieder geäußert hatte.16 Omeis hatte es abgelehnt, in eine Auseinandersetzung mit »dergleichen unzeitige judicia« einzutreten.17 –––––––––
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Omeis: Gründliche Anleitung (Anm. 7), S. 52. Zu Omeis vgl. Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft (Anm. 9), S. 172 ff., sowie Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Band I: Barock und Frühaufklärung. 2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage.- Berlin: de Gruyter 1958 (= Grundriß der Germanischen Philologie; 13/1), S. 307 ff. Dazu außer der genannten Literatur Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts.- Stuttgart: Metzler 1966 (= Germanistische Abhandlungen; 15), S. 400 ff. Omeis: Gründliche Anleitung (Anm. 7), S. 53. Ebd., S. 53 f. Vgl. Erdmann Neumeister: De Poëtis Germanicis Hujus seculi praecipuis Dissertatio Compendiaria.- [s.l.] 1695. Zweisprachiger Neudruck hrsg. von Franz Heiduk in Zusammenar-
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Sie kamen indes kurz nach Erscheinen seiner Poetik in der Redaktion durch Hunold-Menantes erst recht in Umlauf.18 Dort hieß es anläßlich eines Rundgangs durch die literarischen Landschaften von den »Nürnbergern/ oder so genannten Pegnitz-Schäffern«: Sie brüten allerhand Worte aus/ welche man zu tausenden/ wie die Raupen=Nester verbrennen solte. Es ist ihrer bereits zu unterschiedenen mahlen gedacht worden. Wer ein guter Teutscher Poet seyn will/ mag sich nur nicht unter dieser Hirtenzunfft so gemein machen/ daß er seine Renommée drüber verschertzet.19
Wie bei Morhof und anderen Verfechtern einer von Wort- und Stilexperimenten gereinigten deutschen Sprache steht auch bei Neumeister hinter dieser Kritik eine Konzeption von Sprache als ein normiertes, überregionales Kommunikationsinstrument, welches sein Fundament und Vorbild in der Bibelübersetzung Luthers, der Meißner Kanzleisprache und dem Werk Weises besitzt. Die Nürnberger machen sich des Vergehens schuldig, diese Norm nicht gehörig zu respektieren.20 Neben der Vorliebe zum daktylischen Versmaß ist es vor allem ihr Hang zu Neologismen, der den Spott Neumeisters auf sich zieht.21 –––––––––
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beit mit Günter Merwald.- Bern, München: Francke 1978 (= Deutsche Barock-Literatur). Vgl. dort die entsprechenden Artikel zu Harsdörffer, Klaj, Birken, Kempe etc. Zu Neumeister wiederum an erster Stelle Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft (Anm. 9), S. 175 ff. Omeis: Gründliche Anleitung (Anm. 7), S. 55. Zu Christian Friedrich Hunold-Menantes bzw. Erdmann Neumeister und zur Frage der Verfasserschaft von: Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen (Anm. 19) vgl. außer dem schon herangezogenen Werk Lempickis auch Hermann Vogel: Christian Friedrich Hunold (Menantes). Sein Leben und seine Werke.- Diss. phil. Leipzig 1897, S. 84 f.; Ulrich Wendland: Die Theoretiker und Theorien der sogen. galanten Stilepoche und die deutsche Sprache. Ein Beitrag zur Erkenntnis der Sprachreformbestrebungen vor Gottsched.- Leipzig: Eichblatt 1930 (= Form und Geist; 17), S. 39 ff.; Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik (Anm. 12), S. 310 ff. und S. 421 f. Hunold, Neumeister: Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen [...].- Hamburg: Liebernickel 1707, S. 499 f. Vgl. ebd., S. 501: »So weiß ich auch/ daß die Nürnberger viel schöne Gedichte/ welche gut und zierlich nach unserer Arth elaboriret gewesen/ verlacht/ und nicht einen Creutzer wehrt geacht haben/ sondern sie haben ihre Saalbadereyen/ wie die Affen ihre Jungen/ und wie die Spanier ihre Mäntel/ über alles geliebet und aestimiret. Doch ihre eigenen Lands=Leute/ welche eine Zeitlang in Meissen gelebet/ haben sie vor Narren gescholten. Es ist eben eine Opera/ Arminius genannt/ in Druck kommen/ welche Negelein gemacht/ von dieser machen sie einen grössern Staat/ als weyland Augustus von der Aeneide des Virgilii. Als ich sie aber laß/ kriegte ich die Colica davon.« Vgl. ebd., S. 31, anläßlich der Behandlung des daktylischen Versmaßes, »Welches denn einige/ doch nicht alle/ (damit man dem löblichen Orden nicht zu nahe trete) Pegnitzschäffer sehr im Gebrauch haben/ und öffters neue und dähmische Wörter darzu setzen/ welche sich schicken/ wie das fünffte Rad am Wagen. Z.E. Es blincken/ es flincken/ es wincken die Sternen/ Lernen von fernen/ Flimmern und hallen/ Schimmern und schallen. Der Kerl muß einen Tubum Acusticum gehabt haben/ daß er die Sterne hallen und schallen gehöret. Vielleicht hat er auch die Flöh husten sehen/ und das Graß wachsen hören. Basta!«
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Daß Neumeister um die Jahrhundertwende mit seiner Kritik nicht alleine steht, zeigen etwa die Überschriften oder Epigrammata Wernickes: Wörterspiel. Kein Wunder, dass am Pegnitz-Strand, Wo viel gekrönte Schäffer grünen, Das Aug ein Stirn-Gestirn, die Au’ die Bühn der Bienen, Die Freud der Sinnen-Sonn sorgfältig wird genant, Ob gleich die stoltze Wort meist den Verstand verkehren. Denn, wenn an diesem fruchtbarn Ort Parnassus schwanger ist; so pflegt er zu gebären Stat einer Maus, ein Zwilling-Wort.22
Fehlende Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert Wenn sich gleichwohl im 18. Jahrhundert keine stetige Auseinandersetzung mit den Stilpraktiken der Nürnberger konstatieren läßt, so hat dies seine Ursache darin, daß nicht sie, sondern die Schlesier der zweiten Generation als Paradigma ›schwülstiger‹ Schreibart fungieren und als solche das stilistisch-poetologische und literarhistorische Interesse auf sich ziehen.23 Es ist daher nur symptomatisch, wenn die Pegnesen in Gottscheds Critischer Dichtkunst kaum in Erscheinung treten. Die Stilmuster werden seit der dritten, stärker historisch ausgerichteten Auflage einerseits den klassizistischen Zeitgenossen und andererseits den Dichtern der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entnommen, mit Opitz als dem großen Gewährsmann an der Spitze. Die Kritik entzündet sich – wie bei den Schweizern – an den Schlesiern. Sie ziehen den Bannstrahl des aufgeklärten Reformators auf sich; die Nürnberger bleiben weitgehend verschont.24 ––––––––– 22
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Christian Wernicke: Überschrifte Oder Epigrammata In acht Büchern/ Nebst einem Anhang von etlichen Schäffer=Gedichten [...].- Hamburg: Hertel 1701, S. 82. Kritischer Neudruck: Christian Wernickes Epigramme. Hrsg. und eingeleitet von Rudolf Pechel.- Berlin: Mayer &. Müller 1909 (= Palaestra; 71), S. 287 mit Anm. 4. Dazu grundlegend Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Storia della sua ricezione. Band I: 1661–1800.- Pisa: Athenaeum 1975 (= Athenaeum; 1). Deutsche Fassung unter dem Titel: Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Band I: 1661– 1800. Aus dem Italienischen von Heribert Streicher.- Tübingen: Niemeyer 1978. Vgl. z.B. Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band VI/1: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Erster, allgemeiner Theil. Hrsg. von Joachim Birke, Philip M. Mitchell.- Berlin, New York: de Gruyter 1973 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 40), S. 295, anläßlich der Einführung von Neologismen: »Ob unsre Muttersprache es auch so weit bringen könne, das haben die Pegnitzschäfer und Zesianer nicht unversuchet lassen wollen. Die ersten hießen ihren nürnbergischen Strom, die holdrinnende und würbelfriedige Pegnitz [...]. Fiengen sie aber gar an, die Natur gewisser Dinge mit ihren neuen Wörtern nachzuahmen; so waren sie ganz unvergleichlich.« Zur Kritik Gottscheds in seiner Ausführlichen Redekunst vgl. ders.: Ausgewählte Werke. Band VII/1: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Teil. Hrsg. von Joachim Birke, Philip M. Mitchell. Bearb. von Rosemary Scholl.- Berlin, New York: de Gruyter 1975 (= Ausgaben
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Eine lebendige Rezeptionsgeschichte, wie sie unter positivem Vorzeichen Opitz und seine Generation und unter negativem die späteren Schlesier im 18. Jahrhundert zu verzeichnen haben, ist ihnen versagt geblieben.25 Nicht einmal im Werk Herders hat ihr Wirken Spuren hinterlassen.
Stimmen aus der Romantik Hans Mayers Diktum, »daß die Anfänge deutscher Literaturwissenschaft im heutigen Sinne weder auf die Brüder Grimm zurückgehen noch auf die Brüder Schlegel«, bewährt sich auch an einem Spezialfall wie der Aufnahme der Nürnberger in der literaturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung.26 Harsdörffer verdiene als Übersetzer der Diana Montemayors sehr gelobt zu werden, teils wegen der Wahl, teils wegen des Strebens nach wahrhaft poetischer Nachbildung des Originals. Er hat in der Prosa die liebliche Silben-, Wort- und Periodenfülle beibehalten, und in Ansehung der eingemischten Gedichte hat, so viel mir bekannt ist, kein anderer aus der damaligen Zeit, sich den schönen südlichen Formen, sowohl den italienischen der Kanzone, des Sonetts, der Sestine usw., als den ursprünglich spanischen, der kurzen Lieder mit Variationen, der Glosse etc. so glücklich angenähert wie er, so daß er fast nur noch einen Schritt zu tun hatte, um ganz das Rechte zu treffen.27
Dieser Hinweis August Wilhelm Schlegels zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Anteil der Nürnberger und insbesondere Harsdörffers an der Erschließung –––––––––
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deutscher Literatur des XV. bis VXIII. Jahrhunderts; 53), S. 337 f., S. 373 f. Zum Zusammenhang vgl. Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker (Anm. 13), S. 400 ff., insbes. S. 405 ff. Einige Zeugnisse, die den Tenor der Anschauungen hinreichend dokumentieren: August Küttner: Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. Von Kaiser Karl, dem Großen, bis aufs Jahr 1780. Band I.- Berlin: Voß 1781. Hier S. 153 f. über Harsdörffer: »Er weicht zu sehr von der schönen Einfalt der Natur ab, und ist minder bemüht, durch neue, oder starke Gedanken zu rühren, als durch allerley modische Schnörkel und Blumen zu ergötzen. Auch fällt er, aus Begierde durchaus rein zu schreiben, ins Gesuchte und Platte.« Olla Potrida 7 (1784), S. 37 f.: »Das natürliche Schöne, das Opitz und seine Nachfolger den Teutschen empfohlen hatten, ward bald wieder verkannt, und durch einen verderbten Geschmak verderbt. Georg Philipp Harsdörfer [...] ward das erste Muster von geschmaklosen Tändeleien, und Spielereien. [...] Sein poetischer Trichter beweist, daß er das Wesen der Dichtkunst nicht einsah, sondern daß er glaubte, Witzeleien in Reime gebracht wären Gedichte.« Insbes. durch diesen Orden sank »die teutsche Poesie zu spielender Reimerey herab.« (S. 38). Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen, nebst kritischen und historischen Abhandlungen über Gegenstände der schönen Künste und Wissenschaften 1 (1792), S. 252: »Welche Dürre, welche Unfruchtbarkeit« in der nachopitzschen Dichtung! »Oder soll ich etwa unter den Epopöen Hochbergs habspurgischen Ottobert und Postels Wittekind nennen, und als Idyllen Floridans (Siegmunds von Birken) Schäfereyen an der Pegnitz und die Eklogen des geschwätzigen und überzierlichen Neukirchs anpreisen?« Hans Mayer: Literaturwissenschaft in Deutschland.- In: Das Fischer Lexikon. Band 35/1: Literatur II. Erster Teil. Hrsg. von Wolf-Hartmut Friedrich, Walther Killy.- Frankfurt/ Main: Fischer 1965, S. 317–333, S. 318. August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. von Edgar Lohner. Band IV: Geschichte der romantischen Literatur.- Stuttgart: Kohlhammer 1965, S. 65.
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und Vermittlung der Formenwelt der südlichen Romania für die deutsche Literatur ist kaum beachtet, geschweige denn weiterentwickelt worden. Statt dessen erscheinen gleich zu Beginn der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts jene Klischees, die nun zählebig fast mechanisch tradiert werden und das Bild der Nürnberger bis tief in das 20. Jahrhundert hinein bestimmen. Da der Rahmen, in dem die folgenden Äußerungen stehen, an anderer Stelle umrissen wurde, reicht hier eine kurz kommentierte Revue.28 1805 hatte Franz Horn – ohne Werturteile zu fällen – die bis in die Gegenwart reichende Existenz des ›Pegnesischen Blumenordens‹ erwähnt und Harsdörffer und Klaj kurz behandelt.29 Seine wiederholt zitierte und offensichtlich verbreitete Poesie und Beredsamkeit der Deutschen in der erweiterten Fassung von 1822 bleibt dann, wie so viele Nachfolger, an Äußerlichkeiten hängen, ohne dem Orden einen historisches oder literarisches Interesse beanspruchenden Aspekt abgewinnen zu können. Tändeleien mit Blumen und Bändern, Buchstaben und Sylben, bildeten einen nicht geringen Theil der Beschäftigung, nicht selten ging man ausdrücklich auf die seltsamsten Künsteleien aus, und oft wurde dem Kindischsten und Geziertesten der meiste Beifall.30
Zurückhaltend äußert sich Bouterwek in seiner Charakteristik der Sprachgesellschaften über den Orden an der Pegnitz. Die Nürnberger Vereinigung wäre ihrer soziologischen Zusammensetzung nach besonders qualifiziert zur Förderung der deutschen Literatur gewesen, denn die »am meisten geltenden ihrer Mitglieder waren Gelehrte, nicht Fürsten und Herren« wie in der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹.31 Zum ›Patriotismus‹ trete bei ihnen ein lebhaftes Interesse an deutscher Sprache und Poesie. Gleichwohl hat auch diese Gesellschaft zu nicht viel mehr genützt, als, mehrere gute Köpfe des Zeitalters in nähere Verbindung zu bringen, und ein gemeinschaftliches Interesse für die deutsche Sprache und Poesie unter ihnen zu erhalten. Mit Ordensnahmen und Sinnbildern tändelten die Pegnitzschäfer, wie die Mitglieder der fruchtbringenden Gesellschaft.32
Diese Einschätzung konkretisiert sich anläßlich einer Betrachtung der Schäferdichtung, wie sie im 17. Jahrhundert vor allem in Nürnberg eine Heimstatt fand, ––––––––– 28
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Vgl. Klaus Garber: Martin Opitz – ›der Vater der deutschen Dichtung‹. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.- Stuttgart: Metzler 1976, S. 74 ff. Franz Horn: Geschichte und Kritik der deutschen Poesie und Beredsamkeit.- Berlin: Unger 1805, S. 134 und S. 123 ff. Franz Horn: Die Poesie und Beredsamkeit der Deutschen, von Luthers Zeit bis zur Gegenwart. Band I.- Berlin: Enslin 1822, S. 294. Lesenswert ist die Birken-Biographie Horns S. 351 ff., insbes. über die Einwirkung Lambecks auf die Arbeit an Johann Jakob Fuggers ›Österreichischem Ehrenspiegel‹, S. 354 f. Friedrich Bouterwek: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts.- Göttingen: Röwer 1817 (= Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 3. Abteilung: Geschichte der schönen Wissenschaften; 10), S. 43. Aufnahme dieser moderaten Kritik bei Ludwig Wachler: Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationalliteratur. Theil II.- Frankfurt/Main: Hermann 1819, S. 41. Zur Charakteristik Birkens S. 43. Bouterwek: Geschichte der Poesie (Anm. 31), S. 43.
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nachdem Opitz vorangegangen war und mit seiner Hercinie »das Seinige beigetragen hatte, Theorie und Praxis in diesem Felde der Dichtung auf einen Irrweg zu leiten.« Schäferdichtung, so Bouterwek, bezieht sich auf ein »romanisches Arkadien«.33 Im 17. Jahrhundert jedoch sei man »falschen Vorstellungen« über die bukolische Poesie verhaftet gewesen und »modelte« sie entsprechend unter Federführung der Pegnesen.34 Dieses von Bouterwek nicht weiterentwickelte, im Grundschema jedoch bereits klar erkennbare Argumentationsmuster nimmt alsbald deutlichere Konturen an.
Verdikt in der Literaturgeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts Schon in der ersten Auflage zu Kobersteins Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur ist zu lesen, daß die Nürnberger Gesellschaft auf ihre Weise »durch die süßlichen Tändeleien einer sogenannten Schäferpoesie« daran mitgewirkt habe, »den Geschmack der Deutschen noch mehr zu verbilden, wie er es schon war«.35 In der fünften und letzten Auflage seines Werkes ist Koberstein nicht nur ausführlicher, sondern auch deutlicher geworden. Die Praktizierung des theoretischen Grundsatzes vom bucolicum carmen als vetustissimum genus führe gerade bei den Nürnbergern »zu den gröbsten Verirrungen des Geschmacks und zu der äussersten Unnatur und den albernsten Spielereien im Dichten«.36 In »dem Anbringen von Allegorien und Sinnbildern, in dem Spielen mit Wortklängen und metrischen Formen«, seien die Nürnberger weit über Opitz hinausgegangen, dessen Hercinie ihnen gegenüber »den Anschein eines nicht bloss verständigen, sondern selbst geschmackvollen Werkes gewinnt.«37 Bei den ›Jungdeutschen‹ ist von vornherein keinerlei Verständnis für den vermeintlichen Eskapismus in ein schäferliches Arkadien zu erwarten. »Diese Gesellschaft, welche sich besonders in eine saftlose Schäfersucht und Idyllenlehre hinein schwärmte, wo man sich süße Hirtennamen und Milchbezeichnungen gab, dauert sogar jetzt noch in anderer Gestalt fort, zu einem Kasino war sie immer gut.«38 Daß auch Vilmar auf der Gegenseite in dieser »unglückliche[n] Grille des arkadischen Schäferlebens« nur die Wahrzeichen einer »dem wahren, frischen Naturleben völlig entfremdeten Welt« zu sehen vermochte, um auf die–––––––––
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Ebd., S. 253. Ebd., S. 253. August Koberstein: Grundriß zur Geschichte der deutschen National=Litteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen.- Leipzig: Vogel 1827, S. 132. August Koberstein: Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Hrsg. von Karl Bartsch. Band II: Vom Anfang des siebzehnten bis zum zweiten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts. 5. umgearbeitete Auflage.- Leipzig: Vogel 1872, S. 194. Ebd., S. 194 f. Heinrich Laube: Geschichte der deutschen Literatur. Band I.- Stuttgart: Hallberger 1839, S. 250. Vgl. auch Theodor Mundt: Allgemeine Literaturgeschichte. Band II: Die Literatur der Reformationsperiode und des achtzehnten Jahrhunderts.- Berlin: Simion 1846, S. 298: »Noch mehr ins Lächerliche hinüber [als die Zesensche Vereinigung] schimmerte die Gesellschaft der Pegnitzschäfer«.
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se Weise seinem Bild einer heilen Vergangenheit Relief zu verleihen, verwundert nicht.39 Aber auch Historiker wie Kurz und Hettner haben keinerlei Anstrengung unternommen, derartige Klischees zu durchbrechen, sondern sich gleichfalls reflexionslos dem Hantieren mit völlig inadäquaten Kategorien überlassen. Kurz hebt zwar ein Element von Phantasie und Heiterkeit bei den Nürnbergern hervor, das sie »dem bloß reflektirenden Verstande der Opitzischen Schule [...] und ihrem Ernst« entgegensetzten, doch verleite sie der extensive Gebrauch der Allegorie zu »kindische[n] Spielereien«.40 »Da sie die Poesie im wirklichen Leben nicht erkannten, suchten sie sie außerhalb desselben und bildeten sich zu diesem Behufe eine phantastische Schäferwelt«.41 Hettner äußert sich über die Nürnberger in einem Atemzug mit den Schlesiern: Es ist neuerdings Sitte geworden, die Pegnitzschäfer und die zweite schlesische Schule als einen Fortschritt an innerer Poesie, als eine berechtigte Auflehnung der Leidenschaft und Sinnlichkeit gegen die kahle Nüchternheit der Opitzianer zu betrachten. Wer dergestalt spricht, hat nie eines dieser Gedichte gelesen. Der Schmutz und die freche Unnatur, welche hier den Grundton ausmacht, ist nicht Leidenschaft und gesunde Sinnlichkeit; sie ist dieselbe lüsterne Gier, mit welcher heut die halbbarbarischen slavischen Völker die Hefe der allermodernsten französischen Blasirtheit verschlingen.42
Zwischen den Polen eines eher vitalistisch gefärbten Naturverständnisses und einer eher elegischen Sehnsucht nach einer dem Alltag entrückten und idyllisch verklärten Schäferwelt bewegt sich, was die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung kritisch zur Natur- und Landdichtung des 17. Jahrhunderts vorzutragen hat. Daß sich die Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts einer orgiastischen und einer empfindsamen Verklärung von Natur gleichermaßen versagt, ist das Skandalon, das zu stets neuen Attacken herausfordert. Sie ist nicht in dem gewünschten Sinn als eine der bestehenden Realität gegenüber kontrastive Dichtung angelegt. Zudem verhindert die allegorische Durchdringung von Schäfertum und Natur die Möglichkeit einer empfindsam-erbaulichen Identifizierung. ––––––––– 39
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A[ugust] F[riedrich] C[hristian] Vilmar: Geschichte der deutschen National-Litteratur. 21., vermehrte Auflage.- Marburg, Leipzig: Elwert 1883, S. 295. – Goedekes Aversion gegen das 17. Jahrhundert schlägt auch hinsichtlich der Nürnberger durch. Er verweist auf die den Nürnbergern mit den Romantikern gemeinsame Affinität zu den Spaniern. Vgl. Elf Bücher Deutscher Dichtung. Von Sebastian Brant (1500) bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen [...]. Hrsg. von Karl Goedeke. Erste Abtheilung: Von Sebastian Brant bis J.W. Goethe.- Leipzig: Hahn 1849, S. 342 f. Zur Gesamtbeurteilung des Ordens ebd., S. 218: »Der pegnesische Blumenorden ergab sich, wie die Romantiker späterer Tage, dem ausländischen Spiel und Getändel, schuf aber doch einzelne, wenn auch nicht poetische, Werke, die noch jetzt Achtung verdienen.« Interessant die Einschätzung der Rolle Lambecks, S. 348 f. Heinrich Kurz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller. Band II: Vom ersten Viertel des 16. Jahrhunderts bis ungefähr 1770. 7., unveränderte Auflage.- Leipzig: Teubner 1876, S. 229. Ebd., S. 229. Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Erstes Buch: Vom westfälischen Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen. 1648– 1740.- Braunschweig: Vieweg 1862, S. 180.
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Die wenigen, in der Rezeptionsgeschichtsschreibung gleichfalls zu beobachtenden Versuche aber, die barocke Schäferdichtung in dieser Richtung zu vereinnahmen, sind nicht weniger weit entfernt von der historischen Realität. Diese bis in die jüngste Literaturgeschichtsschreibung sich fortsetzende, immer zu Lasten des 17. Jahrhunderts sich auswirkende Inkongruenz zu paralysieren, ist nicht zuletzt Aufgabe einer sachgemäßen geschichtlichen Erschließung des vorliegenden Quellenguts, die im Umkreis des Historismus gerade qua Einfühlung nicht zu bewerkstelligen war.
Historische Prägnanz im Werk von Gervinus Auch Gervinus zeigt sich nicht unbeeinflußt von derlei ästhetischen Werturteilen. Weil so wenig von der großen europäischen Pastoraldichtung eines Vergil und Sannazaro, eines Sidney und Montemayor in den Schäfereien der Nürnberger zu spüren sei, blieben sie »über alle Begriffe ungenießbar. [... D]ie deutschen Schäfereien [...] sind so ungehobelt und so roh hierneben, daß man den wachsten Verstand in peinlichster Anstrengung erhalten muß, um nur auf Augenblicke in der Lectüre auszudauern.«43 Und anläßlich der Besprechung des Pegnesischen Schäfergedichts: In dergleichen eingestreuten Gedichten ist alles falscher Prunk und Zier, und affektirter Schwung; es steckt hinter der ganzen Manier dieser Dichter eine Ahnung von einem hohen Poetischen; sie wollen über den Frost des Opitz weg und wissen nicht mit welchen Mitteln; es ist wie eine stete Aufregung, die gesucht wird, und der doch die Schwerfälligkeit des Vortrags Eintrag thut. Diese Schwerfälligkeit soll hinter einer überladenen Prose, hinter einer Mannichfaltigkeit von erfundenen Epitheten, hinter einer anakreontischen Grazie, hinter einem Fluß daktylischer Maße oder onomatopoetischer Naturlaute versteckt werden und wird nur desto sichtbarer und beunruhigender.44
Wie seine Literaturgeschichte insgesamt, so hebt sich jedoch auch sein Kapitel über die Nürnberger weit über das übliche Niveau hinaus. Gervinus weist auf die wichtige Rolle der Frauen in der Gesellschaft hin und macht auf die enge Verflechtung einiger Nürnberger Geschlechter mit dem Orden aufmerksam. Von ihm stammt die genauere formtypologische Beschreibung der Prosaekloge der Nürnberger einschließlich der geistvollen Bemerkung, sie »pflanzten gleichsam eine poetische Geschichte in dieser Gattung fort«.45 Und Gervinus kommt das Verdienst zu, an dem zumeist als geschraubt und manieriert geltenden Schäferdichter Birken ein Moment entdeckt zu haben, das für die Erkenntnis der Gattung der Prosaekloge von eminenter Bedeutung ist. Das Auftreten Birkens bezeichnet in den Augen von Gervinus insofern gegenüber Harsdörffer einen Fortschritt, als es ihm gelinge, der Schäferdichtung ––––––––– 43
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Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National=Literatur der Deutschen. Dritter Theil: Vom Ende der Reformation bis zu Gottsched’s Zeiten.- Leipzig: Engelmann 1838 (= Historische Schriften; 4), S. 292. Ebd., S. 293. Ebd., S. 290.
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Substanz durch Bindung an die politisch-geschichtliche Welt zu verleihen und damit den Anschluß dieser Gattung an den politisch-heroischen Roman herzustellen.46 Von hierher erschließt sich Gervinus einen ganz neuartigen Zugang zu Stücken wie Birkens Teutonie, dem Ostländischen Lorbeerhain und der Guelfis. Wie reich, gelehrt, unterrichtet erscheint hier Birken gegen die Klay, Opitz, Kempe, Brehme, Gläser und die Anderen, die sich in dieser Gattung versucht haben! wie viel Stoff ist hier statt der sonstigen Nichtigkeit, wie viele treffliche Stellen innerhalb der Prosa.47
Nach 1848 Unter den literarhistorischen Darstellungen nach 1848 muß an diejenige Menzels erinnert werden, in der ein Deutungsmuster entworfen wird, das in dieser Ausführlichkeit und Deutlichkeit bisher nicht anzutreffen war und seither als beliebter Schlüssel zur Erklärung der Nürnberger Schäfereien kursiert. Sie würden [...] als bloße Nachahmer erscheinen, wenn ihren Idyllen nicht der dreißigjährige Krieg zum blutigen Hintergrunde diente. In all ihrer Unnatur und Affectation liegt doch ein natürliches Gefühl, die Sehnsucht aus dem blutigen Greuel der Schlachten und Verwüstungen und aus der Arglist der Diplomatie heraus zur Ruhe, zum Frieden, zum neuen Genuß des Lebens. Diese Sehnsucht mußte in der Form der Schäferpoesie, dem arkadischen Ideale, ihre Befriedigung finden. Ja selbst die bis zur Niederträchtigkeit übertriebene Complimentirerei und Beschmeichelung der Mächtigen läßt eine gewisse Entschuldigung zu, sofern nach lange ausgestandener Todesangst die Dankbarkeit für wiedererlangten Schutz leicht zu weit gehen kann.48
Hier ist das, was bisher an der Naturdichtung des 17. Jahrhunderts und speziell der Schäferdichtung der Pegnesen vermißt wurde, als Gehalt der Gattung unterstellt und damit deren wenn nicht uneingeschränkte, so doch partielle Ehrenrettung scheinbar möglich geworden. Daß auch in derartigen Äußerungen ein modernes Kontrastschema der Dichtung einfach supponiert wird, ohne daß die spezifische Funktion der Opposition von gesellschaftlicher Realität und arkadischer Utopie hervortreten würde, geht aus dem Zitierten unmittelbar hervor. Die wilhelminische Literaturgeschichtsschreibung hat an dem überlieferten Bild der Nürnberger nichts zu ändern gewußt, sondern die Standardurteile nur einem breiteren Publikum vermittelt. ––––––––– 46 47
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Ebd., S. 300. Ebd., S. 302. Diese wichtige Erkenntnis ist von geistvollen Nachfolgern nicht wieder preisgegeben worden. Vgl. z.B. Karl Friedrich Rinne: Innere Geschichte der Entwickelung der deutschen National=Litteratur. Ein methodisches Handbuch für den Vortrag und zum Selbststudium.- Leipzig: Hartung 1843. Theil II, S. 63: »Durch diese Werke rücken wir aus den bloßen Schäfereien heraus zu den Geschicht=Gedichten oder Gedichtgeschichten, wie er purisirend seine Romane nennt; d.h. das absolut Inhaltsleere der Nürnberger Poesie beginnt wieder, einen Inhalt zu bekommen, und sich so aus der rein formellen Aeußerlichkeit wieder zurückzuziehen, – wodurch indeß der specifische Charakter der Poesie dieses Ordens auch anfängt, untergraben zu werden.« Vgl. auch die Gesamtcharakteristik, S. 56 ff. Wolfgang Menzel: Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Band II.Stuttgart: Krabbe 1859, S. 326 f.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Indem Harsdörffer und seine Freunde die Einsicht haben, daß die Poesie der Leidenschaft offen stehen müsse, gehen sie nach allen Seiten ins Uebermaß, wie nach dem Inhalt, der Schwulst und Unsinn liebt, so nach der Form, in welcher der Klingklang und die Onomatopoesie, die Dichtung fürs Auge, wie Gedichte in Reichsapfelform, als Doppelgipfel des Parnassus u. dgl. sehr beliebt werden und meistens für ein besonderes Erkenntnißzeichen der Nürnberger gelten.49
So Lemcke. Ein Dutzend Jahre später Scherer: Es sei ein Kennzeichen der drei Gründergestalten, daß sie sich mit besonderem Enthusiasmus in das Schäferwesen warfen, den Renaissanceschmuck der Poesie bis zu bombastischer Ueberladung trieben und im Gegensatze zu dem französischholländischen Geschmacke, dem Opitz huldigte, den ihrigen an italienischen Mustern bildeten.50
Schließlich ein Blick in die populäre, der nationalen Erbauung im jungen Reich dienenden Literarhistorie. Wie die Verwendung der heidnischen Mythologie, so war auch das Schäfergewand und die Rückkehr zur Natur nur eine Maske, die sie annahmen, weil sie meinten, ächte Poesie könne nur im Schäferleben gefunden werden. Dabei merkten sie gar nicht, wie sie von der Natur immer weiter abkamen durch ihre verschrobene, verdrehte und süßliche Reimdrechselei.51
Der ›Pegnesische Blumenorden‹ »war es vor allem, der die Sprachgesellschaften in Verruf brachte. [...] Der Hirtenorden verfiel schnell in läppisches Formenspiel, das in den Festen wie in den poetischen Arbeiten der Mitglieder zu Tage trat.«52 »Wenn auch der enge Anschluß an italienisch-spanische Vorbilder eine gewisse Formgewandtheit herbeiführen mußte, so hatte diese äußerliche Schulung doch wieder formale Spielereien schlimmster Art in ihrem Gefolge.« Zwar ließen sich die Nürnberger niemals »zu den sittlich anstößigen Gemälden der späteren Schlesier« verleiten, aber »ein einziges lebendiges Gedicht ist aus diesem ganzen anspruchsvoll auftretenden Kreise nicht hervorgegangen.«53 »Natürlich verstand man unter Schäfern bei Leibe nicht etwa echte Schäfer, sondern hochgebildete Lämmleinhüter und -Hüterinnen im Nebenamt mit sehr zärtlichen, sehr zierlich ausgedrückten Gefühlen und mit untadliger Beherrschung der griechisch-römischen Mythologie.« Bis hin zum jungen Goethe erstrecke sich die »Pest der Schäferei«.54 –––––––––
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Carl Lemcke: Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit. Band I: Von Opitz bis Klopstock.- Leipzig: Seemann 1871, S. 231. Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Litteratur.- Berlin: Weidmann 1883, S. 322. Robert Koenig: Deutsche Literaturgeschichte.- Bielefeld, Leipzig: Velhagen und Klasing 1879, S. 259. Otto von Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur. 4., vermehrte und verbesserte Auflage. (1. Teil).- Leipzig: Spamer 1897, S. 292. Friedrich Vogt, Max Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.- Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1897, S. 341. Eduard Engel: Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Band I: Von den Anfängen bis zu Goethe.- Leipzig: Freytag, Wien: Tempsky 1906, S. 272.
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Wende bei Nadler Man muß diese Worte im Ohre haben, um – ungeachtet der hier nicht zu diskutierenden Prämissen – das Niveau zu ermessen, das mit einem Schlage durch Nadlers Literaturgeschichte erreicht wurde und sich hinsichtlich des 17. Jahrhunderts keinesfalls nur in der bahnbrechenden Wiederentdeckung des bayerisch-österreichischen Barock bekundete, sondern sich auch z.B. der Charakteristik der Nürnberger mitteilte. Neben Hamburg muß Nürnberg als die einzige Stadt gelten, welche »die soziale, politische und geistige Entwicklung aus dem sechzehnten Jahrhundert fort[setzte] bis an die Schwelle des achtzehnten«.55 Während Augsburgs Größe zwischen den wachsenden Fürstengewalten zerrieben wurde, eben weil die alamannische Stadt die alte bürgerliche Kultur am schärfsten ausgeprägt hatte, flossen die geistigen Ströme Nürnbergs ununterbrochen fort, weil das aristokratische Stadtregiment immerhin ein fester Bogen war aus alten Zeiten in neue. [...] Nürnberg ist im siebzehnten Jahrhundert das einzige Beispiel noch, das ahnen läßt, was aus der Stadtkultur der fränkischen und alamannischen Zeit in lückenloser folgerichtiger Fortentwicklung geworden wäre.56
Natürlich geht es Nadler in seiner Skizze in erster Linie um das Hineinwirken der Neustämme und speziell der Böhmen in die kulturelle Tradition der alten Reichsstadt. Da erscheint Nürnberg in der Optik »nach Köthen, Halle und Dresden [als] der vierte Punkt an der alten Volksgrenze, wo die Kultur der alten und neuen Welt zusammenfloß, ein neues Becken, wo sich leise slavische Einflüsse sammelten.«57 So abstrus viele der stammesgeschichtlichen Konstruktionen und Spekulationen auch anmuten mögen – im Falle des ›Pegnesischen Blumenordens‹ verhilft der gewählte Ansatz zur Akzentuierung wichtiger Einsichten in form- und religionsgeschichtlicher ebenso wie in soziologischer Hinsicht, an die die gegenwärtige Forschung durchaus anknüpfen kann. Harsdörffer, so Nadler, war nicht nur der beste Erzähler seiner Zeit, er erhob sich auch als »Kavalier durchaus und weit über die Forderungen der Zeit, vertrat [...] modernste Ideen, das Recht der Frauen auf gleiche Bildung und erklärte den Zweikampf als Torheit, wenn er vom Hexenwahn auch nicht völlig loskam.«58 Vor allem aber war der Dichterbund »weder das Wesentliche an Harsdörfer, noch war das, was man so lustig fand, die Hauptsache der Genossenschaft.«59 Das Bleibende der Nürnberger, mit dem sie weit über die ›Fruchtbringende Gesellschaft‹ herausragen würden, läge auf poetischem Gebiet. Ein »paar Strophen aus der späten Lyrik des dreizehnten Jahrhunderts und ein Blick in die Wortkunst der Romantik zeigen, daß dieses Übermaß an Lautmalerei ein Zeichen hochentwickelter Formkultur ist.«60 Wie Gervinus betont auch Nadler die ––––––––– 55
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Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Band II: Die Neustämme von 1300, die Altstämme von 1600–1780.- Regensburg: Habbel 1913, S. 169. Ebd., S. 169. Ebd., S. 181. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 179.
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führende Rolle Birkens unter den Nürnberger Dichtern. Doch während Gervinus die politische, historiographische und panegyrische Dimension im Wirken Birkens herausgearbeitet hatte, weist Nadler im Rahmen seiner Theorie von der Verwurzelung der Mystik in den Neustämmen auf die Querverbindungen hin, die zwischen den Nürnbergern und speziell Birken und dem Separatismus und Frühpietismus verlaufen: Daß sich um 1664 in Nürnberg eine Gesellschaft von ›Alchimisten‹ und ›Rosenkreuzern‹ zusammenfand, die wahrscheinlich in der Münzstätte tagte, – Leibniz gehörte ihr seit 1667 an – beweist zwar nichts für die ersten Jahre des Blumenordens doch für den allgemeinen Gedankenzug. Exilierte Geistliche waren hier wie überall beteiligt. Dilherr, zwar formell nicht Mitglied, war den Genossen doch engbefreundet. Birken vermittelte die Beziehungen zu Johann Georg Gichtel, der 1636 zu Regensburg geboren, in Straßburg Speners Schüler, von Traumgeschichten verfolgt, aus seiner Heimat floh, in Nürnberg seiner pietistischen Schwärmerei wegen festgenommen wurde und 1710 in Amsterdam starb, der Verehrer Jakob Böhmes und Herausgeber seiner Schriften.61
Niemand hat vor- und nachher die immer wieder behauptete Einbettung des Blumenordens in das soziale Gefüge der Stadt und besonders die Bindung an das Patriziat so radikal in Frage gestellt wie dieser Autor. Es ist eine auffallende Tatsache, daß unter den dreizehn ersten Mitgliedern kein einziger Patrizier war, auch hundertundfünzig Jahre später unter den fünfundfünfzig Genossen nicht. Es ist keine Frage, der Orden war stadtfremd und wie sich während des sechzehnten Jahrhunderts die Renaissance der Patrizier und die Volksliteratur der Handwerker streng geschieden hatten, Bewegungen, die sich ja bis in diese Zeit fortsetzten, so war nun ein drittes Element hinzugekommen, in gleicher Weise und gleicher Entfernung von den beiden älteren. Und wie jene als Ausstrahlungen des bairischen und fränkischen Anteils zu erkennen sind, der Orden war der Ausdruck des Dritten, der Zugewanderten, die sich jetzt bewußt zusammenschlossen. [...] Drei Mitglieder stammten aus Böhmen, der vierte aus dem ehemals slawischen, Böhmen so nahen Meißen, unweit der wendischen Gemarkung. Die Pegnitzschäfer sind die außerböhmische Literatur Deutschböhmens.62
Auf diese Weise fügen sich Merkmale der Zusammensetzung des Ordens der Nadlerschen Grundthese. Sie gerade in ihrer Schlußfolgerung ablehnen zu müssen, heißt jedoch nicht, die in dieser Radikalität gewiß überspitzte, in ihrer Tendenz jedoch richtige These von der Stadtfremdheit des Ordens nicht aufgreifen und weiterentwickeln zu können. Gerade in einer Untersuchung zur Konstitution bürgerlich-gelehrten Bewußtseins besteht Veranlassung, Nadlers weitsichtige soziologische Überlegungen nicht aus dem Auge zu verlieren, um neuerlichen Kurzschlüssen vorzubeugen.63 Rückfall bei Cysarz Das Nürnberg-Kapitel von Herbert Cysarz in seiner 1924 erschienenen ersten Synopse der neu entdeckten Barockliteratur zehrt gerade in der einleitenden –––––––––
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Ebd., S. 180. Ebd., S. 180 f. Vgl. auch unten S. 340.
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Charakteristik wiederholt von Nadler. Es überwiege, so heißt es zu Beginn bei Cysarz, der Ehrgeiz des Vermittelns bei den Söhnen und Gästen des stolzen Handelszentrums, das neben der Zesenstadt Hamburg fast allein den letzten Kampf des Bürgertums gegen den allseits vordringenden Fürstenstaat aufzunehmen wagt. Allein in diesen beiden Städten keimen Ansätze eines echten Bürger-Barock, in Leipzig herrscht eine untere Sphäre, Breslau strebt einer höheren zu, und Wien ist vollends imperatorisch, in kaiserlichem und in kirchlichem Sinn.64
Diskussionslos wird der Nadlerschen These von der sozialen Wurzellosigkeit des Ordens von Cysarz die des ›Bürgerbarock‹ entgegengehalten; sie ist – auch ohne diesen Begriff – in der Tradition zwar angebahnt, hätte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aber keinesfalls mehr unbefragt eingeführt werden dürfen.65 Das Nürnberger Barock [...] ist echtes Bürgerbarock, reiner und fester als die Gründung Zesens, der ja – zum wenigsten in Deutschland – gerne als Tunichtgut und Tagedieb ohne Rang und Beruf, wo nicht als Hochstapler und Komödiant in angemaßtem Bürgerkleid behandelt worden ist. [...] Die patrizische Reputation ist übler Nachrede und offener Kritik enthoben, anders als der heimatlose Zesen.66
Hinter Nadler zurück fällt Cysarz auch mit seiner Behauptung, die Nürnberger – wie Zesen – trügen »bürgerlich-romantische Züge« – eine These, die in näherer Ausführung auch nur wieder auf Vorstellungskomplexe aus dem 19. Jahrhundert, z.B. Menzels, zurückweist.67 »Hurtig und heiter sprudelt der Vers dieser vom Krieg zur Beschaulichkeit verurteilten Geister. Sie suchen Frieden in einer zweiten Welt, die nichts gemein hat mit der blutigen Arena des irdischen Treibens; sie retten sich in das idyllische Kleinleben«.68 Oder, negativ gewendet: Harsdörffer habe teil an jener echt barocken Begriffsschminkung, die sinnlichen Reiz, mit schlauer Berechnung gepaart, für Tugend ausgibt, trübe Leidenschaft für flammende Schönheitsschau und schleimige Anbiederung für heilige Bewunderung, schmachtlappige Zerknirschtheit für
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Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung. Renaissance, Barock, Rokoko.- Leipzig: Haessel 1924, S. 101 f. Am übertriebensten und spekulativsten von C.G.F. Brederlow: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Literatur. Ein Lesebuch für die erwachsene Jugend. Erster Theil.Leipzig: Brockhaus 1844, S. 286: »Diese Stiftung fand in den Herzen der vornehmen und gebildeten Nürnberger einen so nachtönenden Anklang, daß der Magistrat anfänglich erst die Wiese übergab, bald ein nahegelegenes Wäldchen zuwies, endlich für die Versammlungen eine geräumige Musenhalle in der Stadt errichten ließ. Der Orden hob sich zur wahrhaftigen Ehrensorge der ganzen Stadt; Alles, was Anspruch auf vornehmen Stand machte oder Anwartschaft auf Empfehlung und Zutritt zu Amt und Würden wünschte, strebte zunächst nach dem Ordensbande der Pegnitzer. Der einfache Name eines Pegnitzschäfers galt dermalen in der Freireichsstadt mehr als kaiserliche Orden und Titel, und wie mit den Ahnen seines altadeligen Geschlechts der Ritter, so brüstete sich der Nürnberger mit der Reihe der dichtenden Schäfer in seiner Blutverwandschaft.« Cysarz: Deutsche Barockdichtung (Anm. 64), S. 102 f. Ebd., S. 101. Ebd., S. 104.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Frömmigkeit u.ä. Solche hohlen Brusttöne gehören aber auch zu den überzeitlichen Merkmalen alles Bürgerlich-Romantischen.69
Die einfache Kontamination heterogener kultursoziologischer Kategorien ist jedoch nicht in der Lage, ohnehin sachfremde Begriffe wie die des ›Romantischen‹ bzw. ›Idyllischen‹ einer Klärung zuzuführen. Deutscher Norden und deutscher Süden sind in Nürnberg ebenso verquickt wie niederländische Bürgerlichkeit und italienische Öffentlichkeit, protestantische Lehre und katholisches Mysterium, humanistische Deklamation und jesuitisches Spektakel. Unser Schlagwort ›Idyllisch-Dekorativ‹ bezeichnet die Verwachsung dieser vielseitigen Stränge.70
Hat Cysarz in seinem Nürnberg-Kapitel einen erhellenden Beitrag geleistet, so betrifft er die – auch später stets wiederholte – Charakteristik des zweifellos inkommensurablen lyrischen Ingeniums Klajs.71
Fortleben von Stereotypen bei Hankamer und Newald Daß auch nach der ersten großen Welle der Barock-Forschung das pastorale Habit der Nürnberger immer noch den historisch nicht angemessenen Begriff des Idyllischen evoziert, zeigt etwa Hankamers Darstellung. Für die Dichter des Blumenordens ist das Dichten Darstellung eines bewußten und gewollten Traums von der Welt, ein Spiel der steigernden und ausmalenden Phantasie mit allen Mitteln der Sprache. Mit kultiviertem, verfeinertem Formgefühl und zarter Sinnlichkeit streben sie zu rhythmischen Spielen und klanglichen Wirkungen, die ein idealisiertes Dasein, eine Idyllenwelt darstellen sollen. [...] Die Idyllik der Nürnberger macht bewußt die unheimliche Welt heimlich, vertraut, niedlich, ein Heran- und oft auch Herunterziehen des Wirklichen in das Unterhaltsame. [...] Ein ästhetisches Gesellschaftsspiel also, das den Traum von einer niedlicheren und schöneren Welt, ein Traumland für zarte Schäfer und schöne Mädchen herzaubert.72
Ungeachtet reichhaltiger Sachinformationen bedient sich auch eine Literaturgeschichte wie die Newaldsche – um hier bei diesem Genus zu bleiben und die Spezialarbeiten jeweils am Ort heranzuziehen – bei der Ableitung der Gattung ––––––––– 69 70 71
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Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 117 ff. Günther Müller: Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock.- Wildpark-Potsdam: Athenaion 1927 (= Handbuch der Literaturwissenschaft; 19), hat die Nürnberger nur kurz berühren können: »Die Ausdrucksfähigkeit ihrer Verse im Weichen und Grollenden kommt anscheinend aus einem sensiblen Gemütsleben, dem religiöse und ›natürliche‹ Stimmung ineinander fließen, zugleich aber auch aus der Fühlung mit italienischer Kultur. [... D]ie schäferliche Welt, dies metaphysisch und gesellschaftlich begründete Erzeugnis der barocken Phantasie, wird hier fast naturliebend und zugleich bildungsfroh betreten. Die kühle, ichdistanzierende Haltung der geistreichen Opitzschen ›Schäfferei von der Nimfen Hercinie‹ [...] ist hier einer wohlwollenden Selbstdarstellung gewichen, namentlich in Birkens zahlreichen Schäfereien« (S. 218). Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1935 (= Epochen der deutschen Literatur. Geschichtliche Darstellungen; 2/2), S. 202 ff.
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Schäferdichtung des beliebten Kontrastschemas rauhe Realität hier, arkadischer Traum und Gegenwelt dort. Sie entspringe dem Erleben jener Generation, die mit vollem Bewußtsein Zeitgenossin des Dreißigjährigen Krieges war, unter den unmittelbarsten Eindrücken des Geschehens stand, es zu überblicken sich bemühte und alle ihre Hoffnungen durch den Westfälischen Frieden verwirklicht sah. Sie konnte durch nichts enttäuscht werden, weil sie sich selbst bewußt täuschte und in Illusionen lebte, weil sie feinnervig war, an die Gebilde der Phantasie glaubte und mit Absicht die Zusammenhänge mit der Wirklichkeit des Lebens zerriß. Sie lebte in Stimmungen und schöpfte ihre Kraft aus einer Geistigkeit, in die uns vorerst nur Einblicke gewährt sind, sodaß wir oft vor unlösbaren Rätseln stehen. Die Nürnberger erkennen in der Natur ein ewiges Spiel übernatürlicher, leichtbeschwingter Kräfte. Sie ist das Ziel ihrer Flucht aus der rauhen Wirklichkeit. Malender Wortklang, sachlicher Bericht und musikalische Formgebung erheben die Dichtung über den Alltag in eine Traumwelt. In solcher Vereinigung liegen die günstigsten Wachstumsbedingungen für die Schäferdichtung.73
Verfehlter Ansatz in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR In der parallelen literarhistorischen Unternehmung der DDR steht die Betrachtung der Nürnberger unter dem Obertitel ›Das Höfischwerden der bürgerlichpatrizischen Lyrik – Absinken zu Formspielerei und Aussage im Dienste der höfischen und feudalabsolutistischen Ideologie‹.74 Die Nürnberger haben das Pech, diese – in gutbürgerlicher Tradition – mit allen Zeichen des Abscheus bedachte Epoche eröffnen zu müssen. Der zweifellos hochartifizielle Duktus ihrer Kunst wird mechanisch dem patrizisch-höfischen Unterhaltungsbedürfnis zugeordnet, die Nürnberger Dichtung soll demnach »das Lebensgefühl des Patriziats zum Ausdruck« bringen, das sich »in Ermangelung eines eigenen feudalen Hofes um Nachahmung höfischer Festlichkeit und Gepflogenheit« bemühe.75 Folgerichtig ist dann auch nur von der höfischen Tradition der europäischen Pastoraldichtung die Rede, die in Nürnberg »dem exklusiven und ästhetisierenden Kulturbedürfnis des patrizischen Bürgertums« angepaßt werde und in dieser Form »dem Kultur- und Geltungsstreben des Nürnberger Patriziats« Genüge tue.76 Die derart zustandekommende Dichtung sei ohne »Gehalt«,77 »ohne tiefes ernstzunehmendes Gefühl«,78 es fehle die »innere, menschliche und gesellschaftliche Wahrheit«,79 sie sei »ohne echtes leidenschaftliches Erleben« etc.80 Wahr–––––––––
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Richard Newald: Die deutsche Literatur. Vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570– 1750. 3., verbesserte Auflage mit einem bibliographischen Anhang.- München: Beck 1960 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 5), S. 220 f. Joachim G. Boeckh, Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Klaus Gysi, Paul Günter Krohn, Hermann Strobach: Geschichte der deutschen Literatur 1600 bis 1700. Mit einem Abriß der Geschichte der sorbischen Literatur, erster Teil.- Berlin: Volk und Wissen 1962 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 5), S. 326 ff. Ebd., S. 326 f. Ebd., S. 330 f. Ebd., S. 332. Ebd., S. 333. Ebd., S. 334.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
haft ein trauriges Erbe, das da unangefochten sein Recht behauptet. – Die Erschließung des historischen Gehalts der Nürnberger Pastoralpoesie wird nur im sorgfältigen Rückgang zu den hier reichhaltiger als irgendwo sonst fließenden Quellen und in einer Rekonstruktion des geschichtlichen Kräftefeldes im Umkreis der alten Reichsstadt möglich sein.
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Ebd., S. 335.
Nürnberg in der Frühen Neuzeit als Paradigma
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3.2 Nürnberg in der Frühen Neuzeit als Paradigma. Versuch einer geschichtlichen Rekonstruktion Das Licht geschichtlicher Erinnerung pflegt sich auf den erfolgreichen Epochen zu versammeln. Zeiten des Niedergangs liegen in der Regel im Schatten der Geschichtsschreibung – vermutlich, weil sie sich der historistischen Neigung zur Identifizierung eher versagen. So auch im Falle Nürnbergs. Was hier von der politischen Geschichtsschreibung sowie von der Wirtschafts-, Sozial-, Verfassungs- und Kulturhistorie zur Erkundung Nürnbergs in seiner Blütezeit zwischen dem ersten Drittel des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts geleistet wurde, dürfte insgesamt keine Parallele in der Forschungsgeschichte zu einer deutschen Kommune haben. Im 17. Jahrhundert haben einzelne Ereignisse und Aspekte vor allem im Zusammenhang mit dem Schicksal der Stadt während des Dreißigjährigen Krieges das gebührende historische Interesse gefunden. Die Erträge der sozioökonomischen Fundamentalanalyse sind insgesamt jedoch nicht ganz so reichhaltig wie zu den beiden voraufgegangenen Jahrhunderten; manche Daten können nur interpoliert werden. Dennoch ist es heute möglich, ein recht exaktes Bild zu gewinnen. Und da sich keine Stadt, keine literarische Landschaft der hier behandelten Gattung der Schäferei exzessiver hingegeben hat als Nürnberg, soll die Chance genutzt werden, den geschichtlichen Raum, in dem die Dichtung angesiedelt ist, in den hinein sie spricht und auf den sie reagiert, so exakt wie möglich zu rekonstruieren. Erst dann wird das selektive Verfahren, die interessenspezifische Fixierung auf wenige durchgängige Themen auch in der Nürnberger Pastoraldichtung des 17. Jahrhunderts klar hervortreten.81 –––––––––
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Zur Geschichte Nürnbergs verweise ich hier nur auf das große, von Gerhard Pfeiffer zur Fünfhundertjahr-Feier von Dürers Geburtstag herausgegebene Sammelwerk: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt.- München: Beck 1971. Dort auf S. 512–549 eine alle historischen Bereiche umfassende Bibliographie. Vgl. auch: Fränkische Bibliographie. Schrifttumsnachweis zur historischen Landeskunde Frankens bis zum Jahre 1945. Hrsg. von Gerhard Pfeiffer. Teil II/2: Nürnberg.- Würzburg: Schöningh 1970 (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte. Reihe XI; 3). Reichhaltige Literaturangaben auch bei Werner Schultheiß: Nürnberg.- In: Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Hrsg. von Erich Keyser. Band V: Bayern. Teil I: Bayerisches Städtebuch. Hrsg. von Erich Keyser, Heinz Stoob.- Stuttgart [etc.]: Kohlhammer 1971, S. 388–421. Vgl. schließlich auch den einschlägigen Artikel über Nürnberg in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. von Max Spindler. Band III: Franken, Schwaben, Oberpfalz bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Erster Teilband [Franken].- München: Beck 1971. Weit ausgreifender, auch Nürnberg einbeziehender Forschungsbericht und Projektierung künftiger Forschungen bei Hanns Hubert Hofmann: Stand, Aufgaben und Probleme fränkischer Landesgeschichte.- In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 35 (1972), S. 802–839. Neuere Literatur über Nürnberg in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (MVGN). Spezialliteratur jeweils unten am Ort.
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Geschichtliche Wende Der politische Wendepunkt in der Geschichte der alten Reichsstadt läßt sich heute ziemlich deutlich erkennen; er ist zugleich von erheblicher historischer Signifikanz. Im zweiten Markgrafenkrieg gegen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach (1552–1555) erlahmt erstmals das bis dahin schier unerschöpfliche Kräftereservoir der Reichsstadt. Nürnbergs großes Jahrhundert, das den Erwerb des neuen Landgebiets gebracht hatte, endet mit dem im Markgrafenkrieg eingetretenen Verlust seiner ungebrochenen finanziellen Kraft. Es endet mit einer dadurch hervorgerufenen Schwächung seiner politischen Entscheidungsfreiheit.82
So behauptet sich nach einem jahrhundertelangen Ringen und nach der größten städtischen und territorialen Machtentfaltung, die einer Reichsstadt im alten Reich möglich war, diejenige historische Kraft, der die Zukunft gehören sollte: das territorialabsolutistische Fürstentum. Die Bürgerschaft Nürnbergs, selbst vergeblich über Jahrhunderte auf die Bildung eines territorium clausum konzentriert, hat von Beginn ihrer Geschichte an im Konflikt mit dynastischen, auf territoriale und hoheitliche Arrondierung gerichteten Interessen gestanden. Der Konflikt ist bereits vorgezeichnet im Antagonismus zwischen dem Burgherrn als ursprünglichem Repräsentanten und Vertreter kaiserlicher Hoheitsrechte einerseits und dem kommunalen Selbstbehauptungs- und Expansionswillen anderseits.83
Der Aufstieg der Stadt Schon die schwäbischen Zollern, denen nach den Hochadligen von Raab das Burggrafenamt von Heinrich VI. übertragen wurde, waren als ursprünglich wenig besitzstarkes Geschlecht alsbald auf die Bildung eines eigenen Territoriums fixiert – und dies nicht nur unter Mißachtung städtischer, sondern auch imperialer Interessen, die die Staufer in einer konsequenten territorialen Reichslandpolitik auch und gerade mit Nürnberg verfolgten.84 So ist es nur symptomatisch, ––––––––– 82
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Gerhard Pfeiffer: Vom ›Nürnberger Anstand‹ zum Augsburger Religionsfrieden.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 164–170, S. 170. Zum folgenden die herausragenden, aus souveräner Kenntnis geschriebenen Artikel von Karl Bosl.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 11–35. Vgl. auch ders.: Der Aufstieg Nürnbergs zum reichischen Zentralort in Nordbayern.- In: Die mittelalterliche Stadt in Bayern. Hrsg. von Karl Bosl.- München: Beck 1974 (= Beiträge zur Geschichte von Stadt und Bürgertum in Bayern; 2 / Beiheft der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Reihe B; 6), S. 7–17. Wichtig ist hier auch Nürnbergs »übergreifende politisch-herrschaftliche und wirtschaftliche Brückenkopffunktion zwischen der ›Kernlandschaft des Reiches‹ am Oberrhein und in Schwaben einerseits, den Marken westlich und nördlich des Herzogtums bzw. Königreichs Böhmen mit ihren wichtigen Verkehrsstraßen nach Osten und ihren großen Waldgebieten andererseits, die zu Rodung, Landesausbau, Herrschaftsbildung und Wirtschaftsexpansion
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wenn 1246 während des Streits zwischen »den beiden Einheitsmächten des Abendlandes, Kaiser und Papst« der päpstliche Gegenkönig Heinrich Raspe mit Hilfe des bestochenen Burggrafen Burg und Stadt Nürnberg erobern konnte.85 Ebenso wie der Hochadel und die mächtige Reichsministerialität der Umgebung, die »in ihren egoistischen Herrschafts- und Territorialbestrebungen unzuverlässig geworden und übergeschwenkt« waren, erhofften sich auch die Zollern von ihrer stauferfeindlichen Politik einen territorialen Zuwachs, während die Bürgerschaft mit dem Reichsschultheißen an der Spitze erstmals sichtbar ihre Kaisertreue unter Beweis stellt.86 Seit dem Interregnum wurde der kaiserliche Burggraf durch seine der Zeit gemäße Territorialpolitik der große Rivale der um Autonomie, Selbstverwaltung und um gleiche Territorialität kämpfenden Königs- und Reichsstadt Nürnberg, seitdem sie begann, sich aus einem dienenden Reichsort zu einem selbständigen Wirtschaftszentrum mit finanzieller Schwerkraft und großgewerblicher Produktion zu entwickeln und schließlich ein mitspracheberechtigter und hoheitstragender Reichsstand, die Reichsstadt mit dem später größten reichsstädtischen Territorium in Deutschland, zu werden.87
Ringen mit der Territorialmacht: Verfassungsgeschichtliche Aspekte Die hier nicht im einzelnen zu schildernde Abwehr burggräflicher Ansprüche findet ihre Fortsetzung im Ringen mit den Markgrafschaften von BrandenburgAnsbach und Brandenburg-Kulmbach (Bayreuth), nachdem die zollernschen Burggrafen am Anfang des 15. Jahrhunderts zu Markgrafen erhoben und wenig später mit der Kurwürde ausgestattet worden waren. Immer erneuter Anlaß zum Konflikt, der im ersten Markgrafenkrieg gegen Albrecht Achilles von Ansbach (1446–50) und im erwähnten zweiten blutig zum Ausbruch kam, ist – neben anderweitigen, vornehmlich ökonomischen Querelen – vor allem die ständige Auseinandersetzung um die Behauptung und Durchsetzung fraischgerichtlicher und territorialstaatlicher Hoheitsrechte im Nürnberger Umland.88 ––––––––– 85 86 87
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anregten.« (Bosl: Das staufische Nürnberg, Pfalzort und Königsstadt- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 16–29, S. 19). Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Bosl: Nürnberg im Interregnum und im ausgehenden 13. Jahrhundert.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 29-33, S. 33. Hierzu grundlegend Hanns Hubert Hofmann: Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert.München: Kommission für Bayerische Landesgeschichte 1962 (= Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte; 2), insbes. S. 47 ff. Vgl. auch die beiden anspruchsund überaus gehaltvollen Artikel Hofmanns ›Kampf um die Selbstbehauptung‹ und ›Agonie der Reichsstadt‹ in dem in Anm. 81 zitierten Sammelwerk zur Geschichte Nürnbergs, S. 303–315, die den Zeitraum von 1650 bis 1806 abdecken. Für die Zeit vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges sind die gleichfalls instruktiven Artikel von Rudolf Endres in dem genannten Sammelband zur Geschichte Nürnbergs, S. 265–279, heranzuziehen. Eine exemplarische, strukturanalytische Untersuchung für das markgräfliche Territorium Ansbach liegt vor in Hanns Hubert Hofmann: Ansbach. Phy-
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Mit der reichsständisch-landesherrlichen Monopolisierung der Kriminalgerichtsbarkeit (Fraisch) zu Anfang des 16. Jahrhunderts sahen auch die Markgrafen von Brandenburg die Möglichkeit, ihre Territorialpolitik durch den Ausbau eines obrigkeitlichen Verwaltungsstaates abzuschließen. Die alte Reichsstadt suchte sich dieser ›modernen‹ Bewegung durch die strikte Scheidung zwischen den aus der Fraischgerichtsbarkeit herrührenden Rechten auf der einen Seite und jener neuen Territorialobrigkeit, »die mit der umfassenden unblutigen Frevel-Strafgewalt der ›Vogtei‹ zugleich die gesamte Zivilgerichtsbarkeit und mit Steuer- und Wehrhoheit wie mit dem zu Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht werdenden ›Gebot und Verbot‹ die allumfassenden Grundlagen der ›Polizei‹ gewonnen hatte«, auf der anderen Seite zu widersetzen.89 Da die Zollern trotz der von ihnen noch im Fraischprozeß anerkannten Unterscheidung der Fraisch als species iurisdictionis von der ›landesfürstlichen Obrigkeit‹ bis 1792 selbst unter Verzicht auf das Steuerrecht und bei selbstverständlicher Integrität der Grundherrschaft mit den Komponenten des mittelalterlichen Rechtspflegestaats auf Grund der Fraisch die Landesherrschaft beanspruchten, sah sich die Reichsstadt nicht nur in ihren Vorstädten, sondern wie alle anderen fränkischen Reichsstände im gesamten markgräflichen Hochgerichtsterritorium auch für ihren weithin verstreuten mittel- wie unmittelbaren Besitz stets zur Auseinandersetzung über Art und Umfang ihrer reichsrechtlich unstreitigen Landeshoheit gezwungen.90
Es ist der alten Reichsstadt Nürnberg bekanntlich auch während der Zeit ihrer größten Machtentfaltung nicht gelungen, ein geschlossenes Territorium zu bilden. Uneingeschränkte landesherrliche Gestalt konnte sie »nur in ihren Mauern und in den halsgerichtlich umzirkten Pflegeämtern (einschließlich Lichtenau) ausüben.«91 Im Umland hingegen reichte die Summe von einzelnen, vielfach vom Nachbar nicht oder nur teilweise anerkannten Zuständigkeiten [...] nicht aus, um darauf unangefochten landeshoheitliche Ansprüche aufbauen zu können. Das Gebiet war von Rechten außenstehender Kräfte durchlöchert.92
Politik und Konfessionalismus Wenn mit den enormen finanziellen Lasten, die Nürnberg in der Folge des zweiten Markgrafenkrieges zu tragen hatte und die sich während und nach dem –––––––––
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siognomie eines Territoriums und seiner Städte.- In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 36 (1973), S. 645–661. Speziell zu Albrecht Achilles vgl. Heinz Quirin: Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach als Politiker. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Süddeutschen Städtekriegs.- In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 31 (1971), S. 261–308. Zum Problem reichsstädtischer Territorien vgl. Wolfgang Leiser: Territorien süddeutscher Reichsstädte. Ein Strukturvergleich.- In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 38 (1975), S. 967–981. Hofmann: Kampf um die Selbstbehauptung (Anm. 88), S. 306. Ebd., S. 307. Ebd., S. 308. Fritz Schnelbögl: Zwischen Zollern und Wittelsbachern.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 120–127, S. 120.
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Dreißigjährigen Krieg nochmals um ein Vielfaches erhöhten, zugleich auch die politische Handlungsfähigkeit der Reichsstadt empfindlich getroffen wurde, so deshalb, weil ihre Finanzkraft schon immer ein Politikum ersten Ranges gewesen war. Die reichsunmittelbare Kommune war durch die Einführung der Reformation außenpolitisch in eine ausweglose Lage geraten.93 Konnte der Rat sich dem Druck der Bürgerschaft und vor allem der unteren Volksschichten, für die sich – wie die Rezeption hussitischer Ideen und sozialrevolutionärer Konzepte während des Bauernkrieges beweist – religiöse und soziale Reformen aufs engste verbanden, auf Einführung der Reformation nicht widersetzen, und mochte er selbst ein aus den heterogensten Quellen gespeistes Interesse an deren partieller Realisierung haben – die Abwehr bischöflicher Jurisdiktion ist hier vor allem zu erwähnen –, so hatte jeder Schritt in Richtung Reformation doch zwangsläufig die Entfremdung von der kaiserlichen Obrigkeit im Gefolge. Der Rat der Stadt hat daher sein Heil mehr als ein Jahrhundert lang im vorsichtigen Taktieren gesehen und sich durch die Lieferung von Geld und Waffen an beide Seiten ebenso wie durch die Preisgabe von Gemälden des größten Malers seiner Stadt zwischen den Fronten hindurchzulavieren gesucht. Mit dem Versuch, Pirckheimer und Spengler auf dem Reichstag zu Worms 1519 von der Exkommunikation zu befreien, in die sie als vermeintliche Mitautoren des antikatholischen Pamphlets Eccius Dedolatus geraten waren, »beginnt die Doppelpoligkeit der Nürnberger Politik: Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes [...], aber Gehorsam [auch] gegenüber dem Kaiser als dem weltlichen Herrn der Reichsstadt«.94 Seither wird jeder weiterführende reformatorische Schritt von parallelen beschwichtigenden Vorstellungen des Rates gegenüber dem Kaiser begleitet, und dies lange Zeit in der Sorge, »daß über ihn und die Bürgerschaft die kirchliche Exkommunikation und das Interdikt, zugleich aber die Reichsacht verhängt werden könnte«.95 Konsequent hat Nürnberg im Schmalkaldischen Krieg nicht nur den Landshuter Bundesstädten Augsburg und Ulm die Hilfe verweigert, sondern auch den Beitritt zum Schmalkaldischen Bund selbst abgelehnt. Statt dessen leistete der Rat Geldhilfe, verwies auf die Darlehensmöglichkeiten seiner Kaufleute und zeigte sich im übrigen außerstande, Waffen- und Munitionskäufe beider Seiten bei Nürnberger Unternehmern zu verhindern.96 Später, beim Fürstenaufstand von 1552, gewährte er den protestantischen Fürsten hohe Darlehen und gestand Waffenkäufe zu, lieferte Waffen jedoch gleichzeitig auch an den Kaiser. »Wegen dieser Haltung hatte die Stadt schon 1550 das verächtliche Urteil des Herzogs Johann Friedrich von Sachsen herausgefordert, Nürnberg sei die ›Grundsupp[e] des Bösen‹, die man ›im Grund ausrotten und verderben‹ müsse.«97 ––––––––– 93
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Zum folgenden vgl. die Artikel Gerhard Pfeiffers über: Nürnberg im Zeitalter der Reformation.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 146–170. Ebd., S. 148. Ebd., S. 151. Ebd., S. 166 f. Ebd., S. 168.
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Es lag ganz auf dieser Linie, wenn Nürnberg vor und während des Dreißigjährigen Krieges prinzipiell die kursächsische Strategie verfolgte, einer konsequent protestantischen Bündnispolitik auswich und – wo immer möglich – eine Verschärfung der konfessionspolitischen Fronten zu vermeiden trachtete; dies zugestandenermaßen nicht zuletzt, weil die Kommune immer wieder auch die Belange ihrer Kaufleute auf den Fernhandelswegen der auswärtigen Territorien gefährdet sah. So war Nürnberg beim Abschluß der protestantischen Union, die nach Streitigkeiten um die paritätische Reichsstadt Donauwörth 1608 zwischen Württemberg, Ansbach, Kulmbach-Bayreuth und anderen süddeutschen Ständen unter kurpfälzischem Direktorium zustande kam, zunächst nicht beteiligt. Der Rat schob also andere vor und wollte es weder mit dem Kaiser noch mit dem mächtigen Bayernherzog verderben, durch dessen Territorium wichtige Handelsstraßen liefen und der 1609 den katholischen Gegenbund, die Liga, gründete. Gänzlich anders als der Rat reagierte dagegen die Nürnberger Bevölkerung. Sie riß den Anschlag der kaiserlichen Achterklärung über Donauwörth herunter, obwohl der Rat vorsichtshalber eine Bewachung angeordnet hatte. Daß die Zurückhaltung des Rates durchaus begründet war, zeigt sich daran, daß man bereits von Reichsexekutionen auch gegen Nürnberg und Ulm munkelte.98
Erst unter dem heftigen Drängen der calvinistischen Kurpfalz verließ Nürnberg die konservativ-lutherische politische Linie Kursachsens und trat – zusammen mit Ulm und Straßburg – der Union bei, verstärkte jedoch gleichzeitig seine Bemühungen um das Wohlwollen des Kaisers. Als die Stadt dann nach dem gescheiterten böhmischen Unternehmen des Winterkönigs aus der Union austreten mußte, erklärte sie, daß sie »schutzlos dem Druck der Unierten ausgesetzt gewesen und gezwungenermaßen dem Bund beigetreten« sei.99 Genauso widersetzte sich der Rat der Umwerbung von Seiten Gustav Adolfs, und erst als der Druck des Kaisers auf die um Kursachsen gescharte neutrale protestantische Partei ebenso mächtig war wie der aus der eigenen Bevölkerung auf den Rat, öffnete die Stadt ihre Tore dem Schwedenkönig, der zuvor der Reichsstadt u.a. den »Schutz ihrer Commercien« garantiert hatte.100 Wenn die Stadt diese Kühnheit einigermaßen glimpflich überstand, dann nur, weil die kaiserlichen Kräfte durch Frankreich gebunden waren. Nürnberg selbst hatte sich zuvor schon allen Annäherungen der Union an Heinrich IV. widersetzt. Die Stadt kam mit einer Kontribution von 180.000 fl. und dem Verzicht auf die Verleihungen Gustav Adolfs davon. Sie rückte 1649/50 ein letztes Mal in den Mittelpunkt der europäischen Geschichte, als der Friedensexekutionskongreß mit anschließendem Hauptrezeß in ihren Mauern stattfand. Klaj war bekanntlich an dem von Pfalzgraf Karl Gustav von Zweibrücken veranstalteten Friedensmahl auf Seiten der Protestanten beteiligt; Birken gestaltete das wenig später von Ottavio Piccolomini gegebene Frie––––––––– 98
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Rudolf Endres: Politische Haltung bis zum Eintritt Gustav Adolfs in den Dreißigjährigen Krieg.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 269–273, S. 269. Ebd., S. 271. Rudolf Endres: Endzeit des Dreißigjährigen Krieges.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 273–279, S. 275.
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densbankett für die katholische Seite festlich mit aus. Für einen Augenblick lang trat die stadtbürgerlich-gelehrte Dichtung aus den engen kommunalen, territorialen und konfessionellen Schranken vor die europäische Öffentlichkeit.
Ökonomische Grundlagen Die finanziellen Ressourcen der alten Wirtschaftsmetropole bis an die Schwelle des Dreißigjährigen Krieges stammten aus dem mächtigen, in Nürnberg konzentrierten Handels- und Finanzkapital, das seinerseits eine reich entwickelte gewerbliche Industrie zur maßgeblichen Voraussetzung hatte.101 Keine Stadt konnte – auf der Basis vielfältiger Roh- und Edelmetallvorkommen in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt – eine differenziertere und qualitativ hochwertigere Metallindustrie aufbauen als Nürnberg, während in der Textilindustrie eine billigere Durchschnitts- und Massenware produziert wurde.102 Die Kaufmannschaft fand also im Nürnberger Gewerbe selbst ein wichtiges Substrat handelskapitalistischer Mehrwertbildung vor. Doch begnügte sie sich nicht mit dem Umschlag der heimischen Produktion, sondern zog ihre immensen Gewinne – wo immer möglich unter Ausschaltung des Zwischenhandels und unter Ausnutzung der überaus günstigen Verkehrslage – aus dem Transfer des verschiedenartigsten Warenaufgebots.103 Schon frühzeitig war die Stadt im Zuge einer weitschauenden wirtschaftspolitischen Strategie der Staufer einem zollfreien Verbundsystem insbesondere unter den Reichsstädten angeschlossen worden, das als Äquivalent zum Freihandelsnetz der Hanse gelten darf und in dem in gewisser Weise moderne Freihandelsideen vorweggenommen wurden.104 Der Erwerb von Zollfreiheiten in allen wichtigen Wirtschaftszentren des Auslandes ging einher mit dem Aufbau eines ausgedehnten Faktoreiwesens und vor –––––––––
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Zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs verweise ich hier nur auf das große Sammelwerk: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs. Hrsg. vom Stadtarchiv Nürnberg. Band I– II.- Nürnberg: Selbstverlag des Stadtrats zu Nürnberg 1967 (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg; 11/1–2), und die darin enthaltene reichhaltige ›Bibliographie zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs‹ von Werner Schultheiß, Rudolf Frankenberger und Irmgard Lüttschwager in Band II, S. 880–944. Vgl. auch den wichtigen Forschungsbericht von Ingomar Bog: Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Frankens, besonders im 17. Jahrhundert.- In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 46 (1955), S. 559–576. Die einschlägigen wirtschaftsgeschichtlichen Artikel in dem wiederholt herangezogenen Sammelwerk zur Geschichte Nürnbergs (Anm. 81) stammen von Wolfgang von Stromer (S. 46–54 und S. 92–100), Hermann Kellenbenz (S. 176–186 und S. 295–301) und Ingomar Bog (S. 315–324) und sind gleichfalls zu konsultieren. Vgl. hierzu zusammenfassend Hektor Ammann: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter.- Nürnberg: Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 1970 (= Nürnberger Forschungen. Einzelarbeiten zur Nürnberger Geschichte; 13), insbes. S. 45 ff. Vgl. zum Nürnberger Handel gleichfalls zusammenfassend ebd., S. 87 ff. Ebd., S. 20 ff.: ›Das Netz der Nürnberger Wirtschaftsverträge‹. Zur Vorwegnahme moderner Freihandelsideen vgl. Stromer: Handel und Gewerbe der Frühzeit.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 46–54, S. 50.
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allem eines überaus leistungsfähigen Nachrichtensystems, das den Nürnberger Handelshäusern über Jahrhunderte kaum überschätzbare kalkulative und dispositive Vorteile verschaffte und überdies eine unentbehrliche Stütze im Geldhandel darstellte.105 Verglichen mit der handelspolitischen Dominanz der Nürnberger hat sich der Finanzkapitalismus etwa im Vergleich zu Augsburg oder gar den Bankzentren Norditaliens in Grenzen gehalten, auch wenn die großen Nürnberger Familien eine von Kirche und Papst wie von Städten, Fürsten und vor allem vom Kaiser stets gerne in Anspruch genommene Kreditquelle waren.106 Wie überall lag auch in Nürnberg das Geldgeschäft wegen des kirchlichen Wucherverbots vielfach in jüdischer Hand.107 Die die Geschichte Nürnbergs begleitende wiederholte Ausweisung bzw. Vernichtung der jüdischen Einwohnerschaft diente vor allem in Krisenzeiten zur Ablenkung und Ersatzbefriedigung der unzufriedenen Massen, hatte darüber hinaus aber auch stets die Annexion des in jüdischer Hand vereinigten Kapitals zum Ziel. Selbstverständlich fand das mächtige Handels- und Finanzkapital auch industrielle Anlagemöglichkeiten, vor allem im kapitalintensiven Bergbau und der Metallindustrie. Interessanterweise ist es auf dem reichsstädtischen Territorium selbst jedoch nur vereinzelt zur Ausbildung eines Manufakturwesens gekommen. Nur 15 Manufakturen lassen sich zwischen 1648 und 1806 nachweisen, und von diesen gewannen nur die Kartographie- und die Fayence-Manufaktur überregionale Bedeutung.108 Ganz offensichtlich stand die traditionsverhaftete konservative Gewerbepolitik des Rats einer Entfaltung von Manufakturen im Wege, während das angrenzende Fürstentum Ansbach gerade diese Produktionsform mächtig ankurbelte. Das in Nürnberg vor allem aus dem Handel erwirtschaftete Kapital diente – sofern es nicht unternehmerisch eingesetzt wurde – bevorzugt der Investition im Verlagswesen.109 Es bildete die Klammer zwischen Handwerker- und Kaufmannschaft in Nürnberg und stellte die mit Präferenz behandelte Produktionsform in der unter Nürnberger Direktive aufgezogenen Metall- und Textilindu––––––––– 105
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Vgl. Lore Sporhan-Krempel: Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700.Nürnberg: Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 1968 (= Nürnberger Forschungen. Einzelarbeiten zur Nürnberger Geschichte; 10). Vgl. Werner Schultheiß: Geld- und Finanzgeschäfte Nürnberger Bürger vom 13.–17. Jahrhundert.- In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs (Anm. 101), Band I, S. 49– 115; ders.: Beiträge zu den Finanzgeschäften der Nürnberger Bürger vom 13. bis 17. Jahrhundert.- In: Archive und Geschichtsforschung. Studien zur fränkischen und bayerischen Geschichte. Festschrift Fridolin Solleder.- Neustadt/Aisch: Schmidt 1966, S. 50–79. Dazu Gottfried Michelfelder: Die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden Nürnbergs im Spätmittelalter.- In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs (Anm. 101), Band I, S. 236– 260. Ingomar Bog: Wirtschaft und Gesellschaft Nürnbergs im Zeitalter des Merkantilismus (1648–1806). Eine methodologische Fallstudie.- In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57 (1970), S. 289–322, S. 318. Grundlegend und alle einschlägigen Daten verarbeitend Hermann Aubin: Formen und Verbreitung des Verlagswesens in der Altnürnberger Wirtschaft.- In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs (Anm. 101), Band II, S. 620–668.
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strie in Mittel- und Ostdeutschland, in Böhmen und Ungarn etc. dar. Sind im Ursprung Formen des Gezeugverlags zwischen Handwerksmeistern bezeugt, so hat die finanzkräftige Handelsbourgeoisie doch schnell die verlegerische Produktion an sich gezogen und ihren in der Handelsstadt stets dominierenden preispolitischen Willen der von Rohstoffen und Kapital abhängigen Handwerkerschaft aufgezwungen. Wenn während und nach dem Dreißigjährigen Krieg die ökonomische Potenz der Reichsstadt allmählich erlahmte, so ist dafür eine Vielzahl von Gründen namhaft zu machen.110 Natürlich fielen die enormen finanziellen Einbußen während des Krieges ins Gewicht, die sich nach Kriegsende in Form immenser Reichskontributionen wiederholten, die vor allem in den Türken- und Franzosenkriegen verschlungen wurden. Auch der rapide Bevölkerungsschwund während des Krieges hat sich geltend gemacht, von dem sich Nürnberg – im Gegensatz zum Reich, das um 1740 den Vorkriegsstand wieder erreicht hatte – nicht wieder erholen konnte, so daß die Wirtschaft mit erheblich verminderter Nachfrage rechnen mußte. Vor allem aber stieß Nürnberg nun im Zuge des sich formierenden Territorial-Absolutismus ringsum auf die Folgen merkantilistischer Wirtschaftspolitik.111 Diese praktizierten schon die umliegenden markgräflichen Territorien. Wirksamer und durchgreifender konnte sie jedoch von den großen geschlossenen Territorialstaaten verfolgt werden, von Nationalstaaten wie Frankreich zu schweigen. Nürnberg suchte mit Zollbarrieren zu antworten, doch machte sich nun das Defizit uneingeschränkter landesherrlicher Hoheit überall geltend. Überdies tat der Rat mit seiner zunehmend wirklichkeitsfernen Gewerbepolitk – im Rahmen einer prinzipiell natürlich nicht angetasteten Marktwirtschaft – das Seine, um die Attraktivität Nürnbergs als Handelsplatz zu mindern. Im ständig sich verschärfenden Antagonismus zwischen dem Rugsamt als gewerbepolitischer Schaltstelle des Rats, dessen Mitglieder sich ökonomischer Tätigkeit ohnehin seit langem entfremdet hatten, und der Marktvorsteherschaft als Exponenten der kaufmännischen Interessengruppen, gab es bis zum Ende des alten Reiches keine Lösung. Erst die von Napoleon verfügte Integration Nürnbergs in das Königreich Bayern 1806 schaffte für eine neuerliche ökonomische Expansion unter gänzlich veränderten Bedingungen die Voraussetzungen. –––––––––
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Vgl. neben dem in Anm. 108 zitierten material- und perspektivereichen Artikel von Ingomar Bog auch das knappe Resümee der dort ausgebreiteten Forschungen von dems.: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter des Merkantilismus.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 315–324. Speziell zur Geschichte des Gewerbes in diesem Zeitraum vgl. Ekkehard Wiest: Die Entwicklung des Nürnberger Gewerbes zwischen 1648 und 1806.- Stuttgart: Fischer 1968 (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 12). Vgl. neben den schon erwähnten Aufsätzen von Ingomar Bog auch ders.: Der Reichsmerkantilismus. Studien zur Wirtschaftspolitik des Heiligen Römischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert.- Stuttgart: Fischer 1959 (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 1), sowie Fritz Blaich: Die Wirtschaftspolitik des Reichstags im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Problemgeschichte wirtschaftlichen Gestaltens.- Stuttgart: Fischer 1970 (= Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen; 16).
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Soziales Gefüge I: Oberschichten Der Kampf um die verfassungsrechtliche, politische und ökonomische Selbstbehauptung der Reichsstadt Nürnberg vollzog sich im Rahmen eines Sozialgefüges, das scharf profilierte ständische Konturen aufwies und eben deshalb von teils offenen, teils verdeckten Antagonismen durchzogen war. Die Herausforderung durch die politökonomisch und klassenanalytisch orientierte marxistische Stadtgeschichtsforschung hat inzwischen auch in der westdeutschen kommunalen Historiographie zur Ausarbeitung stände- und schichtensoziologischer Untersuchungen geführt.112 Diese sind wegen der teilweise günstigen Quellenlage auch und gerade für Nürnberg vorgenommen worden und vermitteln partiell bereits ein recht scharfes Bild, das auch für die soziologische Situierung des ›Pegnesischen Blumenordens‹ von Belang ist. Gründlicher als dies bisher geschehen ist, bleibt indes die Geschichte sozialer Statuskonflikte zu erforschen, die allzulange von einer ständischen ordo-Ideologie, wie sie nur allzu bereitwillig in der Forschung reproduziert wurde, überlagert blieb. Wie die Blütezeiten in der Geschichte Nürnbergs, so haben sich auch die Führungsschichten der Stadt besonderer Aufmerksamkeit erfreut. Das Nürnberger Patriziat darf heute als eine der besterforschten sozialen Körperschaften des alten Reichs gelten.113 Unter genetischem Aspekt verdient hier zunächst die inzwischen gesicherte Erkenntnis Interesse, daß der Ursprung der rats- und gerichtsfähigen Nürnberger Geschlechter nicht in der sich formierenden Kaufmannsschicht, sondern in der Ministerialität zu suchen ist. Dieser ganze Kreis ist ministerialer, zu einem Großteil reichsministerialer Herkunft, ist mit dem rundum in den Territorien werdenden Landadel vielfach versippt. In etlichen Fällen bleiben die Vettern der anderen Zweige dort auf ihren Burgen und Sitzen. Beider Linien Grundbesitz in Stadt und Land ist dann bunt vermischt [...] Diese vielfach verzahnten Geschlechter, die auch einen Gutteil der Schultheißen [i.e. der ›Königsstadtbeamten‹, neben
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Es ist zu vermerken, daß in der oben Anm. 81 angeführten Fränkischen Bibliographie zur Landeskunde eine Rubrik zur Sozialgeschichte fehlt. Das ist natürlich auch die Folge der teilweise ausgezeichneten Quellenlage, nicht zuletzt wegen der häufig erhaltenen großen Privatarchive der alteingesessenen Patriziergeschlechter. Grundlegend und nur schwer ausschöpfbar im Reichtum der gebotenen Aspekte Hanns Hubert Hofmann: Nobiles Norimbergenses. Beobachtungen zur Struktur der reichsstädtischen Oberschicht.- In: Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa. Reichenau-Vorträge 1963–1964.- Konstanz, Stuttgart: Thorbecke 1966 (= Vorträge und Forschungen; 11), S. 53–92. Dort auch S. 57 ff. eine glänzende Skizze zur Frühgeschichte der Stadt. Vgl. auch Gerhard Hirschmann: Das Nürnberger Patriziat.- In: Deutsches Patriziat 1430–1740. Büdinger Vorträge 1965. Hrsg. von Hellmuth Rössler.- Limburg/Lahn: Starke 1968 (= Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit; 3), S. 257–276, sowie Gerhard Pfeiffer: Nürnberger Patriziat und fränkische Reichsritterschaft.- In: Norica. Beiträge zur Nürnberger Geschichte. Festschrift Friedrich Bock.- Nürnberg: Stadtbibliothek 1961 (= Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Nürnberg; 4), S. 35–55. Als exemplarische Einzelstudie z.B. Helga Jahnel: Die Imhoff, eine Nürnberger Patrizier- und Grosskaufmannsfamilie. Eine Studie zur reichsstädtischen Wirtschaftspolitik und Kulturgeschichte an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (1351– 1579).- Diss. phil. Würzburg 1950 (masch.).
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den ›Königslandbeamten‹, den Butiglern] aus einigen Clans stellen, sind lehensfähig [...], haben jedoch zumeist keine sehr festen Eigentumsverhältnisse. [...] Sie führen ritterliche Wappen, – und zwar echte heraldische! – und seit 1276 allgemein den Titel ›Herr‹.114
Dieser ministeriale Stadtadel, in der Krongutsverwaltung wie in der Hof- und Heeresversorgung wirtschaftlich und speziell im Umgang mit Geld geschult, wandte sich – wie der Adel in den italienischen Kommunen – schon frühzeitig in einer neuen Verbindung von Kapital, Boden und Arbeit kaufmännischer Tätigkeit zu und ist in dieser Funktion seit der Mitte des 13. Jahrhunderts durch Familien wie die Groß, Holzschuher, Pfinzing, Stromer repräsentiert. Der Übergang von der Ministerialität zur Unternehmertätigkeit, der zunächst ohne irgendeinen disqualifizierenden Einfluß auf das ständische Prestige erfolgte, hatte seine Basis in dem grundherrlich erworbenen Kapital, das die besten Startchancen eröffnete. Es ist diese Schicht, die den Rechtssprechung und Satzungsgewalt vereinenden Rat im wesentlichen konstituierte, der sich mit dem Aussterben alter ratsfähiger Geschlechter so gut wie ausschließlich aus der potenten Handels- und Finanzbourgeoisie der Stadt rekrutierte. Wie in anderen Kommunen – deutlich z.B. in Florenz – blieb die Handwerkerschaft vom Zugang zur Regierungsgewalt hermetisch ausgeschlossen; die Attachierung von acht ›Genannten‹ aus dem Handwerk an den Rat nach dem gescheiterten Handwerkeraufstand von 1348 hatte ausschließlich dekorative Funktion. Das herrschaftliche Übergewicht der dives et potentes manifestierte sich zudem »in der Unterdrückung jeglicher Bildung von Zünften, wobei die Zwangsinnungen der Gewerbe unter strengste Ratsaufsicht kamen.«115 Aber auch innerhalb der Oberschicht setzte eine folgenschwere Dissoziierung ein. Im Zuges des immensen ökonomischen Aufschwungs seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam eine neue Unternehmerschicht empor, die nur noch teilweise Aufnahme in den Rat fand. Neben der nach wie vor notwendigen finanziellen Potenz beachtete der Rat zunehmend standespolitische Kriterien wie Reichstreue, Reserve gegenüber den Zollern und den anderen territorialen Gewalten in der Umgebung, reiche Sozialstiftungen, Connubium mit den ratsfähigen Geschlechtern etc. Gelang zwischen 1332 und 1521 noch knapp der Hälfte der rund fünfunddreißig den Rat stellenden Familien der Aufstieg in die ›genießenden Geschlechter‹, so riegelte das berühmte Tanzstatut von 1521 den weiteren Zugang zum Rat so gut wie völlig ab und leitete die soziale Abschließung der ratsfähigen Geschlechter zum feudalen Stand in Form eines Kastenprivilegs ein. Denn mit dem Tanzstatut von 1521 proklamierte [...] der Rat nun ein geburtsständisches Prinzip und nahm dafür den hervorstechendsten feudalen Begriff der Zeit in Anspruch: die Ehre. Zum Tanz auf dem Rathaus sollten nämlich nur noch geladen werden, die vor anderen den Vorgang haben und geehrt werden, daß sie und ihre Nachkommen dieser alten wohlhergebrachten Ehren sich gebrauchen mögen. Es waren dies sowohl die Glieder der älteren wie der neueren ratsfähigen Geschlechter, ein paar Landadelige mit Bürgerrecht
––––––––– 114 115
Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 64 ff. Ebd., S. 71.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung oder im Dienst der Reichsstadt und sonst die Ehemänner von Töchtern aus dem Patriziat oder die aus altpatrizischem Geblüt Entsprossenen.116
Mit der Aufnahme der Schlüsselfelder (1536) und Starck (1544) war der Kreis als Geburtsstand abgeschlossen.117 Ganz wenigen Familien gelang noch die Anerkennung wenn nicht als voll ratsfähige, so doch als gerichtsfähige Geschlechter.118 Einer einzigen Familie aus dem Handwerk – den Fütterer (1504) – war in vier Generationen der Aufstieg über Verlag und Finanzgeschäft möglich.119 Die Abkapselung der regierenden Oberschicht und die Absicherung ihrer Privilegien mittels geblütsständischer Kriterien muß als Antwort auf einen parallelen Abschließungsprozeß im alten Adel verstanden werden, deren Ausdruck von feudaler Seite etwa die Ritterspiegel und die neuen weltlichen Ritterorden und Rittergesellschaften sind und an deren Ende die Heidelberger Turnierordnung von 1485 stand, die das Handel treibende Stadtpatriziat ebenso als unebenbürtig ablehnte, wie man ihm auch die Stiftsfähigkeit in des deutschen Adels Spitälern versagt hatte.120
Die städtische Oligarchie gab diese ständische Aufspaltung des Stadt- und Landadels nach unten weiter und suchte mit dem Gesellenstechen und der QuasiStiftsfähigkeit der Geschlechter, durch Titel- und Kleiderordnungen nicht nur ihren Stand zu befestigen, sondern auch die Äquivalenz mit dem Adel zurückzugewinnen. Mit der Preisgabe kaufmännischer Tätigkeit in der Stadt und der Verlagerung der Interessen auf die Pflege und den Ausbau des ländlichen Besitzes im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde der letzte Schritt zur Integration in die Welt des alten fränkischen Adels getan. So wuchsen die ratsfähigen Patrizierfamilien gleichsam in dem Maße aus der Stadt, wie dort ihre kaufmännische Betätigung schwand. Nicht zufällig setzt seither das Connubium mit dem reichsritterlichen Adel Frankens und dem landsässigen der Oberpfalz wieder ein. Der Verfall des Groß- und Geldhandels in der Not der dreißig Jahre beschleunigte den Prozeß ungemein. Wie selbstverständlich konnten dabei Söhne Nürnberger Geschlechter Pagen-, Offiziers- und Ratsstellen beim evangelischen Hochadel Europas [...] beanspruchen.121
1697 verlieh dann der Kaiser dem Rat korporativ – nicht den einzelnen Ratsfähigen – das Prädikat ›edel‹ und betonte »das uralt adelige und ritterliche Herkommen der alldort befindlichen ratsfähigen Familien«, die »ehe sie sich in die Stadt begeben, in dem adeligen und rittermäßigen Stand gelebt« hätten.122 ––––––––– 116 117
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Ebd., S. 77. Vgl. Werner Schultheiß: Die Mittelschicht Nürnbergs im Spätmittelalter.- In: Städtische Mittelschichten. Protokoll der VIII. Arbeitstagung des Arbeitskreises für südwestdeutsche Stadtgeschichtsforschung, Biberach 14.–16. November 1969. Hrsg. von Erich Maschke, Jürgen Sydow.- Stuttgart: Kohlhammer 1972 (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; 69), S. 135– 149, S. 138. Vgl. Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 78 und S. 84. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 74 f. Ebd., S. 82. Zitat des Diploms ebd., S. 83.
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Damit wurde nicht nur dem Bedürfnis nach einer offiziellen Aufwertung des sozialen Status der Oberschicht Genüge getan, sondern zugleich auch eine politische Trennungslinie innerhalb der societas civilis gegenüber der nichtratsfähigen, als Untertanenschicht deklassierten Bürgerschaft markiert. »Es war – zumindest auch – ein Politikum, das hier geschaffen wurde. Es wollte [...] dem Rat die volle Regierungsgewalt, die summa potestas in jenem Sinne sichern, den die absolutistische Staatsrechtslehre der Zeit entwickelt hatte.«123 Mit dieser Orientierung auf Land und Adel hin verlor die stadtadelige Kaste zwangsläufig die Verbindung mit der wirtschaftenden, jedoch vom Rat ausgeschlossenen bürgerlichen Oberschicht. Durch das ganze 18. Jahrhundert liefen daher Bewegungen der Kaufleute und der aus dem Handwerk kommenden Verleger gegen die Kastendiktatur des Rats, doch konnte ihr nur von außen ein Ende bereitet werden.124 In der Zerschlagung der versteinerten kommunalen Herrschaftsformen in der Ära Montgelas blieb einzig der Handelsvorstand intakt, aus dem dann im Königreich Bayern die Nürnberger Bourgeoisie im 19. Jahrhundert ihren neuerlichen Aufstieg nahm.
Soziales Gefüge II: Mittel- und Unterschichten Sehr viel weniger deutlich lassen sich bisher die Züge der übrigen Schichten innerhalb der Reichsstadt profilieren.125 Auch für Nürnberg sind zeitgenössische Ständeordnungen überliefert.126 Demnach bildeten die ratsfähigen Geschlechter den in einem unüberschreitbaren politischen und sozialen Abstand überhöhten ersten Stand in der schon von dem Humanisten Conrad Celtis beschriebenen – im Gegensatz zu den drei Stufen in Augsburg, Ulm oder anderen oberdeutschen Städten hier aber gar – fünfstufigen Gliederung, in der jedem Stand Titel, Kleidung und Lebensaufwand genau vorgeschrieben war.127
Zum zweiten Stand gehörte ein Teil der Kaufleute des Großhandels, die eine Reihe von Bedingungen erfüllen müssen: ––––––––– 123 124 125
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Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 85. Um deren analytische Erfassung hat sich vor allem Rudolf Endres bemüht. Vgl. Endres: Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Franken vor dem Dreißigjährigen Krieg.- In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 28 (1968), S. 5–52; ders.: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs im 15./16. Jahrhundert.- In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 57 (1970), S. 242–271; zusammenfassend ders.: Sozialstruktur Nürnbergs.- In: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt (Anm. 81), S. 194–199. Vgl. neben den zitierten Arbeiten von Endres dazu Ingomar Bog: Reichsverfassung und reichsstädtische Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Forschungen über reichsständische Residenten in den Freien Städten, insbes. in Nürnberg.- In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 18 (1958), S. 325–340, insbes. S. 333 ff.; ders.: Wirtschaft und Gesellschaft Nürnbergs im Zeitalter des Merkantilismus (Anm. 108), S. 302 ff.; Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 79 f. Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 79.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung sie müssen ihr Geschäft selbständig (nicht als Geschäftsführer) und ›mit eigenem Gelde‹ treiben, sie müssen es von ihren Voreltern ererbt haben (eine geburtsständische Kondition) und, was so erst möglich wird, Genannte des Größeren Rates sein. Die Größe der Unternehmung ist ein durchaus zweitrangiges Kriterium, denn der Ochsengroßhändler, der Weinhändler und der Bierbrauer gehören in der Regel zu diesem Stande nicht. Wer mit Gold, Silber, Rauchwerk, Spezereien, Textilien im Großen handelt oder Nürnberger Manufakturen verlegt, darf sich zu diesem Stande zählen, ebenso, und zwar zur Spitze dieser Gruppe, die Akademiker in städtischen Diensten, z.B. die Ratskonsulenten, die Losungsund Waagamtsmänner, Rugamtssekretäre usw., meist zumindest ›ehrbaren‹ Familien entsprossen.128
Im dritten Stand befanden sich die Kauf- und Handelsleute, die gleichfalls Genannte des Größeren Rats waren, jedoch kleinere und weniger vornehme Handlungen betrieben bzw. angestellte Faktoren auswärtiger Firmen waren. Erst dieser dritte Gruppe waren auch die seit dem Handwerkeraufstand von 1348/49 im Inneren Rat vertretenen acht Handwerker zugeordnet. Dem vierten Stand gehörten die Krämer und Handwerker an, die Mitglieder des Genannten-Kollegs waren, sodann die kleineren Handelsleute und Faktoren sowie die Kaufmannsdiener, also der kaufmännische Nachwuchs. Dem fünften und größten Stand schließlich sind alle Krämer, Handwerker, Gesellen, Taglöhner und ihre Angehörigen zugeschlagen, die ohne Funktion in Stadt oder Verwaltung sind, auch wenn sie z.B. als geschworene Meister des Handwerks geamtet haben. In Kriesenzeiten [sic!] freilich zwingen sie den Rat zu besonderer Vorsicht, denn sie sind die potentiellen Revolutionäre.129
In dieser Ordnung mischen sich geburtsständische mit berufsständischen Prinzipien. Nicht nur ist der erste Stand fast hermetisch abgeriegelt, auch die höheren akademischen Ämter etwa rekrutieren sich aus den ›ehrbaren‹ bzw. gerichtsfähigen Familien. Bürgerliche Leistungen in Staatsämtern werden demgegenüber minder bewertet, wie sich im dritten Stande zeigt, wo die Mitglieder des kleinen Rates aus dem Handwerk, gleichsam Mitglieder des Kabinetts, nicht mehr gelten als die kleineren Kaufleute ohne Mandat. Dies zeigt sich aber auch im vierten Stande, wo die Krämer und Handwerker mit Mandat im ›Stadtparlament‹, im Größeren Rate, neben den Kaufmannsdienern rangieren, unter denen freilich auch die Söhne bedeutender ›alter‹ Handelsherren leben.130
Daß diese über Jahrhunderte geltende, durch Gesetze sowie Tauf-, Hochzeits-, Begräbnis-, Kutschen-, Kleider- und Luxusordnungen stets aufs neue befestigte Sozialpyramide immer neue Konflikte provozierte, nimmt nicht Wunder. »Neid, Mißgunst und ein steter stiller oder auch lauterer öffentlicher Kampf um und mit Statussymbolen war die Folge, der soziale Friede stets gefährdet.«131 Darum ––––––––– 128
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Bog: Wirtschaft und Gesellschaft Nürnbergs im Zeitalter des Merkantilismus (Anm. 108), S. 302. Näheres zum Problem der Gelehrten unten S. 263 ff. Speziell zu den ›Genannten‹ vgl. die ausführliche Monographie von Kurt Schall: Die Genannten in Nürnberg.- Nürnberg: Stadtarchiv 1971 (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte; 6). Bog: Wirtschaft und Gesellschaft Nürnbergs im Zeitalter des Merkantilismus (Anm. 108), S. 302. Ebd., S. 303. Ebd.
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muß neben die Reproduktion des zeitgenössischen sozialen Selbstverständnisses, wie sie sich in den Ständeordnungen spiegelt, die soziale Schichten- und Konfliktanalyse treten, der der Beweis obliegt für die These, die Hofmann hinter die Beschreibung der Nürnberger Ständeordnung gestellt hat: Eine Manifestation des Geistes des Handelskapitalismus des 16. Jahrhunderts scheint dies so, der in den Bahnen adeliger Welt- und Lebensordnung bleibt. In ihr ist ›arm‹, wer nicht mittel- oder unmittelbar über Produktionsmittel verfügt, sei er nun Arzt, Jurist, reicher Handelsdiener oder elender Bettler.132
Demographische Analyse Es ist das Verdienst von Rudolf Endres, wiederholt eine Rekonstruktion der sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Gesamtbevölkerung Nürnbergs im 15./16. Jahrhundert versucht und eine sozioökonomische Typologie der Ober-, Mittel- und Unterschicht entworfen zu haben.133 Zu den Konflikten zwischen ratsfähigem Patriziat und nichtratsfähiger mächtiger Kaufmannschaft trat innerhalb der Oberschicht der Kampf um soziale Anerkennung und Parität von seiten der Gelehrten, insbesondere der großen und einflußreichen Juristen der Stadt, worauf sogleich einzugehen ist. Diese Oberschicht machte etwa sechs bis acht Prozent der Bevölkerung Nürnbergs aus.134 Numerisch besonders stark war in Nürnberg die Mittelschicht der vermögenden Handwerksmeister und mittleren Kaufleute. Denn Nürnberg, das gerne nur als Handelsstadt von Weltrang gesehen wird, war mindest in gleichem Maße eine Stadt der Gewerbe, des Handwerks, die ›Wiege der abendländischen Technik‹ neben Florenz. [...] Am Ende des Alten Reiches betrug, nach den Untersuchungen von Wiest, der Anteil der Handwerker und ihrer Familien an der Gesamtbevölkerung Nürnbergs rund 41%, während 1561 etwas mehr als die Hälfte aller Haushaltungen zu Handwerkern gehörten, wobei die vielen alleinstehenden Handwerksgesellen noch gar nicht berücksichtigt sind.135
Diese Mittelschicht besaß in der Regel das Bürgerrecht, das jeder in Nürnberg sich niederlassende Meister gebührenpflichtig erwerben mußte.136 Einerseits schützte sich der Nürnberger Rat auf diese Weise gegen die Aufnahme armer Leute, die der Stadt zur Last fallen konnten. Andererseits war der Bürgerschwur zugleich von politischer Bedeutung. ––––––––– 132 133 134
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Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 80. Vgl. die in Anm. 125 aufgeführten Arbeiten. Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 255. Dort auch nähere Vermögensangaben. Ebd., S. 255 f. Das Zitat im Zitat paraphrasiert Karl Bosl: Die große bayerische Stadt. Regensburg – Nürnberg – München.- In: ders.: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt.München, Wien: Oldenbourg 1964, S. 440–457, der S. 451 von der »Wiege der modernen technischen Kultur des Abendlandes« spricht. Vgl. Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 261.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Offenbar besaßen viele Handwerksmeister noch nicht das Bürgerrecht, denn erst nach dem Aufstand von 1348/49 und einem bisher unerforschten Aufruhr von etwa 1357/58 zwang der Rat alle Personen, die ein Meisterrecht ausübten, das Bürgerrecht zu erwerben und damit einen Eid zu schwören, der ihre Unterwerfung unter das (patrizische) Regiment sicherte.137
Da der bürgerlichen Mittelschicht – mit der einen erwähnten Ausnahme – die Mitwirkung am politischen Entscheidungsprozeß, die der Kleine oder Innere Rat monopolisiert hatte, vorenthalten blieb, wurde sie mit den kleinen Stadtverwaltungs- und Ehrenämtern abgefunden. Ämter der Marktpolizei, Stadt- und Kirchenverwaltung, die Vorsteherschaft in den Handwerksverbänden sowie das Amt der Genannten boten sich hier an.138 Wie unter der Kaufmannschaft, so gab es zwischen den Gewerben beträchtliche Vermögensunterschiede. Die höchste soziale Geltung besaßen die Versorgungsgewerbe, dann folgten die Textilgewerbe und die Edelmetallverarbeiter. Aber auch innerhalb der einzelnen Gewerbe sind beträchtliche ökonomische und soziale Hierarchisierungen erkennbar. »Während sich die reichen Meister oftmals, besonders auf dem Weg über das Stückwerk, zu Händlern oder Verlegern ihrer Mitmeister erhoben, sanken die ärmeren Mitglieder zu bloßen Arbeitern und Lohnempfängern ab.«139 Sie glitten damit in die Unterschicht ab.140 Als Unterschicht sind dem wirtschaftlichen Status nach diejenigen Einwohner einzustufen, die nur mit einer Kopfsteuer, einem Mindestbetrag, erfaßt sind, sowie jene, die nicht steuerpflichtig sind; dem sozial- und verfassungsrechtlichen Status nach diejenigen, die in der Regel kein Bürgerrecht haben und nicht zu den rats- und gerichtsfähigen Geschlechtern, den Genannten sowie den Kaufmanns- und Handwerksorganisationen gehören.141 Es sind zunächst einmal die Handwerksgesellen, die Kaufmannsgehilfen, die Taglöhner und Gelegenheitsarbeiter, ein Teil der Stückwerker und die vielen Lohnarbeiter in Dienstleistungsbetrieben. Ihre Existenz war durch ihre Berufsausübung einigermaßen gesichert, doch konnten sie mit ihren niederen Realeinkommen nur von der Hand in den Mund leben, sie konnten kaum etwas sparen.142
Die Höchstzahl der Gesellen und Lehrlinge war in Gewerbeordnungen genau festgelegt.143 Ihr Anteil an der Bevölkerung Nürnbergs betrug nach dem Drei–––––––––
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Schultheiß: Die Mittelschicht Nürnbergs (Anm. 117), S. 140. Ebd., S. 146 f. Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 257. Grundlegend mit reichhhaltiger Literatur der Sammelband: Gesellschaftliche Unterschichten in den südwestdeutschen Städten. Protokoll über die V. Arbeitstagung des Arbeitskreises für südwestdeutsche Stadtgeschichtsforschung, Schwäbisch Hall 11.–13. November 1966. Hrsg. von Erich Maschke, Jürgen Sydow.- Stuttgart: Kohlhammer 1967 (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B; 41), S. 1–74. Vgl. Schultheiß: Die Mittelschicht Nürnbergs (Anm. 117), S. 137, sowie Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 261. Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 262. Vgl. hierzu Hans Lentze: Nürnbergs Gewerbeverfassung im Mittelalter.- In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 24 (1964), S. 207–281; ders.: Nürnbergs Gewerbeverfassung
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ßigjährigen Krieg etwa sieben bis acht Prozent. Die Stückwerker machten ca. ein Drittel der in der Produktion tätigen Arbeiter aus.144 Von ihnen zu trennen sind die Tagelöhner und unqualifizierten Arbeiter, unter denen sich besonders viele Frauen befanden und die alle in lockeren und unsicheren Arbeitsverhältnissen standen, sowie schließlich die Knechte und Mägde, die – wie auch in anderen Städten – eher mehr denn weniger als zehn Prozent der Einwohnerschaft ausmachten.145 Hervorzuheben ist nun, daß zu den Kleinverdienern aus den Gewerben und der ungelernten Arbeiterschaft noch die niederen städtischen Beamten und Angestellten sowie die Arbeiter in den niederen städtischen Ämtern hinzukamen.146 Gewiß gab es Gelehrte wie die Juristen, denen es vor allem in der Funktion der Ratskonsulenten gelang, in der Oberschicht Fuß zu fassen. Und selbstverständlich waren in der Mittelschicht neben den Kunsthandwerkern und Künstlern auch viele der Akademiker (Juristen, Ärzte, Apotheker, Geistliche, Professoren des Gymnasiums etc.) zu Hause.147 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Einkünfte von Stadtärzten, Schulmeistern und Pfarrern teilweise extrem niedrig lagen. »Bildungs- und Besitzschicht waren also nicht unbedingt identisch!«148 Noch schlechter waren die niederen städtischen Ämter bezahlt, Stadtknechte, Turm-, Tor-, Nachtwächter etc. Gemeinsam ist diesen verschiedenen Gruppen der Unterschicht, daß ihr Existenzminimum in normalen Zeiten eben gesichert war. Individuelle Schicksale aber oder auch äußere Ereignisse, exogene und endogene Ur sachen, wie Kriege, Hungersnöte, Inflation, allgemeine Konjunkturschwankungen usw., drückten diese Gruppen unter die Grenze des Existenzminimums. Bittere Armut als Massenphänomen war dann die Folge.149
Unter dieser ohnehin schon stark gefährdeten Gruppe stand jedoch das Heer der Armen, der Kranken, Siechen und Obdachlosen, der Dirnen, der Arbeitslosen, der Arbeitsunfähigen und Arbeitsunwilligen, aber auch der sog. ›Hausarmen‹ oder ›verschämten Armen‹, ehrbaren Personen, die unschuldig in Armut geraten waren, sei es durch Krankheit, Unglücksfälle, Alter oder ähnliches, und vor allem die vielen Bettler.150
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des Spätmittelalters im Rahmen der deutschen Entwicklung.- In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs. Band I–II. Hrsg. vom Stadtarchiv Nürnberg.- Nürnberg: Stadtrat 1967, Band II, S. 593–619. Vgl. Hermann Aubin: Die Stückwerker in Nürnberg bis ins 17. Jahrhundert.- In: Beiträge zur Wirtschafts- und Stadtgeschichte. Festschrift für Hektor Ammann. Hrsg. von Hermann Aubin, Edith Ennen, Hermann Kellenbenz [u.a.].-Wiesbaden: Steiner 1965, S. 333–352. Alle Angaben bei Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 257. Dort auch, soweit möglich, Angaben über die Einkommensverhältnisse. Vgl. ebd., S. 259 ff. und S. 263 f. Vgl. Schultheiß: Die Mittelschicht Nürnbergs (Anm. 117), S. 149. Endres: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 259. Ebd., S. 264. Ebd. Vgl. auch – mit reichhaltiger Literatur – Rudolf Endres: Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus.- In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 1003–1020.
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Diese viele Tausende zählende Armenschicht – in den Krisenzeiten mußte der Rat für ein Drittel der Bevölkerung Nürnbergs Unterstützung schaffen! – war das Objekt eines vielfältigen Sozialstiftungswesens, das nach der Reformation in einer großen wohlfahrtsstaatlichen Organisation der Stadt zusammengefaßt wurde und auch weiterhin durch private Stiftungen Ergänzungen erfuhr. Daß derart ein Gutteil revolutionären Potentials entschärft und kanalisiert wurde, versteht sich; daß der Funke dennoch entfacht werden konnte, zeigt die Aufgeschlossenheit der Unterschichten für revolutionäre Ideen während Reformation und Bauernkrieg.151 Wieviel gerade auch das Nürnberger Quellenmaterial hergibt, sofern es mit den Augen eines im Klassenkampf geschulten Beobachters entziffert wird, hat schon vor fast hundert Jahren Bruno Schoenlank in seinen immer noch lesenswerten Studien zu Organisations- und Kampfformen der Gesellenverbände gezeigt.152 Schwer vorstellbar, daß marxistische Forschung nicht weitere Ergebnisse zeitigen sollte. Im folgenden ist indes nur ein in den thematischen Zusammenhang der Untersuchung gehörendes Moment zu akzentuieren.
Herausgehobener Stand der Juristen Die soziale Privilegierung und zunehmende Refeudalisierung des Nürnberger Patriziats hat – nach der frühzeitigen und definitiven politischen Unterwerfung des Handwerkertums – zwei konkurrierende Schichten besonders betroffen und stets erneut herausgefordert: das nicht ratsfähige Großbürgertum und die Spitzen des Gelehrtenstandes. In Nürnberg stellte sich der in dieser Untersuchung verfolgte Statuskonflikt zwischen nobilitas literaria und nobilitas ex genere als ein Jahrhunderte währendes Ringen zwischen den ›genießenden‹ Geschlechtern und den promovierten Gelehrten, insbesondere den Juristen, dar. Am Ende des Mittelalters steht der Sieg der mittelalterlichen adligen Standesidee über das Bürgertum, das ›kein in sich selbst ruhendes maßgebendes Gesellschaftsideal zu behaupten und durchzusetzen vermocht‹ hatte. Die Gesellschaftsordnung der Feudalität hatte sich als stärker erwiesen, der ›Durchbruch‹ war aufgefangen worden.153
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Vgl. etwa J. Kamann: Nürnberg im Bauernkrieg. Nach den Quellen dargestellt.- Programm Kreisrealschule Nürnberg 1878; Adolf Engelhardt: Die Reformation in Nürnberg.- In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 33 (1936), S. 1–258; 34 (1937), S. 1–402; 36 (1939), S. 1–184, speziell Abhandlung 1, S. 183 ff. Vgl. Bruno Schoenlank: Sociale Kämpfe vor dreihundert Jahren. Altnürnbergische Studien.- Leipzig: Duncker & Humblot 1894. Liselotte Constanze Eisenbart: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums.- Göttingen [etc.]: Musterschmidt 1962 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft; 32), S. 57, unter Bezug auf Fritz Rörig: Die europäische Stadt und die Kultur des Bürgertums im Mittelalter. Hrsg. von Luise Rörig, Ahasver von Brandt. 4., ergänzte Auflage.- Göttingen 1964 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe; 12/13/13a), S. 85, und Hermann Heimpel: Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essays. 2., erweiterte Auflage.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957, S. 46 f., S. 114 f. u.ö.
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Im Zuge einer schon früh einsetzenden und mit dem endgültigen Auszug aufs Land seit dem 17. Jahrhundert zum Abschluß kommenden Orientierung des herrschenden Patriziats an den sozialen und kulturellen Normen des Adels spezifizierte sich der generelle Statuskonflikt zwischen Adel und Gelehrtentum in Nürnberg in der Statuierung traditionaler geburtsständischer Vorrechte des Patriziats gegenüber einer Gelehrtenschicht, die ihrer Herkunft nach häufig identisch war mit den regierenden Ratsgeschlechtern, ihre Ansprüche jedoch nicht aus der Abkunft, sondern aus erworbenen akademischen Qualifikationen ableitete und derart die Feudalisierung der Sozialstruktur Nürnbergs an der Spitze stets wieder in Frage stellte. In Nürnberg ist den promovierten Juristen der Zugang zum Inneren Rat der Stadt grundsätzlich versperrt gewesen. Mitglieder der ratsfähigen Geschlechter mußten daher auf die Promotion verzichten, sofern sie oder ihre Familien den Anspruch auf Teilhabe am Rat nicht verwirken wollten.154 Das Schicksal des berühmtesten Nürnberger Humanisten, Willibald Pirckheimer, besitzt also durchaus exemplarischen Charakter. Lakonisch und ohne ein Zeichen der Auflehnung ist dieses Charakteristikum der Nürnberger Ratsverfassung bereits 1516 in der Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg des promovierten Juristen Christoph Scheurl festgehalten: »noch ains kan ich anzezaigen nicht umbgeen, das kain doctor, er sei vom geschlecht wie edel er imer woll, in rat gesetzt würt.«155 Im Rückbezug der patrizischen Herrschaftsgewalt auf eine göttliche Schöpfungsordnung wurde auch das feudale Moment der Nürnberger Ratsverfassung prinzipiell legitimiert: ––––––––– 154
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Zu Nürnbergs Juristen und der Rezeption des römischen Rechts vgl. neben den einschlägigen Artikeln in der von Gerhard Pfeiffer herausgegebenen Stadtgeschichte (Anm. 81) von Rudolf Endres: Nürnbergs Rechtsleben (S. 171–176) und Hans Liermann: Geistiges und gelehrtes Leben im Zeitalter des Barock und der Aufklärung (S. 329–338) die Arbeiten von Max Herrmann: Die Reception des Humanismus in Nürnberg.- Berlin: Weidmann 1898 (mit der nicht haltbaren Konstruktion einer grundsätzlich antirömischen Haltung des Nürnberger Rats); Hans Liermann: Nürnberg als Mittelpunkt deutschen Rechtslebens.- In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 2 (1936), S.1–17 (vgl. von Liermann auch die allgemeinere, sehr instruktive Studie: Richter, Schreiber, Advokaten.- München: Prestel 1957 (= Bibliothek des Germanischen National-Museums Nürnberg zur deutschen Kunst- und Kulturgeschichte; 9)); Ottmar Böhm: Die Nürnbergische Anwaltschaft um 1500 bis 1806, ihr Verhältnis zum örtlichen Gerichtswesen sowie ihre Stellung im reichsstädtischen Organismus.- Diss. jur. Erlangen 1949 (masch.); Friedrich Wolfgang Ellinger: Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg vom 15. bis 17. Jahrhundert.- In: Reichsstadt Nürnberg, Altdorf und Hersbruck. Genealogica, Heraldica, Juridica.- Nürnberg: Die Egge 1954 (= Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken; 6), S. 130–222; Andreas Gedeon: Zur Rezeption des römischen Privatrechts in Nürnberg.- Nürnberg: Abraham 1957 (= Nürnberger rechts- und sozialwissenschaftliche Vorträge und Schriften; 5). Christoph Scheurl: Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg. 1516.- In: Die Chroniken der fränkischen Städte: Nürnberg. Band V. Hrsg. von Carl Hegel.- Leipzig: Hirzel 1874 (= Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert; 11), S. 779–804, S. 792. Zu Scheurl: Philipp Norton Bebb: Christoph Scheurl’s Role as Legal Adviser to the Nürnberg City Council, 1512 to 1525.- Diss. phil. Columbus, OH (Ohio State University) 1971.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Alles regiment unserer stat und gemainen nutzes steet in handen der so man geschlechter nennet, das sein nun soliche leut, dero anen und uranen vor langer zeit her auch im regiment gewest und uber uns geherscht haben. fremdling so allda eingewurtzelt und das gemain völklein hat kainen gewalt: es steet inen auch nicht zu, dieweil aller gewalt von gott, und das wolregirn gar wenigen und allein denen so vom schöpfer aller ding und der natur mit sonderlicher weyshait begabet sein verlihen ist.156
Damit war auch jene Gruppe von der direkten politischen Entscheidungsgewalt abgeschnitten, auf die sich der Rat angesichts der fortschreitenden Fusionierung herkömmlicher Rechtsformen in Reich und Territorien mit römischen Rechtselementen sowohl in der städtischen Rechtspflege und Gesetzgebung als auch und vor allem in den vielfältigen ökonomischen und politischen Aktivitäten des Stadtstaats nach außen hin immer mehr stützen mußte. Die Nürnberger Verfassung kannte keine Teilung der Gewalten. Der Rat vereinigte in seiner Hand Gesetzgebung, Verwaltung, politische Exekutive und Rechtsprechung. Daher nahmen auch die Rechtsexperten, die im Auftrag des Rats weisungsgebunden tätig wurden, prinzipiell und auf allen Ebenen nur einen konsultarischen Status ein. Die Form politischer Einflußnahme erfolgte über den Umweg von Rechtsgutachten, denen der Rat vielfach folgte, ohne doch in seiner Autonomie berührt zu werden. Kainen doctorn lest man zu Nürmberg in rath, sonder so oft die herrn in iren fürschlegen zwispaltig oder der vaal so verwirt und wichtig ist, das man die erfarnen der rechten darumb fragen muß, so erweelet man zwen auß den rathsherrn die nach dem früe essen bei den doctorn rathschläg suchen und nachmals den andern tag solichs im rath wider ansagen. [...] uber das haben sie auch zu Augspurg und Ingolstat ire besolte doctor, deren rathschleg sie sich in schweren sachen auch geprauchen. in summa das ampt der zu Nürmberg geleerten räthe steet in dem das sie ausserhalb der stat den gemainen nutz verthäidigen, gemainer stat potschaft werben, vor fürsten und herrn allerlai beschwerden fürtragen, und dahaim zu appellation sach fürlesen, ratschleg daruber machen und zuletzt rechte urthail verfassen, dann ein erbar rathe pflegt in kainer appellation handlung ichts zu urthailn, es sei dan das zuvor die gerichtshändl verlesen und zweier, dreier oder wann sie zwispeltig sein noch mer doctor mainung und gutbedunken daruber gehort sein worden: so gar emsig und fürsichtig sein die fromen herrn in allen dingen. dann der gericht, davon für rath apellirt [wirt] sein schier zwelfe. so ist auch die besoldung eins ieden doctors vast bei zweihundert gulden, darumb gepüert in auch tag und nacht zu arbaiten und nicht vil zu ruhen.157
Die herausragende Besoldung der Ratskonsulenten ist nur eines der Indizien für die immense Bedeutung, die der Stadtstaat, dessen politische Selbstbehauptung an dieser Schicht mehr denn an jeder anderen hing, dem Wirken seiner gelehrten Räte schon frühzeitig einräumte. Der Ausschluß der gelehrten Räte aus dem Rat darf deshalb zunächst auch keinesfalls als Versuch einer »ständischen Disqualifikation des juristischen Berufes« mißverstanden werden.158 Er hat seinen Ursprung in der Monopolisierung von Judikative, Legislative und Exekutive und der feudalen Fundierung und Legitimierung dieses Monopols, also der Prämisse, ––––––––– 156 157 158
Scheurl: Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg (Anm. 155), S. 791. Ebd., S. 802 f. Ellinger: Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg (Anm. 154), S. 145.
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daß der Rechtsgrund zur Amts- und Herrschaftsausübung des Rates nicht in irgendwelchen beglaubigten Kenntnissen bestehen sollte, sondern ausschließlich in der Geburt. War ja der juristische Doktor nicht nur für die Angehörigen des Patriziats erreichbar. Die herrschenden Geschlechter haben damit von vornherein das Entstehen eines neuen Beamtenpatriziats verhindert.159
Adel, Patriziat und Gelehrte: Statuskonkurrenz im Spiegel von Kleiderordnungen und Rechtsgutachten Erkennbar ist nun, wie mit der fortschreitenden Refeudalisierung des Patriziats auch die ständische Führungsrolle deutlicher markiert und bürgerlich-gelehrte Partizipationswünsche unerbittlicher abgewehrt werden. Der Kampf um Kleiderordnungen und Präzedenzen gibt davon Zeugnis. In einer diesbezüglichen Nürnberger Verordnung aus dem 15. Jahrhundert heißt es im Abschnitt »Von gulden schnüren, porten und neten« unter Bezugnahme auch auf die Gelehrten: »Auch soll hinfüro eynich mannssbildt, burger oder inwoner dieser statt, aussgenomen doctores unnd ritter, inn eynicher seiner claydung keynerley schnüre, porten oder nete, die von goldt gemacht oder damit vermengt sein, tragen, weder tag oder nachts.«160 Die Doktoren werden also wie andernorts so auch in Nürnberg ohne Rücksicht auf ihre Geburt dem niederen Adel gleichgestellt. Dem korrespondiert innerhalb des Stadtstaats ihre Ebenbürtigkeit im Sozialprestige mit der Elite des Rats, den dreizehn älteren Bürgermeistern und den aus ihnen sich rekrutierenden sieben älteren Herren, wie es Scheurl zu Anfang des 16. Jahrhunderts bezeugt: »die doctor aber werden in ehern gleich gehalten den siben eltern und den alten burgermaistern.«161 Sie gehörten zu den – mit dem Patriziat häufig durch Connubium verbundenen – ›ehrbaren Familien‹ der Oberschicht, wobei als ›ehrbar und bescheiden‹ diejenigen galten, die »sich ehrlich und redlich halten, nichts unerbars handelten oder Handwerkh treiben«.162 Es waren dies 300–400 Familien, Genannte des Größeren Rats, in den sie auf Grund ihres wirtschaftlichen Erfolgs, ihres Sozialprestiges und Lebensstils oder persönlichen Ansehens
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Ebd., S. 145. Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII bis XV Jahrhundert. Hrsg. von Joseph Baader.- Stuttgart: Litterarischer Verein 1861 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 63), S. 105. Zu den Privilegien der Nürnberger Juristen auch Ellinger: Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg (Anm. 154), S. 139 ff. Scheurl: Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg (Anm. 155), S. 803. Tanzstatut von 1521. Zitiert nach Theodor Aign: Die Ketzel. Ein Nürnberger Handelsherren- und Jerusalempilgergeschlecht.- Neustadt/Aisch: Degener 1961 (= Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken; 12), S. 107 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 76, Anm. 85: »In Nürnberg orientiert sich das Selbstverständnis der Oberschicht eindeutig an dem ritterlichen Begriff ›Ehre‹, sondert zugleich aber neben dieser Feudalqualifikation gegenüber der gemeinen Bürgerschaft eine kaufmännische Standesehre im Berufsleben der ›GewerbeExportstadt‹ (F. LÜTGE) aus, neben der man selbstverständlich noch die allgemein übliche [gerichtssoziologische] Ehrbarkeit des Gewerbes und Gerichtsstandes kennt.«
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung berufen wurden. Hierzu gehörten Kaufleute, Juristen, Ärzte, Beamte, Künstler, Handwerksmeister und andere Honoratioren,
wobei freilich nicht vergessen werden darf, daß Juristen, Ärzte oder Künstler nur dann aufgenommen wurden, wenn sie ein außergewöhnliches Ansehen erlangt hatten.163 Mit den Kleiderordnungen von 1568 und 1583 trieb der Rat die Abschließung der Stände weiter voran:164 Er gliederte die ›Ehrbaren‹ in drei Stände und schrieb jedem Stand vor, wie er sich kleiden dürfe. Den vordersten Stand bildeten die alten ›adeligen‹ Geschlechter. Die Standeszugehörigkeit der Doktoren und Lizentiaten war noch nicht genau bestimmt; es wurde nur angeordnet, daß sie sich ihrem Stand gemäß kleiden sollten.165
In jedem Fall sahen die gelehrten Doktoren ihre Privilegien durch diese Ordnungen gewahrt; die Geschichte ihrer ständischen Disqualifikation datiert erst auf das 17. Jahrhundert. Dies geht in aller wünschenswerten Deutlichkeit aus einem von den Nürnberger Juristen in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten der Tübinger juristischen Fakultät hervor, mittels dessen sie sich gegen vermeintliche Diskriminierungen von seiten des Rates zu schützen suchten.166 In Übereinstimmung mit den reichsrechtlichen Verordnungen aus den Jahren 1500, 1530, 1548 und 1577, welche die Rechtsgrundlage auch für das Tübinger ––––––––– 163
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Endres: Sozialstruktur Nürnbergs (Anm. 125), S. 196. Zur Einschränkung vgl. Hofmann: Nobiles Norimbergenses (Anm. 113), S. 76 f. Vgl. zum folgenden: AUßzug auß eins Erbern Raths jüngst den VIII. Augusti M.D.LX VIII. verruffter Ordnung unnd Verpotts/ die Hoffart belangendt/ unnd was einem jedem/ seinem Stand nach/ von kleydung unnd anderm/ anzutragen gepürt und zugelassen ist. (Stadtarchiv Nürnberg: Mandat 1568 Aug. 8). Des weiteren: Eins Erbern Raths der Statt Nürnberg/ verneute Policeyordnung und verpot der Hoffart/ und was einem jeden seinem stande nach/ von Klaidung und anderm zu tragen gebürt/ und zugelassen ist. (22. Junii) 1583. (Stadtbibl. Nürnberg: Mel. Nor. 838/1). Vgl. auch die einschlägigen Verordnungen aus dem 17. Jahrhundert: Verneute Ordnung und Verbott der Hoffart. Eines Edlen/ Ehrnvesten und Weisen Raths/ der Statt Nürmberg/ was unter ihrer Burgerschafft/ Innwohnern/ Unterthanen und Verwanthen/ jedem in seinem Standt/ von Manns und Weibspersonen/ in Beklaidungen zugelassen und verbotten wird. Gedruckt bey Balthasar Scherffen. (28. Apri-lis) 1618. (Stadtbibl. Nürnberg: Mel. Nor. 838/1); Verneuerte Kleider=Ordnung/ und Verbot der Hoffart. Eines Wol=Edlen/ Gestrengen/ und Hochweisen Rahts der Stadt Nürnberg/ was unter ihrer Burgerschafft/ Innwohnern/ Unterthanen und Verwandten/ jedem in seinem Stand/ von Manns= und Weibs=Personen/ in Bekleidungen zugelassen und verbotten ist. Gedruckt bey Michael Endter/ (17. Decembr.) Im Jahr 1657. (Stadtbibl. Nürnberg: Mel. Nor. 838/1); Eines HochEdlen und Hochweisen Raths der Stadt Nürnberg Verneuerte Kleider=Ordnung/ und Verboth der Hoffarth/ Was nemlichen unter Ihrer Burgerschafft/ Inwohnern/ Unterthanen und Verwandten/ Jedem in seinem Stand/ von Manns= und Weibs= Personen/ in Bekleidungen und sonsten/ zugelassen oder verbothen ist. Gedruckt bey Balthasar Joachim Endter. Im Jahr Christi 1693. (Stadtarchiv Nürnberg: Mandat 1693 Febr. 23). Vgl. zum folgenden auch Schall: Die Genannten in Nürnberg (Anm. 128), S. 133 ff. Schall: Die Genannten in Nürnberg (Anm. 128), S. 133 f. Das folgende nach Ferdinand Elsener: Die Doktorwürde in einem consilium der Tübinger Juristenfakultät des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Stände im ›Imperium Romano-Germanicum‹.- In: Mélanges Philippe Meylan. Recueil de travaux publiés par la Faculté de droit. Band II: Histoire du droit.- Lausanne: Imprimerie Centrale 1963, S. 25–40.
