Dialoge mit dem Altertum: Sinnstiftungen aus der Vergangenheit in Antike, Früher Neuzeit und Moderne 9783825369286, 3825369285

Die produktive Auseinandersetzung mit dem Altertum gehört zu den Konstanten der europäischen Kulturgeschichte, und dies

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German Pages 367 [369] Year 2019

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Umschlag
Titel
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I Antike und Spätantike
Ralf Krumeich: Ein Zentrum des „wahren und unverfälschten Griechenland“. Zur Aktualisierung vergangener Größe in Athen von den Perserkriegen bis zur römischen Kaiserzeit
Andreas Hillert: Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln? Kaiserzeitliches Kunsthandwerk zwischen Virtuosität, Eklektizismus, Dekadenz und Frömmigkeit
Thomas Schirren: Zukunft ist Herkunft. Ein Grieche forscht nach den dunklen Ursprüngen einer glänzenden Gegenwart im augusteischen Rom
Bardo Maria Gauly: Ausonius’ „Cupido cruciatus“ und die Liebe zum Mythos
Henriette Harich-Schwarzbauer: Pallas Athena im gallo-römischen Narbonne: Der ,Tempel‘ der Philosophie und der ‚Tempel‘ der Webkunst bei Sidonius Apollinaris, „carm“. 15
II Frühe Neuzeit und Moderne
Barbara Kuhn: „nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ („Geta e Birria“) – Subtraktion durch Verdoppelung oder: Amphitryons Wandlungen in der Frühen Neuzeit
Gernot Michael Müller: Variationen der Liebe und des Lebens. Über die unterschiedlichen Konzepte der Liebesdichtungen Cristoforo Landinos
Alfred Stückelberger: Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition
Brigitte Sölch: Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee – mit einem Ausblick auf das ‚Humboldt-Forum‘ in Berlin
Ernst Baltrusch: Thukydides und die moderne Politik
Anhang
Orts- und Namenregister
Index locorum
Bildnachweis
Rückumschlag
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Dialoge mit dem Altertum: Sinnstiftungen aus der Vergangenheit in Antike, Früher Neuzeit und Moderne
 9783825369286, 3825369285

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gauly müller rathmann

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(Hg. )

Dialoge mit dem Altertum Sinnstiftungen aus der Vergangenheit in Antike, Früher Neuzeit und Moderne

Dialoge mit dem Altertum

ie produktive Auseinandersetzung mit dem Altertum gehört zu den Konstanten der europäischen Kulturgeschichte, und dies nicht nur in jenen Epochen, in denen diese eine explizite Programmatik begründet hat wie in Renaissance oder Klassizismus. Allerdings lassen sich bereits in der Antike vielfältige Strategien der Sinnstiftung aus der Vergangenheit greifen, in denen ihre modellbildende Rolle für die nachantiken Epochen vorgeprägt ist. Dabei begegnen sich antike und nachantike Fälle darin, dass sie den Blick zurück als einen Prozess kreativer Aneignung begreifen, der Züge eines epochenübergreifenden Dialogs trägt. Die zehn Beiträge des Sammelbands, die aus einer Vortragsreihe an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt hervorgegangen sind, deuten in exemplarischen Studien aus Antike, Spätantike, Früher Neuzeit und Moderne das gestalterische Potenzial an, das dem Rückgriff auf die Vergangenheit zu eigen ist, und weisen in ihrer Gesamtschau auf die transhistorische Dimension des Phänomens hin.

(Hg.)

gauly . müller . rathmann Dialoge mit dem Altertum

bardo maria gauly gernot michael müller michael rathmann ( Hg.)