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Gutachten bildeten, habe auch der Rat in seinen Kleiderordnungen von 1568 und 1593 die Doctores ›in ruhiger possessione vel quasi‹ ihrer Vorrechte gelassen. Später [jedoch] habe der Magistrat der Stadt ›gantz operose intendirt‹, in die uralte Gerechtsame der Doktoren einzugreifen... Er habe die Absicht gezeigt, die ›dignitas doctorum‹ zu schwächen und zu unterdrücken; dafür sei der ›patriciatus‹ mehr und mehr erhoben und der ganzen Burgerschaft, und so auch den Doctoribus, vorgezogen worden.167
Im einzelnen wird nun namhaft gemacht, es sollten die Doctores 1641 aus dem ersten Stand, in dem sie sich zusammen mit den Patriziern befunden hatten, entfernt und in den zweiten Stand der Kaufleute versetzt werden. Gegen diese Verminderung ihrer jura doctoralia haben sich damals die Doktoren zur Wehr gesetzt und den Magistrat ersucht, sie und ihre ›successores bey dem alten ruhigen possess in dem ersten stand unturbiret zu lassen‹. Die Doktoren seien damals tatsächlich ungekränkt bei ihren alten Vorgangs-Rechten geblieben. Aber schon 1650 hätten sich einige aus dem Patriziat de facto angemaßt, die Frage des Vortritts erneut aufzuwerfen. Die Doktoren hätten sich darnach beim Rat der Stadt erneut beschwert unter Hinweis auf die uralte Observanz und die mehr als hundertjährige ›possessio vel quasi praecedentiae‹. Jedoch schon 1657 habe der Magistrat in einer neuen Kleiderordnung die Ehefrauen und Töchter der Doktoren beider Fakultäten, der Juristen und Mediziner, in den zweiten Stand versetzt, d.h. in den Kaufmannsstand, und dabei den Doktoren selbst das Prädikat ›Herr‹ entzogen, gleichzeitig ihre Ehefrauen und Töchter ›per contemptum Weiber und Töchter, die uxores der patriciorum aber Frauen, und dero Töchter Jungfrauen‹ benannt.168
Die Doktoren hätten dagegen jedoch mit Erfolg Beschwerde geführt. 1663 mußte die drohende Bestrafung der Ehefrau eines Doktors der Medizin wegen »vermeintlich begangenen Kleider-excessus in ornamentis tamen licitis« abgewehrt werden, 1675 ein Präzedenz-Befehl zugunsten des Stadtrichters gegenüber den Doktoren.169 1677 sollte ein promovierter Jurist und Advokat einem Hauptmann aus dem Patriziat nachgestellt werden; er verzichtete darauf auf seine Ehrenstelle.170 In der Kleiderordnung von 1693 wurden die Ehefrauen und Töchter in den zweiten oder Kaufmannsstand versetzt, wogegen sich die Doktoren ebenso zu verwahren hatten wie gegen die Bevorzugung junger Patrizier gegenüber den promovierten Juristen anläßlich der Bestimmung der Genannten für den Größeren Rat 1699 und 1700. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts seien dann drei ›Losungsbeamte‹ (reichsstädtische Finanzbeamte) aus dem Patriziat den Doktoren der Jurisprudenz und Medizin vorgezogen worden, woraufhin diese nicht nur Beschwerde einlegten, sondern auch beschlossen, bis auf weiteres allen öffentlichen Veranstaltungen fernzubleiben. Durch derartige Neuerungen werde »das ›systema et forma republicae‹ [...] verändert, und dabei die Stellung von ganzen Corpora oder Collegia verschoben.« Vor allem aber verwiesen die Doktoren auf die von Karl IV. erlassene Verfassung, »wonach die Doktoren den Rang vor ––––––––– 167 168 169 170
Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29 f. Vgl. Schall: Die Genannten in Nürnberg (Anm. 128), S. 135. Dort auch weitere Beispiele für Statuskonflikte, die in der ›species facti‹ des Tübinger Gutachtens nicht ausdrücklich angeführt werden.
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allen Patriziern, ausgenommen dem Rat der Stadt (›senatorio ordine excepto‹), gehabt haben«.171 Da sich der Rat auf diese und andere Argumente nicht einließ, suchten die Doktoren der Stadt eine Klärung über das Tübinger Rechtsgutachten herbeizuführen. Das Gutachten bestätigte die Auffassung der Nürnberger Gelehrten vollauf, doch konnten sie sich auf Dauer gegenüber dem Rat nicht durchsetzen.172 Dieser nahm mit dem Hof in Wien Kontakt auf und erwirkte, daß ein zugunsten der Doktoren ergangenes kaiserliches Reskript kassiert und in dem strittigen Fall die Aufnahme der patrizischen Losungsbeamten in die Reihe der Konsulenten zugestanden wurde. Der Rat will für diesmal das ›Passirte‹ vergessen in der Hoffnung, die Doktoren würden nunmehr in sich gehen und den Losungsräten den obrigkeitlich beigelegten und vom Kaiser bestätigten Vorgang ohne Weigerung gewähren. Den Zuwiderhandelnden wird eine Strafe von 100 Reichstalern angedroht; wenn auch das nicht helfen sollte, möge man die ›Contravenienten‹ arrestieren.173
Die Gelehrten sind also weit davon entfernt gewesen, die ständische Ordnung selbst in Frage zu stellen. Ihnen ging es lediglich darum, die Parität mit den führenden Geschlechtern der Stadt zu behaupten, die sie auf Grund ihrer akademischen Qualifikationen und ihrer daher rührenden unentbehrlichen Funktionen in der städtischen Körperschaft errungen hatten. Wie sich der städtisch-patrizische Adel zur Reichsritterschaft hin orientierte, so die angesehene gelehrte Ratskonsulenten- und Medizinerschaft zu den großen traditionsreichen Patrizierfamilien. Die überkommene Lebensform der Adelswelt bewahrte derart ihre Attraktivität für die städtischen Oberschichten.
Übergang zur Literatur Auch in der Literatur wird nur ausnahmsweise an den Ordnungsprinzipien der ständischen Gesellschaft selbst gerührt; erst im 18. Jahrhundert werden sie dem Forum der Kritik ausgesetzt. Vorbereitet ist jene Kritik aber mehr oder minder deutlich im Umkreis des gelehrten Humanismus in der Etablierung nicht länger ausschließlich geburtsständischer, sondern erworbener Qualifikationsmerkmale, die ihrerseits die unumgängliche Voraussetzung für die Einnahme gesellschaftlicher Führungspositionen darstellen. An dieser Stelle ist im Rahmen des hier verfolgten soziokulturellen Formationsprozesses nun der Beitrag des ›Pegnesischen Blumenordens‹ im Medium der bei den Nürnbergern vorherrschenden Gattung der Schäferdichtung zu überprüfen. Deren Ausbildung fällt genau in jene Zeit, da sich die Statuskonkurrenz ––––––––– 171
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Elsener: Die Doktorwürde (Anm. 166), S. 31. Dort S. 29 ff. auch die weiteren angeführten Vorfälle. Im Tübinger Rechtsgutachten wird ausdrücklich festgestellt, daß die Reihe der Beispiele damit nicht erschöpft sei. Einzelheiten der Argumentation ebd., S. 36 ff. Ebd., S. 39.
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zwischen patrizischem Stadtadel und promovierter Gelehrtenschaft merklich zuspitzt. Die Bekanntschaft nicht nur mit den generellen, sondern zugleich auch den spezifischen Aspekten dieser Auseinandersetzung darf wenigstens im Kreis der ortsansässigen Mitglieder vorausgesetzt werden. So kann die Artikulation ständepolitischer Themen in der Nürnberger Bukolik auf einen ausnahmsweise exakter zu rekonstruierenden geschichtlichen Hintergrund zurückprojiziert werden, der auch dann gegenwärtig zu halten ist, wenn er nicht eigens thematisiert wird. Die Operation mit traditionsgesättigten festumrissenen literarischen Formen steht in Opposition zur Integration singulärer, zeitgenössischer Sachverhalte ins Werk. Daraus darf jedoch nicht die Isolierung der fiktionalen Medien gegenüber der jeweils spezifischen geschichtlichen Situation abgeleitet und in der Exegese der einzelnen Werke sodann praktisch ratifiziert werden. Vielmehr umgreift die universelle ästhetische Exposition gesellschaftlicher Sachverhalte den individuellen Fall und erlaubt dessen Identifizierung im Rahmen eines vorgegebenen geschichtlichen Deutungsmusters. Gerade der scheinbar interesselose Abstand vom Tagesgeschehen eröffnet den ästhetischen Freiraum zur Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte. Wenn in der schäferlichen Dichtung auf den konkreten Fall nicht Bezug genommen wird, so besagt das nicht, daß er nicht auf ihn applizierbar ist. Bei der Übersetzung ins pastorale Genre gehen Entindividualisierung und Radikalisierung der ästhetischen Alternative Hand in Hand und bilden gemeinsam das Fundament für die der pastoralen Dichtung inhärente utopische Dimension.
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3.3 Sozietät, Ständekonflikt und Geistesadel. Die Pegnitzschäfer im Spiegel ihrer Schäfereien Ordensarchiv Die Mitglieder des ›Pegnesischen Blumenordens‹ sind – dank der mit archivalischer Akribie angelegten großen Ordensgeschichte Herdegens zum hundertsten Jubiläum der Vereinigung – im ganzen besser als diejenigen anderer Gesellschaften zu überschauen. Aber natürlich hat Herdegen manche Fragen, die heute von besonderem Interesse sind, noch nicht gestellt. Deren Beantwortung steht und fällt mit der nach dreihundert Jahren fälligen Erschließung des bedeutendsten Literaturarchivs, das sich aus dem 17. Jahrhundert erhalten hat.174 Es bietet – insbesondere in den um Birkens Nachlaß zentrierten Teilen – eine Fülle von Informationen über die Bedingungen literarischer Produktion und Rezeption und die Formen ihrer Institutionalisierung im 17. Jahrhundert. Das gilt speziell auch für die etwa zweitausend an Birken gerichteten Briefe, die zu einem großen Teil von Mitgliedern des Ordens stammen und vielfachen Aufschluß über die Voraussetzungen und Modalitäten der Aufnahme von Birkens Korrespondenten in den Orden während seiner fast zwanzigjährigen Präsidentschaft geben.175 Der erst nach einer Transkription möglichen Ausschöpfung und Interpretation der Materialien kann und soll hier nicht vorgegriffen, sondern nur eine vorläufige, bewußt knapp gehaltene Information über die Mitglieder des Ordens zum Zweck einer Vorbereitung des folgenden gegeben werden.176
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Dazu mit der einschlägigen Literatur Klaus Garber: Sigmund von Birken. Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historisch-soziologischer Umriß seiner Gestalt, Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes.- In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hrsg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen.Hamburg: Hauswedell 1978 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 7), S. 223– 254. Vgl. Klaus Garber: Private literarische Gebrauchsformen im 17. Jahrhundert. Autobiographika und Korrespondenz Sigmund von Birkens.- In: Briefe deutscher Barockautoren. Probleme ihrer Erfassung und Erschließung. Hrsg. von Hans-Henrik Krummacher.- Hamburg: Hauswedell 1978 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 6), S. 107–138. Die folgende kurze Übersicht über die Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens wurde wesentlich erleichtert durch die unveröffentlichte Staatsexamensarbeit von Hans-Georg Klindt: Studien zur kulturellen Bedeutung des ›Pegnesischen Blumenordens‹ im Nürnberg des 17. Jahrhunderts.- Marburg/Lahn 1976, die Jörg Jochen Berns (Marburg) dem Verfasser dankenswerterweise zur Verfügung stellte. Ein chronologisches Verzeichnis der unter Harsdörffer und Birken aufgenommenen Mitglieder auch bei Richard van Dülmen: Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jahrhundert.- In: Gesellschaft und Herrschaft. Forschungen zu sozial- und landesgeschichtlichen Problemen vornehmlich in Bayern. Eine Festgabe für Karl Bosl zum 60. Geburtstag. (Redaktion: Richard van Dülmen).- München: Beck 1969, S. 153–190, S. 183 ff. Vgl. zum folgenden auch die oben Anm. 6 und unten Anm. 196 zitierten Arbeiten.
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Gründungsmitglieder Der Orden hat sich unter Harsdörffers Ägide als lockere, vornehmlich aus Nürnberger Mitgliedern bestehende Vereinigung verstanden, ohne feste Satzungen und Programme zu besitzen. Neben dem Dreigestirn, das den Orden auch nach außen vor allem repräsentierte, neben Harsdörffer, Klaj und Birken, stehen der kurz vor der Gründung nach Nürnberg kommende kurfürstlich-sächsische Rat und Historiograph Samuel Hund (Myrtillus I), die beiden angesehenen promovierten Mediziner Johann Helwig (Montano) und Johann Georg Volckamer (Helianthus), der Diakon an der Marienkirche und spätere Professor am Auditorium Egidianum Christoph Arnold (Lerian), der Korrektor bei Endter und spätere Lehrer an der Schule zu St. Sebald Johann Sechst (Alcidor) und der Schreiber und spätere Kanzlist Friedrich Lochner (Periander I). Dazu kommen als berühmte auswärtige Mitglieder dank der Kontakte von Harsdörffer Johann Rist (Daphnis aus Cimbrien) und Justus Georg Schottelius (Fontano I) sowie aus dem Umkreis Rists in Niederdeutschland die Gattin des Kanzlers Nicolai in Stade, Sophia (Diana I), Georg Conrad Osthof in Celle (Amyntas) und Anton Burmeister, Pastor in Dalenburg bei Lüneburg (Philanton). Birkens Reise durch Norddeutschland bald nach Gründung des Ordens gab Gelegenheit, die Kontakte zu diesen auswärtigen Mitgliedern wirksam zu festigen. Zu beachten ist, daß die Genannten alle zwischen 1644 und 1646 dem Orden beigetreten sind, bis auf Burmeister, der nach Birkens Reise 1648 hinzukam. Erst zehn Jahre später, im Todesjahr Harsdörffers, wird dann der gebürtige Nürnberger und seit 1665 als Professor an der Universität Kiel tätige Christoph Frank (Silvius I) noch aufgenommen, nachdem sein Schäfergedicht und Schützengeschicht aus dem Jahr 1658 vor allem Birkens Interesse gefunden hatte. Keiner der Patrizier trat dem Orden bei, auch nicht, als Harsdörffer kurz vor seinem Lebensende in den Inneren Rat berufen wurde. Korporative Kontakte zwischen dem Rat und dem Orden hat es nicht gegeben, auch nicht anläßlich der Friedensfeierlichkeiten 1649/50.177
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Dazu Dietrich Jöns: Literaten in Nürnberg und ihr Verhältnis zum Stadtregiment in den Jahren 1643–1650 nach den Zeugnissen der Ratsverlässe.- In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hrsg. von Albrecht Schöne.- München: Beck 1976, S. 84–98. Zur Situation des Ordens unter Harsdörffer – neben der stets heranzuziehenden Darstellung von Herdegen – vgl. auch Theodor Bischoff: Georg Philipp Harsdörffer. Ein Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert.In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens gegründet in Nürnberg am 16. Oktober 1644. Hrsg. von Theodor Bischoff, August Schmidt.- Nürnberg: Schrag 1894, S. IV–474. Kapitel IV: ›Der Hirtenorden an der Pegnitz‹, S. 187–238, insbes. S. 215 f., sowie van Dülmen: Sozietätsbildungen in Nürnberg (Anm. 176), S. 176 f., und Klindt: Studien zur kulturellen Bedeutung des ›Pegnesischen Blumenordens‹ (Anm. 176), S. 12 ff., S. 85 f. und S. 89 ff.
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Neuer Einsatz unter Birken Insofern darf mit der Übernahme des Vorsitzes durch Birken nach einem vierjährigen Interregnum im Jahre 1662, mit dem sich ein weiteres, ehrgeizig angestrebtes Ziel des Literaturstrategen erfüllte, in gewisser Weise ein Neuanfang datiert werden. Er betrifft weniger die häufig betonte vermeintlich religiöse, ja ›mystische‹ Wendung des Ordens, die man aus Birkens Verlautbarungen nach dem Tode Dilherrs (1669) und dem Tode seiner ersten Frau (1670) herauslesen zu können glaubte, als vielmehr die Organisationspolitik des neuen Präsidenten, insbesondere die planmäßige Aufnahme neuer Mitglieder. Hier sollte zwischen dem engeren, in der Stadt oder in ihrer Nähe ansässigen Kern und den vielen auswärtigen Mitgliedern, die häufig mit einem Aufnahmegesuch an Birken herantraten, unterschieden werden. Die Ortsansässigen oder nicht allzufern Wohnenden konnten sich treffen und einen regelmäßigen Austausch pflegen; die Auswärtigen mußten mit dem Orden brieflichen Kontakt halten, und in der Tat rekrutiert sich aus diesen Schreiben vor allem das sorgfältig von Birken angelegte Briefmaterial. Nicht in allen Fällen lassen sich die Grenzen deutlich ziehen, gelegentlich wird der persönliche Kontakt durch Wegzug unterbrochen. Im ganzen stellt sich das Bild jedoch wie folgt dar: Zur Gruppe der Mitglieder aus Nürnberg und Umgebung darf man zählen: Die Pfarrer Martin Limburger (Myrtillus II) nebst Frau Regina Magdalena (Magdalis), Johann Geuder (Rosidan), Carl Friedrich Lochner (Periander II) und den in Birkens Todesjahr seines Amtes wegen Wucherei enthobenen Johann Lange (Philanthus). Hinzukommt der Patrizier Christoph Fürer von Haimendorf (Lilidor I), der später selbst die Präsidentschaft des Ordens übernehmen und für eine gedruckte Satzung sorgen sowie dank seiner Kontakte zum Rat endlich eine Patronatsurkunde erwirken sollte. Des weiteren sind namhaft zu machen: Der Marktvorsteher in Nürnberg und potente Mäzen des Ordens Andreas Ingolstädter (Poliander) nebst Frau Helena (Philinde), die Kauf- und Handelsleute Johann Conrad Einwag (Isander) und Christoph Adam Negelein (Celadon), die Altdorfer Professoren Magnus Daniel Omeis (Damon II oder der Norische) nebst Frau Maria Dorothea (Diana II) und Christoph Wegleiter (Irenian), die Lehrer bzw. Schulrektoren Johann Ludwig Faber (Ferrando I) und Simon Bornmeister (Fontano II), der Apotheker und Senior des Collegium Pharmaceuticum in Nürnberg Johann Leonhard Stöberlein (Polyanthus) nebst Frau Dorothea Ursula (Lorinde), der Rektor und Korrektor bei Endter Johann Gabriel Maier (Palämon), der in der Registratur und Kanzlei, später als Ratsschreiber tätige Georg Arnold Burger (Asterio I) und der anderweitig nicht bekannte Caspar Köler (Tityrus). Neben Birkens zweiter Frau Clara Catharina (Florinda) bleiben die nicht mit Ordensmitgliedern verheirateten Damen Anna Maria Nützel (Amarillis), geb. Paumgärtner, Gattin des Kriegsrates und Obersten des Fränkischen Kreises Carl Benedict Nützel, Barbara Helene Cropschen (Crone) und Maria Magdalene Götz (Chlorinde) zu erwähnen. Die meisten sind aus den Nürnberger Schäfereien, wo sie unter ihren Mitgliedsnamen aufzutreten pflegen, bekannt.
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Auswärtige Mitglieder Ihnen steht die zahlenmäßig etwa gleich große Gruppe der von Birken aufgenommenen auswärtigen Mitglieder gegenüber. Eindeutig überwiegt unter ihnen die Theologenschaft: Heinrich Arnold Stockfleth (Dorus), zunächst Pfarrer in Equarhofen und Baiersdorf, dann Oberhofprediger und Generalsuperintendent in Bayreuth, nebst Gattin Maria Catharina (Dorillis), die Brüder Birkens Christian Betulius (Macaristo; Württemberg, verschiedene Orte) und Johann Salomon (Orontes; Mitau/Kurland), Melchior Rauck (Meliböus; Rechenberg), David Nerreter (Philemon; Öttingen, Kirchheim, Nürnberg, später Konsistorialrat und Generalsuperintendent in Hinterpommern und Camin), Jacob Hieronymus Lochner (Amyntas II; Wismar, später Generalsuperintendent in Bremen und Verden), Caspar Nieblich (Leucophron; Breslau), Quirin Moscherosch (Philander; Bodersweier/Grafschaft Hanau), Hermann Lebermann (Corymbo; Lübeck), Johann Friedrich Spengler (Charicles; Crailsheim) und Johannes Achatius Lösch (Polydo; Ritterkanton Altmühl). In höfischen bzw. adeligen Diensten stehen wenigstens zeitweilig der kurfürstlich-brandenburgische Historiograph in Königsberg Martin Kempe (Damon I), die Kanonici in Eutin Matthias (Lysis) und Johann Georg (Thyrsis I) Pellicer, der Archiv-Sekretär in Weimar Georg Neumark (Thyrsis II), der Sekretär Anton Ulrichs Christian Flemmer (Fidamor) und schließlich der Sekretär der reichsfreien Ritterschaft in Franken Christian Heuchelin (Lysander). Sebastian Seelmann (Silvius II) ist als Advokat in Regensburg tätig. Städtische Ratsämter bekleiden Gottfried Zamehl (Meleager) als Senator in Elbing, Daniel Bärholtz (Hylas) als Sekretär, später als Bürgermeister in Elbing, Michael Kongehl (Prutenio) als Stadtsekretär, Ratsmitglied und Bürgermeister auf dem Kneiphof in Königsberg, Christian Donatus (Adonis) als Ratsherr sowie Stadtrichter und Lehrer in Königsberg und Ephraim Natzius (Lucidor) als Ratsherr in Rügenwalde/Pommern. Professuren haben Joachim Heinrich Hagen (Philadon) am Christian-ErnstGymnasium in Bayreuth und Friedrich Hoffmann (Cleander I) als Lehrer und späterer Rektor am Gymnasium in Elbing inne; Johann Tepelius (Lididan) findet ein Unterkommen als Hauslehrer in Tübingen. Christian Franciscus Paullini (Uranius), promovierter Mediziner, ist als Arzt in gehobenen Stellungen an verschiedenen Orten tätig. Unter Birken werden auch drei Adlige aufgenommen: Philipp Jacob Oswald Freiherr von Ochsenstein (Daphnis II), Baron Ferdinand Adam Pernauer (Daphnis III) und Elisabeth von Senitz, Hoffräulein zu Oels (Celinde). Und schließlich setzt auch Birken die bewußt vollzogene Integration weiblicher Mitglieder in den Orden fort: Neben den schon erwähnten Ehefrauen von Ordensmitgliedern sind hier zu nennen: Catharina Margaretha Dobenecker (Silvia), Gattin des brandenburgisch-bayreuthischen Kammerrats Johann Baptist Dobenecker, Barbara Juliana Penzel (Daphne), Gattin des hohenlohe-pfedelbachschen Hofdiakons und späteren Konsistorialrats Conrad Penzel, und Gertrud Möller (Mornille), Gattin des Königsberger Professors für Medizin Peter Möller.
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Verankerung in der Stadt Nähere Erklärungen für die Aufnahme vieler der auswärtigen Mitglieder werden sich erst nach Ausschöpfung der Briefe an Birken geben lassen. In einzelnen Fällen ist die Mitgliedschaft in anderen Gesellschaften und damit das bereits gewonnene Renommé ausschlaggebend. Gewisse Charakteristika vor allem der Nürnberger Mitglieder unter Harsdörffer und Birken sind gelegentlich bereits bemerkt worden.178 Trotz der Dominanz der Theologen fehlt eine so angesehene Gestalt wie Dilherr. Es fehlt die gerade mit Birken teils in engen Kontakt tretende niederösterreichische adelige Exulantenschaft; weder Gottlieb von Windischgraetz noch Catharina Regina von Greiffenberg gehören dem Kreise an. Hier waren der bürgerlichen Gesellschaft unüberwindliche Grenzen gesetzt. Aber auch das Nürnberger Handels- und Finanzbürgertum ist mit Ingolstädter, Einwag und Negelein unterrepräsentiert. Wie in den anderen Gesellschaften überwiegt die Akademikerschaft und innerhalb ihrer wiederum die Theologenschaft. So weicht auch die soziologische Zusammensetzung des Nürnberger Ordens von dem gewohnten Bild der Trägerschicht bürgerlich-gelehrter Dichtung des 17. Jahrhunderts nicht ab. Nur ein Ratsangehöriger läßt sich herbei. Und als ein Jahr vor Birkens Tod ein Mitglied des berühmten ratsfähigen Geschlechts der Fürer von Haimendorf dem Orden beitritt, ist dessen große Zeit bereits vorbei und die vielen Aktivitäten zur institutionellen Konsolidierung mit Satzungen und Ratspatronat können das nur mäßig kaschieren. Der Rat hat, wie alle bislang bekanntgewordenen Ratsverlässe zeigen, seine zurückhaltende Politik gegenüber der Vereinigung weiter beachtet, eher gebremst als gefördert und die schon an Harsdörffer exemplifizierte Maßregelung weiterhin in der sorgfältigen Überwachung der Ordensproduktion auf unliebsame politische Folgewirkungen hin fortgesetzt. Eine kulturpolitische Repräsentationsfunktion etwa analog zu den Bemühungen der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ um eine neue deutsche höfische Kultur hat die Hirtengesellschaft an der Pegnitz für den übervorsichtigen Rat der Stadt nicht gehabt. Insofern ist hier eine Chance aus dem städtischen Raum heraus, die Nürnberg immer noch wie keine andere Stadt des Reichs im Schnittpunkt politischer, konfessioneller und kultureller Kräfte und Überlieferungen hätte wahrnehmen können, nicht ausgeschöpft worden. Harsdörffer hatte nicht mit dem Nürnberger Patriziat gerechnet, das sich gleich dem Adel ständisch abzuschließen strebte und in Georg Philipps Plänen die Gefahr politischen Aufstiegs unerfahrener Menschen witterte. [...] Indem der patrizische Rat sich Harsdörffers Unternehmungen fernhielt, blieb diesen so gleiche allgemeinsoziale Wirkung wie im französisch-italienischen Vorbild versagt. Da die in Paris gewährte Förderung durch die Regierung Harsdörffers bedeutendem Nürnberger Ansatz versagt wurde, bildete sich dieser nach seinem Tod 1658 nur spärlich weiter, wurde seine Anregungskraft nur wirksam im mittleren und nördlichen Deutschland. Die ›Frauenzimmer-Gesprächsspiele‹ waren der erste
––––––––– 178
Vgl. dazu neben den in Anm. 177 gegebenen Nachweisen weiterhin van Dülmen: Sozietätsbildungen in Nürnberg (Anm. 176), S. 178 ff., sowie Klindt: Studien zur kulturellen Bedeutung des ›Pegnesischen Blumenordens‹ (Anm. 176), S. 14 ff. und S. 86 f.
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Versuch zu einer über alle Zweige der Wissenschaft unterrichtenden, allgemeinbildenden Presse. Aber nicht in Nürnberg, sondern [in] Paris erschien seit 1665 das gleichstrebige Journal des Savants, das Frankreich zum Beherrscher der Literatur Europas machte. Nicht Nürnberg, sondern Leipzig brachte seit 1682 die Acta eruditorum, Teilverwirklichung des so erfolgreichen Harsdörffer-Plans, der Nachahmung fand im Hamburg Rists, im Halle des Thomasius, im Zürich der Bodmer und Breitinger. Sie alle, die den Weg des deutschen Bürgertums zu hoher [...] Kultur und geistigem Selbstbewußtsein bahnten, trugen weiter das Erbe des Nürnberger Patriziers, Georg Philipp Harsdörffers.179
Orden und Schäfertum In Nürnberg ist die aus der europäischen Literatur überkommene pastorale Fiktion mit der Gründung des Hirten- und Blumenordens an der Pegnitz institutionalisiert worden, womit sich zugleich der vorgegebene poetische Verweisungszusammenhang von Hirt und Dichter materialisierte. Es ist signifikant für die Nürnberger, daß sie die Gattung der Prosaekloge nicht nur ihrer poetologischen Vielfalt und symbolischen Vielschichtigkeit wegen pflegten, sondern das in ihr formal vorgegebene Modell poetischer Kommunikation institutionell verankerten, indem sie ihren schäferlichen Blumenorden [...] als ständige Sozietät, die von äußeren Anlässen weitgehend unabhängig wurde, etablierten.180
Nicht deutlicher könnte die Berechtigung für die hier durchgehend vorgenommene historisch-soziologische Dechiffrierung des schäferlichen Habits unterstrichen werden. Exakter als bei jeder anderen dichterischen Vereinigung des 17. Jahrhunderts führt daher bei den Nürnbergern der Gang durch ihre Schäfereien ins Zentrum ihres Selbstverständnisses und zum Ursprung ihrer ästhetischen Utopie sozialer Kommunikation.181 –––––––––
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Hellmuth Rössler: Fränkischer Geist – Deutsches Schicksal. Ideen – Kräfte – Gestalten in Franken 1500 bis 1800.- Kulmbach: Baumann 1953 (= Die Plassenburg. Schriften für Heimatkunde und Kulturpflege in Ostfranken; 4), S. 218 f. Zur Maßregelung Harsdörffers vgl. Georg Adolf Narciss: Studien zu den Frauenzimmergesprächspielen Georg Philipp Harsdörfers (1607–1658). Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts.Leipzig: Eichblatt 1928 (= Form und Geist. Arbeiten zur germanischen Philologie; 5), S. 15 ff. und S. 167 ff., sowie Jöns: Literaten in Nürnberg und ihr Verhältnis zum Stadtregiment (Anm. 177), S. 90 ff. Vgl. generell Arnd Müller: Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg. Von der Einführung der Buchdruckerkunst bis zum Ende der Reichsstadtzeit.In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 49 (1959), S. 66–169. Die Ratsverlässe betr. Kunst und Künstler sind bis zum Einsatz des Dreißigjährigen Krieges bearbeitet worden durch Theodor Hampe: Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im Zeitalter der Spätgotik und Renaissance (1449) 1474–1618 (1633). Band I–III.Wien: Graeser, Leipzig: Teubner 1904 (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit. N.F.; 11–13). Eine systematische Durcharbeitung der Ratsverlässe des 17. Jahrhunderts ist ein dringendes Desiderat der deutschen Barockforschung. Jörg Jochen Berns: Der Pegnitzschäfer Raabe. Kommentar zu sieben vergessenen Briefen.- In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1975, S. 16–32, S. 21. Zur Schäferdichtung der Nürnberger vgl. Hans Ullrich: Über die Schäferdichtungen des Gekrönten Blumenordens an der Pegnitz.- Diss. phil. Wien 1907 (handschr.); Heinrich
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So wie die deutsche Hirtendichtung generell und die deutsche Prosaekloge speziell in Opitzens Schäferei von der Nimfen Hercinie ein archetypisches Muster besitzt, so der ›Pegnesische Blumenorden‹ in Harsdörffers und Klajs Pegnesischen Schäfergedicht (1644) und Birkens Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (1645). Beide Gedichte sind inzwischen nochmals exegiert worden, so daß sich eine Wiederholung erübrigt.182
Der pastorale Beitrag Harsdörffers Auffällig – und deshalb wiederholt wahrgenommen – ist die Tatsache, daß weder Harsdörffer noch Klaj in der Folgezeit ein prononciertes Interesse an der Weiterentwicklung der Gattung genommen haben, obgleich sie doch mit der Gründung und dem Rollenverständnis der Gesellschaft so eng verbunden war. Noch vor Gründung der Gesellschaft hatte Harsdöffer die Liebe des Dichters zur deutschen Literatur in einem ›Traumlied‹ mit pastoralen Elementen allegorisch gestaltet.183 Das gleiche Jahr, das das Pegnesische Schäfergedicht zeitigte, brachte mit Harsdörffers geistlicher Schäferoper ›Seelewig‹ einen bei den Nürnbergern besonders naheliegenden Versuch der Symbiose von Pastorale, Theologie und Musik, wie ihn auf andere Weise Klaj in seinen Redeoratorien versuchte. Die Überleitung zu dem nicht selbständig erschienenen, sondern innerhalb der Gesprächspiele publizierten Stück bildet ein ›Schäfer Gespräch‹ zwischen Gottart und Trostlieb, dem hier allein die Aufmerksamkeit zu gelten hat.184 Das beigegebene Titelkupfer verwehrt – entgegen sonstiger Nürnberger Gepflogenheit – die Möglichkeit der Identifizierung einer im Hintergrund angedeuteten Stadt. Sie ist als theologisch-sozialer allegorischer Kontrastraum zur –––––––––
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Meyer: Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts.- Diss. phil. Freiburg/Breisgau 1928, S. 27 ff.; Ernst Günter Carnap: Das Schäferwesen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts und die Hirtendichtung Europas.- Diss. phil. Frankfurt/Main 1938, S. 22 ff.; Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts.- Köln, Wien: Böhlau 1974 (= Literatur und Leben. N.F.; 16), insbes. S. 117 ff. Klaus Garber: Vergil und das ›Pegnesische Schäfergedicht‹. Zum historischen Gehalt pastoraler Dichtung.- In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Hrsg. von Martin Bircher, Eberhard Mannack.- Hamburg: Hauswedell 1977 (= Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur; 3), S. 168–203. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. III. Teil (1643).- Nürnberg: Niemeyer 1968 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 15), S. 479–486 (neue Paginierung). Georg Philipp Harsdörffer: SchäferGespräch.- In: ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. IV. Teil (1644).- Tübingen: Niemeyer 1968 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 16), S. 528–532 (neue Paginierung). Abdruck der ›Seelewig‹ im gleichen Werk, S. 76–209, mit Noten S. 533–666 (neue Paginierung). Es existiert auch ein 1654 bei Stern in Wolfenbüttel erschienener Separatdruck. Neudruck in: Die Oper. Hrsg. von Willi Flemming.- Leipzig: Reclam 1933 (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Barock. Barockdrama; 5), S. 85–106.
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pastoralen Szene im Vordergrund konzipiert und darf daher nicht die Züge der Heimatstadt Nürnberg annehmen. Wie im Pegnesischen Schäfergedicht erfolgt die Zitation der pastoralen Welt vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges. Diese gängige Antithese und ihre Verknüpfung mit der Opposition von niederem Schäfer- und hohem Ehrenstand gewinnt Relief durch die ins herkömmliche Schema eingezeichnete Kritik: Gottart. Das ist eben zu beklagen/ daß die schweren Krieges Plagen auff dem armen Manne liegen. Der stets ist dem Frieden hold/ muß ob der Soldaten Sold immer sich in Kummer schmiegen: Da der Hofmann in der Statt alle Hüll’ und Fülle hat. Trostlieb. Du vermeinest so zu sagen: Vnschuld müß die Bürde tragen/ Wann zu Hof die grossen Herren Wolgemuht und sicher sind.185
Über die allegorische Fixierung des Schäferstandes hinweg kommt es in der Gattung, in der der niederste Stand sein – wie auch immer hermetisches – Refugium hat, zur momentanen Solidarität mit den Leiden des kleinen Mannes, während die herrschende Spitze, auch wo sie nicht ausdrücklich als Promotor des Geschehens erscheint, in ihrer Saturiertheit mit dem Makel der Teilnahmslosigkeit und Separierung gezeichnet ist. Die Trauer der Natur – ALle Hügel/ Berge/ Wälder/ Thäler/ Auen/ Wisen/ Felder trauren in dem Blumenlentzen/ Daß in unsrem Teutschenland’ alle Laster/ Mord und Brand mit dem blanken Schwerte glentzen. Ach! die süsse FriedensFrucht wird verlanget fehlgesucht.186
– findet ihre Fortsetzung in der Klage und Anklage des schäferlichen Standes, der als quasi geschichtsloser aus dem Schöpfungsstand heraus spricht und daraus Anspruch und Legitimation seiner Sympathie und seiner verdeckten Kritik zieht. Harsdörffers Beitrag zur pastoralen Gattung galt in der Folgezeit – neben einigen wenigen pastoralen Gelegenheitsgedichten – der theoretischen Kodifizierung der Gattung einerseits, der Eindeutschung der großen romanischen Muster andererseits. An der Kuffsteinschen Diana-Übersetzung bemängelte er die unzulängliche Behandlung der romanischen Versformen, sofern sich sein Vorgänger überhaupt um deren Übertragung bemüht hatte, sowie den allzu üppigen Gebrauch von Fremdwörtern. Hier sah er den »bösen Gebrauch bay Hof« sich durchsetzen, den er einzudämmen suchte.187 ––––––––– 185 186 187
Harsdörffer: SchäferGespräch (Anm. 184), S. 531. Ebd., S. 529. Diana, Von H.J. De Monte-Major in zweyen Theilen Spanisch beschrieben und aus denselben geteutschet durch [...] Johann Ludwigen Freyherrn von Kueffstein/ etc. An jetzo aber Mit deß Herrn C.G. Polo zuvor nie=gedolmetschten dritten Theil vermehret und Mit
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Die poetologischen Einlassungen Harsdörffers sind um die Lehre von den drei Ständen und Stilen gruppiert. Beharrlich insistiert Harsdörffer auf der allegorischen Intention der Bukolik, der ihr den schwer ausschöpfbaren Tiefsinn verleiht. Der bewußt angestrebte hermetisch-aenigmatische Charakter ist die Gewähr dafür, daß auch dieses Genre in der Obhut ausschließlich der Gelehrten verbleibt, eröffnet jedoch zugleich einen Freiraum, in dem der Dichter sich weiter als üblich vorwagen darf. Es sind auch diese auf einem irrigen Wahn/ welche vermeinen/ man müsse in den Schäfereyen nur von Schafen/ und Feldbau reden. Nein/ die Meister dieser Gedichte mischen auch andere Sachen mit ein/ welche man sonsten nit wol beschreiben darff; oder dem gemeinen Mann unbekant wissen will.188
Diese Festlegung widerstreitet keinesfalls der panegyrischen Funktion der Bukolik, die auch bei Harsdörffer ihr Recht behauptet. Vornehmster Gegenstand sei die Heldenehrung, wie das Musterstück in den Frauenzimmer-Gesprächspielen zeigt. Nur die ehrenwerte Tat geht jedoch im Medium der Dichtung ins Gedächtnis der Völker ein; Held und Dichter bleiben aufeinander verwiesen. Tapfere Helden haben mehr Ursach die Gelehrten/ und sonderlich die Poeten zu lieben/ zu ehren/ und zu verehren/ als andere/ deren Reden und Thun des Angedenkens nicht wehrt ist: Jn Betrachtung die allerlöblichste Thaten/ nach wenig Jahren/ in die Vergessenheit hinsinket/ wann sie nicht durch die kluge Feder der Ewigkeit eingeschrieben werden.189
Rekapituliert Harsdörffer stets den Topos, daß in der Schäferdichtung das goldene Zeitalter poetisch vergegenwärtigt werde, so muß darin neben der legitimistischen Aufwertung des Hirten-Poeten-Standes immer auch der der Gattung immanente technische Kunstgriff erkannt werden, der planen Nachzeichnung der Realität – die in allen Äußerungen als eine trostlose vermerkt wird – zu entkommen und die poetische Lizenz zum Aufbau einer dem Dichterstand angenäherten, mit kritischen und utopischen Momenten durchsetzten ästhetischen Welt sui generis zu behaupten.
Klajs ›Schäfergedicht in Nördgauer Gefilden‹ Auch Klaj hat sich für eine kurze Weile an dem regen bukolischen Spiel nach Erscheinen des Pegnesischen Schäfergedichts und der Gründung des Ordens beteiligt, das um die Gestalt Harsdörffers und die Veröffentlichung der Frauenzimmer-Gesprächspiele konzentriert blieb, dann gleichfalls bald verstummte. Die immer gleiche Bemühung mythologischer Gestalten sowie der panegyrische –––––––––
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reinteutschen Red= wie auch neu=üblichen Reim=arten ausgezieret. Durch G[eorg]. P[hilipp]. H[arsdörffer].- Nürnberg: Michael Endter 1646. Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, Teil II, Bl. P. 2v. Ebd., Bl. 2ʌ2r f.: ›Nothwendiger Vorbericht‹. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. V. Teil (1645).- Tübingen: Niemeyer 1969 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 17), S. 448 f. (neue Paginierung).
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Aufputz nutzten sich rasch ab, sofern sie nicht neuen Intentionen dienstbar gemacht wurden, sondern nur der schnell dahingefingerten Huldigung poetischen Glanz zu verleihen hatten. Klaj, der schon 1646 anläßlich der Publikation des sechsten Bandes der Gesprächspiele an Stelle des obligatorischen Hirtengedichts eine von Balde inspirierte Revue der Entfaltung der Dichtkunst beigesteuert hatte – ›Die Ziegeunerische Kunstgöttinnen/ oder Der freyen Künste und Wissenschften Reisefahrt aus eim Königreiche in das ander‹ –, lieferte wenig später nochmals einen eigenwilligen, von der Inspiration des großen Dichters geprägten Beitrag zum bukolischen Genre. Sein Pegnesisches Schäfergedicht/ in der Nördgauer Gefilden (1648) erneuert das alte pastorale Motiv des Aufbruchs der Hirten in die Stadt. Filanthon und Floridan, den Lesern unschwer als Burmeister und Birken vertraut, sehen sich ihrer Würde als gelehrte Hirten-Poeten beraubt und in den Stand zweier Bauern versetzt, die mit Pferd und Wagen unterwegs sind zum städtischen Markt: der eine um Kohl- und Tannenmeisen zu verkaufen, der andere, um ›Schmaltz‹ und ›grüne Waren‹ zu klingender Münze zu machen. Das vertraute pastorale Assoziationen erweckende Titelkupfer führt also in die Irre; hinter den mußevoll meditierenden und parlierenden Schäfern wird die ganz anders geartete bäurische Wirklichkeit momentan transparent. Während Filanthon auf des Städters Hang nach ausgefallenen Gaumengenüssen setzt und sich von seinen aufgespießten Singvögeln Erfolg verspricht, spekuliert Floridan auf getrocknetes Stroh in der Weihnachtszeit, denn aus seinem üblichen ländlichen Angebot vermag er kaum Gewinn zu ziehen. Die pfiffige Wendigkeit ist nur die Kehrseite der Not, die kurz laut wird und wie stets als Folge des Kriegs gedeutet, nicht schon als sozialer Mißstand eingesehen wird: Dem Pan sey es geklagt/ ist doch fast kein Erbarmen bey keinem Landsknecht mehr/ man nagt/ man plagt uns Armen mehr/ als der Türcke thut/ doch/ wie die Sage geht/ die Teutsche Friedenszeit auff besten Mitteln steht. 190
Über die Kunst des lautlosen Übergangs erfolgt sodann die Einführung der Hochzeiter; auch hier waltet Verzicht auf den großen Aufwand. Wiederum ist es Filanthon, der sich beschlagen zeigt in städtischer Sitte, voller Bewunderung vom Fest der Hochzeit und insbesondere vom Festmahl zu berichten weiß und so die naiven Vorstellungen Floridans korrigiert: Filanthon. [...] Die Räder rollen schnell/ die Pferde sind geputzet/ mit Bändern bunter Art. Deß Knechtes Hut der stutzet mit einem güldnen Krantz: Es gleiten Par und Par in Ehrenröcken hin die Liebsten zum Altar. Da fängt man lieblich an zu singen und zu geigen/ daß alles lebt und lacht und singt und springt mit Schweigen/
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Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht/ in den Nördgauer Gefilden/ angestimmet von Filanthon und Floridan [...].- [s.l.] 1648, Bl. A2v.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung viel schöner als bey uns/ wann unser Spielmann pfeifft/ und Hans und Greta tantzt und in die Wette läufft. [...] Floridan. Hilff Gott/ wie wird man da den besten Hirse speisen/ Kraut/ Rüben/ Zwibeln/ Lauch! Filanthon. --- mit euren albern Weisen. Jch gläub/ ihr seyd nicht klug/ weg Zwibeln/ Augentod/ weg Erbsen/ Heidelbrey/ darinnen Mäusekot. Da hat ein wildes Schwein Citronen in dem Rachen. Floridan. Jhr soltet einem wol zum Essen furchtsam machen. Filanthon. Es wird in Schüsseln nicht gefürcht ein wildes Schwein/ jhr gläubt nicht/ wie es schmeckt/ man beist mit Lust darein/ man speiset theuren Fisch/ den man im Wein muß töden/ man trägt Capaunen auff/ Piphanen in Pasteten/ und was der Bißlein mehr.191
Hier im Gedicht Klajs wird eine Welt vergegenwärtigt, die – einmal der Antithese von städtischer Völlerei und stoischer ländlicher Genügsamkeit enthoben – aus der Perspektive der Bauern, welcher die Hirten-Humanisten für einen Augenblick ihre Stimme leihen, märchenhafte Züge annimmt. Klajs Beitrag repräsentiert eines der wenigen Zeugnisse für die Integration bäurischer Wirklichkeit in die klassische Gattung der Versekloge des 17. Jahrhunderts; ein Bruchstück in der Geschichte der ästhetischen Erschließung ländlicher Realität, die wenigstens im Deutschland des 17. Jahrhunderts sich jenseits der stereotypen Formen des laus ruris kaum zu einer konsistenten Tradition verfestigt. Desto mehr Aufmerksamkeit verdienen die versprengten Stücke aus diesem Umkreis.
Übergang zu dem Schäferdichter Sigmund von Birken Die Liaison zwischen dem Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz und dem schäferlichen Genre wäre eine Episode geblieben, hätte sich nicht Sigmund von Birken der Gattung der Schäferei ein Leben lang gewidmet. Er ist der fruchtbarste Bukoliker des 17. Jahrhunderts.192 Wenn irgendwo, so muß sich an seinem Werk die Tragfähigkeit des hier versuchten Ansatzes erweisen. Birkens Interes–––––––––
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Ebd., Bl. A2v ff. Die Spezialarbeiten zur Schäferdichtung Birkens fußen im wesentlichen auf den Ermittlungen der in Anm. 181 zitierten Arbeit von Heinrich Meyer. Vgl. Elisabeth Renner: Die Schäfer- und Geschichtsdichtungen Sigmund von Birkens.- Diss. phil. Prag (Deutsche Universität) 1937 (masch.); Blake Lee Spahr: The Pastoral Works of Sigmund von Birken.- Diss. phil. New Haven, CT (Yale University) 1952. (masch.).
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se an der Hirtendichtung gilt auf der einen Seite der biographischen Lizenz der Gattung, die er wie niemand sonst zur Ausbreitung seines Lebensweges und zum Verweis auf das eigene dichterische Werk in Anspruch genommen hat. Entscheidend für die Physiognomie der Gattung im 17. Jahrhundert war jedoch, daß es ihm auf der anderen Seite gelang, sie seinen weitgespannten panegyrisch-historiographischen Intentionen dienstbar zu machen und sie auszubauen zum repräsentativen Organ dynastischer Glorifikation. Es ist daher gerade bei diesem Dichter tief in der Sache begründet, wenn er in seiner Poetik das genus grande der Heldendichtung in den engsten Zusammenhang mit der Schäferdichtung und speziell der Prosaekloge rückt.193 Daß in seinen großen panegyrisch-pastoralen Werken die von Opitz überkommene Form wiederholt gesprengt wurde, wiegt gering angesichts des Zuwachses an geschichtlichem Gehalt, den Gervinus gerade an den Grenzfällen der Gattung wahrnahm und hochschätzte. Eine historisch-dialektische Untersuchung, die ihr Zentrum in der Ermittlung geschichtlicher Konstellationen im Werkgefüge hat, muß sich vorschneller Systematisierungen enthalten und der versteckten Bezüge extensiv und ohne Scheu vor Umständlichkeit und Ausführlichkeit nachgehen. Nicht um die Subsumption der disparaten Texteinheiten unter den kleinsten gemeinsamen Nenner geht es, sondern um die Nachzeichnung der Antworten, die im Medium der pastoralen Fiktion auf die Bewegung in der geschichtlichen Realität versucht wurden.
Am Wolfenbütteler Hof Schon Birkens pastorales Erstlingswerk, die Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (1645) hatte keinen geringeren Gegenstand als die Ehrung der Helden des Dreißigjährigen Krieges aus beiden Konfessionen gewählt; statt einer Beschränkung der Gattung auf die einmalige Gelegenheit also sogleich der Griff zum bedeutenden historischen Sujet.194 Birkens Lebensumstände fügten es, daß der noch jugendliche, eben erwachende Dichter dank Vermittlung seines einflußreichen Mentors Harsdörffer in den Umkreis eines der höfischen Zentren des Reichs gelangte.195 Als Adlatus von Schottelius in der Prinzenerziehung der Söhne Her––––––––– 193
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Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 7), S. 301 f.: »Mit diesen HirtenGedichten/ vergleichen sich die HeldenGedichte/ oder Carmina Heroica: wann man/ von einem Helden/ zwar keine Historie/ aber doch ein solches Werk schreibet/ das dessen Grosthaten mit Belusten erzehlet.« Vgl. auch S. 304 f.: »Unter die Helden= und HirtenGedichte gehören auch/ meine Fried-erfreute Teutonie/ der Ostländische Lorbeerhain und die Guelfis: als in welchen allen die Hirten/ und zwar meist von Helden/ reden.« Auch Birkens Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (Anm. 1) ist in dem oben Anm. 182 zitierten Aufsatz des Verfassers behandelt worden, so daß auch sie an dieser Stelle nicht nochmals in die Analyse einbezogen zu werden braucht. Zum Aufenthalt Birkens in Norddeutschland grundlegend das umfängliche Kapitel ›Poeta laureatus Caesareus‹. Die niederdeutschen Wanderjahre (1645–1648)‹ in der unveröffentlichter Monographie von Otto Schröder: Sigmund von Birken. Quellenstudien zur Biographie.
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zog Augusts von Braunschweig-Wolfenbüttel knüpfte er nicht allein das Band für eine lebenslängliche und sich vielfach bewährende Verbundenheit mit dem Welfenhaus, sondern verschaffte sich auch einen Fundus an Erfahrung, der für den Hofdichter bestimmend werden sollte und sich speziell gegenüber Anton Ulrich in vielen Gebärden der Freundschaft über den Abgrund des Standes hinweg in seiner Dichtung bewahrte. Birkens Aufenthalt am Wolfenbüttler Hof währte bekanntlich nur knapp ein Jahr. Die Motive für seinen raschen Abschied sind nach wie vor ungeklärt. Sein Nachfolger Limburger erklärte zwei Jahre nach dem Tode des langjährigen Ordenspräsidenten in der ersten und einzigen Biographie des Dichters: Er hatte kein Gemüte zum Hof=Leben/ und hassete etlicher Höflinge Neiden/ Verleumden/ stellen und verstellen; welche wähnen/ es bestehe die Hof=Art in Hohfahrt/ und die Klugheit in Belistung der Einfältigen. Es truge ja (unterfuhre Jrenian) Unser Haubt sein Herz im Munde: aber nicht auf die Weise/ wie der Weise von den Unweisen redet. Er gedachte allzeit/ was er sagte: ob er schon nicht allzeit sagte/ was er gedachte: massen er die anvertrauete Geheim=Sachen/ Eisenvest behielte. Diese freymütige Freymündigkeit (ersetzte Asterio) entdeckte auch seine Mißneigung gegen das Hof=Leben/ welches die Durchl. Herrschafft gnädigst aufname/ und ihn mit einem Hochfürstl. Abschied/ ansehlichem Sold/ und kostbaren Demant=Ring Gnad=beschenket/ seines Dienstes erliesse.196
Die barocke Biographik unterliegt eigenen Gesetzen. Wo immer es möglich ist, begreift sie den individuellen Lebensgang in generellen Deutungsmustern oder, vorsichtiger formuliert: wo immer für den einzelnen Fall literarische Formen der Präsentation vorliegen, werden diese bereitwillig verwendet. So assoziieren sich mit dem Übertritt Birkens in das Hofleben alsbald die gängigen Vorstellungsreihen. Zumal in einer pastoral stilisierten Biographie, als die sich die Betrübte Pegnesis gibt, stellt sich zwangsläufig die Antithese vom lasterhaften und gefährlichen Hof – repräsentiert in der Gestalt des intriganten Höflings – und dem wenn nicht einfältigen, so doch integren Schäfer-Dichter ein, welcher eine Konfliktsituation inhärent ist. Gibt es einen Zeugniswert derartiger Partien, so den gattungsspezifischen der Biographik, den Porträtierten als makellose Gestalt erscheinen zu lassen – und dafür leistet der locus communis ›höfisches Leben‹ willkommene Dienste. Die offizielle Version für den schnellen Abschied Birkens gab Herdegen auf der Grundlage des Demissionsschreibens von Herzog August wieder. Birken habe nach einem Jahr den Wunsch gehabt, »seine Studia anderwärts fort[zu]setzen, und andere Städte zu besehen«; diesem Wunsch habe der Herzog unter anerkennenden Worten für die geleisteten Dienste stattgegeben.197 In seiner Autobiographie, die Herdegen paraphrasiert, schreibt Birken, nach seinem Abschied sei es ihm vorgekommen, als »hätte ich nicht so wol einen Fürstlichen Hof, als vielmehr den Parnassus, mit seinem Apollo, und allen Musen, verlas–––––––––
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Martin Limburger: Die Betrübte Pegnesis. Den Leben/ Kunst- und Tugend-Wandel Des Seelig-Edlen Floridans/ H. Sigm. von Birken/ [...] Durch 24 Sinn-bilder/ in Kupfern [...] fürstellend/ Und mit Gespräch= und Reim-Gedichten erklärend/ Durch ihre Blumen-Hirten. Nürnberg: Froberger 1683, S. 189 f. Herdegen: Historische Nachricht (Anm. 6), S. 92.
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sen.«198 Der gepriesene Hof als bevorzugte Stätte der Musen – diese Formel gewährt ebenfalls keinen Aufschluß über die Vorkommnisse im einzelnen. Indes interessiert hier ohnehin die Verarbeitung der Lebenserfahrung im Werk; die Lösung der biographischen Frage muß der entsprechenden Spezialforschung vorbehalten bleiben.199
Wolfenbütteler Schäfereien Ausdrücklich zum Gegenstand einer Schäferei ist der Wolfenbütteler Aufenthalt Birkens in der Dannebergischen Helden-Blüt (1648) und sodann in dem auf die Welfen bezogenen Sammelwerk Guelfis oder NiderSächsischer Lorbeerhayn (1669) erhoben worden. Im Anschluß an das eine Jahr am Wolfenbütteler Hof und die Reisemonate in Norddeutschland kam Birken zwischen dem Frühjahr 1647 und dem Herbst 1648 in Dannenberg an der Jeetze zur Ruhe, wo er sich im Hause des Landrentmeisters Johann Schröder der Erziehung der fünf Kinder in der Familie widmete.200 Die Niedersächsische Letze (1648) sammelte den poetischen Ertrag dieser glücklichen Episode im Leben Birkens und huldigte dem gastfreundlichen Hause, so wie ehemals Opitz seinen Freund und Gastgeber in Zlatna verewigt hatte. In Dannenberg verblieb Birken weiter im Umkreis des Wolfenbütteler Hofes, denn Dannenberg – Lüneburgisches Schloß und Stadt zwischen Lüchow und Hitzacker an der Jeetze – war seit 1636 wieder im direkten Besitz der Braunschweigischen Herzöge, nachdem es mit der Grafschaft Lüchow lange Zeit ein selbständiges Fürstentum gebildet hatte. Die Witwe des verstorbenen Fürsten Julius Ernst, Herzogin Sibylla von Braunschweig und Lüneburg, lebte noch auf dem Schloß. Ihr Gatte war der Bruder des regierenden Welfenherzogs August.201
Dementsprechend führte auch Birkens Aufenthalt an der Jeetze wieder zurück an die Oker, »weil er sich erinrete/ daß die Helden an der Oker/ so ihme vor der Zeit viel hohe Gnad erwiesen/ dero Gestaden ihre Ankunft schüldig wären.«202 Den Übergang zu den Welfen weiß der Dichter so zu arrangieren, daß dem Leser zugleich ein denkwürdiges Bild der zwischen Augusts Sohn Anton Ulrich und Birken-Floridan obwaltenden Vertraulichkeit vermittelt wird. Zwei Kupfer zieht der Schäfer hervor, die er als Geschenk des Fürstensohnes sein eigen nen–––––––––
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Ebd., S. 94. Vgl. dazu vor allem Blake Lee Spahr: Anton Ulrich and Aramena. The Genesis and Development of a Baroque Novel.- Berkeley, Los Angeles, CA: University of California Press 1966 (= University of California Publications in Modern Philology; 76), S. 52 ff. Einzelheiten mit neuen, die bisherige Forschung teils korrigierenden Ergebnissen wieder bei Schröder: Sigmund von Birken (Anm. 195). Ebd., S. 156. Sigmund von Birken: Dannebergische Helden=Blüt/ in den Jetzischen Blum=Feldern beglorwürdiget.- Hamburg: Rebenlein 1648, Bl. A2v. Zur Titelschreibung vgl. Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis (Anm. 181), S. 129, Anm. 21.
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nen darf. Dies ist ihm um so mehr wert, als »es ihm vorstellete/ daß auch Helden und hohe Gemüter seinen Schäferstand und das Feldleben zu ehren/ ihre Hand mit der Kunst vermähleten.«203 Eines der beiden Kupfer trägt eine zweizeilige subscriptio von der Hand des jungen Prinzen, die unschwer erkennen läßt, daß auch der spätere Fürst auf die poetische Hilfeleistung seines Mentors angewiesen blieb: Die statt spacirt zu Dort. Erd, luft und flut sind munder; Weil sonn und sommer hitzt. Hitz ist des Lustes Zunder.204
Dann führt eine träumend verbrachte Kahnfahrt die Jeetze hinab nach Hitzacker in den Raum der Vergangenheit des Welfenhauses. In der Stadt findet er den ehemaligen Herrschaftssitz der Welfen im Zustand des Verfalls vor: Dazumahl klagete er an die Unbilligkeit der Zeiten an [!]/ wölche einen sovielgewürdigten Ort dermassen hätten lassen in abgang gerahten/ dafürhaltend/ der Ort solte sowohl/ als seine Helden/ dem Zahn der Frefelzeit von rechtswegen nicht unterworfen seyn.205
Eben dafür Sorge zu tragen, ist Aufgabe des Poeten: Nochmals seit gegrüst/ ihr Zinnen ihr Enthältniß meiner Sinnen/ ihr Erzieher meiner Helden. Schöner Hügel/ sey beklungen sei beklungen und besungen. Jch will sie und Euch noch melden der Nachzeiten grauen Jahren.206
Erkennt der Dichter schon hier in der restaurativen Vergegenwärtigung der Dynastie seine eine Aufgabe, so im allegorischen Entwurf idealen Fürstentums seine andere. Der eingeblendete kleine Fürstenspiegel ist Huldigung und admonitum im Hinblick auf Anton Ulrich zugleich. Im Bündnis mit Arete, Tyche und Irene gelingt es dem kraftvollen Löwen, das Lastertier als Inbegriff der Untugenden – als da sind »Unmässigkeit/ Unfreundligkeit/ Eigensinn/ Zorn/ Unzucht/ Ubermut/ und Gottesvergessenheit« – zu besiegen.207 Unter die Huldigenden mischt sich auch Pan. Er bringt vor, was Anliegen des Dichters ist: Du beliebst der Hirten Lust/ und der Schäfer slechtes Singen; drüm sie billich Blumen dir durch den Schäferprintzen bringen. Schäfer können auch mit Liedern preissen deiner Jahre Gold/ und dir ein Gerücht bestellen. Drüm laß auch im Werck erhellen/ daß du heisest Blumenhold.208
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Birken: Dannebergische Helden=Blüt (Anm. 202), Bl. A4v. Ebd., Bl. B1r. Ebd., Bl. B1v f. Ebd., Bl. B2v. Ebd., Bl. B4r. Ebd., Bl. C1r.
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In der Gestalt des Herzogs August war die im 17. Jahrhundert immer wieder beschworene Utopie des gelehrten und kunstverständigen Fürsten und Mäzenaten, unter dessen Regentschaft die Poeten ihre soziale Basis und Reputation allein gesichert sahen, Realität geworden, die in der auch von Birken besungenen weltberühmten Bibliothek ihren sichtbaren Ausdruck fand. Daß er zudem als Mitglied der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ die Beförderung der deutschen Sprache zu seiner Sache gemacht hatte, hob später die Guelfis gebührend hervor.209
›Lob- und Leichschrift eines Hof-Lewhundes Namens Männchen‹ Birken hat sein Leben lang versucht, seine Tages- und Gelegenheitsproduktion zu großen und repräsentativen Einheiten zusammenzufassen. Die Mehrzahl dieser teilweise über Jahrzehnte verfolgten Projekte ist – wie sein Nachlaß zeigt – nicht zum Abschluß gekommen.210 In der Guelfis ist zusammengetragen, was Bezug auf die Welfen hat, und gelegentlich das eine oder andere Stück mit eingegangen, das während der niederdeutschen Zeit entstanden war. Die Intention, den poetischen Ertrag aus der von den verschiedenen Anlässen herrührenden Zerstreuung in die Dauer versprechende Form des Buches zu überführen, prägt insofern den Charakter dieser Sammelwerke, als die erzählenden Elemente häufig nur eine lockere, überleitende Funktion zwischen den mannigfachen poetischen Beiträgen haben. In der Guelfis sind fünf Schäfergedichte aus der niedersächsischen Zeit Birkens verarbeitet; das Gesamtwerk wird folglich in der Zuschrift an Anton Ulrich als »einfältiges Hirtengespräche« qualifiziert.211 Wie immer soll auch hier der –––––––––
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Sigmund von Birken: Guelfis oder NiderSächsischer Lorbeerhayn: Dem HochFürstlichen uralten Haus Braunsweig und Lüneburg gewidmet/ [...].- Nürnberg: Hofmann 1669, S. 200. Vgl. die in Anm. 174 und 175 zitierten Arbeiten zum Birken-Nachlaß. Birken: Guelfis (Anm. 209), Bl. ʌ10v. Vgl. auch die in Anm. 193 zitierte Gattungszuweisung des Werkes durch Birken. Zum Inhalt der Guelfis: »Ich ehre mein Glück-Verhängnis/ welches vor vielen Jahren unter den Gnad-Schatten dieses E. HochFürstl. Durchl. AugustLorbeerhaynes mich geführet. Wie aber die Schäfere einen Baum/ der sie und ihre Schäflein mit seinem Schatten erquikket/ mit Dankzeilen zu verehren pflegen: Also habe auch ich seither/ meine unterthänigste Ehr= Dank= und Dienst-Pflicht/ auf denen von diesem Lorbeer-Wald herabfallenden Blättern/ die der Alten ihr Schreibpapier gewesen/ zum öftern redend gemacht/ und Ihm solche überschrieben wieder geopfert. Weil deren etliche vor solche Augen gelanget/ die in der Ehre dieses Dero höchst-preiswürdigsten HeldenStammens ihre Weide suchen/ und daher/ dieselben beysammen zu sehen/ ein Verlangen spüren lassen: als sind solche hiermit/ gleich als auf eine Schale/ zusammen geleget/ Viere vor 20 und mehr Jahren unterschiedliche unfärtigte Hirtengedichte in Eines verfasset/ das Fünfte aus dem Latein geteutscht zum theil mit eingerücket/ und die neuere Ehrengedichte zu Ende angehängt worden.« (Bl. ʌ9r ff.). Es handelt hierbei sich um Birkens ›Schäfergedicht‹ im Vorspann zu Harsdörffers Gesprächspielen (Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. VI. Teil (1646).- Tübingen: Niemeyer 1969 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 18), S. 72–77 (Paginierung des Reprints)); um das pastorale Gedicht ›Götter-
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Fokus ausschließlich auf das historisch Signifikante gerichtet werden. Der interessanteste – neu in der Guelfis hinzukommende – Beitrag liegt in der ›Lob= und Leichschrift eines Hof=Lewhundes/ Namens Männchen‹ vor.212 Spahr kommt das Verdienst zu, das Singuläre dieses Stücks im 17. Jahrhundert erkannt zu haben.213 Sollte es nicht gelingen, Birkensche Vorlagen nachzuweisen, so liegt hier eine der großen und originären Schöpfungen satirischer Literatur des 17. Jahrhunderts vor, die deutlich aus der auch und gerade bei Birken immer wieder anzutreffenden poetischen Dutzendware herausragt. Spahr hat in seiner Interpretation eine partielle Identifizierung des ›Hof= Lewhundes‹ mit der Gestalt Birkens vorgenommen und in diesem Gedicht u.a. eine verschlüsselte, speziell an Anton Ulrich adressierte Transposition seines Wolfenbütteler Hofjahres gesehen. In der Tat gibt es einzelne Anspielungen, die auf einen biographischen Hintergrund verweisen. Auch der Bezug auf Braunschweig ist in dem Gedicht explizit vorgegeben. Gleichwohl trifft die biographische Auslegung unter der problematischen Prämisse ›Bekenntnisdichtung‹ allenfalls ephemere Züge.214 Gewicht gewinnt das Gedicht durch die allegorisch-satirische Gestaltung des vita aulica-Motivs und dessen paradigmatischer Verdichtung in der Gestalt des Höflings. The dog, by means of his adventures and attitudes, provides the vehicle for a satirical commentary on court life. The poem paraphrases in canine phraseology the career of a courtier of the day, with his ingenious and covert behaviour, his abject obsequiousness, and his fear of losing the good graces of the ruler, all of which typified life in this environment. [...] Humans are also introduced in the poem with the implication that their relationship to the dog corresponds to the relationship, in the seventeenth century, of noblemen to a commoner. The dog and his canine companions react to their human masters at court just as we would expect non-nobles to react to the titled nobility. The subservient conduct of the dog is emphasized by this symbolic overlay of connotation. Regarded in this light, the poem reveals the great distance between the social strata of the day.215
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schenkungen zu dem Freud-feyerlichen Myrten- und EhrenFeste des Lobwürdigen Fontano und Seiner Viel-Tugendbegabten Margaris/ Verehret/ und mit einem Hertzmeinendem Wunschgedichte beygeschikkt‹ zur Hochzeit Schottels in: Festo nuptiali Viri [...] Iusti Georgii Schottelii.- Wolfenbüttel: Bismarck 1646, Bl. B4r–D2v; sodann um die bereits herangezogene Dannebergische Helden=Blüt von 1648 (Anm. 202), um: Floridans Des Pegnitzschäfers Niedersächsische Letze/ Seinen Wehrten und Geehrten Hausgenossen und andern Gutgönnern und Freunden zu Dankbarer Erwiederung und Gutem Andenken hinterlassen Jn Dannenberg.- Hamburg: Rebenlein [s.a.] (1648), und schließlich um Teile von ›Selenianum. Aeternitati. Sacrum. Dicatum. Domui Augustae‹ aus: Sigmund von Birken: Die Fried=erfreuete Teutonie. Eine Geschichtschrifft von dem Teutschen Friedensvergleich/ was bey Abhandlung dessen/ in des H. Röm. Reichs Stadt Nürnberg/ nachdem selbiger von Osnabrügg dahin gereiset/ denkwürdiges vorgelauffen; [...] in vier Bücher abgetheilet/ [...].- Nürnberg: Dümler 1652, Bl. 4r–20v. Birken: Guelfis (Anm. 209), S. 66–83. Blake Lee Spahr: Dogs and Doggerel in the German Baroque.- In: The Journal of English and Germanic Philology 54 (1955), S. 380–386. Ebd., S. 382. Ebd., S. 380.
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Ein ausdrückliches Bekenntnis zum Epikureismus – »Sein Bauch/ der war sein Gott«216 –, Distanzierung von jeglichem Grobianismus und Beherrschung der höfischen Etikette – »Es muß/ in allem Thun/ Maß/ Ziel und Ordnung seyn«217 –, Auslöschung der eigenen Identität – »Er schrieb an seine Stirn/ was er an fremder las«218 – und erbarmungslose Behauptung im höfischen Konkurrenzkampf – »Bey Menschen lag er stäts: kam noch ein Hund herbey/ wies er ihn bald davon mit grimm und zorngeschrey«219 – bestimmen die Physiognomie dieses Fabeltieres. Der Religion steht es mit Indifferenz gegenüber und praktiziert sie ausschließlich zur Pflege seines images: Mann/ war ein Wetterhan/ der sich kehrt nach dem Winde. Bey Juden/ war er Jud; bey heidnischem Gesinde/ ein Heid und Götzenknecht; bey Christen/ auch ein Christ. Er war/ mit einem Wort/ ein loser Atheist.220
Bedeutungsvoll ist die Zwitternatur des Wesens: halb Löwe, halb Hund. Ausdrücklich kommen Filanthon und Floridan im anschließenden Gespräch auf die den Hunden eigentümliche Gabe weniger des Gehorsams als des den Willen des Herrn antizipierenden Instinkts zurück: »Man muß wenigst zugeben/ (versetzte Floridan/) daß sie ein scharfes Gedächtnis haben/ und aus deme/ was sie oft thun und ihren Herren wohlgefällig vermerken/ eine Gewonheit machen.«221 In der Doppelnatur des Löwen-Hundes ist die zur zweiten Natur gewordene Ausrichtung des Höflings auf den Regenten – hier die Welfen mit ihrer weitverzweigten Löwen-Heraldik – satirisch versinnbildlicht. Während in der Pastorale, sofern es zum Kontakt zwischen schäferlicher und höfischer Welt kommt, der Konflikt angesichts der differenten Wertehierarchie unausbleiblich ist, kennt der Löwenhund derartige Erfahrungen nicht, weil er sich bedingungslos dem höfischen System unterwirft: Des Hofes Sorgen-leben/ erfreut’ ihn sonder Sorg. Er wurde wehrt geacht. Jhn hat/ sein Hofmanns-glück/ zum Schloß=Hund bald gemacht. Mit Fürsten/ fügt’ er sich zur Tafel und zu Bette. Man liebt’ ihn auch/ zu lieb dem Fürsten/ in die Wette. Ein jeder wünschte nur/ zu seyn des Mannes Freund: so wust’ er/ daß ihm auch der Fürst nit wäre feind. So gehet es zu Hof. Wer geht und steht in Gnaden/ dem wart ein jeder auf: daß er ihm nit mög schaden. Doch heimlich/ neidt man ihn. Es wünscht sich an das Bret ein jeder gerne selbst/ wo man am höchsten steht.222
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Birken: Guelfis (Anm. 209), S. 78. Ebd., S. 74. Ebd., S. 74. Ebd., S. 76. Ebd., S. 78. Ebd., S. 83. Ebd., S. 70 f.
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Selbst wenn Birken in einem Akt spielerisch-ironischer Selbstverleugnung in diese Rolle des Höflings geschlüpft wäre und seinem Zögling eine Art verschlüsselter Erklärung für seinen baldigen Abschied vom Hof angeboten hätte, minderte dieses so beliebte Maskenspiel in der deutschen Barockliteratur nicht den wichtigeren geschichtlichen Zeugniswert des Stücks. Gibt es über die kaum zu erhärtende biographische Auslegung eine erkennbare Funktion im Werk, so die des Kontrasts zum Welfenhof Herzog Augusts. Wenn Hofsatire und Hofpanegyrik gerade in der schäferlichen Literatur immer wieder in so enger Nachbarschaft erscheinen, so gilt es, die Einheit der beiden dialektischen Momente zu rekonstruieren. Sedimentiert sich in einer Satire wie der vorgelegten ein Fundus kritischer und durch Tradition beglaubigter Erfahrung mit den Hofchargen unterhalb des monarchischen Zentrums, welche ex negativo der bürgerlichen Gelehrtenschaft die Behauptung ihrer geistigen und sozialen Identität ermöglicht, so antizipiert die Hofpanegyrik die ideale Form sozialer Interaktion zwischen Regenten und Intelligenz. Es ist diese dialektische Figur, die sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein behauptet und innerhalb derer das ihr inhärente revolutionäre Potential sukzessive freigesetzt wird. Held und Schäfer, Herrscher und Dichter Ausdrücklich hat Birken die Opposition von schäferlicher und höfischer Welt in der Guelfis nochmals vor der großen Heldenehrung der Welfen allegorisch fixiert: Eine kleine Pegnitz oder Jetze/ (sagte Filanthon/) ist uns Schäfern anständiger/ als eine grosse/ tieffe und gefährliche Elbe; ja ich wolte ihr/ ein seichtes hellrinnendes Bächlein/ weit vorziehen/ und lieber aus diesem trinken/ als/ von jener StromRisin eingetrunken und verschlungen zu werden/ in Gefahr fahren. Jch bin mit dir einstimmig/ (thäte Floridan hinzu/) und ich vergleiche/ mit der Elbe das Leben an Höfen und in grossen Städten; mit den Bächen und andern kleinen Flüssen aber/ das Land= und Feldleben. Wie leichtlich kan ein Neid-Sturmwind sich erheben/ der den auf so ungewisser Strasse daher-wandrenden in die Wellen des Unglücks begrabe! Wer auf die Höhe sich begiebet/ fällt oftmals in die Tiefe. Wer aber in der Nidre bleibet/ den wird entweder dieser Sturm nicht berühren/ oder doch ihme nit schaden können.223
Was hier – wie an so vielen Stellen – als strikter Gegensatz exponiert wird, findet sich versöhnt in der Symbiose von Herrscher und Dichter, wie sie seit Vergil in der Pastorale überliefert und gerade in den an die fürstliche Regentschaft gerichteten Stücken des 17. Jahrhunderts gerne wieder aufgegriffen wird. Wo fürstliche Herrschaft christlich-stoischen Werten verpflichtet bleibt und Kunst und Wissenschaft den von Humanisten beanspruchten Rang behaupten, kommt es zu jener Apotheose absoluter Herrschaft, an der auch die Pastoraldichtung der bürgerlich-gelehrten Dichter maßgeblich beteiligt ist. Wird innerhalb der gleichen Gattung und vielfach in ein- und demselben Stück der Topos der Hofkritik aufgegriffen, so nicht als – wie auch immer ver––––––––– 223
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steckter – Angriff auf das absolutistische System, der schlechterdings jenseits des diesem Stand historisch Möglichen lag, insofern er einzig im sich formierenden absolutistischen Staat einen sozialen Rückhalt fand, sondern zur Artikulation des eigenen bürgerlich-gelehrten Selbstanspruchs in Konkurrenz zu den überkommenen Feudalgewalten. Gerade dafür legen die Birkenschen Schäfereien, die im Anschluß an die niederdeutschen Wanderjahre entstanden, ein vielfältiges Zeugnis ab. Zieht man die Linien ins 18. Jahrhundert aus, so kommt auf der historischen Fluchtlinie wiederum deutlicher als am punktuellen Textbefund wie dem zuletzt vorgelegten der ambivalente Charakter der Argumentationsfigur zum Vorschein. Die Statuierung des sozialen und wertbesetzten Kontrastraums Hof gestattet im polar dazu situierten allegorischen Schäferstand die Selbstbehauptung des sozial niedrigeren bürgerlichen Gelehrtenstandes einschließlich aller seiner der höfischen Sphäre fehlenden positiven Prädikate. Insofern bleibt die Schäfer- und Landlebendichtung das gesamte 18. Jahrhundert über eine potentiell systemkritische Gattung. Aber in der Fixierung der Antithese ist auch jener gefährliche politische Quietismus angelegt, der in der ostentativen Bekundung des ›Niederen‹ ein Unterpfand moralischer Integrität zu besitzen glaubt und vor der Veränderung sozialer Ungerechtigkeit resigniert.
Der Friedensdichter Sigmund von Birken Als Birken im Herbst 1648 nach Nürnberg zurückkehrte, rückte er schnell in den Mittelpunkt der in der alten Reichsstadt stattfindenden Friedensfeierlichkeiten. Hatte er zuvor im Norden den Kontakt zu einer der führenden protestantischen Mächte geknüpft, so stellte sich nun die lebensbestimmende Verbindung zum Kaiserhaus her. Denn anders als Klaj sah sich Birken fast ausschließlich von der katholischen Seite in Anspruch genommen und hat hier unvergleichlich viel mehr Glanz entfalten können als sein Gegenspieler auf der protestantischen es vormochte. Im April 1649 trat im Beisein des österreichischen Gesandten Ottavio Piccolomini und des künftigen Schwedenkönigs, des Pfalzgrafen Karl Gustav von Zweibrücken, ein europäischer Kongreß zur Überprüfung und Festlegung der Gebietsansprüche der einzelnen Parteien zusammen.224 Im September des gleichen Jahres kam ein entsprechender Interimsrezeß zustande, anläßlich dessen Pfalzgraf Karl Gustav ein großes Friedensmahl veranstaltete. Den poetisch-allegorischen Schmuck brachte Harsdörffer bei.225 Sandrart hielt es im Bild fest, Klaj im ›Schwedischen Fried- und Freudenmahl‹ (1649), das später in die Irene ––––––––– 224
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Das folgende nach Adam Christof Jobst: Sigmund von Birkens ›Teutscher Olivenberg‹.Diss. phil. Wien 1913 (masch.), S. 4 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eberhard Fähler: Feuerwerke des Barock. Studien zum öffentlichen Fest und seiner literarischen Deutung vom 16. bis 18. Jahrhundert.- Stuttgart: Metzler 1974, insbes. S. 135 ff.: ›Die Feuerwerksliteratur des Nürnberger Dichterkreises‹. Vgl. Birken: Die Fried=erfreuete Teutonie (Anm. 211), S. 58 ff.
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(1650) einging.226 Auch in Birkens Teutonie ist eine Beschreibung erhalten.227 Birkens Stunde kam jedoch erst mit der Unterzeichnung des Friedensexekutionsrezesses im Juni/Juli 1650. Schon im Januar 1649 war er im Augustinerhof in Nürnberg vor Legaten des Friedenskongresses und Angehörigen des Patriziats mit einer Friedensrede hervorgetreten, die ihm – wie aus seiner Selbstbiographie bekannt – viel Beifall einbrachte.228 Im Juli 1650 kam dann während eines vom Herzog von Amalfi, Ottavio Piccolomini, veranstalteten Festakts mit Feuerwerk auf dem Schießplatz bei St. Johannis Birkens Schauspiel Teutscher KriegsAb- und Friedens Einzug unter Mitwirkung von Patriziersöhnen der Stadt zur Aufführung.229 Wenig spä––––––––– 226
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Vgl. in diesem Zusammenhang Johann Klaj: Friedensdichtungen und kleinere poetische Schriften. Hrsg. von Conrad Wiedemann.- Tübingen: Niemeyer 1968 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 10), insbes. das Nachwort des Herausgebers und die Bibliographie im Anhang. Zu Klaj immer noch heranzuziehen Albin Franz: Johann Klaj. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts.- Marburg: Elwert 1908 (= Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft; 6); sodann die wichtige Arbeit von Conrad Wiedemann: Johann Klaj und seine Redeoratorien. Untersuchungen zur Dichtung eines deutschen Barockmanieristen.- Nürnberg: Carl 1966 (= Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; 26). Birken: Die Fried=erfreuete Teutonie (Anm. 211), S. 56 ff. Die Verfasserschaft Birkens für die Kurtze Beschreibung Deß Schwedischen Friedensmahls/ gehalten in Nürnberg den 25. Herbstmonats Anno 1649. Gedruckt bey Jeremia Dümlern, ist – entgegen Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale University Library.- New Haven, CT: Yale University Press 1958, Nr. 531 – keinesfalls gesichert und scheint mir eher unwahrscheinlich. Die Referenz Faber du Faurs auf August Schmidt: Sigmund von Birken, genannt Betulius. 1626–1681.- In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens (Anm. 177), S. 476–532, S. 497, ist nicht stichhaltig. Vgl. auch Birken: Des Friedens Vermählung mit Teutschland.- Nürnberg: Endter 1651 – eine Folge von sieben Kupfern jeweils mit einem poetischen Beitrag Birkens. Abdruck der beiden Birkenschen Texte bei Fähler: Feuerwerke des Barock (Anm. 224), S. 242–244 (Vorlage ist das Privatexemplar Albrecht Schönes, der Verweis auf die Birkensche Sammlung fehlt). Krieges= und Friedensbildung; in einer/ Bey hochansehnlicher Volkreicher Versammelung/ offentlich vorgetragenen Rede/ aufgestellet/ Nebenst einer Schäferey/ Durch Sigismund Betulius.- Nürnberg: Wolfgang Endter 1649. Die Druckgeschichte der Birkenschen Festbeschreibung einschl. des Friedens-Schauspiels ist kompliziert; ihre Aufklärung im einzelnen muß einer Birken-Bibliographie vorbehalten bleiben. Als authentische Ausgabe hat Birken in der Teutonie (Anm. 211), S. 139, nur die in Nürnberg bei Dümler erschienene qualifiziert. Darüber hinaus sollen laut Birken an vier Orten weitere unrechtmäßige Ausgaben in Quart erschienen sein, außerdem eine weitere in Duodez in Holland. Letztere besitzt z.B. die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Poet. Dram. III. 1022). Sie fehlt bei Richard Mai: Bibliographie zum Werk Sigmund von Birkens.- In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 13 (1969), S. 577–640. Bei Mai werden unter den Nummern 30 und 32 zwei weitere Drucke aus Hamburg und Wien namhaft gemacht; weitere Drucke bleiben zu ermitteln. Dem Separatdruck des Friedensschauspiels geht vermutlich zeitlich voran: Teutschlands Krieges-Beschluß/ und FriedensKuß [Vortitel] – Eigentliche Beschreibung/ auch Grund= und Perspectivischer Abriß des Fried= und Freudenmahls/ Schauspiel und Feuerwerks [...].- Nürnberg: Dümler 1650 (= Mai, Nr. 33). Wie schon aus dem Haupttitel hervorgeht, findet sich in dieser Ausgabe neben dem Friedensschauspiel auch eine ausführliche Festbeschreibung ein-
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ter wurde es in Form einer Lesung auf der Burg wiederholt. Birken zählt sein Stück im Abschnitt ›Von den Schauspielen‹ in seiner Poetik zur Gattung des Balletts.230 Das Jahr 1651 brachte dann mit dem ›Vergnügten/ Bekriegten und Widerbefridigten Teutschland‹ nochmals ein dem Krieg und Frieden gewidmetes Schauspiel, das Birken jedoch erst 1679 unter dem Titel Margenis komplett publizierte.231 Ein Resümé der in Nürnberg sich vollziehenden politischen und kulturellen Aktivitäten zog der Dichter 1652 in seiner Friederfreueten Teutonie – ein ›GeschichtGedicht‹ in Birkens poetologischer Terminologie, weil es sich auf historische Ereignisse zurückbezieht, nicht, wie das ›GedichtGeschicht‹, ausschließlich fiktionalen Charakter besitzt.232 Wie den Ostländischen Lorbeerhain und die Guelfis so rechnete Birken auch seine Teutonie zur Gattung der ›Helden- und Hirtengedichte‹.233 Die gleichfalls in das Jahr 1651 fallende Vorbereitung des von Piccolomini in Auftrag gegebenen Schauspiels ›Amalfis‹ ist mangels Interesse des Herzogs nie zum Abschluß gekommen.234 Birken plante, seine Friedensdichtungen im ›Teutschen Olivenberg‹ ebenso zusammenzufassen, wie sei–––––––––
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schl. des Feuerwerks. Zum Vergleich der beiden Schauspielfassungen vgl. Jobst: Sigmund von Birkens ›Teutscher Olivenberg‹ (Anm. 224), S. 50 f. und S. 64 ff. Im übrigen gibt es auch von diesem Werk, ohne daß es bisher bemerkt worden wäre, verschiedene Drucke, wie schon die Bestände der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen zeigen. Neben der im Prinzip dreiteiligen Ausgabe von: Teutschlands KriegesBeschluß/ und FriedensKuß (8° Poet. Dram. II. 1025 – hiernach zitiert!) in der zunächst das ›Fried- und Freuden-Mahl‹ beschrieben wird, dann S. 21 ff. das ›Friedens-Schauspiel‹ folgt und schließlich S. 61 ff. das ›Freuden-Feuerwerck‹ Erwähnung findet, gibt es wenigstens noch eine Ausgabe (8° Poet. Germ. III. 8742), in der auf die Beschreibung des ›Fried- und Freuden-Mahls‹ sogleich die des ›Freuden-Feuerwercks‹ folgt. Während die Folio-Signierung von Bl. D1 (= S. 21) zu Bl. E1 (= S. 22) springt, wird die Paginierung – unter Auslassung von Bl. D1v – fortgeführt. Es folgt dann mit separatem Titelblatt und neuer Paginierung, aber mit Kustos Bl. E4v (= S. 29) das Friedens-Schauspiel ›Teutscher KriegsAb- und Friedens Einzug‹.- Nürnberg [s.p.] 1650 (gleichfalls mit der fehlerhaften Paginierung am Schluß, Sprung von S. 37 zu S. 40). Ein detaillierterer Vergleich kann hier nicht angestellt werden. Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 7), S. 314 ff. Zu diesem Stück aus dem Jahre 1651 hat sich – neben Materialien aus dem Nachlaß – erhalten: Kurzer Entwurf eines neuen Schauspiels/ darinnen ausgebildet wird das Vergnügte/ Bekriegte und Widerbefridigte Teutschland: erfunden und auf den Schauplatz gebracht in Nürnberg von Sigismundo Betulio, J. Cult. P.C. Im Jahr 1651. Zur Analyse der Margenis vgl. unten S. 295 ff. Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 7), S. 305. Vgl. zur Teutonie auch Wilhelm Hausenstein: Der Nürnberger Poet Sigmund von Birken in seinen historischen Schriften.- In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte Nürnbergs 18 (1908), S. 197–235, insbes. S. 208 ff. Vgl. oben Anm. 193. Dazu Jobst: Sigmund von Birkens ›Teutscher Olivenberg‹ (Anm. 224), S. 103 ff., sowie ausführlich zu den Gründen des Scheiterns Schröder: Sigmund von Birken (Anm. 195), im Kapitel ›Die Friedensfeiern. Ingratitudo et Paupertas 1649–1651‹. Entwürfe und Reinschriften zur ›Amalfis‹ haben sich im Nachlaß Birkens erhalten. Teilweiser Neudruck bei Adam Christof Jobst: Sigmund von Birkens ›Amalfis‹.- In: Unser Egerland 18 (1914), Heft 2/3, S. 17–20; Heft 4, S. 42–44.
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ne Schauspiele in der ›Deutschen Schaubühne‹. Beide Titel geisterten bis jüngst durch die Bibliographien, zustande gekommen sind die beiden Vorhaben jedoch nicht.235 Selbstverständlich ist das pastorale Element bedeutungsvoll mit der Kriegs- und Friedensthematik verschlungen. Die Friedensrede und mehr noch das Friedensballett sind öffentliche Aktionen des kurzfristig in den kulturpolitischen Mittelpunkt rückenden Dichters gewesen. Wie sehr er sich durch den an ihn ergangenen Auftrag geehrt fühlte, wie sehr er sich in seinem von Anfang an vorhandenen Willen zur Repräsentation bestätigt fand, verhehlen seine Arbeiten nirgendwo. So wenig wie in seinen sonstigen panegyrisch-historiographischen Schriften wird man indes in diesen, dem Frieden und den Mächtigen Europas öffentlich huldigenden Gebilden eine vertiefte und womöglich sogar kritische Optik der voraufgegangenen dreißigjährigen Kriegshandlungen erwarten dürfen. Insbesondere in der Friedensrede fehlt es wiederum nicht an der grellen, schaudererregenden Vergegenwärtigung bestialischer Untaten. Stellt sich der Dichter explizit die Frage nach den Triebkräften des Geschehens, so findet er die bekannte Antwort, daß »ein kleiner Zwispalt in der Glaubenslehr das Fünklein seyn [muß]/ daraus ein solcher Land= und Standverderblicher Brand entstanden. Ja dieselben/ die Amtshalber Wasser zugiessen solten/ giessen immer mehr Oel in die Glut.«236 Und noch diese Erklärung wird eines Rests an konkretem Gehalt alsbald wieder beraubt, wenn in üblicher moraltheologischer und erbaulicher Argumentationsstrategie die Sündhaftigkeit eines jeden Einzelnen als Movens des allgemeinen Verderbens herhalten muß: Wir haben alle ein glühend Stükk Holz angeleget/ und ist keiner/ den nicht sein Gewissen einer Sünde beschuldige. In unsren Herzen/ als in dem Zunder des Krieges/ sind erstlich aufgegangen die Fünklein, die der höllische Schadenfroh mit dem Schwefelhölzlein der Zwitracht aufgefangen/ welches hernach/ unter den Scheiterhaufen unsrer Sünden gestekket/ ein so ungeheures Feuer ausgezettelt.237
Die der Friedensrede beigefügte ›Schäferei‹ hat solche Vorstellungen im Diskurs der Schäfer weiter verfolgt und dem Krieg mit christlich-paränetischen und neustoizistischen Formeln den Stachel des Entsetzlichen zu nehmen gesucht.238 Es ist bezeichnend für den Gehalt dieses Gedankenguts, das im Umkreis christlicher Moralphilosophie des 17. Jahrhunderts überall anzutreffen ist und die Bildung politischen Bewußtseins beharrlich verhindert, daß es Hand in Hand geht mit der auch in der Friedensrede offen proklamierten Empfehlung, den Krieg in die Türkei zu tragen, wenn anders Deutschland nur auf diese Weise von der Kriegsplage zu befreien sei.239 Ein einziges Mal nennt der Dichter das nackte machtpolitische Gebaren beim Namen: ––––––––– 235
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Beide Vorhaben sind sowohl durch den Nachlaß als auch durch das gedruckte Werk bezeugt. Alle Einzelheiten bei Garber: Sigmund von Birken (Anm. 174). Birken: Krieges= und Friedensbildung (Anm. 228), S. 11. Ebd., S. 11. Schäferey: behandelt durch Floridan/ bey Unterredung Fillokles und Rosidans.- In: Birken: Krieges= und Friedensbildung (Anm. 228), Bl. G4r–M4v (= S. 43–82). Vgl. Birken: Krieges= und Friedensbildung (Anm. 228), S. 25.
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Man krieget üm eine Hand voll Ehre/ üm eine Hand voll Sands/ ja üm mehr Länder krieget man/ und/ die man hat/ die brennet man zu Grunde. Ein ieder ist begierig/ neue Länder zu erkriegen/ verkrieget aber darüber dieselben/ der er erb=rechtlich besitzet.240
Jede weitergehende Äußerung, sofern sie überhaupt im Interesse und Vermögen des Dichters gelegen hätte, würde den Dank an die Mächtigen als die Friedensbringer, wie er apotheotisch am Schluß laut wird, diskreditiert haben. Die mit dem öffentlichen Schaucharakter vorgegebene Verdichtung des geschichtlichen Geschehens in allegorischen Gestalten steht schon dem Formgesetz nach in Opposition zur kritischen Ausleuchtung des Geschehens. Wenn in der Friedensrede die drei allegorischen Gestalten ›Ruchlosigkeit‹, ›Ungerechtigkeit‹ und ›Armut‹ auftreten, in denen sich das Wesen des Krieges zusammenzieht, so mögen sich an deren Erscheinung neben der ostentativen Demonstration der Greuel wohl theologische und moralphilosophische Reflexionen knüpfen. Die Frage jedoch nach der analytischen und diagnostischen Qualität der Texte in Bezug auf eine politisch fundierte Exposition des Geschehens zielt ins Leere. Gewiß, sie ist ›unhistorisch‹ gestellt. Aber daß die Texte, in diese Perspektive gerückt, eine Antwort verweigern bzw. in der angedeuteten Richtung geben, bezeichnet eine Grenze, die kein suggestives Wort, wie es in der Barockphilologie so häufig zur Hand ist, überspringen sollte. Gibt es eine politische Perspektive in diesen dem Dreißigjährigen Krieg gewidmeten Zeugnissen, so die affirmative des altprotestantischen landesväterlichen Obrigkeitsstaates: Die Aedlen werden ihren Adel mit Tugend bekräfftigen/ und die Ehre ihres Standes nicht in ihrer sechzehn Ahnen/ sondern in ihren eignen Preißtahten/ Verstand und Dapferkeit suchen. Die Fürsten werden mit Wollust anschauen/ wie in dem Wolergehen ihrer Unterthanen das Jhrige blühe; und daraus lernen/ wie sie nicht so sehr die Herren als Väter des Vaterlands seyn und nach ihrer Bürger Glükseeligkeit die ihrige abmessen sollen.241
Derart macht sich im Entwurf des idealen Gemeinwesens alsbald wieder das Motiv des auf Leistung beruhenden Verdienstes geltend. Und hier schließt sich die allegorische pastorale Motivik, wie sie sowohl in der Friedensrede wie in dem Schauspiel und dem ›Geschichtsgedicht‹ ihren Platz hat, erneut zwanglos dem thematischen Zusammenhang an.
Die Schäfer als Sachwalter der deutschen Sprache Im Friedensschauspiel konfrontiert Birken – im Rückgriff auf eine Erfindung Harsdörffers – einen Soldaten und einen Schäfer mit der Nachricht des nahenden Friedens.242 Der Soldat hat nichts mehr zu fürchten als den Frieden, denn er lebt vom Krieg. Schäferliches Leben hingegen entfaltet sich erst im Frieden. Wenn der Soldat sich am Schluß der kleinen Einlage zum schäferlichen Stand –––––––––
240 241 242
Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 35. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 46.
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herübergezogen fühlt, ist das auch ein Zeichen für dessen Integrität. Insofern mit der schäferlichen jedoch auch die poetische Existenz assoziiert wird, fällt der Abglanz der Friedfertigkeit auch auf den Humanistenstand, in dem die irenische Strömung des 17. Jahrhunderts aus vielerlei Gründen ihre wichtigste Stütze besitzt. Die Sprache des Soldaten ist durchsetzt mit Latinismen und Gallizismen. Die von Birken und anderen Autoren der Zeit immer wieder neu heraufbeschworene ›makkaronisierende‹ Redeweise flektiert – neben dem Sprachvirtuosentum ihrer Schöpfer – stets auch die politische und kulturelle Ohnmacht der deutschen Lande. Die Reinigung der Sprache unter der Obhut der bürgerlichen Gelehrten ist der kulturpolitische Beitrag dieser Schicht zur nationalen Selbstfindung der Deutschen gegenüber den ringsum sich konstituierenden Nationalstaaten. Dieser für die Gelehrtenschicht so überaus bedeutungsvolle Zusammenhang ist in der Teutonie näher entfaltet. Hat die Prinzessin, als die Deutschland hier personifiziert erscheint, in den Kriegswirren Trost gefunden, dann in dem Wirken der deutschen Poeten und speziell der Schäferdichter an der Pegnitz, für die die Pflege der einen deutschen Sprache als latentes Unterpfand staatlicher Einigung figuriert. »Sprach und Staat blüheten miteinander«, so weiß Teutonie aus der Geschichte, und eben diese Erkenntnis rückt auch das Wirken der Barockpoeten in die angemessene politische Perspektive: Man lese in den Geschichtbüchern/ daß jederzeit/ wann die Sprache eines Reichs oder Landes/ so sey auch dessen Macht und Staatwesen in Ab= oder Aufnemen kommen. [...] Wir reisen mit grossem Unkosten/ und kauffen gleichsam der Fremden jhre Reden/ Kleider und Laster ins Land/ jhnen dargegen unsre Treu und Dapfferkeit lassende. Was wunder ist es dann/ daß sie auch zu uns kommen/ und uns solche/ zu samt dem Lande/ mit Gewalt wider abnehmen?243
Dieses Plädoyer für die Reform der deutschen Sprache hat das Eingeständnis zur Voraussetzung, daß die deutsche Sprache reformbedürftig sei. Die Zurückweisung derjenigen, die alles beim Alten lassen wollen, muß so entschieden erfolgen, weil mit dem Blick auf das Ausland neben der sachlichen Notwendigkeit auch die soziale Existenz der gelehrten Humanisten daran hängt. Sie sind die Anwälte permanenter Perfektibilität: Man weiß/ wie sich nun ein zweyhundert Jahr her die Sprach verändert. Was sich aber ändert und bessert/ das ist noch nicht in seiner Vollkommenheit. Das Latein ware zu zeiten deß grossen Augustus am höchsten gestiegen; von dar an fienge es wider an zu fallen. Unsre Sprach aber ist noch im steigen/ weil sie nun ein Zeit her durch jhre Veränderungen nicht schlimmer/ sondern besser worden ist.244
Diskreditiert wird dieser für die Gelehrten lebenswichtige kulturelle Auftrag durch die Schnellschreiber und Verseschmiede, denen auch in der nachopitzschen Generation immer noch der erbarmungslose Kampf gilt. Zitiert Birken in seiner ›Schäferei‹ im Anhang des Friedensballetts Vergils erste Ekloge variierend, so schließt die vom Herrscher (Anton Ulrich) ausgehende Prophetie der ––––––––– 243 244
Birken: Die Fried=erfreuete Teutonie (Anm. 211), S. 12. Ebd., S. 14.
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Segnung des Hirtenstandes dieses Dichter wie Monarchen wechselseitig verbindende, weil politisch notwendige Zusammenwirken für die deutsche Sprache und Kultur ein: Dort werd’ ich unterwegs den jungen Helden grüssen/ der/ seit daß ich ihm nicht die Hände küssen müssen/ zwey Aehren fortgezählt. Der ist es/ der mir gab zur Antwort/ als er sich auf meinen Schäferstab im Schatten einst gelähnt: Es sollen Zeiten werden/ in denen du/ O Hirt/ wirst weiden deine Heerden im Frieden/ wie zuvor.245
Politischer Allegorismus Die Pastoraldichtung hat in ihrer Geschichte die mannigfachsten allegorischen Intentionen assimiliert. In Nürnberg hatte sich Harsdörffer zum Sprecher einer explizit allegorisch angelegten Bukolik gemacht und vor allem in seiner ›Seelewig‹ (1644) ein geistliches Exempel dafür vorgelegt. Der Begründer des Nürnberger Ordens hat Kriegsgeschehen und Friedenshoffnung auch in seinen pastoralen Beiträgen und namentlich im Pegnesischen Schäfergedicht allegorisch behandelt, jedoch keine selbständige allegorische Kriegs- bzw. Friedensschäferei geschaffen, sondern sich statt dessen an eine Mischform aus ›Komödie‹ – d.h. ein Stück ohne ›traurigen‹ Ausgang – und sinnbildlicher Hirtendichtung gehalten: Wie nun deß Menschen Leben vielen Betrübnissen und Ergötzlichkeiten ergeben/ als ist daher entstanden eine Mittelart/ so theils den Trauer= theils den Freudenspielen gleichet/ oder auch einen frölichen Anfang hat/ und traurig endet: Oder auch eine traurige Geschichte mit lustigen Schalthandlungen unterbricht. Gleicher gestalt ist auch eine Mittelart zwischen den Freuden und Hirtenspielen/ wann aus der Bildkunst die Personen eingeführet und darunter Königreiche/ Länder/ und Herrschafften verstanden werden. Ein Exempel ist die Japeta aus dem Frantzösischen übersetzt/ und kan man solche Freudenspiele/ sonder dem darzugehörigen Schlüssel nicht völlig verstehen. Solcher massen solte man können einführen den Krieg als einen König/ die Ungerechtigkeit als einen Feldhern/ den Betrug als seinen Cantzler/ den Raub als seine Schatzmeister/ den Brand als seine Hofmeister/ die Armut/ Hunger und Durst als Hofdiener. Hingegen könte der Fried als eine verjagte Königin vorgestellet werden/ welche vermittelst der Tugenden und Wissenschaften geringen Aufenthalt hat/ und den Teutschenheldenmut absondert/ die Einigkeit zu suchen/ und deß alten Vertrauens Ehrenseule mit Verwilligung deß Kriegs=Königs aufzurichten/ und den güldnen Frieden in vorigen Besitz widerzubringen. Zu dieser Handlung wird abgeordnet der Betrug/ etc. Wolte man jetzt besagte Personen in einem Trauer=Freudenspiele vorstellen/ so könte die Vorrednerin seyn die Christliche Kirche/ oder auch Teutschland/ und könte auch alles in ein Gedicht verfasset werden. Dem Verständigen gnug gesagt.246
Nur im Vorübergehen kann hier angemerkt werden, daß das bisher noch kaum wahrgenommene Thema der politischen Schriftstellerei Harsdörffers dringend ––––––––– 245 246
Birken: Krieges= und Friedensbildung (Anm. 228), S. 47. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter [...].- Nürnberg: Wolfgang Endter 1648– 1653. Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, Teil II (1648), S. 97 f.
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der systematischen Explikation bedürfte. Ferdinand Josef Schneider kommt das Verdienst zu, für das im vorstehenden Text erwähnte Schauspiel Japeta nicht nur die Verfasser- bzw. Übersetzerschaft Harsdörffers gesichert zu haben, die ja auch in Briefen des Dichters belegt war, sondern zugleich eine erste (und bisher von der Germanistik nicht weiterentwickelte), durchaus zutreffende Analyse des an zahllosen politischen Anspielungen reichen Schlüsselwerkes vorgenommen zu haben.247 Entscheidend ist die politische Funktion der hermetischen Allegorie in der Japeta, die weit über das im Poetischen Trichter Entwickelte hinausgeht. Wenn Birken in seiner Teutonie eine anagrammatisch nur locker verschlüsselte Schilderung der Nürnberger diplomatischen Aktionen und Friedensaktivitäten gegeben und überdies den Schlüssel in der Vorrede bekanntgegeben hatte, so lag diesem Verfahren keinerlei politische Notwendigkeit zugrunde, sondern nur die Freude an der lockeren poetischen Zurichtung des geschichtlichen Stoffes, wie sie die Poetiken forderten. Harsdörffers Arbeit hingegen gehört in die Tradition der bisher so gut wie gar nicht erforschten literarisch-politischen Änigmatik als notwendiger Äußerungsform zur Verhüllung brisanter politischer Thematik. Man muß es dem Dichter freilich lassen, daß er seinen Knoten recht raffiniert geschlungen hat. Er hatte dafür sicher auch noch andere Beweggründe, als den Leser oder Zuschauer mit Rätselraten zu unterhalten. Er hat offenbar davor gebangt, in seinen historischen Anspielungen und in seiner politischen Einstellung restlos durchschaut zu werden. Darum hat er seinem Drama in einem dem Personenverzeichnis beigefügten [und in der Vorlage fehlenden] Schlüssel den Anstrich einer religiös-ethischen Allegorie geben wollen, die uns an die Moralitäten des 16. Jahrhunderts oder an lateinische Dichtungen der Barockzeit, wie Baldes ›Urania victrix‹, erinnern mag. [...] Wer dieser mystifizierenden Exegese des Dichters folgt, wird freilich dem Drama als einem geschlossenen Ganzen bald hilflos gegenüberstehen.248
Die Japeta-Übersetzung Harsdörffers, in der sich, wie Schneider gezeigt hat, vielfache Spuren einer politischen Umdeutung der Vorlage nachweisen lassen, bildete ihrerseits nur einen gewissen Abschluß der lebhaften politischen Schriftstellerei Harsdörffers in den Jahren 1641/42. Sie wird in den vier aufeinander bezogenen Stücken Peristromata Turcica (1641), Germania Deplorata (1641), Gallia Deplorata (1641) und Aulaea Romana, contra Peristromata Turcica expansa (1642) manifest und zeigt Harsdörffer als ebenso überzeugten Ireniker wie als Kritiker französischer Hegemonialpolitik sowie der Bereitschaft zum Bündnis mit den Türken, und dies in Übereinstimmung mit der Außenpolitik des Rats seiner Vaterstadt, die sich gleichfalls jeder Annäherung an den westlichen Nachbarstaat mit Rücksicht auf den Kaiser enthielt.249 –––––––––
247
248 249
Ferdinand Josef Schneider: Japeta (1643). Ein Beitrag zur Geschichte des französischen Klassizismus in Deutschland.- Stuttgart: Metzler 1927. Ebd., S. 8. Die Einzelanalyse dieser Stücke steht nach wie vor aus. Vgl. vorläufig Bischoff: Georg Philipp Harsdörffer (Anm. 177), S. 30 ff.; Schneider: Japeta (Anm. 247), S. 32 ff.; Faber du Faur: German Baroque Literature (Anm. 227), zu Nr. 497–500. Alle vier Werke sind in gleicher Ausstattung offensichtlich beim selben Verleger erschienen und begegnen wohl in
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Margenis und Irenian: Lockerung ständischer Hierarchien Nicht also bei Harsdörffer, sondern erst bei dem passionierten Bukoliker Birken ist es zur Fusion von Pastorale und Politik gekommen. Doch dient das so auslegungs- und deutungsfähige schäferliche Habit bei ihm nicht oder doch nicht in erster Linie zur Verschlüsselung zeitgenössischer politischer Ereignisse, sondern zur Versinnbildlichung der Merkmale des Friedens, die hier bei Birken in dem literarisch beglaubigten Friedensstand ihre überzeugende Verkörperung finden. Gibt es auch bei Birken über die poetische Konvention hinaus eine Notwendigkeit für den Griff zur pastoralen Maske, so nicht zur Wahrung des Geheimnisses politischer Geschehnisse, sondern zur Dämpfung der Sprengkraft standespolitischer Probleme, die er nun während seiner ersten großen Bewährungsprobe vor den Mächtigen seiner Zeit aufgreift und in der dafür prädestinierten Gattung des Schäferdramas traktiert. Gemeint ist Birkens im Jahre 1651 aufgeführtes und 1679 gedrucktes allegorisches Schaustück Margenis oder Das vergnügte bekriegte und wieder befriedigte Teutschland: Es ist die einzige wirklich gelungene Verherrlichung der Friedensfeier. Ein Schauspiel in Prosa mit eingelegten Gedichten, das auch von den englischen Komödianten gelernt hat, wie der Dichter in einer Randnote angibt. Hier ist Birken von überlegener Dichterkraft und Sicherheit.250
In dem »LiebGedichte«, so Birken, läge »die Geschichte von damaligem Teutschen Frieden/ als der Kern in der Schale/ verborgen«.251 In ihm wird die Hochzeit Deutschlands (›Margenis‹ = ›Germanis‹) mit dem Frieden geschildert. Der Frieden kann »nichts bässer/ als durch das ruhige Schäfer= und Feld-Leben/ gebildet werden: und ist/ die Liebe oder Eintracht/ des Friedens PflegMutter. Daher ist auch/ diese Materie/ durch ein LiebesGedicht vorgestellt worden.«252 Den Krieg charakterisiert Birken in der Margenis als »böses Kind der Religion-Strittigkeit«, der »dem Teutschen Vertrauen entgegen gesetzet« ist, wie es im Schäferstand sich bewahrt hat.253 Mit diesem Zentralbegriff aller Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, in dem sich stoisch-christliche und humanistisch-nationale Elemente mischen, proklamiert das gelehrte Bürgertum während und nach den Bürgerkriegen die Verpflichtung der Territorialstaaten auf einen überkonfessionellen Wertekanon, der eine Pazifizierung der widerstreitenden Parteien impliziert. Die Prinzessin Margenis, in allen Schäfereien unter wechselndem Namen Allegorie für die Befriedung der einzelnen Dynastien und insofern Sinnbild der ––––––––– 250 251
252 253
der Regel – wie im Exemplar der SUB Göttingen (Hist. un. IV. 5020) – zusammengebunden in einem Exemplar. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 47. Sigmund von Birken: Margenis oder Das vergnügte bekriegte und wieder befriedigte Teutschland.- Nürnberg: Scheurer 1679, Bl. ʌ1r. Ebd., Bl. ʌ1v. Ebd., Bl. ʌ2r.
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von den Gelehrten tradierten Utopie einer Einheit des Reiches, erscheint in der Margenis zunächst als Inbegriff heroisch-martialischen Wesens und verstrickt in die Raserei des Krieges. Dies jedoch nur, damit in der Konfrontation mit der Lebensform des Schäfers ihre Existenz als eine scheinhafte enthüllt werden kann. »Wisset«, so stellt sich Irenian der Prinzessin vor, daß ich vergnügt lebe/ weil ich mit mir selber zufrieden bin/ und nicht immer nach mehr strebe/ wie das Unrecht und der Krieg zu thun pflegen. [...] Ich brauche keiner Dienste/ und diene selber auch niemand/ bin also mein eigen [...] und werde mir selber desto mehr bekant/ je mehr ich der Welt unbekant bin.254
Seine einzige passio ist das Studium, Geiz kennt er nur als Kargen mit der Zeit, um zu lesen und zu lernen: Dieses ist mein innerliches Leben/ und das Thun meines Gemütes. Mein Leib indessen ist frisch und gesund/ weil ihn die vergiftete Städte-luft nit anstecket. [...] Mit einem wort: ich lebe also/ daß ich meine Zufriedenheit üm kein Königreich vertauschen wolte.255
Vor dieser Botschaft aus Selbstzufriedenheit, irdischem Machtverzicht und Ausrichtung auf das bleibend in der Schrift Tradierte wird Margenis ihrer Verblendung inne. So wie der Soldat wünscht die Prinzessin ihren Stand aufzugeben und an den Freuden des Feldlebens teilzuhaben: Das bürgerlich-gelehrte Ideal übt seine Attraktivität auf alle Stände aus. Es ist ein insgeheim die Stände übergreifendes und kann daher im 18. Jahrhundert als ein derart begriffenes explizit als allgemeinmenschliches der ständischen Ordnung und Ideologie entgegengehalten werden. Die Grundlagen dieser Position werden, wie auch Birkens Margenis deutlich zeigt, überall im Umkreis der bürgerlichen Gelehrtendichtung des 17. Jahrhunderts gelegt. Es ist der Schäfer, der sich unter Hinweis auf die Niedrigkeit seines Standes dem Werben von Margenis widersetzt. Aus dem Mund der Regentin werden unversehens die Maximen der Gelehrten laut. Ich bin »meinen Unterthanen ein Fürstin/ euch aber eine Schäferin. Liebet mich/ wie ich euch liebe: ich liebe aber eure Person/ und nicht euren Stand.«256 Die bestehenden Herrschaftsverhältnisse werden hier so wenig wie in der Hirtendichtung sonst in Frage gestellt, wohl aber durch Wertordnungen paralysiert und unterminiert, die ihre geschichtliche Sprengkraft dann im 18. Jahrhundert entfalten. Die Liebe von Irenian und Margenis überspringt die Standesgrenzen, weil sie von Person zu Person gestiftet wird; alles Äußere einschließlich von Stand und Herkunft sinkt zu einem Sekundären herab gegenüber den einzig zählenden inneren Vorzügen: »Jhr wisset/ daß innerliche Hoheit/ welches die Tugend ist/ der äuserlichen Mutter sey. Diese allein/ kan hoch und geehrt machen. [...] Wir sind alle gleiches Herkommens: allein durch die Tugend/ werden wir voneinander unterschieden.«257 Hier ist genau jener Mechanismus in Gang gesetzt, mit––––––––– 254 255 256 257
Ebd., S. 25 f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 43 f. Ebd., S. 44 f.
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tels dessen das Bürgertum des 18. Jahrhunderts seinen sozialen und politischen Rechtsanspruch im Namen ständisch unspezifischer Werte anmeldet und die soziale Hierarchie der Kritik moralischer Vollkommenheit aussetzt. Niemand, so heißt schon in der Margenis, habe ein automatisches Anrecht auf das Erbe einer Krone – »obwol die Gewonheit ein anders eingeführet« –, es sei denn, er habe seine Tugenden unter Beweis gestellt und sei damit zu einem legitimen Regenten geworden:258 Sehet ihr demnach/ daß die Hoheit/ und daher auch die Ehre/ nicht im Geblüte/ welches leicht abarten kan/ sondern im Gemüte/ bestehe. Weil nun auch aus eurem Thun ein trefflicher Geist und die Tugend hervorblicket/ so seit ihr wegen dieser wahren Hoheit eben so würdig/ geehrt zu werden/ als ihr mich/ zwar aus Höflichkeit/ achtet. Wo aber die Verdienste gleich sind/ da ist allein Liebe und Gegenliebe/ und keine Verehrung.259
Auch den Einwand des Schäfers gegen die Verbindung, daß ihr »nicht nur die innerliche Hoheit beywohnet/ deren ich vielleicht fähig seyn möchte; sondern auch die äuserliche/ die bey mir nicht ist«, vermag Margenis zu entkräften: »Jhr seit dieser [äußerlichen Hoheit] würdig/ und habt sie nicht; ich habe sie/ und bin vielleicht deren nicht würdig. [...] Jhr seit viel höher/ als ich; weil ihr ein Gemüte habt/ daß alle Hoheiten verachtet/ und ihme selber seiner Tugend grosser Lohn ist.«260 Die amöne Natur ist der utopische, mit sinnbildlicher Kraft ausgestattete Raum für die Realisierung einer die Stände übergreifenden, auf innere Werte gegründeten Liebesverbindung: »Jch halte dafür/ diß seyen die schönen ElyserFelder und die glückseeligen Jnseln/ von welchen soviel Singens und Sagens ist. Eine rechte wohnung für die Liebe«.261
Diskurse über den wahren Adel In der Gattung des Schäferdramas ist der Ständekonflikt traditionell beheimatet. Und in ihr ist jene Lösung vorgegeben, der sich nun auch Birken bedienen wird, um die Verbindung der Liebenden zu legitimieren, nämlich die nachträgliche Entdeckung der adeligen Herkunft des rangtieferen Partners. Mit dieser Wendung scheint den ketzerischen Reden der Prinzessin manches von ihrer Brisanz genommen und die vertraute Ordnung am Schluß wieder hergestellt zu sein. Birken indes hat in seiner Poetik diese Lösung als obligatorische der Gattung kurz gestreift, ihr jedoch kein Gewicht beigemessen.262 Und ohnehin wäre der ständische Ausgleich am Schluß nicht geeignet, die Stichhaltigkeit der argumentativ neben der Handlung eingeführten und nirgendwo widerlegten Gedanken nachträglich zu dementieren. –––––––––
258 259 260 261 262
Ebd., S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 49. Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 7), S. 331 f.
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So ist es denn auch kein Zufall, daß Birken diese Thematik zur gleichen Zeit in einem schäferlichen Diskurs unter Verzicht auf die Schablonen des Schäferspiels nochmals behandelt und womöglich noch radikaler entfaltet hat. Die Schäferei Glükkwünschende Zuruffung auff den Trauungs Tag des Edelen [...] Joh. Heinrich Friesendorff (1650) ist in der Urfassung seit 1945 nicht mehr nachweisbar und kann nur noch in der Pegnesis-Fassung aus dem Jahr 1673 studiert werden.263 Erfahrungsgemäß hat Birken bei der Bearbeitung seiner Schäfereien für das zweibändige große pastorale Sammelwerk seines Alters die argumentative Substanz der Schäferdialoge jedoch zumeist erhalten und nur die erzählenden und dem Anlaß gewidmeten Partien beschnitten. Schon der Titel in der Pegnesis zeigt an, daß die Diskussion von Adelsproblemen in ihrem Mittelpunkt steht: ›Schönheit-Lob und Adels-Prob‹. Die Existenz des Adels innerhalb der menschlichen Gesellschaft scheint ihr Analogon in der Natur zu haben. Überall gibt es in ihr Superiorität, überall eine »Aufstaffelung der Dinge«, die anhebt und endet in Gott.264 Bevor die gravierenden Unterschiede zwischen menschlicher und natürlicher Ordnung herausgearbeitet werden, widmen sich die beiden Schäfer der Genesis des Adels. Zwei Erklärungsmuster konkurrieren miteinander. Adel rühre daher, so heißt es zunächst, daß einige »durch die Hoheit ihres Gemüts sich vor andern hervorgethan« hätten und Göttern gleich nach ihrem Tode geehrt würden.265 Die Rückführung des Adels auf innere Vorzüge findet mit diesem Ursprungsmythos seine Legitimation. Die Gründung von Staaten steht jedoch im Zeichen von nackter Gewalt. Einzelne schwingen sich »aus selbst-genommenem Gewalt« zur Herrschaft auf und halten fest an ihr, bis aus den Reihen der Unterdrückten, die sich ein »hohes Gemüt« bewahrt haben, der Aufstand gegen die Usurpatoren vorbereitet und erfolgreich durchgeführt wird.266 Erst damit wird legitime Herrschaft begründet, über die sich eine Dynastie aufbauen kann. Stirbt das Geschlecht aus, wird ein Nachfolger gewählt, »der zwar nicht gleiches herkommens/ doch gleiches Gemütes mit dem vorigen« ist.267 So differenziert sich der Adel in drei Fraktionen: 1. »der erworbene/ oder der Adel des Gemüts/ mit dessen Besitzer die hoheit seines Stammes sich angefangen«, 2. »der angeborne/ oder der Adel des Geblütes und Gemütes zugleich«, in dem sich adelige Herkunft und Tugend vereinen, und 3. »der Adel des Geblüts«, ––––––––– 263
264
265 266 267
Ehemals vorhanden in der Bibliothek des Pegnesischen Blumenordens (P.Bl.O. 3 (6. oder 7. Beistück) 4°). Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 46 f. und S. 133, Anm. 63, sowie Klaus Garber: Forschungen zur Schäfer- und Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts.- In: Jahrbuch für Internationale Germanistik III/2 (1971), S. 226– 242, S. 236. Hier auch eine Zusammenstellung der sonstigen verschollenen Schäfereien Birkens. Das Hochzeitsgedicht auf Schottel konnte dank freundlichen Hinweises von Jörg Jochen Berns (Marburg) inzwischen nachgewiesen werden. Vgl. oben Anm. 211. Sigmund von Birken: Floridans Schönheit-Lob und Adels-Prob. 1650.- In: ders.: Pegnesis: oder der Pegnitz Blumgenoß-Schäfere FeldGedichte in Neun Tagzeiten [...].- Nürnberg: Felsecker 1673, S. 211–272, S. 259. Ebd. Ebd. Ebd., S. 260.
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dem zwar edle Abkunft eignet, dessen »Tugend aber in seinem verartetem Gemüt ganz erstorben und verloschen ware.«268 Diesem Geblütsadel wird das Prädikat wahrhaften Adels abgesprochen, denn wo »die Tugend nicht ist/ da kan auch kein Adel seyn.«269 Wenn einzig Verdienste adeln, so kann nur adelig sein, wer solche besitzt. »Eines andern Klarheit/ machet keinen Durchleuchtig.«270 Sind dann aber nicht wenigstens die durch »Stand und Verstand geadelte[n ...] die Edelsten«?271 Auch diese von Floridans Gesprächspartner geäußerte, weitverbreitete Meinung wird von dem Dichter zurückgewiesen: »Dann wie solte der/ der durch behuf selbst-angemaster Tugend den Adel erwirbt/ nicht Edler zu achten seyn/ als der/ der ihn von seinen Ahnen empfangen/ und solchen allein zu erhalten und fortzusetzen sich bemühet? [...] Nicht durch geboren werden/ sondern durch leben/ wird der Adel erlanget.« Da anfangs der Adel von Tugend gekommen/ auch ohne sie nicht bestehen kan: so muß/ die Hoheit des Adels/ nach größe der Tugend abgemessen werden. Je tugendhafter nun einer ist/ je mehr soll er Edel/ und also der Tugendhafteste auch der aller=Edelste heißen. Erkaufter Adel ist nicht wehrt/ hierbey eingeführt zu werden.272
An dieser Stelle gibt Strefon-Harsdöffer zu bedenken, daß die Schäfer bei einer solchen Argumentation »allein die Weißheit-kündigen/ und die Käys. Rechte gar nicht/ auf unsrer seite [haben]/ von welchen lezten der Adel nicht in so änge schranken/ wie du jetzund beschrieben/ eingefangen wird.« Doch auch diesem Einwand weiß Birken zu begegnen. Er hätte anders geredet, »wann wir auf den Rathaus wären«. Doch erfolgt das Gespräch auf dem Feld, »da wir so wenig Zoll von Worten geben/ als an andern Orten von Gedanken.«273 ›Feld‹ als paradiesisch-utopischer Ort Die Argumentation auf dem ›Feld‹ kann eine andere sein als die auf dem ›Rathaus‹. Letztere verkörpert die Instanz der Realität. Hier orientieren sich Verleihung und Bestätigung des Adels von seiten des Kaisers an anderen als den in der Schäferei vorgetragenen Maßstäben. Auf dem Feld ist die Zensur des Gedankens aufgehoben. Die in allen theoretischen Äußerungen zur Bukolik wiederkehrende Beteuerung, die Poeten hätten die Hirtennamen entlehnt, »damit sie unter solchem Vorzug ihres anderwärtlichen Standes ihre Gedanken desto freyer ausbilden« könnten, hat unter anderem auch diese Bedeutung.274 Voraussetzung für die in der Bukolik laut werdende Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse ist die Distanz von ihnen. Sie wird durch die Chiffre ›Feld‹ be–––––––––
268 269 270 271 272 273 274
Ebd. Ebd., S. 261. Ebd. Ebd., S. 262. Ebd., S. 263 f. Ebd., S. 264. Birken: Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei (Anm. 1), Bl. ʌ2v.
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zeichnet. Bukolik und Satire gehören insofern zusammen, wie in den Poetiken gleichfalls immer wieder betont wird. Aus dem Stand der Unschuld heraus wird die Kritik laut. Im Rückgriff auf Scaliger hat vor allem Birken die älteste Poesie der Erzväter wiederholt als Hirtendichtung qualifiziert. Es scheinet/ die Zeit/ die nun bald in die Ewigkeit sol verwandlet werden/ kehre mit ihrem Ende/ wie eine in Zirkel geschlungene Schlange/ in ihren Ursprung zurücke. Sie höret auf mit diesem Thun/ wie sie angefangen/ und macht ihre jetzige Poeten zu Schäfern.275
Das Wiederaufleben der Hirtendichtung und insbesondere die Gründung der Hirtengesellschaft an der Pegnitz darf als Restitution biblisch-patriarchalischer, aber auch antik-heidnischer Urverhältnisse begriffen werden, insofern auch die Griechen und Römer in Arkadien und Sizilien »von solchen gelehrten Hirten berühmte Landschaften« besaßen.276 Über diesen Ursprungsmythos wächst der Hirtengesellschaft an der Pegnitz als soziokultureller Institution und der Hirtendichtung als literarischer Gattung ein Nimbus zu, der sie auch und gerade als Instanzen der Kritik prädestiniert und legitimiert. Die in der Gattung der Schäferei lautwerdende Anklage von Mißständen artikuliert sich mit dem Anspruch, die biblische und – bei aller Verteufelung der Heiden, wie sie beim späten Birken häufiger wird – antike Bürgschaft dafür hinter sich zu wissen und die Hirten als Nachfahren ihrer biblisch-antiken Präfigurationen sprechen zu lassen. Selbstverständlich ist der Rekurs auf zeitlose Urverhältnisse wie stets gesättigt mit geschichtlichen Erfahrungen der Gegenwart. Entscheidend ist der Anspruch, der sich aus einer derartigen Rückblende herleitet. »Dieses ist gewiß/ (bekräfftigte Poliander) daß die bittere Wahrheit in dieser Gedicht=Weise überzuckert wird; weil man einfältige Hirten einführet/ welche der Städte Eitelkeit und Boßheit freyer verlachen und tadeln mögen.«277 In der Hirtendichtung wird die Gegenwart an normativen Urzuständen gemessen, die sich in der Hirtenwelt erhalten haben. In dieser der Gattung eigentümlichen Konstellation ist die Lizenz zur Kritik verankert. Sie umgibt die in den Schäfereien agierenden und disputierenden Hirten-Humanisten mit dem Glanz einer in den Ursprung projizierten poetischen Existenzform, in deren Schutz die zeitgenössischen Forderungen sich direkter, zugleich aber auch verhüllter als irgendwo sonst beim Namen nennen ließen.
Polito-literarische Zwischenbetrachtung Prinzipiell konnten die vom Schäfer Floridan-Birken vorgebrachten Überzeugungen vom Adel nicht anders denn als Affront seiner Existenzgrundlage aufge–––––––––
275
276 277
Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 7), Bl. ʌ3v f. Vgl. zum folgenden auch Birkens wichtige ›Vor-Rede‹ zu diesem Werk, Bl. ʌ7r–3ʌ1v f. Ebd., Bl. ʌ3v. Limburger: Die Betrübte Pegnesis (Anm. 196), S. 181. Vgl. auch Birken: Margenis (Anm. 251), S. 31: »Die Schäfere sind gewohnt/ das Herz im Mund zu haben/ sie reden/ wie sie es denken. Die Höflichkeit müst ihr zu Hof/ und nicht hier im Felde/ suchen.«
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faßt werden. Die vom Ton definitiver Entschiedenheit geprägten Argumente lassen den spielerischen Charakter, den so viele Streitgefechte in der Prosaekloge an sich haben, weit hinter sich. Hier ging es um Dinge, die dem jungen Birken nicht gleichgültig waren. Der mittellose Exulant – von vornherein entschlossen, einem bürgerlichen Beruf etwa als Pfarrer auszuweichen – war gezwungen, seine soziale Reputation als gelehrter Dichter durch stets neue Legitimationsakte zu bekräftigen. Die eine Seite dieses zähen Ringens ist in seiner Vita überdeutlich bezeugt. Sein jahrelanger Kampf um die Aufnahme in die ›Fruchtbringende Gesellschaft‹ und um seine Nobilitierung einschließlich entsprechender Insignien und Würden beweist, was für eine beherrschende Rolle der soziale Aufstieg in seinem Leben gespielt hat. Schon der junge Birken ist unermüdlich damit befaßt, sein literarisches Œuvre einer öffentlichkeitswirksamen Strategie dienstbar zu machen. Ständige Verweisungen auf seine Produktion, die Planung und jahrelange Vorankündigung von Sammlungen insbesondere seiner panegyrischen Schriften, Werbung um interessierte Verleger für das Ungedruckte – das alles ist schwerlich souveräner von einem Dichter des 17. Jahrhunderts gehandhabt worden als von Birken. Seine Schriftstellerei bildete – von gelegentlichen Hauslehrer- und Hofmeisterstellen abgesehen – die eigentliche Basis seiner Existenz. In seinem Werk aber und insbesondere in seinen Schäfereien objektivierte sich die persönliche Situation, die die Emphase der Argumentation verständlich werden läßt, im Rückgriff auf die vorgegebene nobilitas literaria-Tradition zur Statuierung der dem bürgerlichen Gelehrtenstand eigentümlichen Qualitäten und der daraus resultierenden Ansprüche. Kompromißlos, wie das zuletzt vorgelegte Stück beweist, wird Dezendenz als Basis der Prärogative der adeligen Führungsschicht im Namen erworbener Fähigkeiten dispensiert und dem Geburtsadel, sofern er sich nicht durch andere und wichtigere Merkmale auszeichnet, die Anerkennung versagt. Diese sind durch Begriffe wie ›Tugend‹, ›Verdienst‹, ›Verstand‹ etc. bezeichnet. Seit jeher ist adeliges Dasein an einen ständischen Tugend-Kodex gebunden gewesen. In der Konzeption der Humanisten wird der Adel jedoch mit Vorliebe auf spezifisch bürgerlich-moralische und epistemologische Werte verpflichtet. Margenis sieht in der Begegnung mit Irenian gerade ihre heroischen Tugenden wie Mut und Tapferkeit, Macht und Ehre in Frage gestellt. Sie schwenkt auf den ordo humilis des Schäfers ein. Die soziale Funktion dieses Vorgangs wird in der Nürnberger Hirtendichtung überall sichtbar. Der Rückbezug auf die christlichstoischen Werte, die sich mit dem niederen Stand des Hirtentums assoziieren, unterminieren die adelige Vorstellung, der zufolge Tugend an Repräsentation wesentlich gebunden sei. Im Zuge dieser Argumentation gewinnt auch das christliche Selbstverständnis der Poeten, das auf der anderen Seite so häufig gerade zur Konservierung der Ständeordnung herhalten muß, eine durchaus progressive Funktion. Angesichts der kreatürlichen Gleichheit der Geschöpfe erscheint die soziale Differenzierung als ein Sekundäres. Dem ständischen ordo wird ein moralischer entgegengesetzt und übergeordnet, der jenen durchkreuzt. Die Unterschiede der
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Moralität erscheinen gravierender als die der Stände. Adel wird damit als ein an jede einzelne Person gebundenes Prädikat dem Bürgertum prinzipiell verfügbar. Daß auch dieses in Fraktionen gespalten ist, beweist die lakonische Abwehr des Geldadels. Adel im Sinne der bürgerlichen Gelehrten hat sein Fundament in dem, worauf die Gelehrten ein Monopol besitzen: Wissen, Bildung.
Journalistische Revue und allegorische Zeitkritik In der Endredaktion seiner pegnesischen Hirtengedichte hat Birken einen kleinen pastoralen Beitrag zur Hochzeit Heinrich Krolows mit seiner schon herangezogenen ›Schäferei‹ im Anhang zu seiner Friedensrede aus dem Jahr 1649 vereint.278 Und das nicht zufällig, denn nochmals klingt in diesem ›Hochzeitlichen Schäfer-Gedicht‹ das Friedensthema an. Doch nicht deshalb ist es hier von Interesse, sondern weil es mehr als sonst üblich lokalen Nürnberger Ereignissen Raum gewährt. Ein Unwetter hat Nürnberg und Umgebung heimgesucht, das Tullenau-Tal überschwemmt, den Gleißhammer verwüstet und in der Stadt Verheerungen angerichtet. Die Attraktion für die Menge bildet jedoch ein offensichtlich während des Unwetters verunglücktes und nun liegengebliebenes Gefährt eines Adligen, vielleicht eines Nürnberger Patriziers. Dieser Tatsache ist es offensichtlich zu verdanken, daß Birken den Vorfall in seiner Schäferei festhielt, denn an ihn lassen sich nur Reflexionen knüpfen, die gewährleisten, daß das Ereignis nicht in seiner nackten Faktizität stehenbleibt. Der sich unter das Volk mischende Dichter wahrt zugleich den Abstand des Weisen, dem der Auflauf der Menge unverständlich bleibt: Das allerseltsamste dünkete ihm zu seyn/ daß eine dikke Mänge Volks sich drängeten zu sehen vier Räder/ auf welchen ein bedekkter mit Leder und anderley Lappen überzogner Hangwagen lage. So viel er vernehmen konde/ mochten etwan darinn gesessen seyn Menschen/ und nichts mehr. Dann ob sie wol an Stand und Ehre/ welches beydes nur ein Wahn ist/ etwas vor andern waren/ so waren sie doch gleichmäßiger natürlicher Herkunft/ und Menschlichen Gebrechlichkeiten eben auch/ oder wol/ das Schande zusagen/ noch zehenmal mehr/ als geringe Leute/ unterworfen. Noch dennoch renneten die närrischen Leute/ diese/ dem Augenschein nach/ hohe Personen in augenschein zunehmen/ und dachten nicht daran/ daß sie in dessen in ihren Seelen eine viel währ= und wärhaftere Hoheit zusuchen hätten/ gegen welcher jene für nichts wehrten Schatten/ ja gantz für keine Hoheit/ zu achten und zuhalten.279
Derart tritt die soziale Funktion des ständenivellierenden Aspekts im christlichstoischen Denken für eine gesellschaftlich unterprivilegierte und aufstrebende Klasse nochmals hervor. In dem kleinen Gedicht speziell findet die knappe In––––––––– 278
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Sigmund von Birken: Floridans Kriegs- und Friedens-Gedächtnis. Im Teutschen FriedensJahr 1650.- In: ders.: Pegnesis (Anm. 264), Teil I, S. 121–210. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 42. Sigmund von Birken: Hochzeitliches Schäfer-Gedicht in Besprechung der Pegnitzhirten übersendet von Floridan.- In: Glükwünschende Gedichte Auf den Hochzeitlichen Ehren= Tag deß [...] Heinrich Krolowen [...].- Hamburg: Pfeiffer 1649, Bl. B1r–C2v, Bl. B1v.
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troduktion jedoch darin ihre Pointe, daß die geschilderte Naturkatastrophe dem gaffenden Volk einen Moment lang den Blick auf die Welt und auf die Lebensgewohnheiten der Mächtigen der Stadt freigibt und so dem Hirten-Dichter die Möglichkeit zu Kommentar, Deutung und Kritik verschafft. Daß hier bestimmte Familien aus der stadtadeligen Führungsschicht gemeint sind, ist nur zu vermuten. Der Akzent liegt auf dem Lehrgehalt. Und so erscheint das kaum noch kenntliche singuläre Faktum transponiert in die Schemata der Adelstheorien, das heißt hier speziell in den Gedanken, daß der Adel in allem Wesentlichen keinesfalls von den gewöhnlichen Menschen geschieden, wohl aber auf Grund seiner herausgehobenen Stellung um so mehr gefährdet sei: [I]n dem kam ihm ein ander zu gesicht/ welcher zwey Beine über ein Pferd herabhängend daher=/ und weil auf seine und seiner Diener Kleider gantze Bergwerke gesmolzen waren/ iedermanns Augen gleich als mit einem Magnetischen Blitz an sich/ zoge. Das gute Gerücht/ daß dieselbe Person nicht schelten liese/ hielte ihn zurükk; sonst hätte er bey sich geslossen/ es müste wenig innerliche Trefflichkeit unter dieser äuserlichen verborgen seyn. Dann die Tugend findet sich in sich selbst/ und hat keines äuserlichen Glantzes vonnöten/ ohne/ der von ihr herfür blitzet. Wann das Kleid den Mann macht/ so kommt die ertheilte Ehre nicht dem Manne/ sondern dem Kleid zu. Jst aber der Mann an sich selber Ehrenwehrt/ so darf seine Tugend keines schönen Kleides. Soll Ehre Ehre seyn/ so muß auch der ein geehrter Mann seyn/ der sie giebt: geehrte Leute aber ehren nur üm das/ was sie selber geehrt machet/ nämlich/ üm Tugend.280
Bemerkenswert ist, daß der Dichter im allgemeinen Gedränge auch wieder einen makkaronisierenden Sprecher einführt. Vielleicht nur ein literarischer Spaß, die Befriedigung eines momentanen Einfalls; vielleicht aber doch auch der versteckte Hinweis, daß es die hier traktierte Oberschicht ist, die die beharrliche Bemühung um die Läuterung der deutschen Sprache immer wieder sabotiert.
Wertschätzung der Gelehrten unter den Habsburgern: Birkens ›Ostländischer Lorbeerhayn‹ So wie die Guelfis die niedersächsischen Dichtungen und die auf das Welfenhaus zielenden Ehrengedichte vereinigt, so der Ostländische Lorbeerhayn noch in den fünfziger Jahren die auf das Haus Habsburg und den niederösterreichischen Adel bezogenen Huldigungsadressen. Der vergleichsweise frühe Zeitpunkt der Sammlung dürfte sich aus der Tatsache erklären, daß der Dichter – vor allem dank nachhaltiger Vermittlung durch Gottlieb von Windischgraetz – 1654 nach jahrelangem Bemühen vom Kaiser das Adelsdiplom samt Palatinat erhalten hatte und die Zeugnisse seines überschwenglichen Dankes alsbald zusammenführen wollte.281 Die sechziger Jahre werden dann mit der Bearbeitung des ––––––––– 280 281
Ebd., Bl. B2r. Auch für die Geschichte der Nobilitierung Birkens wieder grundlegend das Kapitel ›Silvia oder die wundertätige Schönheit. ›Ephoria – vita rustiva – Comitiva Palatina Caesarea‹. 1652–1655‹, in Otto Schröders Quellenstudie zur Biographie Sigmund von Birkens (Anm. 195).
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Fuggerschen Ehrenspiegels die Glorifizierung der Habsburger im Medium der Historiographie fortsetzen. Wieder stellt der Dichter mit dem Ostländischen Lorbeerhayn den seit Vergil vorgegebenen Kontakt zwischen Pastorale und Regentenpanegyrik her. Zwar/ aus Wohlwissen meiner armen Beredtsamkeit/ habe ich zu dieser Lob= und DankRede/ erwählt/ eine Art Schrifften/ in welcher/ einfältige Schäfere das Wort führen: mir zu einer Entschuldigung/ wann/ von so hohen Sachen/ ich durch sie/ ihrer Gewonheit nach/ allzu-nidrig rede. Ein Landmann/ mag wohl/ bey dieser neuen FriedensZeit/ von unsrem (zwar nun nicht mehr unsrem) Teutschen/ wie der Virgilianische Tityrus von dem Römischen Ersten/ Augusto/ singen und sagen: Du sihst/ wie meine Heerd Er machet sicher weyden; Er lässet/ was ich will/ mich spielen in den Heyden. Diese Leute/ genießen am meinsten des Friedens: von wem solten sie dann lieber aufspielen und singen/ als vom demjenigen/ durch den sie dessen genießen?282
Doch diese Bescheidenheitsformel verbindet sich bruchlos mit dem Anspruch des Dichters, in seinem Werk einen »FürstenSpiegel/ als ein gleichloses Beyspiel/ deme alle Welthäupter nachahmen sollen«, zu liefern.283 Der in den zeitgenössischen Poetiken festgehaltene komplementäre Charakter heroischer und pastoraler Poesie bewährt sich also erneut. Und in der Tat hat Birken alles getan, in den panegyrischen Partien eine planmäßige Verzahnung adeliger und bürgerlich-gelehrter Normen, wie sie Sinn der Gattungs-Symbiose ist, zu bewerkstelligen. Das beginnt sogleich bei der Huldigung Rudolfs von Habsburg. Von ihm stamme die auf einem Reichstag in Nürnberg getroffene Verfügung, so weiß die Nymphe Noris zu berichten, daß forthin alle Acta und Briefliche Jnstrument/ in Teutscher/ und nicht mehr wie vorher/ in Lateinischer Sprache/ solten gestellet und ausgefärtiget werden. Dazumahl dann/ meine Canzley/ was alle andre Anwesende nicht konden/ wohl und glücklich geteutschet/ und deswegen von der ganzen Reichsversamlung gerühmet worden.284
Entsprechend heißt es dann auch in dem Ehrengedicht auf Rudolf: Die Himmels-Majestät/ setzt Majestäten ein auf Erden/ als ihr Bild. Das gute Glück/ vermählet mit meinem TugendRuhm/ zum Haupt mich hat erwehlet des Reiches; und mein Haus mein EhrenErb soll seyn. [...] Durch mich/ die Teutschen/ Teutsch zuschreiben auch anfiengen: dank mir es/ Muttersprach/ daß man erhoben dich.285
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Sigmund von Birken: Ostländischer Lorbeerhayn/ Ein Ehrengedicht/ Von Dem höchstlöbl. Erzhaus Oesterreich: Einen Fürsten=Spiegel/ in XII. Sinnbildern/ und eben sovielen Keyser= und Tugend=Bildnissen. [...] Samt Einem Anhang von Ehren=gedichten/ an Fürsten/ Grafen und Herren. [...].- Nürnberg: Michael Endter 1657, Bl. ʌ8v. Ebd., Bl. ʌ 10v. Ebd., S. 114. Ebd., S. 106.
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Auch läßt sich der Dichter in guter humanistischer Tradition nicht die Chance entgehen, das Wirken Maximilians I. umständlich zu würdigen, denn es besitzt eine nach wie vor die Regenten verpflichtende vorbildliche Komponente. Ein seinem Sekretär am Lebensabend diktiertes Werk, in dem er seine Taten der Nachwelt überliefern wollte, sei verloren gegangen, und das nur »aus thörichtem Wahn/ Kunst und Wissenschafft sey dem Adel eine Schande«.286 An Maximilian habe sich der Platonische Satz bewahrheitet, »[d]ie Republiken/ seyen alsdann erst glückselig/ wann entweder die Weißen regiren/ oder die Regenten sich der Weißheit befleißigen.«287 Seinem Enkel, dem späteren Karl V., habe er einen ›Belehrer‹ mit der Bemerkung zugewiesen, »[e]s sey übel/ wann die Fürsten nichts studirt haben; noch übler aber/ wann sie aus der Sittenlehre nicht gelernet/ mit Tugend die Laster zuüberwinden/ und über ihre Begierde zu herrschen.«288 Und schließlich habe sich der Kaiser auch gegen den Widerstand des Hofadels immer wieder des Rats des Gelehrten bedient: Sonsten pflegte er offt zusagen: Die Gelehrten seyen es/ die da regiren/ und nit unterthan seyn/ solten. Brauchete sie auch/ vor andren/ zu Rahtschlägen/ Botschafften und Handlungen/ sagend/ als die Hoffschranzen darüber murreten: Er müsse diejenigen brauchen/ die es können.289
Nicht deutlicher könnte ausgesprochen werden, wo auch noch im 17. Jahrhundert in den Augen der Gelehrten die eigentliche Linie des Konflikts verlief. Maximilian verkörpert das in der Pastorale überlieferte Bündnis zwischen Regenten und Poeten und steht nicht an, sich als permanent Lernender der Dichter zu bekennen: Wie er sie nun/ vor allen Menschen Ehren wehrt hielte/ also ehrete und liebte er sie auch würklich/ sonderlich die Poeten und Geschichtverfasser/ als von deren Federn er wuste/ daß sie verewigen könden. Und indem er/ nicht nur ihr Patron/ sondern auch/ so zusagen/ ihr Schul= und Lehrgesell ware/ säete er dadurch eine gelehrte Welt aus/ welche in eine reiche Frucht-Ernde auskeumend/ den Griech= und Lateinischen Helikon in Teutschland versetzte: also daß die Künste in Teutschland nit nur wuchsen/ sondern ganz vom neuen schienen gebohren zuwerden. Jch will sagen; seine Kunstliebe/ gebahr eine grosse Anzahl Kunstliebende: weil/ wie gewöhnlich/ die Unterthanen sich nach dem König/ die Glieder nach dem Haupt/ richteten/ üm/ sich demselben angenehm zumachen/ indem sie ihre Beflissenheiten den seinigen gleichförmigten. Dessen allen mir/ mein Vilibald Pirkheimer/ welcher seiner Vielwissenheit halber/ bey diesem Keyser in Diensten und grossen Gnaden ware/ ein lebendiger Zeuge gewesen.290
In der Gestalt Ferdinands I. wiederholt sich dann diese Aufgeschlossenheit gegenüber den Gelehrten. Wieder geht sie Hand in Hand mit der Zurückweisung adeliger Ansprüche, sofern diese nicht auf Kenntnisse und also auf Leistung gegründet sind: ––––––––– 286 287 288 289 290
Ebd., S. 158. Ebd. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 159. Ebd., S. 159 f.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung Andre seine Tugenden und Ruhm=Beschaffenheiten belangend/ so war er/ gleichwie er selber gelehrt und wolbelesen ware/ auch ein Patron der Gelehrten: und zwar zum theil mit schlechtem Dank seines Hof-Adels; deren Ubelgesonnenheit mit Verweiß zubegegnen/ er/ unter andern/ einmahl auf der Jagt/ Anlaß nahme. Dann/ als ihm ungefähr ein Packet Briefe einkame/ gabe er solches/ seinem Jägermeister/ einem grossen Feind derer von der Feder/ mit Befehl/ er solte ihm einen Extract daraus machen. Wie nun derselbe sich entschuldigte/ er verstünde sich nicht auf dergleichen Arbeit/ wüste auch nicht einmahl/ was ein Extract wäre; sagte der Keyser: Ey so lasst mir meine Schreiber mit Frieden/ die es können und gelernet haben/ weil ihr sehet/ daß ein Fürst nicht allein Jäger und Reuter/ sondern auch gelehrter Leute vonnöten hat.291
Es ist die Insistenz auf der Akzentuierung bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen, die in der Literatur des 17. Jahrhunderts allein ein sozial präformiertes Erkenntnisinteresse der Sprecher verrät. Zu diesen mit Vorliebe traktierten Themen, das dürfte deutlich geworden sein, gehört die Selbstbehauptung des nichtadeligen Gelehrten im höfischen System und die Dequalifizierung feudaler Privilegien.
Der Fürst und sein humanistischer Erzieher: Arbeiten für das Haus Brandenburg-Bayreuth Neben den Welfen und den Habsburgern hat Birken auch das Haus Brandenburg-Bayreuth durch das Band der Mäzenatenschaft zu verpflichten gewußt. Zwischen 1657 und 1660 hielt er sich abwechselnd in Creußen, Bayreuth und Nürnberg auf und knüpfte die Verbindungen zum Bayreuther Hof, die für den Dichter in den sechziger Jahren nicht minder wichtig werden sollten als diejenigen zu den Habsburgern. Überdies bahnten sich mit der Heiratspolitik Christian Ernsts von Brandenburg-Bayreuth Beziehungen zum Kurfürstentum Sachsen und zum Herzogtum Württemberg an, die dann in den siebziger Jahren literarische Früchte auch von seiten Birkens tragen sollten. Joachim Kröll ist es zu danken, wenn sich das Dunkel, das bisher über dieser Periode im Leben des Dichters ebenso wie über die Rolle Bayreuths als Zentrum des fränkischen Barock lag, zu lichten beginnt.292 Unter den vielfältigen kulturpolitischen Aktivitäten, die der Hof unter der Regentschaft des jungen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth und seiner –––––––––
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Ebd., S. 207. Vgl. Joachim Kröll: Der Dichter Sigmund von Birken in seinen Beziehungen zu Creußen und Bayreuth.- In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 47 (1967), S. 179–276; ders.: Sigmund von Birken dargestellt aus seinen Tagebüchern.- In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 32 (1972), S. 111–150; ders.: Bayreuther Barock und frühe Aufklärung. I. Teil: Markgräfin Erdmuth Sophie (1644–1670) und ihre Bedeutung für Bayreuth.- In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 55 (1975), S. 55–175. II. Teil: Die Briefe des Bayreuther Generalsuperintendenten Caspar von Lilien an den Nürnberger Dichter Sigmund von Birken.- In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 56 (1976), S. 21–234; ders.: Der Bayreuther Hof zwischen 1660 und 1670. Eine Bestandsaufnahme.- In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hrsg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen.- Hamburg: Hauswedell 1978 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 7), S. 181–208.
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den Wissenschaften und Künsten gegenüber außerordentlich aufgeschlossenen ersten Gemahlin Erdmuthe Sophie in den sechziger Jahren entfaltet hat, soll hier mit Blick auf Birken nur ein Aspekt kurz verfolgt werden. Auch er ist in den Forschungen Krölls bereits anvisiert worden, wird vermutlich jedoch erst in Zukunft eingehend erschlossen werden: Bayreuth als wichtige Produktionsstätte von Fürstenspiegel-Literatur. Mit dieser Gattung verband sich offensichtlich ein vitales Interesse des Fürsten selbst.293 Schon auf der Universität in Straßburg war er anläßlich des Abschlusses seiner Studien mit einer lateinischen Rede ›De principatibus bene regendi artibus‹ hervorgetreten, bevor er sich auf eine große Studienreise durch die Schweiz, Frankreich und Italien, Flandern und die Niederlande begab, die Birken später auf der Basis von Briefen und Berichten der Reisebegleiter des Prinzen im Brandenburgischen Ulysses (1668) literarisch verarbeitete.294 Die Rede erregte beträchtliches Aufsehen, erschien gleich im folgenden Jahr in der Übersetzung Caspar von Liliens bei dem ersten Bayreuther Drucker Johann Gebhard, wurde wiederholt neu aufgelegt und in dem einschlägigen panegyrischen Schrifttum auf den Fürsten stets gebührend gewürdigt. Aufschlußreich ist nun im vorliegenden Zusammenhang die Diskrepanz in der Optik des regierenden Fürsten und des bürgerlich gelehrten Hofdichters vom Schlage Birkens. Der junge Fürst hatte seine Straßburger Rede als dezidierte Absage an die machiavellistische Staatstheorie konzipiert und damit die in Bayreuth unter der Generalsuperintendentur von Caspar von Lilien eindeutig favorisierte protestantisch-theologisch ausgerichtete Fürstenspiegel-Literatur begründet: Dann welcher/ mit Hindansetzung des gemeinen Besten und Nutzen der Unterthanen/ auff nichts/ als auf seinen eigenen Nutzen dencket/ oder der Oberbotmässigkeit nach eigener Begierde mißbrauchet/ oder aber unter prächtigem Vorwand des gemeinen Besten gleichwol nur auf die Aufname seines Hauses und Geschlechtes bedacht ist/ und dahin mit aller seiner Sorge und Verstands=Vermöglichkeit einig und allein zielet und spielet: Ein solcher wird den Namen eines löblichen Fürsten nimmermehr behaubten. Sintemal alle Welt=Herren zu dem Ende/ von dem höchsten Himmels=Herren eingesetzet sind/ daß sie das gemeine Wesen sorgsam beobachten/ und aller Unterthanen Wolwesen befestigen sollen. [...] Ob nun wol von einem ieden löblichen Regenten/ damit er den seinen glücklich vorstehen/ oder in unruhigen Zeitläufften/ sie wider alle Gewalt beschützen und versichern könne/ viele und sonderbare Tugenden erfordert werden/ so ist ihm doch keine mehr=unvermeidlich vonnöhten/ als wahre ungeschminckte GOTTESFURCHT/ welche alle Göttliche und die meisten in einem Staat hochherrliche Sachen/ die allgemeine Glückseligkeit und Wolfart/ und so wol des Oberherrn als der Unterthanen Bestes/ unterstützet und befestiget.295
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Vgl. Kröll: Bayreuther Barock und frühe Aufklärung (Anm. 292), Teil II, S. 55 (Vorwort). Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth: Kunst=Rede [...]. In Lateinischer Spache gehalten auf der Hohen Schul zu Straßburg/ den 21. April. 1659.- Bayreuth: Gebhardt 1660. – Zur Datierung der ersten Auflage des ›Brandenburgischen Ulysses‹ vgl. Klaus Garber: Die Tagebücher Sigmund von Birkens. Einige Erwägungen anläßlich ihrer Edition.- In: Euphorion 68 (1974), S. 88–96, S. 93 f. So jetzt auch Kröll: Bayreuther Barock und frühe Aufklärung (Anm. 292), Teil I, S. 66, Anm. 46, und ders.: Der Bayreuther Hof zwischen 1660 und 1670 (Anm. 292), S. 206, Anm. 56. Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth: Kunst=Rede (Anm. 294), S. 5 f.
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Dies der in der ganzen Rede durchgehaltene Tenor, der mit einer vehementen Zurückweisung jedweder ideologiekritischen Entlarvung der religiösen Sanktionierung staatlicher Gewalt einhergeht: So mögen demnach die Gottsvergessene Ränckschmiede und Staatskünstler schweigen/ und sich von hinnen machen/ welche durch ihre böse und verfälschte Staatkunstgriefflein ein gemein=Wesen zu regiren/ und aus ihrem Mensch=Gehirne alles hindurch zu karten gedencken. Dahero wird die GOttesfurcht verachtet/ oder doch wenig geachtet/ oder gar vor eine solche Sache geschätzet/ welche von den Menschen nach Art eines zugelassenen nützlichen Betrugs/ zu Erhaltung Menschlicher Gemeinschafft/ löblich erfunden worden: Auch alles was von GOtt/ seiner Vorsehung und wahrer GOttesfurcht mit Grund der Warheit von andern gelehret und geglaubet wird/ als ein Staats=Kunstgrieff/ die Unterthanen desto leichter in Gehorsam zu halten/ weißlich eingeführet/ und ein sonderlich Probstuck Menschlicher Klugheit zu seyn gehalten. Welches ja der äussersten Gottloßigkeit höchste Staffel und eine recht=teufflische Bosheit ist.296
In der Rede Christian Ernsts findet sich jedoch kein einziger Satz, welcher den Pflichten des Regenten in Bezug auf Kunst und Wissenschaft gewidmet wäre oder die Rolle des gelehrten Dichters für das Gedeihen des Fürstentums herausstellte. Dies zu tun, blieb den Dichtern selbst überlassen. Darin wird wiederum deutlich, welcher permanenten Anstrengung es bedurfte, die Fürsten auf das neue, nur im Umkreis der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ zeitweilig verankerte Kulturprogramm festzulegen. Natürlich mußte Birken hier wieder seine Aufgabe sehen. Schon in seinem der Kunstrede beigegebenen ›Unterthänigen EhrenZuruff‹ umspielt er die Topoi des ›Künste-Printzen‹. In seinen beiden Bayreuther Schaustücken anläßlich der Hochzeit Christian Ernsts mit Erdmuthe Sophie von Sachsen, dem Ballet der Natur und dem Singspiel/ betitelt Sophia (beide 1662) verfolgte der Dichter diese Linie weiter. Reichlich Anlaß dazu bot die poetisch-allegorische Behandlung des Namens ›Sophia‹. Es ist die Göttin der Weisheit im Bündnis mit Eusebie und Sophrosyne, die auf den Erwerb von ›Kunst und Tugend‹ – schon hier bei Birken eben diese Formel – des Prinzen vor Antritt der Regentschaft besteht: Jch will/ mit treuem Fleiß/ Kunst=tränken seine Sinnen! Er bleib SOPHIen Sohn! Jch setz’ Jhn/ eh Jhn wird der Fürsten=Thron gewinnen/ erst auf den Musen=Thron. dann soll Er auch in fremde Länder reisen. Euch bitt’ ich/ ihr Gespielinnen: ach seit bemüht/ den Weg Jhm selbst zuweisen/ mit Jhme aus= und ein zugehn.297
Die widerstrebenden Göttinnen Hedone und Amathia wissen alsbald, was ihnen von einem derart gerüsteten Prinzen zu gewärtigen steht: ––––––––– 296 297
Ebd., S. 7 f. Sigmund von Birken: Singspiel/ betitelt SOPHIA: zu Des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Christian=Ernstens Markgravens zu Brandenburg/ [...] mit Der Durchleuchtigsten Chur Princessinn/ Freulein Sophien=Erdmuht/ Herzoginn zu Sachßen/ Gülich/ Cleve und Berg/ [...] Hochfürstlichem Beylager/ unterthänigst übergeben.- Bayreuth: Gebhardt 1662, Bl. A2v.
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Wer zu Künsten träget Gunst/ ist gerüst/ mich zubekriegen. Beyde sind wir in Gefahr/ daß wir dißmal unterligen. Obern/ sind der Untern Fürbild. Sonnen/ machen alles liecht. Nach des Fürsten Thun und Leben/ aller Leute Thun sich richt. Sitzt die Frommkeit auf dem Thron/ da wird bald das Land voll Frommen. wo die Kunst das Scepter führt/ haben Künste zugenommen.298
Die Weisheit des Fürsten, von der Christian Ernst in Straßburg gesprochen hatte, schließt, wie Birken hier nicht zufällig ergänzt, das Augenmerk auf die Künste ein: WAnn die Fürsten sind die Weißen/ wann die Götter Föben heißen: ach das ist die höchste Zierd. Man wird sie als Sonnen preißen/ weil durch sie erleuchtet wird dieses Menschenhaus der Erden/ und die Künst’ erhalten werden.299
Natürlich ließ sich der Dichter dieses Thema nicht entgehen, als er Gelegenheit bekam, unter der strengsten Aufsicht Caspar von Liliens – die derjenigen Lambecks im Auftrag der Habsburger bei der Einrichtung des ›Ehrenspiegels‹ nicht nachstand – die Aufzeichnungen und Berichte der Studienreise des Prinzen zu einem großen Itinerarium zusammenzuschweißen. Fürsten, denen der Staat anvertraut ist, müssen besonders sorgfältig erzogen werden und extensiven Kontakt mit den Wissenschaften gehabt haben, so heißt es gleich einleitend unter dem Titel »Fürsten sollen weyß und gelehrt seyn«. »Ungelehrte Regenten sind/ wie Sie Plutarchus vergleichet/ stumme und thumme SeulBilder und Statuen/ welche zwar von ausen prächtig erscheinen/ aber inwendig voll Erden/ Sand/ Staub und Spinneweben stecken.«300 Und dann folgt erneut eine Genealogie weiser und gelehrter Regenten. Birken konnte sich hier an seinen Ostländischen Lorbeerhayn anlehnen. Zu den dort überlieferten Logien tritt hier eines aus dem Munde Kaiser Sigismunds: Kais. Sigismundus hielte vor einen dem Adel übel-anständigen Titel/ Nichts-wissend und ein Idiot seyn. Er pflage auch/ in Bestellung der Aemter/ die Gelehrten den edelgebohrnen vorzuziehen/ sagend: Der Geburt-Adel komme vom Glück zu/ aber Gelehrte würden von GOtt mit Tugend und Weißheit geadelt.301
Eindringlicher könnte das Interesse der bürgerlichen Gelehrten aus dem Munde fürstlicher Regentschaft nicht zur Geltung gebracht werden. ––––––––– 298 299 300
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Ebd., Bl. B1r. Ebd., Bl. C1v. Hier und im folgenden zitiert nach der erweiterten Auflage letzter Hand: Sigmund von Birken: HochFürstl. Brandenburgischer Ulysses: oder Verlauf der LänderReise/ welche Der Durchleuchtigste Fürst und Herr/ Herr Christian Ernst Marggraf zu Brandenburg/ [...] durch Teutschland/ Frankreich/ Jtalien und die Niederlande höchstlöbl. verrichtet: Aus denen Reis-Diariis zusammengetragen und beschrieben [...].- Bayreuth: Gebhardt 1676, S. 45. Ebd., S. 48 f.
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Pastorale und Patriziat Mit der Frage, wie sich neben den regierenden Fürstenhäusern das Bild des stadtadeligen Nürnberger Patriziats in der Gattung der Schäferei ausnimmt, erfolgt die Rückkehr zum pastoralen Genre im engeren Sinn. Die hier wiederum nur in Auswahl heranzuziehenden Beiträge Birkens stammen aus den späten sechziger und den siebziger Jahren, gehören also der letzten Schaffensperiode des Dichters an. 1667 gab die Hochzeit Carl Gottlieb von Harsdörffers Gelegenheit, die Erinnerung an den Gründer des Ordens und die Frühzeit der Gesellschaft zu erneuern. In der Gestalt Harsdörffers verfügte die Gesellschaft über ein prominentes Mitglied, an dem sich die bruchlose Verschränkung von Standesprivileg und Geistesadel hervorragend exemplifizieren ließ. So nimmt es nicht Wunder, daß im SchäferSpiel Der Ehre Des Ruhmseligsten Spielenden (1667) neben Zitat und Analyse des dichterischen Werkes Harsdörffers durch die Pegnitzschäfer eben dieser Zusammenhang beträchtlichen Raum in den Gesprächen einnimmt. Der ausdrückliche Rückverweis auf Opitz bezeugt nochmals, wie sehr der Begründer der neuen deutschen Kunstdichtung eben auch und gerade durch sein kulturpolitisches Konzept die Artikulation der standesspezifischen Interessen befördert hatte: Es hat ja auch diese seine Dichtkunst/ setzte Myrtillus hinzu/ seine Stands=Hoheit noch mehr vergrössert/ und sie über sich selbst erhaben. Also hielte er auch davor/ unterredete Alcidor/ und ware denen abgeneigt/ welche Kunst und Wissenschaft dem Geburts=Adel nachtheilig zu seyn achteten/ und vermeinten/ daß nur eiserne Häubter in den stälern Helm schlieffen müsten. Jch halte den Stand und Verstand=Adel/ sprach Ferrando/ vor die Zwillingsterne am Himmel/ deren keiner ohne den andern leuchtet. [...] Jch erinnere mich fast wohl/ sagte Floridan/ daß ich mehrmals aus seinem Mund folgenden Opitzischen Viervers gehöret: Solt ich mich schämen dann des Nahmens der Poeten? Jst Kunst und Wissenschaft dem Adel nicht vonnöten? Stand blühet durch Verstand. Hätt ich nicht Stand gehabt/ so hätte doch Verstand mit Adel mich begabt. Dannenhero/ unterredete Alcidor/ hat er/ um/ nicht nur Erben seiner Glücks= sondern auch der Gemüts=Güter zu verlassen/ seinen Edlen Söhnen Kunst und Wissenschaft von der Wiegen an eingeflösset: Massen sie auch schon in ihrer Kindheit Proben der mannlichen Wissenschaft geleistet. Eine Anzeigung unserer Ehr=Schuld zu geben/ sagte hierauf Myrtillus/ will ich diese Ehren=zeilen dem Seelig=Edlen Strefon Himmelwerts opfern: Adler in dem Adelstand! der mit Hitz und Witz sich schwinget über jenes Wolken=land! deine Art es mit sich bringet/ daß aus deinem Stammen=Haus fliegen keine Tauben aus. Es bezeugt der Edle Sohn/ den Rosillis Lieb=erhitzet/ daß der Dichter Lorbeerkron/ schön auf Adel=Helmen sitzet;
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daß der Stand sich durch Verstand mit dem Himmel macht verwandt.302
So wird in der Huldigung Harsdörffers und seines Sohnes schon deutlich, in welchen Rahmen das Bild des Nürnberger Patriziats in den späten Schäfereien Birkens eingepaßt ist. Noch einmal ergab sich für den Dichter die Möglichkeit, das große Thema seines Lebens in der Glorifizierung der berühmten Nürnberger Geschlechter zur Geltung zu bringen. Denn stets erscheint der Gepriesene als Inbegriff eines harmonischen Miteinanders von Herkunft und erworbenen Geistesgaben. Was derart nur eine affirmative Geste darzustellen scheint, hatte für das Zeitalter stets auch eine verpflichtende, kritisch-utopische Komponente, in die die Hoffnung der Gelehrten auf angemessene Integration in den ständischen ordo eingegangen war. So heißt es von Georg Gabriel Paumgärtner, dessen Vater zu einer der sieben ›Rats-Seulen‹, also der sieben älteren Bürgermeister gehörte, er sei nicht allein zu Haus zu löblichen Künsten und Wissenschaften/ auch zur Gottes= und Tugend=Liebe/ sorgfältig angewiesen worden; sondern [habe] auch drausen/ in beseh= und besuchung fremder Länder/ ihme den schönsten Vorraht von Adelichem Gemüts= und Sitten=wesen verwandt und eigen gemacht.303
Entsprechend ist auch im Trauergedicht anläßlich des Todes von Burkhardt Löffelholz, vordersten Losungers der Stadt, die Tendenz erkennbar, die Legitimation der stadtadeligen Abkunft in der Tugend des Patriziers zu suchen und als Beweis dafür dessen ausgedehntes Studium in Heidelberg, Leiden und Oxford sowie die damit einhergehende große Bildungsreise, wie sie im Patriziat üblich war, einzuführen.304 Und im Norischen Parnaß schließlich, der dem berühmten Nürnberger Geschlecht der Fürer von Haimendorf gewidmet ist und, wie üblich, deren Genealogie rekonstruiert, akzentuiert Birken wiederum die koinzidierenden Momente im Leben Fürers und der Hirten-Poeten an der Pegnitz. Ebenso wie die Schäfer hat es Georg Sigismund Fürer von Haimendorf vorgezogen, draußen auf seinen Ländereien, auf denen als Verheißung der Abglanz Edens liegt, zu weilen: Seine gröste Freude/ war dieser sein Himmelgarten: und pflage er/ wann er durch das Thor der Norisburg hieher abfuhre/ auf der Brücke alle seine Staats= und andere Sorgen in den Graben zu werfen/ um allhier mit ganz freyem und Freud-fähigem Gemüte seine Ruhe zu finden.305
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Sigmund von Birken: Schäfer-Spiel: der Ehre Des Ruhmseligsten Spielenden und Seines Edlen Ruhm=Ordens/ in dem Pegnesischen Lindenthal gewidmet durch die Pegnitz=Hirten.- [s.l.] [1667], Bl. B1r f. Sigmund von Birken, Martin Limburger: Norisches Hirten=Gespräche: von Etlichen Weidgenossen an dem Pegnitz=Strand abgehandelt/ und aufgezeichnet [...].- Nürnberg: Felsecker 1667, Bl. B2r. Der Norische Metellus oder Löffelholzisches Ehrengedächtnis/ [...] aufgerichtet durch Die Blumgenoß-Schäfere/ an der Pegnitz.- Nürnberg [s.p.] 1675, Bl. c1r ff. Sigmund von Birken: Der Norische Parnaß und Irdische HimmelGarten: [...] bewandlet und behandlet von Floridan/ in geleitschaft seiner Weidgenossen.- Nürnberg: Gerhard 1677, S. 29.
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Natürlich assoziiert sich mit einer solchen Lebensführung alsbald die Tradition des philosophisch-poetischen Landlebens, in die sich der Gelehrte eingerückt sieht: Unser Grosser Fürer/ zeigte bald in seinen ersten Jahren/ wie er mehr Lust hätte/ zu Büchern als zu Bechern/ zu den Musen/ als zu den Maßen: maßen er auch jederzeit die eitle Gesellschaften gern vermieden/ und allein die Weißheit zu seiner Gespielin erwehlet.306
Daß dieser Patrizier der Pegnitz-Gesellschaft zudem wohlgesonnen war, gab Anlaß zu zusätzlicher Dankbarkeit.307 So hebt der Dichter am Gefeierten hervor, was geeignet war, das Ansehen von Kunst und Wissenschaft zu vergrößern, und damit zur sozialen Reputation ihrer Verwalter beitrug. Der latente Konflikt zwischen Patriziat und Gelehrtentum, von dem eingangs die Rede war, findet sich nirgendwo thematisiert; indirekt freilich leisten alle diese schäferlichen Gelegenheitsgedichte einen Beitrag zur Aufwertung des bürgerlichen Gelehrtenstandes im Rahmen der nun hinlänglich deutlichen Schemata.
Emanzipation der Frau Abschließend mag es gestattet sein, die Aufmerksamkeit auf einen Sachverhalt zu lenken, der den zweifelhaften Vorzug hat, vom Nimbus unmittelbarer Aktualität umgeben zu sein. Birken hat dem Orden eine Reihe bedeutender Frauen gewinnen können, unter denen Catharina Margaretha Dobenecker (Silvia) und Maria Catharina Stockfleth (Dorilis) dichterisch hervorragen.308 Die Mitglieder des Ordens haben diesen Vorgang nicht als zufälligen oder belanglosen behandelt, sondern ihn der Reflexion für wert befunden. Wenn irgendwo die Rede von der ständeübergreifenden Kraft des Tugend- und Geistesadels sich materialisierte und praktische Konsequenzen zeitigte, so im nahezu vorbehaltlosen Bekenntnis zur Gleichrangigkeit von Mann und Frau jenseits der geschlechtsspezifischen ephemeren Differenzen. Die städtische Gesellschaft mit ihrer Rekrutierungsbasis im studierten Mittelstand konnte nicht den gleichen Anspruch auf einen zwischenständischen Ausgleich von Fürstentum, Adel und bürgerlichen Gelehrten geltend machen, wie ihn wenigstens zeitweilig die Fruchtbringende Gesellschaft zum Programm erhob. Der Adel orientierte sich ausschließlich zur fürstlichen Gesellschaft hin. Der Pegnitzorden vollbrachte das in seinem sozialen Rahmen Mögliche, indem er mit aller Konsequenz, die allenfalls eine gewisse Parallele ––––––––– 306 307
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Ebd., S. 36. Vgl. Sigmund von Birken: Der Norische Föbus.- In: ders.: Teutsche Rede-bind- und DichtKunst (Anm. 7), S. 341–388, S. 365. Zu Catharina Margaretha Dobenecker ausführlich mit reichhaltigem Quellenmaterial Joachim Kröll: ›Die Ehre des Gebirges und der hohen Wälder‹: Catharina Margaretha Dobenecker, geborene Schweser.- In: Daphnis 7 (1978), S. 287–339. Dort auch Abdruck und Interpretation eines hofkritischen Schäfergedichts der Dobeneckerin. Zu Maria Catharina Stockfleth vgl. unten S. 328 ff.
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in Zesens ›Teutschgesinneter Genossenschaft‹ hat, dem weiblichen Geschlecht den Zugang zur Praktizierung von Wissenschaft und Kunst eröffnete und dafür beachtliche Argumente beibrachte. Entscheidende Schrittmacherdienste hatte Harsdörffer mit seinen Frauenzimmer-Gesprächspielen geleistet. Der programmatische Einsatz für die Frauen wurde aber auch insofern erleichtert, als mit der geistlichen Lyrik der Catharina Regina von Greiffenberg und dem großen allegorischen Schäferroman Maria Catharina von Stockfleths aus dem Orden bzw. seinem direkten Umkreis Werke hervorgegangen waren, die keinen Vergleich zu scheuen brauchten. Wie fast immer bei den Nürnbergern ist auch dieses Thema quellenmäßig glänzend bezeugt; hier reicht ein Blick auf das prononcierteste Stück: Birkens Fürtrefflichkeit des Lieblöblichen Frauenzimmers (1669).309 Das Gespräch der Pegnitzschäfer nimmt seinen Anlaß und Ausgang von den vier »Kunst- und Tugend-belobten Hirtinnen« des Ordens:310 »Unsre lob= und liebwürdigste Schäferinnen/ glänzen nicht allein von äuserlicher Schönheit des Leibes/ sondern auch Tugend leuchtet aus ihrem Herzen/ und Weißheit aus der Seele/ wie wir an ihren Sitten und Reden/ als an den Stralen/ erkennen«.311 Ausdrücklich weist einer der Männer, der Gatte der Stockfleth, die weit verbreitete Meinung, die Männer überträfen die Frauen in den Wissenschaften, als ›Wahn‹ und ›Männliche Tyranney‹ zurück.312 In Dorilis habe der Orden ein lebendiges Beispiel vor Augen: Jn ihren Sitten/ ist nichts als Adel: und welches das seltsamste/ ohne alle Eitelkeit. Jhr Gedächtnis/ von der Vielbelesenheit erfüllet/ und mit dem reifsten Urtheil allemal vergesellschaftet/ machet sie höchst-redseelig. Jhr Verstand/ sihet allen Sachen auf den Grund/ und setzet sein Aug in den Mitteldupf/ alle Umstände auf einmal zu überschauen.313
Anschließend nimmt das Gespräch eine Wendung ins Grundsätzliche, und wieder leistet das biblische Zeugnis in seiner zumeist die progressiven Kräfte freisetzenden schöpfungstheologischen Schicht entscheidende Argumentationshil––––––––– 309
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Zum Vergleich der hier vorgetragenen Argumente sind heranzuziehen Birken: Floridans Lieb= und Lob-Andenken seiner Seelig-entseelten Margaris (Anm. 7), S. 275 ff.; Der Norische Metellus (Anm. 304), Bl. a3v f. Wiederholung der Argumente bei Martin Limburger: Die belobte Nelken-Matten [...].- [s.l.] 1679, Bl. A3v. Vgl. auch Birkens ›Vor-Ansprache zum edlen Leser‹ in Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette/ Lieder und Gedichte.- Nürnberg: Michael Endter 1662. Reprint mit einem Nachwort zum Neudruck von Heinz-Otto Burger.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, Bl. ʌ7r–2ʌ9r, sowie vor allem Heinrich Arnold Stockfleth: Die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie (Anm. 363), S. 374 ff.; Maria Katharina Stockfleth: Die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie (Anm. 366), S. 452 ff. Vgl. schließlich auch Limburger: Die Betrübte Pegnesis (Anm. 196), S. 172 f. Sigmund von Birken: Fürtrefflichkeit des Lieblöblichen Frauenzimmers: bey Beglückwünschung der Hochzeitlichen EhrenFreude des Ehr= und Preißwürdigen PegnitzSchäfers Dorus und der Tugend= und Kunst-beEhrten PegnitzSchäferinn Dorilis/ in einem FrülingsGespräche vorgestellet von der Pegnitz-Gesellschaft.- [s.l.] 1669, S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
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fe.314 So habe man von dem unumstößlichen Sachverhalt auszugehen, »[d]aß das Weib dem Manne/ auser dem Geschlechts-Unterschied/ allerdings gleich erschaffen«.315 Wie aber solle die kreatürliche Anlage zur Ausbildung kommen, fragt Dorilis, wie solten wir zur Vollkommenheit gelangen/ da man unsere Fähigkeit in der Blüte sterbet/ uns zuhaus gleichsam gefangen setzet/ und/ als wie in einem Zuchthause/ zu schlechter Arbeit/ zur Nadel und Spindel/ angewöhnet? Man eilet mit uns zur Küche und Haushaltung/ und wird manche gezwungen/ eine Martha zu werden/ die doch etwan lieber Maria seyn möchte. Ja so gar sind wir zur Barbarey und Unwissenheit verdammet/ daß nicht allein die Manns=Personen/ sondern auch die meisten von unserem Geschlecht selber/ weil sie in der Eitelkeit und Unwissenheit verwildert sind/ uns verachten und verlachen/ wann eine und andere auf löbliche Wissenschaft sich befleissiget/ und nichtes auf Gelehrte Weibspersonen halten.316
Es sind traditionale soziale Mechanismen, die – konfrontiert mit dem Schöpfungsstand – ihr depraviertes Wesen enthüllen: Man gibt uns den Titel/ und will/ daß wir Tugendsam seyn: wie können wir es aber werden/ wann man uns das Lesen der Bücher verbietet/ aus welchen die Tugend muß erlernet werden? Soll uns dann dieselbe/ wie die gebratene Tauben in Utopien/ aus der Luft zufliegen? Auf Verstand-übung und Tugend-erkentnis/ folgen vernünftige tugendhafte Werke.317
Die antike epistemologische Fundierung von Moral gibt so im Umkreis des gelehrten Humanismus des 17. Jahrhunderts ihren emanzipatorischen Gehalt frei. Das Kichern des Weibes auf der anderen Seite über die gelehrte Welt, die sich die Männer geschaffen haben, enthüllt in dieser Perspektive das Nichtswürdige der Sozialisation der Frau. Rührt es nicht daher, weil sie nichts weiß oder verstehet? weil sie von der Verstand= und Tugend-Lehre ausgeschlossen worden? warüm müssen wir also in einer aufgedrungenen Unwissenheit verderben/ und den Namen der Einfalt ohne Schuld erdulten? Sind wir dann nicht sowol Menschen/ als die Männer? Nun ist/ der Verstand und die Rede/ des Menschen Eigenschaft/ die ihn von den unvernünftigen Thieren unterscheidet: warüm sollen wir dann unsern Verstand nit ausüben dörfen? Und wovon sollen wir nutzlich reden/ wann man uns verbietet/ etwas zu lernen? Sollen wir dann geringer seyn/ als Hunde/ Pferde/ Elefanten/ Fabianen/ Affen/ Meerkatzen/ Papegoyen und andere verstandlose Thiere/ denen man allerley Künste lehret/ und sie zum Reden angewöhnet?318
Während viele schäferliche Dialoge nach dem Austausch der rhetorisch präfabrizierten Sequenzen im Unentschiedenen enden, wird in diesem Diskurs – genauso wie in den Verhandlungen über den wahren Adel – ein kompromißloses und unmißverständliches Fazit gezogen: »Unsere kluge Dorilis/ (sagte Ferrando) hat wohl hochvernünftig von der Sache geredet. Es ist diß eine grosse Unge––––––––– 314
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Daß es auch in dieser Überlieferungsschicht der Genesis und ihrer neutestamentlichen Auslegung Logien gibt, die einer reaktionären Interpretation Vorschub leisten, zeigt der Birkensche Text etwa ebd., S. 51 f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 36 f. Ebd., S. 37 f. Ebd., S. 38 f.
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rechtigkeit der Männer/ die das Weibliche Geschlecht tyrannisiret.«319 Entsprechend habe der ›Pegnesische Blumenorden‹ theoretisch und praktisch das Seine dazu beigetragen, wie die Mitglieder des Ordens abschließend befriedigt feststellen können, daß unsere Nation [!] heutigs tags auf einmal von Sechs HochFürstlichen ErdGöttinnen/ Zweyen Hochwolgebornen Nymfen und vielen Schönsten Hirtinnen geadelt wird/ welche alle ihren Namen durch die Kunst- und Tugend-Feder berühmt machen.320
Es ist der niedere Stand der Schäfer, in welchem das stände- und geschlechterübergreifende Bündnis der Tugendhaften und Wissenden Realität wird. Davon spricht das Gedicht auf Dorus und Dorilis, deren Vermählung den Anlaß zu diesem bedeutenden pastoralen Werk Birkens gab: 1. Tugend! stehe still! zu sehen/ dorten/ wie das Edle Par/ mit der Pegnitz-Hirten-Schar/ wird ein liebes Fest begehen/ dessen du die Urquell bist. Du/ der keuschen Liebe Stamme! hast die Flamme Jn die Herzen eingesenket; so die Ursach ist daß izt eines sich dem andern schenket. 2. Hier hat der Verstand erwehlet Weisheit sich zu seiner Braut: Tugend wird mit Kunst getraut/ Schönheit sich mit Witz vermählet. Nicht ein blosser Ausen-Schein; Auch die Tugend-Thaten gleisen und erweisen Was der Sinn im Sinne führet: Daß die Herze rein Und mit Keuschheit-Zierde sey bezieret. 3. Zwar die Tugend wird beschönet nit von einer Ausen-Zier: Sie ist alle Zierde Jhr/ Tugend selbst die Tugend krönet. Doch/ wird ja ein schlechter Hirt/ Vor dem/ der im Golde prachtet/ nicht geachtet. Wann ein Engel-Angesichte ist der Tugend Wirt/ scheinet Sie mit doppelfachem Liechte.
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Ebd., S. 39. Ebd., S. 39 f.
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Pastorales Memorialwerk für Birken Birken, unentwegt um Verewigung von Leben und Werk besorgt, scheint auch für ein angemessenes pastorales Epicedium noch selbst Vorsorge getroffen zu haben. Martin Limburger zumindest, Nachfolger Birkens in der Leitung des Ordens, bekennt in der Vorrede zur Betrübten Pegnesis aus dem Jahr 1683, daß er mit diesem Werk nichts anderes verfolge »als die Entrichtung seiner Schuld/ die ihn durch die Wolneigung und letzten Willen des Seelig Erwachsenen zugewachsen« sei.322 Wieder handelt es sich, wie durchweg bei den Pegnesen, um ein poetisches Gemeinschaftswerk. In seinem Mittelpunkt steht die Vergegenwärtigung der Biographie des 1681 verstorbenen Oberhaupts der Gesellschaft. Sie schöpft vor allem aus Birkens lateinischer Autobiographie. Da diese nur bis zum Jahre 1653 reicht, verliert auch die Rekapitulation von Birkens Vita in der Betrübten Pegnesis im Blick auf die späteren Lebensjahre an Dichte, einzelne Stationen ausgenommen. Der Nachlaß selbst, den Andreas Ingolstädter verwahrte, habe für die Biographie nicht ausgewertet werden können.323 Der im Gespräch der Hirten in die Erinnerung zurückgerufene Lebensweg Floridans ist, wie immer bei den Nürnbergern, Anlaß für Kommentar und Deutung. Merkwürdig und vielleicht doch nicht zufällig, daß gleich zu Beginn und noch zu wiederholten Malen Birkens großes Thema des wahren Adels und das Verhältnis des Dichters zum Hof in die Debatte eingeführt werden. Möglicherweise leiteten sich die Birkener von einem im 14. Jahrhundert bezeugten adeligen Geschlecht her. Birken freilich habe diese Abstammung mehr für Wahn als wahr angenommen. Er ware vergnügt (setzte Polyanthus hinzu) ein Nachkömmling Adams zu heissen/ den Gott selbst aus der Erde erschaffen/ und ihme seinen unsterblichen Athem/ die Seele/ eingeblasen. Der blosse GeburtAdel/ der sich nur in der Ahnen Wappen-Röcke einwickelt (bekräfftigte Poliander) und nicht mit eigenem Tugend-Tuch bekleidet/ fande bey ihm keine Hochachtung.324
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Ebd., S. 58 ff. Limburger: Die Betrübte Pegnesis (Anm. 196), Bl. ʌ6v. Vgl. ebd., S. 258. Ebd., S. 39.
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Daß Birkens Neigung zu offenherziger Rede mit den Gesetzen höfischen Verhaltens kollidierte und nach Meinung seiner Mitschäfer den Grund für den raschen Abschied von Wolfenbüttel gebildet habe, wurde schon erwähnt.325 Es liegt ganz auf der Linie des bisher Erörterten, wenn die Aufnahme von Adligen unter Birkens Präsidentschaft als Bekräftigung der These begriffen wird, daß Kunst und Tugend die Adelswürde erhöhen: Es hat sich auch (setzte Lilidor hinzu) weder der freye Herren= noch Adel=Stand gescheuet/ dem seeligen Fürsteher in seinen Kunst=Sätzen zu gehorchen/ und sich mit den Blum= genossen zu vereinigen. Der Zweck (erwiderte Myrtillus) nach welchen Diese zielen/ die Ehre Gottes/ teutsche Red/ und Redlichkeit/ wird keine Stand=Hoheit ringern/ sondern vielmehr vermehren: weswegen auch Königliche/ und Fürstliche Räthe/ Ober=geistliche/ hohe Schul=Lehrer/ u.a.m. dieses Band/ welches sie bindet/ zu lösen nicht verlangen.326
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Vgl. oben S. 280. Limburger: Die Betrübte Pegnesis (Anm. 196), S. 214. Diese Partie hat eine wichtige Entsprechung in der Diskussion über Satzung und Zusammensetzung des Ordens in Birken: Floridans Lieb= und Lob-Andenken seiner Seelig-entseelten Margaris (Anm. 7), der vielleicht wichtigsten programmatischen Äußerung Birkens überhaupt. Ausgangspunkt ist die Frage: »Ob nicht/ die löbliche Blumgenosschaft/ auser ob-angeregten dreyen der Sprachübung/ Gottes=Ehre und Tugend-Lehre/ mit noch mehrern Gesetzen gefasset und beschränket sey? Es sind ja derer noch etliche: (gabe Floridan zur antwort/) die aber meist aus den vorigen entspringen. [...] Wir werden/ durch die PassionBlum/ zur JESES- Liebe; und durch das weiße Band/ zur Gemüts-Unschuld/ zum unbefleckten erbaren Wandel/ zu aufrechter alt-Teutscher redlicher Treu/ angemahnet. Müssen aber/ (fragte Meliböus ferner/) alle Blumgenoßen/ Gekrönte Dichtere seyn? Es ist ja/ (antwortete Floridan/) damit unser Orden zu förderung Teutscher Sprach Aufname/ sinnreiche Geister sammele/ beschlossen worden/ nur solche/ und die diesen Ehrenkranz würdig tragen/ in die Gesellschaft aufzunehmen. Dafern aber ein= und anderer Liebhaber und Schutz= Freund der Gottes= und TugendLiebe/ auch Teutscher Sprach-Ubung/ deme die DichterKrone/ Stands und Beruffs halber/ nicht anständig ist/ zu uns tretten wolte/ ist er an dieses Gesetze nicht verbunden/ und uns genüget/ wann das Lobgerüchte ihn mit dem Ruhm der Gottseeligkeit und Tugend krönet: wie dann/ von dem Apollo/ als Vorstehern der Künste/ das LorbeerLaub oder Haar seiner Dafne/ nicht allein den Poeten/ sondern auch der dapferen TugendHelden/ gewidmet worden. Jm übrigen/ erfordern wir von unseren Gekrönten/ daß sie auch andere Sprachen/ Künste und Wissenschaften/ zumal ohne das die DichtKunst derer aller Wolkündigkeit erfordert/ ihnen bekant und verwandt machen sollen. Wir wollen auch/ d[a]ß sie nicht abgeschmacke Reimenleimere seyen/ noch/ diese schöne heilige Musen mit unschambarem und Satyrischen Geschmitze befleckend/ GOtt und Menschen beleidigen; auch dieselben nicht/ wie der Reimschmierers Pöbel zu thun pfleget/ zu jedermanns LohnMetzen machen: sondern/ in ihren Gedichten/ aller Erbarkeit/ auch einer recht-Poetischen geistigen Schreib-art/ sich befleißigen sollen. Und damit/ der Gesellschaft zu Schmach/ aus übereilung hierwider nicht gehandelt werde/ wird jeder Gesellschafter ihm nicht misfallen lassen/ über eine Schrift/ die er ans Liecht geben will/ wo nicht der ganzen Gesellschaft/ doch einem oder zweyen Blumgenoßen/ eine freundliche Beurtheilung abzuheischen.« (S. 269 ff.). So treten die sozialen Grenzen, die der bürgerlich-gelehrten Gesellschaft nach oben hin gesetzt waren, deutlich hervor. Die Dichterkrönung, die für den Gelehrten bürgerlicher Herkunft als Mittel ständischer Aufwertung fungiert, ist für den Adligen nicht standeswürdig; er bleibt auf die ›Fruchtbringende Gesellschaft‹ verwiesen. Auch dies ist von Birken klar ausgesprochen worden. Die Embleme des Ordens, Passionsblume und Panpfeife, seien aus Silber: »Das Gold/ (gabe Floridan zur antwort/) überlassen wir den höheren Orden.
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So leistet auch die städtische Gesellschaft ihrem eigenen Selbstverständnis nach im Medium von Religion und Moral, Wissenschaft und Kunst einen Beitrag zur Restitution von Gleichheit auf der Basis von Werten, die alle Menschen als Gattungswesen verbinden. Diesem überständischen Zusammenschluß der Gesellschaft mag noch kein Bewußtsein von der politischen Dimension dieses Vorgangs innerhalb der Ständegesellschaft innegewohnt haben. Daß er eines Tages als Paradigma menschenwürdigen Zusammenlebens der bestehenden Gesellschaftsordnung entgegengehalten wird, sichert ihm seine in die Zukunft weisende Funktion. Dieses Ethos verkörpert sich im Schäferstand. Es wird festen Gattungsgesetzen gemäß in Antithese zum Hof entfaltet, aber dieser Antithese ist ein latentes soziokulturelles und politisches Konfliktpotential inhärent. Auch Floridans Vita resümiert sich im Rahmen der abschließenden Charakteristik in der prototypischen und sinnbildhaften Ausformung dieser Wahrheit: Mund und Mut war bey Jhm einstimmig/ und hassete er geschminkte Lippen und Wangen. Dannenhero (versetzte Celadon) scheuete er das Hof=leben/ weil er dafür hielte: die reine Wahrheit wäre gemeiniglich daselbst zu einem ewigen Fastnacht=Spiel verdammet; weil ihr ohne Larve zu erscheinen nicht erlaubet/ und/ bey allem Uberfluß/ an ihr ein Mangel sey. Er war hierinnen (nach Fontanens Zusatz) ein allgemeiner Lehrmeister der Teutschen/ die billich ihre Verstellung/ die sie in fremden Schulen gelernet/ an seinem Beyspiele vergessen/ und der alten Ahnen ungefärbte Aufrichtigkeit erlernen könten.327
Es ist sinnlos, nach dem Wahrheitsgehalt eines solchen Passus in Bezug auf die Person Sigmund von Birkens zu fragen. Er will als standestypischer verstanden sein. Individuelle Einschätzungen und Präferenzen finden an versteckter Stelle und nun über jeden Zweifel erhaben ihren Platz. So bekennt Limburger in dieser, dem Andenken Birkens gewidmeten Schäferei, Klaj »ist mein erster und einiger Lehrer in der Poesy gewesen/ den ich ewig ehre/ und hat er die wenige/ in der Natur liegende/ Fünklein/ bey mir/ rege gemacht/ daß sie bißhero noch im–––––––––
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Wir/ sind Schäfere/ und machen Beruff von Demut und Genüglichkeit. Hohfart/ muß man bey uns nicht suchen oder finden/ auch nicht zu uns bringen.« (S. 274). Die institutionalisierte Kontrolle der Gesellschaft über die Produktion der Mitglieder hatte vor allem den Zweck, die Reputation des Ordens vor Rat und Adel und insbes. vor der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ nicht zu gefährden. Das Verhältnis des Ordens zum Rat blieb eines der Subordination, wie Limburgers Werk deutlich belegt. Limburger, Pfarrer in Krafftshof, suchte bei dem Rat der Stadt um Erlaubnis nach, den nahegelegenen Irrhain für den Orden herrichten zu dürfen: »Diese hohe Seelen/ welche theils Fürstehere/ insgesamt aber Schutz=Freunde des Kunst=Reichs sind/ machten ihn/ ihrer berühmten Gunst= Milde nach/ bittseelig.« (Limburger: Die Betrübte Pegnesis (Anm. 196), S. 13). Wappen und Verse am Eingangstor dieses Irrhains seien der Dank der Gesellschaft an die »Hoch Edel=gerühmten Staat=Väter (die diesen Ort der Blum=Gesellschafft zur Kunst=Ubung und Lust=Beliebung vergönstiget)« (S. 16). »Lasset uns«, schlägt denn auch Myrtillus vor, »ehe wir über die Schwelle treten/ unseren Land- und Wald-Göttern/ die uns/ wie der grosse Augustus/ dem Maro/ diese Lust-Ruhe gemachet/ ein Opfer bringen/ und die Abwesende/ in ihren gegenwärtigen Adel=Wappen/ mit etlichen Gedicht-Zeilen ehren.« (S. 18). In diesem Spannungsfeld zwischen treuer Ergebenheit in das stadtadelige Regiment und Adelskritik im Umkreis der nobilitas-literaria-Thematik artikuliert sich bürgerlich-gelehrtes Standesbewußtsein. Limburger: Die Betrübte Pegnesis (Anm. 196), S. 262.
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mer geglimmet haben.«328 Deutlicher könnte der poetische Rangunterschied nicht sinnfällig gemacht werden. In der öffentlichen Huldigungsschrift aber geht es nicht um singuläre und persönliche, sondern um ständische und insofern programmatische Sachverhalte. Der Dichter Sigmund von Birken verkörpert in seiner Person erneut das Sprachgesellschaftsideal der ›Aufrichtigkeit‹, so wie es schon vorher von ihm geheißen hatte, daß ihm »ein gut=alt=teutsches Gemüt angeboren war«, das sich in der Neigung bekunde, »die teutsche Dicht=Kunst zu fassen/ und damit/ wie die Griechen und Römer gethan/ seine Mutter=Sprach auszuüben«.329 Diese Trias aus Religion, Tugend und Einsatz für die deutsche Sprache gibt auch den Wahlspruch Floridans auf seinem weißen Seidenband ab: Den Himmel zu ehren/ Die Sprache zu mehren/ Die Treue zu nehren.330
So arbeiten die Pegnitzhirten auf ihre Weise an der Konturierung und Tradierung der überindividuellen Mission des gelehrten Dichters, die immer noch die eigene ist. Floridan hatte das Seine geleistet zur Selbstfindung der Deutschen im Medium ihrer Sprache und Dichtung. Und diese Aufgabe ist nicht beendet, ––––––––– 328
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Ebd., S. 173 f. Dieses Diktum Limburgers koinzidiert auf denkwürdige Weise mit einer äußerst reservierten Einschätzung der doch von Birken favorisierten Prosaekloge. Indem Limburger sich von seiner eigenen Produktion distanziert, wird zugleich ein Fragezeichen hinter Birkens notorische Verwendung der Gattung gesetzt. Zugleich erfolgt eine wertvolle Mitteilung über das Schicksal so mancher dieser pastoralen Kasualcarmina: »Es hiesse/ (liesse sich Jrenian vernehmen/) bey den Seelig=edlen Floridan; was man erstlich in ein Gefäse giesset/ darnach riechet es immer/ weil man seiner Hirten=Gedichte sechs und zwanzig zehlen kan/ unter welchen ganze Wercke sind/ als: die Fried=erfreute Teutonie/ der Ostländische Lorbeer=Hain/ und die Guelfis, die auf gleiche Art eingerichtet sind. Du bist ihm/ (sagte Asterio gegen Myrtillus) hierinnen nachgegangen/ und hast diese Gedicht=Art/ vor andern/ beliebet. Man wird von meiner Hand/ (antwortete Dieser) kaum die Helffte gesehen haben/ welche doch meistens zu Liebes=Festen leider! ausgezwungen worden; welche Spiele sowol meinem Beruf/ als meinen Neigungen entgegen sind/ und wird man ehe dem Hercules seine Keule nehmen/ als mir fürter eine Feder/ zu besagten Gedichten/ in die Hand bringen können.« (Ebd., S. 179). Im folgenden verschiebt sich dann der Akzent. Getadelt werden die häufig verständnislosen Adressaten und gelobt die schäferliche Muse. Unübersehbar ist jedoch, daß sich zu Anfang der achtziger Jahre das Interesse an der Gattung erschöpft hat und in eins damit eine erste vorsichtige Distanzierung von Birken erfolgt. »Es ist nicht ohne (stimmte Poliander bey) weil sonderlich solche Schrifften von den Unverständigen übel gehalten werden. Es werden diejenige auch (ersezte Fontano) die Geist und Feuer haben/ gleichsam gefangen gehalten und in die Ring=Mauren der Städte geschlossen. Dieses ist noch leidentlich/ erwiderte Lilidor; sondern es muß auch dieses Feuer/ das etwan bey der Herde aufgelohet/ jenem auf dem Heerde wehren/ und die Poeten= Hitz die Hasen=Pfoten kühlen/ und vor der Glut beschirmen. Oder/ so es wolgerähtet/ versezte Isander/ einen Pfeffer=Hut abgeben. Ich habe es mehrmals gesehen (erlängerte Periander) daß dergleichen hochzeitliche Hirten=Gedichte die Korb=Stelle verwalten müssen/ darein die übrige Brocken/ Gräte und Knochen gesamlet worden. Und diesen unglücklichen Fügnüssen (bezeugte Myrtillus) sind gemeiniglich die beste Sinnen=Bruten unterworffen; weil sie von den wenigsten verstanden/ und dannenhero nicht geachtet werden.« (Ebd., S. 179 f.). Ebd., S. 173. Ebd., S. 3.
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung weil die Teutsche gemeiniglich von der Fremdgierigkeit zu einer törichten Liebe verleitet werden/ welche nur gegen das Ausländische brennet/ so daß man wahrhafftig sagen und fragen kan: Die Teutsche hassen sich/ und lieben nur das Frembde/ Jst jemand sonst der Rock auch näher als das Hembde? Durch dieses Ubel (erlängerte Damon) sind unserer Sprache so viel ausländische Lapp= Wörter angeflicket worden/ daß man noch heute Mühe haben muß/ solche abzutrennen. Jch erinnere mich/ fuhr er fort/ daß der Seelig=Edle Floridan mehrmals hefftig beklaget: daß man mit grossen Unkosten reise/ den Fremden ihre Reden/ Kleider und Laster ins Land kauffe/ und ihnen hingegen die teutsche Treu und Dapfferkeit überlasse. Kein Wunder ist es demnach (versetzte Diana) wann sie das Jhrige/ zusamt dem Lande/ mit Gewalt wieder abnemen.331
Hier genau liegt die Koinzidenz zwischen den kulturpolitischen Interessen des gelehrten Bürgertums und des absolutistischen Fürstentums. Die Selbstbehauptung der geschichtlichen Identität während und nach dem Dreißigjährigen Krieg war auch an eine konkurrenzfähige deutsche Kultur gebunden. Für die Gewinnung eines internationalen Standards bürgten nur die Gelehrten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. In der Gestalt Sigmund von Birkens als eines Repräsentanten der Sprachgesellschaftsbewegung des 17. Jahrhunderts gewann die Interaktion zwischen dem bürgerlichen Gelehrten und der höfischen Regentschaft noch einmal repräsentative Züge, nicht anders als eine Generation vorher in der Gestalt von Martin Opitz.
Bürgerhumanismus: Johann Helwigs ›Nymphe Noris‹ Neben dem pastoralen Werk der drei Gründergestalten des Ordens behauptet Johann Helwigs Schäfergedicht Die Nymphe Noris durchaus einen selbständigen Platz. Es stammt noch aus der Frühzeit der Gesellschaft. Die Gestalt des in Niedersachsen weilenden Schäferdichters Floridan spielt wiederholt hinein; die Entstehung des nochmals programmatischen Werkes ist zugleich Gegenstand der Gespräche unter den Mitgliedern.332 1650 lag das umfängliche zweiteilige ––––––––– 331 332
Ebd., S. 3 f. Vgl. dazu etwa Birken: Dannebergische Helden=Blüt (Anm. 202), Bl. A2v. Vgl. auch Blake Lee Spahr: The Archives of the Pegnesischer Blumenorden. A Survey and Reference Guide.- Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1960 (= University of California Publications in Modern Philology; 57), S. 13, und Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 39. Meyer ist ungenau, wenn er S. 40 in seiner Inhaltsangabe zur Guelfis schreibt: Die Hirten »singen, und Echo antwortet, sie blättern in einem Büchlein mit Gedichten von Strefon und Klajus und manch anderm, und Floridan teilt auch seine Antwortgedichte mit, wahrscheinlich weil der 3. Teil der [sic!] Pegnesischen Schäfergedichts nicht zustand gekommen ist, der haushälterische Dichter aber die schönen Arbeiten doch nicht umkommen lassen will.« Der dritte Teil des Pegnesischen Schäfergedichts ist eben Helwigs Nymphe Noris. Und dort finden sich S. 69 ff. sowohl die ›Abschiedlieder‹, die die Hirtendichter an der Pegnitz dem nach Niedersachsen abreisenden Birken zugedacht haben (fünf Gedichte von Harsdörffer, Helwig, Klaj, Sechst und Lochner unter dem Titel ›Die Pegnitz an den Floridan‹), als auch Birkens ›Danklied an die PegnitzSchäfer‹ (S.
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Gedicht vor, das Helwig ebenso wie die Mitglieder des Ordens als dritten und vierten Teil bzw. als dritte und vierte ›Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei‹ zu bezeichnen pflegten.333 Diese bewußt vollzogene Anknüpfung an Harsdörffers und Klajs Pegnesisches Schäfergedicht und Birkens Fortsetzung prägt sich – außer in expliziten Verweisungen – auch im pastoralen Rahmen aus. Wie im Pegnesischen Schäfergedicht nimmt der Spaziergang der Schäfer während der ›Ersten Tagzeit‹ der Nymphe Noris seinen Ausgang von der Hallerwiese und führt zum Schießplatz beim St. Johannis-Kirchhof. Und wie die Fortsetzung wird die ›Andere Tagzeit‹ der Nymphe Noris mit einem Ausgang zu den Pegnitzwiesen im Osten der Stadt eröffnet und endet schließlich in Mögeldorf: Huldigung der Vorgänger im variierenden poetischen Zitat. Was Helwigs Werk jedoch seine unverwechselbare Physiognomie sichert, sind Ton und Thema seiner Schäferei. Der angesehene Mediziner, der nach ausgedehnten Reisen 1634 in Padua promoviert hatte, hat sein Gedicht der Verherrlichung seiner berühmten Vaterstadt gewidmet, die er schon verlassen hatte, um in Regensburg die Stelle eines Leibarztes beim Kardinal von Wartenberg anzutreten, als sein Werk im Druck erschien. Dessen Hauptziel sei die Beschreibung seines lieben Vatterlands/ zu dessen schuldigsten Ehren meisten Theils Er dieses Werklein unter die Hand genommen/ indem er nicht allein desselben von Gott reichgesegnet Landsart mit Poetischem Grieffel abreisset/ sondern auch zugleich dessen hochrühmliche Regimentsform/ benebenst denen Adelichen Geschlechten/ denkwürdigsten Begebenheiten/ und namhaftesten Gebäuen lebhaft abmahlet.334
Keine Dichtung aus dem Kreis der Pegnitzgesellschaft hat der Vergegenwärtigung der Nürnberger Lokalität und der historischen Zeugnisse mehr Raum gewidmet als dieses Gedicht. Ob es die altehrwürdige Stadtbibliothek ist oder das Zeughaus, die Fleischbrücke, das neue Rathaus oder das Theater – alles findet gebührende Erwähnung und wird festgehalten im verewigenden Wort. Auch der private Bereich ist für einen kurzen, aber ergreifenden Moment mehr in der Gebärde als im Wort dezent gegenwärtig. Im Anblick des Grabsteins der jüngst verstorbenen Tochter Helwigs [nasseten] dem Schäfer Montano die Augen [...]/ in Erwegung/ daß so gar nichts Beständiges hier auf Erden were/ und weder Dapferkeit/ Gottesforcht/ noch Jugend dem zeitlichen Tod entfliehen könne. Welches Periander bald in acht genommen und der nicht sonder Ursach/ nach erlangter Gesundheit/ wie ein entrunnener Vogel/ sich muhtig machete/ hat er den Montano bey der Hand gezogen/ und gebetten/ den Weg von hinnen ferners zu nemen/ darmit er ja veranlasset würde/ durch andere Gespräche seine Schwermuth zu unterbrechen.335
–––––––––
333
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72 ff.) sowie seine ›Antwortt auf der Pegnitz AbschiedLied‹ (S. 77 ff.). Diese Gedichte der Nürnberger Freunde und seine Dankescarmina zitiert Birken in seiner Guelfis (Anm. 209), S. 126 ff., unter den Titeln ›Der Pegnitz Abschied-Lied‹ sowie ›Pegnitz-Letze‹ und ›Hirten Letze‹. Vgl. Johann Helwig: Die Nymphe Noris In zweyen Tagzeiten vorgestellet [...].- Nürnberg: Dümler 1650, Bl. A3v, sowie eben Anm. 332. Helwig: Die Nymphe Noris (Anm. 333), Bl. A4r. Ebd., S. 8 f.
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Der in den Prosaeklogen nahezu obligatorische Ehrentempel ist in Helwigs Gedicht neben den lokalen Reminiszenzen der Geschichte Nürnbergs und den großen Geschlechtern der Stadt vorbehalten. Es sind vor allem die Markgrafenkriege, die sich im Bewußtsein der Nürnberger Bürger auch des 17. Jahrhunderts lebendig gehalten haben. Der Antagonismus artikuliert sich in den bekannten Schemata, so anläßlich eines Stechens zwischen Nürnberger Geschlechtern und dem Markgrafen Albrecht und seinem adeligen Gefolge: FReyer Sinn und Adel liebet Rennen/ Stechen/ Ritterspiel; wol dem/ der mit gleichem Ziel auch in Kunst und Zucht sich übet.336
Höhepunkte im politischen Leben der Stadt verbinden sich mit den Einzügen des Kaisers. Sie geben Anlaß zur Bekundung demütiger Verehrung der gerechten Obrigkeit und es gibt keinen Grund, an der historischen Authentizität derartiger Verlautbarungen zu zweifeln. Fromme Untertanengesinnung und beharrliche Statuskonkurrenz mit dem Adel müssen im Umkreis der gelehrten Dichtung des 17. Jahrhunderts zusammengesehen werden. OBrigkeit/ die Gott gesetzet/ billich man verehrt/ beschenkt/ drum der Unterthanen öfters auch in Gnaden sie gedenkt: wie die Sonneblum sich stets nach dem Lauf der Sonnen neiget/ gleicher Weiß der minder Stand sich dem obern willig zeiget.337
In der Huldigung der Patrizier und der patrizischen Ratsverfassung kehrt dieser Zug wieder. Letztere ist über das Reich hinaus bekannt. So läßt sich denn auch die Nymphe Noris dazu bewegen, über »Art und Weise ihres klugbestellten Regiments« den neugierigen Schäfern Aufklärung zu erteilen.338 Bezeichnenderweise geht es um die zentrale Frage der Rekrutierung des Inneren Rats. Problemlos läßt sich diese in der historischen Perspektive anvisieren. Ratsfähige, aber ausgestorbene Geschlechter »sind nach und nach aus andern alten und dieses Orts wolverdienten Edlen Geschlechten (dergleichen ihrer noch viel zu finden/ und bey mindern Verwaltungen sich Gunstfähig machen) wiederum ersetzet werden.«339 Gemeint ist der Kreis der ehrbaren Geschlechter der Genannten. Er ist groß und schon jetzt sind diejenigen Geschlechter festgelegt, »die sich/ um künftig in höhere Stellen zu tretten/ und der Nymphe Noris Gunst zuerhalten/ zur Zeit in mindern Ambtsgeschäfften gebrauchen lassen«.340 Das vermittelt den Anschein konfliktloser Erneuerung des Rats. Weder findet die kastenmäßige Abschließung des Rats noch die Ausschließung der promovierten Gelehrten Erwähnung. Im Gegenteil erscheint der Aufstieg primär an Wohlverhalten gebunden: »Zu solchen hohen Ehren nun kan niemand/ als durch sittsame Gedult und unbeflekten Lebenswandel/ gelangen/ und der sich zuför––––––––– 336 337 338 339 340
Ebd., S. 40. Ebd., S. 46. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Ebd.
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derst der Gerechtigkeit und seiner selbst Ernidrigung befleisset«.341 Die hier einen Moment lang sich vielleicht einstellende Vermutung, im Begriff der »selbst Ernidrigung« werde auch auf den Verzicht akademischer Würden als Voraussetzung für die Ratswürde angespielt, ist so gut wie sicher auszuschließen.342 In Helwigs Werk läßt sich so wenig wie in einem Schäfergedicht des Jahrhunderts sonst ein direktes Wort der Kritik vernehmen und schon gar nicht in Bezug auf die Adressaten der Huldigung. Das Gattungsgesetz der Bukolik behauptet sich auch bei Helwig: Satire und Kritik bleiben an das pastorale Dekorum geknüpft. Helwig hat in einer knappen, aber gehaltreichen Vorrede zu seiner Schäferei neben dem panegyrisch-patriotischen Zweck den belehrend-kritischen seines Unternehmens festgehalten. Wir besitzen wenige Zeugnisse für die Distribution gelehrter Literatur im 17. Jahrhundert. Helwig beklagt in seiner einleitenden Bemerkung für den Leser, daß gute und nützliche Bücher so wenig gelesen würden, wovon die »aller Orten angefüllte Buchläden« Kunde geben würden.343 Der Autor dieses Werkes gehört von Berufs wegen nicht zur schreibenden Zunft; er war Arzt. Der Anlaß für seinen Beitrag liegt ganz offensichtlich in der Gründung des ›Pegnesischen Blumenordens‹. Sie verpflichtet auch ihn, sein Gelübde einzulösen, »in Ausübung der Teutschen Heldensprache desto mehrers zu üben/ in den reinen Quellen derselben sich umzuschauen/ und also anderen mehrern zum Beyspiel mit vorzugehen.«344 Nutzen von seinem Buch verspricht auch er sich nur dadurch, »die waare Tugend an das Burgerrecht [zu] bringen«, und das heißt zugleich, das Laster, wie es sich in der steten Gier nach Neuem zu erkennen gibt, zu brandmarken.345 Ausdrücklich wählt er dafür nicht die Satire, »weil ja bey dem rohen Hauffen die Schärffe nichts hilfft«, sondern diejenige Gattung, welche »mit versüssten Wortten und Schertzen« dem doppelten Zweck satirischer Geißelung und sittlicher Besserung Genüge tue: die Schäferdichtung.346 Wiewol Er sich hierinnen entschuldiget seyn erachtet/ daß Er sich hoher und zierlicher Hofreden/ als bey Helden= und Liebsgedichten üblich/ nicht gebrauchet/ massen dem nidrigen Schäferstand die offenhertzige Einfalt/ und die unbeschminkte und der Natur ähnliche Gespräche/ als getreue Glaitsleute/ sich alle zeit zugesellen/ so glaubet er auch doch/ hiermit nichts vorgreifliches gehandelt [zu] haben/ aldieweil nichts geheimes/ noch nachtheiliges/ sondern viel bekanntes hierinnen verzeichnet worden.347
So ungewöhnlich wie die Vorrede insgesamt, die von einem Verfasser stammt, der abseits des eingeschliffenen gelehrten Betriebs steht, so merkwürdig bleibt diese Rechtfertigung für die pastorale Sprechweise. Muß sonst die ständig bemühte Inkongruenz von hohem Gegenstand und niederem Ton als willkommene captatio benevolentiae fungieren, so sucht Helwig umgekehrt dem Argwohn ––––––––– 341 342 343 344 345 346 347
Ebd. Ebd., S. 57. Ebd., Bl. A3r. Ebd., Bl. A2v. Ebd., Bl. A3r. Ebd. Ebd., Bl. A4r.
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entgegenzusteuern, er habe die Schäferdichtung für ›Geheimes‹ bzw. ›Nachtheiliges‹ mißbraucht. In den Augen dieses Autors ist die Gattung der Pastorale offensichtlich vom Nimbus des Hermetischen und des Kritischen umgeben, dem es in der Vorrede durch den Rückzug auf Gewährsmänner, bei denen das Folgende nachzulesen sei, zu begegnen gilt. Helwig gehört zu den Autoren, denen sich im Gegensatz zu den vielen bukolischen Versifikatoren des Jahrhunderts ein Bewußtsein von der latenten negativen Potenz der Gattung erhalten hat. Den Beweis dafür liefert seine Schäferei.
›Ach Fürwitz über alle Fürwitz!‹ Der Abschluß des Spaziergangs bei den Gärten um St. Johannis bildet wie stets in der Prosaekloge den Auftakt zu den reflexiven und disputativen Partien des Werkes. Die von einer »naturahmenden Künstlershand« prächtig ausgestalteten Gärten veranlassen die Schäfer zu einem Gespräch über die Rechtmäßigkeit derartiger Eingriffe in die Natur als Schöpfung Gottes:348 Ach Fürwitz über alle Fürwitz! rufte Periander. Kan dann der Mensch auch den allerweisesten GOtt in seiner Ordnung und Geschöpfe nicht ungemeistert lassen/ und muß der thörichte Erdenklump nur seinen Lust zuerfüllen/ was der gütige GOtt einem und dem andern Land seiner Art nach zugetheilet/ einig und allein alles beysammen haben/ und durch mühesame Sorgfalt und kostbare Kunstarbeit verbessern. Ach der thörichten Lust! ach der lüstrenden Thorheit! Jch halte nicht darfür/ sprach hingegen Helianthus/ daß dieses eben so unweißlich sey/ sintemal dardurch den Unwissenden und Unbewanderten gedienet wird/ und Anlaß gegeben/ des höchsten Gottes wundersame Allmacht desto mehrers zu betrachten und zu preisen. Ja/ antwortet Montano/ wann es zu keinem Stoltz und Pracht geschihet/ und solcher Handel allein denen mit Reichthum Gesegneten/ und hohen Standes Personen/ zu einer zuläßlichen Ergetzligkeit heimgestellt verbleibet. Mit seines Nächsten bößlich an sich gebrachtem Gut aber/ auser dem Stand prachten/ und solchen Vberfluß treiben/ ist es/ traun/ ein schlechter Ruhm und ärgerliches Wesen. Darum noch billicher unser freyer Schäferstand in seiner Einfalt zu loben ist/ der sich solcher Eitelkeiten nicht achtet/ und sich an deme/ was Gott bescheret/ und die Natur und Landes=Art gibet/ genügen lässet.349
Diese für die Schäferdichtung überaus typische Argumentationsfigur will in ihrer dialektischen Struktur erkannt sein. Perianders Beitrag bezeichnet die radikale Negation der herrschenden Praxis im Rekurs auf den göttlichen Schöpfungsordo. Diese Position ist nicht zu halten, und zwar primär aus sozialen Gründen. Den Reichen und dem Adel muß Luxus »zu einer anläßlichen Ergetzligkeit« konzediert werden. Schlägt damit das Argument affirmativ um, so erfolgt die entscheidende Feststellung im Schutze der pastoralen Allegorie, der die Vermittlung der Extreme obliegt. Der Schäferstand, präfiguriert im Schöpfungsstand gemäß der Genesis, enthält sich derartiger ›Eitelkeiten‹ und begnügt sich mit dem von Gott Dargebotenem. Damit fällt unausgesprochen und entgegen der manifesten Zustimmung ein fahles Licht auf die Praxis des Geld- und Ge––––––––– 348 349
Ebd., S. 10. Ebd., S. 11 f.
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burtsadels. Angesichts der harmonischen Zuordnung von Mensch und Natur, wie sie in der Pastorale seit Vergil in dem expliziten Verzicht auf Herrschaft über die Natur tradiert wird, diskreditiert sich die repräsentative Funktionalisierung von Natur. Gleich im Anschluß an den Diskurs vereinen sich Montano und Helianthus zu einem der üblichen Streitgesänge über die Vorzüge schäferlichen bzw. höfischen Lebens: ES hat die HimmelsGnad die Schäfer so begabt/ daß auch der Adelsstand nicht ihnen zuvergleichen. [...] Bey der Zufriedenheit die Frommkeit hellt und quillt/ in solchem nidren Stand die Tugend gerne heget. Jhm ist die gröste Sorg/ wie er unschuldig leb’/ und seines Namens Ruhm bey seinem Nachvolk schweb’. [...] DEm armen Schäfer ist kein Trug noch List verwanth/ er kan/ und wil auch nicht mit Falschheit sich beladen; die Einfalt seines Sinns ist iederman bekannt/ aufrichtig seyn hat nie gesetzt in Schand und Schaden: Die Stad= und HofmannsEhr verlacht er als ein Tand/ Da man im Sorgenwust und Kummer pflegt zu waden.350
So singt der Autor Montano-Helwig. Helianthus dagegen muß sich anschließend die Frage stellen lassen, ob der denn »unsren schlechten Schäferstand verachte«.351 Natürlich weist er das weit von sich: Was ich gethan habe/ das ist aus Kurtzweil beschehen/ und solle er mich deswegen keiner Abtrünnigkeit beschuldigen; wiewol eines iedern Standes/ also auch des Hoflebens Lob/ an seinem Ort erhellet/ und solchen Unterscheid der Stände der wolweiseste Gott nicht aufhebet/ sondern vielmehr selbsten angeordnet hat.352
Die Wertvorstellungen des gelehrten Bürgertums sind auch in diesem Wechselgesang in »unsren schlechten Schäferstand« verkörpert. Mit den von Helianthus aufgerufenen höfischen Normen sind sie jedoch unvereinbar. Das Bekenntnis zur ständischen Ordnung einschließlich differierender soziokultureller Normen entschärft alsbald den hier aufscheinenden Konflikt. Der Begriff der ›Unterminierung‹ ständisch-feudaler Herrschaftsgewalt und Ideologie im Umkreis der bürgerlich-gelehrten Pastoraldichtung des 17. Jahrhunderts sucht diesen Sachverhalt zu markieren. Die latente Provokation der auch bei Helwig laut werdenden Argumente zu entbinden, die ständisch zerklüftete Gesellschaftsordnung direkt und unverhüllt dem Forum der Kritik auszusetzen, wird erst im 18. Jahrhundert möglich werden. Helwig hat zu Beginn der ›Anderen Tagzeit‹ der Nymphe Noris ein Analogon zu dieser indirekt kritischen Partie plaziert. Das Gespräch der Schäfer dreht sich um die Frage, »ob auch die freye Wissenschafften und Sittenlehre ihrem ––––––––– 350 351 352
Ebd., S. 12 ff. Ebd., S. 15. Ebd.
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ringen Schäferstand anständig/ und vor Jahren üblich gewesen wäre?«353 Wie immer im prähistoristischen Zeitalter ist die geschichtliche Debatte ebenso leidenschaftlich wie unumgänglich, weil in der Geschichte die Legitimationsmuster gegenwärtiger Praxis vorgegeben sind. Vehement verwahrt sich deshalb Montano-Helwig gegen Helianthus, dem es wieder obliegt, die nicht akzeptable Gegenposition in die Debatte einzuführen. Dieser will am Beispiel Spartas belegen, daß der niedere Stand – »darunter auch die Schäfer begrieffen« – »sich der Wissenschafft und Tugendübung wenig beflissen/ weil es ausser dem Beruff/ und besagte Wissenschafft einig und allein dem höhern Stand/ als dem Adel und Regenten/ anständig gewest.«354 Montano hält dieser Auffassung das Paradigma der Athener gegenüber: Nein/ sprache Montano; in tieferer Betrachtung befindet sich solcher Handel hingegen weit anderst. Und obwol die Spartaner für Edel gehalten worden/ so sind sie doch der freyen Wissenschafft und Tugendlehre wegen nicht so berühmt/ als die Athenienser gewesen/ bey welchen der mindere sowol als der obere/ der Leibeigene sowol als der Freye/ der Knecht sowol als der Herr/ ob gehabter solcher Wissenschafft/ in grosser Acht gehalten worden.355
Damit ist ungeachtet der historischen Triftigkeit der Zielpunkt der Argumentation anvisiert: Wissenschaft und Tugend als ständeübergreifende Macht. Folgerichtig schreitet die Diskussion weiter zur aktuellen Frage, ob dem Adel auf diesem Feld eine Prärogative einzuräumen sei. Die Konzedierung einer Sonderstellung des Herrschaftsstandes geht wiederum einher mit deren indirekter Zurücknahme im Zeichen eines allgemeineren Wertesystems: Und gesetzt/ daß diese Wissenschafften dem Adel und höherem Stand etwas anständiger/ dieweil auch die Kunst wol und weißlich zu regirn darunter verhüllet ist[,] solte es darum desto unthunlicher seyn/ solche ungleichen bey dem gemeinen/ wie auch unserm Schäferstand zu hegen? Nein/ keines wegs. Sintemal sie nicht/ wie der Adeliche Name oder stattliches Herkommen ererbet werden/ sondern eine sondere Himmelsgabe sind/ die sowol sich unter einem ringen Schäferskleid/ als einem Königlichen Purpurmantel erhalten können. So stekket über das unter solcher Wissenschafft nicht nur die Weise andere zu regirn/ sondern eine noch viel höhere/ sich und seine Sinnneigungen selbsten weißlich anzuführen/ die der vorbesagten Regirkunst/ als ein erbauliches Beyspiel/ an die Seiten gesetzet wird.356
Und dann folgt aus der Deckung der topischen Antithese adeligen und schäferlichen Daseins heraus eine Konfrontation beider Lebensformen, die es begreiflich erscheinen läßt, daß in der Vorrede die Sorge des Autors angeklungen ist, sich im schäferlichen Gewand allzuweit vorgewagt zu haben. Nichts anderes bekundet sich in der folgenden Partie, als daß dem Adel nur in einem Akt permanenter Erziehung zugänglich ist, was der Schäfer als Gelehrter immer schon sein eigen nennen darf: Erkenntnis und darauf gründend Tugend: Warum seyn dann/ fragte Helianthus weiters/ bey unserer vor Eltern Zeiten die meiste Stifftungen und Clöster nur dem Adel zum besten gewidmet worden/ in welchen man sie von allerhand Wissenschafften und Tugendlehren unterrichten solte? Freylich/ saget ihr recht/
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Ebd., S. 115. Ebd., S. 116. Ebd. Ebd., S. 116 f.
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ihr mein vertrauter Helianthus/ zur Unterrichtung in den Wissenschafften und Tugendlehren/ antworttete Montano[,] und sonderlich dem Adelstand/ dieweil meinem einfältigen Bedunken nach/ die liebe Vorfahren mit scharffen Augen albereit gesehen/ daß der Adel auf seinen Reichthum sich verlassend/ und auf sein Herkommend pochend/ der Wissenschaft und Tugend sich wenig achten/ und demnach ein wüstes und wildes Leben führen würde/ also haben sie dieses Mittel erfunden/ die tauglichen Gemüther in solchen Schranken zu behalten/ und bey vorgesetzter und abgemessener Leibesunterhalt und täglicher Nohtdurft dieselbe/ mit Vermeidung des verzärtleten Vberflusses/ dahin zuleiten/ darmit sie desto bequemlicher würden besagte Lehren und Unterricht zufassen/ und bey steter Ausübung derselben sich und ihren Schöpfer recht zu erkennen/ und im klugen Nachsinnen ersehen/ zu was Ende sie erschaffen/ und des Menschen Wandel anzustellen sey. Jm Gegentheil hat der mindere/ wie auch unser ringer Schäferstand/ schauet! diesen Vortheil/ daß er in seiner Nidrigkeit und Einfalt/ des unnatürlichen Schwelgens/ schandlicher Wollust/ eitler Standshoffahrt/ frefler Mißgunst/ und Gewissenschädlicher Geldsucht überhoben/ seine Sinne und Gedanken was freyers hat/ und tüchtiger ist/ nebenst seinem Beruf solchen Wissenschafften und Unterrichten abzuwarten/ und zu rechtmässiger Ausübung zu bringen; ja wol solches alles/ ohne anderer Beyhülfe aus dem Naturbuch selber erlernen kan [...] SChäfer und Schäferinn nidrigen Stande Wissenschaft zieret/ belobet ihn macht. Tugend ist derer getreuestes Bande/ welches die Schäfer in Rufe gebracht. Drum Tugend stets lieben die Schäfer/ sich üben in solcher mit Fleiß; klugs wissen sie lernen sich niemals entfernen so süssem beheglichen Nectar und Speiß.357
Späte Nürnberger Schäfereien Eine Schäferei dieses Zuschnitts ist, wenn nicht alles täuscht, nach dem Beitrag Helwigs und der drei Archegeten des Ordens in Nürnberg kein weiteres Mal zustandegekommen. Eine nochmalige eingehende Musterung des von Heinrich Meyer vor fünfzig Jahren erst- und einmalig beschriebenen Materials hat nichts ergeben, das zu einer detaillierteren Behandlung nötigte.358 Damit ist nicht gesagt, daß es nicht kommentarwürdige Züge in den Schäfereien neben und nach Birken gäbe, die in einer Gattungsmonographie zu berücksichtigen wären. Im thematischen Zusammenhang dieser Untersuchung zeichnet sich innerhalb des Quellenguts jedoch nichts ab, was das skizzierte Bild modifizieren würde. Gibt es ein durchgängiges Charakteristikum der Dutzende von Prosaeklogen aus der Spätzeit des Ordens im 17. Jahrhundert, so dies, daß sie ihrer Substanz nach von ihren Vorgängern, insbesondere den Produkten Birkens, zehren.359 –––––––––
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Ebd., S. 117 ff. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 59 ff. Zu Joachim Heinrich Hagen und seinen Schäfereien vgl. Kröll: Bayreuther Barock und frühe Aufklärung (Anm. 292), Teil I, S. 93 ff. Erfassung des Materials vorerst in einer Kurztitel-Bibliographie bei Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis (Anm. 181), S. 315 ff. Eine ›Bibliographie der deutschen
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Die eine produktive Weiterentwicklung der Prosaekloge führt aus der Gattung der Schäferei heraus und zu einer satirisch-pikaresken Erzählform, die von Meyer bereits erkannt und in ihren Hauptvertretern namhaft gemacht worden ist.360 Sie ist keinesfalls typisch für die Nürnberger allein und trägt zu den hier verfolgten Problemen nichts bei. Ansonsten herrscht die variierende Repetition vor. Der feste Bezug auf einen Anlaß verbindet alle diese Stücke und viele steuern ihn unmittelbar an, so daß der erzählend-disputative Rahmen, der der Gattung ihren Reiz verleiht, ausfällt oder auf ein Minimum reduziert erscheint. Stark in den Vordergrund tritt das Verfahren allegorischer Naturauslegung, welches allemal geeignet ist, die Brücke zwischen Natureingang und Huldigung zu schlagen. Der Tiefsinn der allegorischen Intention ist hier wie so häufig im Zeitalter zur billigen poetischen Spielerei heruntergekommen. Natürlich fehlen im Reigen der vielen aufgegriffenen Gesprächspiele, Rätsel und Gedichte auch standespolitische Themen nicht, doch läßt sich ein wirklich pointiertes Interesse an ihrer Behandlung nicht mehr erkennen.361 Dieser Kreis von Hirten-Poeten, der da in den sechziger und siebziger Jahren in den Schäfereien immer wieder zusammenkommt, kennt sich, kennt die obligatorischen Themen und weiß sich häufig durch Anspielungen, Verweisungen und anderweitige Signale ohne viele Umstände zu verständigen. Hatte Birken seine Orientierung zu den großen Höfen hin immer wieder durch die Demonstration der Vorzüge und Qualitäten des Gelehrtenstandes zu unterstreichen, so war die neben und nach ihm zu Wort kommende Personenkreis durchweg ohne höfische Ambition und zumeist in städtischen Ämtern installiert. Die Gattung selbst unterliegt einem Verschleißprozeß. Ästhetische Innovationen, stets vermittelt mit sozialen Prozessen und Interessen, zeichnen sich nicht mehr ab. So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß die nochmalige grundsätzliche Artikulation des im Orden vorherrschenden Selbstverständnisses nicht mehr in der Gattung der Prosaekloge erfolgte, sondern im Medium des allegorischen Pastoralromans.
Gesellschaftskritik aus der Schäferprovinz: Heinrich Arnold und Maria Catharina Stockfleths ›Kunst- und Tugend-gezierte Macarie‹ Heinrich Arnold und Maria Catharina Stockfleths großer zweibändiger Roman Die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie (1669–1673) ist das einzige Werk aus dem Umkreis der Nürnberger Pastoraldichtung, das eine eingehende historischsoziologische Interpretation erfahren hat. Arnold Hirsch widmete der Macarie ein wichtiges Kapitel innerhalb seiner Studien zur Entstehungsgeschichte des –––––––––
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Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts‹ befindet sich in Vorbereitung. Sie beruht auf einem umfänglicheren Manuskript, das in der Dissertation nicht zum Abdruck gelangte. Vgl. Meyer: Der deutsche Schäferroman (Anm. 181), S. 67 ff. Vgl. zum Beispiel Martin Limburger: Kressischer Ehren-Tempel [...].- Nürnberg: Felsecker 1663, passim.
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bürgerlichen Weltbildes, und Volker Meid griff die Frage nach dem Verständnis von Obrigkeit in diesem Roman wieder auf.362 Hier liegen also ausnahmsweise einmal wissenschaftliche Diskussionsbeiträge in der Linie dieser Untersuchung vor, an die angeknüpft werden kann und die weiterzuentwickeln sind. Mit der Macarie lösen die Stockfleths Harsdörffers Forderung nach allegorischer Sinngebung der Schäferdichtung nun auch für die Gattung des Romans im Nürnberger Blumenorden ein. Heinrich Arnold Stockfleth hat in der Vorrede zum ersten Teil des Romans den Leser ausdrücklich auf die allegorische Intention verwiesen und ihm zugleich einen Schlüssel zur Auflösung der Personennamen mitgeliefert: Doch must du einen verständigen Sinn mitbringen/ wann du die Historische Warheit erforschen wilt. Die gefährliche Schiffarten/ deute durch Unglücks=Wellen; Die offtmalige Lebens=Gefahr/ durch grosse Noth; die Versenckung des Schlosses/ durch Unterdruckung der Kunst und Tugend/ und was mehr/ mit Unmüglichkeits=Farben/ angestrichen ist/ must du/ dem Zeugnus/ unsers vorgepriesenen Opitzens/ nach/ dahin deuten/ daß die Poeterey so wenig ohne Farben seyn könne; als der Frühling ohne Blumen.363
Stockfleth besteht in der Vorrede darauf, daß seiner Erzählung ein historischer Stoff zugrunde läge und fordert den Leser auf, sich nicht zu dem Zweifel verleiten zu lassen, »als wäre die Geschicht erdichtet/ und ohne Warheits=Grund.«364 Eben diesen Umstand macht er auch für eventuelle Ungereimtheiten im Roman verantwortlich: Daß aber der Weg bißweilen verworffen/ und die Staffel versetzet sind/ in dem zu Zeiten zu letzt berühret wird/ was zu allererst hätte sollen betretten werden/ wirst du nicht einen Erfindungs=Fehl/ sondern den Geschichts=Fall benennen/ welchen ich unverruckt behalten wollen/ der Meynung/ es könne die Lehr/ so anfangs/ so zu letzt/ behalten werden.365
Es ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich, ob der Verweis auf einen historischen Stoff fingiert ist oder nicht. Nicht ausgeschlossen, daß dem Roman als historischer Kern die Heirat der Stockfleths zugrunde liegt. Der Roman ––––––––– 362
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Vgl. Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. 2. Auflage, besorgt von Herbert Singer.Köln, Graz: Böhlau 1957 (= Literatur und Leben. N.F.; 1), S. 107–117: ›Die Polemik gegen die höfischen Tugenden in Stockfleths Macarie‹, sowie die Exkurse zur Macarie, S. 139 ff. Wieder abgedruckt in: Europäische Bukolik und Georgik. Hrsg. von Klaus Garber.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976 (= Wege der Forschung; 355), S. 329–346. Vgl. auch Volker Meid: Ungleichheit gleich Ordnung. Zur ›Macarie‹ (1669–1673) von Heinrich Arnold und Maria Catharina Stockfleth.- In: Schäferdichtung. Referate der fünften Arbeitsgruppe beim zweiten Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur vom 28. bis 31. August 1976 in Wolfenbüttel. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp.- Hamburg: Hauswedell 1977 (= Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur; 4), S. 59–66. Vgl. auch das Vorwort Meids zu dem in der folgenden Anmerkung zitierten Roman der Stockfleths. Heinrich Arnold Stockfleth: Die Kunst= und Tugend=gezierte Macarie. (Erster Teil.) Faksimiledruck nach der Auflage von 1669 hrsg. und eingeleitet von Volker Meid.- Bern [etc.]: Lang 1978 (= Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts; 19), Bl. 2ʌ 3v. Ebd., Bl 2ʌ3r f. Ebd., Bl 2ʌ1v f.
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selbst gibt vor, daß der Held die Geschichte der Liebe zwischen Poliphilus und Macarie niederschreibt, der Geliebten übergibt und von dieser die Versicherung erhält, daß sie es genau so halten werde.366 Und wer anders wäre prädestiniert dazu, Macarie zu repräsentieren, als die Schäferin Dorilis?
Im Zeichen von d’Urfés ›Astrée‹ Hier geht es um die Probleme des objektiven geschichtlichen Gehalts, die, wie immer im 17. Jahrhundert, mit der Wahl der Gattung verknüpft sind. Anschluß an die Tradition erzählender Schäferdichtung jenseits der Nürnberger Prosaekloge zu finden, war auch für die Stockfleths gleichbedeutend mit der Ausrichtung am europäischen Schäferroman, nicht aber an der deutschen Sonderform, die für ihre Zwecke nicht geeignet sein konnte. In d’Urfés Astrée war zwischen dem pastoralen und dem höfisch-heroischen Moment eine vorbildliche Symbiose gestiftet worden. Diesen Roman hatten ganz offensichtlich auch die Stockfleths als Muster vor Augen. Wie Celadon und Astrée werden Poliphilus und Macarie nach einem ersten, lebensbestimmenden Treffen durch Verleumdung auseinandergerissen. Wie Celadon möchte Poliphilus der Geliebten durch seinen freiwilligen Tod ein Zeichen seiner unwandelbaren Treue geben. Wie in der Astrée gerät der Held nach seinem vergeblichen Selbstmordversuch – beide durch Sprung in einen Fluß! – in den Umkreis des Hofes, der sich zunehmend als zentrifugales, die Verbindung der Liebenden beharrlich verhinderndes Kraftfeld erweist, bis endlich alle Widerstände überwunden sind. Und schließlich hat Maria Catharina Stockfleth ihre Dedikation an Sophie Louise von Brandenburg-Bayreuth, die zweite Frau Christian Ernsts von Brandenburg-Bayreuth, der berühmten Widmungsvorrede der Astrée nachgestaltet. Wie sich Astrée dem Schutze Heinrichs IV. anvertraut, so Macarie als das provokative Geschöpf einer weiblichen Liebhaberin von Kunst und Tugend dem Schutz Sophie Louises. Wichtig für den Zugang zum Roman ist die Wahrnehmung, daß mit der Entscheidung für den heroischen Pastoralroman eine ganz offensichtlich nicht ausgeglichene Spannung in das Gesamtwerk hineinkommt, die insbesondere im Übergang vom ersten zum zweiten Teil manifest wird. Der Wechsel der Autorschaft hat, wenn nicht einen Bruch der Konzeption, so doch einen Wechsel der Optik zufolge. Heinrich Arnold Stockfleth weist schon in der Vorrede zu seinem Roman auf einen nachfolgenden zweiten Teil mit dem Untertitel »der bekehrte Schäfer« hin, der aus der Feder einer der »gekrönten Hirtinnen« des Ordens folgen werde. Stockfleth selbst erklärt, daß er diesen zweiten Teil »billich –––––––––
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Vgl. Maria Katharina Stockfleth: Die Kunst= und Tugend=gezierte Macarie/ Oder Historischer Kunst= und Tugend=Wandel/ Der zweyte Theil. Faksimiledruck nach der Auflage von 1673. Hrsg. von Volker Meid.- Bern [etc.]: Lang 1978 (= Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts; 20), S. 3, 9, 13, 16 f. und 18 f. Weitere Argumente für den biographischen Hintergrund des Romans bei Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman (Anm. 362), S. 142 f.
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den Schlüssel dieses ersten nenne/ als in welchem der begierige Leser/ den meinen allererst recht verstehen wird«.367
Brüche in der Konstruktion Und in der Tat hat Maria Catharina alles getan, um dem Roman als Ganzem ein überzeugendes Konzept und einen eindeutigen Sinn zu verleihen. Diese Aufgabe wurde dadurch erschwert, daß ihr Gatte ihr keineswegs eindeutig vorgearbeitet hatte, so daß der erste Teil der von Maria Catharina verfolgten Intention nicht bruchlos zu integrieren war. Heinrich Arnold Stockfleth läßt seinen Helden aus dem Schäferstand ausziehen, damit dieser Kunst und Tugend erwirbt. Sie sind in vollendeter Gestalt in Macarie verkörpert. Erst mit der Aneignung von Kunst und Tugend verliert der Schäferstand als solcher sein Beschränktes und kann nun, ausgestattet mit den Idealen des bürgerlichen Gelehrtenstandes, zum Paradigma menschenwürdigen Daseins schlechthin erhoben werden. Hier also ist in einen Prozeß auseinandergelegt, was sonst immer schon als Einheit in der Gestalt des literarischen Hirten-Poeten gedacht ist. Maria Catharina Stockfleth, unvergleichlich viel treffsicherer in der Formulierung und schärfer in der Gedankenführung als ihr Mann, hat diese Einheit der beiden Momente im Schäferstand hellsichtig festgehalten: Es ist unzweiflich wahr/ daß der Hirtenstand/ ohne die Kunst= und Tugend=Lehre/ verächtlich/ Weißheit und Tugend aber/ ohne Ruhe und Vergnügung/ mühselig und gefärlich sey: Daher ein Kunst= und Tugend=liebender/ ohne die vergnügte Ruhe der Schäfer/ und hingegen ein Schäfer/ ohne Kunst und Tugend/ mangelhafft bleibet. Wann sie aber beyde vereinigt sind/ kan aus solcher glückseeligen Verbündnüs/ ein vollkommnes Leben geboren werden.368
Zweck des Unternehmens von Heinrich Arnold ist es, zu zeigen, welche Hindernisse auf dem Weg zu Kunst und Tugend begegnen und wie sie zu meistern sind. Eben darin findet die Wahl des genus grande ihre Berechtigung und ihren Sinn. Gemäß dem heroischen Gattungsschema kann die Geliebte als Inbegriff von Kunst und Tugend nur nach stets erneut bekräftigten Akten der Treue gewonnen werden. Auf diesem Wege mag der Held momentanen Irrtümern und Versuchungen unterliegen. Auch ihnen ist im Sinnganzen die Funktion zugewiesen, beim Helden wie beim Leser die Einsicht in das Richtige und Rechte zu befördern. Derart ist auch bei Stockfleth der Raum des Romangeschehens als ein bedeutungsvoller, vom Wirken Fortunas durchwalteter konzipiert. In ihm hat sich der Held heroisch zu behaupten, um sich am Ende des ungestörten Besitzes der Geliebten erfreuen zu können – die Adaption von Kunst und Tugend ist vollzogen. Dies die im ersten Teil dominante Bedeutungsschicht. Nun gibt es jedoch auch schon in ihm gelegentlich eingesprengte Partien, in denen sich ein antihe––––––––– 367 368
Stockfleth, H.A.: Macarie (Anm. 363), Bl. 2ʌ4r f. Stockfleth, M.K.: Macarie (Anm. 366), S. 267.
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roisches pastorales Ethos geltend macht. Nachdem sich der Held ein erstes Mal der Insel Solette, auf der Macarie zurückgezogen lebt, genähert hat und einem Bewohner der Insel begegnet ist, sieht er sich kurz darauf vom greifbar nahen Ziel wieder abgeschlagen und dem Wirken Fortunas ausgesetzt. Die Verzweiflung stimuliert die Erinnerung an das ehemals genossene schäferliche Leben, in dem er den Schlägen des Schicksals enthoben war und ein ruhiges, unschuldiges Leben führen durfte: O edles Schäfer=Leben! was hat mich dir entnommen? Die Hoheit/ welche sich auf die Begierde zu Kunst und Tugend gründet/ ist zwar lobens werth: aber nicht zu lieben. Die Hoheit giebet mir diesen Felß in einer einsamen Wildnüs; Die Tugend=betrübte Gedancken in dem Gefängnüs der Traurigkeit; Die Kunst schencket dem Verlangen einen kläglichen Verlust: daß ich zu frieden wäre/ wann mich der Himmel meiner Heerde/ mir aber meinen Schäfer=stab wieder zugeben würdigte. Folget ihr/ die ihr Kunst suchet/ eurem Verlangen! mir ist die Bahn zu dornicht. Suchet ihr/ die ihr der Tugend folget/ eure Zufriedenheit! ich nehme meinen Schäfer=Stecken/ und folge meiner Heerde. Ach! aber was sag ich? wie folge ich? die Kunst hat mich verleitet/ daß ich nicht mehr folge; die Tugend abgewendet/ daß ich nicht mehr folgen kan. Das ist die Strafe der Verlassung/ ich habe verachtet/ was ich nun nicht haben kan. Warum hielt ich meinen Hirten=Stand so gering/ solt ich nicht auch in demselben Künste lernen und Tugenden üben können? Woher sind dann die gelehrte Schäfer? von wannen die Tugend=geehrte Hirten?369
Eine derartige Passage dementiert die im Roman vorherrschende Konzeption. Wenn Kunst und Tugend auch dem Schäferstand zufallen, ist der Aufbruch in die heroische Landschaft, wie sie hier durch den Felsen in der einsamen Wildnis signalisiert wird, in der Tat überflüssig. Er kann dann nur noch als ›Irrweg‹ begriffen werden. Ein derartiges Verständnis legt der Roman jedoch keineswegs nahe. Nur intermittierend zwischen die Stationen der heroischen vita activa, die in Poliphilus in einem großen Diskurs über die Einsamkeit ihren überzeugten Fürsprecher findet, blendet der Autor das pastorale Ideal der vita contemplativa ein. Die konsequente Ausrichtung des Helden auf Kunst und Tugend soll und muß dem Leser als vorbildlich erscheinen. Erst Maria Catharina Stockfleth hat den Weg, den Poliphilus im ersten Teil des Romans nimmt, einer prinzipiellen Kritik unterzogen und ihn bereits vom Ansatz her verworfen. Sie deutet seinen Ausbruch aus dem Schäferstand und sein Streben nach Kunst und Tugend nur als Begierde nach Macht, Ruhm und Ehre und damit als Verrat an den pastoralen Idealen. Poliphilus erinnerte sich alsobald seiner Sünde/ daß er/ aus Hochmut/ seinen Schäferstand verlassen/ und durch Kunst und Tugend groß zu werden/ sich dieser und anderer Gefahr freywillig unterworffen hatte. [...] Freylich bin ich nicht unschuldig/ sondern muß gestehen/ daß ich aus blosser Hoffart und Ehrgeitz/ meinen Schäfer=Stab von mir geworffen/ und durch Kunst und Tugend Ehr zu suchen/ ausgezogen bin: da ich doch lauter Widerwärtigkeit gefunden/ und an statt der ruhigen Freyheit/ welche ich in meinem vorigen Stand genossen/ diese elende Gefängnus dulten muß.370
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Stockfleth, H.A.: Macarie (Anm. 363), S. 49 f. Stockfleth, M.K.: Macarie (Anm. 366), S. 72. Vgl. auch ebd., S. 87 ff., S. 252 und S. 263.
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Hofkritik Kunst und Tugendstreben werden in den Augen der Autorin funktionalisiert, indem sie für die Befriedigung weltlicher Gelüste herhalten müssen. Wahrhaftes Streben nach Kunst und Tugend ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf soziale Reputation, mit der bewußt vollzogenen und freiwillig bejahten Einnahme des in der gesellschaftlichen Hierarchie vorgefundenen Platzes, auch und gerade, wenn dieser ein niederer ist. Die im zweiten Teil des Romans vorgeführte Rückkehr von Poliphilus in den Schäferstand und die Gewinnung Macaries für das schäferliche Leben ist gleichbedeutend mit einer Absage an gesellschaftliches Avancement und höfisch-heroische Repräsentation um des einen Ideals willen, das im Schäfertum seit eh und je verkörpert war: Wissenschaft, Kunst und Tugend ungestört und gefahrlos praktizieren zu können. Hand in Hand mit dem Bekenntnis zum Schäfertum geht die schonungslose Abrechnung mit dem Hof. Die Metamorphose vom ›verkehrten‹ zum ›bekehrten‹ Schäfer, die von bedeutenden Argumenten im zweiten Teil des Romans begleitet wird, präsentiert sich nicht nur als Apotheose auf das bürgerlich-gelehrte Schäferideal, sondern zugleich als radikale Satire der vita aulica. Erst aus dieser Perspektive gewinnt die Rückkehr in den Schäferstand ihre auch gesellschaftlich begründete Notwendigkeit. Wie sein Vorgänger Celadon gerät Poliphilus nach seinem gescheiterten Selbstmordversuch an den Hof. Und wie d’Urfé in der Astrée decouvriert nun Dorilis im zweiten Teil der Macarie das Wesen des Hofes in seiner Repräsentation, der Königin. Sie sucht die Verbindung zwischen Poliphilus und Macarie beharrlich zu verhindern. Die Intrigen, die sie zur Erreichung ihrer Zwecke in die Wege leiten muß, rücken sie in die Tradition des in den heroischen Gattungen beheimateten lasterhaften Tyrannen. Zugleich fixiert und vertieft die Autorin die in der Erzählschicht aufbrechende Dualität zwischen Hof und Schäfertum im Medium des gelehrten Diskurses, dem hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. So entspinnt sich zwischen den Antipoden der Handlung ein Gespräch, als Poliphilus der Königin seinen Entschluß eröffnet, sein Leben am Hof mit dem des Schäfers zu vertauschen. Mit dem der Autorin eigenen Tiefsinn weiß sie Geschehen und Erörterung zu verknüpfen, indem sie den Diskurs mit einer bedeutungsschweren höfischen Szene eröffnet. Eine Bedienstete der Königin vermag ihrem Kinde den Wunsch, mit in die Schäferei zu ziehen, angesichts ihrer Erfahrungen bei Hofe nicht abzuschlagen: Dann ich sihe/ daß die Hof=Gunst sehr ungewiß/ und viel leichter zu erwerben/ als zu erhalten sey. Ich habe die Königliche Gnade bißher mit so vielen gefärlichen und sträflichen Handlungen unterstützet/ daß ich fürchte/ es möchte ein so geflicktes Gebäu/ dereinst unversehens in einen Hauffen fallen/ und meine Glückseeligkeit zu grund richten; oder das hohe Alter möchte mich endlich zu Diensten untüchtig machen/ sonderlich/ wann eine jüngere und geschicktere mir die Schuhe austreten solte. Dann ob gleich Atychintide der Königlichen Hoheit/ in äuserlichen Bezeugungen sich äusert/ so träget sie doch in ihrem Gemüt eine warhafte Königin/ und kan deme/ der sie erzürnet/ ihre hohe Gewalt mit durchdringenden Worten zu vernehmen geben. Jst also dieses verborgene Feur eben so sehr/ als eine
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung offenbare Flamme/ zu fürchten/ und der freye Hirtenstand solcher Gefärlichkeit weit vorzuziehen. Jch will aber mit diesem Vorsatz inhalten/ biß ich sehe/ wie die Königin gegen eure Entschließung sich anstellet.371
Die Königin kann gar nicht anders als der Verklärung des Schäferstandes zu opponieren, und wenn sie schließlich doch nachgibt, so nur in der Hoffnung, Macarie desto leichter von Poliphilus’ Seite reißen zu können. Höfische und schäferliche Wertnormen sind unvereinbar. Das höfische System nötigt – wie schon aus der kleinen einleitenden Erzählung deutlich wird – seinen Teilnehmern den Zwang zur Verstellung, zur ›sträflichen Handlung‹ auf, wenn anders sie überleben wollen. Für die Königin sind Kunst und Tugend nur unumgängliche Voraussetzungen gesellschaftlichen Ansehens. Am unbegreiflichsten dünkt ihr daher der aus der Wahl des Schäferstandes resultierende doppelte Verzicht auf Ehre und Ruhm einerseits, Herrschaft und Macht andererseits: Wie schön solte es doch stehen/ wann Polyphilus/ dessen Ruhm albereit Städte und Länder erfüllet/ und noch immer im steigen ist/ den edlen Stand der Kunst= und Tugend=Lehre verlassen/ und sich gesellen wolte/ zu der allerseltzamsten Art von Leuten: welche/ wider die Natur des Menschen (der von den Gelehrten ein geselliges Thier genennet wird) die Einsamkeit erwählen/ gleich den wilden Thieren in Wäldern und Feldern herum wandern/ und nicht wenig von der Einfalt der Schafe/ welche sie weiden/ an sich haben! Bedenket doch nur/ Polyphilus! ob der bäurische Hirtenstand verdiene/ daß ihr um seinet willen/ die liebliche Blüte der Weißheit und Tugend/ welche eure Jugend so häuffig hervor bringet/ verderbet/ und euch damit selbst/ der süßen Früchte des Glückes und der Ehre/ so euch die Hoffnung zusaget/ beraubet? Träge und unedle Gemüter/ die mehr zu dienen/ als zu herrschen geboren sind/ gehören zu den Hirten/ und nicht Polyphilus: dessen Verstand und Verdienst von dem Himmel selber/ zu hohen und herrlichen Verrichtungen gewidmet ist.372
Ordo humilis Es ist jedoch die wortwörtliche Ernstnahme des ordo humilis und aller daraus folgenden Konsequenzen, um die es Poliphilus und mit ihm der Autorin zu tun ist. Mit einer Beharrlichkeit, die aus den vielen Lobpreisungen schäferlichen und den Verurteilungen höfischen Lebens deutlich hervorsticht, insistieren Held und Autorin gerade auf den Chancen und Vorzügen des niederen Standes: Wer weiß dann/ Gnädigste Königin! (fiel ihr Polyphilus/ der diese verächtliche Widerrede nicht länger anhören können/ in die Rede) ob nicht die Schäfer in solchem Zustande viel glückseeliger sind/ als diejenige/ von welchen sie verachtet werden. Alles was E. Maj. zu deren Verkleinerung angeführet/ ist viel gültiger/ diesen Stand beliebt/ als verhasst zu machen. Dann die Einsamkeit/ wann sie nicht eine billige Strafe der Boßhaftigen/ sondern eine Tugendliche Erwählung/ ist von den Vernünfftigen allezeit hoch gehalten/ auch/ in gewisser Maß/ hohen Gesellschafften vorgezogen worden: Weil sie den Lastern wehret/ zu welchen uns die Hof= und Städtische Gemeinschaft der Menschen verleitet. Der jenige ist glückseelig/ der in dieser Welt verborgen lebet/ und niemanden als Gott und ihm selber bekant ist. [...] Was unvollkommen ist/ Durchleuchtigste Königin! [...] das bedarff einen Zusatz. Was häßlich ist/ hat einer zierlichen Decke vonnöten. Die vollkommene Tugend
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Ebd., S. 260 f. Ebd., S. 263 f.
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pranget mit ihr selber/ und hat nicht Ursach/ ihre Herrlichkeit und Ansehen durch einen fremden Glantz zu verstärken: weil man sonst vielmehr das Kleid/ als sie selbst bewundern würde. Jhre natürliche Schönheit bedarff keiner Schminke/ sondern je blasser sie erscheinet/ je liebwürdiger sie sich machet: Demnach halte ich einen tugendhaften Schäfer grösserer Ehre würdig/ als einen lasterhaften Großen: und wann er Wissenschaft und Geschicklichkeit mit einem tugendlichen Leben vereinigt/ kan seine Glückseeligkeit nicht gnugsam beschrieben werden.373
Der ganze Roman ist in seinem zweiten Teil eine einzige große Paraphrase auf den einen Satz, »daß der glückseelige Schäfer=Orden/ mehr beneidens/ als verachtens würdig sey«.374 Natürlich ist es keine Frage, daß Dorilis selbst in erster Linie den ›Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz‹ im Auge hat. So wie dem weiblichen Geschlecht in der Gestalt Macaries wird der Gesellschaft an der Pegnitz in dem von Poliphilus angesteuerten Hirtenorden gehuldigt. Er vereinigt nicht die Mächtigen des Reichs, hat nicht die Großen des Adels in seinen Reihen, weiß seine Mitglieder aus dem gelehrten Bürgertum jedoch durch ein Band dauerhafter Werte verbunden. Diese brauchen nicht nur keinen Vergleich mit den höfischen Normen zu scheuen, sondern sind ihnen eindeutig übergeordnet. Man mag darin nur die romanhafte Auswalzung des alten Gegensatzes zwischen höfischem und schäferlichem Leben sehen, dem sich die Autorin vielfach verpflichtet zeigt. Es gibt in historischen Untersuchungen keine Möglichkeit, den Beweis des Gegenteils zu deduzieren. Doch läßt sich im Ernst leugnen, daß in der folgenden Erörterung Themen zur Debatte stehen, die von vitalem Interesse für die mittelständische Gelehrtenzunft sind, weil sie deren soziale Identität betreffen?
Eine hofkritische Stimme aus dem Adel Wiederholt läßt Dorilis im zweiten Teil des Romans ihre Akteure während des Zuges in die Schäferei auf Vertreter des Landadels treffen, bei denen sie nicht nur gastliche Aufnahme, sondern auch stete Bereitschaft zum Gespräch finden. Diese Edelleute haben in der Regel ihre Erfahrungen mit dem Hof bereits hinter sich und es schließlich vorgezogen, aufs Land zurückzukehren, statt sich weiterhin den Fährnissen des Hofes auszusetzen. Das prägt ihre Optik des Hofes. So in einem Gespräch, das seinen Ausgang von der beliebten Frage nach der Tyrannis nimmt. Ausdrücklich besteht der Edelmann auf der Feststellung, daß nicht nur bei Tyrannen, »sondern auch bey klugen/ und/ dem Ansehen nach/ gar gütigen Fürsten/ [...] die Hof=Dienste/ so gefährlich [sind]/ daß ich keinem/ der sonst ein ehrliches Auskommen hat/ dazu rahten wolte.«375 Er selbst habe einem »sehr ––––––––– 373 374
375
Ebd., S. 264 ff. Ebd., S. 267. Vgl. etwa auch ebd., S. 96 ff., S. 278 ff. und S. 589 f., sowie die Partie über den wahren Tugendadel, S. 422 ff. Vgl. auch Stockfleth, H.A.: Macarie (Anm. 363), S. 351 f. Stockfleth, M.K.: Macarie (Anm. 366), S. 186.
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frommen und freundlichen Fürsten gedienet« und sei von ihm über Verdienst »erhaben und begnadet« worden, habe jedoch schließlich freiwillig seinen Abschied genommen, weil die Herrschaft auf unsicherem Boden ruhte und derart die Hof=Gnade/ nicht ohne Verwunderung und Mißfallen meines so gewognen Prinzen/ gesegnet/ und/ in Besitzung meiner vätterlich=ererbten Güter/ meine Ruhe und Sicherheit/ ob gleich bey geringerm Ansehen/ gesuchet: welcher Wechsel/ mich destoweniger gereuet/ je mehr ich täglich erfahre/ wie viel vornehme Ministern/ an unterschiedlichen Höfen/ unversehens von ihrer Hoheit gestürtzet/ der Gnade ihrer Fürsten/ welche ihnen doch so notwendig ist/ als die Lufft selber/ beraubet/ elendiglich ersticken müssen/ und als eine Leiche des Glückes/ allen Vorbeygehenden zu stinken.376
Hier riskiert ein Vertreter aus dem Adel, der so häufig als Konkurrent und als geheimer Adressat der Kritik von seiten der bürgerlichen Gelehrten identifiziert werden muß, eine Polemik, die über das zulässige Maß in den Augen der Bürgerlichen hinausgeht. Die Begleiter des Poliphilus suchen denn auch sogleich diese auf die Gestalt des Fürsten selbst zielende und diese mit einbeziehende Kritik abzuschwächen. Würde ein Bediensteter seinem Fürsten nur »redlich und vernünfftig« dienen, so könne »ihm sein Glück nicht so bald umgestürzet werden.«377 Verlust fürstlicher Gunst und damit die Erfahrung Fortunas am Hof gingen in der Regel auf das Konto des lasterhaften Höflings, nicht des Regenten selbst. Darauf der Edelmann: Jch will nicht läugnen/ [...] das ihrer viele der Gnade der Fürsten/ die sie gemeinlich/ mehr durch Heucheley/ als treue Dienste erlanget/ boßhafftig mißbrauchen/ und zu Beneidung der höhern/ Unterdruckung der Untern/ Bereicherung ihrer selbst/ und Verderbung des Landes/ anwenden: daher ihr Fall eine Bestraffung/ und kein Unglück zu nennen ist. Es kan aber auch einer/ der sein Glück auf lauter Tugenden gründet/ auch mit Klugheit und Vorsicht bewachet/ vor dem Fall nicht sicher seyn. Dann die Hof=Gunst ist viel unbeständiger/ als daß sie ihr von unserm Wohlverhalten solte Fessel anlegen/ und zu stäter Dienstbarkeit sich verpflichten lassen: und erweiset sie ihre Freyheit/ so bald in Belohnung der Schmeicheley/ als der Warheit und Aufrichtigkeit. So suchet auch die Ungerechtigkeit alle Welt zu beherschen/ und ist nicht vergnüget/ wann sie tyrannische Fürsten regiret/ sondern sie bemühet sich auch/ bey gerechten und tugendhafften Prinzen/ unter den Mänteln der Staats=Rähte/ einzuschleichen/ und ihr schädliches Gifft auszusäen. Wer nun obligender Pflicht wegen/ dieses Land=verderbliche Thier anschreyet/ und auszujagen suchet/ wird von dessen gifftigen Zähnen/ dem Neid/ Verleumdung/ und allerhand Nachstellungen/ an Ehre und Glück verletzet werden: Dann es geschihet nicht selten/ daß ein frommer und gütiger Herr/ durch die Ohrenbläser/ zu tyrannischen Thaten gegen Unschuldige verleitet wird.378
In der radikalen Skepsis des Edelmanns zergeht die Hoffnung des Poliphilus, daß am Hofe sich behaupten könne, wer auf die mittleren Chargen setze, indem er sich den hohen Klippen/ welche von allen Winden angefochten werden/ entziehet/ im mittelmässigen Glück ruhet/ und sein Ehrenbild auf den festen Stein eines guten Verdienstes setzet: damit es nicht so leichtlich beweget/ und von allerhand Zufällen umgerissen werden möge.
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Ebd., S. 186 f. Ebd., S. 187. Ebd., S. 187 f.
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Dagegen ein letztes Mal der Edelmann, dem Poliphilus schließlich Recht geben muß: Wer sich [...] einmal auf das unruhige Meer der Hof=Dienste gewaget/ und die Segel seines Glücks/ nach dem Winde Fürstlicher Gnade ausspannet/ muß nachmals dem begehrten Wind folgen/ wohin er von demselben geleitet wird/ und stehet alsdann sein Steigen oder Ruhen/ nicht mehr in seiner/ sondern in seines Printzen Gewalt: der/ gleich einem Münzer/ Macht hat/ einen schlechten Groschen oder schönen Schau=Pfennig aus ihme zu schlagen. Wie ein Hammer/ ein elendes Werckzeug ist/ und von der Hand/ die ihn führet/ bald erhaben/ bald wieder gesenket wird: also wird auch mancher Hof=Bedienter/ durch eben die Gnade/ welche ihn unbegehrt erhöhet/ ohne Schuld offt wieder gestürtzet.379
Forschungspolitische Perspektiven So bleibt es dem Edelmann vorbehalten, zu artikulieren, was Trauma und Skandalon vor allem für das gelehrte Bürgertum war. Die weder rechtlich noch politisch abgesicherte Integration der Akademikerschaft bürgerlicher Provenienz in Hof und Verwaltung des absolutistischen Staates begründete die soziale Labilität dieser Schicht. Die unaufhörlich vorgetragene Verpflichtung des Regenten auf Wissenschaft, Kunst und Tugend korrespondiert dieser Situation. Nur ein auf humanistische Werte festgelegtes Fürstentum versprach eine gewisse Anerkennung gelehrter Leistung und damit ein gewisses Maß an sozialer Sekurität. Das gelehrte Bürgertum, wie es sich in der Schäferdichtung artikuliert, hat die These, es stehe in der Souveränität des Fürsten, den Vortrefflichen ebenso wie den Schmeichler zu erheben und wieder fallen zu lassen, in dieser Radikalität selten vorgetragen. Und das nicht nur, weil es mit der lutherischen LandesvaterIdeologie groß geworden war, sondern vor allem, weil es im Kampf mit dem stets als verächtlich dargestellten Höfling, dessen adelige Herkunft nur allzu oft erkennbar blieb, nur im gerechten, auf das eruditio-Ideal verpflichteten Herrscher einen Bündnispartner im Formationsprozeß des frühabsolutistischen Staates wahrnehmen konnte, bei dem es sozialen Rückhalt erwarten durfte und seine Interessen aufgehoben wußte. Deshalb steht auch an dieser Stelle neuerlich das so häufig verwendete Bild des den Ränken der Höflinge und Räte ausgesetzten Monarchen. Als deren Opfer aber erscheint auch der Kritiker, dem das Gemeinwohl am Herzen liegt. Im fiktionalen Gefüge der Schäferdichtung kann der Konflikt mit der korrupten Schicht am Hof und in der Verwaltung unterhalb der fürstlichen Spitze durch den Rückzug in den Schäferstand geschlichtet werden, dessen emphatische Vergegenwärtigung vor diesem Hintergrund Relief gewinnt. Der sozialfunktionalen Analyse und Interpretation des Romans obliegt jedoch die Erschließung der in Kritik und Utopie eingehenden ständepolitischen Implikationen. Ist im Bild des unter den Gesetzen Fortunas stehenden Hofes auch die Sabotage von Kenntnis und Leistung angesichts traditionaler Privilegien angedeutet, so ist im Bild des kunst- und tugendliebenden Schäfertums im Blick auf den Fürsten – dem zu––––––––– 379
Ebd., S. 188 f.