Universitätsverlag

isbn 978-3-8253-6928-6

win t e r

Heidelberg

b i b li oth ek d e r klassisch en a lt e rtu m swissen sch aften Herausgegeben von

jürgen paul schwindt Neue Folge · 2. Reihe · Band 159

Dialoge mit dem Altertum Sinnstiftungen aus der Vergangenheit in Antike, Früher Neuzeit und Moderne

Herausgegeben von

bardo maria gauly gernot michael müller michael rathmann

Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

umschlagbild Jakob Philipp Hackert: Das Herkulaner Tor in Pompeji,1794 (heute: Museum der bildenden Künste, Leipzig)

isbn 978-3-8253-6928-6 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2019 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

Für Gerhard Zimmer

Vorwort Mit Ablauf des akademischen Jahres 2013/14 beendete Gerhard Zimmer seinen aktiven Dienst als Professor für Klassische Archäologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, den er im Jahr 1999 begonnen hatte. Dies nahmen die Vertreter der anderen altertumswissenschaftlichen Fächer an dieser Universität zum Anlass, das semesterweise regelmäßig stattfindende Altertumswissenschaftliche Kolloquium in diesem Studienjahr ihm zu widmen. Das für die Vortragsreihe gewählte Thema „Dialoge mit dem Altertum“ schien dabei nicht nur einem Wissenschaftler angemessen zu sein, der sich mit der Erforschung des materiellen Erbes der Antike beschäftigt und mit der Klassischen Archäologie ein Fach vertritt, das von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne zu den Leitdisziplinen für die verbreitete kulturelle Orientierung am griechisch-römischen Altertum in dieser Zeitspanne gehörte. Darüber hinaus war es als Hommage an den langjährigen Mitarbeiter, Kustos und zuletzt stellvertretenden Direktor der (West-)Berliner Antikensammlungen (1984–1999) zu verstehen, mithin also an einen Spezialisten musealer Aufbereitung und Erschließung der Antike, welche für deren breite Vermittlung und produktive Aneignung bis heute entscheidende Grundlagen bilden. Der Gegenstand der Vortragsreihe wurde von den Organisatoren dabei so konzipiert, dass die Beiträge des Wintersemesters 2013/14 antiken Beispielen sinnstiftender Bezugnahmen auf die Vergangenheit gewidmet waren, während die Vorträge des Sommersemesters 2014 Formen produktiver Auseinandersetzung mit der Antike in Früher Neuzeit und Moderne behandelten. Der vorliegende Sammelband, der wie die Vortragsreihe ebenfalls Gerhard Zimmer gewidmet sein soll, versammelt zehn Aufsätze, die aus jener hervorgegangen sind. Verfasst sind sie von Kolleginnen und Kollegen an der KU EichstättIngolstadt sowie von thematisch einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem deutschen Sprachraum. Der vorliegende Sammelband hätte ohne die Hilfe vieler nicht realisiert werden können. Für Lektorat und Redaktion der Beiträge haben die Herausgeber daher den Hilfskräften Philipp Köhner, Sophie Marie Braun, Julia Müller, Markus Schinkel, Bastian Wagner und Johannes Wilhelm herzlich zu danken. Für die Gewährung großzügiger Druckkostenzuschüsse zur Veröffentlichung des Sammelbandes sei der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der KU, der MaximilianBickhoff-Universitätsstiftung sowie der Pädagogischen Stiftung Cassianeum gedankt. Herzlicher Dank gilt schließlich Herrn Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt für die Aufnahme des Bandes in die Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaften sowie dem Universitätsverlag Winter in Heidelberg, namentlich

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Vorwort

Herrn Dr. Andreas Barth, Frau Dr. Christina Hünsche und Herrn Gisbert Pisch, für die hervorragende und professionelle Betreuung bei der Herstellung des Bandes. Eichstätt, im September 2018 Bardo Maria Gauly Gernot Michael Müller Michael Rathmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung.............................................................................................................11

I

Antike und Spätantike

Ralf Krumeich: Ein Zentrum des „wahren und unverfälschten Griechenland“. Zur Aktualisierung vergangener Größe in Athen von den Perserkriegen bis zur römischen Kaiserzeit...........................................29 Andreas Hillert: Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln? Kaiserzeitliches Kunsthandwerk zwischen Virtuosität, Eklektizismus, Dekadenz und Frömmigkeit.................................................................................67 Thomas Schirren: Zukunft ist Herkunft. Ein Grieche forscht nach den dunklen Ursprüngen einer glänzenden Gegenwart im augusteischen Rom.........................................109 Bardo Maria Gauly: Ausonius’ Cupido cruciatus und die Liebe zum Mythos...................................143 Henriette Harich-Schwarzbauer: Pallas Athena im gallo-römischen Narbonne: Der ,Tempel‘ der Philosophie und der ‚Tempel‘ der Webkunst bei Sidonius Apollinaris, carm. 15.....................................................................161



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II

Inhaltsverzeichnis

Frühe Neuzeit und Moderne

Barbara Kuhn: „nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ (Geta e Birria) – Subtraktion durch Verdoppelung oder: Amphitryons Wandlungen in der Frühen Neuzeit.............................................179 Gernot Michael Müller: Variationen der Liebe und des Lebens. Über die unterschiedlichen Konzepte der Liebesdichtungen Cristoforo Landinos........................................................213 Alfred Stückelberger: Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition................................................249 Brigitte Sölch: Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee – mit einem Ausblick auf das ‚Humboldt-Forum‘ in Berlin.................................271 Ernst Baltrusch: Thukydides und die moderne Politik.................................................................319

Anhang Orts- und Namenregister....................................................................................345 Index locorum....................................................................................................353 Bildnachweis......................................................................................................363

Einleitung Die produktive Auseinandersetzung mit der Antike markiert zweifelsohne eine wesentliche Konstante europäischer Kultur.1 Denn sie lässt sich keinesfalls auf jene Epochen eingrenzen, die daraus eine explizite Programmatik entwickelt haben wie etwa Renaissance2 oder Klassizismus.3 So ist die Kultur- und Geistesgeschichte des Mittelalters nicht nur grundlegend vom Rückgriff auf die Antike geprägt, sondern diese weisen etwa mit dem Zeitalter der karolingischen Renovatio und der sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts ebenfalls Phasen auf, in denen diese Orientierung prägenden Charakter angenommen hat, wenngleich sich dieser impliziter zu erkennen geben mag als in den vorgenannten Epochen der Frühen Neuzeit.4 Doch auch in dieser selbst erweisen sich Rückgriff auf und Auseinandersetzung mit dem Altertum als über Renaissance und Klassizismus hinausgehendes Phänomen, das sich etwa ebenso in Manierismus5 und Barock6 auf vielfältige Weise beobachten lässt und daher als für die Frühe Neuzeit insgesamt prägend angesehen werden kann. Schließlich ist die Antike im 19. Jahrhundert und in der Moderne ihrer Orientierungsfunktion nicht verlustig gegangen, und diese dauert selbst bis in die Gegenwart fort.7 Freilich mehren sich in diesen Epochen auch Fälle, die der Antike jegliche Vorbildlichkeit absprechen

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Vgl. exemplarisch statt vieler mit Verweisen auf einschlägige ältere Literatur: Michael Silk, Ingo Gildenhard und Rosemary Barrow: The Classical Tradition. Art, Literature, Thought, Chichester 2014. Immer noch grundlegend: Peter Burke: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1996 sowie ders.: Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien, München 1998 (Europa bauen). S. einführend Andreas Beyer: Die Kunst des Klassizismus und der Romantik, München 2011 (Geschichte der Kunst 9) sowie umfassend die Artikel in: Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus, hg. von Joachim Jacob und Johannes Süßmann, Darmstadt 2018 (Der Neue Pauly / Supplemente 13). Vgl. die Beiträge in: Renaissances before the Renaissance. Cultural Revivals of Late Antiquity and the Middle Ages, hg. von Warren Treadgold, Stanford 1984. S. exemplarisch Daniel Arasse und Andreas Tönnesmann: Der europäische Manierismus. 1520–1610, München 1997 (Universum der Kunst 42). Vgl. die Beiträge in: Antikenrezeption im Hochbarock, hg. von Herbert Beck und Sabine Schulze, Berlin 1989. S. etwa mit Blick auf die Architektur die Beiträge in: Die Präsenz der Antike in der Architektur, hg. von Andreas Beyer, Berlin/Boston 2018 (Colloquium Rauricum 12).