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gleich ein Spiegel wahrer bzw. ein Zerrspiegel lasterhafter Regentschaft vorgehalten wird – stets der Typus makelloser, integrer Staatsdienerschaft anvisiert. Diesem Schäferorden, dem Poliphilus und Macarie auch dann noch die Treue bewahren, nachdem sie am Schluß wiederum ihre adelige Abkunft entdeckt haben, wohnt eine Kraft inne, die bestehenden sozialen Normen zu relativieren, und das gerade auch da, wo sie durch die faktische Emigration verfestigt werden. Volker Meid hat in der Macarie einen doppelten Widerspruch entdecken wollen: den zwischen Hof- bzw. Stadtkritik auf der einen, Rechtfertigung weltlicher Obrigkeit und Ständeordnung auf der anderen Seite sowie des weiteren den zwischen gattungsspezifischer Darstellung herrschaftsfreier Verhältnisse und expliziter Hierarchisierung auch der schäferlichen Welt. Die zweite Antinomie beruht auf einem Lesefehler. Poliphilus nimmt nicht, wie Meid behauptet, die Rolle eines ›Vorstehers‹ in der Schäferwelt ein, sondern unterstellt sich, wie die anderen Schäfer auch, einem ›Vorsteher‹, nämlich adeliger Herrschaft.380 Dieser Adlige namens Vinellio ist ein Muster der von den Stockfleths postulierten ›vernünftigen und gerechten Obrigkeit‹. In einem Gespräch mit Poliphilus erweist er sich nicht nur als beschlagen in der humanistischen Thematik, sondern gibt auch ein Vorbild frommer Obrigkeit ab, indem er ausdrücklich das Zeugnis der Offenbarung über die Erkenntnis der Vernunft stellt, ohne diese prinzipiell zu diskreditieren. Richtig ist, daß der freiwillig in den Schäferstand zurückkehrende Poliphilus die innere Freiheit des ›Gemüts‹ durch »eine vernünftige und gerechte Obrigkeit nicht gehemmt« sieht und sich ihr ohne ein Zeichen von Widerstand problemlos unterstellt.381 Der vermeintliche ›Widerspruch‹ aber zwischen Anerkennung, ja ausdrücklicher Rechtfertigung der Obrigkeit in einer streng ständisch gegliederten Gesellschaft und Kritik an Hof und Adel ist kein Spezifikum der Macarie, sondern Gemeingut der deutschen Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts. Aber liegt hier nicht ein komplizierteres Verhältnis als das eines planen Widerspruchs vor? Die »Kritik geht nie so weit, daß sie die Berechtigung des Hofs und des weltlichen Regiments in Zweifel zieht. Diskutiert werden vielmehr so traditionelle Themen wie die Entartung von legitimer Herrschaft in Tyrannei und die Gefahren des Hoflebens.«382 Das ist gewiß zutreffend. Die Verwendung überkommener Themen und Argumente schließt allerdings nicht aus, daß in ihnen aktuelle Interessen formuliert werden. Die Antwort, die hier gefunden wird, ist nicht eine ›individuelle‹, sondern eine standesspezifische, und als solche sozial präformierte. Einen Zugang zur Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts im Umkreis der Sprach- und Dichtergesellschaften des 17. Jahrhunderts wird man nur finden, wenn man die Kritik am höfischen System und eine loyale Obrigkeitsgesinnung zusammenzusehen vermag. Es ist ein Gebot der exakten Reproduktion histori–––––––––
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Vgl. ebd., S. 278 ff. und S. 366 ff. Ebd., S. 368. Meid: Ungleichheit gleich Ordnung (Anm. 362), S. 62.
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scher Befunde, die aus so vielen Textzeugen sprechende Anerkennung, ja Verehrung von Obrigkeit und die mit vielen Argumenten untermauerte Legitimation ständischer Ordnung, wie sie auch die Macarie nochmals prototypisch repräsentiert, nicht zu bagatellisieren oder gar zu unterdrücken.383 Neben der spezifischen, auf Luther zurückführenden Traditionslinie war hier immer wieder auf die historisch-soziologische Konstellation von Fürstentum, Adel und gelehrtem Bürgertum zu verweisen, die im Statuskonflikt mit dem niederen Adel als privilegiertem Herrschaftsstand die Orientierung auf die monarchische Spitze zwingend nahelegte. Religiös verklärte Obrigkeitsgläubigkeit, wie sie in der Tat aus den beiden einschlägigen Partien in der Macarie spricht, desavouiert jedoch nicht den geschichtlichen Gehalt der in der Hirtenwelt verkörperten Ideale. Die Freiheit, von der gesprochen wird, ist gewiß eine ›apolitische‹, ihre Implikate und Konsequenzen brauchen aber deshalb nicht unpolitischer Natur zu sein.384 Hier hat Arnold Hirsch schärfer, und das heißt dialektisch geschulter gesehen. Im Rahmen des lutherisch gedeuteten und akzeptierten Stände- und Obrigkeitsstaates findet das gelehrte Bürgertum des 17. Jahrhunderts im niederen Schäferstand einen Kristallisationspunkt zur Projektion seiner Wertvorstellungen. Unübersehbar ist schon jetzt der Anspruch auf Gleichberechtigung mit dem niederen Adel im absolutistischen Staat. Und klar ausgebildet ist auch bereits das Bewußtsein, daß gerade der sozial niedere Stand der Träger höchster Werte ist. Die politische Transformation des darin eingeschlossenen Anspruchs wird das 18. Jahrhundert beherrschen. Dies erkannt zu haben, ist das große Verdienst von Arnold Hirsch. Die Berufung auf die Tugend wird zu einer Selbstbehauptung des Mittelstandes.[...] Die ›Ehre‹ des Hofmannes wird durch die ›Tugend‹ des Schäfers überwunden. In diesem Begriff erschafft sich das Bürgertum ein Mittel, um die bestehenden Standesunterschiede zunächst vom Moralischen her auszugleichen. [...] In dem von einem frommen Gemüt getragenen Bildungsstreben der Pegnitzschäfer konstituiert sich eine neuzeitliche, moralische Bildungswelt, ein geistiger Bezirk, dem im 18. Jahrhundert große Teile des Bürgertums zustreben.
Die Insistenz auf Wissenschaft, Kunst und Tugend, die im Umkreis der Sprachgesellschaften allerdings noch nicht als »frühe Loslösung [...] von der religiösen Weltdeutung« interpretiert werden darf, bezeugt den Beginn einer Verschiebung im sozialen Raum, der Aufwärtsbewegung des Bürgertums – wie ihre im 18. Jahrhundert nachfolgende endgültige Isolierung und Stärkung die ersten Vollzugsakte des bürgerlichen Selbstbewußtseins darstellen.385
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384 385
Vgl. dazu Stockfleth, H.A.: Macarie (Anm. 363), S. 166 ff., und Stockfleth, M.K.: Macarie (Anm. 366), S. 366 ff., sowie die Interpretation bei Meid: Ungleichheit gleich Ordnung (Anm. 362), passim. Zum Begriff ›apolitisch‹ vgl. Meid: Ungleichheit gleich Ordnung (Anm. 362), S. 63. Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman (Anm. 362), S. 113 ff. Zur Problematik des Barockbegriffs bei Hirsch und damit der Gesamtkonstruktion seines Buches vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen.-
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Zum Ursprung der neueren deutschen Dichtung
Diese Sätze, lange geschrieben, bevor Werke wie die von Reinhart Koselleck oder Jürgen Habermas vorlagen, haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Deutlich geworden sein dürfte indes, daß ihre Geltung nicht auf die Macarie oder die Spätzeit des Nürnberger Ordens beschränkt ist. Die Kategorien von Hirsch umfassen elementare Voraussetzungen und durchgängige Konstellationen der bürgerlich-gelehrten Kunstdichtung des 17. Jahrhunderts überhaupt, deren soziale Grundlagen einleitend umrissen wurden. Nachdrücklich muß deshalb auch vor dem Versuch gewarnt werden, Nürnberg als typische ›Bürgerstadt‹ mit einem nach wie vor mächtigen Patriziat und einer noch immer vergleichsweise potenten Kaufmannschicht für die hier aufgewiesene Thematik der Nürnberger Schäfereien verantwortlich zu machen. Der mit dem Prädikat ›bürgerlich‹ umrissene soziale Gehalt dieser Dichtungen wäre mißverstanden, wenn er derartige Rückschlüsse nahelegte.386 Auch die Nürnberger Poetenzunft war nach allem, was wir bisher wissen, eine gelehrte Enklave im sozialen Verband der Stadt, obrigkeitlicher Reglementierung ebenso ausgesetzt wie die anderen Körperschaften auch.387 Das Patriziat war nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen ein gerne gewählter Adressat von Huldigungen; Impulse zur Bekräftigung ›bürgerlichen Selbstbewußtseins‹ gingen von dort nicht aus, denn die Nürnberger Führungsschichten waren ihrerseits viel zu sehr an adeligen Normen orientiert. Wenn der Analyse der Nürnberger Schäfereien eine Skizze zur historischen Situation der Stadt und der ihrer vorwaltenden sozialen Antagonismen vorangestellt wurde, so auch, um zeigen zu können, daß sie das fiktionale Bild des Schäfertums nicht entscheidend präformierte. In den Nürnberger Schäfereien porträtiert sich das gelehrte Bürgertum des Ordens leicht stilisiert. Der Zusammenschluß in der ›Hirten- und Blumengesellschaft‹ hat gewiß auch den Duktus mancher kühneren Wendung begünstigt, weil man sich des Rückhalts im Orden versichert wußte. Die Argumente, derer man sich zur Selbstdarstellung und ständischen Aufwertung bediente, stammten jedoch aus dem Arsenal der europäischen nobilitas literaria. Die Verbindungen, ––––––––– 386
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Tübingen: Niemeyer 1970, S. 217 ff., sowie Garber: Vergil und das ›Pegnesische Schäfergedicht‹ (Anm. 182), S. 192 ff. Dies Mißverständnis ist auch in den Ausführungen von Ferdinand van Ingen nicht ganz ausgeschlossen, so sehr diese prinzipiell dem vom Verfasser entwickelten Ansatz entgegenkommen. Vgl. ders.: Überlegungen zur Erforschung der Sprachgesellschaften.- In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 27.–31. August 1973. Vorträge und Berichte. Redaktion: Paul Raabe, Barbara Strutz.- Wolfenbüttel: Herzog-August-Bibliothek 1973 (= Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Dokumente; 1), S. 82–106, S. 93 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch von dems.: Die Erforschung der Sprachgesellschaften unter sozialgeschichtlichem Aspekt.- In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen (Anm. 174), S. 9–26 und S. 91 ff. Wiedergabe eines wichtigen derartigen Zeugnisses bei Jöns: Literaten in Nürnberg und ihr Verhältnis zum Stadtregiment (Anm. 177), S. 89, sowie bei Manfred Koschlig: Das Ingenium Grimmelshausens und das ›Kollektiv‹. Studien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes.- München: Beck 1977, S. 256.
Sozietät, Ständekonflikt und Geistesadel
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die hier zwischen den einzelnen Gesellschaften und den gelehrten Institutionen des In- und Auslands verliefen, waren immer noch die Produktion und Rezeption bestimmenden; überregionale Kontakte waren wichtiger als die ortsspezifischen Bindungen. Aber die Einschaltung in den Kreislauf der von den europäischen Humanisten im Rückgriff auf die (römische) Antike geprägten Formen und Themen war doch nur möglich, weil in der Tradition das eigene Anliegen immer noch aufgehoben erschien.
Teil III
Betrachtungen zum Frühwerk Hegels. Mit einem Blick auf Kant und Marx Vorwort Wahl des Gattungs-Paradigmas Die folgende buchähnliche Abhandlung ist als integraler Bestandteil eines Werkes zur europäischen Arkadien-Utopie konzipiert worden und hat sich im Zuge ihrer Vorbereitung – wie andere Teile des nämlichen Buches – zunehmend verselbständigt. Ihr Verfasser muß darauf eingestellt sein, befremdetes Kopfschütteln auszulösen, womöglich gar massive Kritik auf sich zu ziehen. Dort eine – zugegebenermaßen aufwendig angelegte – literaturwissenschaftliche Studie; hier ein in gänzlich andere Bezirke führendes philosophisches Exposé. Die Vermutung ist nur allzu naheliegend, daß verschiedene Themen und Disziplinen, Verfahrensweisen und Erkenntnisinteressen in ein wenig ersprießliches Verhältnis zueinander gerückt worden seien. Es muß offen bleiben, ob die folgenden Bemerkungen geeignet sind, wenigstens partiell dazu beizutragen, Bedenken und Einwände zu zerstreuen. Diese sind so wenig abzulösen von der intellektuellen Biographie ihres Verfassers wie vom Stand der literatur- und geisteswissenschaftlichen Debatten auf der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren – den lebhaftesten und anregendsten seit den zwanziger Jahren, wie wir mutmaßen möchten. An ihnen teilgenommen zu haben, kann nicht ohne Einfluß auf die literaturwissenschaftliche Arbeit und speziell diejenige an der Epoche zwischen Reformation und Revolution bleiben, welche soeben als Makroepoche Konturen in der kulturwissenschaftlichen Forschung gewinnt. Zu ihren Regularien im Blick auf die Literatur gehört, daß diese als im Zeitalter des Humanismus erwachsene streng nach Gattungen organisiert ist und über Hunderte von Jahren in festen Traditionsbahnen verläuft. Steht gegenwärtig das 18. Jahrhundert als Schwellen- und Achsenzeit im Mittelpunkt gerade der Erkundungen auch von literaturwissenschaftlicher Seite, so sollte es zu den vordringlichen Aufgaben gehören, dem Nachleben der überkommenen Gattungen, ihrem Umschreiben und dem Versiegen des geprägten klassizistischen Formenrepertoires zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Nicht alle Gattungen eignen sich gleich gut dazu. Am erfolgversprechendsten sind die Voraussetzungen dort, wo es bereits in der Antike eine deutlich ausgeprägte Überlieferung gegeben hat, sodann frühzeitig eine lebhafte Rezep-
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
tion im Humanismus einsetzte, die Adaptation nicht nur im Lateinischen und zuweilen im Griechischen, sondern alsbald auch in den Volkssprachen erfolgte und schließlich der Zeitraum der produktiven Aneignung lang genug bemessen war, um als qualifiziertes Beobachtungsfeld zu fungieren und also tief in das 18. Jahrhundert hinein bis an die Schwelle der bürgerlichen Revolutionen sich zu erstrecken.
Die Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung als Medium der europäischen Arkadien-Utopie Alle diese Anforderungen erfüllen diejenigen literarischen Gattungen, die als die vornehmsten ›Träger‹ der arkadischen Utopie angesprochen werden dürfen, auf idealtypische Weise. Es sind dies: die im Hellenismus begründete und durch Vergil umgeformte und in gewisser Weise neu begründete Schäferdichtung, als welche sie ihren Siegeszug durch die europäische Literatur antrat; die insbesondere von Horaz begründete Landlebendichtung, neben die mit den Vergilschen Georgica die gänzlich anders organisierte großräumige ländliche Lehrdichtung zur Ausformung gelangte, nomenklatorisch im engeren Sinn auch als ›Georgik‹ apostrophiert, und schließlich die überhaupt erst im 18. Jahrhundert sich formierende Gattung der Idylle, die rasch zu einer besonders beliebten schäferlichländlichen Spielart heranwuchs und noch am Ende des 18. Jahrhunderts eine interessante Weiterbildung in der sog. ›bürgerlichen Idylle‹ erfuhr, als welche sie im 19. Jahrhundert so viele Geister in ihren Bann ziehen sollte. Die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers in seiner gleichzeitigen Rolle als Historiker der europäischen Arkadien-Utopie besteht nicht zuletzt darin, die gediegene quellenkundliche Grundlegung sicherzustellen. Es existiert weder eine Geschichte der europäischen Schäfer- noch eine solche der europäischen Landlebendichtung, von einer Synopse beider Gattungen ganz zu schweigen. Und das nicht zufällig. Insbesondere die Schäferdichtung oder ›Bukolik‹ hat seit der Frührenaissance in Italien einen Aufschwung genommen, der sie für rund fünf Jahrhunderte zu einer der beliebtesten literarischen Formen im Ensemble der Gattungen innerhalb der europäischen Literatur werden ließ. Und das nicht nur im Blick auf die numerischen Größenordnungen, sondern auch auf die Ausdifferenzierung und damit die Vielfalt der Formen. Man ist versucht, von einem literarischen Kosmos sui generis zu sprechen. Er hat sich einer umfassenden geschichtlichen Erschließung bislang entzogen, und es ist nicht absehbar, wann sich daran in näherer Zukunft etwas ändern sollte.
Quellenkundliche Fundierung Geboten ist folglich eine klug angelegte forscherliche wie darstellerische Strategie, um auch über Einschränkungen zu überzeugenden Ergebnissen zu gelan-
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gen. Gefordert werden darf allemal eine gut fundierte europäische Grundlegung. Die wesentlichen Etappen der Evolution der auf der Antike fußenden Gattung im Europa der Frühen Neuzeit müssen bekannt sein, bevor die Entwicklungen in einzelnen Ländern des näheren verfolgt werden können. Denn darauf läuft das in dieser Studie beobachtete Verfahren hinaus. Ist die europäische Basis gelegt, kann, ja muß eine Beschränkung auf die Produktion eines einzelnen Landes statthaben, um zu hinreichend präzisen und verifizierbaren Ergebnissen zu gelangen. Im vorliegenden Fall heißt dies selbstverständlich, die deutsche Schäfer- und Landlebendichtung in den Blick zu nehmen, und zwar derart, daß die allfälligen europäischen Anschlüsse jeweils am Ort und im Fortschreiten des Ganges der Untersuchung hergestellt werden. Wiederum ist zu konstatieren, daß bislang weder eine Geschichte der deutschen Schäfer-, noch eine solche der deutschen Landlebendichtung und schon gar nicht eine parallele Untersuchung beider so eng verschwisterter Zweige existiert. Soll schließlich auch die Idyllendichtung, wie von der Sache her zwingend gefordert, in ein derartiges Vorhaben einbezogen werden, so ist ungeachtet der erwähnten Einschränkungen auf ein einziges Land ein Forschungsprogramm zu bewältigen, das nur in langen Fristen und in großer Umsicht zu einem Erfolg geführt werden kann. Analoges würde für jede andere der ›nationalen‹ Literaturen im Europa der Frühen Neuzeit gelten. Wir müssen uns zufrieden geben, wenn sukzessive gediegene Darstellungen für die einzelnen Länder erarbeitet werden, für die allemal gilt, daß der Blick über die Grenzen hinweg in dieser Zeit des ständigen Nehmens und Gebens ein selbstverständliches Gebot ist. Ohne gute Kenntnis der europäischen Überlieferung als ganzer kein triftiges Bild der jeweiligen nationalen Ausprägungen. Aber eben auch umgekehrt: Ohne Beschränkung auf ausgewählte Räume keine Chance auf ein Vordringen in die lokalen Tiefenschichten.
Ausdifferenzierung von Gattungen Hier ist nicht der Ort, in die Erörterung von Einzelheiten einzutreten. Der Hinweis mag genügen, daß auch die deutsche Produktion bilingual, nämlich deutschund lateinischsprachig bleibt. Und daß sie in der Schäferdichtung allemal und gelegentlich sogar auch in der Landlebendichtung ungeachtet aller ohnehin obwaltenden Verbindungen und ungeachtet der mit der Scheidung einhergehenden und nicht unproblematischen nomenklatorischen Differenzierung eine weltliche und eine geistliche Ausprägung kennt, die eine gleich intensive Erforschung erheischt. Doch damit keinesfalls genug, ist weiteren binnenliterarischen Ausdifferenzierungen Rechnung zu tragen, ohne deren klare typologische Statuierung ein aufwendiges Unternehmen wie das hier skizzierte schwerlich erfolgreich zu absolvieren sein dürfte. Eine Geschichte der deutschen Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung, wie sie uns vorschwebt, wird für viele der einzelnen Formen Neuland zu erschließen und die allfällige geschichtliche Darstellung vielfach erstmals zu er-
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
arbeiten haben. Das gilt, um die Gegebenheiten der verschiedenen Formen nur eben anzudeuten, für die traditionsreichste Ausprägung, eben den von Theokrit und insbesondere von Vergil begründeten Prototyp der Versekloge nicht anders als für die von Martin Opitz als eine deutsche Sonderform begründete und von uns so benannte ›Prosaekloge‹, die zu einem Erfolgsmodell besonderer Art in Deutschland wurde und allein ergiebigen Stoff für eine große Monographie abgeben würde. Das gilt über weite Strecken aber auch für die schäferliche Liebesdichtung, die sich seit der Renaissance in allen Literaturen Europas nochmals vielfältig ausdifferenziert. Keine Pflege der neueren europäischen Liebeslyrik seit Petrarca, die nicht auch die pastorale Variante mit einbezöge, die ja im Werk der hellenistischen und römischen Archegeten bereits angelegt ist. Die unerhört reiche Entfaltung, welche die Schäferdichtung in der Renaissance und im Barock nimmt, rührt jedoch her von der Weiterentwicklung des antiken Formenrepertoires. Erst im Italien des Quattro- und Cinquecento formen sich auf einem langen Weg das Schäferspiel und die Schäferoper heraus und erobern alsbald die Bühnen Europas. Erst im Spanien des Siglo de Oro wird der neuzeitliche Schäferroman geboren, der von Land zu Land und also auch in Deutschland eine eigenständige Physiognomie annimmt und sich neben dem ›hohen‹ und ›niederen‹, dem höfischen und dem pikaresken Roman als eine Erzählform sui generis mit zahllosen Übergängen in die Novellistik und die Verserzählung behauptet. Schließlich reicht es, die Namen etwa eines Angelo Beolco (Ruzzante) oder Antonio de Guevara im Blick auf Europa, eines Johann Rist oder Daniel Czepko im Blick auf Deutschland aufzurufen, um anzudeuten, daß auch das scheinbar so festgefügte ›Lob des Landlebens‹ den vielfältigsten Verwandlungen und Weiterbildungen unterliegt. Nimmt man hinzu, daß diesem reichen Formenrepertoire gerade auch in Deutschland mehr oder weniger deutlich erkennbare geistliche Kontrafakturbildungen zur Seite treten, so tut sich ein weiterer literarischer Kontinent von bislang nicht übersehbaren Ausmaßen auf. Und bei alledem ist noch kein Wort verlautet zu den komplexen und überaus komplizierten Verhältnissen der Überlieferung im 18. Jahrhundert. Die alten Formen erweisen sich als vital und leben teils üppig fort. Zugleich macht das Neue allenthalben sich geltend, wie es nicht nur in der Idylle, sondern auch im Singspiel und schließlich in der sozialkritischen Landdichtung besonders manifest wird. Vossens Luise und Goethes Hermann und Dorothea mögen in gewisser Weise im Blick auf das 18. Jahrhundert einen Abschluß bezeichnen. Zugleich eröffnen sie jedoch eine neue Entwicklung, die in das 19. Jahrhundert hinüberführt und nochmals eine kaum überschaubare Fülle an Werken zeitigt.
Gestaltphysiognomische Semantik als Erkundung historischer Werkgehalte Derart sollte ein Forschungsprospekt umrißhaft markiert sein, dem darstellerisch in einer großen Untersuchung geschichtliches Relief zu verleihen zu den großen Herausforderungen deutscher wie europäischer Literaturwissenschaft gehören
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dürfte. Hier aber geht es um Probleme ganz anderer Art. Die weiterhin lebhafte im Gang befindliche Debatte um eine neue Ausrichtung und Begründung literaturwissenschaftlicher Forschung ist u.a. gekennzeichnet durch einen neuen ›Historismus‹, der mit dem älteren des 19. Jahrhunderts nichts gemein hat. Wir meinen die in den besten Arbeiten laut werdende Forderung, die Werke einzurücken in umfassend rekonstruierte Kontexte und diese mit den Werken in einen produktiven Kontakt zu bringen. Keinesfalls geht es um die Eruierung vorgängiger ›Basis‹-Formationen, die als ursächliche produktive Faktoren für die Entstehung und die Physiognomie der Werke in Anschlag zu bringen wären. Vielmehr zielen entsprechende theoretische Vorstöße auf die Konstitution ›gesamthistorischer‹ Ensembles, innerhalb derer die Werke als durchaus selbständige Faktoren figurieren und ihren unter keinen Umständen ›ableitbaren‹, sondern im Gegenteil genuinen und durch nichts ersetzbaren produktiven Anteil an der Formation geschichtlicher Strukturen und Prozesse besitzen. In den avanciertesten Äußerungen zeichnet sich dementsprechend als unverzichtbarer Beitrag der Literaturwissenschaft die rasch benannte und doch unendlich schwer zu bewerkstelligende Aufgabe ab, den historischen Gehalt der Werke dingfest zu machen. Dieser gibt sich nicht in Programmen oder Proklamationen zu erkennen, hat nichts gemein mit der ›Weltanschauung‹ oder dem ›Geist‹ eines Autors oder einer Epoche, sondern haftet ausschließlich an stilistischen Gegebenheiten und ist folglich nur einer gestaltphysiognomischen Betrachtung zugänglich. Stoffe und Motive, Bilder und Metaphern, Handlungsstrukturen und diskursive Elemente etc. sind gleich prägnante Werkschichten, denen eine auf die historische Semantik der Werke ausgerichtete Forschung sich bevorzugt zuwenden wird. Je intensiver die Vertrautheit mit den formativen Kräften einer Zeit, die im Werk Gestalt gewinnen und seinen historischen Gehalt begründen, desto größer die Aussicht auf Erfolg. Werke, so ein schönes Wort Adornos, seien anzuschauen und zu lesen als geschichtsphilosophische Sonnenuhren. Einen ›Heliotropismus‹ ganz eigener Art bescheinigte ihnen der späte Benjamin in seinen ›geschichtsphilosophischen Thesen‹. Mögen die Bilder die Richtung weisen, in der zu denken und praktisch zu verfahren wäre, wenn anders eine auf strenge Geschichtlichkeit bedachte exegetische Bemühung in den Kunstwissenschaften Platz greifen sollte.
Spezifika arkadischer Utopik An dieser Stelle ist indes nur ein Wort zu sagen über die Funktion, die den nachfolgenden Ausführungen zugedacht ist. Die arkadische Utopie, welche den Brennpunkt der geschichtlichen Erschließung der Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung bezeichnet, zählt nach landläufiger Vorstellung nicht zu den klassischen Ausprägungen der abendländischen Utopie. Diese haftet primär an dem Entwurf von Sozialmodellen, in denen einer defizitären Gegenwart das Bild einer andersgearteten besseren Zukunft entgegengehalten wird. Es bedarf keines
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Wortes, daß arkadische Texte und Bilder sich diesem vorgängigen Mechanismus versagen, leben sie doch von der Beschwörung eines Glücks, das alleine jenseits der Gesellschaft bzw. allenfalls an ihrem Rande erfahrbar wird und sich kreuzt mit einer Erfahrung von Zeit, die an uranfänglichen Parametern haftet und futurische Aspekte überhaupt erst im Zuge neuer geschichtsphilosophischer Schübe im 18. Jahrhundert gewinnt. Die vordringliche Aufgabe, welche einer Gattungsgeschichte der Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung gestellt ist, die den Texten ihren Nexus mit den Gestaltungen der abendländischen Utopie zurückgewinnen möchte, läßt sich also dahingehend bestimmen, daß jenes mit der Konstruktion der Texte gegebene und nur ihnen eignende geschichtliche Potential aufzudecken und freizulegen ist, welches sie zu einer utopie-theoretischen und -geschichtlichen Betrachtung qualifiziert. Und eben hier tritt die Philosophie in ihre Rechte ein.
Uneigentliches Sprechen allegorisch konzipierter Figuren Die Schäferdichtung – und auf andere Weise auch die Landlebendichtung – lebt seit Vergil – und in Ansätzen auch bereits bei Theokrit – von der literarischen Statuierung eines Standes, der von vornherein allegorisch konzipiert ist. Der literarische Schäfer – wie auf andere Weise der literarische Landmann – ist mehr und anderes als der Schäfer der Wirklichkeit. Zwei Jahrtausende lang besteht eine selbstverständliche und poetologisch immer wieder bekräftigte Übereinkunft, die Hirten in einer Art und Weise reden und agieren zu lassen, die nichts gemein hat mit jenem Stand, der der entsprechenden Literatur seinen Namen leiht. Damit ist von vornherein ein unerschöpfliches Feld uneigentlicher poetischer Strategien eröffnet, die der Hirten- und auf andere Weise der Landlebendichtung einen eigenständigen und vollwertigen Platz im Gattungsensemble der alteuropäischen Literatur bis an die Schwelle der Moderne auf der Wende zum 19. Jahrhundert sichern. Der poetische ›Trick‹ besteht nicht zuletzt darin, dem Schäfer und Landmann eine soziale, mentale und poetische ›Niedrigkeit‹ zuzuschreiben, die sich bei genauerem Hinsehen und in jeder Hinsicht als eine ›Hoheit‹ erweist, der alle Prädikationen einer gegenweltlichen und als solcher einer utopischen Figuration inhärent sind.
Soziale Figuration und ›verkehrte Welt‹ Der Schäfer wie der Landmann ist als fiktive Figur den bestehenden Ordnungen jedweder Art enthoben. Ihrer beider Leben ist ein ausschließlich artifizielles. Sie gewinnen damit eine Freiheit zum Probieren und Durchspielen von sozialen, mentalen, poetischen Modellen, deren apriorische kontrafaktische Natur unverkennbar ist. Dazu gehört, um nur diesen einen Aspekt zu akzentuieren, die soziale Positionierung, die dem Topos ›verkehrte Welt‹ gehorcht.
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Der Schäfer und der Landmann führen jenseits der Gesellschaft bzw. an ihrem Rande ein Leben nach selbst gegebenen Regeln und Ordnungen, in denen sich umrißhaft und verpuppt in schäferlich-ländliche Gebräuche und Gebaren Elemente alternativer sozialer und mentaler Strukturen abzeichnen. ›Natur‹, amöne Landschaft und ländlicher Lebensraum fungieren, wie auch immer im einzelnen ausgestaltet, als Freiräume, in denen erprobt und gelebt wird, was nach schäferlicher und bäurisch-ländlicher Philosophie das Leben allein zu einem lebenswerten macht. Der Rückzug, die Emigration aus der Gesellschaft ist die Vorbedingung dafür, diese mit Lebensentwürfen derart zu konfrontieren, daß die Grenzen der faktischen Ordnungen ins Blickfeld geraten.
Philosophische Fluchtlinien Die Schäfer- wie die Landlebendichtung ist mit anderen Worten geprägt von einer Dichotomie, die auf ganz andere Weise in der Moral- und Gesellschaftsphilosophie des idealistischen Zeitalters wiederkehrt. Den entscheidenden Anstoß gab selbstverständlich Rousseau. Über Hamann und Herder, Kant und Schiller sind die Impulse bis in das Werk Hegels, ja noch Marxens zu verfolgen. Ihnen allen standen nicht zuletzt die inzwischen voll entfalteten, auf Evasion, Emigration, Eskapismus lautenden literarischen Modelle vor Augen. Sie kamen überein im Leiden an der Gegenwart und im Entwurf von Gegenmodellen in Raum und Zeit, in denen allemal oppositionelle und allzu oft dichotomische Figurationen Gestalt gewannen, die eine denkerische Herausforderung bargen, denen sich keiner der geschichts- und gesellschaftsphilosophisch aspirierten Denker entziehen konnte. Auf einer Metaebene wurden Probleme reflektiert, die auf andere Weise eine gestalthafte Beheimatung in den schönen Künsten hatten. Das mochte es attraktiv erscheinen lassen, aus den Gefilden der Literatur für eine Weile in die Bezirke der Philosophie herüberzuwechseln und sich dem Duktus einer Reihe von großen Entwürfen anzuvertrauen. Im Umgang mit der Literatur und ihren Gestalten nach Geschwistern in der Philosophie Ausschau zu halten, hatte Walter Benjamin in seinem berühmten Wahlverwandtschaften-Aufsatz empfohlen. Einem verwandten Impuls verdanken auch die nachfolgenden Ausführungen ihr Dasein. Wie erwähnt, war die folgende Abhandlung geplant als abschließender Teil eines Buches zur Kritik der arkadischen Utopie in der europäischen Literatur mit speziellem Fokus auf den Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland. In ihr werden die Probleme der literarischen Utopie in einem anderen Medium, der Philosophie, analysiert, und damit zugleich die systematischen Grundlagen für eine in den literarhistorischen Teilen vorgenommene immanente Kritik der Texte gewonnen. Sie zeigt, wie Argumentationsschemata aus der Dichtung in der Philosophie wiederkehren und wie in der Philosophie Hegels erstmals die maßgeblichen Kategorien zur Kritik dieser Argumentationen entwickelt werden, ohne die auch die Marxsche Theorie nicht denkbar ist.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Der Bogen zwischen der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts dort, der Philosophie Hegels hier (mit einem Blick zurück zu Kant und einem Blick voraus zu Marx), ist weit gespannt. Verfechter von klaren, nach Stoffgebieten säuberlich geschiedenen Fachgrenzen werden argwöhnen, es werde Heterogenes vermischt. Die Einheit ist jedoch in der Sache begründet. Die literarhistorische Untersuchung verfolgt die Genese und Entfaltung bürgerlich-gelehrter Mentalität vom Beginn der neueren deutschen Dichtung im Umkreis Martin Opitzens bis an die Schwelle der Klassik in Vossens Luise und Goethes Hermann und Dorothea am Beispiel der Bukolik, der Georgik und Idyllik.
Literarhistorische Vergewisserung Legt der Rückgriff auf eine vergleichsweise periphere literarische Gattung wiederum die Vermutung nahe, daß es sich hier um ein spezielles literarhistorisches Problem handelt, so gehört es gerade zu den Aufgaben einer gediegenen literaturwissenschaftlichen Untersuchung, aus den abgelegenen, vielfach unbekannten und sporadisch überlieferten Zeugnissen bestimmte Tendenzen im Zuge der kulturellen Überlieferung einer über lange Zeit an der Spitze des literarischen Geschehens stehenden Schicht im Deutschland der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren. Der gewählte Zeitraum ist dabei nach hinten wie nach vorne stets nur willkürlich zu begrenzen. Zurückgehend in das 15. und 16. Jahrhundert wäre viel schärfer als hier möglich der Typus der stadtbürgerlichen Kultur von jener der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts abzuheben gewesen, hätte die Formierung der protestantischen Orthodoxie und der Gegenreformation in ihrer schwerlich zu überschätzenden Bedeutung für die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts systematisch aufgezeigt und vor allem der Zusammenhang mit der neulateinisch-humanistischen Dichtung in beständigem Rückgriff und Vergleich hergestellt werden müssen. Davon ist nur verkürzt und jeweils aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts die Rede. Und die Entfaltung von Erzählmustern, die tief in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts angelegt sind, in der Idylle und Dorfgeschichte, in der Natur-, der Heimat- und Bauerndichtung, schließlich der Blutund Bodenliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, die Pervertierung latenter Traditionen in Vitalismus, Rassismus und Faschismus ist völlig ausgeklammert und muß einer künftigen Studie vorbehalten bleiben.
Soziologische Spezifizierung Die neuere deutschsprachige Kunstdichtung, die sich in der Opitzschen Fassung gegen andere gleichzeitige Versuche (Weckherlin, Zincgref, Hock) in Anlehnung an die europäische Renaissancedichtung in vehementer Ablehnung der heimischen bürgerlichen Kultur des 16. Jahrhunderts durchsetzt, ist das Produkt
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einer exklusiven, gelehrten bürgerlichen Oberschicht von Professoren, Schulmännern, Juristen, Pfarrern, Medizinern, Verwaltungsbeamten. Diese literatursoziologisch am ehesten den lateinischsprachigen Späthumanisten des 16. Jahrhunderts vergleichbare Gruppe ist nicht nur Träger der städtischen Sprach- und Dichtergesellschaften in Leipzig und Hamburg, in Danzig und Königsberg, in Straßburg und Nürnberg etc., sie stellt nicht nur das Gros der Mitglieder in der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹, sondern ist auch noch ein maßgeblicher Träger der höfischen Kultur des 17. Jahrhunderts. In dieser nimmt, wie Richard Alewyn am eindringlichsten gezeigt hat, die Literatur nur eine untergeordnete Stelle ein. Im Dienste des Hofes sind die Dichter Arrangeure und Regisseure des höfischen Festes, und dieses ist ein Gesamtkunstwerk aus Wort und Musik, Ballett und Tanz, Aufzug und Maskerade, Turnier und Jagd, gipfelnd in Theater und Oper. In Cartells und Szenenblättern wird nur die Abfolge der Aufzüge in dürren Worten festgehalten, in der Huldigung an den Fürsten und die Hofgesellschaft hat das Wort der Dichter eine panegyrische Funktion, im Theater und in der Oper bildet es ein Element neben anderen, und keineswegs das wichtigste. Aber das gelehrte Bürgertum produziert in Deutschland auch die prominenteste höfische literarische Gattung, den höfischen Roman. Der Pfarrer Andreas Heinrich Bucholtz eröffnet die Sequenz, der neben Birken erste ›freie Schriftsteller‹ Philipp von Zesen nimmt sie vielgestaltig auf, und die vermutlich reifste Leistung entstammt mit Daniel Casper von Lohensteins Arminius der Feder eines hochgestellten Breslauer Syndikus. Auch Anton Ulrich von BraunschweigWolfenbüttels Aramena und Octavia wären ohne Hilfe eines versierten Literaten und Redaktors wie Sigmund von Birken schwerlich zustande gekommen.
Höfische Kultur und bürgerlich-gelehrte Mentalität Die absolutistische Hofkultur ist nicht zuletzt eine Leistung des gelehrten Bürgertums, das im Hof einen ebenso potenten wie ehrgeizigen Mäzen fand. Es wäre eine der wichtigsten und verlockendsten Aufgaben, zu klären, ob und in welcher Form diese gelehrte Zunft in ihrem Bündnis mit dem Hof Spuren in den kulturellen Hervorbringungen des Absolutismus hinterlassen hat. In den nicht für den Hof geschriebenen oder an ihn adressierten Werken aus dem Umkreis der Sprachgesellschaften, zu denen auch der überwiegende Teil der Schäferund Landlebendichtung gehört, ist die politisch und kulturell führende Macht des 17. Jahrhunderts, der sich formierende absolutistische Hof, zwar durchweg direkt oder indirekt präsent. Doch macht sich deutlich ein gelehrtes Bewußtsein und ein gelehrter ständischer Anspruch geltend, der sich vor allem in Absetzung von der traditionalen Führungsschicht des Adels bekundet und in der Formulierung eines eigenen, auf Leistung und Kompetenz beruhenden Ethos zu behaupten sucht. Gelehrsamkeit gilt als unabdingbare Voraussetzung für die literarische Produktion. Der poeta doctus verleiht den res gestae der höfischen Gesellschaft
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Dauer, indem er sie im Wort festhält, und Wahrheit, indem er ihren Sinn entdeckt, der sich auf dem gelehrten Weg des typologischen Verfahrens erschließt. Das begründet die Würde dieses Standes und seine Reputation gegenüber Adel und Hof. Zugleich hat Gelehrsamkeit im 17. Jahrhundert eine ethische Komponente. Indem sie Einsicht in ein Unvergängliches gewährt, das allem geschichtlichen Wandel enthoben bleibt, wie er der Zeit eindringlich in den Religionskriegen, die das Verbürgte stürzten und in den Strudel staatlicher Machtkämpfe hineinzogen, vor Augen stand, war nicht zuletzt sie es, die dafür einstand, daß das Leben auf Wahrheit gegründet blieb. Deren wichtigster Aspekt ist in ethischer Hinsicht Mißtrauen gegenüber den Sinnen und Ermahnung zur Askese. Durch diese Forderung ist das gelehrte, dem Hof gegenüber aufgeschlossene Bürgertum gleichermaßen dem antihöfischen Flügel des Bürgertums in den alten Reichsstädten wie auch der absolutistischen Hofgesellschaft selbst verbunden. Das Eigene tritt erst in der Differenzierung hervor. Der Protest aus den ehemals blühenden und Ende des 16. Jahrhunderts ökonomisch und kulturell im Abstieg befindlichen Reichsstädten ist ohnmächtig. Der Rekurs auf altdeutsche Redlichkeit und Biederkeit, Treue und ›Teutschheit‹ ist ein Versuch, dem heraufziehenden absolutistischen Hof, der der Selbständigkeit so vieler Reichsstädte ein Ende bereitete, mit ideologischen Argumenten zu begegnen, das Neue im Namen des Alten zu verdächtigen und zu bekämpfen. Opitzens mehr als ein Jahrhundert lang unbestrittener Erfolg beruhte gerade darauf, daß er dem studierten Bürgertum einen Weg hin zum Arrangement mit der führenden Macht des Jahrhunderts wies, der die Zukunft gehörte. Das extensivste und in gewisser Weise das faszinierendste Bild der höfischen Gesellschaft entwirft der höfische Roman. Wir besitzen bisher keine Arbeit, die diese höfische Gattung par excellence als Utopie des zeitgenössischen Absolutismus deutete und den Beziehungen zu ihm bis ins einzelne nachginge. Das Ideal der constantia prägt wie das Trauerspiel so auch diesen Zweig des europäischen wie des deutschen Romans. Der vorbildliche Held ist Herr seiner Leidenschaften. Gerade im Spätbarock bei Lohenstein zeigt sich zugleich der politische Impetus dieses Ideals. Derjenige, der Opfer seiner Leidenschaften wird, ist zugleich prädisponiert dafür, ein Opfer von Intrigen zu werden. Kühle Vernunft garantiert die Bewahrung des eigenen Selbst und die Behauptung gegenüber dem Konkurrenten bei Hof. Ratio als Mittel zur Disziplinierung der Untertanen und zur Stabilisierung der Herrschaftsgewalt ist in der höfischen Literatur eine öffentliche, eine politische Tugend, keine private und defensive. Dem höfischen Helden ist sie Instrument zur Durchsetzung politischer Zwecke, dem gelehrten Bürgertum Medium zur Artikulation eines kulturellen und sittlichen Führungsanspruchs, der gelegentlich auch die Funktion hat, das fehlende Sozialprestige zu kompensieren.
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Sprengung der gelehrten Enklave im 18. Jahrhundert Wenn das 18. Jahrhundert dem höfischen Barock forschungspolitisch kontrastiert wird, so darf der Gegensatz nicht in erster Linie im Blick auf die Produzenten von Literatur gesucht werden, sondern eher in einer Umschichtung des Publikums. Der Hof hält auch im 18. Jahrhundert an den im 17. Jahrhundert nach Deutschland importierten Formen fest: am Theater und vor allem an der Oper, am Singspiel, am festlichen Aufzug; er beschäftigt nach wie vor ein ansehnliches Heer bürgerlich-gelehrter Talente, für das das Weimar Goethes nur das berühmteste Beispiel stellt. In gewisser Hinsicht gelangt erst im 18. Jahrhundert die höfische Kultur zu ihrer vollen Blüte. Die Dichter aber sind zunehmend nicht mehr ausschließlich auf den Hof angewiesen. Die Literatur des 17. Jahrhunderts ist – wie uns Erich Trunz gelehrt hat – ein exklusives Ereignis für eine verschwindend kleine gelehrte Schicht, deren Breitenwirkung im umgekehrten Verhältnis zur wechselseitigen Beteuerung ihrer Wichtigkeit steht. Erst im 18. Jahrhundert erobert sie zunehmend ein interessiertes Lesepublikum, das mit dem Auftreten Klopstocks zudem seine gelehrte Exklusivität verliert und Frauen ebenso wie Jugendliche und Unstudierte mit einschließt. Literatur wird aus dem Ghetto der gelehrten Enklaven befreit und zu einer Angelegenheit der sich formierenden bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich in zahlreichen jetzt entstehenden Zeitschriften und Rezensionsorganen, Lesezirkeln und Clubs diverser Provenienz vielgestaltige Foren auch der literarischen Diskussion schafft.
Empfindsame Wende Einen weniger beachteten, aber durchaus maßgeblichen Anteil an der Neuformierung des literarischen Lebens hat die Wendung, die die Literatur seit der Mitte der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts nimmt und die in den hier zur Rede stehenden Gattungen besonders nachhaltig in Erscheinung tritt. Das eruditäre Ideal, Erbschaft des europäischen Humanismus, in der gelehrten Literatur des 17. Jahrhunderts fest verankert und normative Instanz im Blick auf das Selbstverständnis der Verfasserschaft nicht anders als im Blick auf die konkurrierenden Stände und deren Wertesystem, unterliegt einer Metamorphose und nimmt zunehmend eine sentimentale Färbung an. Dieser Umschlag ist nur begreiflich angesichts des Aufstiegs der empfindsamen Bewegung, die alle Lebensbereiche ergreift, in der Literatur ihre vielleicht vornehmste Heimstatt erhält und insbesondere in der Idylle ein geradezu paradigmatisches literarisches Organon. Aus der Innerlichkeit einer integren und unanfechtbaren Subjektivität heraus erfolgt der Entwurf eines Lebens und eines Zusammenlebens in kleinen, von den nämlichen Wertvorstellungen getragenen Gemeinschaften, in denen ein Ideal von Humanität imaginiert wird, das weiterhin einen ebensowohl minoritären wie elitären Status besitzt, gleichwohl expressis verbis als alle Menschen verbindendes und in diesem präzisen Sinne als allgemeinmenschliches deklariert
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
wird. Ihm ist es eigen, Attraktivität zunehmend für jene Schichten zu gewinnen, die keinen Anteil an der gelehrten Kultur besaßen, ja auch von dem aufgeklärten Aufbruch allenfalls am Rande berührt waren, nun jedoch Signale vernehmen, die Teilhabe und Teilnahme verheißen. Als Umwälzung Jahrhunderte in Geltung befindlicher Werte und Normen, als anthropologische Revolution mit weitreichendsten Folgewirkungen muß die Genese wie die Ausbreitung der empfindsamen vogue inmitten des 18. Jahrhunderts begriffen werden. Sie hat dem Jahrhundert der Aufklärung ein neues Gesicht verliehen. Ja, des Paradoxons wegen wäre mit nicht unerheblichem Recht von dem aufgeklärten Jahrhundert als einem empfindsamen zu sprechen.
Idylle als empfindsames und sozialkritisches Organon Doch warum diese Erinnerung? Weil Schäfer und Landleute als privilegierte ›Naturstände‹, wie es in der Poetik hieß, dazu ausersehen waren, dem neuen Bild des seine Emotionalität entdeckenden Menschen literarische Statur zu verleihen. Und mehr als das. In der Idylle wurde ein halbes Jahrhundert lang der literarische Prozeß bis an die Schwelle von Klassik und Romantik an vorderster Stelle vorangetragen. Nachdem Rokoko und frühe Empfindsamkeit die Idylle nicht anders als das Schäferspiel und das Landgedicht zu ihren bevorzugten literarischen Medien erhoben hatten, vollzog sich auch noch die Radikalisierung der Literatur im Zeichen der Spätaufklärung womöglich am augenfälligsten und prägnantesten in jener Gattung, die von ihrem Motivbestand her auf die Präsentation von naturnahen – und entsprechend spiegelbildlich von gesellschaftsfernen – Verhältnissen hin angelegt war, nun aber aus ihrer Mitte heraus zum Organon vehementer Sozialkritik sich fortbildete, ja schließlich noch aktiv teilnahm an der Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft. Eine Annäherung der stets ›uneigentlich‹ konzipierten literarischen Gestalt des Schäfers und des Landmanns an den unfreien und geknechteten Stand des Bauern im Ancien régime hatte sich vollzogen, die wie die Einlösung eines Versprechens erscheinen mochte, das die Gattung seit jeher mit sich führte. Und dieser Prozeß wurde begleitet von den lebhaftesten und leidenschaftlich geführten Debatten um die ästhetische Stringenz einer in der Empfindsamkeit menschheitlich konstruierten Figur, die zunehmend ins Visier einer Kritik geriet, welcher es vorbehalten blieb, statt Allegorismus ›Naturwahrheit‹ einzuklagen, auf ›Realismus‹ zu pochen und den letzten, nun verebbenden Impulsen humanistischer Figurenführung gerade im Blick auf den Schäfer und Landmann kein Verständnis mehr entgegenzubringen vermochte. An der Idylle sind wie an vielleicht keiner anderen Gattung des Zeitalters sonst grundsätzliche literaturpolitische Debatten von einem intellektuellen Niveau entfacht und ausgefochten worden, die ihnen ein bleibendes Bürgerrecht in der Geschichte literarischer Kritik weit über das Zeitalter der Aufklärung hinaus sichern sollten.
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Menschheitliche Subjektivität und ständischer Ordo Uns aber interessiert im folgenden ein Problem, dessen klassischer Ort der Austragung die Philosophie blieb. In Opposition zur faktischen Gesellschaft konstituierte sich das literarische Subjekt in der Verkörperung des Schäfers und Landmanns. Diese humanistische Mitgift radikalisierte sich in der Empfindsamkeit. Erst jetzt verband sich mit der neuen, Verstand und Sinne, Kopf und Herz, Leib und Seele zu ihrem Recht verhelfenden und in diesem Sinne ›ganzheitlichen‹ Anthropologie ein Anspruch auf Gehör und Daseinsberechtigung, der nicht folgenlos bleiben konnte. Eine Kluft tat sich auf zwischen dem Bewußtsein, menschheitliche Rechte wahrzunehmen, und einer Realität, die ihrer ständischen Verfaßtheit nach nicht dazu angetan war, universalen Ansprüchen Geltung zu verschaffen und Lebensraum zu gewähren. Die Schäfer- und Landlebendichtung hatte diesen Konflikt in Latenz seit eh und je mit sich geführt. Nun geriet er als ein radikaler und auf keine Weise zu schlichtender in ein Stadium akuter Aktualität. Wie vermochte Unvereinbares gedacht zu werden, wie der circulus vitiosus, aufgespannt zwischen den Polen einer auf ihre Rechte pochenden Subjektivität und einer ganz anderen Zielen verpflichteten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, in eine denkerische, sodann in eine praktische und schließlich in eine ästhetische Balance überführt zu werden? Der eine Weg führte in die Kunst, speziell die Literatur. Die Klassik lebt durch und durch von der Arbeit an diesem Konflikt und seiner Schlichtung. Mit einer neuerlichen Inspektion der Idyllentheorie Schillers und des Arkadienmotivs im Werk des klassischen Goethe wird auch die Arkadien-Utopie in ihren literarhistorischen Partien zum Abschluß gelangen. Der andere Weg führte in die Philosophie, und von ihm soll im folgenden die Rede sein.
Philosophische Analoga Niemand hat sich dem Problem einer denkerischen Bewältigung des in seinen Augen tiefgreifendsten Problems der nachantiken Zeit rückhaltloser gestellt als Hegel. Ja, man wäre versucht zu sagen, daß die philosophische Geburtsstunde der Dialektik eben mit dem ungeheuren Anspruch zusammenhing, den die philosophische Lösung dieser aporetischen Konfiguration von Innerlichkeit und Gesellschaft mit sich führte. Eine Dichotomie war denkerisch zu bewältigen, die in dieser Radikalität erst im 18. Jahrhundert sich geltend machte und die – wie wir wähnen – maßgeblich über die Langzeitwirkungen der Empfindsamkeit in die Welt getreten war. Hegel wurzelte viel zu tief im 18. Jahrhundert, hatte vor allem über seine Tübinger Stiftszeit zu engen Kontakt mit dem Jugendwerk nicht nur Schillers oder Hölderlins, als daß ihm die Probleme, mit denen in der Literatur seit Klopstock, Wieland und Lessing gerungen wurde, nicht auch von dieser benachbarten Seite her vertraut waren. Es macht die Größe seines Jugendwerkes aus, daß
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er es verstand, die Problematik aus der Gegenwart herauszulösen und in die antike Polis sowie mit dem Wirken Jesu in die Anfänge des Christentums zurückzuverlagern. Das gab ihm die Freiheit, die aus einem Konflikt in der Gegenwart resultierende Aporetik in eine religionsphilosophische zu transponieren und in dem derart gewonnenen Rahmen Probleme von Subjektivität und Gesellschaft, Freiheit und Notwendigkeit, Besonderem und Allgemeinen so zu behandeln, daß die Applikation auf die eigene Zeit jederzeit möglich blieb, die Probleme jedoch als generelle der nachantiken Welt traktiert zu werden vermochten. Schon im Jugendwerk zeichnen sich folglich die Linien wo nicht der Systembildung, so doch der künftigen geschichtsphilosophischen Linienführung des Hegelschen Werkes ab. Es gehört zu dessen Größe, daß er den Fragen die denkerische Treue bewahrte, auch wenn die Wege, die er einschlug, zunehmend fortführten von den radikalen Positionen, die er anfangs bezogen hatte. Das Frühwerk Hegels wird daher im Zentrum der folgenden Blätter stehen. Nicht anders als das Schellings oder Fichtes formt es sich heraus in Kenntnis und in expliziter und impliziter Auseinandersetzung mit dem Werk Kants, an dem fortan niemand mehr vorbei gehen konnte, der auf der Höhe der Zeit philosophisch das Wort zu ergreifen gedachte. Entsprechend wird mit einem knappen Blick auf die Probleme der philosophischen Konstitution einer politischen Freiheitslehre im Werk Kants unser Gang der Untersuchung eröffnet werden. Umgekehrt zeichnen sich mit der Ausarbeitung der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Hegels, an deren Schwelle wir enden werden, bereits konstitutive Probleme insbesondere der Rechtsphilosophie des späteren Hegel ab, die sich in dem Maße verschärften, wie er die von ihm aufgewiesenen Brüche in der Sphäre der politischen Ökonomie über eine schließlich apotheotisch anmutende Philosophie der Sphäre des öffentlichen Rechts in Gestalt des Staates zu schlichten sich anschickte. Marx hat das Werk des jungen Hegel nicht gekannt. Es war von Ausnahmen abgesehen nicht publiziert. Er begegnete einem reifen Hegel, der vielfach eigene Positionen aus seiner Jugend lange hinter sich gelassen hatte. So mochte die denkwürdige Situation eintreten, daß Marx denkerische Probleme ein weiteres Mal nachvollzog und bearbeitete, an deren Lösung auf andere Weise, doch vielfach mit ähnlichem Ergebnis, der junge Hegel sich bereits versucht hatte. Dieser Umstand mußte es verlockend erscheinen lassen, so wie eingangs vorab der Blick für einen Moment lang auf Kant gerichtet war, analog dazu und nun in Kenntnis des Hegelschen Frühwerks abschließend und in durchaus anspruchsloser Form auch noch dem Diagnostiker der bürgerlichen Gesellschaft Karl Marx einige Sätze zu widmen – und dies nicht zuletzt angesichts des stilistischen Duktus seines Werkes, der ihn – neben Heine! – als glanzvollsten Prosaisten seiner Zeit ausweist.
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Pro domo Und damit sei Gelegenheit genommen, mit einigen wenigen persönlichen Worten zu schließen. Der Verfasser hat das Glück gehabt, in Richard Alewyn einem begnadeten Leser und einem ebenso gewissenhaften Erzieher im Blick auf das Lesen von Texten seiner Schüler zu begegnen. Die Dissertation zur Auffassung der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts zehrte auf jeder Seite von den empfangenen Anregungen. Als unvergeßliche Bonner Jahre des Lernens bei diesem großen Menschen und Wissenschaftler zu Ende gingen, tauchten je länger desto intensiver neue anregende Gestalten im Blickfeld des Langzeit-Dissertanten auf. Das Werk Theodor W. Adornos und Max Horkheimers, Herbert Marcuses und Wolfgang Abendroths, eher am Rande dasjenige von Ernst Bloch und Georg Lukács vermittelte frische und über die zweite Hälfte der sechziger Jahre hinweg gleichbleibend intensive Impulse. Gleichzeitig trat das Werk Walter Benjamins hervor und erweckte nochmals eine Faszination eigener Art. Blieb ein Wunsch zunächst ungestillt, so war es der, die philosophischen Autoritäten dieser denkerischen Phalanx der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennenzulernen. In Jahren angestrengtester philosophischer Arbeit Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre war es möglich, das bis dato verabsäumte Pensum nachzuholen. Die folgenden Blätter sind eine Frucht dieser Beschäftigung. Sie führen weit fort von den arkadischen Texten und ihren Problemen, gewiß. Doch möchte der Verfasser die genossene Schulung nicht missen und hält sich versichert, daß die soeben eingeleitete Wiederbegegnung mit den seit langem vertrauten schäferlichen und ländlichen Texten von dem seinerzeitigen Ausflug in die Philosophie profitieren dürfte.
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Dialektik der Freiheit: Grundzüge der politischen Philosophie Kants
Schwermut des Gemüts und Empfindelei Eine Brücke zu Kant mag Wolf Lepenies Werk Melancholie und Gesellschaft bilden. Lepenies beendet sein Kapitel ›Zum Ursprung bürgerlicher Melancholie: Deutschland im 18. Jahrhundert‹ mit einem Streifzug durch ›Langeweile und Melancholie in der Philosophie‹ und hebt insbesondere den differenzierten Beitrag Kants zur Diskussion um das Phänomen der Melancholie hervor.1 Ethik und Ästhetik Kants bergen durchaus einen positiven Begriff von Melancholie. Ein innigliches Gefühl vor die Schönheit und Würde der menschlichen Natur [...] nähert sich so gar der Schwermut, einer sanften und edlen Empfindung, in so ferne sie sich auf dasjenige Grausen gründet, das eine eingeschränkte Seele fühlt, wenn sie, von einem großen Vorsatze voll, die Gefahren sieht, die sie zu überstehen hat, und den schweren aber großen Sieg der Selbstüberwindung vor Augen hat. Die echte Tugend also aus Grundsätzen hat etwas an sich, was am meisten mit der melancholischen Gemütsverfassung [...] zusammenzustimmen scheinet.2
Schwermut ist die Antwort des Gemüts auf die Gewalt, welche Vernunft den Sinnen antut, um dem Sittengesetz gegenüber den widerstreitenden Neigungen Geltung zu verschaffen. Und sie ist eine mögliche Reaktion auf eine Welt, in der sittliches Handeln ›Gefahren‹ birgt, weil die Menschen weit entfernt davon sind, sich als Selbstzweck zu achten. Falschheit, Undankbarkeit, Ungerechtigkeit, das Kindische in den von uns selbst für wichtig und groß gehaltenen Zwecken, in deren Verfolgung sich Menschen selbst unter einander alle erdenkliche Übel antun, stehen mit der Idee dessen, was sie sein könnten, wenn sie wollten, so im Widerspruch, und sind dem lebhaften Wunsche, sie besser zu sehen, so sehr entgegen: daß, um sie nicht zu hassen, da man sie nicht lieben kann, die Verzichttuung auf alle gesellschaftliche Freuden nur ein kleines Opfer zu sein scheint. Diese Traurigkeit [...] ist, weil sie auf Ideen beruht, erhaben [...].3
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2
3
Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 104– 117. Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.- In: ders.: Werke. Band I: Vorkritische Schriften bis 1768.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 821–884, S. 839 (A 27 f.). Nach den Seitenzahlen der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen sechsbändigen Ausgabe folgen in Klammern die dort ebenfalls nachgewiesenen Angaben für den Erstdrucks bzw. die Erstdrucke. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft.- In: ders.: Werke. Band V: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1957, S. 233–620, S. 367 f. (B 127; A 125 f.).
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Dieses erhabene moralische Gefühl ist der Reflex auf einen Dualismus, der einerseits die einzelnen Individuen spaltet, andererseits zwischen dem sittlich Handelnden und der Welt verläuft. Die Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit, von Sittlichkeit und Glück in der Welt hat Kant bekanntlich unter der Idee des höchsten Gutes gedacht. In einem unendlichen Progreß erhoffte er sich eine zunehmende Annäherung der Menschheit an dieses Ideal. Aber da er skeptisch blieb hinsichtlich seiner Verwirklichung und allzu überschwengliche Hoffnungen als Schwärmerei kritisierte, sah er eine auf ›Ideen gegründete‹ Melancholie auf unabsehbare Zeit potentiell den moralischen Idealisten begleiten. Scharf ins Gericht gegangen ist Kant dagegen mit einem Gefühlskult, den er in der Empfindsamkeit seiner Zeit vor Augen hatte. Man hat mutige, man hat zärtliche Rührungen. Die letztern, wenn sie bis zum Affekt steigen, taugen gar nichts; der Hang dazu heißt die Empfindelei. Ein teilnehmender Schmerz, der sich nicht will trösten lassen, oder auf den wir uns, wenn er erdichtete Übel betrifft, bis zur Täuschung durch die Phantasie, als ob es wirkliche wären, vorsätzlich einlassen, beweiset und macht eine weiche aber zugleich schwache Seele, die eine schöne Seite zeigt, und zwar phantastisch, aber nicht einmal enthusiastisch genannt werden kann. Romane, weinerliche Schauspiele, schale Sittenvorschriften, die mit (obzwar fälschlich) sogenannten edlen Gesinnungen tändeln, in der Tat aber das Herz welk, und für die strenge Vorschrift der Pflicht unempfindlich, aller Achtung für die Würde der Menschheit in unserer Person und das Recht der Menschen (welches ganz etwas anderes als ihre Glückseligkeit ist), und überhaupt aller festen Grundsätze unfähig machen [...]: vertragen sich nicht einmal mit dem, was zur Schönheit, weit weniger aber noch mit dem, was zur Erhabenheit der Gemütsart gezählt werden könnte.4
Nährt sich Melancholie im Sinne Kants von der Trauer, aber auch der Verzweiflung über die moralische Unvollkommenheit der Welt, deren Beseitigung sie ersehnt, so ist für ›Empfindelei‹ der Anlaß ein gleichgültiger. Wo die Realität das Gefühl nicht stimuliert, da muß die Kunst herhalten. Die Erzeugung melancholischer Schauer wird bewußt veranstaltet und nichts mehr gefürchtet als der Entzug des Gefühlskatalysators und der Abbruch der Schwelgerei. Nicht deutlicher könnte der Einspruch gegen eine »Empfindsamkeit, die zum Betrieb geworden ist«, ausfallen.5 Der Einwand Kants ist an dieser Stelle ausschließlich ethischer Art. Empfindelei verweichlicht und verhindert die ›mutige‹, die enthusiastische, die sittliche Tat. Doch liegen ihm weiterreichende Motive zugrunde.
Schauplatz Welt und empfindsame Evasion Lepenies hat in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Aufsatz Friedrich Kaulbachs hingewiesen.6 Mangelnde Welterfahrung, fehlende Menschenkennt–––––––––
4 5 6
Ebd., S. 363 f. (B 122 f.; A 121 f.). Lepenies: Melancholie und Gesellschaft (Anm. 1), S. 107. Friedrich Kaulbach: Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant.In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Hrsg. von Friedrich Kaulbach, Joachim Ritter.- Berlin: de Gruyter 1966, S. 60–75.
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nis und unzureichende Einblicke in die gesellschaftlichen Mechanismen – womöglich unter Berufung auf die höheren Werte des Gefühls – waren Kant nicht nur suspekt. Er suchte vielmehr diesen Untugenden als akademischer Lehrer bewußt entgegenzuwirken und »wollte in seinen Vorlesungen über Anthropologie einerseits und physische Geographie anderseits seine Hörer durch eine Art von Unterweisung für das richtige Kennenlernen von Menschen und Natur vorbereiten.« Denn die »Welt ist das Substrat und der Schauplatz, auf dem ›das Spiel unserer Geschicklichkeit vor sich geht‹«, in der sich nicht nur theoretische oder reine praktische, sondern auch pragmatische Vernunft bewähren soll.7 Indem der Denker auf der Kenntnis von Realität insistiert, verhindert er, daß ein Weg ohne Umkehr zur Innerlichkeit eingeschlagen wird [...]. Indem Kant die Melancholie nicht auf eine Natur bezieht, die als die wahre bezeichnet wird und die Lösung von der Gesellschaft erleichtert, wenn nicht zur Pflicht macht, sondern indem er den Bezugspunkt in der Welt und in der Gesellschaft selbst annimmt, widersetzt er sich der Tendenz zur Innerlichkeit, welche seine Zeit prägte.8
So wendet sich Kant »nicht gegen die melancholische Absonderung [...], aber er widersetzt sich einer Flucht aus der Gesellschaft, die mit der Denunziation letzterer verbunden ist.« Nicht wird auf einen Begriff von Einsamkeit rekurriert, wie er »in gängiger Diskussion dazu herhalten mußte, das wertgesättigte Pendant zu Gesellschaft zu bilden, in welcher dann versammelt waren: Trubel, Sittenlosigkeit und die Langeweile der höfischen Schichten.«9 Denn wenngleich »[s]chwermütige Entfernung von dem Geräusche der Welt aus einem rechtmäßigen Überdrusse [...] edel« ist, so ist Kant doch weit entfernt davon gewesen, sie ausdrücklich zu empfehlen.10 Er bezeugt Verständnis, wo er ein lauteres moralisches Motiv zugrunde liegen sieht. Doch sollte das ironische Fragezeichen nicht übersehen werden, das Kant hinter die Flucht aus der verdorbenen Welt setzt, wenn er das ersehnte Glück in den bekannten utopischen Chiffren umreißt als »Hang zur Eingezogenheit«, als den phantastische[n] Wunsch, auf einem entlegenen Landsitze, oder auch (bei jungen Personen) die erträumte Glückseligkeit auf einem der übrigen Welt unbekannten Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu können, welche die Romanschreiber, oder Dichter der Robinsonaden, so gut zu nutzen wissen [...].11
Schüren die Dichter aber damit nicht eben jenen Eskapismus – und sei er auch moralisch legitim – der davor resigniert, zum Besseren zu wirken? Ermuntern sie nicht zur Flucht, wo es gegolten hätte standzuhalten? Die Philosophie Kants – und zumal seine politische – ist der nüchterne Widerpart zur Emigration ins ––––––––– 7
8 9 10 11
Ebd., S. 62 f. Das angeführte Zitat nach: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IX: Logik. Physische Geographie. Pädagogik.- Berlin: Reimer 1923, S. 158. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft (Anm. 1), S. 109 f. Ebd., S. 109. Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (Anm. 2), S. 834 (A 18). Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 3), S. 367 (B 127; A 125).
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Schwärmertum. Diese hat ihn im Alter zunehmend beschäftigt. Aufklärerischen Impulsen folgend, bediente er sich nicht nur der gelehrten Abhandlung, sondern ebenso des populären Zeitschriftenartikels, um ein breiteres Publikum mit seinen politischen Vorstellungen vertraut zu machen. Es ging um nichts weniger als die Absicherung seiner Philosophie der Freiheit im politischen Bereich. Die Entfaltung der Antinomien seiner praktischen und politischen Philosophie ist nicht allein für das Verständnis Hegels und Marxens unerläßlich, sondern versammelt auch die Probleme unserer Untersuchung nochmals im Medium der Philosophie.
Übergang zur politischen Philosophie: Sicherung ›äußerer Freiheit‹ Kants politische Philosophie hat es mit einer zentralen Frage zu tun: den Bedingungen der Möglichkeit zur Verwirklichung von ›äußerer‹ Freiheit auf überindividueller Ebene, d.h. im Zusammenleben und Handeln vernünftiger Wesen. Geht es in der Ethik um die Pflichten Einzelner, so in der politischen Philosophie um die Möglichkeiten der Verpflichtung aller unter Zwangsgesetze. Letztere kreist um die beiden Brennpunkte der Rechts- und Geschichtsphilosophie. Haben es die ›Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‹ aus der Metaphysik der Sitten und alle rechtsphilosophischen Äußerungen im Werke Kants mit der Deduktion apriorischer Prinzipien zur Sicherung ›äußerer‹ Freiheit zu tun, so die Geschichtsphilosophie mit ihrem Ursprung, der bisherigen Realisierung und den zukünftigen Chancen. Beide Bereiche sind durch viele Fäden mit dem Gesamtsystem verknüpft. Das gilt insbesondere für den im Mittelpunkt der Ethik und der politischen Philosophie stehenden Begriff der Freiheit.
Deduktion von Freiheit Hier ist auszugehen von der dritten Antinomie der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft, die sich bei Anwendung der Kategorie der Kausalität auf die regulative Vernunftidee ›Welt‹ als Inbegriff der Totalität der Erscheinungen ergibt.12 Wird in der Thesis die Totalität der kausal determinierten Erscheinungen auf eine letzte, selbst nicht mehr empirisch bedingte Ursache, auf Freiheit, zurückgeführt, so in der Antithese die Annahme von Freiheit als prima causa bestritten und das Unbedingte als Totalität der kausal verknüpften Erscheinungen gefaßt. –––––––––
12
Immanuel Kant: Werke. Band II: Kritik der reinen Vernunft.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956, passim; hier S. 426–433 (B 472–479; A 444–451). Vgl. zum folgenden: Heinz Heimsoeth: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Teil II: Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter.- Berlin: de Gruyter 1967, sowie Theodor W. Adorno: Negative Dialektik.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1966, S. 247 ff. und S. 281 ff.
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Wird im Beweis zur Thesis argumentiert, daß der unendliche Regreß zu immer neuen Ursachen nur durch das Postulat von Freiheit zum Abschluß zu bringen sei, so wird im Beweis zur Antithese dieser unendliche Regreß gerade als Postulat der Vernunft deklariert. Transzendentale Freiheit sei ein ›leeres Gedankending‹, weil es zwischen ihr und den Erscheinungen keinen Zusammenhang gäbe. »Gesetze der Freiheit« in der Natur anzunehmen, würde zur Annahme von Regellosigkeit in der Welt der Erscheinungen nötigen und die »durchgängige und gesetzmäßige Einheit der Erfahrung« durchkreuzen.13 Kant sucht diese (wie die übrigen Antinomien) von seinem transzendentalphilosophischen Ansatz aus zu lösen. Die in der Ästhetik und Analytik der Kritik der reinen Vernunft getroffene Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich erweist sich nun als probates Mittel, Freiheit zu ›retten‹, d.h. in Übereinstimmung zu bringen mit durchgehender Naturgesetzlichkeit – freilich um den Preis einer verhängnisvollen Dichotomie, welche die Ethik, Rechts- und Geschichtsphilosophie in jeweils verschiedener Ausprägung durchzieht und um die es hier geht.14 ›Homo phaenomenon‹ und ›homo noumenon‹ Kant hält fest an dem Ergebnis der Analytik, daß alle Gegenstände als Erscheinung ausnahmslos eine empirische Ursache haben, daß zu jeder Wirkung eine Ursache gesucht, diese wiederum auf eine andere zurückgeführt werden muß und so fort ad infinitum. Natur ist die durch die Kategorien unseres Verstandes konstituierte Einheit der Totalität der Erscheinungen. Ihr gehört der Mensch als Sinnenwesen, als homo phaenomenon, voll zu, und damit unterliegen alle seine Handlungen als erscheinende dem Kausalitätsgesetz, müssen also auf empirische Ursachen zurückgeführt und selbst wieder als Ursachen neuer Wirkungen angesehen werden. Dies schließt für Kant jedoch keineswegs den Gedanken der Idee transzendentaler Freiheit aus. Da alle Erkenntnis stets Erscheinungen liefert, die Dinge an sich gleichwohl denkbar, wenn auch nicht erfahrbar sind, weil sinnlicher Anschauung nicht zugänglich, so steht für ihn die Behauptung, daß der Mensch als empirisches Wesen dem Kausalitätsgesetz verhaftet sei nicht im Widerspruch mit der gegenläufigen, daß er sehr wohl zugleich als intelligibles Wesen zu denken und als solcher dem empirischen Kausalprinzip enthoben und folglich im Besitz von Freiheit sei. Als homo noumenon ist der Mensch mit dem Vermögen ausgestattet, »unabhängig von [...] Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen.«15 ––––––––– 13
14 15
Kant: Kritik der reinen Vernunft (Anm. 12), S. 429 (B 475; A 447) und S. 431 (B 477; A 449). Zum Begriff ›retten‹ vgl. ebd., S. 491 (B 564; A 536). Ebd., S. 490 (B 562; A 534).
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So wie der Gegenstand der Erkenntnis konstituiert wird durch das spontane Vermögen des Verstandes, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf Begriffe zu bringen, so besitzte der Mensch als handelnder eine »Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen.« Diese Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. [...] Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.16
Exemplum Lüge Aufschlußreich ist das Beispiel der Lüge, das Kant in diesem Zusammenhang zur Erläuterung – nicht aber als Beweis – heranzieht.17 Man kann den Ursachen nachforschen, die einen Menschen zum Lügner machen, mag vielleicht Gründe »in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells«, sowie in »Leichtsinn und Unbesonnenheit« finden.18 Derart verhält man sich wie gegenüber der außermenschlichen Natur, verknüpft Erscheinungen nach dem Kausalitätsprinzip und sucht eine möglichst lückenlose Reihe von Determinanten herauszufinden. Doch selbst wenn alle Umstände die Lüge begünstigten, bleibt der Lügner voll verantwortlich für seine Tat. Er hätte als vernünftiges Wesen den Ring der determinierenden Faktoren sprengen und ungeachtet der von Anlage, Charakter und Gesellschaft ausgehenden Zwänge die Wahrheit sagen können. Man hätte das Recht, den Lügner zu tadeln, und dieser Tadel gründete sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar siehet man die Kausalität der Vernunft nicht etwa bloß wie Konkurrenz, sondern an sich selbst als vollständig an, wenn gleich die sinnlichen Triebfedern gar nicht dafür, sondern wohl gar dawider wären; die Handlung wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der Tat, völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen.19
Dieses Beispiel demonstriert die Konsequenzen des transzendentalphilosophischen Ansatzes einerseits für die Ethik, anderseits für die politische Philosophie. Mag das empirische Subjekt auch den heteronomen Einflüssen der Wirklichkeit ausgesetzt sein, so vermag doch das intelligible Subjekt, als das das empirische ––––––––– 16 17 18 19
Ebd., S. 489 (B 561 f.; A 533 f.). Vgl. ebd., S. 503 ff (B 582 ff; A 554 ff.). Ebd., S. 503 (B 582; A 554). Ebd., S. 504 (B 583; A 555).
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stets auch zu denken ist, dem Postulat reiner praktischer Vernunft unabhängig von allen heteronomen Antrieben Geltung zu verschaffen. Der intelligible Charakter als Subjekt transzendentaler Freiheit ist für Kant der Gewalt der Natur ebenso wie der der Geschichte und Gesellschaft enthoben, an denen es nur als empirischer Charakter teilhat. Als intelligibler Charakter steht es »unter keinen Zeitbedingungen [...], denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen«.20 Stände es unter Bedingungen der Zeit, so wäre es ein durch andere Erscheinungen Bedingtes, vermöchte somit nicht selbsttätig und spontan eine neue Reihe von Bedingungen zu eröffnen, wäre also nicht frei. Damit ist zugleich gesagt, daß der unter der transzendentalen Idee der Freiheit zu denkende intelligible Charakter »nichts von der Erfahrung Entlehntes« enthalten kann, denn dann wäre er wiederum bedingte Erscheinung.21 Gleichwohl soll er den empirischen Charakter kausal bestimmen, aber nicht durch eine Kausalität »nach der Natur«, sondern durch eine »aus Freiheit«.22 »Unerfindlich [...], wie ein derart Unzeitliches in die raumzeitliche Welt hineinzuwirken vermöchte, ohne selbst zeitlich zu werden und ins Kantische Reich der Kausalität sich zu verirren.«23
Intelligibler Charakter empirisch nicht affiziert Wird das intelligible Subjekt in dieser Weise in Opposition zur raum-zeitlichen Welt gesetzt, so kann Kant dann in seiner Moralphilosophie reine praktische Vernunft als den einzig rechtmäßigen Bestimmungsgrund der Sittlichkeit ungetrübt von jeder empirischen Bestimmung entwickeln. Seine Ethik beruht auf der Voraussetzung, daß Vernunft nicht nur alle sinnlichen Neigungen bezwingen, sondern auch alle empirischen Impulse des Handelns ausfindig machen und daraufhin prüfen könne, ob sie in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz stehen. Der intelligible moralische Charakter ist ein zeitloser auch in dem Sinn, daß er unabhängig von seiner geschichtlichen Herkunft und seiner sozialen Determination agiert. »Die Instanz aber, an der der intelligible Charakter befestigt wird, die reine Vernunft, ist selbst ein Werdendes und insofern auch Bedingtes, kein absolut Bedingendes.«24 Kant rekonstruiert nirgends wie Hegel dann später die Genese des theoretischen und praktischen Subjekts als eines geschichtlichen, das nur begriffen werden kann in Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber, welches Art und Umfang seiner Freiheit bestimmt.25 Herbert Marcuse hat die aus der Spaltung –––––––––
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Ebd., S. 493 (B 567; A 539). Ebd., S. 489 (B 561; A 533). Ebd., S. 488 (B 560; A 532). Adorno: Negative Dialektik (Anm. 12), S. 249. Ebd., S. 288. Es »fehlte Kant ein Begriff der Geschichte, der den Dualismus zwischen Erfahrung und Postulat, ›Reich der Notwendigkeit‹ und ›Reich der Freiheit‹ tätig überwunden hätte. Hegel
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des Menschen in einen homo noumenon und homo phaenomenon herrührenden politischen Konsequenzen aufgedeckt: Freiheit ist für Kant eine transzendentale ›Tatsache‹, ein ›Faktum‹: sie ist etwas, was der Mensch immer schon hat, wenn er frei sein will. Wie bei Luther, liegt die Freiheit immer schon ›vor‹ jedem freien Handeln, als sein ewiges Apriori; sie ist nie erst das Resultat einer Befreiung, und sie bedarf nicht erst einer Befreiung. Zwar ›ist‹ für Kant Freiheit nur im Handeln nach dem moralischen Gesetz, aber dies Handeln ist prinzipiell jedermann und überall freigestellt. Durch die endgültige Verweisung der Freiheit an das moralische Gesetz als ihre einzige ›Wirklichkeit‹ wird Freiheit mit jeder faktischen Unfreiheit verträglich: sie kann in ihrer Transzendentalität von keiner faktischen Unfreiheit betroffen werden. Zwar ist Freiheit auch eine Befreiung: das Sich-frei-Machen von allen ›empirischen‹ Bestimmungsgründen des Willens, die Befreiung der Person von der für den Menschen als ens creatum konstitutiven Herrschaft der Sinnlichkeit, aber diese Befreiung läßt jede Art von faktischer Knechtschaft unangetastet.26
Deduktion von Recht Die Antinomien der Moralphilosophie kehren nun in der politischen Philosophie Kants wieder, und zwar zunächst in ihren rechtsphilosophischen Aspekten. Recht ist gemäß der klassischen Definition Kants »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.«27 Willkür ist das Vermögen des Menschen, sich in freier Wahl Maximen zu setzen. Daß diese Maximen sittlich zu sein haben, d.h. als subjektive Beweggründe zugleich für eine allgemeine Gesetzgebung tauglich sein müssen, wird in der Ethik entwickelt. Der Rechtsphilosophie geht es dagegen um ein ›allgemeines Gesetz‹, welches die Wirkungen der transzendentalen Freiheit in der raum-zeit–––––––––
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hat diesen Begriff der Geschichte in der ›Phänomenologie des Geistes‹ geschaffen.« Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Band VI: Naturrecht und menschliche Würde.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1961, S. 185. Herbert Marcuse: Ideengeschichtlicher Teil.- In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Hrsg. von Max Horkheimer.- Paris: Alcan 1936 (= Schriften des Institut für Sozialforschung; 5), S. 136–228. Wieder abgedruckt unter dem Titel ›Studie über Autorität und Familie‹ in Herbert Marcuse: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 (= edition suhrkamp; 300), S. 55–156, das vorgelegte Zitat hier S. 94 f. Diese »Vereinigung von innerer Autonomie und äußerer Heteronomie, die Gebrochenheit der Freiheit zur Unfreiheit«, bildet ein Kennzeichen des bürgerlichen Freiheitsbegriffs schlechthin (S. 55).– Daß die Vernunft »sich außerhalb der Zeit als Absolutes setze – eine Antezipation des gleichen Fichte, den Kant befehdete –, ist weit irrationaler als je die Schöpfungslehre. Das trug wesentlich zum Bündnis der Idee von Freiheit mit der realen Unfreiheit bei. Irreduktibel daseiend, verdoppelt der intelligible Charakter im Begriff jene zweite Natur, als welche die Gesellschaft ohnehin die Charaktere ihrer sämtlichen Angehörigen stanzt.« Adorno: Negative Dialektik (Anm. 12), S. 288 f. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten.- In: ders.: Werke. Band IV: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956, S. 303– 634, S. 337 (AB 33).
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lichen Welt, also die empirische ›äußere‹ Freiheit schützt, ohne dafür auf Seiten des Verpflichteten das Sittengesetz in Anspruch nehmen zu müssen. Während ich in der Ethik nur mich selbst verpflichte, beruht Recht auf dem »Vermögen, andere zu verpflichten.«28 Der Urheber der rechtlichen Verbindlichkeit ist also der unter dem Sittengesetz stehende Mensch, dessen äußere Freiheit Recht zu schützen hat. Es unterwirft den Verpflichteten Verbindlichkeiten, die nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen ausgehen. Gleichwohl ist das Zwangsprinzip mit seiner Freiheit vereinbar, denn es hindert den Gezwungenen nicht, aus Pflicht zu handeln, und vollzogen wird erst, nachdem ihn weder ethische noch äußere positive Gesetze bewegen konnten, fremde Freiheit zu achten.29 Damit ist zugleich gesagt, daß es auf der Ebene des Rechts nicht auf die Motivation ankommt, aus der heraus der Verpflichtete handelt. Kein Recht kann mich zwingen, moralisch zu handeln, und niemand kann mich verurteilen, solange ich den äußeren Gesetzen Genüge getan habe. Das ist der Kern der Legalitätstheorie Kants im Unterschied zur Ethik.30 Recht bezieht sich nicht auf Maximen, sondern auf die Bedingungen der Vereinigung der Willkür von Personen. Und eben an der Art dieser Vereinigung wird ein Problem der Kantschen Rechtsphilosophie deutlich.
Recht und Eigentum Die Rechtslehre Kants hat es in ihren beiden Teilen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts nicht mehr ausdrücklich mit dem angeborenen, inneren Recht der Freiheit zu tun, das als das »einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht« mitsamt der daraus folgenden rechtlichen Gleichheit keiner weiteren Deduktion bedarf, sondern mit erworbenen Rechten des äußeren Mein und Dein – mit den Rechten der Menschen, nicht der Menschheit.31 Das rechtlich (äußere) Meine »ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.«32 Das rechtlich Meine ist mein Besitz. Wie aber –––––––––
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Ebd., S. 347 (AB 48). Vgl. Werner Haensel: Kants Lehre vom Widerstandsrecht. Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie.- Berlin: Heise 1926 (= Kant-Studien. Ergänzungshefte; 60). Vgl. des weiteren: Kurt Borries: Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus.- Leipzig: Meiner 1928; Georges Vlachos: La pensée politique de Kant. Métaphysique de l’ordre et dialectique du progrès.- Paris: Presses Universitaires de France 1962 (= Bibliothèque de la science politique. 2. série: Les idées politiques); Éric Weil, Théodore Ruyssen [u.a.]: La philosophie politique de Kant.- Paris: Presses Universitaires de France 1962 (= Annales de philosophie politique; 4); Willi Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. Vgl. dazu unten S. 34 ff. Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 345 (AB 45). Ebd., S. 353 (AB 55).
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kann ich diesen erwerben, rechtlich als meinen erklären und meinen Rechtsanspruch durchsetzen und sichern? Dafür sind zwei Prämissen nötig. Die erste Bedingung lautet, daß die Erde »ein ursprünglicher Gesamtbesitz« der Menschheit sei. »Alle Menschen sind ursprünglich (d.i. vor allem rechtlichem Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat.« Daraus aber folgt – so paradox es klingen mag – eben gerade nicht die Abschaffung des Privateigentums sondern seine Herleitung und Rechtfertigung. Zu diesem Zweck muß Kant Besitz von Privateigentum als eine Idee, als einen »praktische[n] Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können«, einführen.33 Denn würde man das Postulat der Vernunft als historisches Faktum deuten, so müßte man annehmen, daß die Menschen irgendwann auf privaten Besitz vertraglich verzichtet hätten, und dann ließe sich dieser nicht mehr deduzieren. Darum aber geht es Kant gerade. Kant leistet die Ableitung konsequent aus seinem System durch ein »Postulat der praktischen Vernunft«. Es lautet, daß ich berechtigt bin »einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben«, solange ich nicht die Rechte eines andern verletze. Ich muß mir prinzipiell jeden Gegenstand aneignen und meinem freien Gebrauch unterwerfen können, so lange dessen Erwerb und Gebrauch »mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte«.34 Kein Gegenstand darf grundsätzlich als herrenlos erklärt werden, denn dann würde Freiheit nicht von eines anderen zu schützender Freiheit, sondern von einem Gegenstand, von Materie, d.h. von empirischen Faktoren eingeschränkt und das wäre unvereinbar mit dem Postulat praktischer Vernunft.
›Possessio phaenomenon‹ und ›possessio noumenon‹ Derart treten in der apriorischen Naturrechtslehre Kants deutlich empirischsoziale Implikationen hervor. Die Idee transzendentaler Freiheit stößt anläßlich des Problems der Deduktion von Eigentum erkennbar an eine Grenze. Hatte sie in der Moralphilosophie zur Statuierung eines unbedingten sittlichen Subjekts gedient, so kehrt sie nun in der Rechtsphilosophie zur Ableitung und Rechtfertigung des unbegrenzten Erwerbs wieder, solange nicht Rechte anderer verletzt werden. Die absolute Setzung der Freiheit als eines von allen empirischen Bedingungen uneinschränkbaren Prinzips gestattet dem autonomen Subjekt, sich soviel Besitz anzueignen, wie es seiner Verfügungsgewalt unterwerfen kann, ohne mit dem gleichen Recht anderer Subjekte zu kollidieren. ––––––––– 33 34
Ebd., S. 373 (AB 83 f.; B 83 f.). Ebd., S. 354 (AB 56 f.).
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Ausschlaggebend für die »Besitznehmung des Gegenstandes der Willkür im Raum und der Zeit«, d.h. den Erwerb eines sensiblen Besitzes (»possessio phaenomenon«), ist allein »die Priorität der Zeit vor jedem anderen, der sich einer Sache bemächtigen will«. Die Priorität der Besitznahme berechtigt mich dann zur »Bezeichnung (declaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und des Akts meiner Willkür, jeden anderen davon abzuhalten.« Doch dieses Privatrecht ist im Naturzustand durch keine öffentliche Gewalt gesichert. Das geschieht erst im Akt der »Zueignung (appropriatio) [...] eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird.«35 Vorraussetzung dafür ist, daß die Menschen den natürlichen Zustand verlassen haben und in den bürgerlichen eingetreten sind, weil vorher »niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist.«36 Erst im bürgerlichen Zustand ist der Besitz nicht mehr von empirischen Bedingungen abhängig, sondern ausschließlich durch das Recht garantiert. Als rechtlicher Besitz ist er nicht mehr an die räumliche Gegenwart der Person gebunden, sondern auch in Abwesenheit geschützt. Nur im bürgerlichen Zustand gilt daher, daß eine Störung des äußeren Meinen »Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin.«37 Erst in ihm wird ein vorher »provisorisch-rechtlicher [...] ein peremtorischer Besitz«,38 wird eine »possessio phaenomenon« zu einer »possessio noumenon«, d.h. »intelligibler Besitz«.39
Naturzustand und bürgerliche Verfassung Entscheidend ist nun, daß schon der physische Besitz im Naturzustand »die rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn, durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen«; er gilt daher bereits im Naturzustand »komparativ für einen rechtlichen.«40 Die Besitznahme im Naturzustand ist ein Naturrecht, das »einen Rechtsgrund« bei sich führt, auf den »sich jeder erste Besitzer fußen kann« und das im bürgerlichen Zustand nur noch sanktioniert wird.41 Die »bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird.«42 Öffentliches Recht in der bürgerlichen Verfassung enthält folglich »nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [dem Privatrecht] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in ––––––––– 35 36 37 38 39 40 41 42
Ebd., S. 369 (AB 78). Ebd., S. 425 (AB 158). Ebd., S. 357 (AB 61). Ebd., S. 366 f. (A 74 f.; B 74). Ebd., S. 357 (AB 62). Ebd., S. 367 (AB 75). Ebd., S. 360 (AB 66). Ebd., S. 366 (AB 74).
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beiden.«43 Positive »statutarische Gesetze« des Staates können daher dem Naturrecht der Eigentumsbildung keinen »Abbruch« tun, sondern sind an dieses gebunden, denn »der Form nach, enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was sie im bürgerlichen vorschreiben, so fern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird«.44 ›Schein‹ im Recht So führen die Idee eines ursprünglichen Gesamtbesitzes und das Postulat der praktischen Vernunft zu einer bürgerlichen Ordnung, die auf irrationalen Prinzipien beruht. Kant muß selbst zugeben, daß die Fundierung des Rechts auf die Inbesitznahme nach dem Grundsatz zeitlicher Priorität problematisch ist. »Wie ein solcher Akt der Willkür, als jener ist, das Seine für jemanden begründen könne, ist nicht leicht einzusehen«.45 »Die Möglichkeit, auf solche Art zu erwerben, läßt sich auf keine Weise einsehen, noch durch Gründe dartun«.46 Eben deshalb muß die Idee des ursprünglichen Gesamtbesitzes eingeführt werden, um – verbunden mit der Freiheitsphilosophie – die bürgerliche Rechtsordnung zu begründen. Der Rekurs auf Freiheit, welche durch empirische Faktoren nicht eingeschränkt werden darf, führt in eben dieser Empirie zur faktischen Unfreiheit derjenigen, die sich nicht zu den »beati possidentes« zählen dürfen.47 Die Allgemeinheit des Gesetzes, das Kant in seiner Rechtsphilosophie konstruiert, ist nichts anderes als der Regulator zahlloser Einzelaktionen. Es begründet das Recht auf uneingeschränkte Expansion eines jeden, solange er nicht das gleiche Recht anderer verletzt. Aber was heißt das anderes, als daß jeder solange Eigentum erwerben darf, wie er fremdes Eigentum nicht antastet? Leer gehen diejenigen aus, die eine feste Eigentumsordnung bereits vorfinden. Das Allgemeine der von Kant entwickelten bürgerlichen Gesellschaft bleibt folglich mit einem Schein behaftet, der dadurch zustande kommt, daß die besonderen Interessen bestimmter Schichten den Charakter allgemeiner Interessen annehmen, indem sie sich in der Apparatur des Staates scheinbar verselbständigen. Eigentlicher Träger dieser Allgemeinheit sind die am ›Anfang‹ der bürgerlichen Gesellschaft vorliegenden Besitzverhältnisse, die nur dadurch peremtorisch garantiert werden können, daß eine allseitig verpflichtende gesellschaftliche Zwangsorganisation geschaffen wird. Die Allgemeinheit bleibt eine ›private‹ Allgemeinheit, in der die gegensätzlichen Interessen der Individuen nicht in gemeinsamen Interessen aufgehoben, sondern durch die gewalthabende Autorität des Gesetzes nur ausbalanciert werden. Die ›Zufälligkeit‹ des Besitzes wird [...] rechtlich verewigt und aus dem Bewußtsein der Menschen verdrängt. Die aus der Vereinigung von Privateigentümern konstituierte Allgemeinheit kann ihrerseits nur eine allgemeine Ordnung der Ungerechtigkeit konstituieren.48
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Ebd., S. 424 (AB 156). Ebd., S. 419 (AB 150), S. 372 (AB 83) und S. 431 (A 164; B 194). Ebd., S. 369 (A 79; B 78). Ebd., S. 374 (AB 85). Ebd., S. 360. Marcuse: Studie über Autorität und Familie (Anm. 26), S. 90 f.
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Republikanismus Kant konstruiert in seiner Rechtsphilosophie im Abschnitt über das öffentliche Recht den »Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.«49 Alle Staatsbürger müssen in einem solchen Staat als frei, rechtsgleich und gleichberechtigt mitwirkend an der Gesetzgebung gedacht werden. Die Verwirklichung »dieser angebornen, zur Menschheit notwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte«, ist für Kant nur in der republikanischen Verfassung gegeben. Deshalb lautet der erste ›Definitivartikel zum ewigen Frieden‹ lakonisch: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.«50 Nur in ihr sieht Kant eine Trennung der drei Gewalten gewährleistet. Und so forderte er, daß jede empirische Staatsform sich derart umzugestalten habe, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme, und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht [...].51
Dies ist der kompromißlose Beitrag Kants zur Kritik des absolutistischen Staates seiner Zeit. Mit ihm stellt Kant sich in die Tradition der großen Staatstheorie der westeuropäischen Aufklärung, vor allem Montesquieus und Rousseaus. Seine rechtsphilosophischen Äußerungen sind die unbestechlichen Zeugnisse einer politischen Aufklärung, die sich in Deutschland nur allzu selten in dieser Radikalität artikulierte. Gerade deshalb muß es ein Anliegen bleiben, die Probleme aufzuweisen, die geeignet erscheinen, das Grandiose dieser Konzeption zu verdunkeln. Sie dürften zurückzuführen sein auf die Konstruktion eines verinnerlichten Freiheitsbegriffs, um die es in Vorbereitung zu Hegel gehen muß.
Gleichheit aporetisch Rechtsgleichheit – d.h. der Grundsatz daß »keiner den andern wozu rechtlich verbinden kann, ohne daß er sich zugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbunden werden zu können« – ist für Kant sehr wohl mit der größten Ungleichheit des Besitzes vereinbar, und sie muß es sein, wenn er den im Privatrecht entwickelten Ansatz im öffentlichen Recht nicht wieder preisgeben will.52 Wie die liberale politische Theorie insgesamt be–––––––––
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Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 431 (A 164 f.; B 195). Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf.- In: ders.: Werke. Band VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 191–251, S. 204 (BA 20 f.). Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 464 (A 212; B 242). Kant: Zum ewigen Frieden (Anm. 50), S. 204 (BA 21).
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sitzt auch Kant kein Instrumentarium, von seinem Ansatz her materielle Gleichheit zu erwirken. Für ihn kann die rechtliche Gleichheit »ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den Graden ihres Besitztums, es sei an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glücksgütern außer ihnen und an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere« zusammengehen.53 Niemand kann Standesrechte vererben – gegen die Prärogative des Adels weiß auch eine apriorische bürgerliche Sozialphilosophie sehr wohl Argumente bereitzuhalten! – jedermann aber Sachwerte, und so »eine beträchtliche Ungleichheit in Vermögensumständen unter den Gliedern eines gemeinen Wesens [...] hervorbringen«.54 Einschneidenden Beschränkungen unterliegt auch das dritte Grundrecht der aktiven Staatsbürgerschaft, also vor allem das Stimmrecht in den gesetzgebenden Körperschaften. Kinder, Frauen und Eigentumslose, d.h. alle in abhängiger Dienstleistung Beschäftigten, die ihre Arbeitskraft verkaufen (Gesellen, Tagelöhner, Dienstboten usw.), sind von ihm ausgeschlossen. Sie werden »von anderen Individuen befehligt oder beschützt« und können deshalb »keine bürgerliche Selbständigkeit besitzen.«55 Wie schwer es ist, »die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können«, weiß Kant.56 Einen vermeintlichen Ausweg bietet die Annahme, daß ein jeder sich im bürgerlichen Rechtsstaat aus der Abhängigkeit herausarbeiten und Eigentümer werden könne.57 Die politische Theorie der Revolution im Namen der Menschheit entpuppt sich wie die entsprechenden Verfassungen der französischen Revolution vor allem von 1791 und 1795 hinsichtlich materieller Fragen als diejenige einer Klasse, als welche Marx sie dann analysieren sollte.
Sozialvertrag und Widerstandsrecht Kants Sozialphilosophie kristallisiert sich in der Lehre vom Sozialvertrag, der in der Tradition der Naturrechtsdiskussion ausgebildet wurde.58 Er ist für ihn eine –––––––––
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Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.- In: ders.: Werke. Band VI (Anm. 50), S. 125–172, S. 147 (A 238). Ebd., S. 148 f. (A 241). Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 433 (A 167; B 197). Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 53), S. 151 (A 246). Eindeutig werden hingegen die Vorrechte des Adels beschnitten. Auch der reichste Großgrundbesitzer hat nur eine Stimme. Denn wenn es schon überaus schwer ist, die Rechtmäßigkeit von Großgrundbesitz nachzuweisen, wodurch zahllose Menschen abhängig werden, die andernfalls vielleicht selbständig sein könnten, so muß in jedem Fall verhindert werden, daß der Großgrundbesitzer die weniger Besitzenden niederstimmen kann. Vgl. Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 53), S. 151 f. (A 247 f.). Vgl. Bloch: Naturrecht und menschliche Würde (Anm. 25), S. 81 ff.; Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 4., neubearb. und erweiterte Auflage.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962 (= Jurisprudenz in Einzeldarstellungen; 4), S. 167–172; Erik
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Idee der Vernunft, an der jede empirische Verfassung zu messen ist. Wird damit »die geschichtliche Faktizität der bürgerlichen Gesellschaft transformiert in ein ideales Apriori«, so bildet er andererseits doch gegenüber den bestehenden Verfassungen eine normative Instanz.59 Er ist ein »Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.« Durch ihn kann jeder Gesetzgeber verbunden werden, »daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe.«60 Daraus würde ein Recht auf Widerstand von Seiten des Volkes gegen eine den Sozialvertrag verletzende Staatsgewalt folgen. Es ist bekannt, daß Kant ein Gegner jedweden Widerstandsrechts gewesen ist – trotz seiner enthusiastischen Parteinahme für die französische Revolution. Ein Widerstandsrecht müßte »als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden«. Auch Aufruhr gegen das absolutistische Regime ergriffe »die mit Ideen des Menschenrechts erfüllete Seele mit einem Schaudern«, weil hier eine »Umkehrung aller Rechtsbegriffe« stattfände.61 Selbst wenn die Staatsgewalt oder ihr »Agent, das Staatsoberhaupt, so gar den ursprünglichen Vertrag verletzt und sich dadurch des Rechts, Gesetzgeber zu sein, nach dem Begriff des Untertans, verlustig gemacht haben«, darf dieser sich nicht erheben.62 Das Volk kann – wiederum allerdings in sehr eingeschränktem Umfang – von seinem Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch machen, mehr nicht.63 Kommentarlos wird die von Kant herausgearbeitete Unter–––––––––
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Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4., durchgearb. und ergänzte Auflage.- Tübingen: Mohr 1963; Manfred Riedel: Zur Topologie des klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs.- In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291–318; Gottfried Salomon-Delatour: Moderne Staatslehren.Neuwied, Berlin: Luchterhand 1965 (= Politica; 18), S. 384 ff. Zur Genesis des Rechtsgedankens bei Kant vgl. Christian Ritter: Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen.- Frankfurt/Main: Klostermann 1971 (= Juristische Abhandlungen; 10). Vgl. insbes. S. 136 ff. das Kapitel ›Naturzustand und bürgerlicher Zustand‹. Zum Kontext vgl. Gerhard Oestreich: Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Eine historische Einführung.- In: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte. Hrsg. von Karl August Bettermann, Franz L. Neumann, Hans-Carl Nipperdey. Band I/1.Berlin: Duncker & Humblot 1966, S. 1–123, sowie Gerhard Schulz: Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft.- In: ders.: Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur politischen Sozialgeschichte der Neuzeit.- München: Piper 1969, S. 13–111. Der erste Teil der Untersuchung unter dem Titel ›Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Zur Genesis politischer Ideen und Begriffe‹ in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Gerhard A. Ritter.- Berlin: de Gruyter 1970, S. 3–65. Marcuse: Studie über Autorität und Familie (Anm. 26), S. 86. Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 53), S. 153 (A 250). Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 440 f. (A 176 und 178; B 206 und 208). Kant: Über den Gemeinspruch (Anm. 53), S. 156 (A 255). Vgl. dazu die beiden Aufsätze Kants ›Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?‹ von 1784 und ›Der Streit der Fakultäten‹ von 1798.- In: ders.: Werke. Band VI (Anm. 50), S. 51–61 und S. 261–393.
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scheidung zwischen natürlichem und positivem Recht zugunsten des letzteren aufgehoben. Das positive Gesetz wird zur absoluten, uneingeschränkten Gehorsam fordernden Autorität. Die bürgerliche Rechtsordnung zur Sicherung des äußeren Mein und Dein, ohnehin, wie Kant bewußt, auf schwankendem Boden errichtet, wird sanktioniert, um dem Rückfall in die Anarchie als eines Zustands der Rechtlosigkeit vorzubeugen.
Höchstes politisches Gut Die Moralphilosophie und die politische Philosophie Kants laufen jeweils in einem utopischen Fluchtpunkt zusammen. »Es soll kein Krieg sein« – so »spricht die moralisch praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto«. Kants politische Philosophie stellt den imponierenden Versuch dar, die »allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung« mittels politischer Aufklärung zu befördern.64 Unaufhörlich kreist seine späte Philosophie um die ergreifende Idee seines Alters, das ›höchste politische Gut‹ des ewigen Friedens.65 Weit davon entfernt, sie als erbauliche Utopie zu traktieren, begründet er seine Hoffnung mit dem ihm eigenen politischen Realismus. Nur in der in Westeuropa ausgebildeten Theorie des republikanischen Staates sah er eine Gewähr zur Annäherung an sein politisches Ideal, weil nämlich das Volk als Souverän in dieser Staatsform nicht länger der blinden Willkür der Fürsten verfügbar wäre, um in Kabinettskriegen verheizt zu werden. Es würde selbst über Krieg und Frieden entscheiden und, da die Kriegslast doch nur auf ihm liegen würde, den Krieg zu vermeiden trachten. Ein Völkerbund zwischen den (möglichst republikanischen) Staaten sollte »alle Kriege auf immer zu endigen« suchen, indem dieser sich für die »Erhaltung und Sicherung der Freiheit« eines jeden Staates einsetzte.66 Doch da die Staaten im Völkerbund – anders als die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft – ihre Souveränität nicht aufgeben, kann auch ein Völkerbund die Kriegsgefahr nicht endgültig beseitigen. Nur in »der positiven Idee einer Weltrepublik«, die alle Völker der Erde umfaßte, und von der der Völkerbund nur das »negative Surrogat« darstellen würde, ließe sich ewiger Friede verwirklichen.67 Da aber die Staatsgewalt in einem so großen Staat nicht ausreichen würde, jedermanns Recht zu sichern, bleibt der Gedanke eine »unausführbare Idee«.68 Ihr sich fortwährend anzunähern ist die Aufgabe der Menschheit, die Kants Geschichtsphilosophie des Näheren begründet.
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Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 478 f. (A 233 f.; B 264 f.). Ebd., S. 479 (A 235; B 266). Kant: Zum ewigen Frieden (Anm. 50), S. 211 (BA 35). Ebd., S. 213 (BA 38). Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 27), S. 474 (A 227; B 257).
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Telos der Geschichte Sie kann hier nicht erörtert werden, obgleich es an der Zeit wäre, ihre aktuellen Aspekte zu akzentuieren, nachdem eine im Zeichen des Historismus stehende Geschichtsauffassung ihr lange genug mit Unverständnis begegnet ist.69 Die regulative Idee, unter der Kant die Geschichte betrachtet, lautet, daß sie »eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwickelung« in der Entfaltung empirischer Freiheit zeigen müsse. Freiheit ist aber nur in »einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« möglich.70 Telos des Prozesses kann also nur eine »nach Begriffen des Menschenrechts geordnete[...] Staatsverfassung« auf der ganzen Erde sein.71 Der weltbürgerliche Zustand ist der »Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden«.72 Hoffnung, daß die Menschheit sich ihm zunehmend annähere, muß sich einerseits auf ein ›Geschichtszeichen‹ gründen, welches »die Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen [...] beweisen könnte.«73 Ein solches findet Kant in der uneigennützigen Teilnahme der Völker an der französischen Revolution und in dem Enthusiasmus für das Recht, der in den Revolutionären am Werk ist. Ein derartiges Phänomen »vergißt sich nicht mehr«, denn es ist allzu sehr »mit dem Interesse der Menschheit verwebt«.74 Andererseits darf die Menschheit die Schaffung eines weltbürgerlichen Zustandes als »Naturabsicht« vermuten.75 »Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte.«76 Diese »Rechtfertigung der Natur – oder –––––––––
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Vgl. zur Geschichtsphilosophie Kants die (weitgehend deskriptive) Gesamtdarstellung von Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung.- Köln: Kölner Universitäts-Verlag 1963 (= Kantstudien. Ergänzungshefte; 85); ferner: Ludwig Landgrebe: Die Geschichte im Denken Kants.- In: Studium generale 7 (1954), S. 533–544; ders.: Das philosophische Problem des Endes der Geschichte.- In: Kritik und Metaphysik (Anm. 6), S. 224–243; Karl Dietrich Erdmann: Immanuel Kant über den Weg der Geschichte.- In: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein. Historische Betrachtungen und Untersuchungen. Festschrift für Hans Rothfels zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Waldemar Besson, Friedrich Freiherr Hiller von Gaertingen.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, S. 230–248. Wieder abgedruckt in: ders.: Geschichte, Politik und Pädagogik. Aufsätze und Reden. Zum 60 Geburtstag hrsg. von Schülern und Mitarbeitern.- Stuttgart: Klett 1970, S. 183–201; Friedrich Kaulbach: Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bei Kant.- In: Kant-Studien 56 (1966), S. 430–451. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.- In: ders.: Werke. Band VI (Anm. 50), S. 31–50, S. 33 (A 386) und S. 39 (A 394). Immanuel Kant: Zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.- In: ders.: Werke. Band VI (Anm. 50), S. 779–806, S. 804 (A 156). Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Anm. 70), S. 47 (A 407). Kant: Der Streit der Fakultäten (Anm. 63), S. 357 (A 142). Dazu S. 356 (A 141): »Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die, als Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren, und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein [...].« Ebd., S. 361 (A 149 f.). Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Anm. 70), S. 34 (A 387). Kant: Zum ewigen Frieden (Anm. 50), S. 225 (B 62; A 61).
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besser der Vorsehung« – entspringt nicht dem Glauben an die natürliche Güte des Menschen, sondern vielmehr der Überzeugung, daß gerade Ehr-, Herrsch-, Habsucht wie auch andere »eben nicht liebenswürdige[...] Eigenschaften der Ungeselligkeit« den geheimen Zweck haben, die Menschen zum Eintritt in einen Rechtszustand zu bewegen.77 »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht«, denn Zwietracht nötigt die Menschen in einer bürgerlichen Verfassung »sich zu disziplinieren«.78 So bestätigt die Geschichtsphilosophie Kants, daß das Recht die Funktion hat, einen Damm zu bilden gegen die entfesselten Triebe der egoistischen Individuen. Der schrankenlose und im Namen transzendentaler Freiheit ausdrücklich gerechtfertigte Besitztrieb bedarf des allseitigen Zwangs, wenn anders die Menschen überleben wollen. Nirgends zeichnet sich bei Kant ein Allgemeines ab, das mehr und qualitativ etwas anderes wäre als die Einheit von privater Willkür und kollektivem Zwang. So bleibt das perspektivische Ziel seiner Geschichtsphilosophie, der ewige Friede, ein prekärer und labiler Zustand der Balance allseitiger Antagonismen, nicht einer der Versöhnung, wie ihn Hegel dann zu denken versucht. Fortschritt in der Geschichte ist offenkundig nicht zugleich mit der Prolongierung einer antagonistischen gesellschaftlichen Ordnung zu denken. Kant bedient sich einer »undialektischen Vorstellung einer stetigen Annäherung« an die vollkommene Verfassung. Nach ihm finden sich alle Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft als identisch in jenem Endzustand wieder, nur fügen sie sich besser ineinander als in der Gegenwart. Auch Kant verewigt die Kategorien des herrschenden Systems. Die von ihm als Ziel vorgestellte Ordnung wäre wiederum eine solche von selbständig handelnden Personen, aus deren individuell getroffenen Entschlüssen sich freilich die Wohlfahrt des Ganzen reibungslos ergäbe. Dieses Ideal ist in der Tat eine Utopie; wie in jeder Utopie formt der sehnsüchtige Gedanke aus den unveränderten Elementen der Gegenwart ein schönes Bild. Die Übereinstimmung der Interessen aller Einzelnen kann in Kants Utopie bloß als prästabilierte Harmonie, als wohltätiges Wunder verstanden werden.79
Nicht, daß sie Geschichte mit einem bestimmten Interesse und unter einem bestimmten Ziel organisierte, wie ihr der Historismus vorwarf, sondern daß die Implikationen einer auf unbegrenzter Akkumulation beruhenden Gesellschaftsordnung in der Geschichtsphilosophie wiederkehren, bezeichnet deren Grenze.
›Corpus mysticum‹ und bürgerliche Gesellschaft Die politische Utopie des ›höchsten Guts‹ in Zum ewigen Frieden hat ihr Analogon im moralischen Bereich. In der Formulierung des kategorischen Impera–––––––––
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Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte (Anm. 70), S. 49 (A 410) und S. 38 (A 393). Ebd., S. 38 f. (A 394) und S. 40 (A 396). Max Horkheimer: Materialismus und Moral.- In: Zeitschrift für Sozialforschung 2 (1933), S. 162–197. Wieder abgedruckt in ders.: Kritische Theorie. Eine Dokumentation. Hrsg. von Alfred Schmidt. Band I.- Frankfurt/Main: Fischer 1968, S. 71–109, S. 85 f.
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tivs, nach dem »ein jedes vernünftige Wesen so handeln [muß], als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre«80, hören die »Individuen auf, bloß Exponenten privater Zwecke zu sein. Jedes ist nicht mehr nur Monade, sondern in Kants Sprache ein ›Glied‹ der Allgemeinheit.«81 Das Sittengesetz »enthält den Hinblick auf eine ›Welt‹ der Allgemeinheit im Miteinandersein der Individuen.«82 Kants Moralphilosophie ist immer wieder als glücks- und naturfeindlich apostrophiert worden.83 Es ––––––––– 80
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Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.- In: ders.: Werke. Band IV (Anm. 27), S. 7–102, S. 72 (BA 83). Es ist interessant zu gewahren, daß im Neukantianismus von hierher durchaus eine Brücke zum Sozialismus geschlagen werden konnte. Vgl. die instruktive Einleitung von Hans Jörg Sandkühler in: Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus. Hrsg. von Rafael de la Vega, Hans Jörg Sandkühler.- Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1970. Auch der späte Horkheimer, unermüdlich in seiner Kritik an der Pervertierung des Sozialismus im Stalinismus, konnte feststellen: »Kants Individualismus enthält noch die Wahrheit des Sozialismus in sich.« Max Horkheimer: Kants Philosophie und die Aufklärung.- In: ders.: Um die Freiheit.- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1962, S. 27–42. Wieder abgedruckt in: ders.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Hrsg. von Alfred Schmidt.- Frankfurt/ Main: Fischer 1967, S. 203–215, das vorgelegte Zitat hier S. 214. Ob und in welchem Umfang eine derartige Äußerung auch eine partielle Zurücknahme jener in Anm. 79 zitierten großen Abhandlung aus dem Jahre 1933 über ›Materialismus und Moral‹ impliziert, wäre zu untersuchen. Hier hatte es S. 76 geheißen: »Das gesellschaftliche Ganze lebt durch Entfesselung der Eigentumsinstinkte aller Einzelnen [...]. Diesem natürlichen Gesetz der Einzelnen hält der kategorische Imperativ das ›allgemeine Naturgesetz‹, das Lebensgesetz der menschlichen Gesellschaft als ein Richtmaß vor. Das wäre sinnlos, wenn die besonderen Interessen und die Bedürfnisse der Allgemeinheit nicht höchst ungenau, sondern mit Notwendigkeit ineinander griffen. Daß dies aber nicht geschieht, ist der Mangel der bürgerlichen Wirtschaftsform: zwischen dem freien Wettbewerb der Individuen als dem Mittel und der Existenz der Gesamtgesellschaft als dem Vermittelten besteht keine vernünftige Beziehung«, weil sich der Prozeß als Naturvorgang vollzieht. Davon aber bleibt das Sittengesetz, das Kant als ein zeitloses formulierte, selbst nicht unberührt. Der irrationale Produktionsprozeß »taucht in der bürgerlichen Epoche als Konflikt im Innern ihrer Subjekte« (S. 77) wieder auf. Das Sittengesetz nimmt zwar das Interesse an einem vernünftigen Ganzen in sich auf, doch wie soll das auf das Allgemeine verpflichtete Subjekt nicht der »Ratlosigkeit und Ohnmacht des guten Willens« (S. 79) vor einem chaotischen Ganzen anheim fallen, wie Horkheimer an Hand der von Kant eingeführten Beispiele sittlichen Handelns demonstriert (vgl. ebd. S. 79 ff.; vgl. zu den von Kant gegebenen Beispielen auch Adorno: Negative Dialektik (Anm. 12), S. 220 ff.) »Damit, daß jeder nach seinem Gewissen handelt, hört weder das Chaos noch das Elend auf [...]. Wenn als höchstes Ziel Entfaltung und glückliche Betätigung der in der Allgemeinheit angelegten Kräfte gelten soll, so genügt es keineswegs, auf ein tugendhaftes Innere, auf den bloßen Geist, etwa auf Unterdrückung der Eigentumsinstinkte durch Disziplin, zu achten, sondern darauf, daß die äußeren Veranstaltungen, welche jenes Glück bewirken können, auch wirklich geschehen.« (S. 81) Im kategorischen Imperativ ist der Gedanke an Überindividuelles bewahrt, das gesellschaftlich zugleich sabotiert wird. Vgl. dazu nochmals Marcuse: Studie über Autorität und Familie (Anm. 26), S. 95. Horkheimer: Materialismus und Moral (Anm. 79), S. 86. Marcuse: Studie über Autorität und Familie (Anm. 26), S. 95. Vgl. auch Adorno: Negative Dialektik (Anm. 12), S. 233 und S. 275 f. So zuletzt durchgehend von Adorno in seinem Kapitel ›Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft‹ in ders.: Negative Dialektik (Anm. 12), S. 209–292.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
ist jedoch fraglich, ob derartige Einwände sich in dieser Form halten lassen, wenn nicht zugleich die geschichtliche Funktion des kategorischen Imperativs erhellt wird. Kant hat nirgendwo das Recht auf Glückseligkeit – die für ihn immer die Erfüllung sinnlicher Wünsche, nicht aber ein moralisches Gefühl ist, das er als ›Selbstzufriedenheit‹ bzw. ›intellektuelle Zufriedenheit‹ bezeichnet – bestritten und die Beförderung fremder Glückseligkeit sogar zur Tugendpflicht erhoben.84 Die Eliminierung sinnlicher Antriebe aus der sittlichen Handlung und ihre Fundierung im reinen, einzig von praktischer Vernunft bestimmten Willen, sollte verhindern, daß die Menschen sich wechselseitig als Mittel mißbrauchen, statt sich als Selbstzweck zu achten. Wo sinnliche Lust zum Bestimmungsgrund des Handels würde, sah Kant die Gefahr, daß andere Personen dazu degradiert würden, ausschließlich zur Erfüllung bestimmter Wünsche zu verhelfen. Der kategorische Imperativ, der sich in der Formulierung, andere Menschen »niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst« zu behandeln, am ehesten einem materialem Wertprinzip nähert, stellt ein Gegenprinzip zu jenem kollektiven Egoismus dar, den Kant in seiner Rechtsphilosophie sanktionierte.85 In der Moralphilosophie wird die Menschheit, verbunden durch Vernunft, unter gemeinsamen Zwecken gedacht, während sie in der bürgerlichen Gesellschaft dissoziiert bleibt in eigensüchtige Subjekte. Der kategorische Imperativ soll diese Einheit gewährleisten. Sie wird analogisch vorgestellt durch den Begriff einer durchgehend gesetzmäßigen und zweckmäßigen Natur, welche die vollkommene Harmonie sittlicher Wesen unter gemeinsamen, aber selbst auferlegten Gesetzen in einem mundus intelligibilis, der alle Glieder in einem corpus mysticum vereint, symbolisch verkörpert.86 Sittlichkeit und Glückseligkeit machen zusammen »das ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft« als »das höchste Gut« aus, das zwei Aspekte aufweist.87 Es bezeichnet einerseits die »völlige Angemessenheit des Willens [...] ––––––––– 84
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Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft.- In: ders.: Werke. Band IV (Anm. 27), S. 103–302, S. 247 (A 212). Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 80), S. 66 (BA 74 f.). Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (Anm. 12), S. 679 (B 836; A 808), und ders.: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 84), S. 156 ff. (A 74 ff.). Vgl. zum Ganzen Herbert J. Paton: Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie.- Berlin: de Gruyter 1962 (engl. Erstausgabe 1947), S. 189 ff. und S. 235 ff., sowie Margot Fleischer: Das Problem der Begründung des kategorischen Imperativs bei Kant.- In: Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik. Hrsg. von Paulus Engelhardt.- Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1963 (= Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie. Philosophische Reihe; 1), S. 387–404. Vgl. auch die beiden weiterführenden Untersuchungen von Dieter Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft.- In: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Henrich, Walter Schulz, Karl-Heinz Volkmann-Schluck.- Tübingen: Mohr 1960, S. 77–115; ders.: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus.- In: Sein und Ethos (s.o.), S. 350–386. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 84), S. 249 (A 214).
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zum moralischen Gesetze«, welche »Heiligkeit« heißt.88 Heiligkeit kommt nur dem höchsten Wesen zu, weil dieses »keiner Maxime fähig [ist], die nicht zugleich objektiv Gesetz sein« könnte. Dazu ist kein sinnliches Wesen nach Kant fähig. Sie ist »gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht«.89 Und zum anderen bezeichnet Heiligkeit die Harmonie des sittlich handelnden Individuums mit der Welt und der Natur, die seine Glückseligkeit begründet. Der erste Aspekt führt zum Postulat der Unsterblichkeit, der zweite zum Postulat des Daseins Gottes als Garanten »der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit«.90 Nichts ehrt Gott mehr, als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstalt dazu kommt, eine solche schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit zu krönen.91
So wird die Harmonie zwischen den intelligiblen sittlichen Wesen und dem Verlangen der empirischen Wesen nach sinnlichem Glück einer transzendenten Macht anheimgestellt. Ihr ist aufgegeben, jene Kluft zu schließen, die sich zwischen der absoluten Forderung des kategorischen Imperativs und ›Natur‹ in Form der vergewaltigten Sinne einerseits, der ›Welt‹ in Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft andererseits aufgetan hat. Hinter dem ›höchsten Gut‹ eines göttlichen Wesens verbirgt sich die Ahnung, daß das in einen intelligiblen und empirischen Charakter zerrissene Subjekt ein ungeteiltes nur in einer Welt werden kann, die selbst nicht länger zerrissen ist. Daß diese Einheit sich herstellt, hängt bei Kant an der Güte Gottes, ist menschlicher Verfügung entzogen. Aufgegeben hingegen bliebe eine Gesellschaft, die nach den Bedürfnissen ihrer Mitglieder von diesen selbst geschaffen wäre, ihnen die größtmögliche Entfaltung ihrer – geschichtlich produzierten – Wünsche erlaubte und festhielte an dem unumstößlichen Grundsatz der praktischen Philosophie Kants, daß die Würde eines jeden Menschen eine unantastbare ist und ein jeder Mensch mit dem Vermögen begabt, so zu handeln, daß sein Handeln zugleich die Grundlage für eine alle Menschen verbindende Weltordnung abzugeben imstande ist. In Hegels Begriff der Sittlichkeit bahnt sich die wechselseitige Durchdringung des Einzelnen und Allgemeinen an, die bei Kant, theologisch gefaßt, aufleuchtete, ohne daß er sie von seinem Ansatz aus konsequent hätte entfalten können.
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Ebd., S. 252 (A 220). Ebd., S. 143 (A 57 f.). Ebd., S. 255 (A 225). Ebd., S. 263 (A 236 f.).
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Subjektivität, Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft im Frühwerk Hegels
2.1 Ein Blick in Hegels Ästhetik Aperçu zur Idylle Einen einzigen systematischen Absatz widmet Hegel in seiner Ästhetik der literarischen Gattung der Idylle – anläßlich der Behandlung der epischen Poesie. Ausdrücklich rechtfertigt er die sporadische Erörterung dieser und anderer dem Epos nahe stehender Kunstformen. Nur dem Epos sei »die wahre Bedeutung echter Objektivität« eigen, nicht aber den »untergeordneten Nebenzweigen des eigentlich Epischen.« In einer philosophischen Rekonstruktion der Künste jedoch »kann nur das Platz gewinnen, was einer Begriffsbestimmung gemäß ist; was sich dagegen unvollkommen an Inhalt oder an Form oder an beiden zugleich erweist, läßt sich, weil es eben nicht ist, wie es sein soll, nur schlecht unter den Begriff, d.h. unter die Bestimmung bringen, wie die Sache sein soll und der Wahrheit nach wirklich ist« und kann daher nur »anhangsweise« erwähnt werden.1 Hegels Urteil über die moderne, empfindsame Idylle vom Typ Gessners ist bekanntlich vernichtend. Während die Griechen »in ihren plastischen Darstellungen« der niederen Mythologie »die tierische Natur in [...] Lebendigkeit und Wahrheit zu menschlichem Frohsinn steigern« und dieser »Kern lebendiger Anschauung bei frischen Vorbildern nationaler Zustände« sich in den »Lebensbilder[n]« der Fischer- und Hirtenidyllen Theokrits erhält – wogegen Vergil sich schon »[k]ahler« ausnimmt –, regieren »prätentiöse Unschuld, Frömmigkeit und Leerheit« die nachantike moderne Ausprägung dieser Gattung. Das unschuldige Leben der Hirten besteht darin, einfache Speisen zu verzehren – »Brot, glaube ich, ist schon nicht mehr recht idyllisch« –, das Vieh zu hüten und nebenher mit so vieler Sentimentalität als möglich solche Empfindungen zu hegen und zu pflegen, welche diesen Zustand der Ruhe und Zufriedenheit nicht stören, d.h., in ihrer Art fromm und zahm zu sein, auf der Schalmei, der Rohrpfeife usf. zu blasen oder sich etwas vorzusingen und vornehmlich einander in größter Zartheit und Unschuld liebzuhaben.2
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Nach der 2. Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge. Mit einem Essay von Georg Lukács. Band I–II.- Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1955. Lizenzausgabe Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt [1955], Band II, S. 450 f. Ebd.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Von »allen tieferen allgemeinen Interessen des geistigen und sittlichen Lebens« abstrahieren diese poetischen Produkte. Aber eben diese »vollkommene Ausleerung von allen wahren Interessen, so daß die sonstigen störenden Verhältnisse unserer Bildung nicht eintraten«, und die Flucht in eine »Empfindsamkeit, welche das Gewühl und die Verwicklungen des Lebens« zu meiden weiß, dürften der maßgebliche Grund für die Beliebtheit gerade dieser Gattung und insbesondere Gessners sein.3 Was als Unmut aus der Perspektive der Philosophie des Geistes an der naturund gefühlsverhafteten idyllischen Welt erscheinen könnte, der sich in einer beiläufigen kritischen Invektive entlädt, geleitet tatsächlich ins Zentrum der Hegelschen Ästhetik. Nicht die literarische Gattung der Idylle, wohl aber der idyllische Weltzustand nimmt in ihrer Gesamtkonstruktion und vor allem in ihrem ersten Teil, der der ›Idee des Kunstschönen oder dem Ideal‹ gewidmet ist, einen zentralen Platz ein. Hier wird nicht einfach nur »das Heroische gegen das Idyllische ausgespielt« und als »Basis, jedenfalls in Sachen der Kunst«, dekretiert – was dann womöglich noch für Nietzsches Kult des Heroismus verantwortlich gemacht werden kann –, sondern vielmehr der heroische Weltzustand als apriorische Bedingung idealer Kunst überhaupt exponiert und in einer – dem späteren Vitalismus gerade entgegengesetzten – Bedeutung, die nur aus der Hegelschen Philosophie des Geistes ableitbar ist, dem idyllischen und bürgerlichen Weltzustand kontrastiert.4 An dieser Stelle soll jedoch im Blick auf Hegels okkasionelle Äußerung zur Idylle und der ihr zugrundeliegenden Theorie des ›idyllischen Weltzustandes‹ keineswegs eine einläßlichere Behandlung dieses Fragenkomplexes eröffnet werden. Sie ergäbe Sinn nur im Kontext einer Rekonstruktion der überaus interessanten und ergiebigen Debatten um die so augenfällige Sonderbildung der Idylle und der mit ihr assoziierten Schäfer- und Landlebendichtung im Spektrum der Gattungen der europäischen Literatur, wie sie schon im Humanismus auf der Basis vereinzelter antiker Äußerungen einsetzen und im 18. Jahrhundert kulminieren.5 Das bleibt einer anderen Gelegenheit vorbehalten. Wenn an dieser Stelle in einleitender Absicht eine knappe Rekapitulation der Grundbegriffe der Hegelschen Ästhetik vorgenommen wird, so im Blick auf die folgenden Betrachtungen. Sie bleiben auf das Frühwerk beschränkt und betref–––––––––
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Ebd. Friedrich Sengle: Formen des idyllischen Menschenbildes. Ein Vortrag.- In: Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann. Hrsg. von Walter Müller-Seidel, Wolfgang Preisendanz.- Hamburg: Hoffmann & Campe 1964, S. 156–171, S. 157. Verwiesen sei hier nur auf die beiden Kapitel ›Das goldene Zeitalter in der Idyllendichtung und -theorie des 18. Jahrhunderts‹ sowie ›Die Kritik an der Hirtenidylle und die Überwindung der arkadischen Vorstellungsform vom goldenen Zeitalter‹ in: Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalter im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen.- Heidelberg: Winter 1965 (= Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte; 7), S. 145–166 und S. 166–186. Vgl.auch die entsprechenden Äußerungen in der grundlegenden Gattungsgeschichte von Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage.- Stuttgart: Metzler 1977 (= Sammlung Metzler; 63).
Ein Blick in Hegels ›Ästhetik‹
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fen Konstitutions-Probleme der Herausformung von Basis-Kategorien der Hegelschen Philosophie am Paradigma der dialektischen Relation von Innerlichkeit und bürgerlicher Gesellschaft. Die Hegelsche Ästhetik hingegen – wie alle großen geschichtlichen Darstellungen Hegels vornehmlich aus Vorlesungs-Aufzeichnungen und –Nachschriften geschöpft und zum Druck gebracht – repräsentiert einen zentralen Komplex des voll ausgebildeten Hegelschen Systems unter Rückgriff auf die einschlägigen fundamentalen Kategorien dieser erstmals in der Phänomenologie des Geistes aus dem Jahre 1807 in seiner Architektur sich abzeichnenden Ausprägung. Davon kann im folgenden nicht gehandelt werden. Die Vertrautheit mit dieser gewaltigsten philosophischen Leistung des deutschen Idealismus muß vorausgesetzt werden. Weniger beleuchtet blieb bislang das Frühwerk, das teilweise überhaupt jetzt erstmals bekannt wird. Es reicht bis an die Schwelle der Phänomenologie. So dürfen die folgenden Bemerkungen den Charakter einer kleinen Propädeutik annehmen – nicht verfaßt, um Fragen der Theorie und Philosophie der Idylle im engeren Sinn zu verfolgen, wohl aber am Rande und nebenher dazu angetan, auch noch den auf den ersten Blick befremdlichen Hegelschen Aperçus über die Idylle Berechtigung und Sinn zu verleihen, resultieren sie doch wie alle sonstigen gelegentlichen Äußerungen aus dem philosophischen Duktus des Hegelschen Werkes und sind nur in dessen Kenntnis zu verstehen. Es existiert jedoch, wenn wir recht sehen, keine schönere Einführung in das Hegelsche Denken als diejenige, die sich herleitet aus den essentiellen Bestimmungen, wie sie die Ästhetik bietet. So mag die folgende komprimierte Lesung ohne weiterreichende Ansprüche ihre Berechtigung besitzen.6
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Die folgenden Betrachtungen wurden im intensiven gedanklichen Austausch mit den Bonner Freunden Hans-Heino Ewers und Frank Dietrich Wagner entwickelt. Vgl. dazu HansHeino Ewers: Die schöne Individualität. Zur Genesis des bürgerlichen Kunstideals.- Stuttgart: Metzler 1978; Frank Dietrich Wagner: Hegels Philosophie der Dichtung.- Bonn: Bouvier 1974 (= Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik; 88). Von Wagner konnte der Verfasser auch eine unpublizierte Studie einsehen: Das bürgerliche Kunstideal. Studien zum klassischen und nachklassischen Kunstideal.– Des weiteren wurde herangezogen: Helmut Kuhn: Die Kulturfunktion der Kunst. Band I: Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel.- Berlin: Junker & Dünnhaupt 1931; Bernard Teyssèdre: L’estétique de Hegel.- Paris: Presses Universitaires de France 1958 (= Initiation philosophique; 1); Stefan Morawski: Hegels Ästhetik und das ›Ende der Kunstperiode‹.- In: Hegel-Jahrbuch (1964), S. 60–71; Ergänzung in: Hegel-Jahrbuch 1966, S. 48; Willi Oelmüller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel.- In: Philosophisches Jahrbuch 73 (1965), S. 75–94. Eingegangen in ders.: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 240 ff.– Im Erscheinen begriffen war die wichtige Studie von Bernhard Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft. Zum Widerstreit von Reflexion und Sittlichkeit im deutschen Idealismus.- Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1972. Ich bin Autor und Verlag für die Überlassung eines ›Leseexemplars‹ vor der Drucklegung des Werkes dankbar verpflichtet.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Das Schöne im kategorialen Kontext der Hegelschen Philosophie »Das Schöne bestimmt sich [...] als das sinnliche Scheinen der Idee.«7 Kunst hat die Aufgabe, »die Idee für die unmittelbare Anschauung in sinnlicher Gestalt und nicht in Form des Denkens und der reinen Geistigkeit überhaupt darzustellen«. Mittels der Kategorien von Inhalt und Form wird das Verhältnis von Idee und Gestalt dahingehend spezifiziert, »daß der Inhalt der Kunst die Idee, ihre Form die sinnliche bildliche Gestaltung sei. Beide Seiten nun hat die Kunst zu freier versöhnter Totalität zu vermitteln.« Die Idee als Inhalt der Kunst ist – in den von der Ästhetik gebotenen Formulierungen – »nicht die Idee als solche [...], wie sie eine metaphysische Logik als das Absolute aufzufassen hat, sondern die Idee, insofern sie zur Wirklichkeit fortgestaltet und mit dieser Wirklichkeit in unmittelbar entsprechende Einheit getreten ist.«8 Die Wissenschaft der Logik hatte die in der Phänomenologie unter dem Titel des ›absoluten Wissens‹ nach einem langwierigen Bildungsprozeß des Bewußtseins erreichte dialektische Einheit von Bewußtsein und Gegenstand ausdrücklich in der Vorrede vorausgesetzt. Die in ihr rekonstruierten Denkbestimmungen sind identisch mit den Seinsbestimmungen. Die ›absolute Idee‹ als höchste Kategorie der Logik ist der Begriff, der sich restlos begriffen hat, weil er die Totalität seiner Momente, der Kategorien, rekonstruierend begriffen hat.9 Am Ende der Logik eröffnet Hegel jedoch einen neuen Gegensatz zwischen dem sich selbst begreifenden Denken (absolute Idee) und der raum-zeitlichen Welt, der nach dem Resultat der Phänomenologie als ein bereits überwundener zu gelten hatte.10 Die absolute Idee entläßt sich aus ihrer Eingeschlossenheit in den reinen Gedanken und entschließt sich, »sich als äußerliche Idee zu bestimmen«, »sich als Natur frei aus sich zu entlassen.«11 Damit hebt ein dritter Prozeß an, der zugleich Selbstentäußerung der Idee in das räumliche Nebeneinander der Natur bzw. das zeitliche Nacheinander der Geschichte und sukzessive Rückkehr aus diesem ihrem Anderssein zu sich selbst als absoluter Geist ist, d.h. Aufhebung der Entäußerung. Dementsprechend heißt es in der Ästhetik, ––––––––– 7
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Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 117. Vgl. die parallele Bestimmung ebd., S. 16: Das »Schöne hat sein Leben in dem Scheine.« Ebd., S. 79, S. 77 und S. 80. Vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Entäußerung der Idee zur Natur.- In: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und Dokumente. Hrsg. von Hans-Georg gadamer.- Bonn: Bouvier 1964 (= Hegel-Studien. Beiheft; 1), S. 37–44. Über die daraus folgende schwankende Stellung der Phänomenologie innerhalb des Hegelschen Systems vgl. Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik.- Frankfurt/Main: Klostermann 1965 (= Philosophische Abhandlungen; 27). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Unveränderter Nachdruck des Textes der 2., [...] erweiterten Auflage von 1934. Hrsg. von Georg Lasson. Teil II.- Hamburg: Meiner 1963 (= Philosophische Bibliothek; 56–57), S. 506; ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Neu hrsg. von Friedhelm Nicolin, Otto Pöggeler. 6. Auflage.- Hamburg: Meiner 1959 (= Philosophische Bibliothek; 33), S. 197 (§ 244). Vgl. auch die in Anm. 9 nachgewiesene Abhandlung von Volkmann-Schluck.