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Einleitung

bzw. sich von ihr dezidiert abgrenzen.8 Letztlich bestätigen aber auch solche Negationen in gleichsam indirekter Weise die anhaltende Bedeutung der Antike als kultureller Referenzraum wie das moderne Phänomen antiklassizistischer Antikenrezeption, aus dem ersichtlich wird, dass der Rückgriff auf Kunst und Kultur Griechenlands und Roms nicht zwangsläufig in die Genese von Klassizismen münden muss.9 Indes ist die Antike nicht nur als umfassender Bezugsrahmen und Impulsgeber der auf sie folgenden europäischen Kulturgeschichte wirksam geworden. Die Möglichkeit, Sinnstiftungspotentiale aus der Vergangenheit abzuleiten, hat sie bereits selbst regelmäßig genutzt und damit ihre spätere Wirkungsgeschichte in gewisser Weise vorgeprägt.10 Zu erwähnen sind hier etwa das in Griechenland von Anfang an greifbare Interesse an den Ursprüngen von Städten und Gemeinwesen sowie an der aitiologischen Legitimation religiöser oder kultureller Praktiken,11 aus dem sich das später von den Römern aufgegriffene Paradigma des Antiquarianismus entwickelte.12 Die sogenannte augusteische Klassik basiert auf Rezeption und Weiterentwicklung hellenistischer Modelle,13 nachdem sich griechische Kunst und Literatur bereits ab der Wende vom 3. zum 2. Jh. v. Chr. zum entscheidenden Modellreservoir für die kulturelle Entwicklung Roms herausgebildet hatten.14 In der Kaiserzeit avancierte das augusteische Zeitalter sodann 8

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Zur Abkehr von einem normativen Verständnis von Antike zugunsten einer ausschließlichen Verwendung des Begriffs als Epochenbezeichnung vgl. etwa Tadeusz Zielinski: Die Antike und wir. Vorlesungen, Leipzig 1905 (21909). Vgl. exemplarisch die Beiträge in: „Mehr Dionysos als Apoll.“ Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, hg. von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof, Frankfurt a. M. 2002 (Das Abendland / Neue Folge 30). Vgl. Hierzu die jüngeren Sammelbände: L’antico degli antichi, hg. von Guglielmino Cajani und Diego Lanza, Palermo 2001 (Letteratura classica 23); Classical Pasts. The Classical Traditions of Greece and Rome, hg. von James I. Porter, Princeton 2006 und Valuing the Past in the Greco-Roman World. Proceedings from the Penn-Leiden Colloquia on Ancient Values VII, hg. von James Ker und Christoph Pieper, Leiden/Boston 2014 (Mnemosyne / Supplements 369). S. exemplarisch: Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche – Telling origins. On the lookout for aetiology, hg. von Christiane Reitz und Anke Wagner, Hildesheim/Zürich 2014 (Spudasmata 162), darin insbesondere die Einleitung, S. 17– 21. Immer noch einschlägig: Arnaldo Momigliano: Ancient History and the Antiquarian, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13 (1950), S. 285–315 sowie Inge Herklotz: Cassiano Dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jh.s, München 1999 (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana 28), S. 187–202. Vgl. statt vieler Richard Hunter: The Shadow of Callimachus. Studies in the Reception of Hellenistic Poetry at Rome, Cambridge 2006. Vgl. beispielsweise: Peter Scholz: Den Vätern folgen. Sozialisation und Erziehung der republikanischen Senatsaristokratie, Berlin 2011 (Studien zur Alten Geschichte 13) sowie mit freilich spezifischem Blick: Martin Jehne: Cato und die Bewahrung der

Einleitung

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selbst zur Referenzepoche,15 und dies nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Regierung des Augustus, neben dem sich in der Spätantike die Adoptivkaiser als vergleichbare Vorbilder etablieren konnten. Im griechischen Osten entstand mit der zweiten Sophistik an der Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. hingegen eine wirkungsmächtige Bildungsbewegung, die sich programmatisch als Wiederbelebung von Literatur und Gelehrsamkeit des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts verstand und damit nicht nur an der bis heute wirkmächtigen Kanonisierung dieser Epoche als unübertroffenem Gipfel antiker Bildung mitwirkte, sondern diese auch zum identitären Referenzpunkt für die griechischen Eliten in einem globalisierten römischen Reich modellierte.16 Der Spätantike wird in neueren Forschungsansätzen sodann ein Selbstverständnis zugesprochen, das sich wesentlich aus der programmatischen Betonung kultureller Kontinuität mit den ihr vorangehenden Jahrhunderten der sogenannten klassischen Antike speist. 17 Indem ihr dabei umfassende Vorbildlichkeit zuerkannt wird, kann die Spätantike als jene Epoche gelten, in der das Phänomen einer normativen Konzeption von Antike in Ansätzen erstmals greifbar wird.18 Doch belegt die Spätantike auf diese Weise nicht nur deren Entstehen schon in

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traditionellen res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v. Chr., in: Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, hg. von Gregor Vogt-Spira und Bettina Rommel, Stuttgart 1999, S. 115–134. Vgl. Antonie Wlosok: Die römische Klassik. Zur ‚Klassizität‘ der augusteischen Poesie, in: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990, hg. von Wilhelm Voßkamp, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 13), S. 331–347. Vgl. statt vieler: Thomas Schmitz: Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997 (Zetemata 97); Tim Whitmarsh: The second sophistic, Oxford 2005 (New surveys in the classics 35) sowie die Beiträge in: Sophisten in Hellenismus und Kaiserzeit. Orte, Methoden und Personen der Bildungsvermittlung, hg. von Beatrice Wyss, Rainer Hirsch-Luipold und Someng-Jonas Hirschi, Tübingen 2017 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 101). S. etwa die Beiträge in: Classics Renewed. Reception and Innovation in the Latin Poetry of Late Antiquity, hg. von Scott McGill und Joseph Puggi, Heidelberg 2016 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe, 152) sowie in: Décadence: „Decline and Fall“ or „Other Antiquity“?, hg. von Marco Formisano undTherese Fuhrer, Heidelberg 2014 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe, 140). S. hierzu exemplarisch: Ulrich Eigler: lectiones vetustatis. Römische Literatur und Geschichte in der lateinischen Literatur der Spätantike, München 2003 (Zetemata 115) sowie die wegweisende Epochenbestimmung der Spätantike von Reinhart Herzog: Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike, in: Restauration und Erneuerung. Die Lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. von dems., München 1989 (Handbuch der Lateinischen Literatur der Antike 5), S. 1–44.

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Einleitung

der Antike selbst. Indem sich jener Modellcharakter der Vergangenheit im Horizont des für sie charakteristischen radikalen Wandels der kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen, politischen und ethnischen Lebensbedingungen herausbildete, lässt sich an der spätantiken Antikenrezeption zudem bereits exemplarisch als wesentliches Motiv für diese ihr identitätsstiftendes Potential ablesen.19 Schließlich weist die Orientierung der karolingischen Erneuerung bei ihrem Rückbezug auf die Antike am spätantiken Zugriff auf dessen Kontinuität über die Epochengrenze zum Frühmittelalter trotz ihrer charakteristischen Brüche hinweg20 und belegt auf diese Weise eindrücklich, dass antike und nachantike Verfahren der Antikenrezeption in enger Beziehung zueinander stehen können.21 In diesem Sinne hat später die Renaissance den sie auszeichnenden transhistorischen Kulturtransfer aus der Antike mit jenem geographischen vom hellenistischen Griechenland ins antike Rom in Beziehung gesetzt22 und daraus einen sinnfälligen Dreischritt konstruiert, der in seiner Programmatik entsprechende Aussagen römischer Autoren über die Vorbildlichkeit griechischer Modelle für ihr Schaffen aufgreift und für die Bestimmung des eigenen Selbstverständnisses fortführt. Komplementär dazu rekurrierte der Antiquarianismus jener Epoche, dem es zunächst mehr darum ging, die materielle Überlieferung der Antike für eine künstlerische und architektonische Orientierung an dieser fruchtbar zu machen, denn um eine wissenschaftliche Erforschung des Altertums, wiederholt auf seine antiken Vorläufer und orientierte sich an deren Methoden und Zielsetzungen.23 Angesichts solcher hier beispielhaft aufgeführten Interdependenzen spricht vieles dafür, antike Formen der Sinnstiftung aus der Vergangenheit und die produktive Auseinandersetzung späterer Epochen mit der Antike als Etappen eines transepochal wirksamen und wiederholt aufeinander bezogenen Phänomens zu begreifen und in ihrer wissenschaftlichen Erforschung also gemeinsam in den