Ein Blick in Hegels ›Ästhetik‹
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die absolute Idee in ihrer wahrhaftigen Wirklichkeit [...] sei Geist, und zwar nicht etwa der Geist in seiner endlichen Befangenheit und Beschränktheit, sondern der allgemeine unendliche und absolute Geist, der aus sich selber bestimmt, was wahrhaft das Wahre ist.12
Das Verhältnis der Kunst gegenüber Religion und Philosophie als den zwei anderen Formen des absoluten Geistes bestimmt sich eben dadurch, daß Kunst »die Wahrheit in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewußtsein hinstellt«. Enthält vollendete Kunst »gerade in ihrer bildlichen Weise die dem Gehalt der Wahrheit entsprechendste und wesentlichste Art der Exposition«, so ist darin für Hegel zugleich ihre Schranke beschlossen.13 Denn ihr bleibt die Äußerlichkeit der Wahrheit wesentlich, die Religion und Philosophie auf je verschiedene Weise zurücknehmen: erstere, »indem das Absolute aus der Gegenständlichkeit der Kunst in die Innerlichkeit des Subjekts hineinverlegt« wird und sich in der Andacht der Gemeinde vollendet realisiert; letztere, indem sie denkend auf den Begriff bringt, was der Innerlichkeit des religiösen Subjekts nur vorstellend und also noch nicht restlos vergeistigt gegenwärtig ist.14 Dieser Systemaspekt der Hegelschen Philosophie ist hier nicht kritisch zu vertiefen, sondern nur zur Einführung der Kategorie des ›heroischen‹, antiidyllischen Weltzustandes hinsichtlich der daraus folgenden näheren Bestimmungen der Kunst einen Moment lang weiter zu verfolgen. Da Kunst Geistiges stets im Modus der Andersheit, im Sinnlichen, Anschaubaren präsentiert, ist Individuation, Besonderheit ihr wesentlich im Gegensatz zu Allgemeinheit des Begriffs.15 Zeichnet sie einerseits gegenüber »der finsteren Innerlichkeit des Gedankens« und der Subjektivität religiösen Empfindens eine »heitere, kräftige Wirklichkeit« aus, so ist sie anderseits qualitativ von der Fülle der Naturerscheinungen und Ereignisse in der raum-zeitlichen Welt unterschieden.16 Würdig zur Integration in das Kunstwerk sind nur Gegenstände und Ereignisse, in denen sich Geistiges verkörpert.17 Kunst ist daher gleich weit entfernt von geistloser Objektivität wie von ausschließlich subjektiver Innerlichkeit.18 Kunst ist ein konkretes Allgemeines im Sinne Hegels, daß sich Geist mit seinem Gegenteil restlos vermittelt hat, aber so, daß sich die Einheit »in sinnlicher Gestalt und nicht in Form des Denkens und der reinen Geistigkeit überhaupt« – d.h. im Begriff als »höchste Weise, das geistig Konkrete zu fassen« – darstellt.19 Enthüllt Kunst also wie alle Gestalten des absoluten Geistes Geist in der Wirklichkeit und ist sie als solche »Zurück––––––––– 12 13 14
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Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 100. Ebd., S. 108 f. Ebd., S. 111.Vgl. den Abschnitt ›Die Stellung der Kunst im Verhältnis zur Religion und Philosophie‹ in der Einleitung zum ersten Teil der Ästhetik (ebd., S. 108–112). Daraus folgt für Hegel die Notwendigkeit einer Philosophie der Kunst, welche den veräußerlichten Geist in das Medium der Philosophie, den reinen Gedanken, zurücknimmt. Vgl. dazu den Abschnitt ›Widerlegung einiger Einwände gegen die Ästhetik‹ in der Einleitung zur Ästhetik (ebd., S. 15–25, insbes. S. 24). Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 17. Hegel spricht von der ›Verleiblichung‹ des Geistigen. Vgl. z.B. ebd., S. 168 und S. 176. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 79.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
führung ins Innere«, so unterscheidet sie sich doch dadurch von Philosophie, daß sie nicht bis zum Allgemeinen in abstrakter Form, bis zum Extrem des Gedankens fortgeht, sondern in dem Mittelpunkte stehenbleibt, in welchem das nur Äußerliche und nur Innerliche zusammenfallen. Das Ideal [des Kunstschönen] ist demnach die Wirklichkeit, zurückgenommen aus der Breite der Einzelheiten und Zufälligkeiten, insofern das Innere in dieser der Allgemeinheit entgegengehobenen Äußerlichkeit selbst als lebendige Individualität erscheint.20
Historizität von Kunst In der Skulptur der klassischen Antike sah Hegel bekanntlich dieses Kunstideal vollendet realisiert. Das scheint seine Ästhetik vollends in den Kreis der klassisch-idealistischen Kunstphilosophie zu rücken. Sie ist jedoch weder eine Apotheose auf eine göttliche Natur, wie sie in der schönen ›lebendigen Individualität‹ sich verklärt, noch ein Rekurs auf ein zeitloses ›klassisches‹ Kunstideal. Vielmehr stellt auch Hegels Ästhetik wie alle seine großen Vorlesungs-Zyklen Geschichte ins Zentrum der Erörterungen. Sie thematisiert diese als wesentlichen Gehalt der Werke und leitet daraus die Historizität von Kunst in einer vor Hegel nicht erreichten Radikalität her. Diesen Nachweis geführt zu haben, ist das Verdienst von Thomas Metscher, dessen Beitrag ein neues Verständnis der Hegelschen Ästhetik hinsichtlich ihrer impliziten materialistischen Momente einleiten dürfte. Die auch für die Idyllentheorie einschlägige Partie der Ästhetik zur ›Bestimmtheit des Ideals‹ ist von Metscher einer vorbildlichen Exegese unterworfen worden, auf die die folgenden Ausführungen sich wiederholt stützen.21 Das »Kunstschöne ist weder die logische Idee, der absolute Gedanke, wie er im reinen Elemente des Denkens sich entwickelt, noch ist es umgekehrt die natürliche Idee, sondern es gehört dem geistigen Gebiete an«, genauer: dem »Reich des absoluten Geistes.« Natur, ohnehin in der Hegelschen Philosophie kein dem Geist gleichrangiger Wert, sondern von diesem selbst gesetzt als »das Andere des Geistes«, kann nicht den wesentlichen Gehalt von Kunst ausmachen.22 Ihre wahre Substanz bildet menschliches Leben als geistiges. Dasein aber – und insbesondere geistiges – ist gekennzeichnet durch den Trieb, sich zu objektivieren, das Subjektive als ein zunächst »nur Inneres, dem gegenüber das Objektive steht«, diesem Objektiven einzubilden, sich mit ihm zu vermitteln »und dann erst in diesem vollständigen Dasein sich befriedigt zu finden.«23 ––––––––– 20 21
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Ebd., S. 158. Vgl. Thomas W.H. Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie.- In: Grundlagen und Modellanalysen. Mit Beiträgen von Horst Albert Glaser, Peter Hahn, Olaf Hansen [u.a.].- Stuttgart: Metzler 1971 (= Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften; 1), S. 13–80. Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 100 f. Ebd., S. 103 f.; vgl. auch S. 104: Freiheit als »höchste Bestimmung des Geistes« besteht eben darin, »daß das Subjekt in dem, was demselben gegenübersteht, nichts Fremdes, keine Grenze und Schranke hat, sondern sich selber darin findet.«
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Diesen Prozeß rekonstruiert Kunst eidetisch. Ihre Inhalte sind die Aneignung der Natur – also »das weite System der physischen Bedürfnisse, für welche die großen Kreise der Gewerbe in ihrem breiten Betrieb und Zusammenhang, Handel, Schiffahrt und die technischen Künste arbeiten« sowie die Institutionen des objektiven Geistes, in denen sich diese Aneignung vollzieht –, »die Welt des Rechts, der Gesetze, das Leben in der Familie, die Sonderung der Stände, das ganze umfassende Gebiet des Staats« (und nicht zuletzt die Formen des absoluten Geistes, in denen sich dieser Vermittlungsprozeß reflektiert), »das Bedürfnis der Religion [...], die vielfach geschiedene und verschlungene Tätigkeit in der Wissenschaft, die Gesamtheit der Kenntnis und Erkenntnis, welche alles in sich faßt.«24 Kunst bleibt gebunden an ihre eigene Weise der Darstellung von Wahrheit. Sie muß die Totalität der zwischen Subjekt und Objekt sich vollziehenden Bewegung sinnlich anschaubar präsentieren. Damit unterliegt sie spezifischen, unter dem Titel ›Bestimmtheit des Ideals‹ entwickelten Bedingungen. Der Begriff der Kunst enthält »Bestimmtheit und Besonderheit« als wesentliche Momente des Schönen. Damit aber stellt sich die Frage, in welcher Weise – dem Herausgehen in die Äußerlichkeit und Endlichkeit und somit das Nicht-Ideale zum Trotz – das Ideale sich dennoch zu erhalten sowie umgekehrt das endliche Dasein die Idealität des Kunstschönen in sich aufzunehmen imstande sei.25
Leicht zu wahren ist die Idealität der Kunst in den Darstellungen der Heiligen, die »in ihrer seligen Ruhe und Befriedigung vor uns hingestellt werden, in welcher sie das Irdische mit der Not und dem Drang seiner mannigfachen Verflechtungen, Kämpfe und Gegensätze nicht berührt.«26 Die Problematik tut sich erst auf, wo Kunst zur Vergegenwärtigung von Handlungen fortschreitet und damit auf ihr eigentliches Thema stößt, denn Geist ist Tätigkeit, ist Entzweiung und tritt als solcher »aus seiner Ruhe sich selbst gegenüber mitten in den Gegensatz des verworrenen Weltwesens hinein und vermag sich in dieser Zerspaltung nun auch dem Unglück und Unheil des Endlichen nicht mehr zu entziehen.«27 Seine Kraft bemißt sich eben daran, noch das ihm Fremdeste sich unterwerfen zu können.
Theorie der ästhetischen Handlung Folgerichtig kulminiert Hegels Grundlegung der Ästhetik im ersten Teil in einer Theorie der ästhetischen Handlung. Damit das ideale Subjekt zu handeln vermag, sich in der Welt zu realisieren imstande ist, bedarf es »einer umgebenden Welt als allgemeinen Bodens für ihre Realisationen.« Hegel bezeichnet ihn als ›allgemeinen Weltzustand‹.28 Nicht ein jeder eignet sich für ideale Kunst. Da –––––––––
24 25 26 27 28
Ebd., S. 102. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 179.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
diese ihre Gehalte gestalthaft darbietet und also individuiert, muß in ihr »durchgängig das Sittliche und Gerechte individuelle Gestalt in dem Sinne behalten, daß es ausschließlich von den Individuen abhängt und nur in ihnen und durch sie zur Lebendigkeit und Wirklichkeit gelangt.«29 Dieses Zeitalter zeichnet sich aus durch Einheit und Durchdringung der Individualität und Allgemeinheit, indem ebensosehr das Allgemeine durch das Einzelne erst konkrete Realität gewinnt, als das einzelne und besondere Subjekt in dem Allgemeinen erst die unerschütterliche Basis und den echten Gehalt seiner Wirklichkeit findet.30
Das ist jedoch nur solange der Fall, wie sich das Allgemeine noch nicht zu einer arbeitsteiligen bürgerlichen Gesellschaft mit einer von den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft unabhängigen Rechtsordnung, welche durch eine intakte Staatsmacht sanktioniert wird, fortentwickelt hat, sondern sich die Manifestationen des objektiven Geistes noch in statu nascendi befinden. Kunst erreicht das Stadium ihrer Vollendung dort, wo sie das tätige Individuum zugleich als Produzenten wie als Rezipienten der sittlichen Welt vorführen kann, das die Spuren seiner Tätigkeit dem Allgemeinen eingräbt, ohne völlig durch diese determiniert zu sein. Sie bedarf einer Welt, die der gestaltenden Kraft des Individuums gegenüber offen ist. Dem idealen Individuum muß »das Objektive [...] noch das Seinige sein und sich nicht losgelöst von der Individualität der Subjekte für sich bewegen und vollbringen, weil sonst das Subjekt gegen die für sich schon fertige Welt als das bloß Untergeordnete zurücktritt« und als solch ein gleichgültiges, zum »Beispiel« degradiertes nicht mehr kunstwürdig ist.31 »Denn die Kunst und ihr Ideal ist eben das Allgemeine, insofern es für die Anschauung gestaltet und deshalb mit der Partikularität und deren Lebendigkeit noch in unmittelbarer Einheit ist.«32 Im Ideal soll »die besondere Individualität mit dem Substantiellen in trennungslosem Zusammenklange bleiben«.33 Damit ist jedoch bisher nur das allgemeine Gesetz für den Zustand der Welt im idealen Kunstwerk formuliert. Es hat zunächst noch ›prä-ästhetischen Charakter‹, weil es »noch nicht die tätige Bewegung der Individuen in ihrer lebendigen Wirksamkeit« zeigt.34 Es konkretisiert sich erst in der »Situation«, die die »Mittelsstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung« bildet.35 In ihr besondert sich die sitt––––––––– 29
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35
Ebd., S. 185. Zur sozialgeschichtlichen Konkretion dieses Zeitalters vgl. Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie (Anm. 21), S. 28 und S. 68 f., Anm. 115 und 117. Vgl. auch Metschers Kritik an der unhistorischen Handhabung durch Hegel, S. 55 f. Ebd., S. 180. Ebd., S. 181 und S. 183. Ebd., S. 185. Ebd., S. 181. Ebd., S. 196. Der Begriff ›prä-ästhetisch‹ bei Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie (Anm. 21), S. 28 und S. 35. Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 199.
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liche Substanz in ihre verschiedenen substantiellen Momente, die sich in den Individuen verkörpern. Nicht jede Situation ist eine der Kunst angemessene, sondern nur eine solche, »welche die tiefen und wichtigen Interessen und den wahren Gehalt des Geistes erscheinen machen«; sie ausfindig zu machen und zu gestalten ist »von jeher die wichtigste Seite der Kunst gewesen«.36 Entzweiung, Kollision macht ihr Wesen aus. Das Drama ist die ihr angemessene Gattung, in dem »die großen geistigen Mächte in ihrem Zwiespalt und ihrer Versöhnung zum Vorschein kommen«. Die Kollision »stört« also die »ungetrübte[...] Einigkeit, Ruhe und Vollendung« des in sich ruhenden Ideals, doch nur, damit sich »durch Lösung der Konflikte die Harmonie als Resultat ergebe.«37 Diese Restitution der Harmonie obliegt der Handlung. Angemessen ist eine Situation nur, wenn ein Konflikt in der Sphäre des objektiven Geistes sie durchzieht, der handelnd vom Individuum geschlichtet werden kann. Weder Kollisionen mit ausschließlich natürlicher Ursache (z.B. Krankheit), noch geistige, die auf Naturgrundlagen beruhen (Geburtsunterschiede, die ein ungerechtes Recht sanktioniert), sondern nur Konflikte in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat als den Momenten des objektiven Geistes sind großer Kunst würdig. [...] der Kreis der im menschlichen Wollen substantiellen, für sich selbst berechtigten Mächte: die Familienliebe der Gatten, der Eltern, Kinder, Geschwister; ebenso das Staatsleben, der Patriotismus der Bürger, der Wille der Herrscher; ferner das kirchliche Dasein, jedoch nicht als eine auf Handlungen resignierende Frömmigkeit und als göttlicher Richterspruch in der Brust des Menschen über das Gute und Böse beim Handeln, sondern im Gegenteil als tätiges Eingreifen und Fördern wirklicher Interessen und Verhältnisse.38
Historischer Werkgehalt Die Kollision ist »noch keine Handlung, sondern enthält nur die Anfänge und Voraussetzungen zu einer Handlung und bewahrt dadurch, als bloßer Anlaß zum Handeln, den Charakter der Situation.«39 »In der Individualität der Situation gerät die scheinbar statische Welt in Bewegung. Sie zeigt sich als unfertig und damit für individuelle Handlungen offen – als Raum für neue Taten.«40. Indem die kollidierende Aktion die Reaktion des lädierten Bestehenden herausfordert, tritt »das Ideal in volle Bestimmtheit und Bewegung.«41 Zwei konträre Interessen stehen sich kämpfend gegenüber, Ziel des Kampfes ist die »Auflösung« des Widerspruchs, die Struktur der Handlung also durch die Momente »Aktion, Reaktion und Lösung« bezeichnet.42 Liegt die Entzweiung in der Sphäre des objektiven Geistes, können entsprechend nur »Interessen idealer Art« das pathe–––––––––
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Ebd., S. 198. Ebd., S. 203. Hegel: Ästhetik. Band II (Anm. 1), S. 548. Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 203. Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie (Anm. 21), S. 35. Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 214. Ebd., S. 214 und S. 216.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
tische Movens der Agierenden im Kunstwerk sein: »Familie, Vaterland, Staat, Kirche, Ruhm, Freundschaft, Stand, Würde«.43 Die »Naturumgebung und ihre Szenerie« kann für den pathetischen Charakter nur »untergeordnetes Beiwerk« abgeben.44 Umgekehrt sind Philosophie und Religion als Gestaltungen des absoluten Geistes nicht der eigentliche Inhalt der Kunst und werden es nur, sofern sie als institutionelle Mächte in das soziale Leben eingreifen, denn »das Weltliche und eigentlich Menschliche« bilden den Umkreis künstlerischer Gestaltung.45 Dieses »eigentlich Menschliche« dürfte nunmehr schwerlich noch als ein zeitloses Humanitätsideal zu mißdeuten sein. Die wenig glückliche, aus dem Kontext jedoch umstandslos zu präzisierende Formel meint vielmehr das an jeweils bestimmte geschichtliche Konstellationen gebundene, in spezifische soziale Prozesse eingreifende und diese bestimmende Subjekt. Das beweist der letzte Abschnitt des dritten Kapitels im ersten Teils der Ästhetik über die ›äußerliche Bestimmtheit des Ideals‹. Das ideale Subjekt hat als handelndes »ein konkretes äußeres Dasein.« Kreisten die Erörterungen bisher um den Gehalt idealer Kunst und die Bedingungen ihrer ästhetischen Individuation, so kommt mit der »auf die Äußerlichkeit [...] eine[r] umgebende[n] Welt« bezogenen Verfassung des Menschen in die Ästhetik »eine fast unüberschauliche Breite der Verhältnisse und Verwicklung in Äußerliches und Relatives herein.«46 Hier geht es um die sinnliche Konkretisierung des Gehalts, wodurch die Kunst »eine neue, auch dem Auge und Ohr sichtbare und vernehmbare Welt« schafft, aber auch um die Relationen des Menschen in seiner äußeren Existenz zu seiner natürlichen und seiner von ihm selbst produzierten geistigen Welt.47 Die letzteren führt Hegel unter einer grundlegenden rezeptionsästhetischen Perspektive ein. Wie sind »die allgemeinen geistigen Verhältnisse des Religiösen, Rechtlichen, Sittlichen, die Art und Weise der Organisation des Staats, der Verfassung, Gerichte, Familie, des öffentlichen und privaten Lebens, der Geselligkeit usf.«, mit denen »jedes Individuum in konkretem Zusammenhange zu leben hat« und die es »als Sitte, Gewohnheit und Gebrauch vor sich findet«, im Kunstwerk zu objektivieren?48 So, daß es seinem Anspruch gerecht wird, nicht nur als »vereinzeltes Objekt [...] für sich, sondern für uns, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und es genießt«, zu sein. Das Werk bringt die »allgemeinen Interessen und Leidenschaften« in einer jeweils »bestimmten äußerlichen Welt der Sitten, Gebräuche und sonstiger Partikularitäten zur Anschauung«.49 Diese machen das aus, was Benjamin später den Sachgehalt des Werkes im Gegensatz zu seinem Wahrheitsgehalt nennen sollte, den Hegel unter dem Begriff der im Werk er––––––––– 43 44 45 46 47 48 49
Ebd., S. 217. Ebd., S. 229. Ebd., S. 231. Ebd., S. 240. Ebd., S. 242. Ebd., S. 258. Ebd., S. 259.
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scheinenden allgemeinen sittlichen Mächte faßt. Der Sachgehalt begründet die einmalige Physiognomie des Werks, der in der Geschichte der Werke zunehmend seine Lebendigkeit verliert und abstirbt. Eben diese schon von Hegel wahrgenommene »zeitliche, sterbliche Seite« des Werks gestattet dem Künstler, den von der Kunst bevorzugten vergangenen Stoff einer solchen Bearbeitung zu unterwerfen, daß sich in ihm die bewegenden Kräfte der eigenen Zeit manifestieren.50 Er hat weder »die objektive Gestalt der Vergangenheit ganz aufzuheben«, die zeitliche Dimension also zu tilgen und anachronistisch jedem Werk die gegenwärtigen Umstände zu unterlegen, noch in schlecht historistischer Manier sein Ideal darin zu sehen, das Werk zum getreuen Abbild vergangener Zustände zu machen, die doch für das gegenwärtige Publikum immer nur »etwas Äußerliches« bleiben.51 Statt dessen entwirft Hegel einen zwischen diesen Extremen vermittelnden Begriff der ›wahrhaften Objektivität des Kunstwerks‹, der zugleich in Umrissen auch eine Theorie historischer Wissenschaft enthält. Geschichtliches »ist gewesen, und wenn es mit der Gegenwart des Lebens keinen Zusammenhang mehr hat, so ist es, mögen wir es noch so gut und genau kennen, nicht das Unsrige.« Dies wird es nur, »wenn wir die Gegenwart überhaupt als eine Folge derjenigen Begebenheiten ansehen können, in deren Kette die dargestellten Charaktere oder Taten ein wesentliches Glied ausmachen.«52 Diesen Konnex herzustellen, so daß Kunst nicht nur den Gelehrten verständlich ist, sondern »für die Nation im großen und ganzen da« ist, obliegt dem Künstler – und, wie man sinngemäß ergänzen darf, dem Historiker. Die »geschichtliche Außenseite« muß »zur unbedeutenden Nebensache für das Menschliche, Allgemeine« werden, wie es in den Kategorien ›Situation‹ – ›Kollision‹ – ›Aktion‹ entfaltet worden war.53
Ästhetische Aneignung von Natur und heroischer Weltzustand Am weitesten hinaus in den Bereich der Äußerlichkeit begibt sich ideale Kunst, insofern sie auch das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Natur in das Werk hineinzunehmen hat. Hier gilt einerseits die Forderung, daß das Werk den natürlichen Lebensraum der Gestalten zu vergegenwärtigen hat, um den Charakteren Konkretion zu verleihen. In dieser Gestalt ist das Verhältnis des Menschen zur Natur eine noch unentfaltete, »bloß ansichseiende Einheit«; erst wenn die Natur Gegenstand menschlicher Bearbeitung wird, kommt eine »durch menschliche Tätigkeit hervorgebrachte Einheit« zustande.54 Indem Hegel sich der Aneignung der Natur durch den Menschen zuwendet, konkretisiert sich die geistige Praxis des idealen Individuums materialistisch. Hier gerät Hegel – wie –––––––––
50 51 52 53 54
Ebd., S. 271. Ebd., S. 261 und S. 265. Ebd., S. 267. Ebd., S. 268 und S. 269. Ebd., S. 249 und S. 251.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Metscher zutreffend bemerkt – in die größte Nähe zum historischen Materialismus.55 Indem »der Mensch seine geistige[n] Bestimmungen« in die Natur »hineinlegt und die Außenwelt mit seinem Willen durchdringt [...], vermenschlicht er sich seine Umgebung« und ist dadurch »nicht mehr nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen und einzelnen in seiner Umgebung für sich selber wirklich und zu Hause«. Zwar kann ideale Kunst nicht entstehen, wo der Mensch sich noch in völliger Abhängigkeit von der Natur befindet und sein Leben nichts anderes als ein permanenter Kampf mit der Natur ist. Andererseits ergäbe sich aber »eine unwahre Abstraktion«, sofern Kunst »das Verhältnis des Menschen zu jenen Bedürfnissen« ganz unberücksichtigt lassen würde, denn »die Kunst kann das Endliche nicht entbehren und hat es nicht als etwas nur Schlechtes zu behandeln, sondern versöhnt mit dem Wahrhaftigen zusammenzuschließen«.56 Wie aber kann »die volle Arbeit, Plage und Abhängigkeit des Menschen von der Prosa des Lebens« angemessen in der Kunst dargestellt werden?57 Indem die Kunst auf jenen heroischen Zustand zurückgreift, der zwischen dem idyllischen und dem bürgerlichen steht. Bezeichnete die Kategorie des heroische Weltzustand in der Theorie der Handlung Gesellschaft als materielle Apriorität der Kunst – die soziologisch beschreibbare Bedingung ihrer Möglichkeit –, so wird sie nun zur genuin ästhetischen Kategorie. Sie ist der sozialphilosophische Begriff der ästhetischen Welt selbst, der Zustand der in den konkreten Werken erscheinenden Gesellschaft, Gesellschaft im Medium der individuierten Werkwelt.58
Die Arbeit ist noch nicht die abstrakte der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie Hegel unter dem Titel ›System der Bedürfnisse‹ in der Rechtsphilosophie abhandelt, sondern »ungeteilte, nicht-entfremdete Arbeit, Arbeit innerhalb einer Gesellschaft, in der die Widersprüche zwischen den Produktivkräften (vor allem der Produktivkraft Arbeit) und den Produktionsverhältnissen noch nicht hervorgetreten sind.«59 Eine Welt »einfacher, unkomplizierter und organischer Produktionsverhältnisse.«60
Übergang zum Hegelschen Frühwerk Damit ist der Punkt erreicht, da von der Hegelschen Ästhetik Abschied genommen und der Schritt zum Hegelschen Frühwerk getan werden kann. Denn dieses kreist um ein einziges Thema: das Verhältnis von Subjektivität, Innerlichkeit, ––––––––– 55
56 57 58 59 60
Vgl. Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie (Anm. 21), S. 45. Hegel: Ästhetik. Band I (Anm. 1), S. 252 f. Ebd., S. 254. Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie (Anm. 21), S. 46. Ebd., S. 39. Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 118 der Hegelschen Rechtsphilosophie. Ebd., S. 46.
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Individualität dort, Gesellschaft, Staat und allen Foren der ›objektiven Sittlichkeit‹ hier. Hätte Hegel einen geschichtlich geschärfteren und zutreffenderen Begriff von der ›Idylle‹ besessen, ihm hätte nicht verborgen bleiben können, daß der Konflikt zwischen ›subjektivem‹ und ›objektivem‹ Geist, um in seinen Begriffen zu reden, ein konstitutives Moment der Idylle und mit ihr der europäischen Schäfer- und Landlebendichtung ist, die Hegel unter dem Oberbegriff ›Idylle‹ durchaus mit im Auge hat. So mag also die des Delikaten nicht entbehrende Konstellation sich herauskristallisieren, daß eben die im Frühwerk in unerhörter Prägnanz und Radikalität exponierten Probleme von ›Innerlichkeit und Gesellschaft‹, wie sie sich im ›bürgerlichen Zeitalter‹ nochmals eminent zuspitzen, in überraschender Weise partiell mit jenen koinzidieren, die in der von Hegel verworfenen ›Idylle‹ ihr ästhetisches Lebensrecht haben. War der augenfällige Zusammenhang ein Motiv des Einstiegs in die Hegelsche Philosophie, so wäre es unangemessen, diesen zu überziehen. Hegel nahm von ganz anderen Erfahrungen seinen Ausgang als von denen künstlerischer Praxis, wie sie ihm freilich nicht zuletzt in der eben sich formierenden klassischen Blüte – und damit auch Werken wie Goethes Hermann und Dorothea – vor Augen stand. Er blieb umgetrieben von der Frage, wie die Ansprüche der auf Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie gegründete Individualität mit den Mächten der Realität derart in ein harmonisches Verhältnis gesetzt werden könnten, daß beiden Seiten ihr Recht geschähe. Wie niemals zuvor war in der praktischen Philosophie Kants die absolute Freiheit des praktischen Subjekts deduziert worden. Dessen Vermittlung mit den Instanzen der Sittlichkeit blieb nicht nur prekär, sie war vielmehr überhaupt gar nicht anzuvisieren, weil sie vermittelnder Glieder bedurft hätte, um deren Statuierung Kant zeitlebens rang, ohne zu einer systematisch befriedigenden Lösung zu gelangen. Hier setzte Hegel ein. Daß ihn bei diesen seinen Versuchen nicht anders als Kant auch die grassierende empfindsame vogue vor Augen stand – und damit eben auch die Idylle vom Typ Gessners – wurde angedeutet. Vielleicht liegt das Revolutionäre seines Jugendwerkes darin beschlossen, Konstitutionsprobleme neuzeitlicher Subjektivität durchdacht zu haben, wie sie auch die zeitgenössische Literatur durchzogen, und bisweilen zugleich zu Fragen und gesellschaftskritischen Explorationen vorgedrungen zu sein, in denen sich Konstitutionsprobleme der bürgerlichen Gesellschaft abzeichneten, die weit in die kommende Zeit hinauswiesen. Im Hegelschen Frühwerk hatte die Eule der Minerva noch nicht zu ihrem abendlich-spätzeitlichen Flug angesetzt. Eine Frühe dämmerte herauf, in der sich die Farben revolutionärer Gewitter malten. Auch eine Untersuchung zur arkadischen Utopie ist gut beraten, sich im Stahlbad der Hegelschen Philosophie zu rüsten. Und das wahrlich aus anderen Gründen als denen der Zurückweisung einer läppischen Äußerung zu einem Herzstück unserer Untersuchung von seiten des Protagonisten der folgenden Blätter, von der wir unseren Ausgang nahmen.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
2.2 Polis-Sittlichkeit und jüdisch-christliche Geistigkeit Innerlichkeit und Gesellschaft Niemand hat mit gleicher Intensität und Schärfe die Problematik der Emigration aus der Gesellschaft in die Innerlichkeit – wie sie auch hinter den Andeutungen zur Idylle in der Ästhetik stand – auf den Begriff gebracht als Hegel. Von den Entwürfen aus der Berner Zeit bis hin zu den großen posthumen Vorlesungszyklen hat Hegel das Schicksal der vom Allgemeinen abgespaltenen Subjektivität in seinen dialektischen Konsequenzen thematisiert. Historische Erfassung und Bewertung des nachantiken modernen Subjektivismus unterlagen dabei grundlegenden Wandlungen. Nur eine von Etappe zu Etappe fortschreitende Rekonstruktion könnte diesen zentralen Gedanken der Hegelschen Philosophie angemessen erfassen. Eine solche kann hier nicht geleistet werden. Statt dessen soll, um es zu wiederholen, eine Beschränkung auf das Frühwerk statthaben, und dies mit einer gewissen Einläßlichkeit der Behandlung angesichts der fundamentalen Bedeutung gerade dieses philosophischen Vorwurfs.1 Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft, hat sich Hegel von vornherein nicht nur als philosophisch-systematisches, sondern auch als historisch-entwicklungsgeschichtliches dargestellt. Es konkretisiert sich ihm im Gegensatz zwischen der antiken republikanischen Po–––––––––
1
Herangezogen für die folgende Interpretation wurde vor allem das große Werk von Georg Lukács, das bereits 1938 abgeschlossen war, jedoch erst 1948 im Europa-Verlag (Zürich, Wien) zum Druck gelangte. Es erschien in der DDR unter dem Titel: Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft.- Berlin: Aufbau-Verlag 1954. In der Gesamtausgabe des Luchterhand-Verlages, nach der hier zitiert wird, lautet der Titel: Werke. Band VIII: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. 3. Auflage.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1967. Des weiteren wurden zum Frühwerk Hegels die folgenden Untersuchungen durchgearbeitet: Roger Garaudy: Dieu est mort. Étude sur Hegel.- Paris: Presses Universitaires de France 1962 (= Bibliothèque de philosophie contemporaine). In deutscher Übersetzung von Theodor Lücke, bearb. von Manfred Buhr: Gott ist tot. Das System und die Methode Hegels.- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1965. Hier insbesondere der erste Teil ›Das Problem Hegels‹ mit dem ersten Kapitel: ›Das politisch-religiöse Problem‹, S. 17–63; Karl Löwith: Hegels Aufhebung der christlichen Religion.- Bonn: Bouvier 1964 (= Hegel-Studien. Beiheft 1), S. 192–236; Jean Hyppolite: Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel.- Paris: Rivière 1968 (= Bibliothèque philosophique), mit einer wichtigen Einführung in die Jugendschriften; Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Hrsg. von Heinz Maus. 2. Auflage.- Neuwied, Berlin 1968 (= Soziologische Texte; 13) (engl. Originalausgabe 1941); Dieter Henrich: Historische Voraussetzungen von Hegels System.- In: ders.: Hegel im Kontext.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971 (= edition suhrkamp; 510), S. 41–72. Vgl. von Henrich auch den Aufsatz ›Hegel und Hölderlin‹ (ebd., S. 9–40; beide Arbeiten vorher unveröffentlicht). Spezialliteratur wird jeweils am Ort nachgewiesen.– Die entscheidenden Anregungen für seine Beschäftigung mit Hegel verdankt der Verfasser dem Werk von Michael Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat.- Berlin: de Gruyter 1970.
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lis einerseits, der jüdisch-christlichen Religion und der mit ihr verbundenen bürgerlichen Gesellschaft andererseits.2
Polis-Sittlichkeit In der griechischen Polis gehorchten »freie Menschen« – die Existenz von Sklaven und damit die ökonomische Basis der Polis wird von Hegel ignoriert – Gesetzen, die sie sich selbst gegeben, gehorchten sie Menschen, die sie selbst zu ihren Obern gesetzt, führten sie Kriege, die sie selbst beschlossen, gaben ihr Eigentum, ihre Leidenschaften hin, opferten sie tausend Leben für eine Sache, welche die ihrige war – lehrten und lernten nicht, aber übten Tugendmaximen durch Handlungen aus, die sie ganz ihr eigen nennen konnten; im öffentlichen wie im Privat- und häuslichen Leben war jeder ein freier Mann, jeder lebte nach eigenen Gesetzen. Die Idee seines Vaterlandes, seines Staates war das Unsichtbare, das Höhere, wofür er arbeitete, das ihn trieb, dies ›war‹ sein Endzweck der Welt, oder der Endzweck seiner Welt – den er in der Wirklichkeit dargestellt fand, oder selbst darzustellen und zu erhalten mithalf. Vor dieser Idee verschwand seine Individualität, er verlangte nur für jene Erhaltung, Leben und Fortdauer, und konnte dies selbst realisieren; für sein Individuum Fortdauer oder ewiges Leben zu verlangen, oder zu erbetteln, konnte ihm nicht, oder nur ›selten‹ einfallen, er konnte nur in tatenlosen, in trägen Augenblicken einen Wunsch, der bloß ihn betraf, etwas stärker empfinden – Cato wandte sich erst zu Platos Phädon, als das, was ihm bisher die höchste Ordnung der Dinge war, seine Welt, seine Republik zerstört war; dann flüchtete er sich zu einer noch höheren Ordnung – [.]3
In der griechischen Polis ist jene Einheit zwischen Individuum und Staat ausgeprägt, um die es Hegel zeit seines Lebens gegangen ist, auch nachdem die konkrete Physiognomie der antiken Polis lange ihren paradigmatischen Charak––––––––– 2
3
Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe des Dilthey-Schülers Herman Nohl, der die Anregung seines Lehrers aufnahm, die Genese des Hegelschen Systems aus den bislang unveröffentlichten Quellen zu rekonstruieren. Dafür war ihre Verfügbarkeit eine unerläßliche Voraussetzung. Das Erscheinen der Nohlschen Edition stellte eine Sensation dar. Sie rückte einen bis dato so gut wie unbekannten Hegel ins Blickfeld: Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin. Hrsg. von Herman Nohl.- Tübingen: Mohr 1907. Reprint Frankfurt/Main: Minerva 1966. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das von Nohl aus dem Nachlaß herausgegebene Werk Diltheys: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus.- In: ders: Gesammelte Schriften. Band IV.- Leipzig, Berlin: Teubner 1921. Von der ›Jugendgeschichte Hegels‹ liegen zwei knapp 200 Seiten umfassende Abschnitte vor, die für die nachfolgende Betrachtung generell heranzuziehen sind: ›Erste Entwicklung und theologische Studien‹ mit dem besonders wichtigen Kapitel ›Drei Schriften über die christliche Religion‹ (S. 18–36) sowie: ›Die Entstehung der Weltanschauung Hegels im Zusammenhang seiner theologischen Studien‹, wiederum mit dem einschlägigen Kapitel ›Die theologisch-historischen Fragmente‹ (S. 68–117). Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Fragmente aus Wilhelm Diltheys Hegelwerk. Mitgeteilt von Herman Nohl.- In: HegelStudien 1 (1961), S. 103–134.– Verwiesen sei schließlich auf die Text-Dokumentation zur Hegelschen Frühzeit, die von dem Herausgeber und ersten Sachkenner reich ausgestattet ist mit weiterführenden Anmerkungen: Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg. von Johannes Hoffmeister.- Stuttgart: Frommann 1936. Hegel: Theologische Jugendschriften (Anm. 62), S. 221 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
ter für ihn verloren hatte. In ihr realisierte sich jene Verpflichtung des Individuums auf höhere und ideelle Ziele, statt nur auf die rein privaten, auf das Eigeninteresse fixierten, die für den Staatsbegriff Hegels zeitlebens maßgeblich blieb. Dem Bürger der antiken Stadtrepublik ist jene Spaltung in private und öffentliche Motive seines Handelns, wie sie die moderne bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet, fremd. Die persönlichen Antriebe, die das Individuum bewegen, sind auf ein Allgemeines, auf die Erhaltung der politischen Lebensform der Polis, gerichtet. Demgegenüber sinkt die Sorge um die individuelle Existenz zu einem Sekundären herab. Der Tod hat daher nicht die Gewalt über den antiken Menschen wie über den der Moderne, denn »den Republikaner überlebte die Republik, und ihm schwebte der Gedanke vor, daß sie, seine Seele, etwas Ewiges sei«, wohingegen der Tod dem Mitglied der nachantiken bürgerlichen Gesellschaft »das ganze Gewebe seiner Zwecke, die Tätigkeit seines ganzen Lebens niederriß, der Tod mußte ihm etwas Schreckliches sein, denn ihn überlebte nichts«.4 Der Republikaner opfert sein Leben ohne Zögern für die ihn überdauernde und in seinen Augen ewige Sache; die Weigerung, in den Kampf zu ziehen, ist daher für Hegel ein untrügliches Indiz dafür, daß der Staat als Inbegriff überindividueller Werte aufgehört hat, die Handlungen seiner Bürger zu prägen.5 Republikanische Tugend ist entsprechend »die Fertigkeit [...], für eine Idee, die für Republikaner in ihrem Vaterlande realisiert ist, das Individuum aufopfern zu können – [.]«6 Den Gliedern des Staatsorganismus sind jene ›höheren Zwecke‹, deren Fehlen Hegel als den gravierendsten Mangel der Idylle diagnostizierte, zur zweiten Natur geworden. Die Dichotomie der Existenz in einen seelischen und sittlichen autonomen Bereich der Person auf der einen Seite und einen äußeren, heteronomen Zwecken gehorchenden auf der anderen, ist dem antiken Staatsbürger unbekannt. Diesem hat sich sein Innerstes in der Republik objektiviert, in deren Genuß er anschauend und handelnd lebt; jenseits davon existieren keine Werte, die als höhere gegen die Republik ausgespielt werden und den Rückzug des Individuums motivieren könnten. Das Leben vollendet sich im politischen Handeln, die Institutionen sind als frei produzierte dem Individuum nicht entfremdet, sondern von seinem eigenen Leben erfüllt. Sie beschränken es nicht, so daß es ausweichen müßte, sondern gewähren jene Erfüllung, die Gesellschaft und Staat der Moderne versagen – weshalb ihre Mitglieder auf transzendente Prinzipien verwiesen sind. Dem jungen Hegel tritt am Beispiel der antiken Polis eine Integrationsstruktur vor Augen, die er der nachantiken Welt konfrontiert und die für ihn – wie auf andere Weise für Hölderlin – positiv wertbesetzt ist.
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Ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 229 f. Ebd., S. 223.
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Untergang des antiken Stadtstaats Hier geht es nicht darum, die historische Richtigkeit von Hegels Bild des antiken Republikanismus in seinen Jugendschriften zu überprüfen. Daß zumindest die ökonomischen Grundlagen der antiken Polis in diesem Bild fehlen, ist angedeutet worden. Sie sind nur aus Hegels Theorie über den Untergang des antiken Stadtstaats zu erschließen, den er auf ökonomische Ursachen zurückführte. In Athen und Rom bildete sich »eine Aristokratie des Kriegsruhms und des Reichtums« heraus, die Einfluß und Herrschaft über ihre Mitbürger gewann, wie es sie vorher nicht gab, weil relative wirtschaftliche Gleichheit unter den Bürgern herrschte. Dieser Oligarchie räumten die Ärmeren, »bestochen durch die Taten jener Männer, und mehr noch durch den Gebrauch, den sie von ihren Reichtümern machten, gern und freiwillig eine Uebermacht und Gewalt im Staate« ein, durch die der demokratischen Ausübung und Kontrolle aller öffentlichen Aktionen ein Ende gesetzt wurde.7 »Das Bild des Staates, als ein Produkt seiner Tätigkeit verschwand aus der Seele des Bürgers; die Sorge, die Uebersicht des Ganzen ruhte in der Seele eines Einzigen, oder einiger Wenigen«, die Masse der Bürger wurde zu »einzelne[n] Räder[n]« der »Staatsmaschine« degradiert, denen mit der nun nicht mehr gewährleisteten Übersicht über das Ganze auch das Interesse daran verloren ging, das den antiken Staatsbürger beseelte. An seine Stelle trat die Sucht nach Privateigentum, nach Erwerb und Unterhalt, und noch etwa Eitelkeit. Alle Tätigkeit, alle Zwecke bezogen sich jetzt aufs Individuelle; keine Tätigkeit mehr für ein Ganzes, für eine Idee – entweder arbeitete jeder für sich, oder gezwungen für einen andern Einzelnen. Die Freiheit, selbstgegebenen Gesetzen zu gehorchen, selbstgewählten Obrigkeiten im Frieden und Heerführern zu folgen, selbstmitbeschlossene Pläne auszuführen, fiel hinweg; alle politische Freiheit fiel hinweg; das Recht des Bürgers gab nur ein Recht an Sicherheit des Eigentums, das itzt seine ganze Welt ausfüllte [...].8
Damit ist die grundlegende geschichtsphilosophische Antithese im Denken des jungen Hegel bezeichnet. Die antike Polis, deren Bürger verbunden sind durch gemeinsame Zwecke, wird abgelöst durch die bürgerliche Gesellschaft, deren Mitglieder nur noch private Ziele kennen, unter denen der Erwerb von Eigentum und dessen vertragliche Sicherung im Privatrecht dominiert. Als Privatrechtssubjekte sind sie atomisiert in unendlich viele Einzelne. Ihr Interesse an dem Staat beschränkt sich auf dessen Potenz, Recht auf und Besitz von Eigentum zu garantieren und gegebenenfalls mit Gewalt zu erzwingen. Das ist die gleiche Charakteristik der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie Kant in der Metaphysik der Sitten gegeben hatte. Während diese bei Kant jedoch einer positiven Einschätzung unterlag und als progressives Telos der Geschichte erschien, fungiert sie in der Hegelschen Konstruktion als negatives Kehrbild zur antiken Demokratie. Ihre genaue zeitliche Extension und ihre innere Gliederung bleiben beim jungen Hegel noch schemenhaft. Den Keim zur Zersetzung der an––––––––– 7 8
Ebd., S. 222. Ebd., S. 223.
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tiken Stadtrepubliken sieht Hegel in diesen selbst, dann entfaltet sich die privatrechtliche bürgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft Roms, breitet sich im Bund mit dem Christentum über ganz Europa aus und bestimmt noch die politische und soziale Wirklichkeit der Gegenwart. Georg Lukács, der in seinem Werk über den jungen Hegel erstmals den sozialphilosophischen und ökonomischen Gehalt der Jugendschriften und der Jenenser Entwürfe bis zur Phänomenologie ausschöpfte, hat jedoch gezeigt, wie sich insbesondere dem Hegel der Berner Periode (1793–96) die Geschichte in einem triadischen Schema unter dem Eindruck der Französischen Revolution organisiert.9 So wie die Revolutionäre selbst, und insbesondere ihr plebejischradikaler Flügel, die Revolution als Wiederherstellung von Freiheit und Gleichheit begriffen, wie sie ehemals in den antiken Republiken ihrer Ansicht nach geherrscht hatten, so ist auch Hegels Parteinahme für die Revolution zunächst inspiriert von der Hoffnung auf eine Restitution der antiken Polis. Und damit erfährt die von der römischen Kaiserzeit bis zur Gegenwart sich erstreckende bürgerliche Gesellschaft eine entscheidende Relativierung. Die Preisgabe republikanischer Tugend, die sie kennzeichnet, braucht nicht ewig zu währen, sondern der Rückgriff auf die verschüttete Tradition der antiken Polis in der Französischen Revolution schafft politischer Theorie und Praxis wieder eine Perspektive für die Zukunft.
Ursprung des Christentums Diese Reduktion menschlicher Aktivität in der bürgerlichen Gesellschaft auf ein rein Privates, auf Eigentum, ist – in einer streng dialektisch-materialistischen Ableitung von Seiten Hegels – der Nährboden für die Verwurzlung und Ausbreitung der christlichen Religion im römischen Reich, die ihrerseits dann mit zunehmender Machtfülle konsolidierend auf die bürgerliche Gesellschaft zurückwirkt. Für Hegel bestehen zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der jüdisch-christlichen Religion Gemeinsamkeiten, die eine Symbiose begünstigen, ja fordern, die grundverschieden ist von der Rolle der Religion in der antiken Polis. Die Freiheit, die der antike Mensch seinen Göttern gegenüber behauptet, rührt für Hegel eben daher, daß er sich seine Zwecke selbst vorgibt. »Griechen und Römer waren mit so dürftig ausgerüsteten, mit Schwachheiten der Menschen begabten Göttern zufrieden, denn das Ewige, das Selbständige hatten jene Menschen in ihrem eigenen Busen«. Frei traten sie ihnen entgegen, wenn es zu einer Kollision kam. Die Guten ehrten die Freiheit derer, die nicht gut sein konnten »und stellten daher weder eine göttliche, noch eine von sich gemachte oder abstrahierte Moral auf, die sie andern zumuteten«; in dem Moment aber, wo alle »Zwecke, alle Tätigkeit aufs einzelne gingen, indem der Mensch für –––––––––
9
Lukács: Der junge Hegel (Anm. 61), passim, insbes. S. 44 ff., S. 72 ff. und S. 135 ff. Zum triadischen Geschichtsbegriff vgl. S. 129. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die bekannte und in Anm. 295 zitierte Studie von Joachim Ritter.
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dieselben keine allgemeine Idee mehr fand, für die er leben und sterben mochte«, erwachte die Sehnsucht nach einer absoluten Religion, die für den Verlust der irdischen Ziele entschädigte.10 In diesem Zustande, ohne Glauben an etwas Haltbares, an etwas Absolutes, in dieser Gewohnheit, einem fremden Willen, einer fremden Gesetzgebung zu gehorchen, ohne Vaterland, in einem Staate, an dem keine Freude haften konnte, dessen Druck der Bürger allein fühlte, bei einem Götterdienste, zu dessen Feier, zu dessen Festen sie den Frohsinn, der aus ihrem Leben entflohen war, nicht mitbringen konnten [...] – in diesem Zustande bot sich den Menschen eine Religion dar, die entweder schon den Bedürfnissen der Zeit angemessen war, denn sie war unter einem Volke von ähnlicher Verdorbenheit und ähnlicher, nur anders gefärbter Leerheit und Mangel entstanden – oder aus der die Menschen dasjenige formen, sich an das hängen konnten, was ihr Bedürfnis heischte. Die Vernunft konnte es nie aufgeben, doch irgendwo das Absolute, das Selbständige, Praktische zu finden, in dem Willen der Menschen war es nicht mehr anzutreffen; es zeigte sich ihr noch in der Gottheit, die die christliche Religion ihr darbot, außerhalb der Sphäre unsrer Macht, unsres Wollens [...].11
Die antike Polis war das Produkt freier Menschen. Der römische Staat der Kaiserzeit – wie die ihm zugeordnete ›bürgerliche Gesellschaft‹ – beruhte auf der Herrschaft einer Minderheit und war der Verfügung der Mehrzahl seiner Bürger im Gegensatz zur attischen Demokratie entzogen. Diese findet in der freiwilligen Mitwirkung am Staat nicht länger ihren Lebenssinn, sondern statt dessen »in der Gottheit, die die christliche Religion ihr darbot, außerhalb der Sphäre unsrer Macht, unsres Wollens, doch nicht unsres Flehens und Bittens«. Ist aber erst einmal »die Realisierung einer Idee außerhalb der Grenzen menschlicher Macht gesetzt«, so werden die Menschen das ehemals von ihnen selbst auf Erden Hervorgebrachte einem göttlichen Wesen anheim stellen und dessen Erfüllung ins Jenseits verlegen. Hier bietet sich die in der jüdischen Tradition der »trägen Messiashoffnungen« ausgebildete Erwartung einer »durch ein göttliches Wesen zu stande zu bringenden Revolution [an], wobei die Menschen sich ganz passiv verhielten«. Als »diese Hoffnung endlich verschwand, so begnügte man sich, jene Revolution des Ganzen am Ende der Welt zu erwarten«.12 Je größer die Misere auf der Erde, der Verzicht auf »die Freuden der Welt und die Güter der Erde«, desto intensiver der Glaube an »reichliche Entschädigung im Himmel«, den die Kirche befördert. An die Stelle eines Vaterlandes, eines freien Staats war die Idee der Kirche getreten, die sich von jenem dadurch unterschied, daß, außerdem, daß in ihr keine Freiheit Platz haben konnte, jener vollendet sich auf Erden befand, diese hingegen mit dem Himmel aufs innigste in Verbindung stand [...].13
Sie bietet dem »Geist des Menschen«, welchen der römische Despotismus »von dem Erdboden verjagt« hatte, die Möglichkeit, »sein Ewiges, sein Absolutes in die Gottheit zu flüchten – das Elend, das er verbreitete, Glückseligkeit im Him––––––––– 10 11 12 13
Hegel: Theologische Jugendschriften (Anm. 62), S. 222 f. Ebd., S. 224. Ebd., S. 224 f. Ebd., S. 227.
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mel zu suchen und zu erwarten.« Das Bild dieser Gottheit ist kein unwandelbares, sondern »mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen in gleichem Schritte gegangen, und jene ist eigentlich nur eine Offenbarung, nur eine Erscheinung dieses Geistes der Zeiten.«14 In dem Schoße dieser verdorbenen Menschheit [...] mußte die Lehre von der Verdorbenheit der menschlichen Natur erzeugt, und gern angenommen werden; sie stimmte einerseits mit der Erfahrung überein, andrerseits tat sie dem Stolze Genüge, die Schuld von sich abzuwälzen, und im Gefühl des Elends selbst einen Grund des Stolzes zu geben, sie brachte zu Ehren, was Schande ist, sie heiligte und verewigte jene Unfähigkeit, indem sie selbst das, an die Möglichkeit einer Kraft glauben zu können, zur Sünde machte.15
Diese radikale und kompromißlose Religionskritik steht der Marxschen näher als der Feuerbachschen. Sie ist nicht anthropologisch fundiert, sondern historisch-materialistisch und nimmt damit in der konkreten Analyse jene Einwände vorweg, die Marx später gegen Feuerbach geltend machte. Die jüdisch-christliche Religion hat die Aufgabe einer Ersatzbefriedigung, aber diese ist nur in einer spezifischen historischen Situation nötig, wie es sie vorher in Griechenland nicht gab und wie sie nicht ewig zu währen braucht. Sie befriedigt Bedürfnisse, die nur in der jetzt heraufziehenden Gesellschaft und dem ihr zugeordneten Staat unbefriedigt bleiben. Sie gewährt jenen Lebenssinn, den die Gesellschaft versagt, sie verheißt dem Menschen ein Glück im Jenseits, das ihnen im Diesseits vorenthalten ist, sie verspricht Erlösung von einer Natur, die erst nach der Entfesselung der Eigentumsinstinkte verdarb. So stabilisiert sie die nun heraufziehende Gesellschaft, indem sie deren Mechanismen religiös verklärt und zugleich dem Hang nach einem Höheren Genüge tut.
Volksreligion und Christentum Wie aber konnte die Verkündigung Jesu, welche Hegel ihrer Intention nach in schärfstem Gegensatz sowohl zum Judentum als auch zur bürgerlichen Gesellschaft sah, in der Geschichte der christlichen Kirche jene enge Symbiose mit letzterer eingehen? Diese Frage hat Hegel von den Fragmenten über ›Volksreligion und Christentum‹ aus der Zeit in Tübingen und Bern, über die Berner Hauptschrift ›Die Positivität der christlichen Religion‹ bis hin zu der großen Frankfurter Untersuchung ›Der Geist des Christentums und sein Schicksal‹ unaufhörlich beschäftigt.16 In unserem Zusammenhang kann es nicht darum gehen, alle einzelnen Argumente für die Verwandlung der Lehre Jesu in ihr Gegenteil zu wiederholen, wie sie Hegel vor allem in der Berner Schrift nicht zuletzt aus der Geschichte des Christentums beigebracht hat. Hier geht es – außer einem ––––––––– 14 15 16
Ebd., S. 227 f. Ebd., S. 225. Zur Chronologie der einzelnen unter diesen Titeln von Nohl zusammengefaßten Manuskripte vgl. Gisela Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften.- In: Hegel-Studien 2 (1963), S. 111–159. Vgl. auch die anschauliche und hilfreiche kurze Zusammenstellung bei Lukács: Der junge Hegel (Anm. 61), S. 306.
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Blick auf das Judentum – im wesentlichen nur um die Antinomien, die Hegel am Schicksal Jesu selbst entfaltet hat, denn in ihnen resümieren sich exemplarisch alle Widersprüche, die sich aus dem Versuch ergeben, eine unversehrte Gestalt des Lebens inmitten einer zerrissenen Umwelt wiederherzustellen. Es ist der vielleicht großartigste Aspekt des Lukácsschen Ansatzes, die Ausbildung der dialektischen Methode aus dem Zwang begriffen zu haben, dieser Widersprüche im Begriff Herr zu werden. Am Gegensatz von Volksreligion und Christentum hat Hegel die Problematik zunächst entfaltet.17 Eine ›Volksreligion‹, wie sie in Griechenland beheimatet war, zeichnet sich durch die Kraft aus, die Lebensgewohnheiten eines Volkes zu prägen. Sie hat in dem Maße öffentlichen Charakter, wie ihre Begriffe und Vorstellungen »die Ueberzeugung eines Volks ausmachen, sofern sie Einfluß auf die Handlungen und Denkart desselben haben«. Sie bewirkt die »Erhebung, Veredlung des Geistes einer Nation [...], daß sich das Volk nicht wegwirft und nicht wegwerfen läßt«.18 Sie bildet ein die Nation einigendes Band, indem sie deren Glieder unter gemeinsame Traditionen stellt, in gemeinsamen Kulten zusammenführt und eine gleiche Denk- und Empfindungsweise schafft. Völlig unkantisch interessiert schon den Tübinger Studenten weniger die Reinheit des Bestimmungsgrundes religiöser Akte, als vielmehr ihre integrierende Funktion im Blick auf das Volk und dessen Verpflichtung unter gemeinsame nationale Ideale. Einer Volksreligion sind die Dogmen sekundär. Wichtiger als ihre objektive, dem Verstand zugängliche Richtigkeit, ist ihre subjektive Verwurzlung im Volk, mit dessen Charakter sie in Einklang stehen muß, dessen Bedürfnisse sie zu befriedigen hat. Gerade in einer Volksreligion dürfen »Phantasie und Herz nicht unbefriedigt bleiben«;19 sie hat die »Scheidewand zwischen Leben und Lehre« einzureißen, sie »muß um alle Gefühle des Lebens freundlich weilen«. Statt dem Leben als feindliche Macht entgegengesetzt zu sein, soll sie im Gegenteil dessen Erfahrung bereichern und dessen Genuß steigern. Genuß des Daseins ist für Hegel jedoch nur in einer freien Republik möglich. Eine wahre Volksreligion wie in Griechenland, »die große Gesinnungen erzeugt und nährt – geht Hand in Hand mit der Freiheit.«20
Dialektik der Verkündigung Jesu Von einer derart charakterisierten Volksreligion ist das Christentum denkbar weit entfernt. Es will »die Menschen zu Bürgern des Himmels, deren Blick im–––––––––
17
18 19 20
Es ist daher falsch, wenn Rohrmoser behauptet, Lukács sähe Hegel, wenigstens in Frankfurt, auf die religiöse Problematik beschränkt und könne daher die Dialektik gerade nicht aus den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft herleiten. Vgl. Günter Rohrmoser: Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel.- Gütersloh: Mohn 1961, S. 43 ff. Hegel: Theologische Jugendschriften (Anm. 62), S. 5. Ebd., S. 19. Ebd., S. 26 f.
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mer aufwärts gerichtet ist, erziehen, und darüber werden ihnen menschliche Empfindungen fremd.«21 Obgleich Hegel auch in seiner kritischsten, der Berner Phase, das Wirken Jesu stets von der Geschichte der christlichen Kirche und der in ihrem Gefolge auftretenden Mißstände getrennt hat, gibt es doch an einigen Stellen Hinweise, daß er verborgene Wurzeln dafür im Auftreten Jesu selbst angelegt sah. Ist Jesu Bild von Tragik nicht frei, so gründet sie in der Dialektik seiner Verkündigung, die Herrschaftslosigkeit und Liebe unter den Menschen intendierte und in ihrer Geschichte doch in praxi immer wieder zur Versklavung des Menschen führte. Hegel hat dafür zahllose Gründe angeführt. Die tiefste Ursache scheint er jedoch in der radikalen und kompromißlosen Absage gesehen zu haben, die Jesus Religion, Staat und Gesellschaft seiner Zeit erteilte. Sie war notwendig angesichts des Zustands, in dem das Judentum seiner Zeit sich befand, aber sie war nicht frei von Problemen. Unter den Geboten, die Christus seinen Schülern und Zuhörern gab, sind viele, deren Ausübung, wenn sie nicht in dem Geiste, der der Geist der Tugend ist – sondern nur dem Buchstaben nach geschieht – unnütz, oft gar schädlich sein würde [...]. So sind viele Gebote Christi den ersten Grundlagen der Gesetzgebung in bürgerlichen Gesellschaften, den Grundsätzen der Rechte des Eigentums, der Selbstverteidigung usw. entgegen – Ein Staat, der heutzutage die Gebote Christi unter sich einführen würde,.– [sic!] nur mit den äußerlichen könnte er es tun, denn der Geist derselben läßt sich nicht gebieten – würde sich bald selbst auflösen[.]22
Jesu Rat an den reichen Jüngling, alle seine Güter zu verkaufen und den Erlös unter den Armen aufzuteilen, führt »auf zu absurde Konsequenzen, als daß man sich einfallen lassen könnte, ihn auf ein größeres Volk auszudehnen«. Jesu Gebote destruieren in ihrer Radikalität den Aufbau sittlicher Institutionen des Staates oder relativieren doch zumindest deren Existenz und setzen sie zu etwas Sekundärem herab. Der Bruch, den er mit den von ihm vorgefundenen sittlichen Ordnungen seines Volkes vollzieht, eröffnet nicht zugleich den Ausblick auf neue sittliche Verhältnisse. Vielmehr charakterisiert Hegel das Evangelium dahingehend, »daß die Lehren Jesu, seine Grundsätze eigentlich nur für die Bildung einzelner Menschen paßten, und darauf gerichtet waren«. Jesus geht es um die Erweckung Einzelner, und von ihnen verlangt er, daß sie im Ernstfall alle sittlichen Bande, die sie an Familie und Volk, Staat und Religion knüpfen, bedingungslos zerschneiden, um ihm nachzufolgen. In dieser Atomisierung des Volkes auf einzelne Privatmenschen liegt die strukturelle Analogie zur bürgerlichen Gesellschaft auch dort, wo Jesus sich de facto über ihre Prinzipien hinweggesetzt. Sie begründet die rasche Rezeption in der römischen Privatrechtsgesellschaft. Den Haß seines Volkes erregt Jesus gerade durch »seine individuelle Art, teils selbst zu handeln, teils die Handlungen anderer Menschen zu beurteilen, die nicht nur gegen ihre heiligen Gewohnheiten, sondern auch gegen die bürgerlichen Gesetze anstieß«.23 ––––––––– 21 22 23
Ebd., S. 27. Ebd., S. 41. Ebd.
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Sieht Hegel in Jesus die erhabene Gegenfigur gegen die erstarrte Positivität vorgegebener Ordnungen und die Unsittlichkeit der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft, so deckt er in den vorgelegten Partien zugleich die Problematik seiner Mission auf, die offen zutage tritt in seinen Jüngern, in der Urgemeinde und der Geschichte der Kirche, mit denen sich die Positivitätsschrift vorwiegend befaßt.
Jesu Jünger und die Entfaltung der christlichen Kirche Die Apostel hatten sich um Jesu willen »aller andern Verhältnisse entschlagen [...] ganz irdisch [sind] anfangs ihre Erwartungen, Hoffnungen, Ideen« gerichtet auf einen »jüdischen Messias, und Stifter eines Reichs, wo General- und Hofmarschallstellen zu vergeben sein würden« und nur langsam erheben sie sich »von dem Eigennutz, der zuerst an sich denkt [...] zu dem bloßen Ehrgeiz ein Mitbürger des Reichs Gottes zu werden«. Darin liegt der Unterschied zu den Anhängern des Sokrates. So wie dieser »seiner Weisheit ohnbeschadet in den Verhältnissen als Mann, als Vater« blieb, so geben auch seine Freunde ihre Berufe, ihre Familie und vor allem ihre auf die Polis gerichteten Interessen nicht auf.24 Sie hatten von Jugend auf ihre Kräfte vielseitiger entwickelt, hatten republikanischen Geist eingesogen, der jedem Individuum für sich mehr Selbständigkeit gibt, und es einem etwas guten Kopfe unmöglich macht, ganz und gar nur an einer Person zu hängen; in ihrem Staate war es noch der Mühe wert, sich für ihn zu interessieren, und ein solches Interesse kann nie aufgegeben werden.25
Sokrates hatte sein Leben selbst furchtlos für das Vaterland aufs Spiel gesetzt, war in Krieg und Frieden seinen Pflichten als freier Bürger nachgekommen. Und so waren auch seine Schüler »nicht Helden im Martyrtum und Leiden, sondern im Handeln und im Leben«.26 Jesu Jünger sind dagegen fixiert auf die Gestalt ihres Meisters. Ein »Interesse für den Staat hatten sie nicht, wie ein Republikaner für sein Vaterland hat«. Ihr Zentrum ist nach dem Tod Jesu der kleine, von der Gesamtheit abgespaltene Kreis der gläubigen Gemeinde. Diese versucht in der Nachfolge Jesu das Ideal der Gütergemeinschaft zu praktizieren. Hegels realistische Phantasie meldet schon hier Zweifel an. Dieses Ideal verführt dazu, Privatbesitz zu verheimlichen und muß den Reichen sauer werden, die all ihr Streben bisher auf dessen Mehrung gewandt hatten. Es nötigt zu beständigen Kompromissen. Vor allem ist die Kirche später weit entfernt davon, ihr Eigentum zu sozialisieren. Sie vermehrt es statt dessen geschickt, indem sie ihre Gnadenmittel bevorzugt an die Reichen verkauft. Das Ideal der Gleichheit wird zu einer ›Komödie‹ auf Erden und vorsorglich in den Himmel verlegt.27 –––––––––
24 25 26 27
Ebd., S. 32 f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 33 f. Ebd., S. 163. Vgl. auch ebd., S. 167 f.
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Das Dilemma dieser wie anderer christlicher Ideale liegt darin, daß fälschlicherweise das, was nur für eine kleine Familie angeht – auf die bürgerliche Gesellschaft ausgedehnt wurde – diese Anmaßung, die sich auf eine unglaubliche Art festsetzte [...] hat die empörendsten Auswüchse von gewaltsamen Einrichtungen und Betörungen der Menschheit veranlaßt – Ohrenbeichte, Kirchenbann, Abbüßungen und die ganze Folge dieser entehrenden Denkmäler von der Erniedrigung der Menschheit[.]28
Eine Sekte mag sich vornehmen, niemals zur Waffe zu greifen. Aber wenn eine solche Gesellschaft selbst zu einem Staate erwüchse – so kann sie ihre Maximen in ihrer Allgemeinheit nimmer beibehalten – wenn sie sich nicht in Gefahr setzen will, mit Unterdrückung alles natürlichen Gefühls ihr ganzes Gebäude von der Glückseligkeit des ganzen Volks der Frechheit einer Handvoll von Räubern preiszugeben[.]29
Daß Jesus sittliche Verhältnisse wie Ehe, Familie, Staat als zweitrangig behandelt gegenüber dem absoluten Anruf des Menschen zur Nachfolge, bleibt nicht ohne Einfluß auf die in seinem Namen antretende Kirche. Will die Gemeinde aus ihrem Sektenstatus heraustreten und sich mit dem Staat versöhnen, so ergeben sich daraus zwangsläufig Widersprüche zum Evangelium. Die Anpassung an die bestehenden Gewalten bricht mit der Botschaft Jesu, und die gewaltsame Durchsetzung christlicher Prinzipien im Staat führt zu einer Versklavung, aus der Jesus den Menschen gerade befreien wollte. Die unerhörte Radikalität des Hegelschen Ansatzes zeichnet sich darin ab, daß er das Reich Gottes, wie Jesus es verkündet, und den Terror der christlichen Kirche im Verlauf ihrer Geschichte als zueinandergehörige Momente begreift. Indem das Evangelium mit einer Zeit und Raum, Traditionen und Institutionen negierenden absoluten Forderung an den Menschen herantritt, muß eine darauf sich berufende Kirche zu Gewalt und Zwang greifen, um diese Forderung in einem christlichen Staat durchzusetzen. Die Verunreinigung des Ideals in der Geschichte ist also keine zufällige, sondern das Schicksal jeder absoluten und damit ungeschichtlichen Forderung. Sie wird stets »ohnzählige Mißverständnisse« mit den »Neigungen, Regungen« des Menschen und eine »desorganisierte Aengstlichkeit des Gewissens entstehen« lassen. Institutionen werden sich bilden mit der »Anmaßung, die Herzen und Nieren zu prüfen und die Gewissen zu richten und zu strafen« – und das um so mehr, als »in dem ersten Ursprung des Christentums schon der Keim« dazu lag.30 So kommt es zu dem Widersinn, daß die christliche Kirche, deren Stifter die Menschen vom Joch toter Gesetze befreien wollte, diese erneut der Knechtschaft unterwirft und die Seelen mit den Schreckensbildern ewiger Verdammnis quält, um im gleichen Moment die Gnadenmittel anzubieten für die von ihr selbst produzierten Schrecken. Mit dieser Versklavung des Menschen erweist sie dem Staat einen unschätzbaren Dienst. ––––––––– 28 29 30
Ebd., S. 42. Ebd., S. 44. Ebd., S. 42 f.
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Einen Vorteil, und zwar einen großen hat der Staat, oder vielmehr die Gewalthaber in demselben, – denn jener ist dabei zertrümmert, – erhalten durch dieses Vorhaben der Kirche, auf die Gesinnungen zu wirken – nämlich eine Herrschaft, einen Despotismus, der nach Unterdrückung aller Freiheit des Willens durch die Geistlichkeit völlig gewonnenes Spiel hat, – bürgerliche und politische Freiheit hat die Kirche als Kot gegen die himmlischen Güter und den Genuß des Lebens verachten gelehrt, und so wie die Entbehrung der Mittel, die physischen Bedürfnisse zu befriedigen, den tierischen Teil des Menschen des Lebens berauben, so bringt auch die Beraubung des Genusses der Freiheit des Geistes, der Vernunft den Tod[.]31
Das ist aus dem »Versuch Jesu, seine Nation auf den Geist und die Gesinnung aufmerksam zu machen«, d.h. sie an die Stelle objektiver Gesetze auf die Liebe zu gründen, geworden. »Wie wenig« – konstatiert Hegel – hat die Kirche »über die Verdorbenheit aller Stände, über die Barbarei der Zeiten, über die groben Vorurteile der Völker Meister werden können.«32 Sie konnte es nicht zuletzt deshalb nicht, weil sie in ihrem Ursprung – nach der notwendigen Destruktion aller sittlichen Bindungen – den Menschen nicht wieder auf diesseitige Zwecke, auf die Mitwirkung an einem sittlichen Allgemeinen verpflichtete, sondern als je Einzelnen zur Umkehr in ein Reich aufrief, das nicht von dieser Welt war.
Abraham als Repräsentant jüdischer Geistigkeit Hegels Frankfurter Schrift ›Geist des Christentums‹ entfaltet dann die Problematik nicht mehr primär aus der Geschichte der christlichen Kirche und der in ihrem Namen begangenen Greuel, sondern deckt sie als Schicksal Jesu im Kontext seiner jüdischen Umwelt auf. Das Judentum und damit die orientalische Welt insgesamt gerät in die prinzipielle Differenz zur antiken Welt. An ihm erschließen sich nun die defizienten Formen des Verhältnisses zwischen den Individuen und einem sie übergreifenden Allgemeinen, die Jesus zu überwinden trachtet. In der Gestalt Abrahams hat Hegel diese jüdische Stellung zur Objektivität verkörpert. In seiner Jugend schon verläßt dieser das Vaterland, später reißt er sich von seiner Familie los. Der erste Akt dieses Stammvaters der Nation »ist eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend [...] stieß er von sich«. Hegel hat dabei wieder den Gegensatz zur griechischen Antike im Auge. Wo die antiken Gestalten aus dem Vaterland verbannt werden, da suchen sie die »unbefleckten schönen Vereinigungen« wieder aufzunehmen unter den fremden Völkern. Abraham aber sucht sich »in strenger Entgegensetzung gegen alles fest zu erhalten«. Er flieht alle sittlichen Bande, widersetzt sich der Liebe, »um ein ganz selbstständiger, unabhängiger Mann, selbst Oberhaupt zu sein [...].«33 ––––––––– 31 32 33
Ebd., S. 207. Vgl. auch ebd., S. 366. Ebd., S. 207 und S. 39. Ebd., S. 245 f.
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Jedes allgemeine Ziel bleibt ihm gleichgültig. »Ein unabhängiger Mann und außer Verbindung mit einem Staate, oder einem andern Zwecke, war ihm seine Existenz das Höchste [...]. Ein höheres, größeres Objekt sehen wir nirgends in seinem Leben«.34 Sein Verhältnis zur Natur ist ein herrschaftliches, kein liebendes. Darin bekundet sich deren Feindseligkeit für Abraham, »denn Feindseliges kann nur in die Beziehung der Herrschaft kommen«. Der kühle, schattige Hain, in dem er rastet, trägt nicht die Züge des Göttlichen, er ist dem Fremdling unter den Menschen und in der Natur nichts als Stätte der Offenbarung eines transzendenten Gottes. Die Wurzel seines Glaubens an Gott ist seine Verachtung der Welt. Sein Gott ist der Welt so entgegengesetzt wie er selbst; nichts an der Natur hat Anteil an diesem Gott; dessen Verhältnis zur Welt besteht in seiner Herrschaft über sie, und in ihr gründet diejenige Abrahams als abgeleitete. Sie ist eine grausame. Wo sich Abrahams Nachfolger stark genug dünken, »ihre Idee der Einheit zu realisieren, da herrschten sie denn auch ohne Schonung mit der empörendsten, härtesten, alles Leben vertilgendsten Tyrannei; denn nur über dem Tode schwebt die Einheit[.]«35 Damit ist schon angedeutet, daß in Abrahams Existenz und Religiosität Charakter und Existenz des jüdischen Volkes präformiert sind. Joseph in Ägypten führt eine politische Hierarchie ein, in der die Ägypter die gleiche Stellung zum König einnehmen wie dieser zu Gott – im irdischen Tun realisiert sich die Vorstellung, die der Jude von Gott hat. Die Ägypter werden zum Eigentum des Königs, so wie Gott über sein Volk verfügt. Gott erstreitet die Siege für sein Volk; dieses ist »ohne Seele und eigenes Bedürfnis der Freiheit bei seiner Befreiung«. Als Befreier wird Gott zugleich zum Gesetzgeber seines Volkes. »Eine passive Nation, die sich selbst Gesetze gäbe, wäre ein Widerspruch.« Diesem unendlichen gesetzgebenden Wesen gegenüber ist alles Irdische »ohne Gehalt und leer, ohne Leben, nicht einmal tot – ein Nichts – nur ein Etwas, so weit das unendliche Objekt sie zu etwas macht, ein Gemachtes, kein Seiendes, das kein Leben, kein Recht, keine Liebe für sich hat«. Menschliches Leben wird nur verliehen und muß rein gehalten werden so »wie der Bediente die Livree, die ihm der Herr gibt, rein zu erhalten hat.«36 Dieser Pflicht entledigt man sich durch vorgeschriebene Gesetze: der pedantisch sklavische Geist der Nation hatte noch den gleichgültigsten Handlungen des täglichen Lebens eine Regel vorgeschrieben, und der ganzen Nation das Ansehen eines Mönchsordens gegeben – der Dienst Gottes und der Tugend war ein zwangsvolles Leben unter toten Formularen, dem Geist blieb nichts als der hartnäckige Stolz auf diesen Gehorsam der Sklaven gegen sich nicht selbst gegebene Gesetze übrig.37
Wahrheit ist diesem Volk nicht etwas Herrschaftsfreies, Schönes, sondern Befehl, Gesetz. Vor diesem sind alle gleich, aber diese Gleichheit ist von anderer Art als in Griechenland. Die »Griechen sollten gleich sein, weil alle frei, selbst––––––––– 34 35 36 37
Ebd., S. 369. Ebd., S. 246 und S. 248. Ebd., S. 249–251. Ebd., S. 148.
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ständig; die Juden gleich, weil alle ohne Fähigkeit des Selbstbestehens waren.«38 Ihre Gleichheit beruht auf der Abhängigkeit von einem Regenten, der »ungesehen und ungefühlt« bleibt. Andere Ziele als Gesetzesgehorsam und Erhaltung der Existenz kennen die Juden nicht. Jeder heroische Geist ist ihnen fremd. Eigentum und Existenz opfert man »nur für Ehre, Freiheit oder Schönheit, für etwas Ewiges; aber an irgend einem Ewigen hatten die Juden keinen Teil«.39 Das Schicksal der Juden gleicht dem Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing, und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden, von seinen Göttern (denn es waren Objekte, er war Knecht) endlich verlassen, und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden mußte.40
Diese Fixierung auf ein der Welt transzendentes Wesen, die Jesus rückgängig zu machen versucht, die sich aber in der christlichen Kirche erneut durchsetzt, macht die jüdisch-christliche Religion akzeptabel für den römischen Despotismus. Sie begünstigt jene Passivität und Interesselosigkeit gegenüber dem Staat und jene Ergebenheit in ein göttliches Schicksal, das den irdischen Machthabern nur allzu gelegen kommt. Menschliches Handeln bleibt gegenüber dieser irrationalen, menschlicher Vernunft entzogenen Macht zu bloßer Zufälligkeit verurteilt. Es vermag sich nicht selbst zu bestimmen und selbst zu vollenden. Erfüllung im Irdischen und Objektivierung in einem Schönen ist diesem Volk versagt, weil natürliche und geistige Welt nicht vermittelt sind, sondern auseinander gerissen bleiben. Ist für den jungen Hegel eine jede Objektivität positiv, sofern sie menschlicher Natur und Vernunft beziehungslos und fremd fordernd gegenübertritt, so ist die jüdische Gesetzesreligion in ihrer Vergewaltigung jeder natürlichen Regung und in ihrer Versklavung unter ein immer schon Vorgegebenes das Paradigma dafür. Das macht sie für den jungen Hegel geeignet, analogisch für die bürgerliche Gesellschaft einzutreten. In der modernen Gesellschaft findet der Mensch Herrschaft und Gesetz auch immer schon als Gegebenes vor, dem er sich unterzuordnen hat. Und vor allem weiß die bürgerliche Gesellschaft so wenig wie die jüdische Religion den Menschen für sittliche Ziele zu begeistern, sondern beschränkt ihn jenseits des Gehorsams auf die unbedeutende Sphäre des Privaten.
Versöhntes und verletztes Leben Vor diesem Hintergrund entfaltet Hegel das Schicksal der Gestalt Jesu. Seine Entzweiung mit dem Judentum ist notwendig und sie ist radikal. Er »stellte sich dem Ganzen entgegen«, suchte »das Ganze des Schicksals zu überwinden«, liebend, nicht kämpfend.41 Statt lustlosen Gehorsams auferlegter Gesetze möchte –––––––––
38 39 40 41
Ebd., S. 255. Ebd., S. 252 f. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Jesus die freiwillige Erfüllung selbst gegebener und freudig anerkannter Maximen. Wenn jedoch in Bern im Anschluß an Kant der Akzent auf der Autonomie des Menschen lag, so tritt nun in Frankfurt die Differenz zu Kant schärfer hervor. Die Liebesreligion Jesu stellt Hegel jetzt nicht nur gegen die Gesetzesreligion der Juden, sondern auch über die Sollensethik Kants. Der Gehalt der Bergpredigt besteht darin, den Gesetzen das Gesetzliche zu nehmen. Gesetze drücken ein Sollen aus und halten also eine Trennung fest; Jesus möchte die Vereinigung des Getrennten, ein Sein. Er will eine Geneigtheit, so zu handeln [...], wie die Gesetze gebieten würden, Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze, wodurch dieses seine Form als Gesetz verliert; [...] jene Geneigtheit, eine Tugend, ist eine Synthese, in der das Gesetz [...] seine Allgemeinheit, und ebenso das Subjekt seine Besonderheit, – beide ihre Entgegensetzung verlieren [...].42
An der Dialektik des Verbrechens hat sich Hegel der Idee versöhnten Lebens versichert. Jesus stellt der Positivität der Juden, ihrer Gesetzlichkeit, den freien Menschen gegenüber. Der unter dem positiven, ihn beschränkenden Gesetz stehende Mensch ist jenseits der ihm vorgeschriebenen Grenzen unmoralisch. Der freie Mensch bestimmt seine Grenzen und also Tugend und Laster selbst. Übertretung des Gesetzes wird mit Strafe geahndet; ein Gesetz duldet keine Ausnahme, und deshalb kann in seinem Geltungsbereich nicht von Strafe abgesehen werden. Solange Gesetze das Höchste sind, muß das Individuum, sofern es gegen sie verstößt, ihnen als einem Allgemeinem aufgeopfert werden. Diesem Mechanismus von Gesetz und Strafe der jüdischen Religion und der bürgerlichen Gesellschaft stellt Hegel die Wechselwirkung von verletztem Leben und Schicksal entgegen. Verletzung des Lebens entspringt nicht dem Ungehorsam gegenüber dem Gesetz, sondern dem Verstoß gegen selbst gewählte Maximen. Die Verletzung des Lebens evoziert das Schicksal. Schicksal gibt es nur unter dem Bann von Schuld. Es entspringt da, wo Leben zum Feind gemacht wird, und erhebt sich drohend gegen den Schänder des Lebens. Leben ist ungeteilt; indem der Mensch fremdes zerstört und das Schicksal gegen sich aufruft, zerstört er sein eigenes Leben. Während es unter dem Gesetz jedoch keine Gnade gibt, kann verletztes Leben versöhnt werden. Indem der Verbrecher in der Konfrontation mit dem Schicksal der Zerstörung seines eigenen Lebens inne wird, sehnt er sich nach der verlorenen Einheit mit dem Leben. Dieses im Angesicht des Schicksals sich wiederfindende Leben ist identisch mit der Liebe; in der Liebe versöhnt sich das Schicksal. Im Leben Jesu sieht Hegel diese Liebe gegen den Geist des Judentums am Werk. Und an seinem Tun werden auch die Widersprüche deutlich, die sich aus der Restauration versöhnten Lebens inmitten einer feindlichen Umwelt ergeben. Auf die Verletzung eigner Rechte gibt es zwei Reaktionsformen: Kampf um die Behauptung eigenen Rechts oder passives Erdulden des Unrechts in dem ––––––––– 42
Ebd., S. 268.
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Bewußtsein des eigenen Rechts. Fällt auf das passive Erleiden der Schatten der Kraftlosigkeit, so auf die tapfere Gegenwehr jener der Verstrickung in die Sphäre positiven Rechts. Das Wahre beider Reaktionsformen sieht Hegel vereint in der schönen Seele, wie Jesus sie darstellte. Diese erhebt sich über die Welt des Rechts, indem sie keine Bindungen eingeht, die Rechtsverhältnisse begründen könnten, und verharrt dennoch nicht in Passivität, sondern gibt sich liebend der Welt hin. Ihr Leben besteht im freiwilligen Verzicht auf Integration in die vorgegebenen Lebensformen und Institutionen des eigenen Volkes. Jesus vollzieht diese Entgegensetzung in vollem Bewußtsein und zieht damit die ganze Macht eines unglücklichen Schicksals auf sich. Er entzweit sich mit dem sittlichen Leben seines Volkes, da diese Entzweiung unabdingbare Voraussetzung einer Rettung unbeschädigten Lebens inmitten erstarrter Ordnungen ist. »Um sich zu retten, tötet der Mensch sich; um das Seinige nicht in fremder Gewalt zu sehen, nennt er es nicht mehr das Seinige«.43 Er hält dem Leben die Treue, indem er sich von dessen unreinen Erscheinungsformen auf sich selbst zurückzieht und in sich die Kraft der Liebe bewahrt. Die höchste Freiheit ist das negative Attribut der Schönheit der Seele, d.h. die Möglichkeit auf alles Verzicht zu tun, um sich zu erhalten. [...] So ist mit der höchsten Schuldlosigkeit die höchste Schuld, mit der Erhabenheit über alles Schicksal das höchste, unglückseligste Schicksal vereinbar.44
Dem Unglück, mit der Erhebung auf alle positiven Rechtsverhältnisse auch auf alle objektiven Bindungen und irdischen Güter Verzicht zu tun, setzt Jesus die Fülle nicht verletzten Lebens als Freundschaft, als Liebe, als grenzenlose Bereitschaft zur Versöhnung entgegen. Vor diesem Schicksal zerfließt das Schicksal »in die Lüfte der Nacht«.45
Schicksal Jesu Und doch entgeht auch Jesus nicht einem Schicksal. Dem überschwenglichen Preis des Reiches Gottes als Reich einer in Liebe geeinten Menschheit folgt die unbestechliche Einsicht in die Widersprüche dieses Reiches, solange die Welt anderen Gesetzen gehorcht. Gerade dieses entscheidende Moment ist in der theologischen Hegel-Exegese bisher zumeist abgeblendet worden. Das verzweifelte Ringen Jesu, die Zerstückelung menschlicher Existenz zu überwinden, wie sie ihm in der Knechtschaft des Judentums unter einen transzendenten, Natur und Geist des Menschen entwertenden Gott vor Augen stand, bleibt mit dem Widerspruch behaftet, daß die Liebe die Mächte des Bestehenden nicht zu beseitigen vermag. An ihrer faktischen Gewalt wird die Grenze Jesu evident. Seine Forderung, sich von allem Eigentum zu trennen, –––––––––
43 44 45
Ebd., S. 285. Ebd., S. 286. Ebd., S. 287.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels ist eine Litanei, die nur in Predigten oder in Reimen verziehen wird, denn eine solche Forderung hat keine Wahrheit für uns. Das Schicksal des Eigentums ist uns zu mächtig geworden, als daß Reflexionen darüber erträglich, seine Trennung von uns, uns denkbar wäre.
Andererseits läßt Besitz »kein Ganzes, kein vollständiges Leben« zu, er schließt uneingeschränkte Liebe aus. »Zweiherrendienst« aber ist nicht möglich.46 So kann Jesus mit seiner Umwelt nur radikal brechen, um die Reinheit göttlichen Lebens zu bewahren, jedoch um den Preis, von dem »feindlichen Genius des Volks erdrückt zu werden«. Dieses sein Schicksal wird am Schlusse vom ›Geist des Christentums‹ entfaltet. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt; allein es ist für dasselbe eine große Verschiedenheit, ob ihm diese Welt als entgegengesetzt vorhanden ist, oder nicht existiert, nur möglich ist. Da jenes der Fall war, und Jesus mit Bewußtsein vom Staate litt, so ist mit diesem Verhältnis zum Staate schon eine große Seite lebendiger Vereinigung, für die Mitglieder des Reiches Gottes ein wichtiges Band abgeschnitten, ein Teil der Freiheit, des negativen Charakters eines Bundes der Schönheit, eine Menge tätiger Verhältnisse, lebendiger Beziehungen verloren; die Bürger des Reiches Gottes werden einem feindseligen Staate entgegengesetzte, von ihm sich ausschließende Privatpersonen.47
Jesus und seine Jünger, gekommen, um das Volk aus den erstarrten Formen zu erlösen und zu lebendiger Einheit zusammenzuschließen, fallen zurück auf den Status von Privatpersonen, nachdem ihnen das jüdische Volk zunächst mit Unverständnis, dann mit Haß begegnet. Die absolute Negation zwingt ihnen eine Rolle auf, die sie gerade überwinden wollten. »Was an Menge der Beziehungen, an Mannigfaltigkeit froher und schöner Bande ›verloren geht‹, ersetzt sich durch Gewinn an isolierter Individualität, und dem engherzigen Bewußtsein von Eigentümlichkeiten.« Gewiß muß aus der Perspektive des Reiches Gottes der irdische Staat als etwas minderwertiges erscheinen, aber wenn er vorhanden war, und Jesus oder die Gemeine ihn nicht aufheben konnte, so bleibt das Schicksal Jesu und seiner ihm hierin treu bleibenden Gemeine, ein Verlust an Freiheit, eine Beschränkung des Lebens, eine Passivität in der Beherrschung durch eine fremde Macht, die man verachtet, die aber doch das Wenige, was Jesus von ihr brauchte, Existenz unter seinem Volke, ihm unvermischt überließ.48
Im Reich Gottes soll rückhaltlose Liebe sein. Sie ließ sich, wenn überhaupt in einem Staat, gewiß nicht im jüdischen praktizieren. Folglich »konnte Jesus das Reich Gottes nur im Herzen tragen« bzw. unter einer kleinen Gemeinde ins Leben rufen, »aber in seiner wirklichen Welt mußte er alle lebendigen Beziehungen fliehen, weil alle unter dem Gesetze des Todes lagen«. Sein Schicksal bestand darin, vom Schicksal seiner Nation zu leiden, entweder es zu dem seinigen zu machen und ihre Notwendigkeit zu tragen, und ihren Genuß zu teilen, und seinen Geist mit dem ihrigen zu vereinigen, – aber seine Schönheit, seinen Zusammenhang mit dem Göttlichen aufzuop-
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Ebd., S. 273 f. Ebd., S. 317 und S. 327. Ebd., S. 327 f.
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fern, oder das Schicksal seines Volkes von sich zu stoßen, sein Leben aber unentwickelt und ungenossen in sich zu erhalten [...]. Jesus wählte das letztere Schicksal, die Trennung seiner Natur und der Welt; und verlangte dasselbe an seine Freunde [...].49
Ungeschlichtete Antinomien Hegel hat im ›Frankfurter Systemfragment‹ betont, daß es unglückliche Zeiten gibt, in denen sich unverfälschtes Leben nur in der Trennung vom Schicksal eines Volkes bewahren läßt. Aber er hat doch nie einen Zweifel über den Preis einer solchen Reinhaltung gelassen, und nur darum geht es hier. »Trennung von der Welt, und Flucht von ihr in den Himmel«, die »Wiederherstellung des leerausgehenden Lebens in der Idealität«, begibt sich der Möglichkeit, auf das Bestehende einzuwirken. Wird aber der Kampf um das Gute aufgenommen, so ist er um so furchtbarer, insofern er im Namen eines absoluten Prinzips geführt wird, das sich notwendig mit seinem Gegenteil befleckt, und darum um so grausamer wütet. Rückzug wie Kampf bleiben mit den Stigmata des Bestehenden behaftet. [...] der Kampf des Reinen mit dem Unreinen ist ein erhabner Anblick, der sich aber bald in einen gräßlichen verwandelt, wenn das Heilige selbst vom Unheiligen gelitten, und eine Amalgamation beider mit der Anmaßung, rein zu sein, gegen das Schicksal wütet, indem es selbst noch unter ihm gefangen liegt.50
Das Reich der Liebe gerät unter die Herrschaft des Schwertes. Nur in der Gemeinde scheint es sich rein zu realisieren. Aber auch diese lebt in der Angst vor einer Berührung mit der Welt. Zwar ist sie das Gegenteil der jüdischen Gemeinde, doch kommt es zu keiner Vermittlung der Extreme in der Schönheit, d.h. zu einer lebendigen Wechselwirkung zwischen Glauben und Welt. Die Gestaltung eines Staates aus dem Geist der Freiheit wie in der Antike, die Durchdringung von Subjektivem und Objektivem, ist ihr versagt – und sie bleibt auch der christlichen Kirche versagt. Statt dessen wird mit dem Absoluten zugleich das Fundament für einen Fanatismus gelegt, der im Namen des Reinen noch die schönsten Beziehungen verletzt. Schwärmer [...] haben das Verschmähen aller Formen des Lebens, weil sie verunreinigt sind, zu einer unbedingten leeren Gestaltlosigkeit gemacht, und jedem Triebe der Natur, bloß weil er eine äußere Form sucht, den Krieg angekündigt, und um so schrecklicher war die Wirkung dieser versuchten Selbstmorde, dieses Festhaltens an der leeren Einheit, je fester noch in den Gemütern die Fessel der Mannigfaltigkeit war; denn indem nur das Bewußtsein beschränkter Formen in ihnen war, so blieb ihnen nichts übrig, als eine durch Greueltaten und Verwüstungen bewerkstelligte Flucht ins Leere.51
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Ebd., S. 328 f. Ebd., S. 329. Ebd., S. 331.
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Ein vollendetes Integrationsverhältnis liegt nur vor, wo dem Bedürfnis »das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen«, Genüge getan ist; dafür »muß der unsichtbare Geist mit Sichtbarem vereinigt sein«.52 Es ist Hegels letztes Wort in den Jugendschriften, daß die jüdische und christliche Religion diese Synthese, wie er sie an der antiken Polis erfahren hatte, nicht zustande bringen konnte. Es ist gegen ihren wesentlichen Charakter, in einer unpersönlichen lebendigen Schönheit Ruhe zu finden; und es ist ihr Schicksal, daß Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in Eins zusammenschmelzen können.53
Das ›Frankfurter Systemfragment‹, das nach dem ›Geist des Christentums‹ geschrieben und im September des Jahres 1800 abgeschlossen wurde, resümiert die zuvor in der Religionsstudie am Schicksal Jesu entfaltete Dialektik in systematischer Form und gelangt in der begrifflichen Fassung zu einem gewissen Abschluß. Der Begriff der Individualität schließt Entgegensetzung gegen unendliche Mannigfaltigkeit, und Verbindung mit demselben in sich; ein Mensch ist ein individuelles Leben, insofern er ein anderes ist, als alle Elemente, und als die Unendlichkeit der individuellen Leben außer ihm, er ist nur ein individuelles Leben, insofern er eins ist mit allen Elementen, aller Unendlichkeit der Leben außer ihm; – er ist nur, insofern das All des Lebens geteilt ist, er der eine Teil, alles übrige der andere Teil, er ist nur, insofern er kein Teil ist, und nichts von ihm abgesondert.54
In Übereinstimmung mit dem ›Geist des Christentums‹ hält Hegel am Begriff des Lebens als einer die Individualität übergreifenden Struktur fest. Deren Gliederung wird nun allerdings streng dialektisch gefaßt, wenn es heißt: »ich müßte mich ausdrücken, das Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung«.55 Hier ist der Ansatz der religionshistorischen Schriften, die Zerrissenheit der Individuen untereinander in der Liebe, im Leben zu überwinden, auf eine prägnante, fortan nicht mehr preisgegebene Formel gebracht. Die Trennung des Besonderen vom Allgemeinen wie auch die Einheit beider werden in ihr als gleich wichtige Momente festgehalten. Damit ist die Preisgabe des Individuums an ein Objektives, das dieses überwältigte, ebenso ausgeschlossen wie der Rückzug in die Innerlichkeit der Subjektivität. Avisiert ist nicht die Negation des jeweils Entgegengesetzten, sondern deren Vermittlung. Die Grenze der Frankfurter Untersuchungen ist jedoch durch die Verwendung der Kategorie des Lebens vorgezeichnet. In ihr kommt die Opposition von Subjektivität und Gesellschaft, wie sie Hegel in den konkreten historischen Studien so eindringlich herausgearbeitet hatte, nicht in gleicher Weise zur Geltung. Die Kategorie ›ungeteilten Lebens‹ intendiert eine Homogenität, die die Entgegensetzung von ––––––––– 52 53 54 55
Ebd., S. 332 f. Ebd., S. 342. Ebd., S. 346. Ebd., S. 348.
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Subjektivität und objektiven sittlichen Mächten nicht voll erfaßt und deshalb immer nur interpoliert werden kann. Georg Lukács hat gezeigt, wie Hegel in der Frankfurter Zeit immer wieder dazu neigt, die von ihm in aller Schärfe herausgestellte Entzweiung gleichsam zu überspringen und vorschnell in Einheitsgestalten zu überführen.56 Schon im ›Geist des Christentums‹ sucht er die subjektive Einheit – wie sie sich in der Liebe realisiert – und deren Entgegensetzung – wie sie sich in jeder Reflexion wiederherstellt – in der Religion als der Einheit beider zu vermitteln. Aber diese Einheit ist nur erreichbar, insofern auch das dem Subjekt Entgegengesetzte reines Leben, reiner Geist ist. Weil das Göttliche reines Leben ist, so muß notwendig, wenn von ihm, und was von ihm gesprochen wird, nichts Entgegengesetztes in sich enthalten; und alle Ausdrücke der Reflexion über Verhältnisse des Objektiven oder über Tätigkeit wegen objektiver Behandlung desselben ›müssen‹ vermieden werden; denn die Wirkung des Göttlichen ist nur eine Vereinigung der Geister; nur der Geist faßt und schließt den Geist in sich ein [...].57
Im ›Frankfurter Systemfragment‹ sucht Hegel die im Leben enthaltene Einheit der Gegensätze, die Fixierung des Individuums gegenüber dem Ganzen und seine gleichzeitige Einheit mit ihm, zu überführen in ein alllebendiges, allkräftiges, unendliches Leben, und nennt es Gott [...]. Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen, im Gegensatz ›zu‹ der abstrakten Vielheit, denn Geist ist die lebendige Einigkeit des Mannigfaltigen [...]. Der Geist ist belebendes Gesetz in Vereinigung mit dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist.58
Hier wird eine absolute Form des Geistes antizipiert, in der die widerspenstige Objektivität als per Reflexion gesetzte auch wieder aufgehoben werden kann. Gerade darin wird Hegel aber der Macht des Wirklichen, wie er es im Judentum und der bürgerlichen Gesellschaft seiner Gegenwart vor Augen hatte, nicht gerecht. Die hier vorweggenommene Einheit kann ihre überzeugende Kraft nur aus der restlosen Durchdringung der objektiven Mächte, nicht aus ihrer Eskamotierung bzw. aus übereilter Vergeistigung beziehen. Diese in den Jugendschriften vorgezeichnete Aufgabe zu lösen, bestimmt die Jenenser Epoche Hegels.
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Lukács: Der junge Hegel (Anm. 61), S. 239 ff. und S. 274 ff. Hegel: Theologische Jugendschriften (Anm. 62), S. 303–305. Ebd., S. 347.
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2.3 Der junge Hegel als politischer Schriftsteller und die Rolle der Philosophie Wege ins Leben Im November 1802 oder etwas später arbeitet Hegel in Jena seine Schrift über die Verfassung Deutschlands aus, die unpubliziert bleibt.1 Die Vorarbeiten dafür fallen noch in die Frankfurter Zeit und sind fragmentarisch erhalten. Sie sind an dieser Stelle ebenso wie das Fragment ›Über die neuesten innern Verhältnisse Württembergs, besonders über die Gebrechen der Magistratsverfassung‹ von 1798 heranzuziehen, weil in ihnen die Thematik der religionshistorischen Studien wiederkehrt, nun aber bezogen auf aktuelle politische Fragen.2 Damit bestätigt sich, daß die im Medium historischer Stoffe entfaltete Problematik aus gegenwärtigen sozialphilosophischen Fragen hervorgegangen und als Beitrag zu ihrer Lösung konzipiert ist. Wieder geht es Hegel um die Entzweiung in der Sphäre des objektiven Geistes und um die Stellung der mit der Sittlichkeit eines Volkes in Widerspruch geratenen Subjektivität. Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang in einer mitten im Text abbrechenden ›Einleitung zur Verfassungsschrift‹ (1799/1800).3 ––––––––– 1
2
3
Zur Datierung vgl. außer der in Anm. 76 zitierten Studie von Gisela Schüler auch Heinz Kimmerle: Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften.- In: Hegel-Studien 4 (1967), S. 125–176, sowie die geringfügig verbesserte Verzeichnung der Jenenser Schriften in Heinz Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ›System der Philosophie‹ in den Jahren 1800–1804.- Bonn: Bouvier 1970 (= Hegel-Studien. Beiheft; 8), S. 314– 323. Zum Kontext ders.: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801–1807).- In: Hegel-Studien 4 (1967), S. 21–99. Zu den politischen Schriften wurden neben den bereits zitierten Werken herangezogen: Manfred Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels. Interpretationen zu den Grundstellungen der neuzeitlichen Subjektivität.- Stuttgart [etc.]: Kohlhammer 1965 (= Ullstein-Taschenbuch; 3238); Rolf K. Hoþevar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel. Ein Beitrag zu seiner Staats- und Gesellschaftslehre sowie zur Theorie der Repräsentation.München: Beck 1968 (= Münchener Studien zur Politik; 8); George Armstrong Kelly: Idealism, politics and history. Sources of Hegelian thought.- Cambridge: Cambridge University Press 1969 (= Cambridge studies in history and theory of politics), mit einem großen Abschnitt auch über Kant, S. 75–178; Joachim Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. Die politischen Schriften Hegels wurden nach dem Vorgang Nohls für die theologischen Schriften (Anm. 62) zusammenhängend in der Ausgabe Lassons ediert: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Band VII: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. von Georg Lasson.- Leipzig: Meiner 1913 (= Philosophische Bibliothek; 144). Eine zweite, geringfügig veränderte Auflage erschien 1923. In der DDR wurden die Texte leicht zugänglich durch die – mit einer großen Einleitung versehene – Ausgabe von Gerd Irrlitz: Politische Schriften. Hrsg. und eingeleitet von Gerd Irrlitz.- Berlin: Akademie-Verlag 1970 (= Philosophische Studientexte). Dieser gab in gleich gediegener Ausstattung auch heraus: Jenaer Schriften. Hrsg. und eingeleitet von Gerd Irrlitz.- Berlin: Akademie-Verlag 1972 (= Philosophische Studientexte). Im folgenden wird – sofern nicht anders angegeben – nach der mit einem wichtigen Nachwort von Jürgen Habermas versehenen Ausgabe des Suhr-
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Der Stand des Menschen, den die Zeit in eine innere Welt vertrieben hat, kann entweder, wenn er sich in dieser erhalten will, nur ein immerwährender Tod, oder wenn die Natur ihn zum Leben treibt, nur ein Bestreben sein, das Negative der bestehenden Welt aufzuheben, um sich in ihr finden und genießen, um leben zu können.4
Den ersten Weg ging Jesus. Im unbedingten Rückzug auf eine integre innere Welt negierte er alle Bindungen an die vorgegebenen Sitten seines Volkes. Sein Leben war »ein immerwährender Tod«, begleitet von jenem Leiden, wie es dem widerfährt, der – im »Bewußtsein der Schranken« des schlechten Bestehenden – »das Leben, so wie es ihm erlaubt wäre, verschmäht«.5 Nachdem Hegel in den theologischen Studien die Dialektik dieses Weges aufgewiesen hatte, suchte er nun in den Vorstudien zur Verfassungsschrift die Möglichkeiten eines ins »Leben« führenden Weges zu erkunden, ohne die in sich entzweite Gegenwart dabei zu überspringen, ohne aber auch dem Schlechten sich einfach anzupassen. Vielmehr thematisiert er an dieser Stelle in nicht wieder erreichter Weise Bedingungen und Möglichkeiten kritischer, d.h. auf Veränderung abzielender politischer Praxis.6
Philosophie als kritische Macht Für den jungen Hegel bis an die Schwelle der Jenenser Zeit steht es außer Zweifel, daß Philosophie einen Beitrag dazu zu leisten habe, daß »das Negative der bestehenden Welt« aufgehoben wird, statt willenlos und passiv das Negative gelten zu lassen und dessen Schranken »in der Form ihres rechtlichen und machthabenden Daseins als unbezwinglich, und seine Bestimmtheiten und ihre Widersprüche als absolut« hinzunehmen. In der Erkenntnis der Beschränktheit erstarrten Lebens weiß kritische Philosophie sich einig mit der in die Innerlichkeit emigrierenden Subjektivität und in gemeinsamer Opposition zur bewußtlosen, unkritischen Hingabe an die Positivität. Indem sie jedoch im Vorgriff auf die Marxsche Theorie Philosophie eine Anweisung auf verändernde Praxis erteilt, sprengt sie die Sphäre unversehrter Innerlichkeit, um das Innere im Äußeren »als ein Lebendiges« zu realisieren. Und vorausweisend auf Marx durchschaut schon der junge Hegel die Illusion, als bedürfe es nur der Erkenntnis des Negativen und des guten Willens zu seiner Überwindung, um die Macht des Objektiven alsbald brechen zu können. Vielmehr muß »das bestehende Leben seine Macht und alle seine Würde verloren« ––––––––– 4 5 6
kamp-Verlags zitiert: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Politische Schriften. Nachwort von Jürgen Habermas.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1966 (= Theorie; 1). Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 16. Ebd. Vgl. zum folgenden das glänzende Nachwort von Jürgen Habermas zur zitierten Ausgabe der Politischen Schriften (Anm. 121), sowie Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 39–47. Vgl. außerdem die entsprechenden Abschnitte bei Lukács: Der junge Hegel (Anm. 61), S. 179 ff. und S. 377 ff., sowie Marcuse: Vernunft und Revolution (Anm. 61), S. 54 ff.
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haben, es muß »reines Negatives geworden« und als Negatives im Bewußtsein des Volkes verwurzelt sein, damit eingreifende Praxis Aussicht auf Erfolg hat. Politische Theorie nimmt das bewußtlose Leiden der Vielen in der Diskrepanz zwischen der Sehnsucht nach dem Neuen, der Hoffnung auf das Bessere, und dem unterdrückten Leben der Gegenwart auf und artikuliert es unter den Kategorien der Positivität und der daherrührenden Entzweiung des Lebens. So weiß Philosophie sich im Einklang mit den geheimen Wünschen des Volkes, beide »enthalten das Streben gegenseitiger Annäherung«.7 Näher konkretisiert sich die Funktion der Philosophie dahingehend, ein nur noch prätendiertes Allgemeines als in Wahrheit Besonderes zu enthüllen. Das Leben der Gegenwart, wie Hegel es in Übereinstimmung mit den Jugendschriften charakterisiert, ist beschränkt auf den kleinbürgerlichen Genuß des eigenen Besitzes, auf Herrschaft über Eigentum. Ein solches Leben innerhalb eines engen Horizontes, ohne Perspektive auf die Zukunft geht Hand in Hand mit einer Flucht aus solch unwürdigem Dasein in die Religion, die hier noch einmal als Ersatzbefriedigung für die Wünsche figuriert, die die bürgerliche Gesellschaft nicht zu befriedigen weiß, weil sie in ihrem »dürren Verstandesleben« ihre Mitglieder einzig dazu verhält, »Eigentum, Sachen, zum Absoluten zu machen« und damit Leiden und Gewissensnot unter ihnen hervorruft. Gleichwohl erhebt diese Wirklichkeit in ihrer auf eine beschränkte Besonderheit reduzierten Gestalt den Anspruch, ein Allgemeines zu repräsentieren und das Volk auf gemeinsame Ideale des Staates zu verpflichten. Diesen nur vindizierten Anspruch entreißt politische Philosophie den Herrschenden und spricht die Würde des Allgemeinen den im Schoß des Alten sich regenden neuen Leben zu. Statt partikulare Gewalt gegen partikulare Gewalt zu setzen – »die Schranke wird durch Gewalt nicht vom Leben getrennt« –, schürt sie den Widerstand der Leidenden durch Aufklärung. Deren Widerstand regte sich um so schüchterner, je weniger der ideologische Charakter des nur vorgegebenen Allgemeinen durchschaut wurde. Indem kritische Theorie das Alte als ein Totes entlarvt und sich zum Anwalt des Lebendigen macht, dem die Würde des Allgemeinen zukommt, tritt sie in das Bündnis mit den Unterdrückten ein, wird darin zu einem Machtfaktor und zugleich zu einer Gefahr für das »beschränkte Leben«. Das Beschränkte kann durch seine eigne Wahrheit, die in ihm liegt, angegriffen und mit dieser in Widerspruch gebracht werden; es gründet seine Herrschaft nicht auf Gewalt Besonderer gegen Besondere, sondern auf Allgemeinheit; diese Wahrheit, das Recht, das es sich vindiziert, muß ihm genommen, und demjenigen Teile des Lebens, das gefordert wird, gegeben werden.8
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Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 16 f. Ebd., S. 17 f. Vgl. auch ebd., S. 75, wo Hegel die Religion nochmals als Ersatzhandlung speziell in Bezug auf die Situation des Bürgertums in Deutschland charakterisiert: »Im Verlauf der Zeit hatten sich große Massen von Staaten und die Herrschaft des Handels und Gewerbereichtums gebildet; denn die Unbändigkeit des deutschen Charakters konnte nicht unmittelbar die Bildung selbständiger Staaten betreiben, die alte freie Kraft des Adels sich den entstandenen Massen nicht widersetzen; vorzüglich bedurfte der Ansehen und politi-
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Wankendes Gebäude der deutschen Staatsverfassung Ein ›Erster Entwurf zur Verfassungsschrift‹ aus dem Anfang des Jahres 1799 verdeutlicht genetisch dieses Mißverhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem gerade in Deutschland. Das Gebäude der deutschen Staatsverfassung ist das Werk von vergangenen Jahrhunderten; es wird nicht vom Leben der jetzigen Zeit getragen; das ganze Schicksal mehr als eines Jahrtausends ist seinen Formen eingeprägt und die Gerechtigkeit und Gewalt, Tapferkeit und Feigheit, die Ehre, das Blut, die Not und das Wohlsein längst verflossener Zeiten, längst verwester Geschlechter wohnt in ihnen; das Leben und die Kräfte, deren Entwicklung und Tätigkeit der Stolz der jetzigen lebendigen Generation sind, haben keinen Anteil an ihnen, kein Interesse für dasselbe und keine Nahrung von ihnen; das Gebäude mit seinen Pfeilern, seinen Schnörkeln steht isoliert vom Geiste der Zeit in der Welt.9
Darin erfüllt die Verfassung des deutschen Reiches alle die Bedingungen, die das Wesen der Positivität ausmachen. Sie vermag den Bedürfnissen der Gegenwart nicht länger zu genügen, sondern ist im Gegenteil zu einer Fessel für diese geworden. Die Ursachen dafür sieht Hegel tief im Partikularismus der deutschen Geschichte angelegt. Das deutsche Staatsrecht ist seinem Wesen nach Privatrecht. Es sanktioniert im Grunde nur Besitz und Rechte der Partikulargewalten, anstatt das Leben der Nation mit einheitlichen Vernunftsprinzipien zu durchdringen. Das Gesetz bildet nur die bestehenden Verhältnisse ab, statt neue zu schaffen. Damit kommt es in Deutschland zu einem Übergewicht der Partikulargewalten gegenüber der Staatsgewalt, die als einheitsstiftende Macht sich nicht durchzusetzen vermag. Und da die auf Privateigentum gegründete bürgerliche Gesellschaft nur eine formelle Allgemeinheit hervorbringen kann – nämlich die formelle Anerkennung gleicher Rechtssubjekte –, darüber hinaus aber »ein Isoliertes, Beziehungsloses bleibt«, hat sich in Deutschland ein auf das Allgemeine, auf den Staat gerichtetes Interesse nicht durchsetzen können. Ein jeder sucht »das Seinige so viel als möglich der Gewalt Aller zu entziehen«.10 Die Rede vom Allgemeinen bleibt eine Phrase, in Wahrheit regieren nur Sonderinteressen.
Philosophie der Reform: ›Discite justiciam moniti‹ Erreicht der junge Hegel sowohl in der Ableitung der Religion aus der bürgerlichen Gesellschaft wie auch in der Vermittlung von Theorie und Praxis die größte Nähe zu Marx, so zeigt insbesondere die Schrift ›Über die neuesten innern Verhältnisse Württembergs‹ (1798) zugleich auch die Differenz in der Funkti–––––––––
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sche Bedeutsamkeit gewinnende Bürgergeist eine Art von innerer und äußerer Legitimitation. Der deutsche Charakter warf sich auf das Innerste des Menschen, Religion und Gewissen, befestigte von hier aus die Vereinzelung, und die Trennung des Äußern als Staaten erschien nur als eine Folge hievon.« Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 19 f. Ebd., S. 21.
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onsbestimmung der Philosophie. Indem politische Theorie wie bei Marx das im Schoße des Alten sich formierende Neue auf den Begriff bringt und Partei dafür ergreift, verhindert sie für Hegel gerade die Entwicklung revolutionärer Prozesse, statt sie wie bei Marx zu befördern. Hegels politische Philosophie ist auch in ihrer radikalsten Gestalt, der seiner Jugend, nicht Theorie der Revolution, sondern der Reform. Wie blind sind diejenigen, die glauben mögen, daß Einrichtungen, Verfassungen, Gesetze, die mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist, länger bestehen, daß Formen an denen Verstand und Empfindung kein Interesse mehr nimmt, mächtig genug seien, länger das Band eines Volkes auszumachen!11
Philosophie sucht dieser Blindheit zu begegnen. Schon in seiner ersten politischen Schrift, der Einleitung und dem Kommentar zu Carts Vertraulichen Briefen über das vormalige Staatsrechtliche Verhältnis des Wadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern aus dem Jahr 1798, hatte Hegel die von Cart aufgedeckten Machenschaften der Berner Aristokratie, die »laut über die Erde« schreien unter das Motto gestellt: »Discite justiciam moniti, die Tauben aber wird ihr Schicksal schwer ergreifen.«12 Philosophie durchbricht den Ring des Schicksals, indem sie die in sich entzweite Wirklichkeit auf den Begriff bringt und damit dem Handeln die nötige Orientierung verschafft. Sie formuliert nur, was als mächtige Bewegung, nämlich als »eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reinern, freiern Zustande«, als ein »Drang, die dürftigen Schranken zu durchbrechen«, in der Wirklichkeit selbst angelegt ist.13 Philosophie wird von Hegel die Aufgabe zugewiesen, diesen mächtigen Prozeß in der Wirklichkeit so zu kanalisieren, daß er sich nicht in einer unkontrollierten Eruption entlädt. Gerecht werden kann sie dieser Aufgabe nur, wenn sie sich als Kritik des Bestehenden begreift und sich mutig zum Fürsprecher des nicht länger zu Unterdrückenden macht. Statt ängstlich am Alten zu kleben und dem Zufall anheim zu geben, wie das Neue sich seine Bahn bricht, obliegt der Kritik, für die Veränderung einzutreten durch Aufdeckung dessen, was zu dem Unhaltbaren gehört[?] Gerechtigkeit ist in dieser Beurteilung der einzige Maßstab; der Mut, Gerechtigkeit zu üben, die einzige Macht, die das Wankende mit Ehre und Ruhe vollends wegschaffen und einen gesicherten Zustand hervorbringen kann.14
Auf diese Weise arbeitet Kritik der Reform vor, indem sie den Herrschenden den rechtzeitigen Eingriff nahelegt und durch Scheidung des Wahren vom Falschen erleichtert. Wird solche Reform versäumt und erwartet man statt dessen »getrost und blind den Zusammensturz des alten, überall angebrochnen, in seinen Wurzeln angegriffnen Gebäudes,« so wird sich das unterdrückte Leben in einem »viel fürchterlichern Ausbruch« seinen Weg bahnen, »in welchem dem Bedürfnisse der Verbesserung sich die Rache beigesellt, und die immer ge––––––––– 11 12 13 14
Ebd., S. 12. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12 [Ergänzung in der Vorlage].
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täuschte, unterdrückte Menge an der Unredlichkeit auch Strafe nimmt.«15 Diese zweifellos aus der Französischen Revolution erwachsene Erfahrung reflektiert sich in der politischen Theorie des jungen Hegel in dem Versuch, Philosophie auf die rechtzeitige Vorbereitung von Reformen im Staate zu verpflichten. Ihre Erfüllung findet sie in einer Praxis, die sie selbst vorbereiten half.
Philosophische Geburt des welthistorischen Individuums Thematisch in der Mitte zwischen diesem Konzept politischer Theorie und der Reinschrift der Verfassungsschrift liegt dann ein Dokument, das in Hegels frühe Jenaer Dozententätigkeit gehört und vermutlich einem Jenenser Kolleg über Logik und Metaphysik zuzuordnen ist, wie Hegel es im Winter 1801/02 und 1802/03 gehalten hat.16 Hier taucht erstmals die Konzeption des großen Mannes, des späteren welthistorischen Individuums als Motor des Geschichtsprozesses auf. In eins damit geht die Kategorie des Volkes bezeichnenderweise verloren. Das Bündnis zwischen der leidenden und hoffnungsvollen Menge einerseits und der Philosophie andererseits wird ersetzt durch das zwischen dem ›großen Mann‹ und der Philosophie. Dieser bedarf ihrer, um Klarheit zu gewinnen über die Natur der entzweiten Wirklichkeit. Die Stunde der Philosophie schlägt »in den Epochen des Uebergangs [...], in denen die alte sittliche Form der Völker von einer neuen völlig überwunden wird«. Sie hebt »die noch schlummernde Gestalt einer neuen sittlichen Welt zum Erwachen empor« im Bewußtsein des Helden und setzt ihn damit instand, dem Kampf mit den untergehenden alten Mächten erfolgreich zu führen.17 Statt daß die Masse sich ihres Schicksals bewußt und damit zu einer die Fessel sprengenden Kraft wird, ist der Umschwung jetzt dem Heroen vorbehalten, der vollbringt, was an der Zeit ist – und das vermöge der durch Philosophie vermittelten Erkenntnis der Totalität der Gegenwart als widersprüchlicher. In der Reinschrift der Verfassungsschrift ist dann auch dieser Konnex zwischen Philosophie und Praxis preisgegeben. Wird in Deutschland eines Tages ein einheitlicher Machtstaat entstehen wie in Frankreich schon vor 200 Jahren unter Richelieu, so wäre eine solche Begebenheit nie die Frucht der Überlegung gewesen, sondern der Gewalt [...]. Der gemeine Haufen des deutschen Volks nebst ihren Landständen, die von gar nichts anderm als von Trennung der deutschen Völkerschaften wissen, und denen die Vereinigung derselben etwas ganz Fremdes ist, müßte durch die Gewalt eines Eroberers in Eine Masse versammelt, sie müßten gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten.18
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Ebd., S. 12 f. Vgl. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 39. Auszüge aus dem verschollenen Manuskript bei Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Supplement zu Hegel’s Werken.- Berlin: Duncker & Humblot 1844. 3., unveränderter repografischer Nachdruck.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 189 ff. Rosenkranz: Hegel’s Leben (Anm. 134), S. 189. Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 138 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Revolutionäre Gewalt von unten, der Philosophie wehren sollte, wird jetzt dem welthistorischen Individuum zugestanden. Verschüttet ist die Perspektive, daß die auf Veränderung zielenden Kräfte bereits in der Wirklichkeit angelegt sind und nur bewußt aufgegriffen werden müssen. Die Umformung des schlechten Alten muß jetzt gegen den Widerstand des Volkes durchgesetzt werden, und das kann nur mit Gewalt geschehen. Zugrunde liegt die Erkenntnis, daß der Begriff und die Einsicht der Notwendigkeit viel zu schwach ist, um aufs Handeln selbst zu wirken; der Begriff und Einsicht führt etwas so Mißtrauisches gegen sich mit, daß er durch die Gewalt gerechtfertigt werden muß, dann unterwirft sich ihm der Mensch.19
Kommt darin die nicht preiszugebende und von Marx weiterentwickelte Überzeugung Hegels erneut zu Wort, daß ideelle Parolen allein die Wirklichkeit nicht zu verwandeln vermögen, solange ihnen nicht die Interessen des Volkes parallel gehen, so deutet sich hier eine Version an, die Geschichte als schicksalhaften Prozeß begreift, der sich mit blinder Gewalt über den Köpfen der Betroffenen vollzieht. Und damit verändert sich auch die Rolle der Philosophie grundlegend, wie die Reinschrift von 1802 ebenfalls zeigt.
Wechsel der Rolle von Philosophie Statt auf der Seite des Fortschritts zu stehen und dem Neuen zur Verwirklichung zu verhelfen, ist Philosophie als »Reflexion auf das Schicksal [...] zur Nachträglichkeit verurteilt, sie kann dessen objektive Gewalt nicht mehr brechen.«20 Sie greift nicht mehr lenkend in das Schicksal ein, sondern beschränkt sich darauf, es zu entziffern. Philosophie dankt vor der Gewalt des neuen ›Theseus‹ – hinter dem sich die Gestalt Napoleons verbergen dürfte – ab.21 Gleichwohl hält sie am Begriff des fortschrittlichen Prinzips – am modernen nationalen Machtstaat anstelle des zersplitterten Standesstaats – fest. Dessen Realisierung liegt jetzt ganz außerhalb des Vermögens der Philosophie; sie ist einzig der Macht des genialen Imperators überantwortet. Nur die großen Individuen sind zum Handeln berufen. Die »andern aber haben den Begebenheiten mit Verstand und Einsicht in ihre Notwendigkeit zu dienen« – und so auch Philosophie. Sie hat »das Verstehen dessen, was ist, und damit die ruhigere Ansicht sowie ein in der wirklichen Berührung und in Worten gemäßigtes Ertragen derselben zu befördern.« Diese Aufgabe ist gleichbedeutend mit dem Nachweis, daß die Wirklichkeit notwen––––––––– 19 20
21
Ebd., S. 139. Habermas im Nachwort zu Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 357. Vgl. aber auch S. 357 f. die zutreffende Einschränkung dieser Feststellung: »Hegel entsagt seiner Hoffnung, daß kritische Einsicht die Praxis einer klugen Reform vorbereiten und die Gewalt des Schicksals im Medium des aufgeklärten Mutes geschmeidiger machen kann. Aber immer noch soll die nackte Gewalt des Eroberers, des großmütigen Theseus, der den Partikularismus der Fürsten zunächst einmal niederzwingt, dann zu eben der Erneuerung ausholen, die einst der Reformbereitschaft der Herrschenden unverzüglich angesonnen wurde.« Vgl. Lukács: Der junge Hegel (Anm. 61), S. 382 und S. 387 ff., sowie Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 41 f.
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dig so ist, wie sie ist, und daß es unangemessen wäre, kritische Forderungen, Sollens-Postulate an sie zu richten. »Denn nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sondern daß es nicht ist, wie es sein soll; erkennen wir aber, daß es ist, wie es sein muß, d.h. nicht nach Willkür und Zufall, so erkennen wir auch, daß es so sein soll.«22 Dieser Feststellung gewinnt Hegel im vorliegenden Kontext eine kritische Wendung ab. Die Unfähigkeit, Tatsachen als das aufzufassen, was sie sind, die Hegel gerade den Deutschen bescheinigt, hindert diese an der Erkenntnis, daß Deutschland schon lange nicht mehr als Staat angesprochen werden kann. Indem sie die Fiktion eines deutschen Staates weiter aufrecht erhalten, verhindern sie gerade, was Hegel als Hoffnung vorschwebt, nämlich daß ein solcher in Zukunft überhaupt erst entsteht. Gleichwohl vermag diese Argumentation nicht davon abzulenken, daß sich in den zitierten Partien jene Kontamination von Sein und Sollen anbahnt, die auch Philosophie ihres kritischen Impetus beraubt und sie auf die Rekonstruktion eines immer schon Vernünftigen fixiert. Erweckt die zitierte Partie den Eindruck, als habe Philosophie primär dem Leiden entgegenzuwirken, das aus unangemessenen Forderungen an die Wirklichkeit herrührt, so entgeht solcher Deutung der spekulative Hintergrund, der sich deutlich in einem Satz aus der Vorrede der Verfassungsschrift bekundet. Bleibt das gewöhnliche Bewußtsein bei den einzelnen Begebenheiten stehen, so läßt sich das philosophische bei der Rekonstruktion historischer Prozesse von der Idee leiten, daß diese »ein System« darstellen, »das von einem Geist regiert wird«.23 In einer derartigen Formulierung ist zugleich der Abschluß der Jugendschriften und ein Neuanfang bezeichnet, wie er sich jetzt unter dem Einfluß Schellings in Jena herausbildet. Geht Philosophie von der Voraussetzung aus, daß die Wirklichkeit eine vom Geist hervorgebrachte ist, ändert sich ihre Funktion grundlegend. Statt Praxis per Kritik vorzubereiten, enthüllt sie das Gewordene als das Vernünftige, und der negative Anspruch weicht dem affirmativen. Kann Theorie nicht mehr direkt in die Praxis eingreifen, indem sie durch Antizipation des fortgeschrittenen Prinzips diesem zur Geltung verhilft, weil der dialektische Gedanke vor der Macht der faktischen Gewalten kapituliert, so deutet sie gleichwohl den ohne sie schicksalsgleich fortwährenden geschichtlichen Prozeß als einen insgeheim vernünftigen.
Erste System-Entwürfe: Philosophie als Überwindung von Entzweiung Diese radikale Wende in der politischen Philosophie Hegels fällt nicht zufällig in den Beginn der Jenenser Zeit. Die sich jetzt abzeichnenden Umrisse zur Ausbildung eines philosophischen Systems weisen in die gleiche Richtung. Das wäre in detaillierter Interpretation vor allem an Hand der Differenzschrift (1801) und dem Aufsatz ›Glauben und Wissen‹ (1802), an dem großen Naturrechtsauf–––––––––
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Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 25. Ebd.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
satz (1802/03) und dem Manuskript ›System der Sittlichkeit‹ (1803) sowie an den Systementwürfen von 1803/04 und 1805/06 und schließlich der Phänomenologie des Geistes (1807) zu zeigen. Allein die Exegese der Phänomenologie unter den Aspekten dieser Untersuchung würde eine eigene – und höchst lohnende – Untersuchung erfordern. Exakt wäre den Verschiebungen der Akzente in der Jenenser Zeit nachzugehen, wie sie für die Systemkonzeptionen zuletzt Heinz Kimmerle aufgezeigt hat. Das alles kann hier nicht geschehen. Und da mit knappen Zusammenfassungen gerade im Blick auf die Hegelsche Philosophie gar nichts auszurichten ist, soll an dieser Stelle nur noch der sich zu Ende der Frankfurter Zeit im ›Systemfragment‹ schon abzeichnende Neuansatz an Hand der Einleitung in die Schrift über die Differenz des Fichte’schen und des Schelling’schen Systems der Philosophie umrissen werden, in der die zukünftige Philosophie Hegels in nuce beschlossen liegt. ›Entzweiung‹ ist nach Hegels berühmt gewordenem Diktum dieser Einleitung »der Quell des Bedürfnisses der Philosophie«. Philosophie findet Entzweiung in der »Bildung des Zeitalters« als ihre »unfreye gegebene Seite« vor. Sie bleibt auch in Zukunft an die ihr von der jeweiligen Gegenwart vorgegebenen Probleme gebunden, von denen sie ihren Ausgangspunkt nimmt. Sie mag sich über diese erheben, vermag jedoch nicht von ihnen zu abstrahieren im Namen eines vorgeblich ›reinen‹ und ›zeitlosen‹ Denkens. »Das wahre Eigenthümliche einer Philosophie ist die interessante Individualität, in welcher die Vernunft aus dem Bauzeug eines besondern Zeitalters sich eine Gestalt organisirt hat«. Hegel mag hier auch die reale soziale und politische Entzweiung im Auge haben, von der in den Frankfurter politischen Schriften die Rede war. Im Vordergrund stehen jedoch diejenigen Gegensätze, die in der Geschichte der Philosophie »unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freyheit und Nothwendigkeit u.s.w. und in eingeschränktern Sphären noch in mancherlei Arten bedeutend waren« und »im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur, für den allgemeinen Begriff, von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität übergegangen« sind.24 Um die Überwindung dieser Gegensätze im Medium der Philosophie geht es Hegel primär in der Differenzschrift. Das hindert aber nicht, seinen Lösungsversuch auch auf das Problem der historischen Entzweiung zu beziehen, wie er selbst es in der Reinschrift der Verfassungsstudie angedeutet hat. Berechtigung dazu scheint vor allem der Passus der Einleitung zu geben, in dem das Bedürfnis nach Philosophie etwas exakter abgeleitet wird: Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie; es ist insofern eine Zufälligkeit;
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie.- In: ders.: Gesammelte Werke. Band IV: Jenaer kritische Schriften. Hrsg. von Hartmut Buchner, Otto Pöggeler.- Hamburg: Meiner 1968, S. 1–92, S. 12 f.