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Allgemein zur identitären Funktion eines Rückgriffs auf die Vergangenheit in der Antike s. die Beiträge in: Attitudes towards the Past in Antiquity – Creating Identities. Proceedings of an International Conference held at Stockholm University, 15–17 May 2009, hg. von Brita Alroth und Charlotte Scheffer, Stockholm 2014 (Stockholm Studies in Classical Archaeology 14). S. exemplarisch: Peter Godman: Poets and emperors. Frankish politics and Carolingian poetry, Oxford 1987. Vgl. die Beiträge in: Western Perspectives on the Mediterranean. Cultural Transfer in Late Antiquity and the Early Middle Ages, 400–800 AD, hg. von Andreas Fischer und Ian Wood, London u.a. 2014. S. grundsätzlich hierzu die Beiträge in: Vogt-Spira/Rommel (Hgg.): Rezeption und Identität (wie Anm. 14). Immer noch grundlegend zum Antiquarianismus der Renaissance ist: Roberto Weiss: The Renaissance discovery of classical antiquity, Oxford 1969.

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Blick zu nehmen.24 Diesen Ansatz verfolgen die zehn Beiträge dieses Sammelbandes.25 Sie geben einen kursorischen Überblick über unterschiedliche Fälle produktiver wie orientierungsgebender Aneignungen der Vergangenheit aus Antike, Spätantike, Früher Neuzeit und Moderne. Indem sie dabei die Bereiche Architektur, Kunst, Literatur, Politik und Sozialgeschichte tangieren, deuten sie neben der diachronen Konjunktur des Strategems auch dessen breite Wirksamkeit in allen Bereichen von Kultur und Gesellschaft an. Die erste Sektion des Bandes widmet sich mit fünf Beiträgen zunächst Beispielen aus Antike und Spätantike. Deren erster stammt aus der Feder von Ralf Krumeich und trägt den Titel „Ein Zentrum des ‚wahren und unverfälschten Griechenland‘“. Zur Aktualisierung vergangener Größe in Athen von den Perserkriegen bis zur römischen Kaiserzeit“ (S. 29–66). Ausgehend von dem Befund, dass Athen im 2. Jh. n. Chr. als höchst traditionsbewusste Stadt galt, die besonders stolz auf ihr Alter und ihre Leistungen in der Vergangenheit war, arbeitet Krumeich heraus, dass diese Hervorhebung der eigenen Bedeutung nicht etwa ausschließlich ein Phänomen der römischen Kaiserzeit war. Vielmehr markierte die Betonung vergangener Größe bereits seit den Perserkriegen eine charakteristische Facette athenischer Selbstdarstellung, die an zentralen Orten der Stadt und in unterschiedlichen Medien, unter anderem auch in Reden, vorgetragen wurde. Von daher wird erklärbar, dass Attalos II. von Pergamon später an entsprechende athenische ‚Taten‘ anknüpfen konnte, um sich selbst in die Tradition von Rettern der griechischen Zivilisation vor Barbaren der mythischen und historischen Zeit einzureihen. Als besonders bemerkenswert deutet Krumeich schließlich die Spielarten und zeitspezifischen Facetten athenischer Selbstdarstellung im späten Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit: Während die Athener Römer und andere auswärtige Honoranden bis zur iulisch-claudischen Zeit gelegentlich eng mit Protagonisten und Denkmälern der athenischen Vergangenheit verbanden, blieben solche retrospektiven Rückgriffe später allein der Repräsentation Athens selbst und athenischer Familien vorbehalten. Der zweite Beitrag der Sektion von Andreas Hillert („Frühklassischgriechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln? Kaiserzeitliches Kunsthandwerk zwischen Virtuosität, Eklektizismus, Dekadenz und Frömmigkeit“, S. 67–107) widmet sich sodann einem bestimmten Darstellungstypus von Sirenen, der sich seit frühklassischer Zeit häufig auf den Henkel-Attaschen zunächst von Hydrien und später von Kannen finden lässt. Im Mittelpunkt von Hillerts Aus24

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Vgl. zu diesem Konzept den sich im Hinblick auf die Rezeption der Antike freilich auf die italienische Frührenaissance beschränkenden Sammelband: Imagines Antiquitatis. Representations, Concepts, Receptions of the Past in Roman Antiquity and the Early Italian Renaissance, hg. von Stefano Rocchi und Cecilia Mussini, Berlin/Boston 2017 (Philologus / Supplemente 7). Zum Verständnis der Auseinandersetzung mit dem Altertum als Dialog vgl. auch die Beiträge in: Tradition classique: Dialogues avec l’antiquité, hg. von David Bouvier, Lausanne 2010 (Études de lettres 285).

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Einleitung

führungen steht eine stilistisch und ikonographisch homogene, teils ggf. aus derselben Werkstatt stammende Gruppe von Sirenen-Kannenhenkeln, die aufgrund ihrer an den strengen Stil gemahnenden Gestaltung vorzugsweise in ebendiese Zeit (um 460 v. Chr.) datiert wurden. Funktion (als Henkel der erst in römischer Zeit gebräuchlichen Kanne zur rituellen Handwaschung), technische Aspekte (teils mit Silber-Einlagen) und Fundkontext (soweit gesichert) sprechen hingegen eindeutig für die Entstehung in der römischen Kaiserzeit. Stil und kultische Bezüge lassen sich denn auch mit der programmatisch altehrwürdige Formen aufgreifenden Religionspolitik unter Augustus in Verbindung bringen. Exemplarisch verdeutlicht Hillert anhand der Sirenenhenkel-Gruppe somit, wie nahe retrospektive Schöpfungen römischer Zeit ihren seinerzeit bereits antiken griechischen Vorbildern kommen konnten. Dies gibt ihm abschließend Anlass dazu, die seit Winckelmann postulierte, quasi eigengesetzliche Entwicklung antiker Kunst zu diskutieren und die neuzeitliche Perspektiven spiegelnde Frage, inwieweit hochqualitatives „Kunsthandwerk“ – wie die Sirenen-Henkel – zwischen Dekoration und Frömmigkeit zu verorten ist, zu stellen. Der folgende Beitrag mit dem Titel „Zukunft ist Herkunft. Ein Grieche forscht nach den dunklen Ursprüngen einer glänzenden Gegenwart im augusteischen Rom“ (S. 109–141) stammt von Thomas Schirren und widmet sich dem im Rom wirkenden griechischen Antiquar Dionysios von Halikarnassos, der in seinem Werk Antiquitates Romanae den dunklen Ursprüngen einer glänzenden Gegenwart Roms nachgeht und auf diese Weise den römischen Antiquarianismus mitprägte. Dabei verbindet er, wie Schirren herausarbeitet, die Konstruktion einer römischen Identität mit der Vermittlung zwischen griechischen Ursprüngen und römischer Gegenwart. Sein Beispiel sind dabei die verschiedenen Versionen von der Gründung Roms durch den Heros Herakles, die Dionysios allesamt die von ihm gewünschte Aitiologie römischer Kulte als ursprünglich griechischen Ursprungs liefern. Dies hindert ihn freilich nicht daran, Herakles in rationalisierter Form auch für die römische Suprematie seiner Gegenwart zu vereinnahmen. Denn die verschiedenen Migrationsbewegungen der Griechen in den Westen lassen Rom in Dionysios’ Augen auch als siedlungsgeschichtliches Integrationswunder erscheinen, insofern die Einwanderungen zwar die Grundlage für eine römische Zukunft gelegt hätten, dies aber dezidiert unter griechischem Vorzeichen seinen Ausgang genommen hätte. Daneben blendet der Antiquar aber auch die schwere Hypothek des Brudermordes aus der Erfolgsgeschichte Roms nicht aus, sondern versucht, ihn als Folge göttlichen Eingriffs zu legitimieren. Schirrens exemplarische Analysen münden abschließend im Versuch, Dionysios’ antiquarisches Anliegen zu charakterisieren: Dieses liege weniger in der Ausformulierung verordneter Propaganda oder Ideologie, sondern ziele auf die Vermittlung von Deutungsangeboten, die bewusst in einer spezifischen Unbestimmtheit bleiben sollen. Die letzten beiden Aufsätze der Sektion widmen sich den Vergangenheitsbezügen zweier Autoren aus dem spätantiken Gallien. Bardo Maria Gauly behan-