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aber unter der gegebenen Entzweiung der nothwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben, und das Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn als Produkte, als ein Produciren zu begreiffen; in der unendlichen Thätigkeit des Werdens und Producirens hat die Vernunft das, was getrennt war, vereinigt, und die absolute Entzweyung zu einer relativen heruntergesetzt, welche durch die ursprüngliche Identität bedingt.25
Zeitbezogener Kern von Philosophie Diese Partie bestätigt die Bezogenheit der Philosophie auf ihre Zeit als ihr eines wesentliches Moment. Wie das System im einzelnen sich ausgestaltet, das liegt nicht in der Macht reinen Denkens, sondern ist abhängig von der ›zufälligen‹ Situation, die Philosophie vorfindet. Ihre Stunde ist gekommen, wenn im Leben der Menschen keine Vereinigung der Gegensätze mehr zustande gebracht wird. Das deutet darauf hin, daß Hegel nicht nur eine Entzweiung in der Sphäre des Denkens, sondern zugleich auch in der Realität vor Augen hat. Diese Vermutung wird bestätigt durch die Bemerkung vom »Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt.« Hegel denkt an die Entzweiung in beiden Bereichen. So wird man auch in der »Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität« unter anderem den bereits aus den frühen politischen Schriften bekannten Gegensatz zwischen erstarrten positiven Institutionen und der subjektiven Sehnsucht der Menschen nach unentfremdetem Leben in unverbrauchten Lebensformen mithören dürfen. Entscheidend ist der im vorgelegten Zitat schon angedeutete und allerorts in der Einleitung bestätigte Versuch, den Hegel zur Lösung des Widerspruchs bereithält. Philosophie arbeitet der in der Gegenwart vorgefundenen Entzweiung entgegen, indem sie das Gewordensein und Werden der intellektuellen und reellen Welt begreift. Die Folgerung, die insbesondere von marxistischer Seite immer wieder aus diesem Satz gezogen wird, daß Hegel die Welt als eine gewordene und werdende vor allem deshalb begreift, um die Möglichkeit zu ihrer Veränderung hervorzuheben, geht an der spezifisch Hegelschen Argumentation vorbei. Sie ebnet Unterschiede zwischen der sich jetzt ausformenden systematischen Philosophie Hegels und der Marxschen Theorie ein, die gerade zu markieren wären, um einerseits die Grenze des idealistischen Ansatzes von Hegel klar bezeichnen und anderseits den Neuansatz von Marx deutlich hervorheben zu können.
Vernunft und Verstand Die Versöhnung des Entzweiten herzustellen, wird der Vernunft anheim gestellt – und zwar ihr allein; sie ereignet sich im Denken, nicht in der Praxis, von der Hegel hier nicht mehr spricht. Die Philosophie übernimmt damit die Funktion, ––––––––– 25
Ebd., S. 14.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
die Hegel selbst in der Frankfurter Zeit der Religion zugesprochen hatte und die in früherer Zeit Religion und Kunst innehatten, bevor ihnen ihr Recht vom aufgeklärten Verstand streitig gemacht wurde. Gerade letzterer ist jedoch nach Hegel nicht imstande, Entzweiung zu überwinden. Seine Tätigkeit besteht in Trennung, Abspaltung, Isolierung. Der einzige Konnex, den er zwischen den Dingen zustande bringt, ist kausaler Art. Doch ist in seinem Bestreben, ein lückenloses Netz von Bedingungen und Bedingtem zu knüpfen, insgeheim bereits eine Intention der Vernunft am Werk. Sie drängt den Verstand – ganz kantisch! – zur Totalität der Erkenntnis vorzudringen. Diese aber bleibt für den Verstand unerreichbar, weil sich hinter jedem Bestimmten erneut ein Unbestimmtes auftut; so liegt die Mannigfaltigkeit des bestimmten Seins »zwischen zwey Nächten, haltungslos, sie ruht auf dem Nichts, denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand«.26 Der Verstand verliert sich im unendlichen Regreß, und wo er diesem durch Statuierung eines entgegengesetzten Unendlichen Einhalt zu gebieten versucht, da verlegt er es in ein Jenseits und fixiert so Endliches und Unendliches als absolut Geschiedene. Ein Ausbruch aus dem Bann der Entzweiung ist dem Verstand nicht möglich, im Gegenteil, er verewigt sie. Aber »je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Theil befangen ist, aus ihm sich heraus in die Freyheit zu ziehen«. Vernunft macht sich zum Anwalt dieses Bestrebens, indem sie die vom Verstand nur reproduzierten Gegensätze überwindet; sie stellt sich damit auf die Seite des Lebens. Aber welcher Art ist diese Befreiung? In der Gesamtheit der Verstandeserkenntnisse ist »die ganze Totalität der Beschränkungen zu finden, nur das Absolute selbst nicht«.27 Um eben dieses geht es der Vernunft. Sie verflüssigt die im Leben vorliegenden und vom Verstand reproduzierten erstarrten Formen dadurch, daß sie sie aufeinander bezieht. Das Beschränkte und als solches Endliche wird seiner fixierten Isolierung enthoben, indem Denken es in Verbindung mit anderem Isolierten setzt. Diese Verbindung muß eine andere als kausale sein, wenn sie sich qualitativ von der vom Verstand herbeigeführten unterscheiden soll. Die Vernunft geht von der spekulativen Voraussetzung aus, daß die Entzweiungen in der reellen und ideellen Welt aus einer ursprünglichen Identität hervorgegangen und von ihr auch wieder auf diese zurückzuführen sind. Die Grundlagen dieses identitätsphilosophischen Ansatzes können hier nicht entwickelt, sondern nur die in dem vorgegebenen Zusammenhang daraus abzuleitenden Konsequenzen gezogen werden. Die gemeinsam mit Schelling in Jena vollzogene Wendung Hegels zum objektiven Idealismus gegenüber dem subjektivistisch-transzendentalphilosophischen Idealismus Kants und Fichtes, dessen Explikation die ersten kritischen Jenaer Schriften Hegels gewidmet sind, sowie die nun in den Mittelpunkt rückende Philosophie des Absoluten weisen indirekt auch der politischen Philosophie eine neue Funktion zu. Ihr Interesse verlagert ––––––––– 26 27
Ebd., S. 17. Ebd., S. 13.
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sich, wie das programmatische Vorwort zur Reinschrift der Verfassungsstudie andeutet, von der Aufdeckung der Entzweiung in der Wirklichkeit, der Scheidung in repressive und progressive Momente und der Parteinahme für letztere, zur Schlichtung der Gegensätze im Medium spekulativer Vernunft. Dieser obliegt es, nicht nur die Natur (wie bei Schelling), sondern auch die Geschichte als integrales Moment des Absoluten zu begreifen.
Spekulative Idee des Absoluten Diese Aufgabe kann nur als gelöst angesehen werden, sofern die Totalität des Seienden unter der spekulativen Idee des Absoluten erfaßt ist. Das Ganze des Seins als das Andere des Denkens muß als das in Raum und Zeit sich objektivierende Absolute eingesehen werden. Was hier spekulativer Vernunft zu leisten obliegt, ist dem reflektierenden Verstand immer nur durch Zerlegung in die zwei verschiedenen Momente zugänglich. Er muß, »was in der absoluten Identität Eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getrennt, in Zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweyung, ausdrükken.« Im Satz der Identität wird abstrahiert von aller Entgegensetzung; reflektiert wird nur auf das mit sich identische, unterschiedslose reine Denken. Die Vernunft postuliert daher auch das Setzen dessen, wovon im reinen Denken abstrahiert wurde, des Ungleichen, Nichtidentischen, des Nichtdenkens. Es kann ebenfalls nur als Gedachtes gesetzt werden, doch ist »diß Gesetztseyn des Nichtdenkens fürs Denken [...] dem Nichtdenken durchaus zufällig«.28 Absolutes Denken bzw. Vernunft unterscheiden sich vom reinen Denken dadurch, daß in sie die Totalität des Nichtidentischen, des Seins, eingegangen ist. Das Absolute ist nur dort gegeben, wo das Andere des Denkens nicht ausgeklammert bleibt, sondern »in der Vernunft synthetisirt [ist], deren Unendlichkeit das Endliche in sich faßt.«29 Das meint die Rede, daß Vernunft »die Entzweiung zwischen dem Absoluten und der Totalität der Beschränkungen« aufhebt. Diese Aufhebung würde gerade dadurch sabotiert, daß eine Einheit jenseits der »Entgegensetzung und Beschränkung« etabliert würde.30 Vielmehr muß Vernunft die Gegensätze einerseits festhalten – und zwar gleichermaßen den grundlegenden zwischen Denken und Sein, als auch die mannigfaltig durch die Geschichte vorgegebenen –, andererseits diese jedoch miteinander vermitteln durch Einsicht in die den Gegensätzen immanente Vernunft als des sie übergreifenden und einenden Mediums. Dieser bereits im ›Frankfurter Systemfragment‹ sich abzeichnende, in der Einleitung zur Differenzschrift klar formulierte Gedanke einer ›absoluten Synthese‹ als Synthese des Identischen und des Nichtidentischen sichert der Hegelschen Philosophie ihre einmalige Konkretion. Die Überschreitung der durch die –––––––––
28 29 30
Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 13.
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Transzendentalphilosophie vorgezeichneten Grenzen, die Auslegung der durch das vernünftige Subjekt konstituierten Erscheinung als ein objektiv Vernünftiges, nötigt die Philosophie zu einer extensiven Versenkung in die raum-zeitliche Welt und zu ihrer Rekonstruktion als eine vernünftige. Doch schon in der Differenzschrift zeichnet sich auch die Grenze dieses Ansatzes ab. Die Integration des Endlichen ins Unendliche, seine Dechiffrierung als ein Vernünftiges, geht von der Voraussetzung aus, daß das solcherart konstruierte Absolute als das Ziel, das gesucht wird [...] schon vorhanden [ist], wie könnte es sonst gesucht werden? die Vernunft producirt es nur, indem sie das Bewußtseyn von den Beschränkungen befreyt, dieß Aufheben der Beschränkungen ist bedingt durch die vorausgesetzte Unbeschränktheit.31
Darauf verweist auch die Rede von der »Selbstproduktion der Vernunft«, in der sich das »Absolute in eine objektive Totalität [gestaltet], die ein Ganzes, in sich selbst getragen und vollendet, ist, keinen Grund außer sich hat, sondern durch sich selbst in ihrem Anfang, Mittel und Ende begründet ist.«32
Philosophie des Absoluten und Abgeschlossenheit des Systems Deutlich dürfte sein, daß der empirischen Entzweiung, von der Philosophie ihren Ausgang nahm, ihre Schärfe genommen wird, indem Philosophie die auch in den Widersprüchen obwaltende Vernunft herausarbeitet. Insofern Philosophie die absolute Synthese aus Denken und Sein rekonstruiert und darin die Totalität des Seienden als Vernünftiges auslegt, ist sie auf die Form des Systems verwiesen. Das System – und damit zugleich die Form der Darstellung – ist der Philosophie des Absoluten nicht ein sekundäres, sondern ein notwendiges Moment. Zwar läßt sich das Wesen des Absoluten auch in abstrakten Grundsätzen wie dem obigen definieren. Leben gewinnt es jedoch einzig und allein in seiner Realisierung als ein konkretes Allgemeines. Diese vollzieht sich im System, indem den einzelnen isolierten Teilen ihre Entgegensetzung genommen, indem ihnen ihr Platz im Ganzen angewiesen wird und sie als Momente des Absoluten eingesehen werden. Nur im System ist das Einzelne mehr als ein beschränktes Endliches, nämlich Glied eines Unendlichen, das sich nicht jenseits seiner konstituiert, sondern allein durch es hindurch. Das Wahre im System ist eine objektive Totalität, ein Ganzes von Wissen, eine Organisation von Erkenntnissen; in dieser Organisation ist jeder Theil zugleich das Ganze, denn er besteht als Beziehung auf das Absolute; [...] isolirt als Beschränkung ist er mangelhaft, Sinn und Bedeutung hat er nur durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen.33
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Ebd., S. 15. Ebd., S. 30 f. Ebd., S. 19.
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Um dieses Ganze als absolute Synthese des Identischen und Nichtidentischen geht es Philosophie jetzt. »Wenn diese Rekonstruktion in sich schlüssig erfolgt ist, erfaßt sich darin das Absolute als Absolutes. Die Selbsterfassung des Absoluten schließt das System der Philosophie in sich ab.«34 Eine derartige Methode erscheint als »eine Entwiklung der Vernunft« selbst, die sich mit ihren Emanationen immer erneut zur Identität konstruiert, bis die Totalität des Endlichen als ein vernünftiges transparent geworden ist. Im Bilde des Kreises ist dieses Verfahren symbolisch bedeutet. Indem Philosophie das Vernünftige immer schon vorgegeben ist, kehrt sie am Ende, nachdem sie das Seiende als Vernünftiges eingesehen hat, in ihren vorausgesetzten Anfang zurück. Sie hat nichts ihr Fremdes mehr ihr gegenüber, sondern alles Seiende im System als Moment der einen ewigen Vernunft gezeigt.35 Nicht mehr deutlich erkennbar ist dabei der Rückbezug des solcherart abgeschlossenen und in sich vollendeten Systems zur geschichtlichen Entzweiung, von dem die Bildung des Systems ihren Ausgang nahm.36 Die realen Gegensätze sind im Denken weggearbeitet, indem der Philosoph den hinter der Entzweiung sich auftuenden Sinn enthüllt. Praktisch bewältigt sind sie damit nicht, und das vollendete System bietet keine Handhabe zur Rückkehr in die empirische Welt. Die Praxis ist den welthistorischen Individuen überantwortet und wird von der Philosophie erst im Anschluß als notwendige und sinnvolle Aktion nachgezeichnet. Philosophie, der Abgeschlossenheit und Vollendung auf Grund des identitätsphilosophischen Ansatzes vergönnt ist, vermag ihre praktische Funktion nicht mehr stringent aus sich selbst heraus zu entwickeln, sondern muß geschichtliche Wirksamkeit als eine außerhalb ihrer Macht liegende Qualität begreifen. Das über das Sein verfügende Denken verfügt nicht länger über seine praktischen Konsequenzen. Nur am Rande und noch nicht in dem Bewußtsein der vollen Problematik beschäftigt sich Hegel mit dem Verhältnis der Abgeschlossenheit des Systems und dem Fortgang der empirischen Geschichte. Den wesentlichen Unterschied zwischen den frühen Jenenser Entwürfen und der in den Systementwürfen von 1803/04 und 1804/05 sich erstmals ausprägenden Philosophie des Geistes wird man darin suchen dürfen, daß Hegel in der Differenzschrift anders als später in der Philosophie des Geistes die Objektivation des Absoluten noch nicht im Modus der Progression begreift. Die beiden maßgeblichen Absätze dafür in der Einleitung zeigen an, daß die Frage »Wann? und Wo? und in welcher Form? solche Selbstreproduktionen der Vernunft als Philosophieen auftreten [...] zufällig« ist. Diese Zufälligkeit muß daraus begriffen werden, daß das Absolute als eine objektive Totalität sich setzt; die Zufälligkeit ist eine Zufälligkeit in der Zeit, insofern die Objektivität des
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Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 267. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 31. Dies ist der Leitgedanke der mehrfach herangezogenen Untersuchung von Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119). Vgl. insbesondere S. 22 f., S. 32 f., S. 37 f., S. 48 f., S. 99 ff., S. 270 f., S. 285 ff. und S. 301 ff.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels Absoluten als ein Fortgehen in der Zeit angeschaut wird; insofern sie aber als Nebeneinander im Raum erscheint, ist die Entzweyung klimatisch [...].37
Ist Philosophie an die in der Gegenwart vorgefundene Entzweiung gebunden, so ist die von der Vernunft zustandegebrachte Versöhnung des Entzweiten insofern ein Zeitloses, als sich Vernunft auf jeder Stufe als die eine und immergleiche ansichtig wird. Die Einung des Dissoziierten in der Vernunft ist zu jeder Zeit qualitativ identisch. Das Absolute ist noch ganz ungeschichtlich gedacht, insofern seine Objektivation in der Zeit als etwas zufälliges behandelt wird.38 Das Absolute als Totalitätsstruktur ist prinzipiell jederzeit konstruierbar. Das ändert sich in der Philosophie des Geistes, insofern die Totalität der raum-zeitlichen Welt, Natur und Geschichte, unter der Perspektive der Rückkehr des Geistes zu sich selbst gedeutet wird. Der zeitliche Fortgang der Geschichte ist zugleich einer der immer größeren Konkretion des Geistes. Will Philosophie nicht auf den Abschluß des Systems verzichten, sondern am Absolutheits- qua Totalitätsanspruch festhalten, muß sie von der Voraussetzung ausgehen, daß in Geschichte und Gegenwart alle maßgeblichen Prinzipien entfaltet wurden, die es Philosophie gestatten, sie in ihrer Totalität zu rekonstruieren. Einen Fortschritt kann es nicht mehr auf der Ebene der Prinzipien, sondern nur noch auf der Ebene von deren empirischer Realisierung geben. Hegels Philosophie bezeichnet nicht einen vorläufigen sondern einen endgültigen Abschluß, insofern sie mit dem Anspruch auftritt, daß sich die maßgeblichen Prinzipien des Geistes in den fortgeschrittensten Ländern realisiert haben und in seiner Philosophie auf den Begriff gebracht wurden. Daß noch die abstrusesten Relikte der preußischen Verfassungswirklichkeit als vernünftige deklariert und mit den Weihen dialektischer Konsequenz versehen werden, resultiert aus dem Zwang zum Abschluß des Systems, wie er mit dem Postulat absoluter Erkenntnis gegeben ist. In beiden Fällen, der frühen Jenaer und der späteren Berliner Position, ist ein in den Jugendschriften – zumal den politischen Fragmenten der Frankfurter Zeit – sich abzeichnender Weg verlassen worden. Statt einer kritischen erhält Philosophie eine affirmative Funktion. In den politischen Schriften ging es nicht um ein Absolutes und dessen Repräsentation in einem System. Philosophie griff in die Zeit ein, indem sie die schlechten positiv gewordenen Formen des Lebens, die schicksalhaft auf den Menschen lasteten, als solche enthüllte und zu Bewußtsein brachte, um derart ihre rechtzeitige Beseitigung zu veranlassen und dem Neuen Raum zu schaffen. Dem Verzicht auf die Totalität der Erkenntnis korrespondierte die Offenheit gegenüber einer als unabgeschlossen gedachten geschichtlichen Wirklichkeit und vor allem der Verzicht, die Widersprüche im Leben als Momente eines ursprünglich Identischen einzusehen. ––––––––– 37
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Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 14. Vgl. dazu Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 37 f. und S. 101 ff.
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Die Ausrichtung auf den absoluten Indifferenzpunkt in der ersten Jenaer Zeit unter dem Einfluß Schellings und der Fortschritt zur Philosophie des Geistes seit den ersten Systementwürfen 1803/04 bringen demgegenüber eine gänzlich neue Optik auf die Geschichte und der in ihr sich ausformenden Entzweiungen ins Spiel. Der identitätsphilosophische Ausgang von der Subjekt/Objekt-Identität als einer nicht nur subjektiv produzierten, sondern objektiv vorgegebenen, enthüllt die Widersprüche als relative, indem er sie zunächst als Momente eines noch ungeschichtlichen Absoluten, später als Stationen des über den Widersprüchen der Geschichte zu sich selbst zurückkehrenden Geistes enthüllt. Das ist der spekulative Hintergrund des Satzes aus der Verfassungsschrift, daß Philosophie durch »das Verstehen dessen, was ist« das Seiende als ein Notwendiges auslegt, das auch so sein soll. Das Ganze, das im System erfaßt wird, ist seither das Wahre. Unter der Voraussetzung, daß alle »Endlichkeiten Radien des unendlichen Fokus [sind], der sie ausstrahlt, und zugleich von ihnen gebildet ist«, konzentriert sich das Interesse von Philosophie auf die Konstruktion dieses Fokus im Spektrum seiner endlichen Strahlen, statt auf eine Negation des schlechten Bestehenden und die Vorbereitung von Praxis.39 Die Forderung nach Kritik, nach Umgestaltung der Wirklichkeit, mußte in dem Moment wieder laut werden, in dem die Versöhnung im Hegelschen System als erpreßte erkannt war und sich die Wirklichkeit nicht als eine vernünftige, sondern als immer noch naturverhaftete erwies. So gewinnt Philosophie im Denken des jungen Marx jene kritische Funktion zurück, die ihr der junge Hegel schon einmal zugesprochen hatte.
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Hegel: Politische Schriften (Anm. 121), S. 25, und ders.: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 28.
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2.4 Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants Kontrovers-Philosophie So wie Hegel das Problem epochaler Entzweiung am Ende der Frankfurter und zu Beginn der Jenaer Zeit aus dem religionshistorischen Kontext löst und auf die zeitgenössische Reichs- und Länderverfassung anwendet, so entfaltet er nun auch das zunächst an der Gestalt Jesu demonstrierte Schicksal der absoluten Subjektivität in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie Kants und Fichtes. Schon in den religionshistorischen Studien waren die Bestimmungen der Positivität und der Ethik stets auch im Hinblick auf Kant erfolgt. Die Wendung von der zustimmenden Aufnahme der Kantischen Vernunftautonomie zur Kritik des moralphilosophischen Formalismus setzt sich in Jena fort. Doch wird sie jetzt hergeleitet aus den erkenntnistheoretischen Prämissen Kants und Fichtes. Diese Argumentation kann hier im einzelnen nicht nachverfolgt, geschweige ihrerseits einer Kritik unterzogen werden. Es geht um die Argumente, die Hegel gegen eine Theorie der reinen praktischen Subjektivität vorbringt, in der von jeglicher historischen Situierung des Subjekts abstrahiert und dessen Handeln auf eine als zeitlos gedachte Vernunft gegründet wird. Hegel hat in seiner Kritik der Kantischen, Jacobischen und Fichteschen Philosophie in dem Journal-Aufsatz ›Glauben und Wissen‹ von 1802 die Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants an »der durchgeführtern und consequentern Entwicklung« vorgenommen, die die praktische Philosophie im Werk Fichtes gefunden hatte.1 Dieser ist hier zusammen mit den entsprechenden Partien über Fichtes praktische Philosophie aus der Differenzschrift – soweit deren Argumente auch die praktische Philosophie Kants betreffen – zunächst heranzuziehen, bevor dann der Übergang zu dem etwas späteren Naturrechtsaufsatz (1802/03) und zum ›System der Sittlichkeit‹ (1803) getan werden kann.
Bildungsgeschichte der Moderne In der Einleitung zu ›Glauben und Wissen‹ hat Hegel die Bildungsgeschichte der Moderne in den Gegensatz zwischen nordisch-protestantischem und westeuropäisch-aufgeklärtem Prinzip gesetzt, die Philosophie Kants, Jacobis und Fichtes als die konsequente Weiterbildung beider Prinzipien begriffen und seine ei––––––––– 1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie.- In: ders.: Jenaer kritische Schriften (Anm. 142), S. 313–414, S. 338. Vgl. dazu vor allem die große Abhandlung von Günter Ralfs: ›Glauben und Wissen‹. Eine Interpretation von Hegels Journal-Aufsatz von 1802.- In: ders.: Lebensformen des Geistes. Vorträge und Abhandlungen. Hrsg. von Hermann Glockner.- Köln: Universitäts-Verlag 1964 (= Kantstudien. Ergänzungshefte; 86), S. 214–258.
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gene Philosophie als Überwindung der tiefsten Entzweiung der Moderne nicht allein deklariert, als vielmehr in der Synthese des Entgegengesetzten philosophierend vollzogen. Der Protestantismus lebt aus der »Poesie seines Schmerzens, der mit dem empirischen Daseyn alle Versöhnung verschmäht«, und erweist sich darin – wie im Rückblick auf die Jugendschriften, welche dieser Feststellung ihr Gewicht verleihen, gesagt werden darf – als Repristination urchristlicher Tendenzen.2 Die Philosophie Kants, Jacobis und Fichtes stellt die konsequente und abschließende Entfaltung des einen grundlegenden nordisch-protestantischen Prinzips dar: der ›Subjektivität‹. Scharf verläuft zwischen ihr und der Welt der Objekte die Trennungslinie. Die protestantische Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre; und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hayn als Hölzer erkenne würde.3
In der Angst, durch Objektivation den reinen Quell der Innerlichkeit getrübt zu finden, setzt sie die Objekte zu etwas Wertlosem und Nichtigen herab. Ausgewichen wird der Gestaltung der Welt und der Bildung in ihr – beides könnte die Preisgabe der unendlichen Subjektivität an die Objektivität bedeuten. Schmerzlose Anschauung einer Welt, in der das Subjekt sich wiederzuerkennen vermöchte, weil es sich ihr eingebildet hat, wird als Aberglaube gebrandmarkt. »Es ist gerade durch ihre Flucht vor dem Endlichen, und das Festseyn der Subjectivität, wodurch ihr das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hayn zu Hölzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren, und nicht hören« werden.4 Die Insistenz auf der unbefleckten Heiligkeit des Herzens ist nicht nur von der Aporie begleitet, daß sie um die Objektivierung nicht herum kommt, sondern sie frevelt an den Dingen zugleich, indem sie sie unter dem Anspruch einer absoluten Prävalenz der Innerlichkeit zu toter Materie degradiert. Den Gegenpol hierzu findet Hegel im Materialismus der Aufklärung. Als ebenfalls einseitige, ein Moment isolierende und verabsolutierende Bildungsform unterliegt auch sie der Hegelschen Kritik. Ihre Wahrheit hat sie darin, daß in ihr dem zuvor abgewerteten Endlichen sein Recht widerfährt. Doch findet im Materialismus für Hegel keine wahrhafte Versöhnung mit dem Endlichen statt. Die Wirklichkeit des Materialismus sei nicht mehr als »nur empirisches Daseyn, gemeine Welt und Wirklichkeit.« Damit wird der Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität nicht überwunden, sondern nur der Wertakzent von der Unendlichkeit des Herzens auf die Endlichkeit empirischen Daseins verschoben. Des schlechten Gewissens in der Verabsolutierung des Endlichen sucht diese Philosophie in der Glückseligkeitslehre sich zu entledigen, über die das »empirische Subject« mit der ––––––––– 2 3 4
Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 319. Ebd., S. 316 f. Ebd., S. 317.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
»gemeine[n] Wirklichkeit« in Einklang gebracht werden soll. Nur »tiefe Rohheit und völlige Gemeinheit« weiß Hegel diesem Versuch zu attestieren. Dem Eudämonismus mangelt in seinen Augen die Heiligung der Materie durch die Vernunft, so wie dem Protestantismus das ›Weltlichwerden‹ der Vernunft durch Integration des Endlichen. Beiden ist die Idee als Einheit beider Momente verschlossen, um die es Hegel geht.5 Das Wahre der Religion, das Hegel gegenüber der aufgeklärten Philosophie des Diesseits festhalten möchte, liegt darin, »daß sie an keiner vergänglichen Anschauung noch Genusse hängen bleibt, sondern nach ewiger Schönheit und Seligkeit sich sehnt«. Insofern sie diese Sehnsucht durch Überspringen des Endlichen zu befriedigen sucht, gerät sie in die angedeutete Aporie hinein, der die Aufklärung nach Hegel durch Insistenz auf der endlichen Individualität und ihrer Welt ebenfalls nicht entgeht. Die Synthese würde darin liegen, daß »das Sehnen seinen Gegenstand fände«. Es wäre verendlicht, aber so, daß »die zeitliche Schönheit eines Subjects als eines Einzelnen, seine Glückseligkeit, die Vollkommenheit eines der Welt angehörigen Wesens seyn« würde. Die Kluft hätte sich geschlossen, indem die Welt, die im Protestantismus negiert und im Materialismus verabsolutiert wurde, zum »reine[n] Leib der innern Schönheit« geworden, d.h. in ihr die Versöhnung vollzogen und als ewige, nämlich absolut gegenwärtige, der Anschauung zugänglich wäre. Die »höchste Erkenntniß würde die seyn, welches dieser Leib seye, in dem das Individuum nicht ein einzelnes wäre, und das Sehnen zur vollkommenen Anschauung und zum seligen Genusse gelangte.«6
Zerrissenheit der modernen Bildung am Paradigma Kants Die Zerrissenheit moderner Bildung in die beiden sich ausschließenden Mächte reproduziert sich in den Philosophien Kants, Jacobis und Fichtes auf je verschiedene Weise und findet in ihnen ihre abschließende Ausgestaltung. Die Antinomien der praktischen Philosophie sah Hegel in denen der theoretischen vorgebildet – und in dieser wiederum resümierten sich die des modernen Geistes überhaupt. Indem die Hegelsche Kritik sie als solche enthüllt, überwindet sie sie zugleich, indem sie sie in einer Philosophie der Sittlichkeit aufhebt. Die Verabsolutierung der Gegensätze, die Hegel in der Einleitung zu ›Glauben und Wissen‹ ausführlicher – jedoch nicht ganz zwingend – auf die Aufklärung als auf den Protestantismus zurückbezieht, prägt die Physiognomie der Kantischen Philosophie gleichermaßen in ihrem theoretischen wie ihrem praktischen Aspekt, wie der entsprechende Kant-Abschnitt in ›Glauben und Wissen‹ zeigt. Die Kantische Philosophie ist als »kritischer Idealismus« zugleich die reinste Verkörperung des »Princips der Subjectivität« und damit des protestantischen Moments der deutschen Geistesgeschichte. Und sie ist in der Radikalisierung der –––––––––
5 6
Ebd., S. 318. Ebd., S. 317 f.
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Antithese zwischen dem Mannigfaltigen des Endlichen und dem einen Prinzip der Glückseligkeit, das sie formalisiert zum reinen Vernunftbegriff, zugleich die abschließende Systematisierung der Aufklärung. Beide Traditionen begünstigen die absolute Entgegensetzung des Denkens und des Seins, der Einheit und des Mannigfaltigen, die die Kantische Philosophie durchzieht. Das idealistisch-protestantische Moment macht sich darin geltend, daß die Empirie ein absolutes Nichts ist, ein ausschließlich Gesetztes; das empiristischaufgeklärte darin, daß die Empirie als absolutes Etwas aufgefaßt wird, insofern es eben als das absolut Entgegengesetzte zum Verstand und zur Vernunft begriffen wird. Das Dilemma der Kantischen Philosophie sieht Hegel darin, daß sie einerseits – zumal auf ihren »niedrigern Standpuncten« – eine Überwindung des derart Entgegensetzen denkt, andererseits auch hier nur zu einer verworrenen Vorstellung der Idee durchdringt und diese in den höheren Regionen, sofern sie auf Ideen stößt, als »leere Gedanken« wieder fallen läßt und so »schlechthin in dem Gegensatze« verweilt.7
›Wahn von vermeynter Vernunfteinsicht‹ Die Wahrheit des Kantischen kritischen Idealismus liegt systematisch darin, daß weder der Begriff für sich allein, noch die Anschauung für sich allein absolut gesetzt werden, sondern erst die Identität beider im Bewußtsein Erfahrung ausmacht, und zweitens darin, daß solche Erfahrung als Verstandeserkenntnis nicht gleichgesetzt wird mit vernünftiger Erkenntnis überhaupt. Kants Grenze ist darin beschlossen, daß er Verstandeserkenntnis für die dem Menschen einzig mögliche erklärt und jenseits ihrer der reinen Subjektivität reiner theoretischer und praktischer Vernunft ein unerkennbares, absolut gesetztes Ding an sich gegen–––––––––
7
Ebd., S. 325. Zur Auseinandersetzung Hegels mit Kant vgl. aus der reichen Literatur vor allem: Herbert Wacker: Das Verhältnis des jungen Hegel zu Kant.- Berlin: Juncker & Dünnhaupt 1932 (= Episteme; 2); Joseph Maier: On Hegel’s critique of Kant.- New York: Columbia University Press 1939; Günter Rohrmoser: Die theologische Bedeutung von Hegels Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und dem Prinzip der Subjektivität.- In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 4 (1962), S. 89–111; Odo Marquard: Hegel und das Sollen.- In: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), S. 103–119; Joachim Ritter: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik (1966).- In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Hrsg. von Friedrich Kaulbach, Joachim Ritter.- Berlin: de Gruyter 1966, S. 331–351. Eingegangen in ders.: Metaphysik und Politik (Anm. 120), S. 281–309; Ingtraud Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel.- Frankfurt/Main: Klostermann 1966 (= Philosophische Abhandlungen; 28); Rolf-Peter Horstmann: Hegels vorphänomenologische Entwürfe zu einer Philosophie der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie.Diss. phil Heidelberg 1968. Vgl. auch die einschlägigen Beiträge in dem gehaltreichen Sammelband: Recht und Ethik. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Blühdorn, Joachim Ritter.- Frankfurt/Main: Klostermann 1970 (= Studien zur Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts; 9). Hierin die Beiträge von Friedrich Kaulbach: Moral und Recht in der Philosophie Kants, S. 43–75 (mit Dokumentation der Diskussion), und Joachim Ritter: Zum Primat des Rechts bei Kant und Hegel, S. 77–82.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
übersteht. Alles, was jenseits der raum-zeitlichen Erfahrung liegt, müßte »auf einen bloßen Wahn von vermeynter Vernunfteinsicht hinauslaufen.« Anvisiert ist in der Ausgangsfrage der Kritik der reinen Vernunft nach den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori die Idee, insofern »in dem synthetischen Urtheil Subject und Prädicat, jenes das Besondere, dieses das Allgemeine, jenes in der Form des Seyns, dieß in der Form des Denkens, – dieses ungleichartige zugleich a priori, d.h. absolut identisch ist.« Diese Idee sieht Hegel »durch die Flachheit der Deduction der Kategorien« hindurchschimmern. Die ursprüngliche synthetische Einheit darf nicht »als Product entgegengesetzter begriffen werden [...], sondern als wahrhaft nothwendige, absolute, ursprüngliche Identität entgegengesetzter«.8 Jene Einheit bezeichnet die »absolute, ursprüngliche Identität des Selbstbewußtseyns«, die »als Identität des Subjectiven und Objectiven im Bewußtseyn als Urtheil erscheint«. Sie heißt synthetische, »weil in ihr das Entgegengesetzte absolut Eins ist«, nicht ein »Aggregat von zusammengelesenen Mannichfaltigkeiten«. Durch das leere Ich ist nichts Mannigfaltiges gegeben; die wahre synthetische Einheit ist nur als Beziehung des Mannigfaltigen auf die leere Identität zu denken, »aus welcher, als ursprünglicher Synthesis, das Ich, als denkendes Subject, und das Mannichfaltige, als Leib und Welt sich erst abscheiden«.9 Das abstrakte leere Ich und das wahre absolute Ich als Prinzip vernünftiger Identität sind also zu unterscheiden: in der Einsicht, daß der Trennung die Identität immer schon vorausgeht, liegt der spekulative Gehalt der transzendentalen Deduktion. Synthetische Urteile a priori sind möglich durch die ursprüngliche absolute Identität des Unterschiedenen, aus welcher die absolute Identität, als in der Form des Urteils getrennt erscheinendes subjektives Ich und objektive Welt, Besonderes und Allgemeines, sich erst sondert.
Erkenntnistheoretischer Reduktionalismus Die Hegelsche Kritik läuft nun darauf hinaus, daß dieser identitätsphilosophische Ansatz von Kant nicht konsequent festgehalten und ausgearbeitet worden sei. Die große Einsicht Kants bestehe darin, daß die Spontaneität des Verstandes absolut durch einen Innhalt erfüllt wird, indem die Bestimmtheit der Form nichts anders ist, als die Identität entgegengesetzter, wodurch also der apriorische Verstand zugleich wenigstens im Allgemeinen aposteriorisch wird [...] und so der formelle Begriff der Vernunft, apriorisch und aposteriorisch, identisch und nicht identisch in einer absoluten Einheit zu seyn, gegeben wird [...].10
Diese Einsicht wird in der Durchführung jedoch wieder preisgegeben, indem die Momente des ursprünglich Identischen als abstrakte Entgegensetzungen fixiert werden. Statt daß subjektives Ich und objektive Welt als differente Mo––––––––– 8 9 10
Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 327. Ebd., S. 328. Ebd., S. 333 f.
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mente des indifferenten Absoluten, nämlich der Einheit beider festgehalten werden, wird der Erscheinung in der Verstandeserkenntnis ein Ding an sich jenseits des Verstandes opponiert, von dem Erkenntnis nur in dem Maße möglich ist, wie es kategorial bearbeitet, d.h. zur Erscheinung gemacht worden ist. Die Philosophie schreitet nicht vom Anerkennen der Erscheinung zum Erkennen des Dinges an sich fort, sondern hat dieses als das unstrukturierte und ungeformte immer jenseits ihrer. Form und Struktur erhält es also erst durch das »Selbstbewußtseyn eines Erfahrung habenden Subjects«. Die Welt ist ein in sich zerfallendes [...], das erst durch die Wohlthat des Selbstbewußtseyns der verständigen Menschen einen objectiven Zusammenhang und Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit erhält; eine objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht, und hinauswirft.11
Darin enthüllt sich das Verhältnis zwischen dem Subjekt und den Dingen – die beide »für sich existiren, das Ich des: Ich denke, und das Ding an sich« – als eines von Herrschaft. Das Ding an sich erhält seine »Bestimmtheit vom thätigen Subject«. Beide sind identisch »wie Sonne und Stein es sind in Ansehung der Wärme, wenn die Sonne den Stein wärmt«; darüber hinaus sind sie totaliter verschieden. Die Dinge als von den Kategorien verlassen sind »nichts anders als ein formloser Klumpen«; sie gleichen dem ehernen König im Märchen, den ein menschliches Selbstbewußtseyn mit den Adern der Objectivität durchzieht, daß er als aufgerichtete Gestalt steht, welche Adern der formale transczendentale Idealismus ihr ausleckt, so daß sie zusammensinkt, und ein Mittelding zwischen Form und Klumpen ist, widerwärtig anzusehen [...].12
Der Dualismus zwischen einem »absoluten Punct der Egoität und ihres Verstandes einerseits und absolute[r] Mannichfaltigkeit oder Empfindung« andererseits, der die theoretische Philosophie durchzieht, kehrt in der praktischen wieder.13 Vernunft, im System theoretischer Philosophie Kants allein regulatives, nicht konstitutives Prinzip, soll gleichwohl als »absolute Leerheit sich als praktische Vernunft einen Inhalt geben und in der Form von Pflichten sich ausdehnen«, soll »aus sich selbst gebähren und sich einen Innhalt geben«. Theoretische Vernunft, eingeschränkt auf die Regulation der Mannigfaltigkeit der Verstandeserkenntnisse, macht auf solch autonome Würde, »auf das Selbstzeugen des Sohnes aus sich«, keinen Anspruch.14 Intelligible und sinnliche Welt, Freiheit und Notwendigkeit – in der Deduktion nach der Hegelschen Deutung als ursprünglich identische gedacht, wenngleich nicht konsequent entwickelt –, werden in der praktischen Philosophie als absolute Gegensätze »ganz außer aller Gemeinschaft gedacht«.15
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Ebd., S. 330 f. Ebd., S. 331 f. Ebd., S. 333. Ebd., S. 336. Ebd., S. 338.
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Aporien des reinen praktischen Subjekts Die Konsequenzen daraus für die Moral- wie für die Rechtsphilosophie hat Hegel in der frühen Jenaer Zeit in kompromißloser Zurückweisung des KantFichteschen Ansatzes entwickelt. Die Synthetisierung von Natur und Freiheit wird in beiden Systemen bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen so konstruiert, daß reine praktische Vernunft die triebhafte, unter dem Kausalitätsgesetz stehende Natur in ihre Gewalt nimmt. Indem die Natur durch die Kausalität der Freiheit zu einem reell Bewirkten wird, ist sie »ein wesentlich bestimmtes und todtes.« Damit setzt sich – wie schon in der theoretischen, so auch in der praktischen Philosophie – ein Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft durch; »eins kommt in die Bottmäßigkeit; von den zwey Sphären der Freyheit und Nothwendigkeit ist diese jener untergeordnet.«16 Das verleiht der Moral- wie der Rechtsphilosophie in Hegels Augen ihre verzerrte Physiognomie. In der Moralphilosophie soll das Ich sich als reines praktisches frei setzen. Als natürliches, empirisches ist es »in einer absoluten Nothwendigkeit befangen«.17 Befreien kann es sich nur in einem Akt der Destruktion, nämlich durch Vernichtung des ihm Entgegengesetzten, der Natur. Solcher Destruktion liegt eine Anschauung »der Natur, als Etwas, das Nichts an sich, sondern reine Erscheinung sey, also keine Wahrheit, noch Schönheit in sich hat«, zugrunde. Ihre Bestimmung hat sie darin, »den freyen Wesen eine Sphäre und Spielraum zu bilden, und um zu Trümmern werden zu können, über denen sie sich erhöben«.18 Erscheint in der Rechtsphilosophie der Mechanismus wenigstens als äußerer, vom Gesetz diktierter, so wird er in der Moralphilosophie als »eigne Unterdrükkung« in das Subjekt hinein genommen. Im Staat hat das Individuum die Möglichkeit, unter Preisgabe des Glaubens »an die Einigkeit des innern mit dem äussern« in die innere Welt subjektiver Identität zu fliehen.19
Ungeschlichtete Entzweiung von Welt und absoluter Subjektivität Die Kant-Fichtesche Philosophie verbaut diesen Ausweg – nicht jedoch, weil sie die Philosophie des abstrakten Rechts in eine lebendige Sittlichkeit zu überführen imstande wäre, sondern weil die Dichotomie bis in die Moralphilosophie hineinwirkt. Indem sie den Mechanismus der Unterdrückung »in den Menschen selbst verlegt, und in ihm ein Gebietendes und ein Bottmässiges absolut entgegensetzt [...], so ist die innre Harmonie zerstört, Uneinigkeit und absolute Entzweyung machen das Wesen des Menschen aus.«20 Ihre Aufhebung wird in ––––––––– 16
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Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 50. Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 403. Ebd., S. 404 f. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 59. Ebd.
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einen unendlichen Progreß verlegt. Die diesem immanenten Widersprüche hat Hegel scharf bezeichnet. Die Welt ist der »absolute[n] Subjectivität der Vernunft [...] absolut entgegengesetzt, dadurch absolute vernunftlose Endlichkeit und unorganische Sinnenwelt, die im unendlichen Progreß gleich Ich werden soll«.21 Aber das Ich, von dem ausgegangen wird, ist als reines nur solange, wie ihm sein Gegenteil gegenüber gesetzt ist. »Die übersinnliche Welt ist nur die Flucht aus der sinnlichen; ist nichts mehr, vor welchem geflohen wird, so ist die Flucht und Freyheit und übersinnliche Welt nicht mehr gesetzt, und diese empirische Realität ist so sehr an sich als Ich.«22 Die Synthetisierung beider Momente ist von einem Ansatz her, welcher ein reines praktisches Ich als leeres und inhaltsloses setzt und ihm ein empirischzeitliches als mannigfaltiges absolut entgegensetzt, nicht möglich. Jene Synthetisierung in der Zeit, nämlich in einem unendlichen Progreß, beschönigt nur die Entgegensetzung, »deren Dürftigkeit durch diese beschönigende Verbindung mit einer ihr absolut entgegengesetzten Unendlichkeit nicht vervollständigt, sondern auffallender wird.« Das »wahre Aufheben der Zeit ist zeitlose Gegenwart, d.i. Ewigkeit«.23 Ein solches als Anschauung sich vollendendes sittliches Verhältnis ist der Kant-Fichteschen Moralphilosophie in der Idee des höchsten Gutes ahnungsvoll gegenwärtig, im Rahmen einer Konzeption absoluter Entgegensetzung aber nicht realisierbar. In Erwartung einer »höchste[n] Synthese [...] bleibt immer dieselbe Antithese der beschränkten Gegenwart, und einer ausser ihr liegenden Unendlichkeit.«24 Die Rechtsphilosophie geht von eben derselben Voraussetzung aus, daß »das Lebendige in Begriff und Materie zerrissen ist, und die Natur unter eine Bottmäßigkeit kommt.«25 Die Unterdrückung innerer Natur wiederholt sich in der Rechtsphilosophie in der Unterdrückung der Individuen zugunsten eines geregelten Zusammenlebens aller. Die Freiheit der einzelnen als das höchste der Kant-Fichteschen Philosophie muß eingeschränkt werden, um die Gemeinschaft zu konstituieren. Das in der Moralphilosophie von allen sittlichen Banden losgelöste Ich kann im Staatsverband immer nur als durch die Freiheitssphäre des Anderen beschränktes gedacht werden. Freiheit aber, »für welche etwas wahrhaft äußeres, fremdes wäre, ist keine Freyheit«.26 Der Staat überwacht die Einhaltung des vorgeschriebenen Spielraums der Freiheit; er ist also wesentlich negativ als eine die Freiheit eindämmende Institution, nicht positiv als eigentliche Sphäre der Realisierung von Freiheit aufgefaßt.
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Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 406. Ebd., S. 403. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 47. Ebd., S. 50. Ebd., S. 54. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 446.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Staat als Maschine Eine Gemeinschaft vernünftiger Wesen muß aber gerade nicht als eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden; die höchste Gemeinschaft ist die höchste Freyheit, sowohl der Macht als der Ausübung nach, – in welcher höchsten Gemeinschaft aber gerade die Freyheit, als ideeller Faktor, und die Vernunft, als entgegengesetzt der Natur, ganz wegfällt.27
Im Kant-Fichteschen Staat ist der Gegensatz zwischen Natur und Freiheit nicht aufgehoben, sondern als immerwährender fixiert; der »Stand der Noth« ist nicht ein vorläufiger, aufzuhebender, so daß an seine Stelle »eine, von aller Knechtschaft unter dem Begriff, freye Organisation des Lebens« träte, sondern der allein mögliche. Er ist in Wahrheit eine »Maschine« – und das Volk »nicht der organische Körper eines gemeinsamen und reichen Lebens, sondern eine atomistische Lebensarme Vielheit«.28 Statt daß die Individuen unter gemeinsamen Sitten geeint sind, tritt ihnen das Allgemeine in Form des Gesetzes als etwas Fremdes und Äußerliches gegenüber, unter das die Individualität subsumiert wird; sie befindet sich damit unter »absoluter Tyranney«. Den Dualismus in einer »schönen Gemeinschaft aufzuheben, die Gesetze durch Sitten, die Ausschweifungen des unbefriedigten Lebens, durch geheiligten Genuß, und die Verbrechen der gedrükten Kraft durch mögliche Thätigkeit für grosse Objekte« zu ersetzen, ist der Kant-Fichteschen Rechtsphilosophie versagt.29
Sollen und Willkür Die Hegelsche Argumentation hat einen ihrer Schwerpunkte im Hinweis auf die heimliche Koalition von abstrakter Sollens-Ethik und blindem Positivismus. »Ich soll sich selbst bestimmen nach der Idee der absoluten Selbstthätigkeit, die objektive Welt aufzuheben« – aber mit diesem Grundsatz ist überhaupt gar keine Entscheidungshilfe in der konkreten Situation gegeben; »es ist nichts vorhanden, das entscheide, als die Willkühr«. Damit entsteht eine unendliche Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, die auf den einen abstrakten Grundsatz der Allgemeinheit sittlichen Handelns zurückbezogen werden soll. Alles käme somit darauf an, den »Vorzug des einen Pflichtbegriffs vor dem andern auszumitteln, und unter den bedingten Pflichten nach bester Einsicht zu wählen«.30 Das aber ist nur möglich, sofern die konkrete Situation in die Beurteilung einbezo––––––––– 27
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Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 54 f. Ebd., S. 55 und zuletzt S. 58. Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 409, und ders.: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 55 f. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 59 f.
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gen wird, Handlungsmuster vorgegeben und überprüfbar sowie die Chance der Realisation und die Wirkungen einer vollzogenen Handlung in einem gegebenen Rahmen kalkulierbar sind. Das aber wird in der apriorischen Moralphilosophie als Rückfall in die Empirie denunziert. Der reine Wille soll, sofern er sich im Handeln realisiert, durch keine ihm äußerliche Realität affiziert werden, sondern nur selbst gesetzten Zwecken folgen. Jede inhaltliche Bestimmtheit des Willens durch vorgegebene Zwecke widerspräche seiner vorausgesetzten Inhaltslosigkeit und Leere. Eine Bestimmung dessen zu geben, was denn an und für sich im konkreten Fall Recht und Pflicht sei, ist ausgeschlossen, denn jede materiale Bestimmung würde alsbald den reinen Willen aufheben; »die Leerheit des reinen Pflichtgefühls und der Innhalt kommen einander beständig in die Quere.«31 Es gibt kein Kriterium der Wahl außer dem subjektiven Gutdünken. Die Selbstbestimmung des vermeintlich autonomen Subjekts geht »in die Zufälligkeit der Einsicht, und damit in die Bewußtlosigkeit dessen, wodurch eine zufällige Einsicht entschieden wird«, über.32 Die Folge, die Hegel vor allem im Blick auf Kant moniert, ist, daß »der Innhalt der Gesetze, Pflichten und Tugenden empirisch aufgerafft« wird.33 Dem Handelnden bleibt nur die Möglichkeit, der aus der Vielzahl möglicher Handlungen ausgewählten den Anschein von Notwendigkeit zu geben und darüber das Gewissen zu beruhigen – als »Taschenspielerey« qualifiziert Hegel dieses Verfahren im Naturrechtsaufsatz –, oder aber redlich einzugestehen, daß er dem Zufall gehorcht, weil selbst außerstande, alle Eventualitäten zu kalkulieren.34 Das Zufällige war aber gerade als das Unmoralische deklariert worden.
›Die übersinnliche Welt ist nur die Flucht aus der sinnlichen‹ Die Konsequenzen der Hegelschen Kritik geleiten zurück in das Zentrum der Probleme konfligierender Konfigurationen im Blick auf Subjektivität und Gesellschaft, auf Innerlichkeit und Staat. Die abstrakte Appellation an ein aller geschichtlichen und sozialen Bindungen enthobenes Vernunftwesen und ein blinder Dezisionismus gehen nach Hegels Einsicht Hand in Hand. Eine Moral- und Rechtsphilosophie, die unter Ausschluß einer Analyse und Theorie der Gesellschaft zeitlose Prinzipien aus einer vermeintlich zeitlosen, reinen praktischen Vernunft zu deduzieren unternimmt, verliert sich, eben weil sie alle sozialen Determinanten überspringt, um so eher an diese als undurchschaute. Hinter dem Rücken der jenseits von Zeit und Raum agierenden Vernunftwesen wandert die vernachlässigte Realität um so unkontrollierter in die Verhaltensmechanismen wieder ein. »Die übersinnliche Welt ist nur die Flucht aus der –––––––––
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Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 409. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Anm. 142), S. 60. Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 402. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 438.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
sinnlichen« – dieser zitierte Satz Hegels bezeichnet nicht nur formaliter die negative Bindung des absoluten Subjekts an sein Gegenüber, die Empirie, sondern umschreibt auch materialiter die Verhaftung der sich losreißenden absoluten Subjektivität an ihre in Raum und Zeit vorgegebenen Bedingungen. Diese Erkenntnis verwies Hegel in Kritik der apriorischen Moral- und Naturrechtskonstruktionen Kants und Fichtes auf die Rezeption der ökonomischsozialen Theorien seiner Zeit in einer Philosophie der Sittlichkeit, der die Reflexion auf die übergreifenden sozialen Strukturen nicht unwichtiger sein konnte als diejenige auf die Subjektivität, weil Hegel sie beide als immer schon vermittelte begriff. »Wenn in der wahren Sittlichkeit die Subjectivität aufgehoben ist, so wird dagegen durch jenes [Kant-Fichtesche] moralische Bewußtseyn das Vernichten der Subjectivität gewußt«. Um die Aufhebung der Subjektivität in übergeordneten Mächten, in denen sich das Ich wiedererkennt, verwirklicht und überdauert, kreist die Hegelsche Philosophie von der Erfahrung der antiken Polis in den Jugendschriften bis hin zur Rechtsphilosophie.35
Übergang zur Philosophie objektiver Sittlichkeit Sittliches Handeln, will es nicht in »jene traurige Unschlüssigkeit und in Schwäche verfallen, welche darin besteht, daß für das Individuum nur Zufälligkeit vorhanden ist, und es sich aus sich selbst keine Nothwendigkeit erschaffen kann, noch darf«, ist auf Traditionen verwiesen, in denen sich das Individuum immer schon vorfindet.36 Empirische Bestimmungsgründe gehen in alles Handeln ein. Sie sind nicht zu eliminieren und sie sind auch nicht ein das Individuum hemmendes Element, wo sie ihm korrespondieren. Richtiges, glückliches Leben ist allein in Ordnungen möglich, die gleichermaßen sittliche Kräfte entbinden wie sie ihnen Erfüllung gewähren. Der Hegelsche Hinweis, daß sittliche Institutionen nicht als Beschränkung der Freiheit, sondern als deren Realisierung begriffen werden müssen, verweist darauf. Nicht nur wird damit der Glaube als Illusion kritisiert, sinnvolles, nach autonomen Zwecken ausgerichtetes Handeln vermöchte auf die vorgegebenen Umstände Verzicht zu tun, sondern zugleich die Anweisung auf die Herstellung von Verhältnissen geltend gemacht, in denen Leben ohne Zwang sich verwirklichen kann. Es ist von großem Reiz zu gewahren, wie Hegel alsbald aus dieser Einsicht die denkerischen Konsequenzen zieht. Seine Jenenser Philosophie, kulminierend in einer schonungslosen Analyse der vorgegebenen Mächte objektiver Sittlichkeit, bezeichnet einen Höhepunkt der Philosophie des deutschen Idealismus. Der Weg dahin führt über die Auseinandersetzung mit der Königsdisziplin Alteuropas innerhalb der Lehre von der Politik: dem Naturrecht. –––––––––
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Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 158), S. 403 und S. 410. Ebd., S. 410.
Hegels Adaptation des Naturrechts
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2.5 Hegels Adaptation des Naturrechts und erste Entwürfe einer Philosophie der Sittlichkeit ›Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts‹ In dem großen Aufsatz ›Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts‹ (1802/03) hat Hegel seine Konzeption absoluter Sittlichkeit in nochmals kritischer Auseinandersetzung mit den apriorisch-vernunftrechtlichen Systemen Kant-Fichtescher Provenienz, zugleich jedoch in Auseinandersetzung mit dem ›empirischen‹ Naturrecht entfaltet.1 Das letztere steht Hegel in der depravierten Gestalt vor Augen, welche es in der vorkritischen praktischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts angenommen hatte. Wahrer Empirismus »bietet die Bestimmtheit des Innhalts in einer Verwicklung und Verbundenheit mit andern Bestimmtheiten dar, welche in ihrem Wesen ein Ganzes, organisch und lebendig ist«. Das neuere, vorkritische Naturrecht beruht hingegen auf dem Grundsatz der »Vermischungen der empirischen Anschauung und des Allgemeinen« – eine Inkonsequenz, die das kritische formale Naturrecht Kants und Fichtes dadurch zu beseitigen sucht, daß es Empirie und unendliche Vernunft in einen absoluten Gegensatz bringt und sich dabei in die aufgezeigten Aporien verwickelt.2 ––––––––– 1
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Vgl. neben der angegebenen Literatur im speziellen Zusammenhang auch Bloch: Naturrecht und menschliche Würde (Anm. 25), S. 140 ff.; Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 4., neubearb. und erweiterte Auflage.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962 (= Jurisprudenz in Einzeldarstellungen; 4), S. 173–182; Erich Angermann: Das Auseinandertreten von ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹ im Denken des 18. Jahrhunderts.- In: Zeitschrift für Politik 10 (1963), S. 89–101; Manfred Riedel: Zur Topologie des klassischpolitischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs.- In: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291–318; ders.: Hegels Kritik des Naturrechts.- In: Hegel-Studien 4 (1967), S. 177–204. Wieder abgedruckt in ders.: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 (= edition suhrkamp; 355), S. 42–74; Norberto Bobbio: Hegel und die Naturrechtslehre.- In: Filosofický þasopis 15 (1967), S. 322– 340; Helmut Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie. 2. Aufl.- Berlin: de Gruyter 1969, S. 43 ff. Zum Kontext die drei Neuland erschließenden Werke im Blick auf die Frühe Neuzeit von Hans Maier: Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert.- In: Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie. Hrsg. von Dieter Oberndörfer.- Freiburg: Rombach 1962, S. 59–116; Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1963 (= Politica; 14); Paul-Ludwig Weinacht: Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert.- Berlin: Duncker & Humblot 1968 (= Beiträge zur politischen Wissenschaft; 2). Schließlich sei verwiesen auf die wichtige Studie von Gerhard Oestreich: Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Eine historische Einführung.- In: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte. Hrsg. von Karl August Bettermann, Franz L. Neumann, Hans-Carl Nipperdey. Band I/1.- Berlin: Duncker & Humblot 1966, S. 1–123. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältniß zu den positiven
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Kritik des empirischen und formalen Naturrechts Die kritische Abgrenzung gegen das neuere ›empirische‹ Naturrecht vorzunehmen, hat Hegel um so mehr Veranlassung, als seine eigene Philosophie der Sittlichkeit als Antwort auf die formale Moral- und Rechtsphilosophie Kants und Fichtes erneut auf das immer schon Vorgegebene zurückgreift. Das ›empirische‹, vorkritische Verfahren vollzieht diesen Rekurs fälschlich so, daß es Einzelnes, Bestimmtes herausgreift, dieses zum Wesen und Zweck eines Ganzen erklärt, damit aber gerade die »Totalität des Organischen nicht erreicht«. Denn das Ausgeschlossene gerät nun unter die Herrschaft dessen, was »zum Wesen und Zweck erhoben« wurde. Gleichwohl muß dasjenige, das zum Subordinierten gestempelt wurde, nach logischen Kriterien entwickelt und mit anderem in Verbindung gebracht werden. Entsprechend entsteht »ein Gequäle darüber, um die nothwendige Beziehung und Herrschaft der einen [Bestimmtheit] über die andern zu finden«. So wird Kindererzeugung oder Gütergemeinschaft zum obersten Zweck der Ehe erhoben, alles andere zu einem Sekundären herabgesetzt und derart »das ganze organische Verhältniß bestimmt und verunreinigt«. Das dabei angewandte formallogische Verfahren, nach den Sätzen des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten vorgehend, bringt es immer nur zu einem »Schein der Nothwendigkeit«, nämlich dem formaler analytischer Richtigkeit.3 Das ›empirische‹ wie das ›formale‹ Naturrecht freveln an der Empirie, »für welche jedes gleiche Rechte mit dem andern hat«: das formale, indem es das, was es in seinen apriorischen Konstruktionen »stolzerweise von seiner Apriorität und Wissenschaft unter dem Ekelnahmen des Empirischen auszuschließen« vermag, um – wie gezeigt – hinterrücks der ausgeschlossenen Empirie wieder zu verfallen; das empirische, indem es das aufgegriffene Empirische zu einem obersten Grundsatz erhebt, aus dem formallogisch alles weitere deduziert werden soll, und damit »ist das Mannichfaltige unmittelbar vernichtet und Nichts«.4 Das Verfahren begrifflicher Über- und Unterordnung kehrt in den materialen sozialphilosophischen Konzeptionen als Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft wieder. An den Theorien des Naturzustandes und der Bestimmung des Menschen zeigt Hegel dies.
Ungeschlichtete Dichotomie von Natur- und Rechtszustand Beide haben für das empirische Naturrecht den Charakter oberster Grundsätze, aus denen alle weiteren Bestimmungen hergeleitet werden sollen. Sie werden in einem Abstraktionsverfahren gewonnen, indem von allen »besondern Sitten, der ––––––––– 3 4
Rechtswissenschaften.- In: ders.: Jenaer kritische Schriften (Anm. 142), S. 415–485, S. 429 und S. 420. Ebd., S. 421 f. Ebd., S. 423 f.
Hegels Adaptation des Naturrechts
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Geschichte, der Bildung, und auch dem Staate« abstrahiert wird. So »bleibt der Mensch unter dem Bilde des nackten Naturzustandes oder das Abstractum desselben mit seinen wesentlichen Möglichkeiten übrig«. Ein Kriterium, was zufällig und was notwendig ist, »was also im Chaos des Naturzustandes oder in der Abstraction des Menschen bleiben und was weggelassen werden müsse«, besitzt der Empirismus jedoch nicht.5 Man legt so viel in jene Abstraktionen hinein, wie man später »für die Darstellung dessen, was in der Wirklichkeit gefunden wird, braucht; das richtende Princip für jenes apriorische ist das aposteriorische.« Der Naturzustand muß als Übel dargestellt werden, um dahin zu kommen, wohin man kommen will, »daß nemlich eine Einstimmung des als Chaos widerstreitenden das gute oder das sey, wohin man kommen müsse«.6 Ebenso geht man von einem Trieb zur Geselligkeit (appetitus socialis) als Bestimmung des Menschen aus, um daraus Herrschaftsverhältnisse in der Wirklichkeit deduzieren zu können. Die Idee eines chaotischen Naturzustandes, die einerseits als schlechthin notwendige mit den weitreichendsten Konsequenzen, andererseits als ein bloßes Phantasiegebilde eingeführt wird, dient als Folie zur Deduktion der »Majestät und Göttlichkeit des Ganzen des Rechtszustandes«, das die Subjekte zur »absoluten Unterwürfigkeit [...] unter jene höchste Gewalt« verhält. Naturzustand und Rechtszustand werden in strikten Gegensatz gebracht, um daraus die uneingeschränkte Verbindlichkeit jeglichen positiven Rechts ableiten zu können. Die absolute Idee der Sittlichkeit enthält dagegen den Naturzustand, und die Majestät [des Gesetzes], als schlechthin identisch, indem die letztere selbst nichts anders als die absolute sittliche Natur ist, und an keinen Verlust der absoluten Freyheit, welche man unter der natürlichen Freyheit verstehen müßte, oder ein Aufgeben der sittlichen Natur, durch das reellseyn der Majestät gedacht werden kann [...]. Eben so wenig ist die Unendlichkeit oder das Nichts des Einzelnen, der Subjecte, in der absoluten Idee fixirt, und in relativer Identität mit der Majestät, als ein Verhältniß der Unterwürfigkeit, in welchem auch die Einzelnheit etwas schlechthin gesetztes wäre; sondern in der Idee ist die Unendlichkeit wahrhaftig, die Einzelnheit als solche nichts, und schlechthin Eins mit der absoluten sittlichen Majestät, welches wahrhafte lebendige nicht unterwürfige Einsseyn allein die wahrhafte Sittlichkeit des Einzelnen ist.7
Moralität und Sittlichkeit In diesem Abschnitt, polemisch gleichermaßen gegen das vorkritisch-›empirische‹ wie das kritisch-›formale‹ Naturrecht Kants und Fichtes gewendet, resümiert sich der Gehalt der Jenenser Philosophie der Sittlichkeit Hegels. Deren Grundzüge hat Hegel in dem soeben bereits herangezogenen Naturrechtsaufsatz, den er in dem mit Schelling herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie 1802/03 publizierte, in dem unveröffentlicht gebliebenen ›System der ––––––––– 5 6 7
Ebd., S. 424 f. Ebd., S. 425 f. Ebd., S. 427.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Sittlichkeit‹ aus dem Jahr 1803 sowie in der gleichfalls unveröffentlichten ›Realphilosophie‹ von 1803/04 und von 1805/06 ausgearbeitet. In diesen hier abschließend heranzuziehenden Schriften wird der Gehalt der historisch-theologischen Jugendschriften auf den Begriff gebracht und zugleich in wesentlichen Punkten modifiziert. In der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 kündigt sich dann bereits die Rückkehr zu zentralen Lehrstücken der Kant-Fichteschen Philosophie an, die für Hegel fortan verbindlich bleiben wird und sich am reinsten in der späten Rechtsphilosophie aus dem Jahr 1821 dokumentiert. Die vorangehenden Entwürfe markieren einen Weg, der gleichweit entfernt ist vom ›Empirismus‹ wie vom ›Formalismus‹. Im zweiten Teil des Naturrechtsaufsatzes hat Hegel auf die sich schon im Terminologischen bekundende Differenz zur Position Kants und Fichtes als den Exponenten der Moderne hingewiesen. Im Begriff der Sittlichkeit ist die nahtlose Verschmelzung des Individuellen, Besonderen mit dem Allgemeinen gedacht; sie ist unmittelbar Sittlichkeit des Einzelnen, und umgekehrt das Wesen der Sittlichkeit des einzelnen ist schlechthin die reale und darum allgemeine absolute Sittlichkeit; die Sittlichkeit des Einzelnen ist ein Pulsschlag des ganzen Systems, und selbst das ganze System.
Es macht das Wesen der Sittlichkeit aus, »ein Allgemeines oder Sitten zu seyn«, und das wird durch den griechischen Begriff ›üą ġùò‹ ebenso wie durch den deutschen ›Sitten‹ bereits bedeutet. Die vom absoluten Subjekt ausgehende praktische Philosophie Kants und Fichtes trägt dem Rechnung, indem sie statt von Sittlichkeit von ›Moralität‹ spricht – ein Begriff, der zwar gleichfalls ursprünglich auf ein das Subjekt übergreifendes Allgemeines verweist, aber weil er »ein erst gemachtes Wort ist, nicht so unmittelbar seiner schlechtern Bedeutung widersträubt.«8
Sittlichkeit statt Herrschaft und Knechtschaft Hegels Philosophie der Sittlichkeit lebt aus der Intention, die Individuen nicht der Zwangsherrschaft eines Allgemeinen zu unterwerfen, sondern dieses so einzurichten, daß jene sich darin wiederfinden, statt sich ihm blindlings unterwerfen zu müssen. Das Leben der Menschen unter Rechtsnormen darf weder, wie die soeben wiedergegebene Passage deutlich macht, mit dem Verlust von Freiheit, noch mit der Vergewaltigung von Natur erkauft werden. Die wahre Unendlichkeit der Subjekte – so Hegels Konzeption bis an die Schwelle der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 – besteht ebensowenig in einer abstrakten Negation der geschichtlichen Mächte des Hier und Jetzt wie in der Unterwerfung unter die positiven Rechtsnormen, sondern im Einssein mit einem lebendigen Allgemeinen, das die Individuen ihrer Vereinzelung und Zufälligkeit enthebt und ihnen Erfüllung in einem sie übergreifenden und überdauernden Ganzen gewährt. –––––––––
8
Ebd., S. 467.
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Das Individuum findet sich unter Bestimmtheiten immer schon vor; diese sind nicht einfach zu überspringen, darin liegt das Wahre des Empirismus. Umgekehrt ist nicht etwas schon dadurch, daß es Recht ist und als solches den chaotischen ›Naturzustand‹ transzendiert, auch bereits sanktioniert. Es muß als Sittliches eingesehen werden und als solches von Philosophie rekonstruiert werden können. Insofern Individuen als Individuen »gegen sich oder etwas anders different sind und eine Beziehung auf ein äußeres haben«, muß gewährleistet sein, daß »diese Aeußerlichkeit selbst indifferent und eine lebendige Beziehung sey«, nämlich ein sittlicher Organismus.9 Im dritten Teil des ›Systems der Sittlichkeit‹ hat Hegel die prägnantesten Formulierungen dafür gefunden. Ein wahrhaft sittliches Verhältnis liegt nur dort vor, wo das Individuum in seinem Gegenüber sich selbst anschaut, d.h. das »Objekt selbst absolute Lebendigkeit und absolute Identität des einen und vielen« geworden ist, so daß es im Individuum »nicht das Individuelle [ist], welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm«, »sein empirisches Sein und Tun [...] ein schlechthin allgemeines« geworden ist.10 Schon im Naturrechtsaufsatz hatte Hegel – obgleich seine Philosophie des Geistes sich erst mit der ›Realphilosophie‹ von 1803/04 herausbildete – den Geist als das höhere Prinzip gegenüber der Natur bezeichnet. Wenn »das Absolute das ist, daß es sich selbst anschaut, und zwar als sich selbst«, so ist absolute Sittlichkeit das Paradigma einer solchen Organisation; insofern der Geist – expandierend in die unendliche Vielheit der Realität und zurückkehrend zu sich – im anderen immer nur das andere seiner selbst schaut.11 Die Metapher des Abspiegelns der Sittlichkeit in den einzelnen Gliedern einer sittlichen Gemeinschaft versinnbildlicht diesen Sachverhalt nur unzureichend. Sittlichkeit macht das Wesen der Einzelnen so aus wie der »die Natur durchdringende Aether das untrennbare Wesen der Gestalten der Natur«. Sie erfüllt die Seele eines jeden, und das kann sie nur, »insofern sie ein allgemeines und der reine Geist eines Volkes ist«.12
Anschauung und Organizität des Sittlichen Die Hegel vorschwebende Einheit ist eine andere als die formeller rechtlicher Gleichheit in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Was von dieser als Verfall persönlicher Freiheit, als Preisgabe der Individualität an überindividuelle Mächte und ›Ideologien‹ gebrandmarkt wird, das gerade entbindet in Hegels –––––––––
9
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Ebd., S. 447. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Sittlichkeit. Hrsg. von Georg Lasson.- Hamburg: Meiner 1967 (= Philosophische Bibliothek; 144a), S. 53. Unveränderter Nachdruck der erstmals 1913 und in einer zweiten Auflage 1923 als Band VII der Sämtlichen Werke erschienenen und von Lasson edierten Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie (vgl. Anm. 121). Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 464. Ebd., S. 467.
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praktischer Philosophie Potenzen, die als Indikator für die Beseitigung entfremdeter Strukturen zu gelten haben. Sittlichkeit ist nur dort, wo das Objekt Subjekt geworden ist, dieses in jenem die »Dieselbigkeit« anschauen kann. Nur unter dieser Bedingung kann von einer »Vernichtung des Subjektiven« die Rede sein, insofern es sich einem Objektiven überantworten kann, das seine eigenen humanen Züge trägt: das Allgemeine nicht länger als ein »Formelles, dem Bewußtsein und der Subjektivität, oder der individuellen Lebendigkeit Entgegengesetztes, sondern in der Anschauung schlechthin eins mit ihr.«13 Der Begriff der ›Anschauung‹ bildet den einen Brennpunkt der Jenenser Systematik der Sittlichkeit; der des ›Organismus‹ den zweiten. Deren Bedeutung für Hegels Konzept der Sittlichkeit in der frühen Jenenser Phase hat Bernhard Lypp in seiner Untersuchung Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft herausgearbeitet.14 In der Aufnahme der Termini ›Anschauung‹ und ›Organismus‹ ist Hegel der Schellingschen Philosophie verpflichtet. In dieser meint produktive Anschauung die Einheit von produzierendem Trieb und produziertem Gegenstand. Ihr Paradigma ist das geniale Kunstwerk. In ihm kommt der Produktionstrieb zur Ruhe, insofern er sich gänzlich im Werk realisiert hat. Diese von Schelling dem ästhetischen Bereich vorbehaltene Charakteristik überträgt Hegel in den Bezirk des Sittlichen. Somit wird seine Philosophie der Sittlichkeit in der frühen Jenenser Systematik in Kategorien vorgetragen, die er später nur noch der griechischen Sittlichkeit und der ihr zugeordneten Kunstreligion zuerkannte. Der in erneuter Anknüpfung an Kant und Fichte seit der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 vollzogene Ausgang vom absolut freien Willen konnte nicht länger im Medium ästhetischer Anschauung vollzogen werden; das Endliche vermag das Unendliche nicht angemessen zu fassen, sondern nur der Begriff. Die Verhaftung an die Kategorie der Anschauung in der früheren Jenenser Philosophie ist ein Indiz dafür, daß eine ausgebildete Theorie der unendlichen Subjektivität noch fehlt. Das Subjekt ist als Träger von Sittlichkeit stets schon bestimmtes und als solches der Anschauung zugänglich. Der Einzelne findet sich immer schon in den Traditionen eines Volkes vor. Das Volk ist der eigentliche Repräsentant sittlicher Verhältnisse in Hegels früher Jenenser Systematik. Der Träger organischer Sittlichkeit wird von ihm »als ein sinnliches ›Dieses‹ gekennzeichnet. In der Form seiner Interaktion fallen die Modalbestimmungen der Erfahrung als Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit zusammen. In seiner Anschauung tritt das Vergehen der Zeit zur Ruhe der Gegenwart zusammen« – eine Charakteristik, die Schelling allein dem Produkt genialer Tätigkeit angedeihen ließ und die Hegel nun auf die gelungene sittliche Organisation appliziert.15 Das sittliche »Dieses« eines Volkes »muß eine Lebensform garantieren, die als sittlich bezeichnet werden kann«, d.h. die frei ist von Zwang. Daß Zwang im ––––––––– 13 14
15
Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 55 und zuletzt S. 56. Vgl. die Angaben in Anm. 6. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Studie von Alfred Elsigan: Sittlichkeit und Liebe. Ein Beitrag zur Problematik des Begriffs des Menschen bei Hegel.- Wien, München: Oldenbourg 1972 (= Überlieferung und Aufgabe; 10). Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft (Anm. 6), S. 158.
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Inneren beider von ihm kritisierter Formen des Naturrechts angesiedelt sei, bildete das Zentrum der Hegelschen Argumentation: dort als Zwang einer naturlosen Vernunft, hier als Zwang einer ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse geltend gemachten positiven Rechtssatzung. Sittlichkeit als Anschauung bildet die Alternative zu den auf Zwang beruhenden Rechtskonstruktionen »vermöge ihrer natürlichen Implikationen.« Soll Sittlichkeit der Zwangsmechanismen entraten, muß Natur ihr harmonisch integriert, statt der Vernunft oder geltendem Recht unterjocht zu sein. »Hegels Intention ist es zwar, das Absolutum sittlichen Handelns zu konstruieren, es kann aber aus keinen anderen als den Bedingungen der Natur des Menschen geschehen«.16
Sittlichkeit als zweite Natur In geglückten sittlichen Verhältnissen hat Versöhnung auch und gerade mit Natur statt. Natürliches, »welches im sittlichen Verhältniß als ein aufzugebendes gedacht werden müßte, würde selbst nichts sittliches seyn, und also am wenigsten dasselbe in seiner Ursprünglichkeit darstellen.«17 Sittlichkeit sedimentiert sich als zweite Natur. Statt den Menschen in ein privat-moralisches und ein öffentlich-legales Wesen zu zerreißen, stellt sich Sittlichkeit unter der Kategorie einer Einheit dar, die noch die spontansten natürlichen Regungen bestimmt, jedoch nicht repressiv und destruktiv, sondern befreiend, insofern Natur zur Erfüllung gelangt in einem Äußeren, das selbst als Subjekt gedacht ist. Diese an der Antike gewonnene Erfahrung hat Hegels Interesse an dem zentralen Begriff der Schellingschen Naturphilosophie, des Organismus, begründet. Er stellt den Gegenbegriff zu den aus obersten Prinzipien kausalanalytisch deduzierenden Systemen dar, deren Schemata von Über- und Unterordnung sich im Staat als Zwangsinstitution reproduzieren. Ein Organismus ist nach Hegels Meinung im Gegensatz zu dem mechanisch konstruierten Räderwerk von Institutionen als ein System zu betrachten, das durch innere Zweckmäßigkeit belebt ist. Auf den Staat bezogen heißt dies, daß er eine institutionelle Form haben muß, die durch Freiheit ihrer Träger belebt ist.18
In der Sittlichkeit eines Volkes reproduziert sich eine teleologisch gedachte Natur; in dieser gelangt das Individuum zur höchsten Subjektobjektivität; und diese Identität aller ist eben dadurch nicht eine abstrakte, nicht eine Gleichheit der Bürgerlichkeit, sondern eine absolute, und eine angeschaute, im empirischen Bewußtsein, im Bewußtsein der Besonderheit sich darstellende.19
Es macht die Größe der Hegelschen Philosophie der Sittlichkeit – und zumal des Naturrechtsaufsatzes – aus, daß sie die Metaphorik des Organischen zugleich ––––––––– 16 17 18 19
Ebd., S. 159, S. 155 und S. 156. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 427. Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft (Anm. 6), S. 161. Ebd., S. 169.
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entschieden überschreitet und den Bereich des Unorganischen mit ins Auge faßt. Darin überschreitet sie die Zitation der Antike – wie gegen Lypp zu betonen ist – und darin liegt ihre spezifische Differenz zu den theologischen Jugendschriften. Die emphatische Vergegenwärtigung absoluter Sittlichkeit in Jena steht in einem Kontext, der keinen Zweifel über das Prekäre einer Rekonstruktion absoluter Sittlichkeit in der Moderne läßt. Die bahnbrechende Formulierung aus dem ›Frankfurter Systemfragment‹, »das Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung«, erweist sich jetzt als das logische Instrument zur begrifflichen Bewältigung einer dialektischen Struktur der Sittlichkeit, der Hegel erst in Jena sich rückhaltlos stellt.20 Im Naturrechtsaufsatz wird diese Formulierung wieder aufgegriffen, differenziert und zum Leitfaden der Konstruktion absoluter Sittlichkeit erhoben.
Leben als ›Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung‹: Dialektische Struktur von Sittlichkeit Sittlichkeit ist nur als eine Einheitsstruktur denkbar, aber als eine solche differenter Momente, nämlich als »absolute Identität des ideellen und reellen«, der Einheit und Vielheit. Von beiden Momenten absoluter Sittlichkeit, der Einheit wie der Vielheit, deren Identität eben das Absolute ausmacht, gilt, daß sie jeweils beide selbst Einheit des Einen und der Vielen sind. Auf der Ebene der Realität jedoch, »deren ideelle Bestimmung die Vielheit ist«, sind die Gegensätze realiter existent, so daß es hier nicht durchgehend zu einer absoluten, sondern in einem gewissen Bereich nur zu einer relativen Identität kommen kann. Daß in der Realität sowohl die Einheit wie auch die Vielheit jeweils das Erste ist, dieses zweifache Verhältniß bestimmt die gedoppelte Seite der Nothwendigkeit oder der Erscheinung des Absoluten. Da dieses zweifache Verhältniß auf die Vielheit fällt, und wenn wir die Einheit der differenten, welche auf der andern Seite steht, und in welcher jene Realität oder das Viele aufgehoben ist, die Indifferenz nennen, so ist das Absolute die Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses; und weil dieses ein gedoppeltes ist, ist die Erscheinung des Absoluten bestimmt, als Einheit der Indifferenz und desjenigen Verhältnisses, oder derjenigen relativen Identität, in welcher das Viele das Erste, das positive ist, – und als Einheit der Indifferenz und desjenigen Verhältnisses, in welchem die Einheit das Erste und positive ist; jene ist die physische, diese die sittliche Natur. Und da die Indifferenz oder die Einheit die Freyheit, das Verhältniß aber, oder die relative Identität die Nothwendigkeit ist, so ist jede dieser beyden Erscheinungen das Einsseyn und die Indifferenz der Freyheit und der Nothwendigkeit.21
Mittels dieser logischen Formel absoluter Sittlichkeit sucht Hegel nun das zentrale, ungelöst gebliebene Problem aus den Jugendschriften, die Integration der bürgerlichen Gesellschaft in ein System substantieller Sittlichkeit, zu bewältigen. Ihr obliegt nicht weniger als antike Polis-Sittlichkeit und moderne bürgerlich-kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung logisch zu vermitteln. ––––––––– 20 21
Hegel: Theologische Jugendschriften (Anm. 62), S. 348. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 432 f.
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Ausgehend von der im Naturrechtsaufsatz nicht eigens hergeleitete Voraussetzung, »daß die absolute sittliche Totalität nichts anderes als ein Volk ist«, entfaltet Hegel an Hand dieser logisch-dialektischen Grundfigur die innere Struktur der absoluten Sittlichkeit in ihren differenten Momenten.22
Einssein des Einzelnen und des Allgemeinen: Paradigma Tapferkeit Das Einssein des Einzelnen und des Allgemeinen erweist das Individuum – wie bereits in den Jugendschriften –, indem es sich rückhaltlos der Gefahr des Todes für sein Volk aussetzt. Indem Hegel als oberste Einheit der Sittlichkeit das Volk ansetzt, erscheint die Differenz zunächst als ein Verhältnis der Volksindividualitäten zueinander, und zwar positiv als friedliches Nebeneinander, negativ als feindliches Ausschließen im Krieg. Die Rekonstruktion der Einheit im Antagonismus der Völker leistet die Geschichtsphilosophie. Ihr auch ist aufgetragen, jene Notwendigkeit des Krieges zu entwickeln, die in so problematischen Wendungen wie der sittlichen Gesundheit der Völker und der notwendigen Vernichtung positiver Bestimmtheiten des Lebens sich andeutet. In der systematischen Konstruktion der Sittlichkeit an dieser Stelle geht es um die Tugend der Tapferkeit als Paradigma sittlicher Indifferenz in der Sphäre der Realität. Der Fortschritt der Jenenser Philosophie liegt jedoch darin, daß Hegel nun auch die Sphäre relativer Indifferenz systematisch zu rekonstruieren sucht. Das »Verhältniß«, die Realität, so hatte Hegel gezeigt, muß als gedoppelte begriffen werden: »das einemal insofern die Einheit oder das ideelle, das andremal insofern das Viele oder das reelle das erste und herrschende ist.« Jene Herrschaft der Einheit über die Vielheit ist in der Tapferkeit exemplifiziert als Einssein der Individuen mit einer ihr Leben umgreifenden Macht, in die sie sich eingebettet wissen. Die Herrschaft der Vielheit über die Einheit hingegen spielt sich ab in der Welt der »physische[n] Bedürfnisse und Genüsse, die für sich wieder in der Totalität gesetzt, in ihren unendlichen Verwicklungen Einer Nothwendigkeit gehorchen« in dem »System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse, und der Arbeit und Anhäuffung für dieselbe«, wie sie den Gegenstand der Wissenschaft »der sogenannten politischen Oekonomie bilden.«23
–––––––––
22 23
Ebd., S. 449. Ebd., S. 454 und S. 450.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
2.6 ›Aufführung der Tragödie im Sittlichen‹ Übergang zur ›politischen Ökonomie‹ Mit diesem Bereich gerät in die sittliche Organisation ein Moment hinein, das Hegel in Übereinstimmung mit den Jugendschriften nach wie vor als potentiell destruktiv begreift. Das Charakteristische der Jenenser Entwürfe liegt in dem Versuch, diesen problematischen Komplex dem System absoluter Sittlichkeit in immer erneuten Ansätzen dennoch zu inkorporieren. Er bildet dessen negative Seite und kann daher nur in fest umrissener Funktion und unter ständiger Kontrolle partiell am Sittlichen teilhaben. Seine Integration ist nur möglich, sofern verhindert wird, daß er sich »für sich constituire, und eine unabhängige Macht werde«, sondern statt dessen der Herrschaft der »positiven Totalität« unterworfen bleibt. Das »sittliche Ganze [muß] es in dem Gefühl seiner innern Nichtigkeit erhalten, und sein Emporschießen in Beziehung auf die Quantität, und die Bildung zu immer größerer Differenz und Ungleichheit, als worauf seine Natur geht, hindern«. Auf dem Felde bürgerlicher Produktions- und Reproduktionsordnung – und daß Hegel diese spezifische Form im Auge hat, zeigen die folgenden Jenenser Schriften deutlicher als der Naturrechtsaufsatz – ist bestenfalls eine Stufe relativer Indifferenz erreichbar. Sie repräsentiert sich im Recht, in dem »der Besitz Eigenthum, und überhaupt die Besonderheit, auch die lebendige, zugleich als ein Allgemeines bestimmt« wird. Insofern im Recht den formaliter gleichen Rechtssubjekten ihr Besitz als ein rechtlich sanktionierter zuerkannt wird, setzt sich in ihm gegenüber der nackten ökonomischen Partikularität ein Allgemeines durch, in dem sich ein »Reflex des Absoluten« bricht. Das Recht kann jedoch nicht mehr »als eine äußere, formale Gleichheit ausdrücken«.1 Die auf der Stufe formaler Rechtsgleichheit erreichte Stufe relativer Identität als das höchste Gut, auf das die bürgerliche Gesellschaft ihre Mitglieder zu verpflichten weiß, erschöpft für Hegel jedoch keineswegs den Radius vollendeter Sittlichkeit, sondern bildet der Logik der Sittlichkeit gemäß nur deren relatives Moment. Gefordert war, daß die Einheit, welche Indifferenz der entgegengesetzten ist, und sie in sich vernichtet und begreift, und die Einheit, welche nur formale Indifferenz, oder die Identität des Verhältnisses bestehender Realitäten ist, [...] selbst schlechthin als Eines seyn [müssen], durch vollkommene Aufnahme des Verhältnisses in die Indifferenz selbst.2
Wie aber kann die Konstruktion von Sittlichkeit als in sich vollendete Gestalt, d.h. als vernünftige Organisation der Realität, gelingen, solange ein nach der Analogie organischer Strukturen gedachtes Verhältnis absoluter Sittlichkeit mit einem anorganischen Bestandteil behaftet ist, als das Hegel das System der Be––––––––– 1 2
Ebd., S. 450 f. Ebd., S. 453.
›Aufführung der Tragödie im Sittlichen‹
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dürfnisse und der Formen ihrer Befriedigung qualifiziert? Die folgenschwere Antwort Hegels lautet, daß die Realität, in welcher die Sittlichkeit objectiv ist, getheilt sey in einen Theil, welcher absolut in die Indifferenz aufgenommen ist, und in einen, worin das reelle als solches bestehend, also relativ identisch ist und nur den Widerschein der absoluten Sittlichkeit in sich trägt.3
Soziale Klassen verpuppt in Stände Die Idee absoluter Sittlichkeit als absolute Identität des Ideellen und Reellen ist der Vernunft vorbehalten. In der Realität kommt es nur noch partiell zur Ausbildung eines Verhältnisses absoluter Sittlichkeit; der gesamte Mechanismus der materiellen Reproduktion einer Gesellschaft ist nur in beschränktem Umfange daran beteiligt. Die Realität spaltet sich in einen »Stand der Freyen« und in einen »Stand der nicht freyen«. Nur in ersterem realisiert sich ein Verhältnis totaler Indifferenz, ein gelungenes Verhältnis organischer, gestalthafter Sittlichkeit. Nur dieser Stand ist befreit von der Arbeit zur Befriedigung der Bedürfnisse des Einzelnen wie des Ganzen. Seine »Arbeit« zielt nicht »auf das Vernichten einzelner Bestimmtheiten« und die Schaffung einzelner Produkte, sondern »das Seyn und die Erhaltung des Ganzen der sittlichen Organisation« – und dies gegebenenfalls auch unter Einsatz und Opfer des Lebens. Dieser Stand bewährt die Tugend der Tapferkeit. Er ist derjenige, von dem Hegel in den Jugendschriften als dem Träger der antiken Sittlichkeit gesprochen hatte, der Stand des polites, für den »in und mit und für sein Volk leben, ein allgemeines dem öffentlichen ganz gehöriges Leben führen«, den Sinn seines Daseins ausmacht. Ihm ist die Spaltung in öffentliche und private Existenz unbekannt, und nur in ihm stellt sich daher absolute Sittlichkeit als Einheit des Individuums mit dem Ganzen dar.4 Den Stand des Unfreien bilden Bürger und Bauern. Das Bauerntum, das »in der Rohheit seiner nicht bildenden Arbeit nur mit der Erde als Element zu thun und dessen Arbeit das Ganze des Bedürfnisses im unmittelbaren Object ohne Zwischenglieder vor sich hat, also selbst eine gediegene Totalität und Indifferenz wie ein Element ist«, erhält sich die »Möglichkeit formeller absoluter Sittlichkeit, der Tapferkeit und eines gewaltsamen Todes« und bildet daher eine Stütze für den ersten Stand. Hegels Interesse gilt jedoch nicht ihm, sondern im Abschluß an die Jugendschriften und im Zusammenhang der vorliegenden Argumentation dem des Bürgertums, das »in der Differenz des Bedürfnisses und der Arbeit, und im Rechte und der Gerechtigkeit des Besitzes und Eigenthumes ist; dessen Arbeit auf die Einzelheit geht, und also die Gefahr des Todes nicht in sich schließt.«5 Der –––––––––
3 4 5
Ebd., S. 454. Ebd., S. 455. Ebd.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
›zweite Stand‹, das Bürgertum, das Hegel – wie in den Jugendschriften seinem Gewährsmann Gibbon folgend – im römischen Reich im Zuge eines Egalisierungsprozesses zur Herrschaft gelangen sieht, besitzt nicht mehr jenen öffentlichen Mut des Bürgertums der antiken Stadtstaaten; die »matte Gleichgültigkeit des Privatlebens« beginnt sich auszubreiten.6 Formelle rechtliche Einheit und Gleichheit setzt sich durch. Dieses Privatrecht fixiert die Individuen nur in ihrem Einzelnsein, wirft sie zurück auf Besitz und Privateigentum, statt sie in einem Allgemeinen zu verbinden.
›Politische Nullität‹ Das ist genau die Charakteristik, die Hegel auch in den Jugendschriften gegeben hatte. Doch jetzt in Jena ist es ihm nicht länger möglich, dieses »System von Eigenthum und Recht, das um jenes Festseyns der Einzelnheit willen in nichts absolutem und ewigem, sondern ganz im endlichen und formellen ist«, der antiken Sittlichkeit entgegenzusetzen und ihre Überwindung im Zuge einer Restituierung der ihr vorangegangenen Form zu erhoffen. Es muß in das System der Sittlichkeit eingebracht werden – immerhin hat es die Aufhebung des Sklaventums gebracht –, ohne die sittliche Organisation (wie in der Antike) zu zerstören. Den Ausweg glaubt Hegel in einer strengen Trennung der ökonomischen und der ihr zugeordneten rechtlichen von der öffentlichpolitischen Sphäre zu finden. Es bestimmt sich hienach die Potenz dieses Standes so, daß er in dem Besitz überhaupt und in der Gerechtigkeit, die hierin über Besitz möglich ist, sich befindet, daß er zugleich ein zusammenhängendes System constituire, und unmittelbar dadurch, daß das Verhältniß des Besitzes in die formelle Einheit aufgenommen ist, jeder einzelne, da er an sich eines Besitzes fähig ist, gegen Alle, als allgemeines, oder als Bürger, in dem Sinne als bourgeois, sich verhält [...].7
Diese Absonderung der Bourgeoisie von allen sittlichen, öffentlichen Aufgaben besiegelt nur einen Zug, den Hegel von jeher als den ihr wesentlichen ausgemacht hatte, ihre »politische Nullität«.8 Sie ist das Komplement zur Privatheit der Bourgeoisie. Für die ihr historisch widerfahrene und von Hegel in seiner Philosophie der Sittlichkeit bewußt verordnete politische Abstinenz entschädigt sie sich durch das Streben nach Besitz und dessen ungestörten Genuß. Voraussetzung dafür ist nicht nur dessen rechtliche Sanktionierung als Eigentum, sondern auch dessen Schutz vor Zerstörung im Krieg. Die Bourgeoisie verliert mit ihrem Eigentum und ihrem daran haftenden Leben im Krieg alles, weil sie keinen Zweck jenseits von Privatbesitz und Lebensgenuß anzuerkennen imstande ist. Die Delegation der Sicherung des Friedens an einen besonderen ›Stand‹, dessen Sorge auf das Allgemeine geht, bildet daher für Hegel das den ––––––––– 6 7 8
Ebd., S. 457. Ebd., S. 457 f. Ebd., S. 458.
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Bedürfnissen der Bourgeoisie entsprechende Äquivalent dafür, daß es zusammen mit dem Bauerntum die materielle Reproduktion des Gemeinwesens sicherstellt und den ersten Stand davon befreit.
›Aufführung der Tragödie im Sittlichen‹ Die Metapher von der »Aufführung der Tragödie im sittlichen«, die Hegel in diesem Zusammenhang einführt, offenbart und mystifiziert zugleich die Tiefendimension dieser neuen Konzeption.9 Signalisiert ist in der Metapher, daß Hegel in Jena endgültig den ihn mit Hölderlin verbindenden Traum der renovatio konfliktloser, schöner Sittlichkeit hat revidieren müssen. Nur am Rande und niemals als grundlegendes Problem war in den Jugendschriften erörtert worden, daß die antike Polis-Sittlichkeit ihre ökonomische Basis in der Arbeit von Sklaven besessen hatte. Das, »wofür die Griechen den Nahmen politevein hatten«, die Praxis als Hingabe des Lebens an die öffentlichen Angelegenheiten und die Theorie im Gefolge gelungenen öffentlichen Lebens als einer Einheit, beides war nur den von der Last ökonomischer Reproduktion befreiten Bürgern möglich und hatte Sklavenarbeit zur Voraussetzung.10 Die schattenlose Leuchtkraft des Bildes der antiken Polis in den Jugendschriften rührt eben von dem Umstand her, daß dieses zweite Moment abgeblendet wurde. Geschichte konnte im Modus des Verfalls begriffen werden; an einen schlechterdings idealen Zustand schließt sich eine Periode des Zerfalls substantieller Sittlichkeit an. Dieses Verfallsschema wird in dem Moment außer Kraft gesetzt, in dem die ehemals ausgeklammerte Perspektive auf die ökonomische Basis ins Blickfeld rückt. In dem Maße, wie Hegel sich schon in Frankfurt und vollends dann in Jena der Produktionsformen anläßlich des Studiums der englischen Nationalökonomen bewußt wird, konkretisiert sich auch das Bild der Antike um den ökonomischen Bereich. Die Schatten der materiellen Reproduktion, die Hegel seit je in der nachantiken bürgerlichen Gesellschaft wahrgenommen hatte, legen sich nun auch über die Antike. Die Differenz zwischen antiker und moderner bürgerlicher Gesellschaft hat jetzt ihr Kennzeichen darin, daß das Herrschaftsverhältnis in der Antike eines zwischen einzelnen, mit ungleichen Rechten ausgestatteten Individuen war, in der Moderne hingegen eines zwischen rechtsgleichen Personen.11 Darin manifestiert sich ein Fortschritt, der es verbietet, die antike Polis weiterhin als Paradigma vollkommener Sittlichkeit zu zitieren. ––––––––– 9
10 11
Ebd. Zu diesem berühmten Bild vgl. außer der angegebenen Literatur auch Adrien T.B. Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde.- La Haye: Nijhoff 1960, S. 52 ff.; Wolf-Dieter Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine Studie zu Hegels Dialektik.- München: Kaiser 1965 (= Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus. Reihe 10; 31), S. 136 ff. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 455. Vgl. ebd., S. 456 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Opferhandlung in der Moderne Auf der anderen Seite hält Hegel daran fest, daß Sittlichkeit sich nicht in Ökonomie und Privatrecht erschöpfen kann. Diese Erfahrung, die Hegel an der Antike zuteil geworden war, wird in der Jenaer Konzeption ebensowenig wie in der späteren Konzeption der Rechtsphilosophie einfach gelöscht. Der Vermittlung antiker mit spezifisch nachantiken Momenten ist jedoch eine Dialektik eingezeichnet, wie sie die Metapher von der ›Tragödie im Sittlichen‹ festhält. Die Rettung von Sittlichkeit wird im Naturrechtsaufsatz an die Kategorie des Opfers gebunden, denn anders »kann die sittliche Organisation in der Realität sich nicht rein erhalten«.12 Das Opfer besteht in der Anerkennung sowohl der Notwendigkeit wie des Rechts des Systems der Bedürfnisse von Seiten der Sittlichkeit als ihrer eigenen »unorganischen Natur«. Die Anerkennung dieser ›unterirdischen Mächte‹ bildet die Voraussetzung für die Möglichkeit der Versöhnung mit ihnen. Nur indem sie in ihrer Gewalt anerkannt und eben wegen ihrer Gewalt vom organischen Leib der Sittlichkeit abgetrennt werden, vermag die Verstrickung der sittlichen Mächte in die sie bedrohenden subkutanen Gewalten gelöst zu werden. Indem »die constituirte und bewußte Sonderung« statthat und der »Vermischung der Principien« ein Ende gesetzt wird, erhält jedes sein Recht, und es ist allein dasjenige zu Stande gebracht, was seyn soll, die Realität der Sittlichkeit als absoluter Indifferenz, und zugleich ebenderselben als des reellen Verhältnisses im bestehenden Gegensatze, so daß das letztere von dem erstern bezwungen ist, und daß dieses Bezwingen selbst indifferentiiert und versöhnt ist.13
Damit aber geht auch in die Hegelsche Sittlichkeit ein Moment der Gewalt ein, das er seinen Vorgängern vorgeworfen hatte. Sittlichkeit sollte ein organisches Ganzes sein. Jede Absonderung eines Teiles davon in Anbetracht seines schädigenden ›unorganischen‹ Charakters ist eine Absonderung vom Leib der Sittlichkeit selbst. Dieser opfert einen Teil seiner selbst, um sich als Ganzes rein zu erhalten. In diesem Opfer gibt Sittlichkeit von ihrem eigenen Leben, denn dieses ist unlöslich an sein anderes, die ›zweyte Natur‹ gebunden: »in diesem Tode, als der Aufopferung der zweyten Natur, ist der Tod bezwungen«.14 Das sittliche Allgemeine hat das ganze System der Bedürfnisse von den eigentlichen sittlichen Pflichten des Regierens und des Schutzes der Mitglieder eines sittlichen Verbandes nach außen hin fernzuhalten. Der naturwüchsig fortwuchernde Reproduktionsapparat, unerläßlich als ökonomische Basis der sittlichen Gemeinschaft, wird geopfert, indem er von substantieller Sittlichkeit abgetrennt und einer scharfen Kontrolle unterworfen wird, so daß seine Tendenz zu endloser Ausdehnung gewaltsam verhindert wird. Den Mitgliedern der Reproduktionssphäre sind substantielle sittliche Akte nicht möglich. Ein Konnex zwischen den Bereichen absoluter und relativer Sitt––––––––– 12 13 14
Ebd., S. 454. Ebd., S. 458. Ebd., S. 459.
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lichkeit kommt überhaupt gar nicht mehr in gemeinsamer Aktion zustande. Das Absolute ist den zur materiellen Reproduktion verurteilten Schichten nur noch als Reflex im Bewußtsein gegenwärtig. Hinblickend auf die Leistungen des ›ersten Standes‹ erhebt auch der niedere sich zur Anschauung absoluter Sittlichkeit, die ihm in der eignen Lebenspraxis verwehrt ist. Unfähig, im Bereich der Bedürfnisse selbst andere als formalrechtliche Gleichheit herzustellen, in der das Individuelle nur als Vernichtetes eingeht, partizipiert er am Absoluten, indem die Sittlichkeit des ersten Standes in ihn »hineinscheint« und er darin »durch den Geist das göttliche, als ein sich fremdes anschaut.«15 Die Einheit wird statt in die Interaktion eines lebendigen Ganzen in das Bewußtsein zurückverlegt.
Komödie und Tragödie sozialphilosophisch gewendet Das fehlende Bewußtsein für diesen in die Sittlichkeit eingezeichneten tragischen Zug kennzeichnet die Komödie, die für Hegel in ihren beiden Spielarten eben deshalb nicht geeignet ist, das Wesen des Sittlichen darzustellen. Die vormoderne »göttliche Komödie« kennt eine Entzweiung im Sittlichen nicht. Sie bewegt sich immer schon im Medium des Absoluten; nur »Schattenbilder von Gegensätzen oder Scherze von Kämpfern mit einem gemachten Schicksal und erdichteten Feinde« sind ihr zugänglich. Wahrhafter Kampf ist deshalb ausgeschlossen, weil in ihr »die absolute Zuversicht und Gewißheit der Realität des Absoluten ohne Gegensatz« lebt. Was als Gegensatz und Bewegung in diese »vollkommene Sicherheit und Ruhe« hineingelangt, ist von vornherein keine die sittliche Organisation in ihren Fundamenten gefährdende Macht. Die antike Sittlichkeit repräsentiert solch eine »göttliche Komödie«. Die antike Polis, »sich selbst für unüberwindlich, den Verlust für nichts achtend, der absoluten Herrschaft über jede Eigenheit und Ausschweifung gewiß«, kann die aus ihr hervorgehenden Talente in ihrer vollen Individualität sich entfalten lassen, »ihrer selbst sicher, daß solche göttliche Monstruositäten der Schönheit ihrer Gestalt nicht schaden, sondern komische Züge sind, die einen Moment ihrer Gestalt erheitern«. Ihr Tod kündigt sich in der Gestalt des Sokrates an; mit der Unendlichkeit des Selbstbewußtseins gebiert die sittliche Organisation ein Prinzip, das sie transzendiert und erst im nachhinein als ihr »übermächtig werdendes Schicksal« begreift, welches ihren Untergang herbeiführt.16 Fehlt der göttlichen Komödie das Bewußtsein des Tragischen auf Grund einer intakten sittlichen Struktur, so der modernen, weil sie gar kein Wissen und gar keine wahrhafte Sittlichkeit besitzt. Die moderne Komödie wird durch die nachantike bürgerliche Gesellschaft aufgeführt, die den als Eigentum per Recht garantierten Besitz absolut setzt. Es geht nur darum, »seine Habseligkeiten durch Tractate und Verträge und alle erdenklichen Verklausulirungen zu etwas sicherem und gewissem« zu erheben, dafür die »tiefsinnigsten Räsonnements« zu ––––––––– 15 16
Ebd. Ebd., S. 459 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
bemühen und diese wieder über Bord zu werfen, sobald sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Daß es andere Zwecke als die des Erwerbs geben könnte, liegt außerhalb des Horizontes dieser Gesellschaft, das Wahre ist ihr nichts anderes als eine »Täuschung«.17 Nur unter der Metapher der Tragödie, nicht der der Komödie, ist daher das Wesen des Sittlichen für Hegel zu verkörpern. Nur sie vermag Zeugnis zu geben von den Abgründen, die sich eröffneten, nachdem Hegel sich Rechenschaft darüber gegeben hatte, daß das schöne sittliche Leben nicht nur unwiederbringlich vergangen, sondern auch nicht wiederherstellungswürdig war, und die ihr nachfolgende bürgerliche Gesellschaft zwar partielle rechtliche Fortschritte mit sich brachte, andererseits jedoch Antagonismen in sich barg, die geeignet waren, das Reich der Sittlichkeit endgültig in eines der Illusionen zu verwandeln. Sittlichkeit sollte nach der Konzeption der Jugendschriften ein alle Mitglieder eines sittlichen Organismus einendes Band sein. Dieser Anspruch ist nicht aufgegeben, aber doch tiefgreifend modifiziert. Sittlichkeit kann nicht länger als ein homogenes Ganzes gedacht werden, sondern ist in sich gespalten. Der ganze mit der Produktion und Handel befaßte Sektor ist außerstande, Handlungsnormen zu entfalten, die der Forderung absoluter Sittlichkeit, d.h. vernünftiger Gestaltung der Realität, Genüge zu tun vermöchten. Bruchlose Einheit wäre nur zu erzielen, wenn Hegel der antiken Klassengesellschaft eine egalitäre bürgerliche Gesellschaft von Privatrechtssubjekten gegenübergestellt hätte. Ein solches, stringent von Kant entwickeltes Modell bezeichnet für Hegel jedoch endgültig den Abschied von substantieller Sittlichkeit. Sein nach ›Ständen‹ gestaffeltes Modell sucht den Bedingungen der Moderne Rechnung zu tragen durch Integration der bürgerlichen Gesellschaft, ohne doch zu verraten, was ihm an Erfahrung von Sittlichkeit angesichts der Antike zuteil geworden war. Die Spuren der Erinnerung an die attische Demokratie sollen in seiner Philosophie der Sittlichkeit nicht getilgt werden, und doch sind sie mit einer Basis zu vermitteln, die solche Erinnerung im gleichen Moment dementiert. Dieses Paradoxon flektiert sich in der Metapher der ›Tragödie im Sittlichen‹. Indem Hegel sie prägt, unterwirft er die bürgerliche Gesellschaft einer Kritik, wie sie schärfer nicht ausfallen könnte. Daran gegen die liberale Hegel-Exegese erinnert zu haben, macht die Größe des Lukácsschen Werkes über den jungen Hegel aus. Daß Hegel die Aufführung der Tragödie im Sittlichen jedoch als eine immerwährende ansieht, die »das Absolute ewig mit sich selbst spielt«, zeigt an, daß er die bürgerliche Produktionsform als ›zweite Natur‹ zu etwas ewigem hypostasierte, statt auch sie als geschichtlich produzierte und also zugleich als veränderbare zu begreifen.18 Die Metapher schwindet bereits mit dem nachfolgenden Werk, dem ›System der Sittlichkeit‹, aus Hegels Sozialphilosophie. Die darin gesetzte Mystifikation, daß Sittlichkeit auf immer mit einem unorganischen, in das Reich der Sittlich––––––––– 17 18
Ebd., S. 461. Ebd., S. 458.
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keit nicht bruchlos zu integrierenden Bestandteil behaftet sei, hat Hegel bis zum Schluß nicht enthüllen können, weil ihm – wie seinen englischen Vorbildern – eine Perspektive jenseits der bürgerlichen Ökonomie versagt war.
Dissoziierung der sittlichen Substanz im Prozeß der Arbeit Schon im ›System der Sittlichkeit‹, das im Anschluß an den Naturrechtsaufsatz geschrieben wurde, ist – wie erwähnt – die Metapher von der ›Tragödie im Sittlichen‹ getilgt. Gleichwohl ist auch hier die Sittlichkeit von Konflikten durchzogen, die selbst dadurch nicht zu schlichten waren, daß Hegel sie nicht länger »an der ästhetischen Gestalt der Sittlichkeit« sich vollziehen läßt, sondern in einem neuen Konstruktionsprinzip zu vermitteln sucht.19 Die Differenzierung der sittlichen Organisation in verschiedene ›Stände‹ bleibt derart gewahrt, daß weiterhin nur dem obersten ›Stand‹ vermöge der öffentlichen Tugend der Tapferkeit uneingeschränkt sittliches Handeln zugestanden wird; das Bauerntum und vor allem das Bürgertum bleibt davon ausgeschlossen. Ihre gegenseitige Vermischung wäre »die Formlosigkeit des natürlich Sittlichen und Weisheitslosen.«20 Der erste Stand, dessen Arbeit »nur eine allgemeine sein« darf, muß eine Reproduktionsbasis außerhalb seiner haben, denn »die Arbeit für das Bedürfnis wäre eine einzelne« und damit nur partiell sittliche. Wiederum ist ein niederer Stand dazu verurteilt, die materielle Versorgung sicherzustellen, ohne Formen der Interaktion entwickeln zu können, in denen das Prinzip der Vereinzelung und damit der nur relativen Sittlichkeit durchbrochen würde. Der dem Volk Sicherheit gewährende Stand stellt für die anderen »das Bild des sich bewegenden und seienden Absoluten, die höchste reale Anschauung, welche die sittliche Natur verlangt.«21 Absolute Sittlichkeit bleibt für einen Großteil der Bürger weiterhin ein kontemplativer Akt. Keinen Zweifel hat Hegel auch in dieser Schrift über den Sinn der bewußten Dissoziierung der sittlichen Substanz gelassen, die sich erneut in der Metaphorik von organischer und anorganischer Natur bekundet. Erheben sich die niederen Stände anschauend zum Absoluten und partizipieren damit an absoluter Sittlichkeit, so individualisiert sich der obere Stand gerade dadurch, daß er sich von den niederen »getrennt setzt und das Gefühl seiner hohen Individualität oder den Stolz erhält, der als Bewußtsein des Edeln im Innern das Bewußtsein des Unedeln und das Tun des Unedeln, was eben dasselbe ist, abhält.«22 Unbefleckte Sittlichkeit ist nur unter Abschirmung von der Sphäre materieller Produktion möglich. Das aber hat seinen Grund in den Spezifika dieser Produktionsform, die Hegel im ›System der Sittlichkeit‹ nun erstmals detailliert entfaltet. ––––––––– 19
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Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft (Anm. 6), S. 176; vgl. ebd. S. 176 f. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 62. Ebd., S. 64 f. Ebd., S. 70.
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Exposition der Kategorie ›System der Bedürfnisse‹ und Philosophie der Arbeit Und zwar geschieht dies im dritten Teil des ›Systems der Sittlichkeit‹ unter dem bis in das Spätwerk hinein beibehaltenen Titel ›System der Bedürfnisse‹. In diesem Abschnitt geht es um die im Bereich der Produktion sich auftuenden Widersprüche und die Möglichkeiten ihrer Schlichtung. Arbeit als entscheidende Kategorie des Vermittlungsprozesses zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung war jedoch schon früher im ersten Teil der Schrift, der den Strukturen ›natürlicher‹ Sittlichkeit gewidmet ist, eingeführt worden. Die grundlegenden Bestimmungen aus diesem ersten Teil sind hier in aller Kürze zunächst heranzuziehen, ohne daß das komplizierte Verfahren der wechselseitigen Subsumption von Anschauung und Begriff, das Hegel im Gefolge von Schellings Potenzenlehre zur Konstruktion der Sittlichkeit in Anwendung bringt, im einzelnen nachgezeichnet werden müßte.23 Arbeit wird auf der Ebene natürlicher Sittlichkeit eingeführt als die nächsthöhere Form der Aneignung des Objekts gegenüber dessen »absolute[r] Vernichtung« im sinnlichen Genuß als Befriedigung der Begierde, mittels derer die Trennung vom begehrten Objekt aufgehoben wird. Im Arbeitsprozeß verändern Mensch und Natur sich gleichermaßen.24 In der Arbeit »differenziert sich des Menschen Bedürfnis-Natur«;25 der Genuß ist »gehemmt, und aufgeschoben, er wird ideell.« Das Objekt wird nicht mehr nur vernichtet, sondern in der Bearbeitung umgestaltet, »so daß ein andres an seine Stelle gesetzt wird«.26 Statt unmittelbar konsumiert zu werden, wird der Gegenstand vom Subjekt außer sich gehalten, indem es ihn bearbeitet. Gegenüber der rein manuell ausgeführten Arbeit stellt die per Werkzeug betriebene eine nächsthöhere Stufe dar. Das Werkzeug bildet im Arbeitsprozeß die bleibende Mitte zwischen Mensch und Natur – so wie das Kind in der Ehe der Gatten und die Sprache als ›Werkzeug der Vernunft‹ zwischen den intelligenten Wesen.27 »Nach einer Seite ist es subjektiv, in der Gewalt des arbeitenden Sub––––––––– 23
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Vgl. zur Charakteristik der einzelnen Potenzen Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft (Anm. 225), S. 141 ff.; Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 216 ff. Vgl. auch die knappe Charakteristik bei Marcuse: Vernunft und Revolution (Anm. 61), S. 60 f. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 11. Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft (Anm. 225), S. 142. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 12 f. Zum Begriff des ›Werkzeugs‹ vgl. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 20 ff.– Zum Begriff der ›Mitte‹ in Hegels Jenenser Philosophie des Geistes vgl. Jürgen Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie des Geistes‹.- In: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Red.: Hermann Braun, Manfred Riedel.- Stuttgart [etc.]: Kohlhammer 1967, S. 132–155. Wieder abgedruckt in ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. 4. Aufl.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970 (= edition suhrkamp; 287), S. 9–47. Vgl. von Habermas auch die weitere grundlegende Untersuchung: Hegels Kritik der Französischen Revolution.- In: ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1963 (= Politica; 11), S. 89–107.
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jekts, und ganz bestimmt durch dasselbe, zubereitet und bearbeitet, nach der andern objektiv gegen den Gegenstand der Arbeit gerichtet.«28 In der primitivsten, rein manuellen Arbeit ist »die Unterwerfung des Subjekts unter die Gewalt der äußeren Natur« am intensivsten.29 »Hand und Geist wird stumpf durch sie, d.h. sie nehmen selbst die Natur des Negativen und Formlosen an, sowie auf der andern Seite [...] die Arbeit ein schlechthin einzelnes Subjektives ist.« Im Werkzeug jedoch trennt das Subjekt sein »Stumpfwerden«, diese Angleichung seiner selbst ans Objekt, ab, »gibt ein anderes der Vernichtung hin, und wälzt auf es den subjektiven Teil derselben«. Zugleich wird die Vereinzelung der Arbeit aufgehoben. Im Werkzeug – so wird in der ›Realphilosophie‹ von 1803/04 ausgeführt – erben sich Traditionen fort und arbeiten Generationen an seiner Verfeinerung. Mit dem Werkzeug kann jedermann die gleiche Arbeit verrichten; »es ist insofern die beständige Regel der Arbeit.«30 Dieser Charakter der Allgemeinheit der Arbeit vergrößert sich in der maschinellen Arbeit. Sie ist allgemeine, insofern das jetzt endgültig auf bestimmte Arbeiten spezialisierte Individuum zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf die Allgemeinheit ebenso angewiesen ist wie diese auf jenes. Die Produktion erfolgt nicht mehr für ein individuelles, sondern für ein allgemeines Bedürfnis; umgekehrt verliert die Reproduktion ihre individuelle bzw. familiäre Autarkie. Die Produktion wird allgemeine, indem das Produkt aus der Zusammenfassung vieler spezieller mechanischer Arbeitsgänge hervorgeht. In dieser Abstumpfung der mechanischen Arbeit liegt aber unmittelbar die Möglichkeit, sich ganz von ihr abzutrennen; weil die Arbeit ganz quantitativ ohne Mannigfaltigkeit ist [...], so kann ein absolut Äußeres, ein Ding, durch sein Sichgleichsein und ebenso in seiner Arbeit als seine Bewegung gebraucht werden [...] und das Werkzeug geht in die Maschine über [...].31
Genese des rechtsfähigen Subjekts aus dem Prozeß der Arbeit Mit dieser arbeitsteiligen maschinellen Produktionsform in der Abhängigkeit aller von allen wird das Subjekt »in die Form der Allgemeinheit aufgenommen«. Es wird allgemeines, indem es rechtsfähig wird. Im Recht wird das Subjekt auf Grund seiner Arbeit als ein rechtmäßig Besitzender, als Eigentümer anerkannt. »Recht an Eigentum ist Recht an Recht;«32 es rührt nicht aus besonderen individuellen Qualitäten, sondern aus der Teilnahme am allgemeinen Arbeitsprozeß. –––––––––
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Es handelt sich um eine systematische und kritische Rekonstruktion von entscheidenden Passagen aus den Jenenser Schriften und der Rechtsphilosophie Hegels unter besonderer Berücksichtigung von Hegels Philosophie des Geistes, der Sittlichkeit und Subjektivität sowie des Naturrechts und des Rechts. Der Anlaß der Schrift – Hegels Kritik der französischen Revolution (siehe dazu Anm. 295) – wird also weit überschritten. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 20. Habermas: Arbeit und Interaktion (Anm. 243), S. 26. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 20. Ebd., S. 25 f. Ebd., S. 26 f.
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Und so wie die Individuen als formell gleiche Rechtssubjekte anerkannt werden, so reflektiert sich Recht an Dingen als »Gleichheit mit andern«, die unter Absehung von ihrem natürlichen, individuellen Charakter in Wert und Preis auszudrücken ist. Im Tausch nehmen die Mitglieder der Gesellschaft eine Verwandlung des »ideal-objektiv bezogenen, in ein subjektiv, fürs Bedürfnis bezogenes vor.«33 Das im Arbeitsvorgang vom Genuß ferngehaltene Objekt kehrt in die Sphäre der Konsumption zurück. Rechtlich gesichert wird der Tausch im Vertrag. Durch ihn wird das Empirische des Übergangs der Tauschobjekte zu einem Zufälligen. Das »Auseinandertreten der beiderseitigen Leistung in der Erscheinung, die Einheit der Gegenwart [wird] gleichgültig und ein Zufälliges, das der Sicherheit des Ganzen nichts schadet«. Das Individuum erscheint als das unter das »absolut Allgemeine« Subsumierte.34 Diese aus dem Prozeß der Naturaneignung hervorgehende und an ihn gebundene Rechtsordnung gipfelt in der Anerkennung des Individuums nicht als eines Eigentümers von Dingen, sondern als Person (»absolute Subjektivität«), als eines freien Wesens, dessen Freiheit darin besteht, »das Gegenteil seiner selbst in bezug auf eine Bestimmtheit zu sein [...]; es ist in dieser Freiheit also ebensogut die Möglichkeit des Nichtanerkennens, und der Nichtfreiheit gesetzt.«35
Negation von Sittlichkeit: Das Verbrechen und die absolute Freiheit Diese Möglichkeit entwickelt Hegel unter dem Titel ›Das Negative oder die Freiheit oder das Verbrechen‹ im zweiten Teil des ›Systems der Sittlichkeit‹. Dieser hat in der Gesamtkonstruktion der Arbeit die Funktion inne, ›natürliche‹ Sittlichkeit, wie sie im ersten Teil entfaltet worden ist, zu negieren. Diese wird auch von ›absoluter‹ Sittlichkeit, deren Darstellung der dritte und letzte Teil des ›Systems‹ gewidmet ist, negiert. Der Unterschied liegt in der Art und Weise der Aufhebung. Absolute Sittlichkeit erhebt sich über die in der natürlichen Sittlichkeit vorliegenden Bestimmtheiten »dadurch, daß es sie aufhebt, aber so, daß es sie in einem Höhern mit ihrem Entgegengesetzten vereinigt«. Sie läßt es nicht als etwas bestehen, das nun mit einer negativen Bedeutung behaftet wäre, sondern hebt es auf in der »vollkommene[n] Identität«. Die Aufhebung jedoch, die Hegel im zweiten Teil im Auge hat und deren Charakteristik der Position des kritisch-formellen Naturrechts ähnelt, überwindet die Gegensätze nicht. Das Bestimmte, und damit Einzelne, wird mit dem Ideellen, Unendlichen konfrontiert, jenes als Ideelles gesetzt, d.h. »ins Unendliche aufgenommen, aber so, daß die Endlichkeit schlechthin bestehen bleibt.«36 ––––––––– 33 34 35 36
Ebd., S. 29. Ebd., S. 31. Ebd., S. 33. Ebd., S. 39.
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Genau das hatte Hegel auch an den Systemen Kants und Fichtes kritisiert. Geht er von dieser Feststellung über zur Deduktion des Mordes, so könnte darin eine unerhörte Radikalisierung der Kritik seiner Vorgänger erblickt werden. Das Bestimmte, Einzelne war in diesen Systemen einerseits als das Bestehende, nicht weiter Ableitbare hingenommen, andererseits vor dem Anspruch der Vernunft als das Nichtige und zu Unterwerfende erklärt worden. Auch für den Mörder ist Leben nicht ein Sittliches, sondern ein gleichgültiges Einzelnes und als solches vernichtenswürdig. Indes geht es Hegel im vorliegenden Zusammenhang nur um die falsche Negation aller auf der Ebene natürlicher Sittlichkeit gewonnenen Bestimmungen, die man schwerlich zugleich als Kritik an seinen Vorgängern wird auffassen dürfen. So wird der durch Arbeit geformten Natur in der Negation ihre zwecklose Zerstörung entgegengesetzt, der Anerkennung erarbeiteten Besitzes die Negation dieser Anerkennung in Raub und Diebstahl, der Anerkennung des Lebens seine Verweigerung im Mord und der Bestimmtheit natürlicher Sittlichkeit die Beleidigung der geistigen Ganzheit der Person, ihrer Ehre.37 ›Absolute Sittlichkeit‹, wie sie im dritten Teil entwickelt wird, in dem auch das ›System der Bedürfnisse‹ seinen Platz hat, muß ihrerseits als Negation absoluter Freiheit bzw. des Verbrechens eingeführt werden. Der Aufbau des Gesamtwerks folgt also dem Prinzip der einfachen und der doppelten Negation. Die Potenzen der natürlichen Sittlichkeit [...] können als solche noch nicht sicherstellen, daß es zur Verwirklichung der Sittlichkeit in den Sitten des Volkes kommt. [...] Es gibt die Möglichkeit der absoluten Negation der natürlichen Sittlichkeit durch die reine Freiheit des Verbrechens.
Absolute Sittlichkeit kann nur gedacht werden, »indem die absolut Entgegengesetzten: natürliche Sittlichkeit und reine Freiheit miteinander zur Einheit verbunden werden.«38
Volk als Garant von Sittlichkeit In der Sphäre ›natürlichen‹ Sittlichkeit ist diese Einheit nur ein ›Trieb‹. Sie ist noch kein wahrhaft Absolutes, weil dieses »als inneres Leben nicht zugleich unter der Form des Entgegengesetzten, Äußern vorhanden ist.« Die Mannigfaltigkeit tritt in diesem Verhältnis an die Oberfläche; die Einheit bleibt als ein nur Inneres bzw. über den Einzelnen Schwebendes verborgen. Eine Absolutheitsstruktur liegt jedoch nur dort vor, wo ein Inneres, Ideelles sich im Äußeren, Reellen restlos verwirklicht hat, so daß es sich in ihm anzuschauen vermag und die Wirklichkeit nicht länger als fremde sich gegenüber hat. Die »Idee der absoluten Sittlichkeit [ist] das Zurücknehmen der absoluten Realität in sich, als in eine Einheit, so daß dieses Zurücknehmen und diese Ein–––––––––
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Zu den Einzelheiten vgl. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 235 f. Ebd., S. 237.
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heit absolute Totalität ist; ihre Anschauung ist ein absolutes Volk; ihr Begriff ist das absolute Einssein der Individualitäten.«39 Im Volk als lebendiger Indifferenz wird »im empirischen Bewußtsein angeschaut, was die logische Struktur des Ganzen der Welt bildet, daß sich Anschauung und Begriff, Allgemeines und Besonderes in der ›absoluten Idee‹ vereinigen.«40 Daß Anschauung hier dem Allgemeinen zugeordnet wird, rührt daher, daß die vorausgesetzte Allgemeinheit als Volk zu denken ist, welches in der Anschauung erfaßt wird. Die Besonderung dieses Allgemeinen als Anschauung vollzieht sich im ›absoluten Begriff‹, in dem das Einssein der Individualitäten mit dem Allgemeinen in den verschiedensten sittlichen Organisationsformen ausgewiesen wird; er ist die Besonderung des Allgemeinen.41 Wurde das Individuelle, Besondere als ein Nichtiges negiert und folgerichtig im Verbrechen dann auch physisch liquidiert, so ist es einem gelungenen sittlichen Verhältnis wahrhaft gerettet, nämlich einbezogen in Institutionen und Traditionen, die es überdauern, und die es nicht vergewaltigen, sondern mit denen es sich als sittlichen freiwillig identifiziert. Absolute Sittlichkeit ist ein »sich Objektivsein und Anschauen des Individuums in dem fremden, also die Aufhebung der natürlichen Bestimmtheit und Gestaltung, völlige Indifferenz des Selbstgenusses.« Derart ist das Individuum »wahrhaft unendlich, denn alle seine Bestimmtheit ist vernichtet«. Alles kommt jedoch darauf an, den Hegelschen Begriff der ›Vernichtung‹ abzugrenzen gegen den der abstrakten Entwürfe der kritischen Moralphilosophie. Intendiert ist eine Vernichtung als Aufhebung, und eine solche kann nur vollzogen werden in Organisationen, die den nämlichen Charakter wie die vernünftigen Individuen haben. Sittlichkeit meint, daß »das lebendige Wesen, als Gegenteil seiner selbst, als Objekt, dies Objekt selbst absolute Lebendigkeit und absolute Identität des einen und vielen« ist. Empirisches Bewußtsein ist identisch mit absolutem und umgekehrt: »In der Sittlichkeit ist [...] das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Sein und Tun ist ein schlechthin allgemeines; denn es ist nicht das Individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm.«42 Es macht eben das Wesen sittlicher Verhältnisse aus, daß »das Individuum sich in jedem als sich selbst an(schaut), es gelangt zur höchsten Subjektobjektivität«, schaut im Objekt die »Dieselbigkeit« an und weiß sich im empirischen Bewußtsein in dieser Einheit; »das Allgemeine, der Geist, ist in jedem und für jedes, selbst insofern es Einzelnes ist.«43 Praxis, welche in der natürlichen Sittlichkeit mit der Vernichtung des Objekts begann, endet mit der des Subjekts über dessen bruchlose Integration ins Allgemeine. Dieses Allgemeine, welches die Besonderheit schlechthin mit sich vereinigt hat, ist das Volk.44 ––––––––– 39 40 41 42 43 44
Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 9 und S. 7. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 68. Vgl. ebd., S. 215. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 52 f. Ebd., S. 54 f. Vgl. ebd., S. 55 ff.
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Die größere Konkretion des ›Systems der Sittlichkeit‹ gegenüber dem Naturrechtsaufsatz liegt jedoch darin, daß Hegel hier im dritten Teil nicht nur die Gliederung des Volkes in einzelne ›Stände‹ wiederholt, sondern fortschreitet zu einer Deduktion der Regierungsgewalt und deren Verzahnung mit einer ebenfalls erstmals detailliert entwickelten Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Die nicht unproblematische Kategorie des ›Volkes‹ soll die Bindung der Einzelnen an überindividuelle Sitten sicherstellen. Sie leistet als solche jedoch noch keine innere Strukturierung des sittlichen Organismus. Zur Vereinigung unter gemeinsame Überlieferungen und Gewohnheiten muß die Zuordnung zu bestimmten Formen politischer Herrschaft treten. Die Unvollkommenheit der Formen natürlicher Sittlichkeit wie deren Negation in der absoluten Freiheit bzw. dem Verbrechen liegt nicht nur darin, daß überindividuelle Muster der Kommunikation und intersubjektive Handlungsnormen noch nicht entwickelt sind und über intersubjektive Kommunikationsmuster und Handlungsnormen noch kein Konsens hergestellt ist, auf den die Mitglieder eines sittlichen Verbandes bis ins Unbewußte hinein verpflichtet wären. Sie liegt auch darin, daß auf der Ebene natürlicher Sittlichkeit noch keine staatlichen Organe eingeführt waren, welche die Verbindlichkeit sittlicher Akte sichern, kontrollierend in die Interaktion eingreifen und verhindern, daß es zur Destruktion von Sittlichkeit in den verschiedenen Formen des Verbrechens kommt. Insofern darf man sagen, daß Hegel sich – trotz anderen Inhalts – im dritten Teil des ›Systems der Sittlichkeit‹ kategorial auf der Ebene des Staatsrechts bewegt.
Agenten des Allgemeinen Hegel hat in dem Abschnitt über die Regierung zunächst die Kriterien der ›absoluten Regierung‹ dargelegt, bevor er unter dem Titel der ›allgemeinen Regierung‹, der hier besonders zu berücksichtigen ist, die Formen konkreter Regierungsgewalt einführt und in einem nur stichwortartig unter der Überschrift ›freie Regierung‹ überlieferten Schlußabschnitt verschiedene Regierungsformen abhandelt. Bei der Einführung der Regierung steht Hegel vor der schwierigen Aufgabe, diese kategorial von den drei Ständen – vor allem dem ersten – zu trennen, ohne sie als ein ihnen Transzendentes zu fixieren. Die »absolute Erhaltung aller Stände muß die höchste Regierung sein, und ihrem Begriff nach kann sie eigentlich keinem Stande zukommen, da sie die Indifferenz aller ist.«45 Die Regierung ist das gegenüber den Ständen differente und diese zugleich in die Indifferenz aufhebende Verhältnis. Ihr ist die Bewahrung des Ganzen aufgetragen, und das heißt vor allem, die Sonderung der verschiedenen Funktionen der drei Stände zu wahren und zugleich darüber zu wachen, daß sich der Austauschprozeß zwischen ihnen in den vorgeschriebenen Grenzen vollzieht. Sie zielt auf die »Lebendigkeit aller Teile«, ist als »Seele des Lebendigen« allem Besonderen – auch dem der Stände – enthoben und tritt ge–––––––––
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Ebd., S. 71.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
gen das Besondere auf, wo dieses die organische Verflechtung der einzelnen Glieder zu gefährden droht.46 Ihre Mitglieder dürften daher eigentlich keinem der Stände angehören. Sie rekrutieren sich dennoch aus dem ersten, da dieser gegenüber dem verrohten Charakter des dritten und dem in der Besonderung und Differenz verhafteten des zweiten in der Ausrichtung seines Tuns auf das Allgemeine der Träger substantieller Sittlichkeit ist. Doch müssen die Inhaber von Regierungsgewalt »das reale Sein in einem Stande gleichsam aufgegeben haben und schlechthin im idealen leben«. Diese Voraussetzung erfüllen für Hegel die Alten allgemein und vorzugsweise die alten Priester. Sie haben die Individualität und Partikularität ihres Standes hinter sich gelassen und stehen »auf der Schwelle des Todes, der das Individuum absolut ins Allgemeine aufnehmen wird [...] An das höchste Indifferente, an Gott und die Natur, an die Priester und an die Alten, kann allein die Erhaltung des Ganzen geknüpft werden«. Damit aber scheint »Sittlichkeit außer ihrem Gebiet zur Natur, zum Bewußtlosen fliehen zu müssen.« Ebenso wie in der Regierungsform der Monarchie mit der Erblichkeit ihrer Repräsentanten spielt auch bei der Auswahl der Regierungsmitglieder die nackte Faktizität von Natur eine maßgebliche Rolle – und das bereits in Hegels frühem ›System der Sittlichkeit‹.47 Hegels bis ins Spätwerk zu verfolgende Bemühen, in der Realität Personen ausfindig zu machen, die ›außer der Differenz‹ sind und an die die Staatsgewalt als das schlechthin Allgemeine angeknüpft werden kann, nötigt ihn zum Rekurs auf Auswahlkriterien, die der rationalen Argumentation nicht zugänglich sind. Da schon hier im Frühwerk die Wahl der Regierung durch das Volk abgelehnt wird, bleibt ihm nur, über deren Zusammensetzung vorweg von oben zu verfügen. Die im Wahlakt vorausgesetzte »Einzelheit und Tat des Wählens ist in der Zeit, empirisch, zufällig und darf und muß dürfen zurückgenommen werden.« Sie kann daher für Hegel kein absolutes Verhältnis begründen, das als solches »nicht gemacht« ist. Die absolute Regierung, der Staat erhebt schon in diesem Frühwerk Hegels den Anspruch, »Erscheinung Gottes« zu sein. Allem Partikularen enthoben, hört zugleich »alles Menschliche und alle andre Sanktion« vor ihr auf.48 Der an dieser Stelle nicht erneut zu erhebende Vorwurf mangelnden Demokratieverständnisses einerseits, reaktionärer Staatsvergötzung anderseits, bleibt solange schematisch, wie er die Motivationen unberücksichtigt läßt oder nur am Rande berührt, die dieser Staatstheorie zugrunde liegen. Sie führen zurück zur Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel im ›System der Sittlichkeit‹ in dem Abschnitt über das ›System der Bedürfnisse‹ (neben dem ›System der Gerechtigkeit‹ und dem ›System der Zucht‹) sowie in der ›Realphilosophie‹ von 1803/04 und 1805/06 einen entscheidenden Schritt vorantreibt. Innerhalb der Darlegungen des ›Systems der Bedürfnisse‹ kann Hegel anknüpfen an die For–––––––––
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Ebd., S. 73. Ebd., S. 71. Ebd., S. 75 f.
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men des Austauschprozesses zwischen Mensch und Natur, die er im ersten Teil auf der Stufe ›natürlicher Sittlichkeit‹ entwickelt hatte und die – nur unerheblich modifiziert – auch in den Entwürfen von 1803/04 und 1805/06 wiederkehren. Jetzt spielt sich die Produktion jedoch im Rahmen eines sittlichen Ganzen, des Staates, ab; darin liegt, abgesehen von inhaltlichen Neuerungen, das kategoriale Novum dieses Abschnitts.
Integration der bürgerlichen Gesellschaft ins System der Sittlichkeit Die Gesamtheit ökonomischer Prozesse wird dadurch, »daß die ganze Macht des Staats sich daran hängt, reell gesetzt«.49 Arbeit kann damit von vornherein als allgemeine behandelt werden. Der Mensch befriedigt seine Bedürfnisse zwar durch Arbeit, jedoch in der Regel »nicht mit diesem bestimmten von ihm Bearbeiteten«, sondern mit einem dafür Eingetauschten. Seine Arbeit wird eine formale, abstrakt allgemeine, eine einzelne; er schränkt sich auf die Arbeit für eins seiner Bedürfnisse [ein] und tauscht sich dafür das für seine andern Bedürfnisse Nötige ein. [...] die Befriedigung der Totalität seiner Bedürfnisse ist eine Arbeit aller.50
Allgemeinheit im Bereich des Ökonomischen meint die totale Vermittlung der produzierenden Individuen durch den Markt. Sie spezialisieren sich auf die Herstellung bestimmter Güter, die für sich allein ihre Bedürfnisse niemals befriedigen könnten, um sie auf einem Markt abzusetzen und sich dafür umgekehrt die von ihnen benötigten Güter einzutauschen. Hegel geht folglich jetzt – in Anknüpfung vor allem an Adam Smith – sogleich von der Waren produzierenden Gesamtgesellschaft aus und analysiert die sich daraus ergebenden Probleme. Alle Mitglieder der Gesellschaft sind jetzt vermittelt in einem »System der allgemein gegenseitigen physischen Abhängigkeit voneinander«; keines »ist für die Totalität seines Bedürfnisses für sich selbst.« Ob dem einzelnen Produzenten mittels seines Tauschprodukts, der Ware, die Befriedigung seiner Bedürfnisse gelingt, das hängt von einer »fremde[n] Macht« ab, nämlich von der Gesamtheit der angebotenen Waren und dem nach ihnen bestehenden Bedürfnis, »und dieses Ganze ist eine wenig erkennbare, unsichtbare, unberechenbare Macht«. Die Wechselwirkung zwischen Einzelnem und Ganzem »ist ein beständig aufund niedersteigendes Wogen«.51 Damit verschwindet aber auch »für Jeden alle Sicherheit und Gewißheit, daß seine Arbeiten als einzelne seinen Bedürfnissen unmittelbar gemäß ist«, d.h., ob die von ihm produzierte Ware gebraucht wird und ihn ernähren kann.52 –––––––––
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Ebd., S. 66. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Band XIX: Jenenser Realphilosophie I. Die Vorlesungen von 1803/04. Aus dem Manuskript hrsg. von Johannes Hoffmeister.Leipzig: Meiner 1932 (= Philosophische Bibliothek; 66b), S. 238 [Ergänzung in der Vorlage]. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 80. Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 238.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Die Allgemeinheit, die in dieser Form der Produktion erreicht wird, ist weit davon entfernt, eine vernünftige zu sein. Zwar ist Hegel ebensowenig wie seine englischen Gewährsmänner vor liberalen Illusionen gefeit. Diese pflegen sich um die Metapher des natürlichen Organismus zu gruppieren. Ebenso wie dieser soll auch der Wirtschaftsprozeß sich selbst regulieren und stets neu stabilisieren. »Es geschieht von selbst durch die Natur, daß sich das richtige Gleichgewicht teils unter unbedeutendem Schwanken erhält, teils, wenn es durch äußere Umstände stärker gestört ist, durch größere[s] Schwanken sich wiederherstellt.« Die Natur pflegt in der Regel eine »ruhige Mitte«, ein »Gleichgewicht« zu behaupten, und nur wo dieses durch äußere Einwirkungen wie Naturkatastrophen oder plötzlich auftretende Über- bzw. Unterproduktion gestört ist, muß die Regierung regulierend eingreifen, bis der Organismus wieder gesundet ist.53 Die von Hegel im einzelnen vorgetragene Deutung des ökonomischen Prozesses ist wenig geeignet, das Vertrauen in diesen Mechanismus des Marktes zu bekräftigen. Seine dialektische Philosophie, die von vornherein gegenüber den allein vom Subjekt ausgehenden philosophischen Systemen die Macht der dem Subjekt entgegengesetzten ›Positivität‹ betont hatte, erweist sich nun als das adäquate Instrument vor Marxens Kritik der politischen Ökonomie, um die aus der englischen Nationalökonomie vorgegebenen Fakten begrifflich zu bewältigen. Tragfähiger als die organische Metaphorik erweist sich der Begriff des Schicksals.
Schicksal sozialphilosophisch gewendet Die von den Produzenten veranstaltete Produktion, dieses »bewußtlose, blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigungen«, tritt ihnen in der undurchschaubaren Form eines »bewußtlosen, blinden Schicksals« gegenüber.54 Sie haben einen Prozeß in Gang gesetzt, über den sie nicht länger frei verfügen, sondern der schicksalhaft auf ihnen als eine irrationale Macht lastet. Der »Zusammenhang der einzelnen Art von Arbeit mit der ganzen unendlichen Masse der Bedürfnisse [wird] ganz unübersehbar und eine blinde Abhängigkeit«. Es entsteht ein ungeheures System von Gemeinschaftlichkeit und gegenseitiger Abhängigkeit, ein sich in sich bewegendes Leben des Toten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und her bewegt, und als ein wildes Tier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.55
Schlagender als in diesem Bilde könnte die Illusion eines sich selbst regulierenden Organismus nicht dementiert werden. Nicht durch gelegentliche, sondern nur durch massive Staatseingriffe ist ein Wirtschaftsprozeß, der nicht rational geplant, sondern dem freien Wettbewerb der Produzenten von Tauschwerten für ––––––––– 53 54 55
Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 81 [Ergänzung in der Vorlage]. Ebd. Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 239 f. [Ergänzung in der Vorlage].
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den Markt überlassen bleibt, in Hegels Augen allenfalls zu stabilisieren.56 Dieses »bewußtlosen, blinden Schicksals muß sich das Allgemeine bemächtigen«, wenn anders ein Überleben aller Mitglieder der Gesellschaft gewährleistet werden soll.57 Die Waren produzierende Gesellschaft beruht auf dem Prinzip der Arbeitsteilung und Spezialisierung. Letztere begünstigt die Substitution der manuellen Tätigkeit zunächst durch das Werkzeug, sodann durch die Maschine. Das Werkzeug hält zwar vom Menschen sein materielles Vernichten ab; aber es bleibt darin sein Formales, es bleibt seine Tätigkeit, die auf ein Totes gerichtet ist; und zwar ist seine Tätigkeit wesentlich das Töten desselben, es aus seinem lebendigen Zusammenhange herauszureißen und es zu setzen als ein zu Vernichtendes, als ein solches. In der Maschine hebt der Mensch selbst diese seine formale Tätigkeit auf und läßt sie ganz für ihn arbeiten.58
Möglich wird das durch die Zerlegung des Konkreten in viele abstrakte Seiten. Sein Arbeiten selbst wird ganz mechanisch oder gehört einer einfachen Bestimmtheit an; aber je abstrakter sie wird, desto mehr ist er nur die abstrakte Tätigkeit, und dadurch ist er imstande, sich aus der Arbeit herauszuziehen und an die Stelle seiner Tätigkeit die der äußern Natur zu substituieren. Er braucht bloße Bewegung und diese findet er in der äußern Natur, oder die reine Bewegung ist eben das Verhältnis der abstrakten Formen des Raums und der Zeit – die abstrakte äußere Tätigkeit, [die] Maschine.59
Die Verquickung der maschinellen Arbeit mit einer Produktionsform, wie sie Hegel aus den Lehrbüchern politischer Ökonomie bezog, führt eine Misere herauf, die Hegel schonungslos aufdeckt, und deren tragischer Zug in ihrer Unausweichlichkeit wie ihrer Unabänderlichkeit liegt, denn sie ist für die englischen Nationalökonomen und für Hegel mit dem Schein des Immerwährenden umgeben.
Verdinglichung des Ich Zwar sieht Hegel – unter ausdrücklicher Berufung auf Smith – sehr wohl, daß die arbeitsteilige, maschinelle Produktion die Masse des Produzierten immens vergrößert. Statt daß dadurch jedoch eine Befreiung des Menschen von der Natur absehbar würde, versklavt er sich nurmehr um so tiefer. Die Zerlegung des ––––––––– 56
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Hegel sagt das – wie Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft (Anm. 225), S. 161, Anm. 62 feststellt – nicht ausdrücklich, aber selbstverständlich ist nichts anderes gemeint, wie auch die zu Ende dieses Absatzes zitierte Äußerung Hegels belegt. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 81. Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 237. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805–1806. Hrsg. von Johannes Hoffmeister.Hamburg: Meiner 1967 (= Philosophische Bibliothek; 67), S. 215 [Ergänzung in der Vorlage]. Neuauflage der erstmals 1931 als Band XX der Sämtlichen Werke unter dem Titel Jenenser Realphilosophie II von Hoffmeister edierten Schrift.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Arbeitsprozesses in unendlich viele kleine Einheiten ist eine »formale falsche Weise, [denn] indem es so die Natur sich unterwirft, vergrößert das Individuum nur seine Abhängigkeit von derselben.«60 Die listige Unterwerfung der äußeren Natur bezahlt das Individuum mit einer Verkümmerung seiner eigenen; »was er ihr abgewinnt, je mehr er sie unterjocht, desto niedriger wird er selbst.« Arbeit wird ja nicht schlechthin aufgehoben, sie verliert nur ihre Lebendigkeit, wird »selbst maschinenmäßiger«.61 Das Geistige, dies erfüllte selbstbewußte Leben wird ein leeres Tun. Die Kraft des Selbsts besteht in dem reichen Umfassen; diese geht verloren. [...] Sein stumpfes Arbeiten beschränkt ihn auf einen Punkt, und die Arbeit ist um so vollkommner, je einseitiger sie ist.62
Der Mensch stellt die Naturkräfte in seinen Dienst, indem er Maschinen durch sie antreiben läßt. Die Ersparnis eigener Arbeitskraft bezahlt er jedoch mit einer zunehmenden Verödung seines eigenen Arbeitsbeitrags. Allerdings gibt es kein Zurück in ein vormaschinelles Zeitalter. Und so bleibt nur die Konstatierung, daß der Mensch sich nicht mehr als »umfassender, inhaltreicher, umsichtiger Geist, der einen großen Umfang beherrscht und über ihn Meister ist«, verhält, sondern vielmehr »als abstraktes Ich oder nach der Weise der Dingheit«.63
Spaltung der Gesellschaft: Reichtum und Armut Diese Verdinglichung des Bewußtseins in der Anpassung an die von der Maschine vorgeschriebenen Handgriffe und ihren Rhythmus verbindet sich nun mit der Irrationalität der Produktionsform zu einem System materieller Existenzbedrohung und geistiger Verrohung. Die ungeplant verlaufende, immer nur nachträglich regulierte Warenproduktion erzeugt notwendig Absatzkrisen und damit die Verelendung bestimmter Bevölkerungsschichten, weil »eine entfernte Operation oft die Arbeit einer ganzen Klasse von Menschen, die ihre Bedürfnisse damit befriedigte, plötzlich hemmt, überflüssig und unbrauchbar macht.«64 Der »völligen Verwicklung des Zufalls des Ganzen unterworfen«, wird der Einzelne in seiner physischen wie seiner geistigen Existenz das Opfer von Katastrophen, die durch die maschinelle Produktion – solange sie auf privatwirtschaftlicher Basis betrieben wird – beschleunigt herbeigeführt wird. Zweige der Industrie, die eine große Klasse Menschen erhielten, versiegen auf einmal wegen der Mode oder Wohlfeilerwerden[s] durch Erfindungen in andern Länder[n] usf., und diese ganze Menge ist der Armut, die sich nicht helfen kann, preisgegeben. Der Gegensatz großen Reichtums und großer Armut tritt [auf] – der Armut, der es unmöglich wird, etwas vor sich zu bringen.65
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Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 239. Ebd., S. 237. Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 232. Ebd., S. 215. Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 239. Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 232 [Ergänzungen in der Vorlage].
›Aufführung der Tragödie im Sittlichen‹
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Über die Ursachen dieses Gegensatzes von Reichtum und Armut hat Hegel sich keine hinlängliche Klarheit verschaffen können. Das ist nicht zuletzt eine Folge der nur fragmentarisch und widersprüchlich ausgebildeten Werttheorie der englischen Ökonomen.66 Im ›System der Sittlichkeit‹ wird der Gegensatz nicht nur als ein naturnotwendiger gesetzt, sondern zudem noch verklärt. Dasjenige Gewerbe, »welches das allgemeinere, idellere ist, ist dasjenige, welches als solches für sich größern Gewinn gewährt.« Es stellt sich folglich eine »nothwendige Ungleichheit« ein.67 In der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 wird Reichtum teils als Produkt des Zufalls, teils bereits aus einer immanenten Konsequenz des Kapitals begriffen, ohne daß die Ursachen für dessen Entstehung ans Licht träten. »Der Reichtum wie jede Masse macht sich zur Kraft.« Während es der Armut »unmöglich wird, etwas vor sich zu bringen«, hat ein einmal gebildetes Kapital die Tendenz – so »wie eine große Masse die kleinere an sich zieht« –, sich auf Kosten der ökonomisch weniger Potenten zu vergrößern. »Wer da hat, dem wird gegeben.«68 Diese mit der bürgerlichen Produktionsordnung gesetzte und sich verschärfende Polarisierung nötigt den Staat zu energischen Interventionen, welche der Theorie der Selbstregulierung Hohn spricht.69 Deutlich sieht Hegel, daß die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen begründet, die sich unter und neben der allgemeinen Staatsgewalt etablieren. »Der einzelne ungeheuer Reiche wird eine Macht; er hebt die Form der durchgehenden physischen Abhängigkeit, es von einem Allgemeinen, nicht von einem Besondern zu sein, auf.« Diese Herrschaft ist eine gesellschaftliche, insofern sie Herrschaft über menschliche Arbeitskraft ist. Der Spaltung in reich und arm korrespondiert eine in Befreiung von unmittelbarer Arbeit und in Knechtung unter Arbeitsbedingungen und Arbeitsformen, die als verordnete der eignen Bestimmung entzogen sind. Sie bringt einen Bereich der »ideellen Allgemeinheit« auf der einen Seite hervor, dem ein rein mechanischer auf der anderen gegenübersteht, der als »dies reine Quantitative, bis zum Begriff Vereinzelte, Unorganische der Arbeit [...] unmittelbar die höchste Rohheit« ist und zunehmender Verarmung anheim fällt.70 »Fabriken, Manufakturen gründen gerade auf das Elend einer Klasse ihr Bestehen.«71
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Vgl. Lukács: Der junge Hegel (Anm. 61), S. 453. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 83. Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 232 f. Vgl. dazu die Beispiele ebd., S. 233 f.: Erschließung neuer Märkte im Ausland, Produktionskontrolle im Inland, Wahrung der »Freiheit des Gewerbes«, Vermeidung des »Schein[s] der Gewalt«, Einrichtung von Armentaxen und Anstalten, Verzicht auf den Versuch »retten [zu] wollen, was nicht zu retten ist, sondern die leidenden Klassen anders beschäftigen.« Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 83 f. Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 257.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Panzerung des ökonomischen Ich Die Erbärmlichkeit der industriell-maschinellen Arbeit ist also nicht ausschließlich eine Folge der Umstellung auf Maschinenarbeit, sondern rührt auch her aus ökonomischen Herrschaftsverhältnissen. Hegels Hoffnungen auf eine Milderung dieser Misere innerhalb des ›Systems der Bedürfnisse‹ stehen in merkwürdigem Kontrast zum Realismus seiner ökonomischen Analysen. Sie gründen sich einerseits – worauf gleich zurückzukommen sein wird – auf die formelle Gleichheit im Recht, zum andern auf einen Schimmer von Sittlichkeit innerhalb der Sphäre der Herrschaft selbst, auf »Zutrauen, Achtung und drgl., und diese Sittlichkeit hebt das Elementarische, die reine Masse, Quantität auf, setzt ein lebendiges Verhältnis«.72 Schon anläßlich der Einführung der Tugend der »Rechtschaffenheit«, die dem Stand des Bürgertums zugeordnet ist (so wie »Tapferkeit« dem absoluten und »Zutrauen« dem Bauerntum) hatte Hegel analoge Versuche unternommen. Diesem Stand ist zwar das absolute Opfer für die Gemeinschaft versagt, weil Leben als etwas letztes für ihn gilt und damit seiner »Uneigennützigkeit und der Aufopferung ihre bestimmte Grenze« gesetzt ist.73 Doch nimmt er sich statt dessen konkreter Mißstände an, hilft Armen und Leidenden, sucht die Härten des Rechts zu mildern, leistet Beiträge zur materiellen Erhaltung des Ganzen usw. Doch Hegel muß sich eingestehen, daß alle diese Akte nicht konstitutiv für das Bürgertum sind, sondern nur »eine teilweise Negation seines Prinzips«.74 Dies hat Hegel in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 sehr viel realistischer bezeichnet. Für den Bürger ist Natur ein zu Gebrauchendes, zu Bearbeitendes. Aber nicht Genuß des Erarbeiteten ist sein höchstes Glück, sondern das Bewußtsein, als Besitzender anerkannt zu sein. »Er genießt darin sich selbst, seinen Wert und Rechtschaffenheit; dies hat er sich erarbeitet und vor sich gebracht. Nicht den Genuß des Vergnügens genießt er, sondern daß er diesen Genuß hat, die Einbildung von sich selbst.« Im Kaufmann, für Hegel Inbegriff bourgeoiser Lebensweise, vollendet sich dieser mentale Habitus. Ihm wird das »Ding des Bedürfnisses zu einem bloß vorgestellten, ungenießbaren [...], das rein nur nach seiner Bedeutung gilt, nicht mehr an sich, d.h. für das Bedürfnis. Es ist ein schlechthin Innres.« Die Abtötung der natürlichen Qualitäten des Gegenstandes zugunsten seines Tauschwertes reflektiert sich in der Abtötung der inneren Natur des Kaufmanns als Härte. Die Gesinnung [des Kaufmanns] ist diese Härte des Geistes, worin das Besondere, ganz entäußert, nicht mehr gilt, [nur] striktes Recht. Der Wechsel muß honoriert werden, es mag zugrunde gehen, was will, Familie, Wohlstand, Leben usf., gänzliche Unbarmherzigkeit.75
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Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 84. Ebd., S. 61. Ebd., S. 67. Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 256 f. [Ergänzungen in der Vorlage].
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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2.7 Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung durch Recht und Staat Erste Umrisse einer Staatsphilosophie Wie ist die Idee substantieller Sittlichkeit im Lichte dieser Befunde zu retten? Muß sie nicht Illusion bleiben unter Produktionsverhältnissen, wie Hegel sie umrissen hat? Darf von der sittlichen Einheit des Volkes noch gesprochen werden, wo doch dieses nicht nur in ›Stände‹ zerfällt, sondern die produzierende Schicht nochmals geteilt ist in Besitzende und Verarmte? Hegel hat sich diese Fragen selbst gestellt. »[...] die Bestialität der Verachtung alles Hohen tritt ein. Das Weisheitslose, rein Allgemeine, die Masse des Reichtums ist das Ansich; und das absolute Band des Volks, das Sittliche, ist verschwunden, und das Volk aufgelöst.« Hegels Sozialphilosophie stellt den Versuch dar, diese Auflösung der Einheit im Medium des Gedankens rückgängig zu machen. Das geschieht im ›System der Bedürfnisse‹ nochmals durch die Aussonderung des ganzen Systems der Produktion und seiner selbständigen Konstitution. Wiederum ist vom Opfer die Rede, aber bezeichnenderweise nicht mehr in Bezug auf das Ganze des Systems der Bedürfnisse, sondern den »Teil dieses Standes«, den die Regierung »zur mechanischen und Fabriksarbeit aufopfert und ihn der Rohheit überläßt«.1 Die Integration dieses prekären Systems hat der Staat zu besorgen – Hegels großes Thema in der späten Rechtsphilosophie.2 Diesem obliegt es, der »Ungleichheit und ihrer und der allgemeinen Zerstörung [...] aufs höchste entgegen–––––––––
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Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 84. Vgl. dazu Hermann Heller: Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte.- Leipzig, Berlin: Teubner 1921. Nachdruck Aalen: Zeller 1963; Julius Löwenstein: Hegels Staatsidee. Ihr Doppelgesicht und ihr Einfluß im 19. Jahrhundert.- Berlin: Springer 1927 (= Philosophische Forschungen; 4); Martin Busse: Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat. Ein Beitrag zur Auslegung der Phänomenologie und Rechtsphilosophie und zur Geschichte der Entwicklung des Hegelschen Systems.- Berlin: Junker & Dünnhaupt 1931; Adam von Trott zu Solz: Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1932 (= Abhandlungen aus dem Seminar für Völkerrecht und Diplomatie an der Universität Göttingen; 6). Neudruck mit einem Geleitwort von Hans Rothfels.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967; Joachim Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ §§ 34–81.- In: Marxismusstudien. 4. Folge. Hrsg. von Iring Fetscher.Tübingen: Mohr 1962, S. 196–218. Wieder abgedruckt in ders.: Metaphysik und Politik (Anm. 120), S. 256–280; Hans Friedrich Fulda: Das Recht der Philosophie in Hegels Philosophie des Rechts.- Frankfurt/Main: Klostermann 1968 (= Wissenschaft und Gegenwart; 36/37); Werner Maihofer: Hegels Prinzip des modernen Staates.- In: Phänomenologie – Rechtsphilosophie – Jurisprudenz. Festschrift für Gerhart Husserl zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Würtenberger.- Frankfurt/Main: Klostermann 1969, S. 243–273; Manfred Riedel: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 (= edition suhrkamp; 355); ders.: Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Grundprobleme und Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1970 (= Soziologische Essays).
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
zuarbeiten.«3 Konzipiert als Reservat wahrhafter Sittlichkeit, in dem die Individuen ihr Gattungswesen realisieren, besteht seine Funktion zunächst in der Bändigung der Antagonismen im System der Bedürfnisse. Wenn in dieses ein Schimmer von Sittlichkeit fällt, so ist ein solcher in Hegels Augen nicht den Formen der Produktion selbst zu danken, sondern den Rechtsnormen, die im Reproduktionsprozeß sich ausbilden. Der Allgemeinheit der Bedürfnisbefriedigung korrespondiert auf der Ebene des Rechts die Allgemeinheit der an der Produktion beteiligten Personen als gleicher Rechtssubjekte. Diese formelle rechtliche Gleichheit herbeigeführt zu haben, machte das Verdienst der römischen Republik aus. Sie bildet das qualitativ Neue gegenüber dem antiken Stadtstaat und ist irreversibel, insofern sie die Aufhebung der Sklaverei mit sich führt. Die französische Revolution, die dieses Prinzip gegenüber den Relikten des Feudalismus endgültig zur Geltung bringt, ist für Hegel zeitlebens Garant für Freiheit und Rechtsgleichheit geblieben.4 Umgekehrt hielt Hegel stets daran fest, daß dieser Fortschritt mit dem Verlust absoluter Sittlichkeit erkauft war. Seine Theorie des Staates bildet das Korrektiv dazu. Kommen in ihr in Jena stärker die Momente der napoleonischen Aufhebung der Revolution zur Geltung, so in der späteren politischen Philosophie eben die vorrevolutionären der deutschen Monarchie. Desgleichen wandelt sich die Stellung des Rechts im System des objektiven Geistes. Die in Jena akzentuierte Bindung an den Arbeitsprozeß ist in der späten Rechtsphilosophie aufgelöst. Durch hält sich jedoch bis in das Spätwerk die Insistenz auf Freiheit und Rechtsgleichheit als den Pfeilern des nachantiken Rechtsstaates, wie er in der Revolution intendiert und in Hegels Philosophie mit allen nötigen Korrekturen gedacht wird. –––––––––
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Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 84. Dazu vor allem neben schon aufgeführter Literatur Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965 (= edition suhrkamp; 114). Hier liest man die tiefgründige Bemerkung: »Die Gegenwart hat sich aus der philosophischen Tradition emanzipiert; die Frage nach dem Wesen der geschichtlich-politischen Gegenwart und ihrer Wahrheit wird in der Zeit und Stunde zur Frage der Metaphysik, in der die Kontinuität ihrer Geschichte und Überlieferung unterbrochen und fragwürdig geworden ist. So nimmt Hegel in der Gleichsetzung der Philosophie mit der Theorie ihrer Zeit das Problem der Emanzipation aus der geschichtlichen Herkunft auf. Aber die Radikalität ihrer Infragestellung kommt für ihn nicht nur in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Emanzipation als solcher zur Erscheinung; die Größe der mit ihr verbundenen Gefahr zeigt sich erst darin, daß auch die ›Subjektivität‹, die sich religiös und philosophisch das Göttliche dadurch zu bewahren sucht, daß sie es aus der gottlos gewordenen Gegenwart in das Innere und in die Natur rettet, mit diesem Retten ihrerseits die Wahrheit des Göttlichen preisgibt und im Rückzug aus der gegenwärtigen Welt die Emanzipation anerkennt, so daß auch die subjektive Bewahrung für Hegel zu ihrer Erscheinung wird; als romantische Flucht aus der Wirklichkeit setzt sie voraus, daß das Göttliche die Macht über die objektive Realität verloren hat. [...] Daher bleibt allein der Weg offen, das Problem der Emanzipation in seiner ganzen Radikalität aufzunehmen; Hegel schlägt ihn ein, indem er die Hilfe der Einen Philosophie herbeiruft und ihre Theorie zur Theorie der Zeit und der sich in ihr vollziehenden Umwälzung macht.« (S. 15 und S. 17). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die wichtige Arbeit von Manfred Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels (Anm. 120).
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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Kampf um Anerkennung Im Kampf um Anerkennung kommt in der Jenaer Philosophie der Sittlichkeit die Symbiose von Arbeit und Recht zum Ausdruck. Es ist der Kampf der gesellschaftlichen Individuen gegeneinander, den sie um die Anerkennung im Recht führen, durch den das System der Bedürfnisse charakterisiert ist. Er kennzeichnet sowohl die Tiefenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft, deren Oberfläche sich gegen ihn in Grundsätzen formeller Gleichheit in Vertrag und Eigentum immunisiert, als er auch die Handlungsmotive der einzelnen Individuen durchdringt und verdirbt.5
Diese Dialektik wird am radikalsten in einer nur wenig beachteten Partie der ›Realphilosophie‹ von 1803/04 entfaltet. So wie Kant in der Metaphysik der Sitten bemüht Hegel sich hier um eine Deduktion des Eigentums. In zwei vorangehenden Abschnitten über die Sprache und das Werkzeug hat Hegel die Idealisierung des Gegenstandes (der Natur) herausgearbeitet. Wird er theoretisch zu einem idealen in der Sprache, so praktisch in seiner Aneignung durch menschliche Arbeit. Eine solche Aneignung verändert auch die arbeitenden Subjekte. Indem sie die unmittelbare Triebbefriedigung in der Kultivierung der Natur herausschieben, werden sie reif für die Ehe. Sie bildet das Paradigma gelungener Anerkennung: die Gatten sind gegenseitig in dem Bewußtsein des anderen, sie sind eins und schauen im Kind »dies ihr Aufgehobenwerden an [...], nämlich als gewordene Einheit.«6 Diese in der Familie erreichte Einheit bleibt aber eine beschränkte, insofern dem einen Familienverband andere gegenüberstehen. Zwischen ihnen tobt ein Kampf um die gegenseitige Anerkennung des Eigentums, der innerhalb der einzelnen Familien immer schon aufgehoben ist im gemeinsamen Familiengut. In einem zweimaligen Anlauf sucht Hegel diesen Kampf um Anerkennung abzuleiten. Wie in der Analyse des Arbeitsvorgangs enthüllt sich nun in der Deduktion des Rechts ein weiteres Mal die Nachtseite der bürgerlichen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, die in der etablierten positiven Rechtsordnung nur scheinbar aufgehoben wird.
Inbesitznahme eines allgemeinen Guts als Akt wechselseitiger Verletzung Die Anerkennung des Anderen schließt seine Anerkennung als eines Besitzenden ein. Er hat sich den Gegenstand in der Arbeit ganz zu dem seinen, zu einem ideellen gemacht, folglich erscheint »jede Einzelheit seines Besitzes und seines Seins an sein ganzes Wesen geknüpft«. Jede Verletzung fremden Besitzes ist daher zugleich eine Verletzung der ganzen Person, die sich arbeitend in diesem Besitz vergegenständlicht, sich im geschaffenen Produkt verwirklicht hat. Im verletzten Besitz ist zugleich die Person verletzt; der Kampf geht auf Leben und Tod. Und das ist nötig, damit der Einzelne unter Beweis stellt, daß er sich den ––––––––– 5 6
Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft (Anm. 6), S. 166. Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 223.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Gegenstand restlos angeeignet hat und dieser völlig in die Indifferenz übergegangen ist. Jedes Gut ist das eines Einen. Die »Beziehung mehrerer darauf ist eine negative, ausschließende. Ob die ausschließliche Beziehung des Einen darauf eine vern[ünftige] sei, ob er in Wahrheit eine Totalität sei, um dies Anerkennen geht die Beziehung der Einzelnen.« Anerkennung des Besitzes im Recht kann nur statthaben, wo jeder Einzelne »in jeder Einzelheit seines Besitzes sich als un[endlich] erweist und jede Verletzung bis auf den Tod rächt.« Die »Einzelnen müssen einander verletzen, um sich zu erkennen, ob sie vern[ünftig] sind«, d.h. ob sie ihre Umwelt ganz zu der ihren gemacht haben.7 Hegel hat diese Deduktion im Manuskript gestrichen und durch eine zweite ersetzt. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Die vorgetragene leitet die Tatsache des Eigentums nicht her, sondern setzt sie voraus und macht den Kampf um Anerkennung zur Probe aufs Exempel, ob die Individuen restlos eins geworden sind mit dem Gegenstand. Die Frage lautet doch aber, was sie dazu berechtigt, den von ihnen bearbeiteten Gegenstand auch als ihr Eigentum zu deklarieren und jeden anderen davon auszuschließen. Ist Arbeit eine hinreichende Bedingung dafür? Dieses Problem rückt erst in der endgültigen Fassung der Schrift in das Blickfeld. In der Arbeit hat der Gegenstand seinen Gegensatz gegen das Subjekt verloren, er ist ganz ideell geworden. Die Verletzung aller anderen Individuen tritt mit Notwendigkeit in dem Moment ein, da ich diesen von mir kultivierten Gegenstand als meinen Privatbesitz deklariere. Sofern die bürgerliche Gesellschaft eine solche Inbesitznahme rechtlich sanktioniert, ist sie mit einem Widerspruch behaftet, den schon Kant gesehen hatte und den Hegel dahingehend formuliert, »daß ein Äußeres, ein Ding, ein Allgemeines der Erde, daß dies in der Macht eines Einzelnen sein soll, was wider die Natur des Dinges als eines Allgemeinen, Äußern ist, und es ist das Allgemeine gegen die unmittelbare Einzelheit des Bewußtseins.« In der bürgerlichen Gesellschaft treten die Individuen einander unter der Bedingung gegenüber, »daß jeder in dem Bewußtsein des Andern erscheine, als ein solcher, welcher ihn aus der ganzen Extension seiner Einzelheit ausschließe«, und zwar als Totalität.8 Jeder Akt der Inbesitznahme ist zugleich ein solcher des Ausschlusses. Er beraubt andere Individuen der Möglichkeit, sich im Ding zu vergegenständlichen, dieses zu einem von ihnen kultivierten, ideellen zu machen und sich als solches anzueignen, obgleich es als ein allgemeines ein allen Einzelnen gleichermaßen zustehendes ist. Der Kampf um Anerkennung, der die bürgerliche Gesellschaft mit der Setzung von Privateigentum als ein unaufhebbarer durchzieht und ihre Mitglieder einander entfremdet, ist einer um Sanktionierung von Besitz, der sein Zustandekommen einem rational nicht zugänglichen Akt der Inbesitznahme verdankt. Es ist einer auf Leben und Tod. Darin wird Hegel den Antinomien gerechter als seine auf Schlichtung der Widersprüche bedachten liberalen Exegeten. –––––––––
7 8
Ebd., S. 226 [Ergänzungen in der Vorlage]. Ebd., S. 227 f.
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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Es ist die gemeinsame Ausrichtung auf das Naturobjekt [...], wodurch die Arbeitenden in ihrem Wettstreit um den größeren Besitz ein Maß gewinnen, das sie zueinander in Beziehung bringt, ohne daß sie gegenseitig auf den Tod des anderen zielen.9
Sie tun es nach Hegels tiefsinnigem Gedanken, sofern im Akt der Besitznahme der Ausschluß aller anderen tendenziell gesetzt ist, und zwar nicht nur von dem zufällig hier und jetzt Ergriffenen, sondern von Besitz schlechthin. Einer sucht den anderen an der Expansion zu hindern, denn Besitz, der von einem anderen angeeignet ist, kann nicht mehr zum eigenen werden; »indem Jeder den Andern tätlich ausschließt, den in der Verletzung sich genommenen Besitz aufhebt [sich rechtlich aneignet], verletzt er zugleich den Andern; er negiert etwas in dem Andern, das dieser als das Seinige setzte.« D.h. jeder erhebt potentiell Anspruch auf die Totalität der zur Verfügung stehenden Dinge, und daher ist jede Inbesitznahme eines Dinges eine Verletzung des potentiellen Anspruchs aller anderen. So »kommt es zur Erscheinung, daß jeder die Totalität des Andern negiert.«10 Die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft erscheint als ein globaler bellum omnium contra omnes um ein Gut, das als Allgemeines nur in einem nicht deduzierbaren Akt als ein privates angeeignet und behauptet werden kann. Das privat angeeignete wird von der Totalität der von diesem Besitz Ausgeschlossenen negiert, dies aber nicht im Namen eines wahrhaft Allgemeinen, der kollektiven Aneignung von Natur zur Befriedigung der Bedürfnisse aller, sondern im Namen eines allseitigen Besitztriebes, welcher das die Gesellschaft vereinende Band bildet. Ihre Mitglieder sind zusammengehalten im Bewußtsein, daß jeder auf den Tod des anderen aus ist, insofern ich im Bewußtsein des anderen »mich setze als ein solcher, der [ich] in meinem Ausschließen einer Totalität des Ausschließens bin, auf seinen Tod gehe.«11 So wenig wie die Widersprüche in der bürgerlichen Produktionsform vermag Hegel die sie fundierende Eigentumsproblematik zu bewältigen, deren Widersprüche er klar diagnostiziert. Da er noch keine Alternative zur Ideologie des Privateigentums außerhalb des Familienverbandes kennt, in welchem allein diese suspendiert erscheint, muß er Auswege suchen. Indem das Sein des Anderen negiert wird, riskiert man den eigenen Tod. Um der Behauptung des eigenen Besitzes willen, wird dieser Besitz und die Vorbedingung für seinen Genuß, das Leben, aufs Spiel gesetzt. In Hegels Worten: »Indem ich mich als Totalität der Einzelheit setze, hebe ich mich selbst als Totalität der Einzelheit auf«. Diese Aufhebung als Bedrohung des eigenen Lebens im Kampf um Anerkennung wird dann umgedeutet. Indem jeder Einzelne sein Leben zur Bewahrung seines Besitzes einsetzt, erkennt er auch den anderen als eine ebenbürtige Totalität an. Er schaut sich selbst im anderen an so wie dieser sich in ihm, und darin »hebt die Totalität der Einzelheit sich selbst auf.« Die auf Vernichtung des Anderen zielende und von diesem Anerkennung heischende Totalität ist eine solche nur, insofern sie auch den Anderen als Totalität anerkennt und damit sein ––––––––– 9
10 11
Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 233. Hegel: Jenenser Realphilosophie I (Anm. 266), S. 228. Ebd. [Ergänzung in der Vorlage].
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
eigenes Negieren negiert. So stellt die Erfahrung sich ein, »daß die einzelne Totalität, indem sie als solche sich erhalten, sein will, sich selbst absolut aufopfert, sich aufhebt, und damit das Gegenteil dessen tut, worauf sie geht.«12 Damit ist Hegel nun in der Lage, die Kategorie des ›Volksgeistes‹ einzuführen, in dem der Antagonismus der Einzelnen sich aufhebt und die einander bekämpfenden Individuen, die im Zwang gegenseitiger Anerkennung ihre Partikularität aufgehoben hatten, zu wahrhaft allgemeinen, sittlichen werden.
Bezähmung des wilden Tieres Aber ist dieser Übergang nicht ein erschlichener? Das Naturwüchsige einer Behauptung des angeeigneten Besitzes auch um den Preis des eigenen Lebens und die damit gesetzte Anerkennung des anderen als eines ebenfalls zur Behauptung des Seinigen Entschlossenen, geleiten zu einer Kategorie der Sittlichkeit, in der Aufhebung der Vereinzelung doch etwas ganz anderes meinte als die absolute Selbstbehauptung der Eigentümer und die Anerkennung aller unter eben diesem Prinzip. Der Geist eines Volkes muß sich objektivieren in Schöpfungen, in denen es sich wiedererkennt und mit denen es sich identifiziert. »Das sittliche Werk des Volks ist das Lebendig-Sein des allgemeinen Geistes; er als Geist [muß] ihr ideales Einssein, als Werk ihre Mitte [sein]«. Als solches bildet es den Gegensatz zum »Betrug Aller gegen das Ganze.« Was anders kann jedoch damit gemeint sein als der naturwüchsige Kampf aller gegen alle? Die Einheit eines Volkes als das Werk aller kann nur herbeigeführt werden durch die Negation des unorganischen Teils der Sittlichkeit.13 Sittlichkeit meint »das unmittelbar in die positive Allgemeinheit aufgenommene Einzelne, das Einzelne als ein Sichselbstgleiches, oder [das] seinem Anderssein, seiner Ungleichheit sich selbst gleich gemacht [hat].« Ihr Gegenteil bildet »die Einheit als absolut ungleiche, als absolut ausschließende, das numerische Eins, sich wohl selbst gleich, aber in seiner Sichselbstgleichheit das unmittelbare Andre seiner selbst als absolut negierend, oder die absolute Einzelheit.«14 Als solche Einzelheit präsentiert sich jedoch gerade die Familie als Eigentümer von Familiengut. Die »Familie als solche, die Realität der Einzelheit ist die unorganische Natur des Geistes«. Gegen sie muß der Geist sich different verhalten, wenn anders es zur Aufhebung der partikularen Mächte in der Einheit des Volksgeistes kommen soll.15 Weit entfernt davon, den Antagonismus der miteinander ringenden Besitzer auf andere Weise denn in der formellen Anerkennung des Rechts auf Gegenseitigkeit bereits geschlichtet zu haben, muß Hegel den Gegensatz im Abschnitt über den Volksgeist erneut aufnehmen. Erst auf dieser Ebene entscheidet sich, ––––––––– 12 13 14 15
Ebd., S. 229 f. Ebd., S. 233 f. [Ergänzungen in der Vorlage]. Ebd., S. 198 [Ergänzungen in der Vorlage]. Ebd., S. 234.
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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ob der Konflikt zu lösen und der Kampf um Anerkennung einer Philosophie absoluter Sittlichkeit zu integrieren ist. Die ›Realphilosophie‹ von 1803/04 enthält diese Antwort nicht. Sie bricht nach der Analyse des Produktionsvorgangs und dessen Resümee in der Metapher des wilden, der Beherrschung und Bezähmung bedürftigen Tieres mit der Einführung des Eigentumsbegriffs ab. »Im Besitze ist der Widerspruch, daß ein Ding als Ding ein allgemeines ist, und doch nur ein einzelner Besitz sein soll.« Diesen Widerspruch glaubt Hegel dadurch aufheben zu können, daß in der Anerkennung aller als Eigentümer, zu der sich die um ihren Besitz Kämpfenden erheben, die Synthese von privatem Besitz und allgemeinem Anspruch vollzogen ist. Im einzelnen anerkannten Besitz besitzen potentiell auch alle anderen, weil sie alle das gleiche Recht auf Eigentum geltend machen können. »Die Sicherheit meines Besitzes ist die Sicherheit des Besitzes Aller; in meinem Eigentum haben Alle ihr Eigentum.«16 Der Staat als das Ganze übernimmt die Garantie dieses Rechts. Aber kann er sicherstellen, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft dieses ihnen zugestandene Recht de facto auch zu realisieren imstande sind? Und war im Begriff absoluter Sittlichkeit nicht mehr und anderes intendiert als eine Gesellschaft von Privatrechtssubjekten; verbunden in der gegenseitigen Anerkennung von Eigentum? Im Rückgang zum ›System der Sittlichkeit‹ und im Ausblick auf die ›Realphilosophie‹ von 1805/06 sind diese Fragen abschließend wieder aufzunehmen.
Deduktion des Rechts Im ›System der Sittlichkeit‹ wird Recht – der Konzeption des Ganzen entsprechend – in allen drei Teilen des Systems behandelt. Auf der Ebene ›natürlicher‹ Sittlichkeit wird es im Zusammenhang mit allgemeiner und abstrakter Arbeit eingeführt. Deren Charakteristikum lag in der Tauschwert-, der Warenproduktion. Die Produzenten stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zueinander, und dieses wird durch den Begriff der ›Allgemeinheit‹ bezeichnet. Als allgemeines ist das Individuum anerkannt, insofern es als Warenproduzent seinen individuellen Beitrag zur Reproduktion des Ganzen und damit auch seiner selbst leistet. Der im Zuge des Tauschs von ihm erarbeitete Besitz wird ihm als Eigentum rechtlich anerkannt, so wie er selbst als rechtsgleiche, vertragsfähige Person im Arbeitsprozeß. Allgemeinheit meint also hier gerade nicht, was im Kontext von Begriffen wie Volk, Volksgeist, absolute Sittlichkeit etc. bedeutet ist, nämlich jene bruchlose Übereinstimmung der Individuen mit einem für sie Verbindlichen, das sie aus ihrer Vereinzelung befreit. In der Waren produzierenden Gesellschaft sind deren Mitglieder dissoziiert in unendlich viele Privateigentümer. Der Anerkannte ist »um des Festseins seines Besitzes willen nur ein formell Allgemeines, ein absolut Einzelnes«.17 Eigentum ist nur »als dies besondere Besessene ein All–––––––––
16 17
Ebd., S. 240. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 65 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
gemeines«. Die Allgemeinheit der Einzelnen beruht auf ihrer Anerkennung als gleichberechtigte Eigentümer und Vertragspartner, und als solche sind sie untereinander vermittelt in der wechselseitigen Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Hegel kann daher auch sagen: »Das Recht geht auf die Einzelheit und ist die Abstraktion der Allgemeinheit, denn die Einzelheit soll in ihm bestehen.«18 Im wahrhaft sittlichen Allgemeinen ist der Einzelne in der Fülle seiner Individualität aufgehoben. Insofern darin Zwangsverhältnisse dispensiert sind, beruht Sittlichkeit auf der Befreiung der inneren Natur, nicht ihrer Unterwerfung; sie nimmt diese in ihrer Totalität auf. Recht hingegen muß von aller Besonderheit abstrahieren. Es ist »nicht die Individualität, in welcher das Recht und Eigentum liegt, denn sie ist die absolute Identität [die formelle Gleichheit aller], oder selbst eine Abstraktion [...]. Recht an Eigentum ist Recht an Recht«.19 In der mit dem Recht gesetzten Negation natürlicher Unterschiede und damit von Privilegien liegt dessen fortschrittliches Moment. Damit aber ist die qualitative Differenz zwischen Recht und absoluter Sittlichkeit noch nicht beseitigt. Folgerichtig hat Hegel daher auf der Ebene absoluter Sittlichkeit im ›System der Gerechtigkeit‹ die Differenz zu mildern gesucht. Gerechtigkeit muß »selbst ein Lebendiges sein und die Person ansehen.« Der Regierung, in der Gewalt der Rechtspflege, »muß nicht die Abstraktion des Gesetzes das Absolute sein, sondern eine zur Zufriedenheit und mit Überzeugung und Beistimmung der Parteien nach Billigkeit, d.h. das Ganze derselben als Individuen ansehende Ausgleichung.«20 Im Rahmen ›natürlicher Sittlichkeit‹ ist weder auszuschließen, daß sich Verhältnisse persönlicher Herrschaft und Knechtschaft herausbilden, noch auch, daß das Recht auf Anerkennung des Besitzes wie der Person schlechthin aufgehoben wird. Im Recht ist das Individuum nicht nur als besitz- und vertragsfähiges anerkannt, sondern unter Abstraktion aller seiner Bestimmtheiten eben auch als »ein formal lebendiges«, als Person.21 In dieser Anerkennung der Person als einer bestimmungslosen, d.h. absolut freien, ist zugleich deren Möglichkeit zum Verbrechen gesetzt, wie sie im zweiten Teil des ›Systems der Sittlichkeit‹ entwickelt wird und im System absoluter Sittlichkeit in der Rechtspflege sodann den Mechanismus der Strafe in Gang setzt, mittels dessen die Gesellschaft sich gegen den die Anerkennung von Besitz und Person Verweigernden zur Wehr setzt.
Herr und Knecht rechtlich überformt In den Jugendschriften hatte dieser Mechanismus als Paradigma einer nicht in gemeinsamen Sitten vereinten Gesellschaft gegolten. Die bürgerliche Gesell––––––––– 18 19 20 21
Ebd., S. 87 f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 87 f. Ebd., S. 32.
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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schaft braucht ihn, um die aus ihrer Produktionsform hervorgehenden Eigentumsverhältnisse und die Anerkennung der Person als freies Vertragssubjekt zu sichern. Die gegenseitige Anerkennung aller als gleicher Rechtssubjekte vermag auf der Ebene ›natürlicher‹ Sittlichkeit nicht zu verhindern, daß sich Herr- und Knechtschaftsverhältnisse ausbilden, wie sie »mit der Ungleichheit der Macht des Lebens unmittelbar und absolut gesetzt [sind]; es ist hiebei an kein Recht und keine notwendige Gleichheit zu denken.« Gleichheit als rechtliche abstrahiert mit der Besonderheit der Personen auch von der Ungleichheit der Besitzverhältnisse. »In der Realität hingegen ist die Ungleichheit des Lebens gesetzt, und damit das Verhältnis [von Herrschaft] und Knechtschaft«. Dieses gründet in ökonomischen Abhängigkeits- und Machtgegebenheiten. Es ist die Not, was das Band beider ausmacht. Der Herr ist im Besitz eines Überflusses des physischen Notwendigen überhaupt, und der andere im Mangel desselben, und zwar so, daß jener Überfluß wie dieser Mangel nicht einzelne Seiten, sondern die Indifferenz der notwendigen Bedürfnisse ist.22
In sittlichen Verhältnissen gibt es Unterordnung nur unter ein Allgemeines, das der inneren Natur der Individuen korrespondiert. Das Verhältnis zwischen Herr und Knecht dagegen ist ein persönliches, basierend auf dem Unterschied von arm und reich. Im Rahmen natürlicher Sittlichkeit wird dieses Machtverhältnis in der Familie als deren höchster Potenz überwunden. »Hier sind verschiedene äußere Bedürfnisse, unterschiedliche physische Bedingungen: die Geschlechtsdifferenz und das Verhältnis von Eltern zu Kindern beispielhaft zur Einheit gebracht.«23 Doch kann die Familie nicht verhindern, daß jenseits ihrer der von der bürgerlichen Gesellschaft entfesselte Machtkampf weitertobt, wie Hegel ihn unter dem Titel des ›Systems der Bedürfnisse‹ analysiert. Dem Staat ist eine Möglichkeit eingeräumt, die krassesten Ungleichheiten zu mildern. Beseitigen kann er sie nicht, will er nicht den Motor abstellen, der das Ganze in Gang hält. Er vermag per Rechtspflege vertragsbrüchige Partner zur Rechenschaft zu ziehen, Aufhebung der Anerkennung fremden Eigentums oder gar fremder Personen ahnden, jedoch keine grundlegende Änderung der Besitzverhältnisse herbeiführen. Die Rechtspflege vollzieht sich mit völliger Indifferenz für das Interesse der Beziehung der Sache auf das Bedürfnis dieses bestimmten Individuums. Dieses Individuum ist für sie eine völlig indifferente allgemeine Person. Es kommt bloß das Allgemeine, das Abstrakte der Art des Besitzes und Erwerbs bei der reinen Gerechtigkeit in Rücksicht.24
Die Rechtspflege ist der Garant dafür, daß die Totalität der ökonomischen Akte nach festgelegten Spielregeln abgewickelt wird. Recht obliegt wie bei Kant die Sicherung der bürgerlichen Produktionsordnung; es garantiert mit Hilfe staatlicher Gewalt deren Funktionieren. Stellt es Freiheit und Rechtsgleichheit her und garantiert es rechtmäßig erworbenes Eigentum, so läßt das ›System der Bedürf––––––––– 22 23 24
Ebd., S. 34 f. [zweite Ergänzung in der Vorlage]. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (Anm. 119), S. 229. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 87.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
nisse‹ keinen Zweifel daran, wie es um diese Werte realiter im sozio-ökonomischen Prozeß bestellt ist. Die Freiheit der Einzelnen gerät zu einer Phrase angesichts eines schicksalhaft über ihren Köpfen sich vollziehenden Prozesses, Rechtsgleichheit als Anerkennung gleichberechtigter Vertragspartner ist de facto aufgehoben unter dem Diktat der vorwaltenden Arbeitsbedingungen, und die Garantie des Eigentums vermag die Polarisierung in Armut und Reichtum nicht zu verhindern. Es macht die Größe der Hegelschen Philosophie des objektiven Geistes aus, daß sie diese Diskrepanzen rückhaltlos aufdeckt und unablässig bemüht bleibt, ihre Schlichtung denkend herbeizuführen.
›System der Zucht‹: Aspekte einer Theorie der Sozialisation Im ›System der Zucht‹ hat Hegel stichwortartig Notizen zu einer Theorie der Sozialisation niedergelegt. Die Integration der Individuen in die Mächte der Sitte vollzieht sich in Erziehung und Bildung. Sie werden im Naturrechtsaufsatz detaillierter umrissen, nämlich negativ als das »fortgehende Aufheben des negativen oder subjectiven«; positiv hingegen dahingehend, daß das Individuum »an der Brust der allgemeinen Sittlichkeit getränkt, in ihrer absoluten Anschauung zuerst als eines fremden Wesens lebt, sie immer mehr begreift, und so in den allgemeinen Geist übergeht.« Es komme darauf an, das Kind »zum Bürger eines wohleingerichteten Volkes« zu machen, damit es »den Sitten seines Landes gemäß« lebe, wie schon die Alten formulierten.25 Härter heißt es im ›System der Sittlichkeit‹: »Die große Zucht sind die allgemeinen Sitten, und die Ordnung, und die Bildung zum Kriege, und die Prüfung der Wahrhaftigkeit des Einzelnen an ihm.«26 Die abschreckende martialische Wendung ist zurückzubeziehen auf die sittliche Ordnung. Nur wo die Bürger sich mit ihr identifizieren, werden sie bereit sein, diese zu verteidigen. Bildung auf Anschauung eines Vorgegebenen zu gründen, setzt voraus, daß dieses ›wohleingerichtet‹ ist. Soll Sittlichkeit nicht aus dem reinen Willen deduziert werden, müssen die realen Verhältnisse so gestaltet sein, daß sie den natürlichen und vernünftigen Ansprüchen der Individuen genügen, ohne sich ihnen gegenüber in schlechter Positivität verselbständigt zu haben. In den Schriften bis hin zum Naturrechtsaufsatz ist es Philosophie aufgetragen, gegen die Verfestigung positiver Formationen den Anspruch einer im Bestehenden sich nicht länger erkennenden Vernunft aufrechtzuerhalten. Mit dem ›System der Sittlichkeit‹ schreitet Hegel zu einer ins Einzelne gehenden Rekonstruktion der sittlichen Organisation voran. Ist das Ergebnis dazu angetan, das Prädikat eines ›wohleingerichteten‹ Ganzen zu tragen? Wird das System nicht von einer Revolte einzelner Elemente erschüttert, die Hegel seit jeher als zerstörerisch diagnostiziert hatte, nun jedoch als vorgegebene gewaltsam integrieren –––––––––
25 26
Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 195), S. 469. Hegel: System der Sittlichkeit (Anm. 203), S. 90.
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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muß? Reichen die Schutzmaßnahmen aus, um das Ganze zu stabilisieren? Und hat dieses – nicht seinem Anspruch nach, wohl aber in seiner konkreten Ausprägung – noch etwas gemein mit dem, was Hegel angesichts der antiken Polis erfahren hatte?
Abschließende Jenenser Deduktion von Eigentum In der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 unternimmt Hegel nochmals den Versuch, durch eine neue Anordnung des Ganzen und eine neue Bewertung wichtiger Systemteile die verbliebenen Widersprüche zu schlichten. Die Partien zur Theorie der Arbeit wurden bereits herangezogen. Hier ist anzuknüpfen an die Deduktion des Eigentums, wie sie Hegel in der ›Realphilosophie‹ von 1803/04 versucht hatte und im Anschluß an die nochmalige Einführung des Arbeitsprozesses wieder aufnimmt. In diesem haben die Familien sich Besitz, Familiengut, erarbeitet und treten nun zum Kampf um gegenseitige Anerkennung des von ihnen Erarbeiteten an. Sie sind zugleich aufeinander bezogen und gespannt gegeneinander. Ihr unmittelbares Dasein ist ausschließend. Der Eine hat in seinem Gute sich eines Stückes der Erde bemächtigt [...]. Er hat es durch die Arbeit bezeichnet oder dem Zeichen seinen Inhalt als Daseiendes gegeben – eine negative, ausschließende Bedeutung. Der Andre ist also aus dem, was er ist, ausgeschlossen. Das Sein ist nicht mehr ein allgemeines.27
Dieser Akt ›unmittelbarer‹ Besitznahme entspricht genau der ›ursprünglichen‹ in der Rechtsphilosophie Kants. Er wird traditionellerweise – wie ja auch bei Kant – unter dem Titel des Naturzustandes bzw. des Naturrechts behandelt. Und so wenig wie Kant entgehen Hegel die damit gegebenen Widersprüche. Die Besitznahme im Naturzustand bleibt mit dem Makel der puren Zufälligkeit behaftet, welche Hegel exakter als Kant aufdeckt. Genau wie bei Kant ist mit dem Begriff des freien Selbstbewußtseins auch das Recht des Menschen gesetzt, »in Besitz zu nehmen, was er als Einzelner kann. Er hat das Recht; dies liegt in seinem Begriffe, Selbst zu sein; dadurch ist er die Macht gegen alle Dinge.«28 Durch jeden Akt der Inbesitznahme wird jedoch das Verhältnis der Individuen zu- und untereinander gestört, weil durch jede Besitznahme des einen zugleich ein anderer ausgeschlossen wird. Was und wie viel darf ich in Besitz nehmen, ohne dem anderen Unrecht zu tun? Gewiß nichts, was bereits in seinem Besitz ist. Also alles, was noch nicht Besitz geworden ist? Mit der prinzipiellen Bejahung dieser Frage hatte Kant sich zufrieden gegeben. Hegel dagegen deckt die Widersinnigkeit eines solchen Verfahrens auf. »Ich nehme das, was sein Besitz werden könnte. Es könnte nur aber erst sein Besitz werden, der meinige aber ist es wirklich; seine Möglichkeit steht meiner Wirklichkeit nach. Er hat mich, der ich wirklich bin, anzuerkennen.« Aber doch nur deshalb, weil ich zufällig eher vor ihm mich des Gegen––––––––– 27 28
Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 205. Ebd., S. 207.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
standes bemächtigt habe. Das Empirische der zeitlichen Priorität in der Besitznahme durch ein empirisches Subjekt schafft Fakten, die per Recht sanktioniert werden. Aber wodurch wird etwas in der Empirie mein Besitz? Dadurch, daß ich es mit Hand, Mund oder Blick umfasse? Dadurch, daß ich es bearbeite, damit als das meine deklariere und so den anderen zwinge, es nicht zu verletzen? Auch damit ist die Zufälligkeit nicht beseitigt. Wo »hebt bei einem bearbeiteten Acker, Baum die Form [an] und wo hört sie auf? Das Innre jeder Erdscholle ist unberührt gelassen, oder wenigstens bewegt, so das untere und viel[es gar] nicht usf.« In dieser ursprünglichen Besitznahme »ist keine Vernunft«, sondern sie bleibt durch und durch »dem Zufalle anheimgestellt«.29 Den mit der Besitznahme gesetzten Kampf um Anerkennung hat Hegel nun in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 streng dialektisch entfaltet. Ist Liebe »dies Anerkanntsein ohne Gegensatz des Willens«, so die Anerkennung der Besitzenden das genaue Gegenteil. Gleichwohl soll Liebe das Vorbild geglückter Anerkennung abgeben. »Ein solches hat zu werden.« Doch bleibt es beim Postulat. Die Besitzergreifenden treten als Selbständige gegeneinander auf. Hier der eine im erworbenen (Familien-)Besitz, »ruhig unbefangen für sich«; dort der andere, ausgeschlossen vom Besitzenden und damit tendenziell von Besitz schlechthin. Doch so wie der Besitzende den anderen realiter vom Besitz ausschließt, verletzt dieser jenen, indem er in dessen Bewußtsein seinen eignen Anspruch auf Besitz eingräbt, derart »sein Selbst in einem andern Selbst setzend, in das Wissen eines Andern.« Die Einheit des Bewußtseins des Besitzenden wird verletzt, nämlich mit einem Unterschied behaftet. Der de facto Ausgeschlossene bricht im Bewußtsein des Ausschließenden dessen ruhiges ›Fürsichsein‹, belastet es mit dem Wissen des Ausschließens. Darin stellt der Ausgeschlossene sein Selbstgefühl wieder her, ohne freilich mit dem Besitzenden gleichziehen zu können. Während dieser sich in der Vernichtung per Arbeit den Gegenstand aneignet, vernichtet jener »die Form der Arbeit oder des Tuns des Andern.« Gleichheit erforderte, daß beide gemeinschaftlich den Gegenstand sich aneigneten. Eben das aber ist nicht mehr möglich, denn der Gegenstand, der in der ursprünglichen Aneignung ein herrenloser war, ist für den realiter Ausgeschlossenen immer schon ein besessener. »Der Erstere setzte sich in das herrenlose Ding, der Andre in das beseßne. Diese Ungleichheit ist aufzuheben.« Sie wäre es nur durch eine kollektive Aneignung des Allgemeinen, der Natur. Bürgerliche Sozialphilosophie ist vor die Aufgabe gestellt, die Gleichheit wieder herzustellen, ohne den Anspruch auf Privateigentum aufzuheben. Kann das Ergebnis ein anderes denn ein widersprüchliches sein? Die Fiktion nicht nur des einseitigen, sondern des gegenseitigen Ausschließens ist aufgehoben; »jeder ist seiner im Andern bewußt [...]. Jeder ist außer sich.«30 Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß der eine durch seine Besitznahme das Sein des anderen, seine Realisierung in diesem Ding auf––––––––– 29 30
Ebd., S. 207 f. [Ergänzungen in der Vorlage]. Ebd., S. 209 f.
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hob, der andere das ungestörte ›Fürsichsein‹ des Okkupierenden. In dieser Verletzung fremden Selbstbewußtseins gewinnt der andere das seinige zurück, so daß die Rollen sich nun verkehren: Der ehemals Ausgeschlossene ist jetzt zufrieden – wenn auch nur bedingt, nämlich bezogen auf den anderen –, der Besitzende gereizt, gespannt, »ein fremdes Fürsichsein hat sich in das seinige gesetzt.« Ihm geht es – im Gegensatz zu dem anderen – nicht darum, sein Dasein durch Behauptung seines Anspruches auf Besitz wiederherzustellen, sondern sein Wissen von sich. Er weiß sich als verletztes Selbstbewußtsein. Die Anerkennung, um die er kämpft, zielt nicht mehr auf sein Dasein als besitzendes; dieses sinkt gerade zu einem Sekundären herab. Er fordert Anerkennung für sich als gewußtes ›Fürsichsein‹, für sich als reinen Willen, als Person. In der Besitznahme zielte sein Tun auf den Tod des anderen; in Wahrheit jedoch zielte er auf den Tod seiner selbst als eines empirischen Wesens, um als vernünftiges, als allgemeines anerkannt zu werden. Diese Erkenntnis, als Person um Anerkennung zu ringen, impliziert die Anerkennung auch des anderen als Person. Der Kampf um Anerkennung endet mit der Anerkennung des jeweils anderen als eines ebenfalls freien und damit besitzfähigen Selbsts. »Der Wille der Einzelnen ist der allgemeine und der allgemeine ist einzelner, Sittlichkeit überhaupt, unmittelbar aber Recht.«31 Mit dieser gegenseitigen Anerkennung von Personen als besitzfähiger ist jedoch die empirische Ungleichheit, die Hegel unter dem Titel der unmittelbaren Besitznahme analysiert hatte, nicht aufgehoben. Der von dem deklarierten Besitz ausgeschlossenen Person ist jetzt zwar ebenfalls das Recht auf Okkupation zugestanden, aber Besitz, der sich in anderen Händen befindet, ist ihm nicht zugänglich. Dieser Widerspruch wird in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 in einer Gestalt fortentwickelt, die verbindlich für Hegels Philosophie des objektiven Geistes bleiben wird.
Naturzustand versus Rechtszustand Naturzustand und Rechtszustand werden – anders als in den Jugendschriften und der frühen Jenenser Systematik bis hin zum ›System der Sittlichkeit‹ – in Opposition zueinander gesetzt. Auf das natürliche Recht empirischer Besitznahme mit allen ihr anhaftenden Zufälligkeiten kann Recht nicht begründet werden, sondern nur auf das aus dem Kampf um gegenseitige Anerkennung hervorgehende freie Selbstbewußtsein, den freien Willen. »exeundum e statu naturae.« Diese von Hobbes stammende und schon in Hegels Habilitationsthesen auftauchende Formel liefert den Schlüssel zur Hegelschen Rechtstheorie im Rahmen des ersten ausgeführten Systems einer Philosophie des Geistes, wie es in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 vorliegt. Im Naturzustand unterliegen die Menschen keinen Pflichten und Rechten, sondern erst in einem Zustand des Rechts – in der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, wie Kant sagte. Dieser Rechtszu––––––––– 31
Ebd., S. 211 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
stand basiert auf dem ausgetragenen Kampf um Anerkennung. Erst die Spaltung des eigenen Selbstbewußtseins in der Verletzung des anderen durch den Akt der Besitznahme führt die Behauptung des eigenen Selbst durch die Anerkennung auch des fremden herbei. Die Einheit des Selbstbewußtseins stellt sich als eine nicht länger unmittelbare, sondern vermittelte im Akt des Anerkennens des anderen und damit des sich ›Anerkanntwissens‹ her. Das meint die Hegelsche Rede vom »Begriff der gegeneinander freien Selbstbewußtsein[e]«, die sich in einer Bewegung des Begriffs zu realisieren haben. Das Resultat dieser Bewegung bildet die wechselseitige Anerkennung als Person, und auf ihr basiert Recht.32 »Recht ist die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern, das allgemeine Element ihres freien Seins oder die Bestimmung, Beschränkung ihrer leeren Freiheit.« Die Beziehung ist eine des Anerkennens. Durch sie wird der Naturzustand als einer der Unmittelbarkeit aufgehoben. Das »Natürliche ist nur, es ist nicht Geistiges.« Der Rechtszustand als ein aus dem Begriff erzeugter ist ein geistiger und darin qualitativ different zum natürlichen. Das Naturrecht ist ein unmittelbares in Bezug auf Gegenstände, nämlich »in Besitz zu nehmen, was er als Einzelner kann«; Recht im Rechtszustand ist ein mittelbares in Bezug auf Personen. Was ich, ohne einem anderen Unrecht zu tun, in Besitz nehmen darf, kann auf der Ebene des Naturrechts nicht entschieden werden. Die Inbesitznahme ist als empirische noch keine rechtliche. Letztere aber verändert so wenig wie bei Kant den Inhalt der Besitznahme, sondern nur seine Qualität. »Es ist dieser Widerspruch, daß das Unmittelbare den Inhalt ausmacht, das Subjekt, dessen Prädikat das Recht sein soll.«33 Der Unterschied zur natürlichen Besitznahme besteht darin, daß sie jetzt auf die Bewegung des Begriffs, die gegenseitige Anerkennung der Personen als besitz- und rechtsfähiger gegründet ist. Nicht das Zufällige zeitlicher Priorität ist getilgt, sondern die Unsicherheit über die Rechtmäßigkeit meines Tuns, die zur Auflösung der Einheit des Selbstbewußtseins geführt hatte. Ausdruck für einen solchen auf die gegenseitige Anerkennung beruhenden rechtlichen Akt der Aneignung ist der Vertrag. Er garantiert, »daß nichts durch unmittelbares Nehmen Einem angehört, sondern durch Vertrag, d.h. eben[, daß] dies unmittelbare Besitznehmen nicht stattfindet, daß nicht an sich ausgeschlossen wird, sondern anerkannt.«34 Vertragsrechtliche Inbesitznahme ist eine geistige, vernünftige, weil sie statt im einseitigen Ausschluß im wechselseitigen Einverständnis erfolgt und damit das Moment des Zerfalls und der Willkür eliminiert zu sein scheint. Der Vertrag ist das Siegel darauf, daß die Aneignung der Natur sich in der Form der Allgemeinheit vollzieht. Der Austausch der in abstrakter Arbeit produzierten Waren muß in vertraglich geregelter Weise vor sich gehen, d.h. die Tauschpartner müssen sich als rechtsfähige Subjekte anerkannt haben. Mein Haben ist vermittelt »durch das Anerkanntsein oder sein Dasein ist das geistige Wesen.« Als vertraglich vermitteltes ist das wechselseitige –––––––––
32 33 34
Ebd., S. 205 [Ergänzung in der Vorlage]. Ebd., S. 206 f. Ebd., S. 208 [Ergänzung in der Vorlage].
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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Agieren empirischer Zufälligkeit enthoben und fundiert in einem ideellen. Vertraglicher Tausch ist ideeller. Im Vertrag gilt der reine Wille der sich anerkennenden Personen, darin »liegt die Gleichgültigkeit gegen das Dasein und die Zeit.«35 Und zugleich gegen die innere Gesinnung. Maßgeblich in einem vertraglichen Verhältnis ist allein, daß ich es einhalte, nicht aus welchen Gründen dies geschieht. Mit dieser von Hegel nun voll in das System integrierten Legalitätstheorie ist zugleich die Zwangsgewalt akzeptiert. Im Vertrag trete ich als allgemeiner Wille, als Person, auf, mein Wort gilt bereits als meine Leistung. Indem ich vertragsbrüchig werde, stelle ich mich außerhalb des Zusammenhangs allseitiger Anerkennung, mache diese für mich rückgängig, falle zurück in nichtrechtliches, nichtanerkennendes Dasein, erkenne damit auch den anderen nicht länger als allgemeines an. Die Komplexion des Ich als zugleich allgemeines und besonderes wird reduziert auf das Besondere. Ein »Zurückgehen in die Einzelheit [ist] Verbrechen«. Dieses mein Verhalten löst die Gegenreaktion des allgemeinen Willens aus. »Strafe ist dieses Umschlagen; sie ist Wieder[ver]geltung als des allgemeinen Willen[s].« Sie ist gerecht, weil der Verbrecher sich bewußt von der ehemals auch von ihm akzeptierten allseitigen Anerkennung losgesagt hat. Zu einem Rechtszustand gehört unabdingbar, »daß Jeder in der allgemeinen Substanz besteht, [...] daß er es weiß, daß sein besonderes Sein unmittelbar Allgemeines ist.«36 Im Gesetz realisiert sich demnach das »Existieren des gemeinsamen Willens Verschiedner über eine einzelne Sache.«37 Es verbietet den Bruch des Vertrages, es zwingt, d.h. »es führt gegen meine besondre Bedeutung die gemeinsame aus, gegen mein Dasein mein Ansich oder gegen mein besondres Selbst mein allgemeines.«38 Es unterwirft mich nicht der Gewalt eines anderen, begründet also kein persönliches Herrschaftsverhältnis, sondern verpflichtet mich als allgemeines Wesen, als Person. In der Rechtspflege gelangt es zur Ausführung. Deren Problematik gerade in der Praxis des Zivilrechts bleibt Hegel wiederum nicht verborgen. Die Ärmsten, die des Rechts am bedürftigsten sind, können es nur allzu oft wegen der hohen Gerichtskosten nicht in Anspruch nehmen.39
Staat als Garant der Geltung von Recht Die Durchsetzung des Rechts ist an die Existenz des Staates gebunden. Er ist das Dasein, die Macht des Rechts, das Halten des Vertrags und (des Bleibens bei seinem ruhigen Eigentume) die daseiende Einheit des Worts, des ideellen Daseins und der Wirklichkeit, so wie die unmittelbare Einheit des Besitzes und des Rechts [...].
––––––––– 35 36 37 38 39
Ebd., S. 217 und S. 219. Ebd., S. 224 f. [Ergänzungen in der Vorlage]. Ebd., S. 226 f. Ebd., S. 235. Vgl. ebd., S. 236 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Aber die Vereinigung der Bürger unter der Allgemeinheit des Gesetzes im Staat muß mehr und etwas anderes sein als die Unterwerfung unter ein notwendiges Übel. Sie muß zur Sitte eines Volkes werden in der bewußten Anerkennung meiner und des anderen als Personen, deren Rechte aufgehoben sind im allgemeinen Willen als dem Garanten durchgehender Wirksamkeit von Recht. »Diese Macht über alles Dasein, Eigentum und Leben und ebenso [über] den Gedanken, das Recht und das Gute und Böse ist das Gemeinwesen, das lebendige Volk.«40 Recht als geistiges muß zur zweiten Natur der Staatsbürger werden. Als geistiges ist das Allgemeine nicht auf blinde Notwendigkeit gegründet, sondern – vermittelt durch das Wissen der Personen – auf Freiheit. Es wird die unmittelbare Einheit des reinen Willens und des Daseins, des reinen Bewußtseins und meiner selbst. [...] Der allgemeine Wille ist der Wille als Aller und Jedes, aber als Wille ist er schlechthin nur dieses Selbst, das Tun des Allgemeinen ist ein Eins: der allgemeine Wille hat sich in dieses Eins zusammenzunehmen.
Daraus folgt für Hegel die Ablehnung der Theorie des ursprünglichen Vertrages. Die Vermittlung der Einzelnen mit dem Allgemeinen ist nur prozessual zu denken, nicht als abstraktes Votieren für ein Allgemeines, das sich aus der Mehrheit einzelner Voten summiert. Sie beruht auf einem langwierigen Sozialisationsprozeß, in dessen Mittelpunkt die Aneignung der Natur in den verschiedenen Formen der Arbeit sowie die in ihrem Gefolge sich herausbildenden Rechtsformen stehen, und der in der Lehre vom Sozialvertrag voluntaristisch übersprungen wird. Die Einzelheit, »weil sie noch keine entäußerte ist oder die Negativität nicht an ihr selbst hat, ist sie eine Zufälligkeit für das Allgemeine und dies ein wirkliches Anderes als sie.«41
Wandel in der Setzung von Recht in der späteren Rechtsphilosophie Diese hier knapp referierte Konzeption schreitet bruchlos fort, nachdem die Individuen im Kampf um Anerkennung sich wechselseitig als Personen zu akzeptieren gelernt haben. Die Interaktion der Individuen ist fortan auf allgemeine, auf geistige Prinzipien gegründet, durch welche die Naturwüchsigkeit der nicht per Recht geregelten Formen der Kommunikation dispensiert zu sein scheint. Dagegen spricht die Naturwüchsigkeit der Arbeit, wie sie sich voll erst in der abstrakten, gesellschaftlichen im Rahmen des Rechtsstaates durchsetzt. Das aber ist nur eine Konsequenz jenes Widerspruchs, der auch durch den gegenseitigen Kampf um Anerkennung materialiter nicht beseitigt, sondern nur formaliter aus der Welt geschafft werden konnte. Den grundlegenden Unterschied dieser Konzeption zur späteren Rechtsphilosophie hat Jürgen Habermas aufgezeigt. Die als rechtsfähig anerkannte Person geht in der Jenenser Realphilosophie aus einem durch Sprache, Arbeit und In––––––––– 40 41
Ebd., S. 234 und S. 237 [Ergänzung in der Vorlage]. Ebd., S. 244 f.
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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teraktion vermittelten Austauschverhältnis mit der Natur hervor. Bildet Sprache sowohl die Basis für kommunikatives Handeln wie für Arbeit (sei diese nun gesellschaftliche oder einsame), so stellt Hegel den Zusammenhang zwischen Arbeit und Interaktion in der Jenenser Philosophie des Geistes in den mit den Arbeitsformen sich ausbildenden Rechtsnormen her. Dieser Zusammenhang ist in der späteren Rechtsphilosophie aufgelöst. Statt daß Recht im Gefolge von Arbeit entwickelt würde, konstituiert es sich unabhängig von den Kategorien der gesellschaftlichen Arbeit und tritt erst nachträglich zu den Prozessen [der Arbeit] in Beziehung, denen es doch in Jena das Moment der Freiheit als Resultat einer Befreiung durch gesellschaftliche Arbeit schuldete. Die Dialektik der Sittlichkeit allein verbürgt das ›Übergehen‹ des noch innerlichen Willens in die Objektivität des Rechts. Die Dialektik der Arbeit hat ihren zentralen Stellenwert eingebüßt.42
Rechtsfähigkeit der Person Im ersten Teil der Rechtsphilosophie, der den Titel ›abstraktes Recht‹ trägt, geht Hegel gleich aus von dem Einzelnen als freier Person im Stande der Rechtsfähigkeit. Der Einzelne ist Person, »sofern er das Recht hat, seinen Willen in jede Sache zu legen, und sich so als ›Eigentümer‹ über ›Besitz, welcher Eigentum ist‹, zu anderen Freien als Personen verhält (§§ 40, 44).«43 Dieses Recht folgt – genau wie bei Kant – aus der Voraussetzung des freien Willens als der »Substanz und Bestimmung« des Rechts.44 Der grundlegende Unterschied zu Kant liegt darin, daß Hegel den an sich seienden freien Willen zum für sich seienden werden läßt, als welcher allein der sittliche gelten kann. Dazu bedarf es der Einbildung in die Welt der Objekte, um im anderen, dem Endlichen, bei sich selbst zu sein. »Dieß, daß ein Daseyn überhaupt, Daseyn des freien Willens ist, ist das Recht.«45 Der an sich freie Wille findet die Natur als sein Gegenüber vor und gibt sich sein Dasein, indem er sich diese aneignet. Das Vernünftige des Eigentums, so stellt ein Zusatz zu § 41 klar, liegt nicht in der damit gegebenen Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung, sondern darin, daß sich im Eigentum das bloß Subjektive der Person aufhebt und diese den ersten Schritt zur Idee als Einheit ihres Begriffs und Daseins tut. Alles vom freien Willen verschiedene ist ein ihm äußerliches, eine Sache, und kann somit als ein selbst Rechtloses von der Person in Besitz genommen werden. Der Mensch als Mensch hat ein »absolutes Zueig––––––––– 42 43 44
45
Habermas: Arbeit und Interaktion (Anm. 243), S. 44. Ritter: Person und Eigentum (Anm. 293), S. 256 f. Im folgenden – unter Angabe der jeweiligen Paragraphen – zitiert nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Studienausgabe. Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Karl Löwith, Manfred Riedel. Band II: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse.- Frankfurt/Main: Fischer 1968 (= Fischer Bücherei. Bücher des Wissens; 877). Hinzuzuziehen ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit den von Gans redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesungen neu hrsg. von Georg Lasson.- Leipzig: Meiner 1911 (= Philosophische Bibliothek; 124), S. 51 (§ 4). Ebd., S. 70 (§ 29).
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
nungsrecht [...] auf alle Sachen«, er selbst hingegen kann niemals rechtmäßig zugeeigneter Gegenstand werden (womit der Begriff des ›persönlichen Rechts‹ sich ad absurdum führt).46 Daß ich eine Sache als die meine behaupte, dafür reicht die Intention auf sie allein nicht aus. Zur Sache als Eigentum gehört die daher ›Besitznahme‹, in der ich ein Natürliches in meine ›äußere Gewalt‹ bringe (§ 45, § 56). Das nimmt Hegel wie alle sonstigen herkömmlichen Unterteilungen des Eigentums in körperliche Besitzergreifung, Formierung, Bezeichnung, Gebrauch der Sache usf. auf, weil sie das Wahre enthalten, daß die ›reelle Seite und Wirklichkeit‹ aller Sachen als Eigentum in dem liegt, was der Mensch im Aneignen, Verändern und Nutzen aus ihnen und mit ihnen macht (vgl. § 59).47
Aber durch diese verschiedenen Akte erkämpfen sich die Personen nicht mehr das gegenseitige Recht auf Eigentum und erkennen sich als rechtliche Eigentümer anschließend an, sondern dieses ihr Recht ist jetzt immer schon vorausgesetzt (vgl. § 57).
Abkoppelung des Rechtssystems von Inbesitznahme und Eigentumsordnung Das hat zur Folge, daß Hegel die ehemals unter dem Titel des Kampfes um Anerkennung diskutierten Widersprüche des Privateigentums jetzt als empirische, mit dem Begriff des Rechts nicht zusammengehörige diskreditieren und als solche aus der Deduktion von Recht eliminieren kann. Und zwar gilt das einerseits für die zeitliche Priorität der Besitznahme, die ehemals als eine zufällige das Problem der Vereinbarkeit mit Recht aufwarf, jetzt jedoch als empirische keiner Erörterung mehr für Wert befunden wird (vgl. § 50) und andererseits für das Problem materieller Gleichheit. Da mir im Eigenthum mein Wille als persönlicher, somit als Wille des Einzelnen objektiv wird, so erhält es [das Eigentum] den Charakter von Privateigenthum, und gemeinschaftliches Eigenthum, das seiner Natur nach vereinzelt besessen werden kann, die Bestimmung von einer an sich auflösbaren Gemeinschaft, in der meinen Antheil zu lassen, für sich Sache der Willkür ist.
Die Schranke der platonischen ›Politeia‹ wie eines jeden Ideals von Gütergemeinschaft liegt für Hegel in der Einschränkung des Rechts auf Privateigentum, weil damit »die Natur der Freiheit des Geistes und des Rechts« verkannt wird.48 Freiheit des Geistes darf so wenig wie bei Kant eine Beschränkung durch äußere Gegenstände erleiden, und daraus folgt das unantastbare Recht einer jeden Person auf Privateigentum. Der Umfang des angeeigneten Besitzes ist rechtlich eine »Zufälligkeit« und kann daher bei der Einführung abstrakten Rechts unberücksichtigt bleiben. Die Personen sind als abstrakte rechtsgleich; alles außerhalb des Grundsatzes der Rechtsgleichheit Fallende unterliegt als Besonderes der Ungleichheit. »Die bisweilen gemachte Forderung der Gleichheit in Aus––––––––– 46 47 48
Ebd., S. 82 (§ 44). Ritter: Person und Eigentum (Anm. 293), S. 269. Hegel: Studienausgabe, S. 83 f. (§ 46).
Das ›wilde Tier‹ und seine Zähmung
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theilung des Erdbodens oder gar des weiter vorhandenen Vermögens [des von der Gesellschaft Erarbeiteten], ist ein um so leererer und oberflächlicherer Verstand«, als damit nicht nur alle natürlichen, sondern zugleich auch alle geistigen Unterschiede nivelliert würden.49 Relative Gleichheit in der Sphäre der Besonderheit herzustellen, fällt nicht unter die Aufgabe abstrakten Rechts, sondern obliegt der bürgerlichen Gesellschaft und der zum Zweck ihrer Regulierung sich ausbildenden Institutionen. »In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles Andere ist ihm Nichts.«50 Darin erweist sich die bürgerliche Gesellschaft als Negation natürlicher Sittlichkeit der Familie und in Differenz zur allgemeinen, geistigen Sittlichkeit des Staates, zwischen denen sie im letzten, der Sittlichkeit gewidmeten Teil der Rechtsphilosophie plaziert ist. Die sie charakterisierende Allgemeinheit ist nach wie vor die allseitiger Abhängigkeit voneinander. Die in ihr zustande kommende Einheit ist zunächst »nicht die sittliche Identität [... und] eben damit nicht als Freiheit, sondern als Nothwendigkeit« zu kennzeichnen.51 Die Teilhabe an dem von der Gesamtheit erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtum (›allgemeines Vermögen‹) ist durch zahlreiche Umstände bedingt: die »ungleichen natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen«, die ihrerseits durch die gesellschaftlichen Umstände modifiziert werden und zu den verschiedenartigsten »Geschicklichkeiten« führen, sowie durch das in den Produktionsprozeß eingeführte Kapital, das andererseits auch auf die »Geschicklichkeit«, nämlich die Ausbildungsmodalitäten zurückwirkt. Dieser Ungleichheit, wie sie mit der Realisierung des Begriffs im Dasein als Besonderheit notwendig gesetzt ist, das Postulat der Gleichheit entgegenzusetzen, »gehört dem leeren Verstande an, der dieß sein Abstraktum und sein Sollen für das Reelle und Vernünftige nimmt.« Die bürgerliche Gesellschaft als Sphäre der Besonderheit und nur relativen Identität mit dem Allgemeinen bleibt auch im Spätwerk mit jenem »Rest des Naturzustandes« behaftet, den Hegel einst der absoluten Sittlichkeit als ihr unorganisches Moment zum Opfer gebracht hatte.52 Vom Standpunkt des Rechts aus stellt relative materielle Gerechtigkeit als empirische zugleich ein gleichgültiges Moment dar. Recht »bezieht sich nur auf die Beschützung dessen, was ich habe: dem Rechte als solchem ist das Wohl ein Aeußerliches.«53
Soziale Antagonismen im Gefüge der späten Rechtsphilosophie In einer sittlichen Organisation muß aber neben der Rechtsgleichheit auch das ›Wohl‹ der einzelnen Mitglieder sichergestellt sein. Letzteres ist um so gefährdeter, als die bürgerliche Gesellschaft das Individuum aus den Familienbanden ––––––––– 49 50 51 52 53
Ebd., S. 85 f. (§ 49). Ebd., S. 192 (§ 182, Zusatz). Ebd., S. 195 (§ 186). Ebd., S. 203 (§ 200). Ebd., S. 224 (§ 229, Zusatz).
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herausreißt, deren Glieder einander ›entfremdet‹, um sie als selbständige Personen anzuerkennen, die nun in Rechtsbeziehungen zueinander treten, wobei »die erlaubte Willkür für sich rechtlicher Handlungen und des Privatgebrauchs des Eigenthums« anderen Personen »zum Schaden und Unrecht gereichen« können.54 Darin liegt die Berechtigung einer »polizeilichen Strafgerechtigkeit« als »Aufsicht und Vorsorge der öffentlichen Macht« über den Produktions- und Handelsbereich. Und diese ist als »mit Bewußtseyn vorgenommene[...] Regulirung« dringend erforderlich, auch wenn Hegel an der Meinung festhält, daß sich der Wirtschaftsablauf prinzipiell »von selbst« regelt.55 Denn mit dem Wachstum der Bevölkerung und der fortschreitenden Industrialisierung vermehrt sich auf der Seite der Produktionsmittelbesitzer »die Anhäufung der Reichthümer«, auf der anderen jedoch die Vereinzelung und Beschränktheit der besondern Arbeit und damit die Abhängigkeit und Noth der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt.
Dies »Herabsinken einer großen Masse unter das Maaß einer gewissen Subsistenzweise« bringt den ›Pöbel‹ hervor, dem auf der anderen Seite »die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichthümer in wenige Hände zu koncentriren«, korrespondiert.56 Solche Vermehrung rührt jedoch nicht her von mangelnden Produktionsmitteln, sondern von falschen Produktionsverhältnissen, die einer Mehrheit die produzierten Güter vorenthält. Im »Uebermaaße des Reichthums [ist] die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug [...], dem Uebermaaße der Armuth und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.« Folglich wird sie über sich hinausgetrieben, um bei anderen Völkern »Konsumenten und damit die nöthigen Subsistenzmittel zu suchen.«57 »Kolonisation« dechiffriert Hegel bereits als Ventil der Überproduktion.58 Verarmung führt zur »Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft«. Die Naturwüchsigkeit der Produktion droht die formalen Rechte der bürgerlichen Gesellschaft ihres Gehalts zu berauben. »Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre« stellt sich in ihrem Gefolge ein.59 Sie sind jedoch unvereinbar mit dem Postulat von Sittlichkeit. Die Auswüchse der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel in aller Drastik auch im Spätwerk wieder aufzeigt, zu verhindern, ist Aufgabe der ›Polizei‹. Ihr obliegen »Schutz und Sicherheit der Massen von besonderen Zwecken und Interessen« und damit die Erhaltung des Allgemeinen im Besonderen der bürgerlichen Gesellschaft.60 Wie ––––––––– 54 55 56 57 58 59 60
Ebd., S. 225 (§ 232). Ebd., S. 225 f. (§ 233, § 235 und § 236). Ebd., S. 230 (§ 243 und § 244). Ebd., S. 231 f. (§ 245 und § 246). Ebd., S. 233 (§ 248). Ebd., S. 230 (§ 243 und § 244). Ebd., S. 233 (§ 249). Zum Begriff der ›Polizei‹ bei Hegel und seinem Verhältnis zur älteren Tradition vgl. Riedel: Bürgerliche Gesellschaft und Staat (Anm. 293), S. 61 ff.
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im einzelnen das zu geschehen hat, bleibt in der Rechtsphilosophie offen. Neben der ›Polizei‹ führt Hegel bekanntlich die ›Korporationen‹ als Vermittlungsagentur zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat ein. Familie und Korporation bilden die zwei Pfeiler, »um welche sich die Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft dreht.«61 In den Korporationen üben sich die auf ihre privaten Zwecke fixierten Mitglieder des Bürgertums in allgemeinen Zwecken und werden damit reif für die sittliche Institution des Staates.
Staat jenseits der bürgerlichen Gesellschaft Der Staat als »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« bleibt wie in der Jenenser Spezialphilosophie emphatisch abgehoben von der bürgerlichen Gesellschaft. Er hat seine Wirklichkeit in dem zum Allgemeinen erhobenen Selbstbewußtsein und ist als solcher »das an und für sich Vernünftige.« In ihm realisiert sich die zunächst nur formelle Freiheit des abstrakten Rechts realiter derart, daß das Allgemeine als das Vernünftige zur zweiten Natur der Individuen geworden ist. Ist Dissoziation das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, so Vereinigung das des Staates. Es ist Bestimmung der Individuen, »ein allgemeines Leben zu führen«, sich auszurichten an einem »nach gedachten, d.h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln.«62 Diese ihre Bestimmung erfüllt sich allein im Staat. Aus dieser Perspektive kann Hegel erneut eine Abgrenzung gegen das moderne Vernunftrecht Rousseaus, Kants und Fichtes vornehmen. Der allgemeine Wille setzt sich bei ihnen aus der Addition von Einzelwillen zusammen, die im Staat nicht eine grundsätzlich andere Realität gewinnen. Andererseits bleibt es bei Hegels kompromißloser Zurückweisung der positivistisch und historistisch-organischen Staatsphilosophie. Nicht die Existenz staatlicher Institutionen und der durch sie sanktionierten Rechtsnormen kann das Kriterium ihrer Rechtfertigung sein, sondern allein die ihnen immanente Vernünftigkeit, welche sich zur Sitte der Individuen konkretisiert hat. Der Grund des Staates »ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.«63 Der Staat ist nur, insofern die Einzelnen das Allgemeine »mit Wissen und Willen [...] als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen«, ohne darüber ihre individuelle Besonderheit und ihre privaten Zwecke aufgeben zu müssen. Auf diesem Prinzip, die »Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es [das Prinzip der Subjektivität] in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten«, beruht der moderne Staat, wie ihn die Rechtsphilosophie rekonstruiert.64 ––––––––– 61
62 63 64
Ebd., S. 236 (§ 255). Zum Begriff der ›Korporation‹ und dessen Abgrenzung gegen die ältere Tradition wie der romantischen Staatsphilosophie vgl. Riedel: Bürgerliche Gesellschaft und Staat (Anm. 293), S. 65 ff. Ebd., S. 237 f. (§ 257 und § 258). Ebd., S. 241 (§ 258, Zusatz). Ebd., S. 243 (§ 260).
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Damit erledigt sich die von Popper, Topitsch u.a. gezogene Verbindungslinie zwischen Hegels Staatsphilosophie und dem totalitären bzw. faschistischen Staat.65 Unter Wahrung der in eins mit der ökonomischen Emanzipation sich vollziehenden geistigen Befreiung des neuzeitlichen Subjekts soll dieses gleichwohl verpflichtet werden auf allgemeine Zwecke. Die in der Sphäre der bürgerlichen Ökonomie zustande kommende Allgemeinheit blieb eine formelle. Die qualitativ davon abgehobene des Staates kann nur auf der Einsicht aller Staatsbürger beruhen, daß sie sich in Verfolgung ihrer privaten Zwecke immer schon im Medium des Allgemeinen als dem Grund ihrer privaten Aktionen bewegen. Und das meint mehr und anderes als die Einsicht ökonomischer Abhängigkeit aller von allen, mehr und anderes aber auch als die gegenseitige rechtliche Anerkennung. Staat konstituiert sich für Hegel erst in der Vermittlung privater und allgemeiner Ziele, so daß das Individuum das eine jeweils als Voraussetzung des anderen weiß und sich daher die öffentlichen Zwecke nicht weniger als die privaten angelegen sein läßt. Der Staat hat seine Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses der Individuen [...]. Der Staat, als Sittliches, als Durchdringung des Substantiellen und des Besonderen, enthält, daß meine Verbindlichkeit gegen das Substantielle zugleich das Daseyn meiner besonderen Freiheit d.i. in ihm Pflicht und Recht in einer und derselben Beziehung vereinigt sind.66
Instanzen der Vermittlung behaftet mit Widersprüchen Um diese Vermittlung jedoch auf der Basis der bürgerlichen Gesellschaft zustande bringen zu können, muß Hegel nun auch auf Seiten des Staates integrative Institutionen schaffen, die jene intendierte Durchdringung von Allgemeinem und Besonderem sicherstellen. Erst jetzt enthüllt sich die wichtige Rolle der Korporationen. Kategorial schon im Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft eingeführt, kehren sie nun in der Philosophie des Staates sowohl anläßlich der Einführung der exekutiven wie der legislativen Gewalt wieder. Ersterer sind als Verwaltungsbürokratie des modernen Staates zur Regulation der bürgerlichen Gesellschaft – da Hegel keine eigene Judikative kennt – primär richterliche sowie wiederum polizeiliche Aufgaben übertragen. Diese sind am besten von leitenden Figuren der Korporationen wahrzunehmen, denen die »Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine« bereits eigen ist.67 Der Konflikt zwischen der bürgerlicher Gesellschaft und dem Staat soll folglich durch eine Personalunion entschärft werden. Dafür ist es notwendig, in der Staatstheorie den Be––––––––– 65
66 67
Vgl. Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen.- Bern: Francke 1958 (= Sammlung Dalp; 85); Ernst Topitsch: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1967 (= Soziologische Essays). Hegel: Studienausgabe, S. 244 (§ 261). Ebd., S. 282 (§ 289).
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griff der ›Korporation‹ weiter zu fassen als in der bürgerlichen Gesellschaft. Hier sind sie ihm weder die Gemeinden, Städte und Stände in ihrer politischen Verfassung (›Bürgerund Adels-Corporationen‹), noch alle ›Gemeinschaften‹ bzw. ›Gesellschaften‹ bis hin zu Staat und Kirche, sondern Organisationsformen des ›Arbeitswesens der bürgerlichen Gesellschaft‹ (§ 251), welche die Isolierung der Individuen auf sich selbst und ihre besonderen Zwecke aufheben sollen.68
Dort aber werden neben den Korporationen im engeren Sinne auch »Gemeinden« und »Stände« unter diesem Begriff befaßt. Die ›Organisation‹ des Staats, der Behörden, Staatsbeamten usf. soll mit der Organisierung der bürgerlichen Gesellschaft in ›Korporationen und Kommunen‹ so zusammenlaufen, daß der Konflikt schon infolge der dadurch möglichen ›konkreten Weise‹ des Regierens verhindert wird.69
Dasjenige Element, welches Hegel zur Vermittlung heranzieht, weist zugleich auf die Unauflösbarkeit des Konflikts hin. Die scharfe kategoriale Differenz zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat wird realiter durch eine Verfilzung von Verbänden und Staatsbürokratie wieder verwischt. Noch eklatanter sind die Widersprüche auf seiten der Legislative. Sie rekrutiert sich aus den ›Ständen‹, und zwar im wesentlichen aus dem Bürgerstand und dem Adelsstand. Wiederum werden nicht einzelne Privatpersonen in die Repräsentation delegiert, damit diese sich nicht als in Einzelne »atomistische aufgelöst und nur für einen einzelnen und temporairen Akt sich auf einen Augenblick ohne weitere Haltung« versammeln, sondern Mitglieder der »ohnehin konstituirten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen«.70 Der eigentliche Garant für die Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat in der Repräsentation ist der Adel, der nicht in dem gleichen Maße von der Jagd nach Privateigentum infiziert ist wie der ›Gewerbestand‹ (vgl. § 203, Zusatz, und § 204). Damit kommt es jedoch zu einer Rehabilitierung vorrevolutionärer Elemente in der Rechtsphilosophie, die unvereinbar ist mit ihren eigenen Voraussetzungen.71 Um die repräsentative Funktion des Adels zu restaurieren muß Hegel die Unveräußerlichkeit des Grundeigentums verfügen, obwohl doch gerade sie dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht. Des weiteren knüpft er die politische Gewalt in der gesetzgebenden Körperschaft an das Geburtsrecht, was ersichtlich der Rechtsgleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft Hohn spricht. In der Konstruktion der fürstlichen Gewalt als der Wirklichkeit des Staates resümieren sich schließlich alle Aporien der inneren Staatsverfassung, wie sie Marx dann in der ›Kritik des Hegelschen Staatsrechts‹ genüßlich sezieren sollte.
–––––––––
68 69 70 71
Riedel: Bürgerliche Gesellschaft und Staat (Anm. 293), S. 65. Ebd., S. 73. Hegel: Studienausgabe, S. 295 (§ 308). Vgl. ebd., S. 75.
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Geschichtsphilosophische und systemlogische Perspektivierung Dieser kurze Ausblick auf das Hegelsche Spätwerk zeigt deutlich, daß jene in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 angebahnte und in der Rechtsphilosophie vollendete Wende in der sozialphilosophischen Konzeption gegenüber den Jugend- und frühen Jenenser Schriften die Aporien zwischen bürgerlicher Gesellschaft und substantieller Sittlichkeit in Gestalt des Staates nur scheinbar beseitigt, nicht aber aufhebt. Hegel hat schon in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 das Neuartige dieser Konzeption auch historisch in einer Weise akzentuiert, die für seine geschichtsphilosophische Konstruktion fortan verbindlich bleiben sollte.72 In der antiken Polis ist das Volk [...] zugleich aufgelöst in Bürger, und es ist zugleich das eine Individuum, die Regierung. Es steht nur in Wechselwirkung mit sich. Derselbe Wille ist der Einzelne und derselbe das Allgemeine [...]: jeder ist Sitte, unmittelbar eins mit dem Allgemeinen. Es findet kein Protestieren hier statt; jeder weiß sich unmittelbar als Allgemeines, d.h. er tut auf seine Besonderheit Verzicht, ohne sie als solche, als dieses Selbst, als das Wesen zu wissen.73
Dieses Wissen kommt als neues Prinzip erst mit dem Christentum in die Welt und bildet das »höhere Prinzip der neuern Zeit, das die Alten, das Plato nicht kannte.« In ihm ist der »Geist [...] gereinigt von dem unmittelbaren Dasein. Er ist in sein reines Element des Wissens getreten und gleichgültig gegen die daseiende Einzelheit. [...] Er ist dies nordische Wesen, das in sich ist, aber sein Dasein im Selbst aller hat.«74 In den Jugendschriften bildete es die destruktive Macht gegenüber der schönen antiken Sittlichkeit und führte die auf Privatinteressen gegründete bürgerliche Gesellschaft herauf. Diese Einsicht hat Hegel nicht wieder preisgegeben. Anstatt jedoch das antike gegen das moderne Prinzip auszuspielen, geht er ab 1805/06 von dem modernen aus. Die antike Polis wird nicht nur historisiert, sondern als historisch frühere auch als die qualitativ geringere eingestuft, weil ihr jenes nordische Prinzip der ›Protestation‹ der absolut freien, in sich reflektierten Person noch unbekannt ist. Hegels Philosophie des objektiven Geistes seit der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 unternimmt den gigantischen Versuch, jenes Prinzip, das politisch in der Revolution, philosophisch in Rousseau, Kant und Fichte sich artikulierte, zu vermitteln mit der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich in der Theorie der politischen Ökonomie flektierte, und zugleich an der Idee von Sittlichkeit festzuhalten und in einer Theorie des Staates zur Geltung zu bringen. ––––––––– 72
73 74
Vgl. neben den zitierten Arbeiten auch Michael B. Foster: Die Geschichte als Schicksal des Geistes in der Hegelschen Philosophie.- Tübingen: Mohr 1930; Hyppolite: Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel (Anm. 61); Manfred Riedel: Fortschritt und Dialektik in Hegels Geschichtsphilosophie.- In: Neue Rundschau 80 (1969), S. 476–491. Dazu die große Abhandlung von Theodor W. Adorno: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel.- In: ders.:Negative Dialektik.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1966, S. 293–351. Hegel: Jenaer Realphilosophie [II] (Anm. 275), S. 249 f. Ebd., S. 251 f.
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Dieser Aufgabe ist nur Philosophie gewachsen. Kunst – gebunden an die sinnliche Präsentation der Wahrheit – sinkt ebenfalls in der ›Realphilosophie‹ von 1805/06 zusammen mit der Polis-Sittlichkeit, in deren Repräsentation sie sich vollendete, zu einer überholten Gestalt des absoluten Geistes herab. So wie der Staat und die Gesellschaft der Moderne nicht länger der Metapher des organischen Kunstwerks gehorchen, so wenig sind sie fortan ästhetischer Anschauung adäquat zugänglich. Philosophie – ihrerseits über die vorstellende Präsentation der Wahrheit in der Religion hinausgelangt – übernimmt die Aufgabe, das Prinzip der absoluten Subjektivität als Basis der bürgerlichen Gesellschaft des Rechts und der Moral zu exponieren und zugleich die Vermittlung in einem Allgemeinen zu bewerkstelligen, in welchem Sittlichkeit gründet.
Sistierung von Dialektik als Grenze des Systems Diese Aufgabe ist für Hegel nicht gelöst mit einer ahistorischen vernunftrechtlichen Deduktion aus Prinzipien a priori. Sie versteht sich, wie Vorrede und Einleitung zur Rechtsphilosophie klarstellen, als Rekonstruktion einer Idee. Zu dieser aber gehört das Dasein und damit die Besonderheit nicht weniger als das an sich des Begriffs. Der Rechtsphilosophie sind ihre tragenden Prinzipien in der nachrevolutionären Wirklichkeit vorgegeben, sie sind von ihr als vernünftige zu rekonstruieren. Darin ist zugleich die sich durchhaltende Kritik an der praktischen Philosophie des Sollens sowohl im Blick auf die Moralphilosophie wie auf das apriorische Natur- bzw. Vernunftrecht bewahrt. Der Hiatus zwischen einer in schlechter Positivität erstarrten Wirklichkeit und einer progressive Tendenzen kritisch formulierenden Philosophie ist verschwunden; Philosophie übernimmt eine affirmative Funktion. Gleichwohl bleibt sie vom Historismus wie vom Positivismus gleich weit entfernt in ihrer Insistenz auf immanenter Vernünftigkeit der Wirklichkeit, mit der Philosophie alleine es zu tun hat. Daraus erklärt sich indes nur zu einem Teil die Deduktion überlebter Verfassungsrelikte des preußischen Staates als vernünftiger. Der Vorwurf der ›Akkomodation‹ unterschlägt die in der Sache angelegten Aporien, die zum Rückgriff auf jene Relikte führen. Sie sind der Ausdruck dafür, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht imstande ist, aus sich heraus eine politische Verfassung zu erzeugen, welche Hegels Anforderungen an sittliche Prinzipien Genüge tut. Seine Ablehnung des liberalen Repräsentationsprinzips ist weniger ein Indikator reaktionärer Gesinnung als vielmehr seiner nicht preisgegebenen Hoffnung auf die Konstitution einer öffentlichen Sphäre, in der sich ein alle Individuen verbindendes Allgemeines manifestierte. Das Zusammenleben der Menschen sollte für ihn mehr und etwas anderes sein als die prekäre Balance zwischen verschiedenen Interessen- und Machtgruppen. Hegel hatte die bürgerliche Gesellschaft ebensowohl als Motor ökonomischen Fortschritts wie als Basis der politischen Postulate des modernen Naturrechts begriffen, als dessen Positivierung er die Französische Revolution feierte. Andererseits blieb die Diagnose aus den Jugendschriften und der ersten Jenen-
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
ser Zeit in Geltung, daß aus der ›politischen Nullität‹ des Bürgertums in Konsequenz ihres auf das Private eingeschränkten Horizonts kein sittliches Ganzes hervorgehen könne. Die Flucht in die Innerlichkeit als Reaktion auf die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft hat Hegel auch in der Rechtsphilosophie als Illusion gebrandmarkt. Lukács hat ihn daher zum großen Antipoden des Irrationalismus im 19. Jahrhundert erhoben. Sein Versuch aber, Sittlichkeit auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft zu rekonstruieren, mußte der Quadratur des Zirkels gleichkommen. Die gegenseitige Anerkennung der Individuen als freie und gleiche Rechtssubjekte korrespondierte auf der Ebene des ›Systems der Bedürfnisse‹ in den vorgegebenen Produktionsformen die Dissoziierung der Individuen und ihre Polarisierung in ökonomische Klassen. Vor diesem Hintergrund war in der Sphäre des Rechts und des Staates eine Vermittlung im Allgemeinen nurmehr verbal zu erreichen. Materialistischer Analyse dechiffriert diese sich als notwendig aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehender ›Überbau‹, dem die Funktion einer Versöhnung zuerkannt war, welche angesichts fortdauernder Antagonismen an der Basis mit einem Charakter von ›Schein‹ behaftet blieb. Hier setzte Marx ein.
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Die Arbeit, die Gesellschaft und die Künste. Ein abschließender Blick auf Marx
Dialektik potenziert Der Übergang von Hegel zu Marx erfreut sich in der Forschung anhaltender Beliebtheit. War das Hegelsche Werk insbesondere der frühen Zeit inspiriert von der Kritik vor allem an Kant und Fichte, so widerfuhr seinem Werk ein nämliches Schicksal, kaum daß er die Augen geschlossen hatte. Philosophische Schulen formierten sich geradezu in Auseinandersetzung mit dem mächtigen denkerischen Massiv, das da hoch erhoben in die Landschaft ragte. Philosophieren nach Hegel hieß: Philosophieren im Umgang mit ihm. Wie keine andere Gestalt des 19. Jahrhunderts hat er die Geister in seinen Bann gerissen. Für eine lange Zeit trat Kant hinter Hegel zurück. Und erst mit der Durchsetzung Nietzsches zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich nochmals ein Durchbruch vergleichbarer Intensität, jedoch gänzlich anders gearteter intellektueller Statur.1 Die Rezeption Hegels in den späten dreißiger und in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts fiel in die bewegte Zeit eines allseitigen Aufbruchs. Keine po––––––––– 1
Die maßgeblich gebliebene Darstellung liegt bekanntlich vor in: Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. [6. Auflage].- Frankfurt/Main: Fischer 1969. Es handelt sich um eine Lizenzausgabe des zwischen 1950 und 1964 in zweiter bis fünfter Auflage im Kohlhammer-Verlag erschienenen Werkes. Die erste Auflage erschien 1941 im Europa-Verlag in Zürich und New York (ohne den Untertitel). Das Vorwort zu ihr ist auf das Frühjahr 1939 datiert und wurde in Sendai (Japan) verfaßt. Hier heißt es auf S. 7: »Hegel scheint sehr ferne und Nietzsche uns sehr nahe zu stehen, wenn man bei diesem nur an den Einfluß und bei jenem nur an das Werk denkt. In Wahrheit hat aber Hegels Werk durch seine Schüler eine kaum zu überschätzende Wirkung auf das geistige und politische Leben gehabt, während sich die zahllosen Einflüsse, die seit 1890 von Nietzsche ausgingen, erst in unserer Zeit zu einer deutschen Ideologie verdichteten.« Das Werk ist Edmund Husserl gewidmet. Die Worte zu seinem Gedächtnis sind in den späteren Auflagen fortgefallen. Hier liest man auf S. 5: »Er war ein ›Gewissenhafter des Geistes‹, wie ihn Nietzsche im Zarathustra beschreibt. Unvergeßlich ist mir, wie dieser große Erforscher des Kleinsten in jenen Tagen, als man Freiburgs Besetzung durch französische Truppen befürchtete und die Hörsäle leer wurden, mit einer erhöhten Ruhe und Sicherheit in seinen Darlegungen fortfuhr, als könnte der Ernst des wissenschaftlichen Forschens durch nichts in der Welt gestört werden. Und als ich Husserl zum letzten Mal, kurz nach dem Umsturz, in seiner Wohnung besuchte, auf die er nun selbst reduziert war, war es wieder der Eindruck einer zur Weisheit gediehenen Freiheit des Geistes von den zerstörenden Mächten der alles ergreifenden Zeit, den ich von ihm mit mir nehmen durfte.– Die Freiburger Universität hat Husserls Tod ignoriert und der Nachfolger auf Husserls Lehrstuhl hat seine ›Verehrung und Freundschaft‹ dadurch bezeugt, daß er kein Wort verschwendet oder gewagt hat.«
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
litische Bewegung, keine geistige Strömung, die sich nicht im produktiven Umgang mit ihm artikuliert hätte. Die ›Hegelsche Rechte‹ und die ›Hegelsche Linke‹ wurden rasch zu geflügelten Kennmarken, in denen die denkerische wie die politische Polarisierung sich flektierte. Sie hat nicht aufgehört, Faszination auszulösen und ihrerseits zum produktiven Nachvollzug einzuladen. Ein wohlbestelltes Feld wäre zu inspizieren.2 Grund genug also, mit wenigen Strichen Anschlüsse zu markieren und dem Abschluß zuzustreben. Und das um so mehr, als es einer historiographischen Arbeit vorbehalten sein soll, den Beitrag Marxens zu den hier zur Rede stehenden Problemen zu umreißen.3 Denn darauf war das Interesse von vornherein gerichtet: die uferlose HegelRezeption jedweder Schattierung auf einen einzigen Fokus zu konzentrieren, wie er mit dem Namen Marxens bis an die Schwelle des Kapitals bezeichnet ist. Und auch das nicht primär mit Blick auf die explizite Auseinandersetzung Mar–––––––––
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Verwiesen sei hier zunächst auf die beiden einschlägigen Dokumentationen: Die Hegelsche Linke. Ausgewählt und eingeleitet von Karl Löwith.- Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1962; Die Hegelsche Rechte. Ausgewählt und eingeleitet von Hermann Lübbe.- StuttgartBad Cannstatt: Frommann 1962. Vgl. auch die Sammelrezension von Josef Simon: Zum Problem einer Philosophie der Tat. Texte und Literatur zur nachhegelschen Philosophie im 19. Jahrhundert.- In: Hegel-Studien 3 (1965), S. 297–320. Heranzuziehen sind insbesondere Paul Vogel: Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz Stein, Marx, Engels und Lassalle.- Berlin: Heise 1925 (= Kant-Studien. Ergänzungshefte; 59), S. 209 ff; Willy Moog: Hegel und die Hegelsche Schule.- München: Reinhardt 1930 (= Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. VII: Die Philosophie der neuesten Zeit I; 32/33); Horst Stuke: Philosophie der Tat. Studien zur ›Verwirklichung der Philosophie‹ bei den Junghegelianern und den Wahren Sozialisten.- Stuttgart: Klett 1963 (= Industrielle Welt; 3); Paul Kägi: Genesis des historischen Materialismus. Karl Marx und die Dynamik der Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Werner Kägi.- Wien, Frankfurt/ Main, Zürich: Europa-Verlag 1965; Peter Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule.Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971; Rüdiger Bubner: Theorie und Praxis – eine nachhegelsche Abstraktion.- Frankfurt/Main: Klostermann 1971 (= Wissenschaft und Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Reihe; 49); Udo Köster: Literarischer Radikalismus. Zeitbewußtsein und Geschichtsphilosophie in der Entwicklung vom Jungen Deutschland zur Hegelschen Linken.- Frankfurt/Main: Athenäum 1972 (= Wissenschaftliche Paperbacks Literaturwissenschaft; 10). Vgl. auch das Nachwort, das Hans Rosenberg unter dem Titel ›Zur Geschichte der Hegelauffassung‹ der Wiedervorlage des berühmten Werkes von Rudolf Haym beigefügt hat: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Wert der Hegel’schen Philosophie. 2., um unbekannte Dokumente vermehrte Auflage. Hrsg. von Hans Rosenberg.- Leipzig: Heims 1927, S. 510–550. Vgl. zum Kontext auch Rosenbergs überaus gehaltreiche Studie: Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 3). Schließlich ist es dem Verfasser ein Bedürfnis, auf eine in eine ganz andere Richtung führende, gleichwohl mit manchen Erwägungen kommunizierende Studie zu verweisen, die – wie das zitierte Werk Löwiths – zu den großen historiographischen Dokumenten aus der Exilzeit gehört: Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes.- Stuttgart: Kohlhammer 1959. Die erste Auflage erschien 1935 unter dem Titel ›Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche‹ im Max Niehans Verlag Zürich. Das Werk ist Frederik J.J. Buytendijk gewidmet und mit einer großen ›Einführung‹ zur Neuauflage versehen. Vgl. dazu die parallelen Abschnitte zu Marx in Teil I dieses Buches, S. 46–57.
Ein abschließender Blick auf Marx
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xens mit Hegel als vielmehr in Betrachtung einiger weniger Problemkomplexe, deren philosophische Exposition durch Hegel radikal vorangetrieben, gleichwohl ersichtlich nicht zu einem befriedigenden Abschluß geführt worden war. Eine von Kant im Medium der praktischen und politischen Philosophie vorgegebene und von Hegel durchgehend aufgenommene und weiterentwickelte Problemmasse war ein drittes Mal aufgegriffen und nun radikal auf den Punkt gebracht und neu gewendet worden. So legte sich wie von selbst ein Dreischritt nahe, um zu einer gedanklichen Rundung zu gelangen, wie sie aus der Sache heraus resultierte. Daß sich zudem Gelegenheit bot, zum Schlusse auch noch Fragen der Kunsttheorie aufzugreifen und mit dem arkadischen Projekt zu vermitteln, blieb ein willkommener weiterer Effekt. Ob ein anderer Weg eingeschlagen worden wäre, wenn mit der Gestalt zumal des jungen Marx nicht nur ein origineller Denker, sondern zugleich auch ein umwerfend brillanter Stilist am Werk gewesen wäre – wer möchte im nachhinein ein Urteil fällen? Geäußert werden darf die Vermutung, daß in dem Chor der Hegel-Kritiker die zündendsten Formulierungen von Marx gefunden wurden. Sein sprachschöpferisches Genie entzündete sich förmlich im Aufspießen Hegelscher Formulierungen. Sie wurden dem idealistischen Antipoden entwunden, einem Stahlbad linguistisch-dialektischer Volten unterworfen, aus dem sie wie neugeboren hervorgingen. Wenn einmal Dialektik in actu zu studieren ist, eine radikale Bewegung des Geistes von einer denkerischen wie sprachlichen Kraft durchpulst ist, so in Marxens Umgang mit dem Dialektiker Hegel. Konfrontiert mit dem unentwegt fortschreitenden, in dialektischer Bewegung befindlichen Hegelschen Denken gewann sich der Dialektiker Marx. Inmitten des nicht endenden Sprachspiels, einer Umpolung großen Stils, vollzog sich eine Wende, die wie ein Fortspinnen sich gab und am Ende eine neue Sicht der Dinge mit weitreichendsten Folgen zeitigte.
Antipode Hegel als geistiger Ziehvater Marx ist nicht als Kritiker der politischen Ökonomisten Englands und Frankreichs zu dem Stilisten und Analytiker geworden, als welcher er Berühmtheit erlangte. Seine philosophische Schulung nicht anders als die Grundlegung seines Denkgebäudes – einschließlich des sprachlichen Zuschnitts – erfuhr er in Auseinandersetzung mit dem Werk Hegels. An der Wiege des Theorie und Praxis zusammenzwingenden Dialektikers und politischen Agitators, des Gesellschaftskritikers und Analytikers von Produktionsformen und Produktionsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft steht allemal Hegel. Marx wußte darum. Er hat ungeachtet des Versuchs einer Überwindung des Hegelschen Denkens und des ihm entsprungenen Systems dem imperialen Denker immer wieder auch seine Referenz erwiesen. Ein produktiver Austausch und in seinem Gefolge ein denkerischer Ablösungsprozeß hatte statt, für den im Blick auf Intensität wie auf philosophische Bilanz schwerlich vergleichbare Beispiele beizubringen wären. Vielleicht hatte er eine Parallele noch am ehesten im Ringen Hegels mit Kant.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Wäre dem so, dann erführe auch von dieser Seite her vielleicht unsere kleine Trilogie ihre Rechtfertigung und Plausibilität.4 In der Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie kulminierte Marxens Auseinandersetzung mit dem Vorgänger und gelangte zugleich zu einem Abschluß in einem inneren Sinn.5 Das Entscheidende war ein für alle Mal gesagt. Die gewonnene Position verlangte nicht nach weiterer Ausgestaltung oder Revision. Fortan mußten die Wege in die politische Ökonomie führen. Hegels Versuche, mit dem auf diesem Felde sich auftuenden Probleme traten auch in der vergleichsweise späten Rechtsphilosophie noch so eklatant zutage, daß der Hebel vorzugsweise hier anzusetzen war. Umgekehrt ist evident, daß Marx sich primär der Rechtsphilosophie zuwenden mußte, war doch in keinem anderen der bis daot veröffentlichten Werke ––––––––– 4
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Zum Verhältnis zwischen Marx und Hegel vgl. neben der angegebenen Literatur Konrad Bekker: Marx’ philosophische Entwicklung. Sein Verhältnis zu Hegel.- Zürich, New York: Oprecht 1940; Jean Hyppolite: Études sur Marx et Hegel.- Paris: Rivière 1955; Ludwig Landgrebe: Das Problem der Dialektik.- In: Marxismusstudien. 3 (1960), S. 1–65; Iring Fetscher: Das Verhältnis des Marxismus zu Hegel.- In: Marxismusstudien 3 (1960), S. 66– 169. Wieder abgedruckt in ders.: Karl Marx und der Marxismus. Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung.- München: Piper 1967, S. 45–122; Iring Fetscher: Vier Thesen zur Geschichtsauffassung bei Hegel und Marx.- In: ders.: Hegel – Größe und Grenzen.- Stuttgart [etc.]: Kohlhammer 1971 (= Urban-Taschenbücher; 820), S. 102–128; Jakob Barion: Hegel und die marxistische Staatslehre. Bonn: Bouvier 1963 (2., verbesserte und erweiterte Auflage 1970); Louis Althusser: Pour Marx.- Paris: Maspero 1965 (= Theorie; 1), deutsche Version: Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968; Dietrich Benner: Theorie und Praxis. Systemtheoretische Betrachtungen zu Hegel und Marx.- Wien, München: Oldenbourg 1966 (= Überlieferung und Aufgabe; 4); Günther Hillmann: Marx und Hegel. Von der Spekulation zur Dialektik. Interpretation der ersten Schriften von Karl Marx im Hinblick auf sein Verhältnis zu Hegel (1835–1841).- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1966; Shlomo Avineri: The social and political thought of Karl Marx.Cambridge: University Press 1970 (= Cambridge studies in the history and theory of politics; 619) (erste Auflage 1968), S. 8 ff.: Hegel’s political philosophy reconsidered; Roger Garaudy: Die Aktualität des Marxschen Denkens. Mit einem Vorwort von Alfred Schmidt.Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, Wien: Europa-Verlag 1969 (= Kritische Studien zur Philosophie), insbes. S. 98 ff.: Die Dialektik bei Marx; Werner Becker: Idealistische und materialistische Dialektik. Das Verhältnis von ›Herrschaft und Knechtschaft‹ bei Hegel und Marx.- Stuttgart [etc.]: Kohlhammer 1970; Klaus Hartmann: Die Marxsche Theorie. Eine philosophische Untersuchung zu den Hauptschriften.- Berlin: de Gruyter 1970, S. 50 ff. und S. 95 ff.; Milan Kangrga: Arbeit bei Hegel und Marx.- In: Hegel und die Folgen. Hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner.- Freiburg: Rombach 1970 (= Sammlung Rombach; N.F. 7), S. 295–312; Manfred Riedel: Hegel und Marx. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis.- In: Hegel und die Folgen (s.o.), S. 273–294; Armin Wildermuth: Marx und die Verwirklichung der Philosophie. Band I–II.- Den Haag: Nijhoff 1970, vgl. insbes. S. 187 ff. Vgl. auch die anregende Studie von Werner Maihofer: Demokratie im Sozialismus. Recht und Staat im Denken des jungen Marx.- Frankfurt/Main: Klostermann 1968, sowie die große Abhandlung von Jürgen Habermas: Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik.- In: ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1963 (= Politica; 11), S. 162–214, insbes. S. 182 ff. Vgl. dazu neben der angegebenen Literatur auch Christoph Schefold: Die Rechtsphilosophie des jungen Marx von 1842. Mit einer Interpretation der ›Pariser Schriften‹ von 1844.München: Beck 1970 (= Münchener Studien zur Politik; 15).
Ein abschließender Blick auf Marx
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nochmals so einläßlich das ›System der Bedürfnisse‹ zum Gegenstand des Hegelschen Denkens erhoben worden. Keine Phantasie indes reicht hin sich auszumalen, welche Richtung das Marxsche Denken eingeschlagen hätte, wenn er Kenntnis von den Jugendschriften Hegels insbesondere aus der Jenaer Zeit bis an die Schwelle der Phänomenologie hätte besitzen können. Ihm war allein der reife Hegel gegenwärtig. Der hatte alles Tastende abgelegt, das seinen Jugendschriften ihren besonderen Reiz verleiht. Die Philosophie schritt in knappen Paragraphen fort, war zu Lehre und gelegentlich bereits zu Dogma kondensiert, darauf abgestellt, keine neuen Angriffsflächen zu bieten. Marx hat ein eigenes Verfahren der Auseinandersetzung entwickelt und rasch zur Meisterschaft fortgebildet. Er bedient sich einer Praxis des close readings. Satz für Satz werden Hegelsche Formulierungen aufgenommen, in Augenschein genommen und einer Kritik unterzogen. Niemals vorher, wenn wir recht sehen, ist einem soeben in die Welt getretenen großen philosophischen Werk eine derart intensive Lektüre auf einem vergleichbaren Niveau widerfahren. Immanente Kritik wurde praktiziert und war in actu zu studieren. Und eben zu diesem Geschäft gehörte der stilistische Duktus. Formulierungen wurden unaufhörlich dialektisch gewendet und so, im Fortschreiten von Satz zu Satz, vollzog sich nicht nur eine philosophische Dekonstruktion erhabenen Ausmaßes, sondern zugleich die Geburt eines sukzessive ins Blickfeld tretenden neuen denkerischen Kontinents. Diesem philosophischen Sprachspiel ist im nachhinein mit keiner Summation beizukommen. Es will Satz für Satz nachvollzogen sein. Ein jeder andersgeartete Versuch bliebe mit dem Makel der Nichtigkeit behaftet. Wir wählen daher als Einstieg einen anderen Weg und wenden uns für einen Moment dem Marx nach Absolvierung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zu, bevor wir zum opus magnum posthumum aus seiner Feder fortschreiten.6
Jenseits Hegels Im Sommer 1843 verfaßte Marx seine ›Kritik des Hegelschen Staatsrechts‹. Wie so viele andere Arbeiten blieb sie unveröffentlicht. Das hatte im vorliegenden ––––––––– 6
Wir zitieren im folgenden nach der – auch textkritisch – hervorragend gearbeiteten Ausgabe der Werke von Karl Marx, die von Hans-Joachim Lieber initiiert und bei Cotta in Stuttgart herausgegeben wurde. Benutzt wird die parallel erschienene Ausgabe: Werke – Schriften – Briefe. Band I–VI.- Darmstadt Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1960–1971. Ein vorgesehener siebter Band mit den Briefen von und an Marx ist bislang nicht erschienen. Vergleichend zu den Frühen Schriften in Band I–II sind heranzuziehen: Karl Marx: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut.- Stuttgart: Kröner 1953 (= Kröners Taschenausgabe; 209); Karl Marx, Friedrich Engels: Studienausgabe in 4 Bänden. Hrsg. von Iring Fetscher.- Frankfurt/Main: Fischer 1966 (= Fischer Bücherei; 764–767). Die frühen Schriften von Marx und Engels bis 1848 sind leicht greifbar auch in den ersten vier Bänden der Ausgabe des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED im Dietz-Verlag Berlin, 6. Auflage 1969–1972. Hinzuzunehmen: Ergänzungsband. Teil I–II: Schriften – Manuskripte – Briefe bis 1844.- Berlin: Dietz 1967–1968.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Fall gravierende Folgen. Das Manuskript setzt auf einem Foliobogen II ein. Ein erster ist offensichtlich verloren gegangen. Er dürfte die Auseinandersetzung mit den drei ersten und besonders wichtigen Paragraphen in Hegels Rechtsphilosophie zum Staat (§ 257–259) sowie dem ersten Paragraphen zum inneren Staatsrecht (§ 260) enthalten haben. Mit Zitierung und Kommentierung des Paragraphen 261 hebt Marx an und schreitet sodann bis zum Paragraphen 313 fort, ohne freilich die beiden Paragraphen 312 und 313 noch zu bearbeiten. Die Arbeit sollte sehr wahrscheinlich fortgesetzt werden.7 Marx hat sich noch in dem gleichen Jahr ein weiteres Mal der Hegelschen Rechtsphilosophie zugewandt und eine ›Einleitung‹ zu seiner ›Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ verfaßt, deren Fortschreibung und Publikation also weiterhin geplant war. Diese ›Einleitung‹ erschien in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, und mit ihr gelangten vielfach erstmals Formulierungen in Umlauf, die Berühmtheit erlangten und einen fortan unverwechselbaren Marx zeigten.8 Ein umfassendes Projekt der Kritik zeichnete sich ab, so angelegt, daß die Gestalten des objektiven wie des absoluten Geistes und insbesondere die Religion bzw. die Theologie aus dem Himmel auf die Erde geholt und zum Gegenstand ideologiekritischer Untersuchungen erhoben werden sollten. Es war deutlich, daß die analytische Arbeit der Kritik am Paradigma der Rechtsphilosophie geleistet worden war und inzwischen hinter dem Autor lag. Was sich als Einleitung zu ihr gab, fungierte tatsächlich als Entwurf umfassender neuer Vorhaben. War es so, daß die geistigen Schöpfungen der Erklärung aus einer Wirklichkeit zugeführt werden sollten, über deren Charakter die Einleitung keinen Zweifel ließ, dann mußte sich alles Interesse darauf konzentrieren, ihrer kritischen Analyse sich zuzuwenden. Die »moderne politisch-soziale Wirklichkeit selbst« sollte »der Kritik unterworfen« werden.9 Das aber konnte nur heißen, den Blick auf die fortgeschritteneren Länder wie England und Frankreich zu richten und mit der dort entwickelten ›Politischen Ökonomie‹ in eine Auseinandersetzung einzutreten. Das Paradigma Preußen, auf das Hegel zugesteuert war, hatte sich definitiv erledigt. Das Hegelsche Werk insgesamt trat fortan zurück, und mit ihm ein Typus von Philosophie, der nun gleichfalls auf den Prüfstand gestellt wurde.10 Philosophie wurde auf Vorbereitung von Praxis verpflichtet. Und sie hatte –––––––––
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Vgl. Karl Marx: [Kritik des Hegelschen Staatsrechts].- In: ders.: Werke – Schriften – Briefe. Band I: Frühe Schriften.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, S. 258– 426. Hier S. 258, Anm. 1, die entsprechenden Informationen zur Datierung und näheren Charakteristik des Manuskripts. Vgl. auch den Abdruck des Textes in Band I der Ausgabe des Dietz-Verlages (Anm. 6), S. 201–333. Auf S. 603 f. in Anm. 92 die Informationen zum Manuskript. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: ders.: Frühe Schriften (Anm. 7), S. 488–505. Der Text auch in Band I der Ausgabe Fetschers (Anm. 6), S. 17– 30 sowie in Band I der Ausgabe des Dietz-Verlages (Anm. 6), S. 378–391. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Anm. 8), S. 493. Marx hat sich in der Vorrede zu diesen Manuskripten nochmals über seine Arbeit zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie geäußert. »Bei der Ausarbeitung zum Druck zeigte sich die Vermengung der nur gegen die Spekulation gerichteten Kritik mit der Kritik der
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sich zu sättigen mit den empirischen Daten, die in jener Disziplin erhoben wurden, die der Wirklichkeit der Moderne, der voll entfalteten bürgerlichen Gesellschaft allein gewachsen war.11 Folgerichtig schritt Marx zur philosophischen und also dialektischen Adaptation und Kritik der Nationalökonomie in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten fort, die als ›Pariser Manuskripte‹ in die Geschichte einer Analytik der bürgerlichen Gesellschaft eingingen. Sie wurden nach Bekanntwerden alsbald in ihrer herausragenden Bedeutung erkannt und sind inzwischen gut erforscht. Wir heben in Vorbereitung auf Späteres nur zwei Aspekte hervor.12
System der Bedürfnisse und entfremdete Arbeit Die größte Nähe zu Hegels frühen Analysen des Charakters von Arbeit, der Bildung von Eigentum und der Herausformung von Produktionsverhältnissen stellt sich in jenen Passagen ein, welche die Herausgeber der gleichfalls unveröffent–––––––––
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verschiedenen Materien selbst durchaus unangemessen, die Entwicklung hemmend, das Verständnis erschwerend.« Von einer Publikation war also bewußt Abstand genommen. Gleichwohl blieben kritische Einlassungen auf der Tagesordnung. »Ich werde [...] in verschiedenen selbständigen Broschüren die Kritik des Rechts, der Moral, Politik etc. aufeinanderfolgen lassen und schließlich in einer besonderen Arbeit wieder den Zusammenhang des Ganzen, das Verhältnis der einzelnen Teile, wie endlich die Kritik der spekulativen Bearbeitung jenes Materials zu geben versuchen.« Auch das geschah wiederum in Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen. Insbesondere Die heilige Familie aus dem Jahr 1845, aber auch Die deutsche Ideologie aus dem Jahr 1846 stehen dafür ein. Die vorgelegten Zitate in der in Anm. 12 zitierten Ausgabe, S. 506. Marx betonte diesen auf empirischen Erhebungen beruhenden Charakter seiner Studie ausdrücklich in der Vorrede. »Dem mit der Nationalökonomie vertrauten Leser habe ich nicht erst zu versichern, daß meine Resultate durch eine ganz empirische, auf ein gewissenhaftes kritisches Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse gewonnen worden sind.« Im übrigen ist bekannt, daß Marx die Vorrede auch zu einer noblen Verbeugung vor Feuerbach genutzt hat. »Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik. Je geräuschloser, desto sicherer, tiefer, umfangreicher und nachhaltiger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften seit Hegels ›Phänomenologie‹ und ›Logik‹, worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist.« Die vorgelegten Zitate in der in Anm. 12 zitierten Ausgabe, S. 506 f. und S. 508. Karl Marx: [Zur Kritik der Nationalökonomie – Ökonomisch-Philosophische Manuskripte].- In: ders.: Frühe Schriften (Anm. 7), S. 506–665. Hier S. 506 wiederum in einer Anm. 1 ein Hinweis zur Charakteristik des Manuskripts. Der Text bietet in zahlreichen Fällen eine andere Lesart als in den Ausgaben von Landshut: Die Frühschriften (Anm. 6), S. 225–316, und Karl Marx, Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Werke – Schriften – Briefe. Abteilung 1. Band III: Die Heilige Familie und Schriften von Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845. Unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1932.- Glashütten im Taunus: Auvermann 1970, S. 29–172. Der Text steht auch im ersten Teil des Ergänzungsbandes der Werke von Marx und Engels (Anm. 6), S. 465–588, sowie in Band II der von Fetscher herausgegebenen Studienausgabe (Anm. 6), S. 38–129. Das Marxsche Manuskript endet mit einer ›Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt‹. Sie ist separat abgedruckt in Band I der genannten Ausgabe Fetschers, S. 61–81. Es handelt sich um die weitreichendste und umfassendste Äußerung Marxens zur Philosophie Hegels und ihres Systems. Eine Auseinandersetzung mit dem äußerst dichten Text müßte eine Reihe grund-
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licht gebliebenen ›Pariser Manuskripte‹ unter den Titel ›Die entfremdete Arbeit‹ gestellt haben.13 Marx bemängelt, daß die kurrente Nationalökonomie »keinen Aufschluß über den Grund der Teilung von Arbeit und Kapital, von Kapital und Erde« bereithält. Das war anders gewendet und exponiert auch das Problem Kants und Hegels gewesen. Nun wurde es systematisch wieder aufgegriffen und einer Lösung entgegengeführt, die verbindlich blieb und – wenn man so will – als Gründungsurkunde einer die Teilung von Arbeit und Kapital überwindenden Produktionsform angesprochen werden kann. In wenigen rekapitulierenden Strichen ist die Hinführung zu jenem Theorem vorzunehmen, um das es hier geht. Der Rekurs auf einen ›erdichteten Urzustand‹, so Marx schon hier und sogleich des näheren zu verfolgen, führt nicht weiter. Er schiebt bloß die Frage in eine graue, nebelhafte Ferne. Er unterstellt in der Form der Tatsache, des Ereignisses, was er deduzieren soll, nämlich das notwendige Verhältnis zwischen zwei Dingen, z.B. zwischen Teilung der Arbeit und Austausch. So erklärt die Theologie den Ursprung des Bösen durch den Sündenfall, d.h. er unterstellt als ein Faktum, in der Form der Geschichte, was er erklären soll.14
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legender Problemkomplexe erörtern und liegt außerhalb der Möglichkeiten dieses kleinen Marx-Porträts. Es dürfte keinen Text geben, an dem sich der Übergang von der Hegelschen zur Marxschen Dialektik besser studieren ließe. Es muß auf die in den Anm. 2 und 4 zitierte Literatur verwiesen werden. Vgl. Karl Marx: Die entfremdete Arbeit.- In: ders.: Frühe Schriften (Anm. 7), S. 559–575. Vgl. dazu neben der oben angegebenen Literatur vor allem auch Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über Marxistische Dialektik.- In: ders.: Werke. Band II: Frühschriften. Teil 2: Geschichte und Klassenbewußtsein.- Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1968, S. 161–517 (Erstdruck 1923). Hier vor allem einschlägig das Kapitel ›Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats‹, S. 257–397. Ein ergiebiges Kapitel ›Marx und die idealistische Dialektik‹ bei Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Band VIII: Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Erweiterte Ausgabe.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1962, S. 408–416, mit einem ›Hinweis‹ auf einschlägige Äußerungen von Marx, S. 416–418. Des weiteren Karl Korsch: Marxismus und Philosophie. Hrsg. und eingeleitet von Erich Gerlach. 4., unveränderte Auflage.- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, Wien: EuropaVerlag 1971 (= Politische Texte). Das die einschlägigen Arbeiten von Korsch vereinigende Werk wird mit einer eingehenden instruktiven Einleitung von Erich Gerlach eröffnet. Vgl. auch Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Hrsg. von Heinz Maus. 2. Auflage.- Neuwied, Berlin 1968 (= Soziologische Texte; 13) (engl. Originalausgabe 1941). Hier einschlägig der zweite Teil des Werkes ›Die Entstehung der Gesellschaftstheorie‹, Abschnitt 1: ›Die Grundlagen der dialektischen Theorie der Gesellschaft‹, mit den Marx gewidmeten Kapiteln S. 241–282. Vgl. als jüngste Darstellungen schließlich Manfred Friedrich: Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx.Berlin: Duncker & Humblot 1960 (= Frankfurter wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studien; 8); Iring Fetscher: Das Verhältnis von Frühwerk und ›Kapital‹, in: ders.: Karl Marx und der Marxismus. Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung.- München: Piper 1967, S. 13–32; Helmut Reichelt: Die materialistische Geschichtsauffassung im Marxschen Frühwerk, in: ders.: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Mit einem Vorwort von Iring Fetscher. 2., durchgesehene Auflage.Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, Wien: Europa-Verlag 1971 (= Politische Ökonomie. Geschichte und Kritik), S. 19–72. Marx: Die entfremdete Arbeit (Anm. 13), S. 559 f.
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›Deduktion‹ ist für den an Kant und Hegel geschulten Theoretiker geboten, nicht Ursprungs- und Wesens-Imagination. Was Hegel beschrieben und als ein letztes, nicht mehr aufzuhebendes, sondern nur über den Staat zu regulierendes Faktum auf der Ebene von Arbeit und Eigentum herausgestellt und in seiner Philosophie objektiver Sittlichkeit zu integrieren sich bemüht hatte, wird von Marx nochmals auf den Begriff gebracht und sodann mit einer Alternative konfrontiert, die – so weit wir zu sehen vermögen – von Feuerbach angebahnt, in der Zuspitzung jedoch das genuine Werk von Marx darstellt. Die zwei diesbezüglichen Abschnitte lauten im originalen Wortlaut, an dem hier wie bei Kant und Hegel alles hängt: Wir gehen von einem nationalökonomischen, gegenwärtigen Faktum aus. Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert. Dieses Faktum drückt weiter nichts aus als: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.15
Die Sätze sprechen für sich selbst. Sie bilden, wie man wird sagen dürfen, den Nukleus und die Quintessenz der Marxschen Lehre von Arbeit und Kapital; alle weiteren Bestimmungen haben, wie von Marx selbst angedeutet, dieses Axiom zur Grundlage. Hier geht es nur um den antithetisch dazu exponierten Entwurf eines alternativen Produktionsverhältnisses, das Marx bis in das Kapital hinein gelegentlich in denkbar knappen Strichen skizziert hat.
Gelungene Vergegenständlichung: Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Arbeit Wie die große Philosophie der Aufklärung, kulminierend in derjenigen Kants, geht auch Marx weiterhin aus vom Menschen als Gattungswesen. Diese seine Bestimmung erfährt unter dem übergeordneten Titel der Produktion nun eine nähere Spezifikation dahingehend, daß ›produktives Leben‹ eben ›Gattungsleben‹ ist. In der entfremdeten Arbeit ist die Lebenstätigkeit des Menschen nur darauf gerichtet, die Existenz zu sichern. In der nichtentfremdeten legt er die Zwecke seiner Tätigkeit bewußt fest. Darin verwirklicht er seinen Gattungscharakter. Er erzeugt in Freiheit eine gegenständliche Welt. ––––––––– 15
Ebd., S. 560 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d.h. eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eigenen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält.16
Der Mensch produziert in der Arbeit sich selbst, tritt frei in der Arbeit seinem Produkt gegenüber. »Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen«.17 Er schaut sich – ganz hegelisch – in der von ihm geschaffenen Welt an. Er hat sich in sein Anderes, die Natur, arbeitend hineingelegt und ist in diesem Akt ein anderer geworden so wie auch sein Gegenüber als bearbeiteter ein anderer als angeeigneter geworden ist. Ein wechselseitiges Sich-Entäußern und -Aneignen hat statt, innerhalb dessen die jeweilige Qualität des Einen auf die des Anderen übergeht, sich ihm einbildet. Der Mensch kehrt in der Arbeit und an die Natur sich entäußernd als von ihr geprägter und sich gehörend zurück so wie umgekehrt die Natur als bearbeitete ein menschliches Gesicht angenommen hat. In diesem Sinn kann Marx vom ›Humanismus‹ als einem ›vollendeten Naturalismus‹ und umkehrt vom ›Naturalismus‹ als einem ›vollendeten Humanismus‹ sprechen. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist in einem Akt wechselseitiger Aneignung aufgehoben. Das ist die arbeitstheoretisch gewendete Hegelsche Philosophie der ›Anerkennung‹. Vollzogen ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.
Marx faßt diese dialektische und zugleich im strengen Hegelschen Sinn aufgehobene Figuration unter der Kategorie des ›Kommunismus‹. »Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.«18 Eine gedankliche Bewegung ist zu einem Abschluß gelangt, ein idealtypisches Bild von Arbeit nach Maßgabe einer regulativen Idee entworfen, an der alle auf Produktion gegründete gesellschaftliche Praxis sich auszurichten hat. Wie das zu geschehen hätte und ob es überhaupt zu geschehen vermöchte, steht (noch) nicht zur Diskussion. Ein aus der kritischen und idealistischen Philosophie überkommener und nicht geschlichteter, nun unter dem Titel ›entfremdete Arbeit‹ traktierter Widerspruch erschien aufgelöst durch die Eliminierung einer Spaltung des Prozesses der Produktion in Arbeit und Kapital und geleitend zu einer Version von menschlicher Tätigkeit, in der sich die Hegelsche dialektische ––––––––– 16
17 18
Ebd., S. 567. Vgl. zum Folgenden neben der angegebenen Literatur auch die wichtige Untersuchung von Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx.- Frankfurt/ Main: Europäische Verlagsanstalt 1962 (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie; 11). Überarb., ergänzte und mit einem Postscriptum versehene Neuausgabe.- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1971 (= Basis-Studienausgaben). Ebd., S. 568. Ebd., S. 593 f.
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Bewegung des Geistes materialisiert hatte in einem dialektischen Austauschprozeß des Menschen mit der Natur. Dieses in den ›Pariser Manuskripten‹ gewonnene denkerische Resultat, an dem die Hegelsche Philosophie der Form nach einen so maßgeblichen Anteil hatte, war als Axiom nicht mehr zu überbieten. Es harrte der näheren Konkretisierung, die Marx sich versagte, weil es ihm als Kraftquelle im politökonomischen und philosophischen Umgang mit seinem Gegenteil, der Bewegung des Kapitals und der mit ihr gesetzten entfremdeten Arbeit, diente, als welche sie sich im Medium der Analyse und der Kritik entäußerte.
Geburt des Menschen als allseitig entfaltetes Gattungswesen Mit dem gelungenen Arbeitsprozeß verknüpfte Marx in den ›Pariser Manuskripten‹ die aus dem Austauschprozeß mit der Natur hervorgehenden, jedoch nicht auf sie beschränkten Tätigkeiten des Menschen. Es gehört gerade zu der fundamentalen Bestimmung der nicht entfremdeten Arbeit, daß sie als bewußte den Menschen freisetzt zur umfassenden Realisierung aller ihm eignenden Vermögen als Gattungswesen. In der gelungenen Arbeit verdoppelt er sich umfassend, schaut sich »nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt« an – und das mit Folgen für seinen gesamten Habitus.19 Wird nämlich gelungene Arbeit als Telos der menschlichen Geschichte gesetzt – als Überwindung der ›Naturgeschichte‹ des Menschen, wie Marx später sagen wird –, so gerät damit seine Ausstattung als Mensch in Bewegung und partizipiert an den Effekten des gelungenen Austauschprozesses mit der Natur. »Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch für sein denkendes Bewußtsein die begriffene und gewußte Bewegung seines Werdens«.20 Mit Hegel wahrt Marx den Konnex zwischen materieller und geistiger Produktion. Doch die Gestaltungen des Geistes haben nun teil an der »Verwirklichung oder Wirklichkeit des Menschen«, bezeugen ihrerseits in aller Mannigfaltigkeit und differenziert in die verschiedensten Sparten ein gesellschaftliches Bewußtsein als ein dem Gattungswesen des Menschen entspringendes und in diesem Sinne menschheitliches. »Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondere Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz.« In ihnen allen schaut der Mensch sich wiederum selbst an, vollzieht sich doch auch hier »die Aneignung des menschlichen Lebens« und »daher die positive Aufhebung aller Entfremdung«.21 Nichts ist bzw. soll sein, das dem Menschen als ihm Fremdes gegenübertritt, überall begegnet er sich selbst. –––––––––
19 20 21
Ebd., S. 568. Ebd., S. 594. Ebd., S. 594 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Mit aller erforderlichen Deutlichkeit hat Marx klargestellt, daß die »gesellschaftliche Tätigkeit und der gesellschaftliche Genuß [...] keineswegs allein in der Form einer unmittelbar gemeinschaftlichen Tätigkeit und unmittelbar gemeinschaftlichen Genusses« existieren. Wo Wissenschaft, Kunst oder Philosophie ausgeübt werden – Tätigkeiten, »die ich selten in unmittelbarer Gemeinschaft mit anderen ausführen kann« –, »bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch tätig.«22 Sehr wohl also ist gesellschaftliche Differenzierung als Resultat geschichtlicher Evolution vorausgesetzt. Sie konterkariert den gelingenden Austauschprozeß des Menschen mit der Natur nicht, sondern setzt ihn auf andere Weise produktiv fort und befördert ihn im Sinne eines Fortschreitens im Prozeß der Menschen als Gattungswesen. Da diese als gesellschaftlich Agierende begriffen sind, leisten sie auf dem je eigenen Tätigkeitsfeld einen der Gesellschaft förderlichen Beitrag.
Aufhebung der Dichotomie Individuum/Gesellschaft Es ist vor allem zu vermeiden, die ›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung – erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerung – ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, sosehr auch – und dies notwendig – die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles Leben ist.23
Gattungswesen zu sein, schließt also nicht aus, ein einmaliges unwiederholbares Individuum zu sein und sich auf jedem denkbaren Feld zu verwirklichen. Der Mensch ist beides. Ihn als gesellschaftliches Wesen zu begreifen, heißt nicht, seine Individualität zu beschneiden. Im Gegenteil. Auch als ›Gattungsbewußtsein‹ bestätigt der Mensch in allen Akten geistiger Tätigkeit sein ›Gesellschaftsleben‹, so wie umgekehrt sein ›Gattungssein‹ sich im ›Gattungsbewußtsein‹ bestätigt. Der Mensch – sosehr er daher ein besonderes Individuum ist, und gerade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen Gemeinwesen – ebensosehr ist er die Totalität, die ideale Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich, wie er auch in der Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerung da ist.24
Auch in Sätzen wie den vorgelegten ist Hegel – und auf andere Weise Kant – gegenwärtig. Hält Marx fest am Begriff des Gattungswesens, so ist sein philosophisches Interesse darauf gerichtet, dessen Lädierung im Prozeß gesellschaftlicher Arbeit, wie sie Hegel in der Rechtsphilosophie – und Kant auf andere ––––––––– 22 23 24
Ebd., S. 596. Ebd., S. 597. Ebd., S. 597 f.
Ein abschließender Blick auf Marx
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Weise in der Metaphysik der Sitten – nicht hatten beseitigen können, durch eine Konzeption von Arbeit zu überwinden, die als vergesellschaftete – und durchaus arbeitsteilige – den Menschen die Herrschaft über den Arbeitsprozeß beläßt, so daß in einer gelungenen Form von Arbeit die Menschen ihr Gattungswesen bewahren und zugleich alle bewußtseinsförmigen Gestalten von Arbeit eben diesem einen Kriterium genügen. Aus der Sphäre des Rechts, in der jene Anerkennung des Menschen als Menschen nach Kant und Hegel Geltung besitzen soll, erfolgt bei Marx eine Rückverlagerung in den Bereich der Arbeit selbst. In ihr ist jene Spaltung aufzuheben, die sich andernfalls naturwüchsig in die Gesellschaft hinein fortsetzt und durch keine überwölbende Konstruktion, wie sie Hegel dem Staat überantwortet hatte, mehr rückgängig zu machen ist. Die Entfaltung aller Vermögen als gattungstypischer, menschheitlicher ist das anvisierte Ziel gemeinsamer gesellschaftlicher Praxis, und der Philosophie bleibt es aufgetragen, Individualität und Soziabilität, Differenzierung und Assoziierung, Besonderes und Allgemeines in einer gedanklichen Bewegung als Momente einer dialektischen Einheit zu entwickeln. Nur über einen Gang der Schulung am dialektischen Urgestein der Hegelschen Logik waren derartige gedankliche Operationen auf einem erstmalig eroberten Gebiet der im weitesten Sinne politischen Ökonomie zu bewerkstelligen, die gesellschaftliche Arbeit als umfassendste menschliche Bestimmung begriff und unter Einschluß aller Gestaltungen des geistigen Lebens entfaltete.
›Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften‹ Diese umfassende, nicht entfremdete, nicht zu Teilung in Arbeit und Eigentum führende Gestalt der Tätigkeit ist »nicht nur im Sinne des unmittelbaren, einseitigen Genusses zu fassen, nicht nur im Sinne des Besitzens, im Sinne des Habens. Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch.«25 Im Begriff der »Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften« hat Marx diese über den Arbeitsprozeß als regulative Idee fungierende Befreiung aus undurchschauten, blinden und naturwüchsigen produktiven und gesellschaftlichen Verhältnissen gefaßt. Eine solche Emanzipation meint, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt.26
In einem erläuternden Zusatz hat Marx nochmals die Selbstverständlichkeit bekräftigt, »daß das menschliche Auge anders genießt als das rohe, unmenschliche –––––––––
25 26
Ebd., S. 598. Ebd., S. 599.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Auge, das menschliche Ohr anders als das rohe Ohr etc.«27 Doch was als Trivialität erscheinen könnte, entpuppt sich rasch als Feststellung von eigener Dignität. Sind die Sinne nicht anders als die innere Natur affiziert und gemodelt nach Maßgabe der Anlage und Organisation des Arbeitsprozesses, kann ihre ›Emanzipation‹ nur das Resultat eines richtigen, nämlich gesellschaftlich vereinbarten und gemeinsam durchgeführten Arbeitsprozesses sein. Auch hier sind Vergegenständlichung und Erfahrung von Subjektivität wechselseitig vermittelt. Die dem Individuum eigenen Vermögen, die sinnlichen wie die geistigen, sind keine fixen. Sie wachsen heran und werden gemodelt nach Maßgabe der Vergegenständlichung des Menschen im Prozeß des Austausches mit der Natur. Sie verkümmern, veröden, verlieren ihre menschheitliche Qualität in mißlungenen, entfremdeten Arbeitsprozessen und entfalten sich umgekehrt zum Frommen des Menschen in gelungenen Prozessen der Produktion. Keinesfalls nur die materiellen Produkte der Arbeit werden unter dem Titel der ›Vergegenständlichung‹ gefaßt. Der Mensch vergegenständlicht sich totaliter im Prozeß der Arbeit, und das Bild, das er von sich schaut als die Erfahrung seiner wortwörtlichen sinnlichen Sinnlichkeit wie seiner geistigen Sinnlichkeit sind Indikator für Gelingen oder Mißlingen der Vergegenständlichung. In diesem Sinn kann Marx den berühmten Satz prägen, daß die Bildung der Sinne »eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« ist, gilt doch: erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. Denn nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur.28
Die ›Pariser Manuskripte‹ halten ein reiches Angebot an Vergegenwärtigungen gelungener Prozesse der Interaktion bereit. Sie werden durchweg in Negation mißlungener, zu Entfremdung führender Produktionsverhältnisse skizziert und treten zunehmend im Werk von Marx zurück. Die Leuchtkraft der ›Pariser Manuskripte‹ beruht eben darauf, daß in ihnen beide Seiten einer neu zu etablierenden politischen Ökonomie festgehalten sind: Kritik an den Formen der Arbeit zumal in der voll in Entfaltung begriffenen bürgerlichen Gesellschaft und Entwurf einer alternativen produktionsförmigen gesellschaftlichen Praxis, innerhalb derer die Antinomie der negierten Form überwunden ist. Gar keine näheren Überlegungen hat Marx an dieser Stelle bereits auf die Probleme einer Herausbildung und Realisierung dieser kontrafaktischen Organisationsform vergesellschafteter Arbeit gewendet. Auch dieser Umstand war dazu angetan, Sätzen wie den zitierten den Charakter unkorrumpierter – und im Prinzip unkorrumpierbarer – Formulierungen zu belassen. Sie blieben das Apri––––––––– 27 28
Ebd., S. 600. Ebd., S. 601.
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ori einer auf die Zukunft gegründeten politischen Ökonomie und als metaphorisch ›transzendentale‹ gefeit gegen ihre Verunstaltung in der Empirie. Abschließend ist für die Anschlüsse an das übergeordnete Thema unserer Untersuchung Sorge zu tragen, wie es durch das titularische Kürzel ›Arkadien und Gesellschaft‹ umrissen ist. Zu diesem Zweck werfen wir einen Blick in ein Werk, dessen erst spät erfolgte Publikation zu einer Sensation innerhalb der Marx-Philologie und -Exegese geriet. Es hält einige Passagen bereit, deren Betrachtung in einer philosophischen Exposition Arkadiens nicht fehlen sollte.
Opus maximum posthumum Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und der knapp zwei Jahre später erfolgende Überfall auf die Sowjetunion fiel zusammen mit dem Erscheinen eines Manuskripts, das in den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem deutschen Juden im Londoner Exil unter erbärmlichsten äußeren Bedingungen zumeist in Nachtstunden verfaßt worden war und ein knappes Jahrhundert später im Moskauer Verlag für fremdsprachige Literatur erstmals ans Tageslicht trat. Es besaß keinen Titel. Die Bearbeiter und Herausgeber am Marx-Engels-LeninInstitut in Moskau, die ihrerseits eine herkulische Arbeit vollbrachten, stützten sich bei der Namensgebung auf Briefe Marxens an Engels und Lassalle. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie tauften sie das eintausend Druckseiten umfassende Gebirge an Texten, das sie aus dem Marxschen Nachlaß gewannen und zwischen 1939 und 1941 vorlegten. Sie versahen es mit einem entstehungsgeschichtlichen Vorwort, ausführlichen Anmerkungen sowie einem Verzeichnis der verwendeten Literatur und einem Namensregister, verbunden mit Kurzbiographien.29 ––––––––– 29
Vgl. dazu die Annotation in einem Nachtrag zur Bibliographie bei Marcuse: Vernunft und Revolution (Anm. 13), S. 386 f.: »Von höchster Wichtigkeit ist die Erstveröffentlichung des Marxschen Manuskripts ›Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie‹, das in den Jahren 1857–1858 geschrieben wurde. Es stellt die erste, bislang unbekannte Fassung des ›Kapitals‹ dar, ist weit ›philosophischer‹ als die endgültige Fassung und zeigt, wie Marx’ reife ökonomische Theorie aus seiner philosophischen Konzeption herauswächst.« Vgl. dazu Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapital‹. Der Rohentwurf des ›Kapital‹ 1857–1858.- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, Wien: Europa-Verlag 1968 (= Politische Ökonomie. Geschichte und Kritik). Dreibändiger Nachdruck der überarbeiteten 2. Auflage aus dem Jahr 1969 in den ›Basis-Studienausgaben‹ des Verlags (1973–1974). Hier liest man auf S. 7 in einer Anmerkung zum Vorwort von seiten des Verfassers: »Der ›Rohentwurf‹ wurde im Jahre 1953 in Berlin nachgedruckt. (Siehe: K. Marx, ›Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. 1857–1858.‹) Bis dahin gab es in der westlichen Welt nicht mehr als 3 oder 4 Exemplare des ursprünglich in Moskau im Jahre 1939 [und 1941] veröffentlichten Werkes.« Deutsche Erstausgabe: Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857–1858. Anhang 1850–1858.Berlin: Dietz 1953. Vgl. auch Walter Tuchscheerer: Bevor ›Das Kapital‹ entstand. Die Herausbildung und Entwicklung der ökonomischen Theorie von Karl Marx in der Zeit von 1843 bis 1858.- Berlin: Akademie-Verlag 1968.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
In der Bundesrepublik gelangte das Werk zur Wirkung, als die zweibändige Moskauer Ausgabe von der Europäischen Verlagsanstalt in einem fotomechanischen Nachdruck, jedoch unter Einarbeitung der Entzifferungs- und Druckfehler, wieder vorgelegt wurde.30 Es gewann unter Kennern rasch den Status eines Kultbuches. In diesem Werk war die Genese der politischen Ökonomie Marxens Schritt für Schritt nachzuverfolgen. Was in dem späteren dreibändigen Kapital in eherne Lehrsätze gegossen war, gereinigt von den Spuren ihrer Entstehung und umgeben von der Aura unfehlbarer Autorität, stellte sich in dem Vorläufer als das Resultat einer schier unfaßbaren Bewältigung von Lektüren, von Notizen und Entwürfen, Schematisierungen und versuchsweisen Systematisierungen dar. Ein Forscher und Denker, ein Heroe der Arbeit, war beim Entfalten von empirischen Untersuchungen und theoretischen Expertisen zu beobachten. Ein späteres Lehrgebäude, von der orthodoxen Marx-Exegese zum non plus ultra erhoben, war keineswegs ins Wanken geraten, hatte jedoch unversehens sein Gesicht verwandelt, weil es eine befreiende Offenheit zurückgewonnen hatte und also einlud zum Mitdenken und produktiven Weiterentwickeln. Dem Kapital war ein gleichwertiger Bruder und fortan unverzichtbarer Begleiter erwachsen. Wer in Sachen Marx fortan mitzusprechen gedachte, mußte das Buch studiert haben. Eine eigene Philologie und Philosophie wäre auf das nachgelassene Werk zu wenden. Es barg erste Formulierungen und skizzenhafte Entwürfe, hingeworfene Notizen und vorauseilende Imaginationen des Ganzen, die der Sache stets ein neues Licht aufsetzten und allesamt von einem offenkundig unerschöpflichen Autor herrührten. Die Erinnerung an vergleichbare Fälle stellte sich ein. Wie häufig war es vorgekommen, daß ein großes Werk im Entstehen begriffen war, ohne daß es seinem Autor vergönnt gewesen wäre, einen Abschluß herbeizuführen, sei es, daß die Schaffenszeit nicht hinreichte, sei es, daß die abschließende Gestalt aus inneren Gründen versagt blieb. So mochte die Situation eintreten, daß erst mit der posthumen Edition auch die Geschichte eines überwältigenden Ruhms einsetzte. Stellt Kafka das berühmteste Beispiel, so ist ein wahlverwandter Autor gegenwärtig im Begriff, sich ihm hinzuzugesellen. Walter Benjamins soeben erschienene Baudelaire-Studien nicht anders als die sog. geschichtsphilosophischen Thesen lassen bislang nur ahnen, daß ein intellektuelles Erdbeben zu gewärtigen sein dürfte, wenn denn eines Tages sein Hauptwerk in Gestalt einer urgeschichtlichen Rekonstruktion am Paradigma von Paris als der ›Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‹ vorliegen wird. Dem Autor der Grundrisse indes war es vergönnt, die im nachgelassenen Werk skizzierten Ideen und Entwürfe im nachfolgenden monumentalen chef d’œuvre wiederaufzugreifen und ihnen zumindest im grundlegenden ersten Band eine endgültige Gestalt zu verleihen. Fortan stehen der Entwurf und das in wesentlichen Zügen abgeschlossene Werk, stehen die Grundrisse und das Kapital nebeneinander. Und schon jetzt ist absehbar, daß der Erstling nicht dazu verur–––––––––
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Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (Rohentwurf) 1857–1858. Anhang 1850–1859.- Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, Wien: Europa-Verlag [ca. 1970] (= Politische Ökonomie. Geschichte und Kritik).
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teilt sein dürfte, nur ein ephemeres Schattendasein führen zu müssen. Ihm ist der Reiz und der Glanz der ersten und mehr als einmal experimentellen und entsprechend prononcierten Formulierung eigen. Im abgeschlossenen und publizierten Hauptwerk aber wird nicht einfach kodifiziert, was im Entwurf keimhaft angelegt war. Vielmehr setzt in der Phase der Überarbeitung ein Prozeß durchgehender Umgestaltung und Systematisierung ein, in dessen Verlauf die frühere Version nicht einfach zum Relikt herabsinkt, sondern eine Authentizität sui generis bewahrt. Gerade dem Kulturhistoriker begegnen in dem ersten Entwurf dank seiner offenen Form einzelne Passagen, die im abgeschlossenen Werk keine Parallele mehr haben sollten und Einfälle am Wegrand blieben. Es zeigte sich rasch, daß sie sehr wohl geeignet waren, das Bild ihres Autors zu bereichern und zu differenzieren. In ihnen gibt sich ein weniger bekannter Marx zu erkennen. Will es freilich dann der Zufall, daß gleich die ersten Sätze eines immensen Werkkorpus ins thematische und gedankliche Zentrum der eigenen Untersuchung führen, ist der Versuchung kaum zu widerstehen, bei ihnen einen Moment lang zu verweilen. Wir erlauben uns, zweien solcher Ideenbruchstücke aus den Grundrissen unsere Aufmerksamkeit zu widmen – nicht mehr und nicht weniger. Beide entstammen der fulminanten Einleitung, und zwar genauer deren Anfang und deren Ende. Wir setzen mit den Schlußpassagen ein, die inzwischen aus gutem Grund eine gewisse Berühmtheit erlangt haben.31
Basis-Überbau-Theoreme obsolet Bevor Marx an die Arbeit ging, nominierte er die vor ihm liegenden Aufgaben in einer Einleitung. Weniger als einen Monat wendete er auf diese, dann legte er sie unvollendet zur Seite. Ein glücklicher Umstand fügte es, daß die letzten Abschnitte, keine zwei Seiten umfassend, Problemen der Kunst und ihrer Wirkung gelten. Marx hatte sich vorgesetzt, in einem offensichtlich abschließenden Teil seines Werkes, den Relationen zwischen den ›Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen‹ auf der einen Seite, den ›Staats- und Bewusstseinsformen‹ auf der anderen nachzugehen. Eine Reihe von Punkten hatte er notiert, die »nicht vergessen werden dürfen«. Darunter befand sich einer, der dann tatsächlich als einziger noch zu einer gewissen Ausformulierung gelangte, bevor das Manuskript abbrach.32 Als Aufgabenfeld hatte Marx umrissen: –––––––––
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Die Einleitung zu den Grundrissen ist auch in die zitierte und von uns im folgenden herangezogene sechsbändige Ausgabe der Schriften von Marx aufgenommen wurden. Vgl. Werke – Schriften – Briefe. Band VI: Ökonomische Schriften. Dritter Band. Hrsg. von HansJoachim Lieber, Benedikt Kautsky.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 793–833. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Anm. 31), S. 29. Der vierte und letzte Abschnitt lautet gemäß einer der Einleitung vorangestellten Disposition: »Produktionsmittel (-kräfte) und Produktionsverhältnisse, Produktionsverhältnisse und Verkehrsverhältnisse etc.« (S. 4).Vor dem entsprechenden Abschnitt steht eine weitere Disposition, die
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels 6) Das unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion z.B. zur künstlerischen. Überhaupt der Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion zu fassen. Moderne Kunst etc. Diese Disproportion noch nicht so wichtig und schwierig zu fassen, als innerhalb praktisch-sozialer Verhältnisse selbst. Z.B. der Bildung. Verhältnis der United States zu Europa. Der eigentlich schwierige Punkt, hier zu erörtern, ist aber der, wie die Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten. Also z.B. das Verhältnis des römischen Privatrechts (im Kriminalrecht und öffentlichen das weniger der Fall) zur modernen Produktion.33
Ein Problem von erheblicher Tragweite zeichnete sich als zu bearbeitendes ab. Marx gab sich Rechenschaft darüber, daß zwischen den Produktionsverhältnissen und den Gestaltungen in der Sphäre des Rechts, der Kunst etc. nicht einfach von spiegelbildlichen Verhältnissen ausgegangen werden könne, sondern Ungleichzeitigkeiten und Disproportionen zu kalkulieren seien. Eine schlichte Basis-Überbau-Doktrin, Achillesferse im späteren orthodoxen Marxismus, hätte im Blick auf den Marx der Grundrisse keine Stütze gefunden. Die ökonomischen Verkehrsformen nicht anders als die sozialen Verhältnisse prägten sich nicht umstandslos in den Bildungen des objektiven und absoluten Geistes ab, um die Hegelsche Terminologie zu bemühen. Wie war es möglich, daß innerhalb einer vorgegebenen sozialen Formation Erscheinungen z.B. auf dem Sektor der Bildung zu diagnostizieren waren, die nicht einfach aus den gesellschaftlichen Strukturen herauswuchsen, sondern eine relative Selbständigkeit bewahrten? Wie schlugen nationale bzw. kontinentale Unterschiede bei prinzipiell gleichen sozioökonomischen Ausgangsbedingungen zu Buche? Wie stand es um die Rezeption einer antiken Rechtsfigur wie der des römischen Privatrechts in der Moderne? Und so in einem fort. Die intellektuelle Geschichte im Marxismus hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn Fragen wie die angedeuteten in das Zentrum der Marxschen Theorie gerückt wären. Sie blieben angesichts vordringlicherer Aufgaben ausgespart, und nur ein knappes Aperçu ließ ahnen, welche Richtung der Gedanke womöglich eingeschlagen hätte.
Experimentierfeld Kunst Bei der Kunst bekannt, daß bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaus ihrer Organisation, stehn. Zum Beispiel die Griechen verglichen mit den Modernen oder auch Shakespeare.
So das den Gedanken einleitende Statement. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen stand auf dem Prüfstand. Doch bevor Marx diesem Problem unmittel–––––––––
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zeigt, daß Marx sehr viel weiter auszuholen beabsichtigte und seine Überlegungen vorzeitig abbrach: »Produktion. Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse. Produktionsverhältnisse und Verkehrsverhältnisse. Staats- und Bewusstseinsformen im Verhältnis zu den Produktions- und Verkehrsverhältnissen. Rechtsverhältnisse. Familienverhältnisse.« (S. 29). Hegelsche Vorgaben standen immer noch im Hintergrund. Ebd., S. 29 f.
Ein abschließender Blick auf Marx
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bar nähertrat, verharrte er bei einem Beispiel, dem auch schon Hegels besondere Aufmerksamkeit gegolten hatte, von der soeben sich formierenden Altertumswissenschaft zu schweigen. Bestimmte Formen der Kunst wie das griechische Epos, so Marx, können in ihrer weltepochemachenden, klassischen Gestalt nie produziert werden [...], sobald die Kunstproduktion als solche eintritt; also daß innerhalb des Berings der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung möglich sind.34
Der Skopus der Argumentation muß dahingehend dingfest gemacht werden, daß Marx eine vollendete Kunstform wie das Epos nicht nur einer »unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung« kontrastiert, sondern mit dieser zugleich einer archaischen und als solche unentwickelten Form der Gesellschaft. Vollkommene Ausprägungen in der Kunst sind nicht an entsprechend entwickelte gesellschaftliche Voraussetzungen gekoppelt. Speziell im Fall des Epos gilt, daß die künstlerische Entwicklung über sie hinwegschreitet, sich institutionell verfestigt und dem an Mündlichkeit geknüpften Vortrag den Boden entzieht. Eine vollkommene Form stirbt ab, weil die produktiven Voraussetzungen entfallen, ohne daß das Fortleben der archaischen Form davon betroffen wäre. Eine materialistische Methodik bietet keine direkten Handhaben weder zur Genese von vollendeten künstlerischen Bildungen vor Eintritt in ein eigentliches Zeitalter der Kunst, noch zur Erklärung des Eigenlebens von künstlerischen Formen, die sich unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen vollziehen. Genuine immanente Prozesse in einem Zweig des ›absoluten Geistes‹ wie der Kunst sind zu gewärtigen, die sich keinesfalls umstandslos mit sozialen Prozessen verrechnen lassen. Sind aber schon innerhalb der Sphäre der Kunst Gesetze der Evolution, der stetigen Fortentwicklung des Systems außer Kraft gesetzt, so potenziert sich die Problematik in jenem Moment, da das System überschritten, Gesellschaft und Kunst gemeinsam in den Blick genommen werden. Sind »gewisse bedeutende Gestaltungen« der Kunst nur auf einer »unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung« möglich, so gilt analog dazu, daß eben dies auch »im Verhältnis des ganzen Bereichs der Kunst zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft der Fall ist. Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert worden, sind sie schon erklärt.«35 Fragen des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft sind also nicht nach vorgegebenen Erklärungsmustern zu traktieren und zu lösen, sie bedürfen der Einzeluntersuchung am konkreten Fall. Stets liegen ›widersprüchliche‹ Strukturen vor, die nach Exploration verlangen. Ein Widerspruch ist nur in dem Maße geschlichtet und aus der Welt geräumt, wie ein Verhältnis wechselseitiger Dependenz aufgewiesen werden kann. Privilegierte determinierende Basisfaktoren existieren ebensowenig wie vorgängige evolutionistische Muster. Ein Experimentierfeld tut sich auf, innerhalb dessen mit offenem Ausgang laboriert wird. –––––––––
34 35
Ebd., S. 30. Ebd.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Nachleben der Werke Das Ausgezeichnete der herangezogenen Passage dürfte jedoch darin zu suchen sein, daß Marx noch einen erheblichen Schritt weitergeht und ein Problem in das Blickfeld rückt, von dem man behaupten darf, daß es in der auf Marx folgenden kunsttheoretischen Debatte Jahrzehnte über schlechterdings keine Rolle mehr spielte. Marx, angetreten, das von Hegel vorgegebene Problem der Entfaltungsstufen des Geistes neu zu durchdenken und also im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen zu entfalten, konfrontierte sich mit einem solchen innerhalb der Kunsttheorie, das Hegel nicht gesehen und – wenn er es denn gesehen haben sollte – nicht eigens thematisiert hatte. In der nun zur Rede stehenden Frage stellte sich die denkwürdige Situation ein, daß Marx die von Hegel durchgängig beobachtete Historisierung der Gestalten auch des absoluten Geistes für einen Moment sistierte, ohne hinter Hegel zurückzufallen, sondern ihn vielmehr überschritt, dies aber gerade nicht vermöge einer materialistischen Volte, sondern vermittels einer genuin kunsttheoretischen Reflexion. Noch einmal kehrte er zurück zu den Vorgaben der griechischen Kunst. Essentiell für sie ist ihre Verwurzelung im Mythos. Er bildet, so Marx, nicht nur das stoffliche »Arsenal der griechischen Kunst, sondern ihr[en] Boden.« Ist dem so, dann müßte nach doktrinärem materialistischem Verständnis mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft und der mit ihr verknüpften Beherrschung der Kräfte der Natur, deren Überführung in den Mythos eben die zivilisatorische Leistung der archaischen Zeit ausmachte, die griechische Kunst wie jede andere frühzeitige veralten und allenfalls als historisches Phänomen noch Interesse auf sich ziehen. Wo bleibt Vulkan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier? Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben. Was wird aus der Fama neben Printinghouse sqare?36
Hegel hatte das Problem über eine Aufeinanderfolge und damit eine Ablösung der Gestalten des absoluten Geistes geglaubt lösen zu können. Die Kunst, in der griechischen Klassik zur höchsten Ausprägung gelangend, weicht im Fortgang der Geschichte der Religion und diese der Philosophie als dem der voll entfalteten Moderne allein gewachsenen Medium des Geistes. Was aber folgt daraus für das Fortleben der überwundenen Gestaltungen des Geistes? Marx statuiert nicht ihre ›Aufhebung‹ im Hegelschen Sinn, sondern ihre ungebrochene Virulenz und Vitalität. Die materiellen, gesellschaftlichen, im weitesten Sinne geschichtlichen Bedingungen haben sich radikal gewandelt; gleichwohl hat dies dem Leben der Werke keinen Abbruch getan, scheint ihr Fortleben inmitten der technisierten Welt vielmehr unverwüstlich. [...] ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse, und gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preß-
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Ebd., S. 30 f.
Ein abschließender Blick auf Marx
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bengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?37
Keinesfalls. Wenn aber nicht, dann sind alle einsinnigen, direkten und womöglich kausalen Korrelierungen nicht nur zum Scheitern verurteilt, sind nicht nur untaugliche, sondern unzulässige Verfahrensweisen im Umgang mit Gestaltungen des Geistes, als welche konkret im vorliegenden Zusammenhang die griechische Kunst und des näheren das griechische Epos fungiert. Geistige, künstlerische Gebilde führen ein Eigenleben, entfalten Kräfte und Wirkungen, die nicht ableitbar und herleitbar sind, sondern an den Gestaltungen selbst haften und sich als resistent gegenüber der fortschreitenden Zeit erweisen. So gesehen hat es die Wissenschaft der Kunst, hat es die Ästhetik primär gerade nicht mit den Bedingungen qua Produktionsfaktoren der Werke zu tun, sondern umgekehrt mit ihren Wirkungen, ist im eigentlichen Sinn Theorie und Geschichte von rezeptiven Akten. Und das nicht gegen, sondern explizit mit Marx. [...] die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.38
Da endlich scheint Marx das Visier herunterzulassen und sich als unzeitgemäßer Verehrer eines zeitlosen klassischen Kunstideals zu bekennen. Der Vorwurf ist erhoben worden. Doch diskreditiert er sich in dem Moment seiner Artikulation. Ein methodisches Problem steht zur Debatte, kein Geschmacksurteil. Der materialistische Ideenforscher gibt sich Rechenschaft darüber, daß die Instrumentarien der Korrelierung und Historisierung geschichtlich-gesellschaftlicher und geistig-künstlerischer Phänomene bislang nicht greifen. Ästhetische Phänomene bergen Potenzen, die nicht an Raum und Zeit alleine haften, sondern in einer jeden Zeit ungeachtet inkommensurabler gesellschaftlicher Verhältnisse neue unverbrauchte Wirkungen zu entfalten vermögen. Der Marx der Grundrisse sieht seinen in Auseinandersetzung vor allem mit Hegel gewonnenen und entwickelten materialistischen Ansatz vor eine Herausforderung gestellt, die dazu nötigt, den produktionstechnisch-genetischen mit einem wirkungsgeschichtlich-anthropologischen Aspekt in ein näher zu entwickelndes, allemal jedoch nicht einen einzigen Faktor absolut setzendes Verhältnis zu rücken. Noch einmal: Schlichte Basis-Überbau-Theorien können sich auf den Marx der Grundrisse nicht berufen.
Kindheitstage der Kunst Es ist jedoch nicht nur dieser Aspekt, der es geraten sein ließ, mit einem Blick in die Grundrisse unsere kleine Marx-Betrachtung zu beschließen. Der vorge––––––––– 37 38
Ebd., S. 31. Ebd.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
legte Passus geleitet auch noch hin zu unserer Fragestellung im engeren Sinn. Denn die Antwort, die Marx auf die von ihm aufgeworfene Frage findet, verweist nicht zurück auf Hegel, sondern nimmt einen Gedanken der Kunsttheorie und Geschichtsphilosophie des späteren 18. Jahrhunderts und zumal Herders wieder auf, der über dem unerbittlichen Progressionsmodell Hegels verschüttet zu werden drohte. Er berührte sich überraschend mit Problemen, die in den zeitgenössischen Idyllentheorien zur Debatte standen und belegt einmal mehr, daß auch der Theoretiker Marx nur verstanden werden kann im Kontext der geistigen Bewegungen der Schwellen- und Achsenzeit um 1800. Hier aber ging es zunächst um nicht mehr als eine improvisierte kleine Glosse, nach deren Niederschrift ihr Autor unvermittelt und ohne ein weiteres Wort zu verlieren abbrach. Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben seine Wahrheit zu reproduzieren? Lebt in der Kindernatur nicht in jeder Epoche ihr eigner Charakter in Naturwahrheit auf? Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogne Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehn konnte, nie wiederkehren können.39
Eine salomonische, nichtsdestoweniger geschichtlich vielfältig vermittelte Lösung zeichnete sich da ab. In Übereinstimmung mit Hegel bekräftigte Marx, daß die griechische Kunst – wie sie beiden in ihrer frühesten Ausprägung in Gestalt des Epos zunächst vor Augen stand – ihre Entstehung einer einmaligen Epoche verdankte. Als ›heroisches Zeitalter‹ hatte Hegel sie gekennzeichnet und gezeigt, daß nur in ihr das Epos eines Homer heranwachsen konnte. Marx folgt ihm darin. Offene, institutionell noch nicht verfestigte und in diesem Sinn ›unreife gesellschaftliche Bedingungen‹ sind der Wurzelgrund für die früheste Kunstform Europas. Das Hegelsche Axiom, das seinerseits selbstverständlich eine Vorgeschichte hat, ist bestätigt und über einen nur angedeuteten Schwenk gesellschaftsgeschichtlich gewendet. Marx aber geht es um das Fortleben dieser Gestalt des Geistes, die an Bedingungen geknüpft war, welche nicht wiederkehren, ohne daß das Gewächs, das auf dem Boden der Frühe erwuchs, im Verlaufe der Zeit vergehen würde. Genau wie in der Theorie der Idylle ist es ein der Anthropologie entstammendes Argument, mittels dessen Marx des eben nur scheinbaren Widerspruchs Herr zu werden sucht. Die Kindheit eines jeden Menschen und die Kindheit der Menschheit werden metaphorisch derart vermittelt, daß die Begegnung mit einer frühen Gestalt der Kunst die Erinnerung an die eigene Frühe evoziert, ein überwundenes entwicklungsgeschichtliches Stadium wieder wachruft und in einem Akt der Anamnesis Empfängnisbereitschaft für frühzeitliche Werke stimu––––––––– 39
Ebd.
Ein abschließender Blick auf Marx
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liert, die sich einem Akt des Wiedererwachsens anläßlich der Begegnung mit eben diesen Zeugen einer menschheitlichen Kindheit verdankt. Wieder werden einsinnige, monokausale Erklärungsmuster außer Kraft gesetzt. Kompliziertere Strukturen wechselseitiger Vermittlung wollen aufgedeckt sein. Noch einmal fungiert ›Naturwahrheit‹ als vermittelndes Glied. Sie hat, so Marx mit Hegel, in der griechischen Kunst ihre schönste Gestalt gewonnen. Im Kind gibt sie sich in Unschuld und Naivität kund, die, so Marx mit Schiller, auf einer höheren Stufe von einem jeden Menschen wieder errungen sein will. Die geschichtliche Formation der Frühe und mit ihr die ihr entsprungenen Gestaltungen des Geistes kehren nicht wieder, sind unwiederbringlich. Die Ausstattung der Menschheit mit ›Kindernatur‹ aber ist der Grund und zugleich die Gewähr, daß sie sich nicht verlieren. Konfrontiert mit ihnen, schaut die Menschheit sich immer wieder selbst ins Antlitz – und das nicht nur in Erinnerung an ein verlorenes Paradies, sondern im Bewußtsein, einer Zukunft entgegen zu schreiten, in der sich Naturwahrheit auf einer höheren Stufe reproduziert. Genau von dieser anthropologischen Disposition lebt die Idylle. Ihre futurische Disposition, wie sie Schiller exemplarisch freigelegt hatte, um sie ihr im gleichen Moment wieder abzusprechen, war der in das goldene Zeitalter verlegten Hirtengesellschaft eingeschrieben und blieb es solange, wie ein Vertrauen in die ›Wahrheit‹ und Integrität von Natur sich behauptete. Es bedurfte nur eines unscheinbaren Schwenks, um die Linien sozialphilosophisch auszuziehen. Der Autor aber, der ansetzte zu einer weltumspannenden politischen Ökonomie, verblieb im Banne eines aufgeklärt-empfindsamen Erbes, wie es sich in der ingeniösen Formel von der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur verdichtet hatte. Bleibt abschließend ein Blick in die ersten Sätze der ›Einleitung‹ zu werfen, in denen auf andere Weise unserem Thema überraschend präludiert wird.
Produktion und Sprache, systematisch und historisch angeschaut »Der vorliegende Gegenstand zunächst die materielle Produktion.«40 Mit dieser Feststellung setzt die Einleitung ein. Geht es in dem zunächst herangezogenen Schlußabschnitt um Produktions- und Verkehrsverhältnisse und ihre Korrelierung mit ideellen Faktoren des geschichtlichen Prozesses, so eingangs um die Formen und Typen der Produktion selbst, um die ›Produktion im Allgemeinen‹. Sie ist in dieser nomenklatorischen Façon selbstverständlich eine ›Abstraktion‹, aber – wie Marx sogleich hinzufügt – »eine verständige Abstraktion, sofern sie wirklich das Gemeinsame hervorhebt, fixiert, und uns daher die Wiederholung erspart.«41 Von der Produktion im Allgemeinen zu sprechen heißt, von einer geschichtlichen Rekonstruktion der Produktionsformen zunächst ebenso abzusehen wie von der Konzentration auf eine einzige historische Epoche, als welche –––––––––
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die letzte in Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft alsbald das eigentliche Thema abgeben wird. So wie Sprache als ein Allgemeines betrachtet zu werden vermag, so auch die Produktion. Stets werden Bestimmungen ausfindig zu machen sein, die der »modernsten Epoche mit der ältesten gemeinsam« sind. Doch geht eben darüber das Spezifische – und was wäre dies anderes als das Geschichtliche – verloren. Es wird sich keine Produktion und keine Reflexion auf die Sprache ohne allgemeine Bestimmungen denken lassen. [...] allein, wenn die entwickeltsten Sprachen Gesetze und Bestimmungen mit den unentwickeltsten gemein haben, so muß grade das, was ihre Entwicklung ausmacht, den Unterschied von diesem Allgemeinen und Gemeinsamen, die Bestimmungen, die für die Produktion überhaupt gelten, müssen grade gesondert werden, damit über der Einheit – die schon daraus hervorgeht, daß das Subjekt, die Menschheit, und das Objekt, die Natur, dieselben – die wesentliche Verschiedenheit nicht vergessen wird.42
So gewendet zeigt sich rasch, wie nicht anders zu erwarten, daß die allgemeinen Bestimmungen die selbstverständlichen, die besonderen hingegen die spezifischen sind. Zu den ersteren gehört die Feststellung, daß keine Produktion möglich ist ohne ein Produktionsinstrument, und sei es nur die menschliche Hand. Ein Produktionsinstrument ist aber auch das Kapital, insofern als es »vergangne, objektivierte Arbeit« ist. Als ein ›Naturverhältnis‹ kann es nur erscheinen, sofern das Spezifische ausgeklammert bleibt, nämlich das, »was ›Produktionsinstrument‹, ›aufgehäufte Arbeit‹ erst zum Kapital macht.« Eine Betrachtung des Kapitals ohne Darlegung seiner Genese, ist eine Erzeugung von Ideologie im Sinne von interessegeleitetem falschen Bewußtsein, demzufolge mittels Eskamotierung von Geschichte die »Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozialen Verhältnisse« suggeriert wird.43 So läuft schließlich die kleine methodische Vergewisserung wie selbstverständlich auf eine Relativierung der Vorzüge ›allgemeiner‹ Betrachtungen hinaus. Ihr Ertrag ist materialiter geringfügig, bewußtseinsgenerierend dafür um so ergiebiger.
›Selbständige Individuen. 18.-JahrhundertIdeen‹: Paradigma Robinsonaden Warum aber diese scheinbar weit abführende Erinnerung? Weil ein allgemeiner Grundsatz auch hinsichtlich von ›Produktion‹ uneingeschränkte Geltung besitzt, der in der klassischen englischen Nationalökonomie keinesfalls als solcher sanktioniert erscheint. »In Gesellschaft produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt.«44 Ausgangspunkt für Marx, nicht so für seine Vorgänger, mit denen er ––––––––– 42 43 44
Ebd. Ebd. Ebd., S. 5.
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sich kritisch auseinanderzusetzen hat. Und damit ist der unmittelbar vorgegebene thematische Zusammenhang erreicht. ›Selbständige Individuen. 18.-Jahrhundert-Ideen‹. Unter diese Stichworte hat Marx den Eingang seiner Überlegungen gestellt. Nichts weniger als Elemente einer Kulturtheorie des 18. Jahrhunderts und – in Verlängerung der Linien – der Formationsphase der bürgerlichen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert legt er skizzenhaft in den beiden ersten Absätzen nieder. Und das ausgehend von Figuren, die wie Hirten und Bauern in der Frühzeit der Menschheit auf den Plan treten. Grund genug also, seinen Expektorationen zu folgen und ihnen eine heuristische Perspektive abzugewinnen. Ricardo und Smith, die Marx als die prominentesten Vertreter ihres jungen Faches im Auge hat, beginnen ihre Analysen der materiellen Produktion mit dem Auftreten einzelner und vereinzelter Jäger und Fischer. Ein solcher Rekurs gehört für Marx jedoch »zu den phantasielosen Einbildungen der 18.-JahrhundertRobinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Überverfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandnen Naturleben ausdrücken.«45 ›Robinsonaden‹! Unter diesem Titel faßt Marx die Statuierung von gesellschaftsfernen und gesellschaftslosen Räumen zusammen, bevölkert von autarken Individuen, deren antisozialer Affekt sich von einem ›mißverstandnen Naturleben‹ herschreiben soll. Das Auftreten derartiger vermeintlich geschichtsloser Existenzen, in die Ferne des Raums oder die Frühe der Zeit verlegt, sei keineswegs Ausdruck und Ausgangspunkt eines erst hernach anhebenden geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses, sondern im Gegenteil Folge eines hochentwickelten späten und reifen Stadiums gesellschaftlicher Formierung, wie sie sich des näheren als Scheitelpunkt in der Evolution der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Der den Robinsonaden – und, wie ergänzt werden darf: den Idyllen – nachgesagte ›Naturalismus‹ beruhe ebenso auf ›Schein‹ wie eine Interpretation von Rousseaus contrat social unter dieser Kategorie, nur weil er »die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung« bringe. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in frühren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten des 18. Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehn, schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andrerseits der seit dem 16. Jahrhundert neuentwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangne sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das Naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuen Epoche bisher eigen gewesen.46
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Ebd. Ebd., S. 5 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Diese Argumentation scheint sich partiell mit jener zivilisationskritischen Attitüde zu berühren, die immer wieder herhalten mußte als Erklärungsmuster für die grassierende vogue naturverhafteter Bilder ursprünglicher einfacher Lebensformen, wie sie im 18. Jahrhundert kulminierten. Das genaue Gegenteil umkreisen die Marxschen scheinbar lässig hingeworfenen Bemerkungen. Die ›Naturwahrheit‹ reklamierenden Personen der ›Robinsonaden‹ im weitesten Sinn sind Repräsentanten nicht nur eines hochentwickelten Standes gesellschaftlicher Entwicklung, sie figurieren vielmehr zugleich als selbständige Individuen, weil die Gesellschaft eine Stufe erreicht hat, in der Autarkie überhaupt erst denkund erfahrbar wurde. Das ›Zurück zur Natur‹ – nicht nur in gesellschaftslose Räume oder ferne Zeiten verlegt, sondern auch inmitten von entwickelten Gesellschaften in Gestalt von Enklaven imaginiert – ist nicht Ausdruck einer geschichtlichen Stunde der Frühe, sondern Zeugnis einer sozialen wie mentalen Höhe, welche die Bilder und Phantasien allseitig entwickelter und vermeintlich eben deshalb ganz aus der ›Natur‹ lebender Gestalten hervortreibt. Als solche nehmen sie den Rang und die Funktion menschheitlicher Repräsentanten ein, wissen sie sich doch als Agenten einer im Anbruch befindlichen ›neuen Epoche‹. Voll entfaltete Individualität, ganzheitliche Anthropologie und Kulmination der bürgerlichen Gesellschaft müssen also zusammengedacht werden. Der Historiker, im Begriff, zu einer umfassenden Analyse der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft auszuholen, hat noch vor dem Einsatz Kriterien für eine Interpretation von Natur und natürlichen Lebensformen im 18. Jahrhundert niedergelegt, die geeignet erscheinen, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fehlurteile, wie sie insbesondere in der Erforschung der Empfindsamkeit immer wieder zu konstatieren sind, zu korrigieren und durch zutreffendere, weil theoretisch fundierte Analysen zu ersetzen.
Robinsons Arbeit ins Gesellschaftliche übersetzt Marx ist bekanntlich im ersten Buch des Kapitals in dem berühmten Kapitel über den ›Fetischcharakter der Ware‹ auf Robinson und die Robinsonaden zurückgekommen. Das braucht uns hier nur unter einem einzigen Aspekt zu interessieren. Der Sarkasmus, mit dem er ein Lieblingsthema der englischen Ökonomen traktiert, hat köstlichen unterhaltenden und beträchtlichen literarischen Wert. Ricardo läßt seine Urfischer und Urjäger Fisch und Wild austauschen und dabei Instrumente verwenden, wie sie im Jahr 1817 auf der Londoner Börse in Gebrauch sind. Das beweist zur Genüge, was von diesem Spintisieren zu halten ist. Marx aber hat sich selbst noch einmal zu einer Imagination von Arbeit herbeigelassen, die wiederum den Charakter eines Gegenbildes trägt und in der die Erinnerung an die erstmaligen Formulierungen in den ›Pariser Manuskripten‹ mitschwingt. Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von
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Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. Alle Produkte Robinsons waren sein ausschließlich persönliches Produkt und daher unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn. Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich. Aber ein anderer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsgliedern verzehrt. Er muß daher unter sie verteilt werden. Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besonderen Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten. Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiedenen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen. Andererseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution.47
So hatte die literarische Utopie der Robinsonade, von den englischen Theoretikern in die politische Ökonomie versetzt, eine visionäre Kontrafaktur gezeitigt, wie sie sich Marx ansonsten im Kapital strikt versagt hat. Die in der Literatur statthafte Utopie, die in der theoretischen Ökonomie zur Fabuliererei heruntergekommen war, erfuhr eine Metamorphose, in der für einen Moment das Bild unentstellter gemeinschaftlicher Arbeit der Menschen aufblitzte. Das Bild harmonisch koexistierender Menschen in kleinen Gesellschaften, an deren phantasievoller Vergegenwärtigung alle Künste und zumal die Idylle so aktiven Anteil genommen hatte, war aufgenommen und weitergesponnen worden. Übersetzt in ein gesellschaftliches Ensemble zeichnete sich ein Wunschbild ab, das an Transparenz nicht zu überbieten war, enthielt es doch die Bausteine für die Aufrichtung einer Gesellschaft, in der nicht Zufall und blindes Schicksal waltete, sondern Übereinkunft und Verständigung über das gemeinschaftlich zu Verrichtende zum Zwecke einer Befriedigung der Bedürfnisse aller. Jedem einzelnen Individuum sollte sein Recht werden ohne den nämlichen Anspruch des anderen zu lädieren. Sichergestellt erschien dies elementare Recht durch Verständigung aller am Arbeitsprozeß Beteiligten über das ihnen Förderliche. Individueller und allgemeiner Nutzen rückten in ein Verhältnis wechselseitiger Stimulierung. So der Grundriß einer ins Gesellschaftliche übersetzten Robinsonade. Die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft, Besonderem und Allgemeinem schien sistiert und aufgehoben in einem sozialen Verband – Marx sprich vom ›Verein‹ –, dem es gelingt, Arbeit als produktive Kraft dem Wohle aller zuzuführen, statt sie über naturwüchsige Produktionsverhältnisse in eine gespaltene Gesellschaft münden zu lassen.
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Karl Marx: Das Kapital.- In: ders.: Werke – Schriften – Briefe. Band IV: Ökonomische Schriften. Erster Band. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber, Benedikt Kautsky.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, S. 55 f.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
›Arkadien und Utopien‹: Ein Blick auf Bloch und Benjamin Es kann schwerlich zweifelhaft sein, daß in Formulierungen wie den vorgelegten aus den ›Pariser Manuskripten‹ und den Grundrissen bzw. dem Kapital auf der Ebene der politischen Ökonomie Formen von Versöhnung gedacht werden, die den gänzlich anders gearteten Konstruktionsprinzipien der in unserer Untersuchung unter dem Titel arkadische Dichtung behandelten Texten der Intention nach ähneln, geht es hier wie dort doch um die Exposition ganzheitlicher Lebensentwürfe als vergemeinschafteter, harmonisch zusammenstimmender. In der Marxschen Theorie nicht entfremdeter vergesellschafteter Produktion ist vermittelt über Arbeit und also unentwegte materielle Bewegung – auch das ein Hegelsches Erbe – die geschichtliche Heraufführung eines Zustandes gedacht, der in der arkadischen Dichtung und speziell der Idylle als ein bereits vollzogener und in dem arkadischen Lebensraum in Geltung befindlicher imaginiert wird. Zeitlosigkeit und Präeminenz des Raums sind nur das Siegel auf eine Gegenwärtigkeit, die als vollendete konzipiert und als der Gattung Mensch geziemende mit dem Anspruch auf universelle Realisierung in die Welt tritt. Es würde zu den besonders lohnenden Aufgaben einer philosophischen Exposition der europäischen Arkadien-Utopie gehören, den hier aufscheinenden Parallelen nachzugehen. Und das gerade auch deshalb, weil Marx selbst genau wie Hegel für die Gattung Idylle nur sarkastische Worte bereit hatte. Ein Einstieg vermöchte über eine einläßlichere Beschäftigung mit einschlägigen Texten aus dem Umkreis des Neomarxismus genommen zu werden. Lesern der vorstehenden Blätter wird sich die Erinnerung an den Bloch des ›Prinzips Hoffnung‹ oder an Benjamin als Theoretiker der Aura eingestellt haben. Viele weitere Anknüpfungen wären namhaft zu machen. Verharren wir für einen letzten Moment bei den beiden erwähnten Autoren. Soeben ist der hochbetagte Ernst Bloch zu Ehren von Wolfgang Abendroth mit einer kleinen, ›Arkadien und Utopien‹ betitelten Studie hervorgetreten. In knappen Strichen vergegenwärtigt er die Züge eines ›arkadischen Traums‹, der – geknüpft an das Bild des Gartens – zurückreicht bis in das goldene bzw. das paradiesische Zeitalter. Arkadien, das ist: eine selber durchaus sanfte Gemeinschaft, idyllisch vorhandenes einfaches Glück, von Wölfischem a limine fern. Wärme, Sicherheit, Heiterkeit, Unschuld blühen statt dessen, eine Gruppe Gleichgesinnter bewohnt ihr Tal in ebenso freundlicher Natur. Solche Idylle wurde nicht grundlos als ländlich hirtenhaft dargestellt. Derart spielte noch ein anderes Fluchtwunschbild hinein, das zur guten Natur verklärte Bild des Gartens. Das lange vor dem schäferlichen ›Heraus in eure grüne Schatten‹, auch viel archetypischer als das theokritische Idyll und der gelehrte Garten Epikurs. Denn in jeder Sage von einem goldenen Zeitalter, vor allem der der Bibel stand ein Paradiesgarten, das verlorene Eden.48
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Ernst Bloch: Arkadien und Utopien.- In: Gesellschaft, Recht und Politik. [Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag.] Hrsg. von Heinz Maus in Zusammenarbeit mit Heinrich Düker, Kurt Lenk, Hans-Gerd Schumann.- Neuwied, Berlin: Luchterhand 1968 (= Soziologische Texte; 35), S. 39–44, S. 39 f. Vgl. auch das Kapitel ›Die Umgebung der Freizeit: Utopi-
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Die Idylle geleitet zurück in Zeiten der Frühe, in eine wohltätig dem Menschen zugeneigte, schon bearbeitete, in einen Garten verwandelte Natur. Zwischen den Polen einer geschichtslosen Urzeit und dem Sich-Finden des Menschen in einem empfindsamen 18. Jahrhundert formt sich arkadischer Geist am reinsten heraus und findet Erfüllung in der Musik, der Orpheusmusik Glucks, der Arie Susannas in Mozarts Figaro. Lust, Diesseits und Leidenschaft, durchaus doch auch in der Leidenschaft der Liebe ist hier Arkadisches, sie mag nicht ohne die Unschuld steter Zärtlichkeit sein. Was da als erzarkadisches Lied mit Rosen kränzen will, was auch bei Klopstock ›mit Rosenbändern bindet und um uns war’s Elysium‹, dies immerfort asphodelische Elysium hat mit Schwüle, Venusberg, Dionysos nichts gemein. Arcadia [...] ist keinem arkadischen Wunschbild Glut, sondern Freundlichkeit und Friede. Das aber durchaus jung, irdisch, keinesfalls seraphisch.49
Bloch kennt sich aus, hat Panofsky und Snell – ohne sie zu nennen – im Kopf, weiß also auch um die Merkwürdigkeit, daß just das rauhe Arkadien durch Vergil zur Wunschlandschaft erhoben wurde, und vermag die wesentlichen Wegzeichen auf dem »breiteren oder längeren Landstrich Bukolikon« zu markieren. Eine Lektüre der wenigen Seiten lohnt sich also. Wie nicht anders zu erwarten, laufen die Linien auf den utopischen Sozialismus zu und in gewisser Weise in ihm zusammen. Das eben ist das Wichtigste in unserem Zusammenhang: der Unterschied des arkadischen Bilds, als eines aus der Gesellschaft eher herausfallenden, und des eigentlich sozialutopischen als eines die Gesellschaft immanent-konstruktiv verbessernwollenden. Zugleich aber ist alles Sozialutopische lange vom arkadischen Archetyp beeinflußt, entspannend, aber auch neu bedeutenswert.50
Die Wende bezeichnen die Sozialutopien vom Schlage eines Mercier und Fourier. In ihnen wird die über den Raum konstruierte Utopie abgelöst durch die auf das zeitliche Paradigma verpflichtete Utopie. Futurisches machte sich geltend, so wie in der Bukolik seit Vergil und zumal seiner vierten Ekloge die Prophetie einer Zeitenwende beheimatet war. Das Auseinandertreten der beiden maßgeblichen Überlieferungen utopischen Denkens und Imaginierens erfolgte im Zeichen der Industrialisierung. »Das mehr nur Pflückende und Hütende, mehr Konsumierende als Herstellende des arkadischen Lebens« versinkt angesichts des auf die ungeahnten Möglichkeiten der industriellen Produktion setzenden »Produktions-›Sozialismus‹.«51 Und doch, so Blochs Einsicht, ist im Bild Arkadiens ein Erbe bewahrt, das es einer nicht zur Reißbrett-Utopie verkommenden sozialen Konstruktion immer wieder zuzuführen gilt. Denn selbst »für neuere Sozialutopien, gar für ein völlig produktionskräftiges Planungsreich, [ist] Arkadisches doch nicht völlig abgegol––––––––– 49 50 51
sches Buen Retiro und Pastorale‹, in: Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Band V: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Kapitel 38–55.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1959, S. 1073–1080. Bloch: Arkadien und Utopien (Anm. 48), S. 40. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 43.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
ten«, hält es »in seiner gleichsam angestammten Freundlichkeit, Friedlichkeit, Menschlichkeit ein helfendes Maß, ein Korrektiv besonderer Art und Eindringlichkeit in sich wach.«52 Eine Umfunktionierung Arkadiens zeichnet sich in den Augen des größten Theoretikers und Historikers der Utopie in allen Formen europäischer Geistigkeit ab. Sie ist Inbegriff eines behutsamen, eines auf Wahrung, Pflege und Entfaltung bedachten Umgangs mit der äußeren nicht anders als der inneren, der menschlichen Natur. Was Marx als Resultat gelungener Arbeit, verstanden als vergesellschafteter Austauschprozeß mit der Natur, statuiert hatte, die Erzeugung des Menschen als versöhnt mit sich und seinem Gegenüber, der Natur, ist im arkadischen Bild als Seiendes immer schon manifest, angelegt darauf, in ein gesellschaftliches, ein menschheitliches Gut überführt zu werden. Die in einem gemeinsamen Fluchtpunkt zusammenlaufenden Linien konnten einem Erkunder utopischen Sehnens wie Bloch nicht verborgen bleiben. Ein gutes Dutzend Jahre nach dem Erscheinen von Prinzip Hoffnung – vom frühen Geist der Utopie gar nicht zu reden – kam ein Motiv in der Grußadresse an den Weggefährten zum Tragen, das in der Archäologie der Utopie nicht fehlen durfte und in dem Theoretiker eines humanen Sozialismus seinen ebenso beredten wie glaubwürdigen Zeugen fand. Um eine Liaison von Arkadien und Utopien ging es am Ende. So etwas wäre dann allerdings ein neues, ein umfunktioniertes Nachleben von Arkadischem, auch noch in der neueren Sozialutopie, genau in ihr. Jedoch braucht erst recht ein arkadisches Korrektiv, damit es nicht dumm werde, das Salz wirklicher konkreter Utopie, ja Sal, Sulphus, und den beweglichen Mercurius zusammen. Denn das Arkadische hütet zwar mit hoministischem Recht gute zwischenmenschliche Natürlichkeit, das Utopische eröffnet aber, mit humanistischem Recht, den wirklich aufrechten Gang und seine Welt, plus Einschreiten in die Horizonte des Möglichen, zu dem wir sozialistisch angetreten sind.53
Auch Benjamin hat in dem letzten aus seiner Feder stammenden Text das Marxsche Theorem gelungener Arbeit wieder aufgenommen und im Lichte der französischen Frühsozialisten in seiner utopischen Dimension in Augenschein genommen. Die elfte seiner achtzehn geschichtsphilosophischen Thesen ist dafür bekanntlich einschlägig. Wieder galt es – wie so häufig im Neomarxismus – den Verkrustungen des sozialistischen Gedankens im Vulgärmarxismus auch inmitten der Sozialdemokratie zu wehren. Ein Fortschritts- und ein Arbeitsbegriff hatten ein gedankliches Heimatrecht gewonnen, dem es mit Verve zu widerstreiten galt. Nicht schlagender hätte eine Kritik ausfallen können, die von der literarischen fortgeschritten war zur sozialen und die einstmals dem LiteraturKritiker zugeschriebene destruktive Energie nun auf programmatische Leitsätze der Sozialdemokratie wandte. Dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt den Arbeitern selber anschlägt, solange sie nicht darüber verfü-
––––––––– 52 53
Ebd., S. 44. Ebd.
Ein abschließender Blick auf Marx
529
gen können. Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden. Zu diesen gehört ein Begriff der Natur, der sich auf unheilverkündende Art von dem in den sozialistischen Utopien des Vormärz abhebt. Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüberstellt. Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen, erweisen die Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung eines Fourier gegeben haben, ihren überraschend gesunden Sinn. Nach Fourier sollte die wohlbeschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, daß vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das Eis sich von den Polen zurückziehn, daß das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst der Menschen träten. Das alles illustriert eine Arbeit, die, weit entfernt die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße schlummern.54
Noch einmal trat Natur in das Zentrum des auf die Kritik eines korrumpierten Begriffs von Fortschritt und Arbeit gerichteten geschichtsphilosophischen Denkens. Arbeit, so hatte Marx mit Hegel gelehrt, bedeutete Vergegenständlichung des Menschen, Einbildung seines Wesens als Gattungswesen in den Kreislauf der Natur und deren Integration in den sozialen Kreislauf der Menschen. Beide Seiten profitierten von diesem Prozeß eines wechselseitigen Austausches. Die Formel von der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen hielt diese im Austausch gewonnene neue Qualität von Mensch und Natur fest. Benjamin war es vorbehalten, das schöne Bild des Entbindens jener Kräfte zu prägen, die im Schoße der Natur schlummern und im Prozeß gelungener Arbeit freigesetzt werden – der Natur wie dem Menschen zum Frommen. In der arkadischen Natur ist der Prozeß der Arbeit ausgeblendet. Der hegende und pflegende Umgang mit einer freundlichen Natur, von der Bloch sprach, ist der dem genus humile geschuldete Habitus von Hirten, die sich gemäß Gattungsregel als Widergänger heroischen Personals des genus grande begreifen. Ihr Feld des Wirkens ist nicht der weite Raum des Abenteuers und sich Bewährens, sondern der intime des menschengemäßen Umgangs in dem kleinen Kreis der Vertrauten, der in der Sensibilität für die Schönheiten der Natur sein Komplement besitzt. Arbeit ist in der arkadischen Utopie verinnerlicht zur humanen –––––––––
54
Hier zitiert nach der leicht greifbaren Ausgabe in: Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort versehen von Herbert Marcuse.- Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1965 (= edition suhrkamp; 103), S. 78–94, S. 87. Der Text ist auch enthalten in den beiden inzwischen vorliegenden Ausgaben mit einer umfangreicheren Dokumentation Benjaminscher Texte. Vgl. Walter Benjamin: Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno, Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus. Band I.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1955, S. 494–506; ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften [1]. Hrsg. von Siegfried Unseld.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1961 (= Die Bücher der Neunzehn; 78), S. 268–279 (ein weiterer Band mit ›Ausgewählten Schriften 2‹ Benjamins liegt vor in: Angelus Novus.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1966. Ein Herausgeber ist nicht erwähnt. Im Klappentext heißt es: »Die ›Illuminationen‹ und der ›Angelus Novus‹ werden als eine Art ausgewählter Schriften in zwei Bänden für mehrere Jahre die Grundlage der Beschäftigung mit Walter Benjamin bilden.«). Die ›Illuminationen‹ sind mit einer ›Biographischen Notiz‹ von Friedrich Podszus versehen. Die hier vorgelegte elfte These ist in der inzwischen vorliegenden Literatur zu Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen bislang zu wenig beachtet worden.
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Betrachtungen zum Frühwerk Hegels
Gebärde des rechten Umgangs mit den Gaben, die Mensch und Natur gleichermaßen eignen. Gemäß arkadischer Philosophie stehen derartige sittigende Akte einem ›heldischen‹ Ausgreifen in die Welt nicht nach. Entsprechend vermöchte es als Aufgabe von großem Reiz erscheinen, zwei Gestaltungen abendländischer Utopie miteinander in einen Kontakt denkerischer Vermittlung zu bringen, der hier wie dort positiv zu Buche schlagen könnte. Der Literarhistoriker wird das philosophische Angebot zu schätzen wissen, das in überwältigendem Reichtum zu Gebote steht. Davon eine Vorstellung im Blick auf die Geschichte der arkadischen Utopie Europas zu vermitteln, mochte einen langen Weg rechtfertigen. Er führt nun zurück zu den Texten und wird dazu beitragen, ihnen Leben im schöpferischen Lesen zurückzugewinnen und ihr Geschichtliches als fortzeugendes Erbe einer jeden denkbaren Zukunft zuzuführen.
Bibliographie der Schriften von Klaus Garber. 2004 bis 2011/12 und Nachträge Vorbemerkung Das nachfolgende Verzeichnis führt die Bibliographie der Forschungsarbeiten von Klaus Garber in der Festschrift zur 2004 erfolgten Emeritierung fort: Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Hrsg. von Axel. E. Walter.- Amsterdam, New York: Rodopi 2005 (= Chloe. Beihefte zum Daphnis; 36), S. 999–1030. Die dort gewählte systematische Anlage mit ihrem 10 thematischen Forschungsbereichen wird übernommen. Monographische Arbeiten stehen wiederum jeweils voran, während die Titel innerhalb der einzelnen Abschnitte in chronologischer Folge aufgeführt werden. I
Ästhetische Theorie/Literaturtheorie
1. Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker.- München: Fink 2005. –––– 1. Das alte Europa und die Konstitution der Moderne. Epochale Konturen im Werk Walter Benjamins.- In: Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Asholt, Rüdiger Reinecke, Erhard Schütz und Hendrik Weber.- Bielefeld: aisthesis 2004, S. 465–477. 2. Die Geburt der ›Kunst-Religion‹. Richard Alewyns Empfindsamkeits-Projekt im Spiegel der späten Bonner Vorlesungen.- In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- München: Fink 2005, S. 67–87.
II
Wissenschaftsgeschichte und Gelehrten-Porträts
1.
Zum Bilde Richard Alewyns.- München: Fink 2005.
–––– 1. Laudatio [Jutta Held].- In: Frühe Neuzeit und Moderne. Jutta Held zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- Münster: agenda 2004 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 4), S. 17–25.
532
2.
3.
Bibliographie der Schriften
Friedhelm Jürgensmeier und Friedhelm Krüger zum Abschied. Ein Grußwort.In: Osnabrücker Rückblick auf ein Jahrhundert-Konzil. Friedhelm Jürgensmeier und Friedhelm Krüger zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- Münster: agenda 2004 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kul-turgeschichte der Frühen Neuzeit; 5), S. 31–35. Laudatio Heinrich Mohr.- In: Literatur und Gesellschaft. Vom vorrevolutionären Sturm und Drang zum Realen Sozialismus. Heinrich Mohr zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- Münster: agenda 2005 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 8), S. 21–36.
4.
Laudatio auf Norbert Schneider.- In: Kunst und Architektur in Karlsruhe. Festschrift für Norbert Schneider. Hrsg. von Katharina Büttner und Martin Piepenbrock.- Karlsruhe: Universitätsverlag 2006, S. 11–22.
5.
Ein Sammler im Breslau des 18. Jahrhunderts und seine Verdienste um die Literatur des 17. Jahrhunderts. Johann Caspar Arletius und seine Sammlung der Dichtungen Simon Dachs.- In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Festgabe für Jörn Garber zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Kronauer und Wilhelm Kühlmann.- Eutin: Lumpeter & Lasel 2007, S. 63–104.
6.
Litterärgeschichte und Aufklärung. Das Werk Georg Christoph Pisanskis.- In: Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach.Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008, S. 345–378.
7.
Wege in die Zukunft. Friedrich Heers ›Die dritte Kraft‹ als europäisches Vermächtnis.- In: Die geistige Welt des Friedrich Heer. Hrsg. von Richard Faber und Sigurd Paul Scheichl.- Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2008, S. 107–128.
8.
Nota introduttiva [einleitende Bemerkungen zu einer italienischen Übersetzung von Richard Alewyns Aufsatz: Die Lust an der Angst].- In Nuova corrente 142 (2008), S. 195–197.
9.
Die deutsch-baltische Literatur der Frühen Neuzeit im Spiegel von Gelehrten und Sammlern, Archiven und Bibliotheken des 18. Jahrhunderts.- In: Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Hrsg. von Ulrich Kronauer.- Heidelberg: Winter 2011 (= Akademiekonferenzen; 12), S. 165–185.
III Europäische Literatur und Kultur 1. 2.
Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien.München: Fink 2009. Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur.- München: Fink 2009.
–––– 1.
Späthumanistische Verheißungen im Spannungsfeld von Latinität und nationalem Aufbruch.- In: Germania latina – Latinitas teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit. Hrsg. von Eckhard Keßler und Heinrich C. Kuhn. Band I–II. München: Fink 2003 (= Humanistische Bibliothek. Reihe I: Abhandlungen; 54), Band I, S. 107–142.
Bibliographie der Schriften
533
2.
Zur Archäologie nationalliterarischer Diskurse in der Frühen Neuzeit.- In: Neulateinisches Jahrbuch 6 (2004), S. 51–67.
3.
Aspekte gelehrter Kommunikation im schlesisch-lausitzischen Raum in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Morphologie und Restitution mitteleuropäischer Überlieferungen.- In: Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse. Hrsg. von Joachim Bahlcke.- Leipzig: Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig; Stuttgart: Steiner 2007 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte; 30), S. 243–255.
4.
Linker Nationalismus in Deutschland und das nationalliterarische Projekt im frühneuzeitlichen Europa.- In: Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800. Hrsg. von Ingrid Baumgärtner, Claudia Brinker-von der Heyde, Andreas Gardt und Franziska Sick.- Frankfurt a.M.: Klostermann 2007 (= Heft 3/4 des Jahrgangs 11 der Zeitschrift ›Zeitsprünge‹), S. 443–455.
5.
Hoffnung im Vergangenen? Die Frühe Neuzeit und das werdende Europa.- In: Zwischeneuropa/Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation. Akten des Gründungskongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes. Hrsg. von Walter Schmitz in Verbindung mit Jürgen Joachimsthaler.- Dresden: Thelem 2007 (= Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes; 1), S. 43–57.
6.
›Frühe Neuzeit‹ – Early Modernity: Reflections on a New Category of Literary History.- In: Camden House History of German Literature. Volume IV: Early Modern German Literature. 1350–1700. Edited by Max Reinhart.- Rochester, NY: Camden House 2007, S. 3–30. Von europäischer poeterey. Sprachen- und Literatur-Politik im Europa der Frühen Neuzeit.- In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 15 (2007), S. 43–65. [Spanische Version unter dem Titel:] De poesía europea: política, literatura y lengua en Europa durante la historia moderna.- In: Literatura y nación. La emergencia de las literaturas nacionales. Ed. por Leonardo Romero Tobar.- Zaragoza: Prensas Universitarias 2008 (= Humanidades; 69), S. 31–61.
7.
8.
Die nationalen Literaturen im frühmodernen Europa unter dem Stern des Calvinismus.- In: Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Hrsg. von Ansgar Reiss und Sabine Witt.- Dresden: Sandstein 2009, S. 169–175.
9.
Metropolen-Kultur im Katastrophen-Jahrhundert. Ein Essay im Blick auf bibliothekarische Kriegs-Trophäen.- In: Dazwischen. Reisen – Metropolen – Avantgarden. Festschrift für Wolfgang Asholt. Hrsg. von Wolfgang Klein, Walter Fähnders und Andrea Grewe.- Bielefeld: Aisthesis 2009 (= Reisen – Texte – Metropolen; 8), S. 413–440.
10. Die Idee der Nationalsprache und Nationalliteratur in der Frühen Neuzeit Europas.- In: Klaus Garber: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien.- München: Fink 2009, S. 107–213 [Originalbeitrag]. 11. ›De vera nobilitate‹. Zur Formation humanistischer Mentalität im Quattrocento.- In: Klaus Garber: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien.- München: Fink 2009, S. 443–503 [Originalbeitrag]. 12. Gelegenheitsdichtung. Zehn Thesen – in Begleitung zu einem forscherlichen Osnabrücker Groß-Projekt.- In: Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der
534
Bibliographie der Schriften
Frühen Neuzeit. Hrsg. von Andreas Keller, Elke Lösel, Ulrike Wels und Volkhard Wels.- Amsterdam, New York: Rodopi 2010 (= Chloe. Beihefte zum Daphnis; 43), S. 33–37. 13. Sub Specie Theatri. Ein weiter Blick aus dem Abstand auf das europäische Theater der Frühen Neuzeit.- In: Europäische Schauplätze des frühneuzeitlichen Theaters. Normierungskräfte und regionale Diversität. Hrsg. von Christel Meier und Angelika Kemper.- Münster: Rhema 2011 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme; 34), S. 25–41.
IV
Deutsche Literatur und Kultur
1.
Das alte Königsberg. Erinnerungsbuch einer untergegangenen Stadt.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008. Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2012 (= Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas; 4).
2.
–––– 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Spirituelle Sehnsucht. Das geistige Hamburg aus der Perspektive der Provinz. Dankesrede.- In: Ansprachen zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Professor Dr. Klaus Garber am 5. Februar 2003 im Warburg-Haus. Hrsg. vom Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft.- Hamburg: Hamburg University Press 2004 (= Hamburger Universitätsreden; N.F. 7), S. 33–62. Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projekts in Deutschland um 1600.- In: Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Hrsg. von Eckhard Grunewald, Henning. P. Jürgens und Jan R. Luh.- Tübingen: Niemeyer 2004 (= Frühe Neuzeit; 97), S. 185–194. Pastorale Aufrichtigkeit. Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs ›Pegnesisches Schäfergedicht‹.- In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Claudia Benthien und Steffen Martus.- Tübingen: Niemeyer 2006 (= Frühe Neuzeit; 114), S. 191–206. Konfessioneller Fundamentalismus und späthumanistischer Nationalismus. Die europäischen Bürgerkriege in der poetischen Transformation um 1600: Opitzens ›Trost-Getichte in Widerwärtigkeit des Krieges‹.- In: Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600. Hrsg. von Heinz Schilling unter Mitarbeit von Elisabeth MüllerLuckner.- München: Oldenbourg 2007 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloqiuen; 70), S. 23–46. Die Piastenhöfe in Liegnitz und Brieg als Zentren der deutschen Barockliteratur und als bibliothekarische Schatzhäuser.- In: Dziedzictwo reformacji w ksiĊstwie legnicko-brzeskim – Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz und Brieg. Hrsg. von Jan Harasimowicz, Aleksandra LipiĔska.- Legnica: Muzeum Miedzi 2007 (= ħródáa i materiaáy do dziejów Legnicy i KsiĊstwa legnickiego; 4), S. 191-209. Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Porträt Johann Rists.- In: ›Ewigkeit, Zeit ohne Zeit‹. Gedenkschrift zum 400.
Bibliographie der Schriften
535
Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hrsg. von Johann Anselm Steiger. Mit einem Geleitwort von Hans Christian Knuth.- Neuendettelsau: Freimund 2007 (= Testes et testimonia veritatis; 4), S. 9–36. 7. Danzig-Miniatur.- In: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 52 (2007), Nr. 227: Doppel-Talente: Günter Grass & Walter E. Richartz. Hommage und Memorial, S. 72–74. 8. Zum Bilde Simon Dachs.- In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hrsg. von Axel E. Walter.- Tübingen: Niemeyer 2008 (= Frühe Neuzeit; 126), S. 1–23. 9. Schwellenzeit. Das untergegangene alte Königsberg um 1800.- In: Kennen Sie Preußen – wirklich? Das Zentrum ›Preußen – Berlin‹ stellt sich vor. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Bärbel Holtz und Wolfgang Neugebauer.- Berlin: Akademie-Verlag 2009, S. 31–58. 10. Paul Fleming (1609–1640). Zum 400. Geburtstag des Dichters.- In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (2009), S. 626–630. 11. Faktoren der klassizistischen Dichtungsreform im Deutschland um 1600. Eine Einleitung zur Geschichte der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts.- In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann.- Berlin, New York: de Gruyter 2011, S. 181–198. 12. Hamburg – nicht nur ein Sonderfall der deutschen Geschichte. Eine Betrachtung zur Literatur der Frühen Neuzeit und ihren geschichtlichen Voraussetzungen.- In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hrsg. von Johann Anselm Steiger und Sandra Richter.- Berlin: Akademie-Verlag 2012, S. 13–43.
V
Buch- und Bibliothekswesen nebst Edition und Bibliographie
1.
Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Band IX–XI: Breslau / Wrocáaw – Universitätsbibliothek / Biblioteka Uniwersytecka. Abteilung II: Stadtbibliothek Breslau (St. Bernhardin). Mit einer einleitenden Skizze zur Geschichte der Bibliothek von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders und Sabine Beckmann.Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2003. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Band XVI: Königsberg / Kaliningrad – Bibliothek der Russischen Staatlichen Immanuel Kant-Universität / Biblioteka rossiiskogo gosudarstvennogo universiteta imeni Immanuila Kanta. Mit einer bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer kommentierten Bibliographie von Axel. E. Walter. Hrsg. von Sabine Beckmann, Klaus Garber und Axel E. Walter unter Mitarbeit von Stefan Anders.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2005. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Band XVII–XVIII: Breslau / Wrocáaw – Universitätsbibliothek / Biblioteka Uniwersytecka. Abteilung III: Stadt-
2.
3.
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4. 5.
6.
7.
8.
Bibliographie der Schriften
bibliothek Breslau (St. Maria Magdalena). Mit einer einleitenden Skizze zur Geschichte der Bibliothek von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders und Sabine Beckmann.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2005. Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.- München: Fink 2006. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Band XIX–XX: Breslau / Wrocáaw – Universitätsbibliothek / Biblioteka Uniwersytecka. Abteilung IV: Bestände aus Liegnitz und Brieg. Mit einer kultur- und bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer kommentierten Bibliographie von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Klaus Garber.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2007. Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum.- Köln, Wien, Weimar: Böhlau 2007 (= Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas; 3). Sigmund von Birken: Gesammelte Werke. Band I: Floridans Amaranten-Garte. Teil 1: Texte. Teil 2: Apparate und Kommentare. Hrsg. von Klaus Garber und Hartmut Laufhütte unter Mitw. von Ralf Schuster.- Tübingen: Niemeyer 2009 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke; N.F. 55–56). Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Band XXIII–XXVI: Danzig / GdaĔsk – Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Biblioteka GdaĔska Polskiej Akademii Nauk. Abteilung I: Gedanensia. Mit einer bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer Bibliographie von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Klaus Garber unter Mitarbeit von Stefania Sychta.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2009.
–––– 1. Skizze zur Geschichte der Bibliothek zu St. Bernhardin.- In: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Band IX: Breslau / Wrocáaw – Universitätsbibliothek / Biblioteka Uniwersytecka. Abteilung II: Stadtbibliothek Breslau (St. Bernhardin). Mit einer einleitenden Skizze zur Geschichte der Bibliothek von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders und Sabine Beckmann.- Hildesheim, Zürich, New York: OlmsWeidmann 2003, S. 17–22. 2. Eine Frühe-Neuzeit-Bibliothek und ihr geisteswissenschaftlicher Auftrag.- In: Gedächtnis der Menschheit. Ein Prachtexemplar der Diderotschen Encyclopédie im Osnabrücker Frühneuzeit-Institut. Hrsg. von Klaus Garber und Felicitas Hundhausen unter Mitw. von Beate Mrohs.- Münster: agenda 2004 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 6), S. 45–56. 3. Für ein nationales Verzeichnis der Drucke des 18. Jahrhunderts.- In: VD 18. Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts. Beiträge eines DFG-Rundgesprächs in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle (Saale), veranstaltet am 05.05.2004. Hrsg. von Heiner Schnelling.- Halle/Saale: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt 2004 (= Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in SachsenAnhalt; 86), S. 119–122.
Bibliographie der Schriften
4.
537
Der Bibliograph als Wegebahner für eine Kulturraumkunde des alten deutschen Sprachraums.- In: ›Goedekes Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen‹ und die bibliographische Erschließung literarischer Texte. Gespräch mit Freunden. Herbert Jacob zum 26. Dezember 2004. Hrsg. von Hans-Albrecht Koch.- Overath: Bücken & Sulzer 2004, S. 65–81. 5. Die alte Danziger Stadtbibliothek als Memorialstätte für das Preußen königlich polnischen Anteils. Sammler, Sammlungen und gelehrtes Leben im Spiegel der Geschichte.- In: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sabine Beckmann und Klaus Garber.- Tübingen: Niemeyer 2005 (= Frühe Neuzeit; 103), S. 301–355. [Erweiterte Version in:] Klaus Garber: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.- München: Fink 2006, S. 439–489. 6. Bücherhochburg des Ostens. Die alte Breslauer Bibliothekslandschaft, ihre Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und ihre Rekonstruktion im polnischen Wrocáaw.- In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Redaktion: Stefan Anders, Holger Luck und Winfried Siebers.- Tübingen: Niemeyer 2005 (= Frühe Neuzeit; 111), S. 539–653. [Wieder abgedruckt in:] Klaus Garber: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.- München: Fink 2006, S. 313–438. 7. Skizze zur Geschichte der Bibliothek zu St. Maria Magdalena.- In: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Band XVII: Breslau / Wrocáaw – Universitätsbibliothek / Biblioteka Uniwersytecka. Abteilung III: Stadtbibliothek Breslau (St. Maria Magdalena). Mit einer einleitenden Skizze zur Geschichte der Bibliothek von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders und Sabine Beckmann.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2005, S. 17–26. 8. Alte deutsche Bücher in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Ein Reisebericht.- In: Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa. Forschungen zum ausgehenden Mittelalter und zur jüngeren Neuzeit. Hrsg. von Hans-Werner Rautenberg.- München: Oldenbourg 2006 (= Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa; 1), S. 293–319. 9. Das Liegnitzer und Brieger Bibliothekswesen im kulturellen Kontext [und] Bibliographie.- In: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Band XIX: Breslau / Wrocáaw – Universitätsbibliothek / Biblioteka Uniwersytecka. Abteilung IV: Bestände aus Liegnitz und Brieg. Mit einer kultur- und bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer kommentierten Bibliographie von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Klaus Garber.- Hildesheim, Zürich, New York: OlmsWeidmann 2007, S. 17–85 und S. 87–101. 10. Die Danziger Stadtbibliothek. Sammler, Sammlungen und gelehrtes Leben im Umkreis der Stadt [und] Bibliographie.- In: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Band XXIII: Danzig / GdaĔsk – Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Biblioteka GdaĔska Polskiej Akademii Nauk. Abteilung I: Gedanensia. Mit einer bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer Bibliographie von Klaus Garber. Hrsg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Klaus Gar-
538
Bibliographie der Schriften
ber unter Mitarbeit von Stefania Sychta.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2009, S. 17–50 und S. 51–60. 11. Adelsbibliotheken in Schlesien – eine Annäherung.- In: Adel in Schlesien. Band I: Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung. Hrsg. von Jan Harasimowicz und Matthias Weber.- München: Oldenbourg 2010 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; 36), S. 479–497. 12. Die ›Bibliotheca Rudolphina‹ zu Liegnitz.- In: Geistiges Leben in Liegnitz vom 17. bis 20. Jahrhundert. Aufsätze zur Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte. Hrsg. von Edward Biaáek und Hubert Unverricht.- Dresden, Wrocáaw: Neisse Verlag 2010 (= Beihefte zum Orbis Linguarum; 96), S. 9–32. 13. Die ›Bibliotheca Rigensis‹ als Memorialstätte städtischer Kultur im alten Livland.- In: Erinnerungsmetropole Riga. Deutschsprachige Literatur- und Kulturvielfalt im Vergleich. Hrsg. von Michael Jaumann und Klaus Schenk.- Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 127–144.
VI
Kulturpolitik – Aktuelle Interventionen
1.
Der Zweite Weltkrieg und seine bibliothekarischen Spätfolgen. Noch immer geteilte Sammlungen deutscher Literatur in großen historischen Bibliotheken Europas und ihre Restitution als europäische Aufgabe.- In: Klaus Garber: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.- München: Fink 2006, S. 611–663 [Originalbeitrag].
VII Lexikon-Artikel
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Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. Band I– XII.- Berlin, New York: de Gruyter 2008–2011. Birken, Sigmund von.- In: Band I (2008), S. 558–564. Brockmann, Reiner.- In: Band II (2008), S. 209–210. Cunrad, Caspar.- In: Band II (2008), S. 517–518. Cunrad, Christian.- In: Band II (2008), S. 518–519. Cunrad, Johann Heinrich.- In: Band II (2008), S. 519. Gadebusch, Friedrich Konrad.- In: Band IV (2009), S. 95 f. Henel von Hennenfeld, Nicolaus.- In: Band V (2008), S. 260–261. Kirchner, Caspar.- In: Band VI (2009), S. 426–427. Koeler, Christoph.- In: Band VI (2009), S. 546–547. Lindner, Caspar Gottlieb.- In: Band VII (2010), S. 441. Nüßler, Bernhard Wilhelm.- In: Band VIII (2010), S. 663–664. Opitz, Martin.- In: Band VIII (2010), S. 715–722. Scultetus, Tobias.- In: Band X (2011), S. 707–708. Witte, Henning.- In: Band XII (2011), S. 478.
Bibliographie der Schriften
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VIII Rezensionen 1.
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Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel hrsg. von Klaus Conermann. Reihe I: Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten. Abt. A: Köthen. Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen. Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Band III: 1630–1636. Unter Mitarbeit von Gabriele Ball und Andreas Herz hrsg. von Klaus Conermann.- Tübingen: Niemeyer 2003.- In: Germanistik 44 (2003), Nr. 5216. Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I: Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten. Abt. A: Köthen. Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen. Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Band IV: 1637–1638. Unter Mitarbeit von Gabriele Ball und Andreas Herz hrsg. von Klaus Conermann.Tübingen: Niemeyer 2006.- In: Germanistik 48 (2007), Nr. 4937. Deutsches Schriftstellerlexikon. 1830–1880. Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung – Fortführung. Bearb. von Herbert Jacob. Redaktion: Marianne Jacob. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Band III/2 und Band IV.- Berlin: Akademie-Verlag 2003 und 2005.- In: Germanistik 48 (2007), Nr. 2119. Deutsches Schriftstellerlexikon. 1830–1880. Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung – Fortführung. Bearb. von Herbert Jacob. Redaktion: Marianne Jacob. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Band VII.- Berlin: Akademie-Verlag 2007.- In: Germanistik 48 (2007), Nr. 5467. Deutsches Schriftstellerlexikon. 1830–1880. Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung Fortführung. Bearb. von Herbert Jacob und Marianne Jacob. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Band V/1.- Berlin: Akademie-Verlag 2009.- In: Germanistik 50 (2009), Nr. 2138. Martin Opitz: Lateinische Werke. Band 1: 1614–1624. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann, Hans-Gert Roloff und zahlreichen Fachgelehrten hrsg., übersetzt und kommentiert von Veronika Marschall und Robert Seidel.- Berlin, New York: de Gruyter 2009 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts).- In: Germanistik 50 (2009), Nr. 1685. Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I: Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten. Abt. A: Köthen. Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen. Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Band V: 1639–1640. Unter Mitarbeit von Gabriele Ball und Andreas Herz hrsg. von Klaus Conermann.Berlin, New York: de Gruyter 2010.- In: Germanistik 51 (2010), Nr. 1645. Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Kritische Edition mit Übersetzung. Hrsg. von Klaus Conermann unter Mitarbeit von Harald Bollbuck. Band I–III.- Berlin, New York: de Gruyter 2009.- In: Germanistik 51 (2010), Nr. 1675.
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Bibliographie der Schriften
IX
Größere publizistische Arbeiten
1.
Akt der Balance im Raum des Geistigen. Als Stätten überindividueller Sozialisation gehören auch Bücher und Bibliotheken zur Beutekunst.- In: Frankfurter Rundschau (30.12.2003). Dichter sein heißt Dienstleister sein. Er schuf eine einzigartige Verbindung von Text und Musik: Simon Dachs Mission im barocken Königsberg.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.07.2005), Nr. 173. Das komprimierteste Walter-Benjamin-Lesebuch. Die Bibliothek des deutschjüdischen Gelehrten, rekonstruiert von einem Antiquar: Über den aktuellen Katalog von Herbert Blank.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.10.2006), Nr. 245. Bücher als Beute wirken nicht.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (25.03. 2009), Nr. 71. Lobrede auf die Barock-Editionen.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.04. 2010), Nr. 92. Vorschlag zur Lösung des Bibliothekskonflikts.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.12.2010), Nr. 298. Zerschlagene Sammlungen. Eine Erinnerung zum 100. Deutschen Bibliothekartag.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (08.06.2011), Nr. 132. Die bürgerliche Gesellschaft begann in kleinen Gruppen. Humanisten und Sozietäten, die sich der Pflege nationalsprachlicher Dichtung widmeten, später auch die Rosenkreuzer, bildeten die Avantgarden der Frühen Neuzeit.- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.01.2012), Nr. 9.
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Sammelbände und herausgegebene Werke
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Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Band III–XXX.- Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2002–2012. Frühe Neuzeit und Moderne. Jutta Held zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- Münster: agenda 2004 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 4). Osnabrücker Rückblick auf ein Jahrhundert-Konzil. Friedhelm Jürgensmeier und Friedhelm Krüger zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.Münster: agenda 2004 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 5). Gedächtnis der Menschheit. Ein Prachtexemplar der Diderotschen Encyclopédie im Osnabrücker Frühneuzeit-Institut. Hrsg. von Klaus Garber und Felicitas Hundhausen unter Mitw. von Beate Mrohs.- Münster: agenda 2004 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 6). Literatur und Gesellschaft. Vom vorrevolutionären Sturm und Drang zum Realen Sozialismus. Heinrich Mohr zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- Münster: agenda 2005 (= Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; 8).
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Bibliographie der Schriften
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Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.- München: Fink 2005. Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sabine Beckmann und Klaus Garber.- Tübingen: Niemeyer 2005 (= Frühe Neuzeit; 103). Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Redaktion: Stefan Anders, Holger Luck und Winfried Siebers.- Tübingen: Niemeyer 2005 (= Frühe Neuzeit; 111). Sigmund von Birken: Gesammelte Werke. Band I: Floridans Amaranten-Garte. Teil 1: Texte. Teil 2: Apparate und Kommentare. Hrsg. von Klaus Garber und Hartmut Laufhütte unter Mitw. von Ralf Schuster.- Tübingen: Niemeyer 2009 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke; N.F. 55–56).
Personenregister Abendroth, Wolfgang 359, 526 Adam, Antoine 209 Adam, Johannes 122 Adam, Thomas Ludolf 122 Adorno, Theodor W. 349, 359 Airauld, Pierre 208 Alba, Herzog von siehe: Fernando Álvarez de Toledo y Pimantel Albertini, Rudolf von 191 Albrecht II., Markgraf von BrandenburgAnsbach 322 Albrecht II. Alcibiades, Markgraf von Brandenburg-Kulmbach 244–245 Alewyn, Richard 353, 359 Aligre, Etienne d’ 220 Amat, Roman d’ 208 Andreae, Valentin 76 Anhalt-Bernburg, Christian I. von siehe: Christian I., Fürst von Anhalt-Bernburg Anton Ulrich, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 163, 271, 280–284, 292, 353 Aristippos von Kyrene 104 Arminius, Jacobus 115 Arnauld, Antoine 120–121 Arnold, Christoph 269 Arnold, Gottfried 75 Assig, Hans von 153 Assmann, Hans, Freiherr von Abschatz 153 August II., Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 279–281, 283, 286 Augustus, röm. Kaiser 160–161, 304 Baïf, Jean Antoine de 199 Balde, Jacob 277, 294 Balzac, Jean-Louis Guez de 219–220 Bärholtz, Daniel 271 Barner, Wilfried 163 Bassus, Aufidius 161 Baudelaire, Charles 514 Beccanus, Martin 222 Bellarmin(o), Robert(o) 221 Belleau, Remy 199 Below, Georg von 24
Benjamin, Walter 73, 79, 349, 351, 359, 392, 514, 526, 528–529 Bentheim-Tecklenburg, Anna Gräfin von 110 Beolco (gen. Ruzzante), Angelo 348 Bergmann, Caspar 89 Bernegger, Matthias 112, 116, 144 Berns, Jörg Jochen 66 Bethlen, Gábor, Fürst von Siebenbürgen 101, 171–172, 176–177 Betulius, Christian 271 Betulius, Johann Salomon 271 Bèze [Beza], Theodore de 117–118 Bibran, Abraham von 102 Birken (geb. Bosch), Clara Catharina 270 Birken (geb. Göring, verw. Mülegk), Margaretha Magdalena 270 Birken, Sigmund von 163, 223–227, 234– 235, 238, 248, 268–272, 274, 277–324, 327–328, 353 Birtsch, Günter 26 Bismarck, Otto von 80, 135 Bloch, Ernst 359, 526–529 Bodin, Jean 31, 197 Bodmer, Johann Jakob 229, 273 Boecler, Johann Heinrich 220 Böhme, Jakob 75, 238 Bongars, Jacques 116–117 Bornmeister, Simon 270, 318 Bossuet, Jacques-Bénigne 220 Bouillaud, Ismaël 208 Bouterwek, Friedrich 231–232 Brehme, Christian 235 Breitinger, Johann Jakob 229, 273 Breuer, Dieter 68–70 Brunner, Heinrich 24 Brunner, Otto 24–29, 31–32, 34–35, 41, 45 Buchner, August 181 Bucholtz, Andreas Heinrich 353 Burger, Georg Arnold 270 Burmeister, Anton 269, 277–278, 285–286 Caesar, Gaius Julius 161 Calvin, Jean 117 Camerarius, Ludwig 110, 124, 134, 142–143
544 Campanella, Tommaso 220 Cardanus, Hieronymus 199 Carstens, Francis Ludwig 41–44 Cart, Jean-Jacques 420 Casaubon, Isaac 214–215, 220 Cato d.Ä., Marcus Porcius 397 Celtis, Conrad 76, 255 Chapelain, Jean 219 Charron, Pierre 220 Christian I., Fürst von Anhalt-Bernburg 109–112, 131, 134, 137 Christian I., Kurfürst von Sachsen 116, 132 Christian Ernst, Markgraf von BrandenburgBayreuth 306–309, 330 Cinq-Mars, Henri Coiffier Ruzé d’Effiat, Marquis de 220 Claudius, röm. Kaiser 162 Cober, Georg 90 Coler, Jeremias 95 Coler(us), Christoph 78, 105–106, 186–187, 195, 220–222 Colletet, Guillaume 219 Corvinus, Matthias 85 Creutz, Jacob 123 Cropschen, Barbara Helene 270 Cujas, Jacques 199, 213 Culmann, Ludwig 120 Cunrad, Caspar 89, 112–113 Cysarz, Herbert 238–240 Czepko, Daniel 75, 348 Denaisius, Petrus 117, 119–123, 141 Der Marner 156 Der Winsbecke 156 Dilherr, Johann Michael 270, 272 Diogenes von Sinope 104 Dobenecker, Catharina Margaretha 271, 312 Dobenecker, Johann Baptist 271 Dohna, Abraham Burggraf zu 91 Dohna, Karl Hannibal Burggraf von 93, 174–175, 180, 186–187, 222 Donatus, Christian 271 Donellus, Hugo [Hugues Doneau] 115 Dorat, Jean 213 Dorez, Léon 212 Dornau, Caspar 100–104, 113, 153 Dousa, Janus 115, 214 Droysen, Johann Gustav 11, 38 Du Bellay, Joachim 197 Du Bourg, Anne 197, 199 Du Chesne, André 220 Du Faur, Guy, Seigneur de Pibrac 197 Du Fresne, Charles, Sieur du Cange 220 Du Vair, Guillaume 220 Düntzer, Heinrich 196, 199
Personenregister Dupuy, Christophe 213, 215–216 Dupuy, Claude 199, 212–216 Dupuy, Clément 213 Dupuy, Jacques 194–196, 208–212, 215– 220 Dupuy, Pierre 194–196, 208–212, 215–220 Ehem, Christoph 108 Ehrhardt, Sigismund Justus 94 Eichendorff, Joseph Freiherr von 153 Einwag, Johann Conrad 270, 272 Elisabeth I., engl. Königin 76, 117 Endres, Rudolf 257 Endter, Wolfgang 269–270 Engels, Friedrich 513 Epikur 526 Erasmus (Desiderius) von Rotterdam 74 Erdmuthe Sophie von Sachsen, Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth 307–308 Eschmann, Ernst Wilhelm 213 Estienne, Charles 164 Evans, Robert, J.W. 76 Exner, Balthasar 96 Faber, Johann Ludwig 270, 310 Faber du Faur, Curt von 153 Fechner, Jörg-Ulrich 90, 96, 100, 102 Ferdinand I., dt. Kaiser 32, 85, 92, 206, 305 Ferdinand II., dt. Kaiser 141, 171, 204 Fernando Álvarez de Toledo y Pimantel, Herzog von Alba 173 Feuerbach, Ludwig 402, 507 Fichte, Johann Gottlieb 358, 426, 432–434, 442–446, 448, 463, 493, 496, 499 Filhol, René 196 Fischart, Johann 164, 166–171 Flemmer, Christian 271 Foix, Paul de 199 Forcadel, Étienne 197 Forster, Leonard 115 Fourier, Charles 527, 529 Franck, Sebastian 75 Franckenberg, Abraham von 75 Frank, Christoph 269 Franz I., franz. König 121, 212 Friedrich I., König in Preußen 14 Friedrich I. (Barbarossa), dt. Kaiser 157 Friedrich II., Herzog von Liegnitz und Brieg 91 Friedrich II., Kurfürst von der Pfalz 108 Friedrich III. (der Fromme), Kurfürst von der Pfalz 108, 111, 118, 130 Friedrich IV., Herzog von Liegnitz 88 Friedrich IV., Kurfürst von der Pfalz 109– 110, 116, 120, 130
Personenregister Friedrich V. (der ›Winterkönig‹), Kurfürst von der Pfalz, König von Böhmen 89, 93, 95, 101, 111–112, 127–128, 132, 134–139, 141–144, 248 Friesendorff, Johann Heinrich 298 Froben, Nikolaus 90 Fürer von Haimendorf, Christoph 270, 272, 317 Fürer von Haimendorf, Georg Sigismund 311–312 Gallus, Gaius Asinius 161 Gassend(i), Pierre 220 Gaston Jean Baptiste de France 185 Gebhard, Johann 307 Gebhardt, Janus [Johannes] 123 Geisler, Andreas 105 Geizkofler, Lucas 204 Geizkofler, Zacharias 202–207 Georg Rudolf, Herzog von Liegnitz 105, 174, 178 Gerhard, Dietrich 35–37, 40–41 Gersdorff, Wigand von 153 Gervinus, Georg Gottfried 64–66, 70, 80, 234–235, 237–238, 279 Gessner, Salomon 383–384, 395 Geuder, Johann 270 Gibbon, Edward 454 Gichtel, Johann Georg 238 Gläser, Enoch 235 Glich von Milziz, Johann 101 Gluck, Christoph Willibald 527 Godefroy, Théodore 216–217, 220 Goedeke, Karl Friedrich Ludwig 80 Goethe, Johann Wolfgang von 236, 348, 352, 355, 357, 395 Götz, Maria Magdalene 270 Goldast von Haiminsfeld, Melchior 116 Gottsched, Johann Christoph 65, 76, 78–79, 229 Goudimel, Claude 118 Gregor XIII., Papst 199 Greiffenberg (Adelsgeschlecht) 29 Greiffenberg, Catharina Regina von 272, 313 Grimm, Jacob 230 Grimm, Wilhelm 230 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 100 Gronovius, Johann Friedrich 220 Grotius, Hugo 116, 187, 214, 217, 220, 222 Grünrade, Otto von 109 Gruter (geb. Tishem), Catharina 115 Gruter, Janus 101, 114–116, 119, 123–124, 144, 220
545 Gruytere, Wouter de 115 Gryphius, Andreas 100 Guevara, Antonio de 348 Gustav II. Adolf, schwed. König 140, 144, 248 Guyet, François 220 Habermas, Jürgen 340, 488 Habrecht, Isaac 123, 126 Hagen, Joachim Heinrich 271 Hallé, Petrus 219 Halley, Antonius 219 Hamann, Johann Georg 351 Hamilton, Heinrich Albert 123 Hankamer, Paul 240 Hansemann, David 57 Harnisch, Hartmut 59 Harsdörffer, Carl Gottlieb 310–311 Harsdörffer, Georg Philipp 223–224, 226– 227, 230–231, 234, 236–237, 239, 269, 272–276, 279, 287, 291, 293–295, 299, 310–311, 313, 320–321, 327, 329 Hartung, Fritz 18, 38, 42 Haugwitz, August Adolph von 153 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 46–47, 345, 351–352, 357–358, 364, 367, 373, 378, 381, 383–507, 509–511, 517–521, 526, 529 Heine, Heinrich 358 Heinrich II., franz. König 121, 196, 199 Heinrich III., franz. König 196–197, 199– 200 Heinrich IV., dt. Kaiser 244 Heinrich IV., franz. König 110–111, 121, 132, 143, 184, 194–195, 198, 200–201, 203–208, 212, 214, 221–222, 248, 330 Heinrich Julius, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 163 Heinrich von Navarra siehe: Heinrich IV., franz. König Heinsius, Daniel 112, 214, 217, 220 Heinsius, Nicolas 219–220 Heinze, Karl 48–50 Heitz, Gerhard 57–58 Heller, Hermann 24 Helwig, Johann 269, 320–327 Henel von Hennenfeld, Nikolaus 89, 105, 112 Herdegen, Johann 268, 280 Herder, Johann Gottfried von 79, 230, 351, 520 Hering, Daniel Heinrich 94, 96, 98, 101 Hettner, Hermann 233 Heuchelin, Christian 271 Hinrichs, Ernst 205
546 Hintze, Otto 9–14, 16–25, 27, 38 Hirsch, Arnold 328, 339–340 Hobbes, Thomas 485 Hock, Theobald 352 Hoeckelshoven, Johannes von 89 Hölderlin, Friedrich 357, 398, 455 Hoffmann, Friedrich 271 Hofmann, Hanns Hubert 257 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian 153 Hohberg, Wolf Helmhard von 29–30, 32–33 Holstenius, Lucas 220 Homer 162, 520 Horaz 161, 164–166, 169, 346 Horkheimer, Max 359 Horn, Franz 231 Hotman, François 221 Hotman, Jean de Villiers 203, 220–221 Hübner, Tobias 159 Hund, Samuel 269 Hunold, Christian Friedrich 228 Hutten, Georg Ludwig von 109–110 Ingolstädter, Andreas 270, 272, 300, 316 Ingolstädter, Helena 270 Jacobi, Friedrich Heinrich 432–434 Jakob I., engl. König 76, 120, 132, 143 Jellinek, Georg 24 Jesus 358, 402–407, 409–414, 417, 432 Joachim Ernst, Fürst von Anhalt 110 Johann Casimir, Pfalzgraf von PfalzSimmern 109, 130 Johann Christian, Herzog von Brieg 101, 171 Johann Friedrich I., Herzog von Sachsen 247 Johann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg 16 Jordanus, Gregorius 101 Joseph II., dt. Kaiser 34 Joyeuse, François de 215 Julian, röm. Kaiser 161 Julius Ernst, Herzog von BraunschweigDannenberg 281 Kafka, Franz 514 Kant, Immanuel 41, 53, 345, 351–352, 358, 361–381, 395, 399, 410, 426, 432–446, 448, 458, 463, 475–476, 481, 483, 485– 486, 489–490, 493, 496, 499, 501, 506– 507, 510–511 Karl (der Große), dt. Kaiser 162 Karl I. Ludwig, Pfalzgraf bei Rhein, Kurfürst von der Pfalz 135 Karl IV., dt. Kaiser 265 Karl V., dt. Kaiser 91–92, 305
Personenregister Karl IX., franz. König 196–197, 199 Karl X. Gustav, schwed. König, Pfalzgraf von Zweibrücken 248, 287 Karl von Habsburg, Erzherzog von Innerösterreich 174 Katharina von Medici siehe: Medici, Caterina de’ Kaulbach, Friedrich 362 Kelsen, Hans 24 Kempe, Martin 235, 271 Kepler, Johannes 75 Kimmerle, Heinz 424 Kirchner, Caspar 112, 124 Klaj, Johann 223–224, 226, 231, 235–236, 240, 248, 269, 274–278, 287, 293, 318, 320–321, 327 Klopsch, Christian David 91–94, 96 Klopstock, Friedrich Gottlieb 355, 357, 527 Knorr von Rosenroth, Christian 75, 227 Koberstein, August 232 Köler, Caspar 270 Kongehl, Michael 271 Koselleck, Reinhart 340 Koser, Reinhold 38 Kreckwitz und Austen, Friedrich von 153 Kröll, Joachim 306–307 Krolow, Heinrich 302 Kühlmann, Wilhelm 72 Kuffstein, Hans Ludwig Freiherr von 275 Kurz, Heinrich 65, 233 La Mothe le Vayer, François de 220 Lambeck, Peter 220, 309 Lambin, Denis 213 Lassalle, Ferdinand 513 Le Clerc du Tremblay de Maffliers, François-Joseph siehe: Pater Joseph Lebermann, Hermann 271 Leibniz, Gottfried Wilhelm 65, 75, 238 Lemberg, Paul 91 Lemcke, Carl 236 Lenin [Wladimir Iljitsch Uljanow] 513 Lepenies, Wolf 361–362 Lessing, Gotthold Ephraim 79, 357 L’Hospital [L’Hôpital], Michel de 192, 197, 214 Liebig, Adam 95–96 Lilien, Caspar von 307, 309 Limburger, Martin 226, 270, 280, 310, 316– 320 Limburger, Regina Magdalena 270 Lingelsheim, Friedrich 117, 122–123 Lingelsheim, Georg Michael 110, 114–116, 120, 122–124, 144–145 Lingelsheim, Salome 122
Personenregister Lipsius, Justus 115, 120, 213 Lisabon, Heinrich 172–173 Lobwasser, Ambrosius 119 Lochner, Carl Friedrich 270 Lochner, Friedrich 269, 321, 324 Lochner, Jakob Hieronymus 271 Loefen(ius), Michael 110, 122 Löffelholz, Burkhardt 311 Lösch, Johannes Achatius 271 Lohenstein, Daniel Casper von 153, 353– 354 Loisel, Antoine 199, 214 Loménie, Henri-Auguste de 220 Lucanus, Marcus Annaeus 162 Lucas Nonius Asprenas siehe: Nonnius Ludwig I., Fürst von Anhalt-Köthen 159, 162–163 Ludwig V., Kurfürst von der Pfalz 107 Ludwig VI., Kurfürst von der Pfalz 109 Ludwig XI., franz. König 221 Ludwig XIII. (der Gerechte), franz. König 185, 221 Ludwig XIV., franz. König 184 Luillier, François 220 Lukács, Georg 359, 400, 415, 498 Luther, Martin 75, 92, 129, 228, 339, 368 Lypp, Bernhard 448, 450 Maecenas, Gaius Cilnius 161 Maier, Johann Gabriel 270 Malzahn, Joachim von 91 Manutius d.J., Aldus 199, 213 Marcuse, Herbert 359, 367 Margarethe von Parma 115 Maria Stuart, schott. Königin 132 Maria Theresia, dt. Kaiserin 34 Marino, Giambattista 78 Marner, der siehe: Der Marner Marnix, Filips van, heer van Sint-Aldegonde 115 Marot, Clément 118 Marsile, Théodore 215 Martial(is), Marcus Valerius 155 Marx, Karl 46–55, 345, 351–352, 358, 364, 374, 402, 417, 419–420, 422, 425, 468, 495, 498–530 Maximilian I, dt. Kaiser 32, 69, 305 Maximilian I, Herzog von Bayern 135, 248 Maximilian II., dt. Kaiser 74, 92 Mayer, Hans 230 Mazarin, Jules 185, 194, 219 Medici, Caterina de’, Regentin von Frankreich 197, 199 Medici, Maria de’, Regentin von Frankreich 185
547 Medonius, Bernardus 219 Meid, Volker 329, 338 Meister Sigeherr 156–157 Melanchthon, Philipp 95 Ménage, Gilles 208, 220 Menantes siehe: Hunold, Christian Friedrich Menzel, Wolfgang 235, 239 Mercier, Louis-Sébastien 527 Mertens, Dieter 114, 122, 124, 137 Metscher, Thomas W.H. 388, 394 Meyer, Heinrich 327–328 Mitteis, Heinrich 27 Möller, Gertrud 271 Möller, Peter 271 Montaigne, Michel Eyquem de 213, 220 Montemayor, Jorge de 230, 234 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, baron de la Brède et de 41, 373 Montgelas, Maximilian von 255 Montholon, Hierôme de 214 Montmorency, Henri de 185 Morel, Jean 197 Morhof, Daniel Georg 226–228 Moritz, Kurfürst von Sachsen 92 Morvillier, Jean de 197 Moscherosch, Quirin 271 Mozart, Wolfgang Amadeus 527 Muret, Marc Antoine 199, 213 Muscaglia, Hektor 101 Nadler, Josef 68, 70, 86, 237–239 Namsler, Elias 89 Napoleon I. (Bonaparte), franz. Kaiser 251, 422 Napoleon III. (Bonaparte), franz. Kaiser 51– 52 Natzius, Ephraim 271 Naudé, Gabriel 219–220 Negelein, Christoph Adam 270, 272, 318 Nero, römischer Kaiser 162 Nerreter, David 271 Neumark, Georg 271 Neumeister, Erdmann 227–229 Newald, Richard 240 Newton, Isaac 75 Nicaise, Claude 208 Nicolai, Sophia 269 Nieblich, Caspar 271 Nietzsche, Friedrich 384, 499 Nolhac, Pierre de 117 Nonnius 162 Nüßler, Bernhard Wilhelm 105–106, 181 Nüßler, Martin 89 Nützel (geb. Paumgärtner), Anna Maria 270 Nützel, Carl Benedict 270
548 Ochsenstein, Philipp Jacob Oswald Freiherr von 271 Octavian siehe: Augustus Oesterley, Hermann 186 Oestreich, Gerhard 42 Olevian, Caspar 108, 111 Olivier, Gaston 197 Omeis, Magnus Daniel 226–228, 270, 320 Omeis, Maria Dorothea 270, 320 Opitz, Christoph 88 Opitz (geb. Rothmann), Martha 88 Opitz (von Boberfeld), Martin 64–65, 69, 77–183, 186–187, 194–195, 210, 219– 222, 229–230, 232–236, 274, 279, 281, 310, 320, 329, 348, 352, 354 Opitz, Sebastian 87–88 Orléans, Gaston d’ siehe: Gaston Jean Baptiste de France Orsini, Fulvio 199, 213 Osthof, Georg Conrad 269 Ottheinrich, Kurfürst von der Pfalz 108 Ovid 161 Palm, Hermann 186 Panofsky, Erwin 527 Pasquier, Étienne 214 Pater Joseph [Père Joseph] 185 Patin, Guy 220 Paul [Pawel], Karl 124 Paullini, Christian Franciscus 271 Paumgärtner [Baumgartner], Georg Gabriel 311 Paumgärtner [Baumgartner], Hieronymus 311 Peiresc, Nicolas Claude Fabri de 220 Pellicer, Johann Georg 271 Pellicer, Matthias 271 Penzel, Barbara Juliana 271 Penzel, Conrad 271 Pernauer von Perney, Ferdinand Adam Freiherr 271 Perrot, Jacques-Auguste 219 Petau, Denis 220 Peter I. (der Große), russ. Zar 39 Petrarca, Francesco 348 Peuckert, Will-Erich 75 Philipp, Kurfürst von der Pfalz 107 Philipp von Schwaben, dt. König 157 Piccolomini, Ottavio 248, 287–289 Pintard, René 209 Pirckheimer, Willibald 247, 261, 305 Piscator, Johann 95 Pithou, François 195, 199, 213– 214, 217 Pitiscus, Bartholomäus 112 Platon 103, 158, 305, 397
Personenregister Plessen, Volrad von 110, 124 Plutarch 309 Pöpler, Melchior 89 Popper, Karl 494 Poršnev, Boris Fedoroviþ 57 Portner, Johann Albrecht 220 Preibisch, David 89 Press, Volker 114 Promnitz, Abraham von 91 Promnitz, Seifried von 92 Promnitz, Weighard von 91 Properz 161 Puschmann, Adam 83 Puteanus, Iacobus siehe: Dupuy, Jacques Puteanus, Petrus siehe: Dupuy, Pierre Ranke, Leopold von 11 Rapin, Nicolas 214 Rappoltstein, Eberhard von 125 Raspe, Heinrich 245 Rauck, Melchior 271 Raumer, Kurt von 36, 38–41 Rechlingen, Markus von 125 Reifferscheid, Alexander 101, 116 Reinmar von Zweter 156–157 Reuter, Christian 153 Rhediger, Thomas 83 Ricardo, David 523–524 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, cardinalduc de 183–186, 194, 217–222, 421 Rigault, Nicolas 195, 214, 216, 218–220 Rindfleisch, Daniel 89, 112 Rist, Johann 78, 224, 269, 273, 348 Ritter, Gerhard 39 Roberts, Richard 518 Rohan, Henri de 184 Ronsard, Pierre de 197, 199 Roth, Paul von 24 Rothmann, Martin 88 Rousseau, Jean-Jacques 351, 373, 493, 496, 523 Rudolf I., dt. Kaiser 304 Rudolf II., dt. Kaiser 74, 76, 204, 248 Rusdorf, Johann Joachim von 124 Saint-André, Jacques d’Albon de 197 Sandrart, Joachim von 287 Sannazaro, Jacopo 234 Sanquin, Claude de 214 Sarravius, Isaac 219 Sauer, Georg 90 Sauermann, Georg 82 Saumaise, Claude 208, 220 Scaliger, Joseph Justus 199, 213–214, 220 Scaliger, Julius Caesar 300
Personenregister Schaffgotsch, Hans Ulrich von 178, 180, 182 Schallenberg, Christoph von 123 Schede Melissus, Paul(us) 112–113, 117– 119, 123, 126 Schelling, Friedrich Wilhelm 358, 423, 426– 427, 431, 445, 448, 460 Scherer, Wilhelm 236 Scheurl, Christoph 261, 263 Schiller, Friedrich 351, 357, 521 Schlegel, August Wilhelm 230–231 Schlegel, Friedrich 230 Schmoller, Gustav von 9, 11, 19, 38 Schneider, Ferdinand Josef 294 Schnorr von Carolsfeld, Franz 124, 137 Schnur, Roman 210, 214 Schoenaich, Fabian von 90–92 Schoenaich, Georg, Freiherr von 90–100, 103–104 Schoenaich, Johannes von 93, 96 Schoenaich, Sebastian von 93 Schoenlank, Bruno 260 Schöffler, Herbert 70, 86 Schönberg, Kaspar von siehe: Schomberg, Gaspard de Schomberg, Gaspard de 200 Schottelius, Justus Georg 269, 279 Schröder, Johann 281 Schubert, Zacharias 89 Schulz-Behrend, George 124, 136, 176–177 Schwabe von der Heyde, Ernst 105, 152 Schwanensee und Bregoschütz (gen. Scultetus), Tobias von 102, 113, 115 Schwenckfeld, Kaspar 75 Scultetus, Abraham 95, 112 Sebisch, Melchior 164 Sechst, Johann 269, 310 Seelmann, Sebastian 271 Séguier, Antoine 214 Séguier, Jean 214 Séguier, Pierre II. 214 Seiler, Johann 89 Seneca 162, 176 Senftleben, Valentin 88–89, 153 Senitz, Elisabeth von 271 Senitz, Melchior von 102 Shakespeare, William 156 Sibylle von Lüneburg-Celle, Herzogin von Braunschweig-Dannenberg 281 Sidney, Philip 234 Sigismund von Luxemburg, dt. Kaiser 309 Silhon, Jean de 220 Smend, Oswald 144 SmiĜický von SmiĜice, Jaroslav 101
549 SmiĜický von SmiĜice, Zikmund 101 Smirziz siehe: SmiĜický von SmiĜice Smith, Adam 467, 469, 523 Snell, Bruno 527 Sohm, Rudolph 24 Sokrates 405, 457 Solente, Suzanne 212 Sophie Louise von Württemberg, Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth 330 Spahr, Blake Lee 284 Spener, Philipp Jacob 238 Spengler, Johann Friedrich 271 Spengler, Lazarus 247 Spina d.J., Petrus de 122, 124 Spinola, Ambrosio 145 Stange und Stonsdorf, Heinrich von 172, 174 Stockfleth (geb. Frisch, verw. Hedenus), Maria Catharina 271, 312–316, 328–339 Stockfleth, Heinrich Arnold 271, 313, 315– 316, 328–332, 338–339 Stöberkeil, Christoph 89 Stöberlein, Dorothea Ursula 270 Stöberlein, Johann Leonhard 270 Stubenberg (Adelsgeschlecht) 29 Sybel, Heinrich von 11 Szyrocki, Marian 177, 186 Tacitus 150–151, 156 Tanquerel, Jean 197 Tepelius, Johann 271 Theokrit 348, 350, 383 Thomasius, Christian 154, 273 Thou, Christofle de 196–197, 213–216 Thou, François-Auguste de 220 Thou d.Ä. [Thuanus], Jacques-Auguste de 195–196, 198–208, 212–216, 220 Thou d.J., Jacques-Auguste de 211 Thou, Nicolas de 199 Thumery, Jean de, sieur de Boissise 217 Tiberius, röm. Kaiser 161 Tibull 161 Tieffenbach, Georg 89 Tietz, Peter 92–93, 95 Tilenus, Daniel 221 Tilly, Johann t’Serclaes Graf von 126 Tocqueville, Alexis de 38, 41 Topitsch, Ernst 494 Treitschke, Heinrich von 11 Trunz, Erich 211, 355 Tschernembl, Erasmus von 111 Tschernembl, Georg Erasmus von 117, 134– 135 Tschernembl, Hans von 117 Tschernembl, Hans Christoph von 117
550 Tscherning, Martin 89 Turnèbe, Adrien 197, 213 Tyrtaios 126 Urban VIII., Papst 215 Urfé, Honoré d’ 330, 333 Ursinus, Zacharias 108, 111 Ursinus Velius, Caspar 82 Utenhove, Charles 117 Valesius, Henricus 219 Varro, Marcus Terentius 220 Venator, Balthasar 116, 123–125, 181 Vergil 155, 161, 164, 225, 234, 286, 292, 304, 325, 346, 348, 350, 383, 527 Verweyen, Theodor 114, 124, 137 Vierhaus, Rudolf 44–46, 50 Vilmar, August Friedrich Christian 233 Virot, Claudina 122 Volkamer, Johann Georg 269, 324–327 Volkmann, Erich 125 Voß, Johann Heinrich 348, 352 Vossius, Gerardus Johannes 220 Wagenseil, Johann Christoph 83 Walther von der Vogelweide 156–157 Wartenberg, Franz Wilhelm Reichsgraf von 321 Weber, Max 13, 20 Weckherlin, Georg Rudolf 123–124, 352 Wegleiter, Christoph 270
Personenregister Weidner, Johann Leonhard 123 Weigel, Valentin 75 Weise, Christian 103, 154, 227–228 Weller, Emil 137 Wels, Kurt Heinrich 142 Wengen, [Burchard] Freiherr von 156 Wernicke, Christian 229 Wernicke, Ewald 87 Wesselius, Balthasar 123 Wicquefort, Abraham de 220 Wieland, Christoph Martin 357 Wieland, Matthäus 89 Windischgraetz, Gottlieb Amadeus Reichsgraf von 272, 303 Winkler, Paul 153 Winsbecke, der siehe: Der Winsbecke Witkowski, Georg 151 Wittgenstein, Ludwig von 109–110, 116 Yates, Frances A. 76 Zamehl, Gottfried 271 Zedlitz, Georg Rudolf von 103 Zesen, Philipp von 239, 353 Ziegler und Kliphausen, Heinrich Anselm von 153 Zincgref, Julius Wilhelm 112, 114, 116, 120, 122–127, 136–139, 141–142, 145, 159, 352 Zincgref, Laurentius 120