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delt in deren erstem mit dem Titel „Ausonius’ Cupido cruciatus und die Liebe zum Mythos“ (S. 143–160) das dort genannte Werk, wobei er seine Ausführungen mit einem Blick auf dessen praefatio in Prosa beginnt. Diese führe, so Gaulys konzise und innovative Interpretation, nicht nur Ausonius’ Epyllion über Amors Bestrafung in der Unterwelt durch unglücklich verliebte Heroinen (carm. 19 Green) als Ekphrasis eines Trierer Gemäldes ein, sondern verhandle darüber hinaus auch die Liebe zum Mythos in nachmythischer Zeit. Die praefatio unterscheidet dabei die eigene Epoche von einer heroischen Zeit, in der Frauen ihre eigenen Verfehlungen Göttern anlasten konnten. Zwar sündige man auch in der Gegenwart weiter, doch fehle nun die Möglichkeit, die Schuld zu externalisieren. Praefatio und Gedicht verbänden zudem das Motiv der Selbstverliebtheit sowie das Thema Liebe und Dichtung: Wie die Frauen bewusst ihre erotischen Verfehlungen pflegen, so wird das Gedicht zum Zeugnis einer Selbstliebe des Dichters, der mythische Stoffe behandelt, die obsolet geworden sind. Dabei spielt der Rekurs auf ein zentrales Motiv der antiken Literaturkritik an Ovid eine wichtige Rolle, insofern dieser sein ingenium nicht hinreichend durch ars gebändigt und, wie er selbst einräumt, seine eigenen Schwächen geliebt habe (Sen. contr. 2,2,8– 12). Indem der Text dieses Motiv auf die Frage des Stoffes überträgt, dokumentiert er ebenso den Wunsch, den literarischen Raum des Mythos zu bewahren, wie ein Bewusstsein vom prekären Status einer fiktionalen Poesie, die nur noch eine geringe Referenz auf die außerliterarische Wirklichkeit hat. Henriette Harich-Schwarzbauer zeigt in ihrem mit „Pallas Athena im gallorömischen Narbonne: Der ‚Tempel‘ der Philosophie und der ‚Tempel‘ der Webkunst bei Sidonius Apollinaris, carm. 15“ überschriebenen Aufsatz (S. 161–176) sodann auf, wie Sidonius Apollinaris in seinem Epithalamium an Polemius und Araneola (carm. 15) und dessen beiden Paratexten die zeitliche und kulturelle Entfernung vom ‚Altertum‘ indiziert. Die Vergangenheit, die er evoziert, zeigt dabei eine auffällige Anbindung an das griechische Erbe. Diese Referenz erklärt sich vordergründig durch den Adressaten des Gedichts, Polemius, der sich als Teil eines platonischen Kreises rund um den Neuplatoniker Claudianus Mamertus versteht. Allerdings wird auch der Schauplatz des Epithalamiums nach Athen und damit nach Griechenland gelegt, wo sich das Brautpaar aufhalte, Polemius, um zu philosophieren, Araneola, um zu weben. Entgegen der älteren, archäologischen Forschung, die daraus Rückschlüsse auf das antike oder zeitgenössische Athen ziehen wollte, geht Harich-Schwarzbauer von der These aus, dass die symbolische Präsenz der griechischen Tradition vordringlich ist. Exemplifiziert wird dies neben den Inhalten, denen sich das Brautpaar hingibt, anhand der Ekphrasis der Athena, die mit 32 Versen das Proömium des nicht umfänglichen Gedichts prägt und daher immer wieder für erhebliche Irritation in der Forschung gesorgt hat. Die Göttin steht, so Harich-Schwarzbauers Argumentation, emblematisch für den Bezug zur griechischen Tradition. Indem die Ekphrasis die Athena Promachos evoziert, erscheint es selbst plausibel, dass der Dichter ihre Kolossalstatue in Konstantinopel gesehen hat. Indes ist für die hier vorgelegte

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Interpretation entscheidend, dass Athena, die für Weisheit und Handwerkskunst steht, ihr Wirken nunmehr in die spätantike Auvergne transferiert hat, welche auf diese Weise als Ort kenntlich werden soll, an dem das griechische Erbe in Sidonius’ Gegenwart weiterlebt. Die anschließende zweite Sektion des Bandes beinhaltet ebenfalls fünf Beiträge, die sich unterschiedlichen Fällen von Antikenrezeption in Früher Neuzeit und Moderne zuwenden. Der erste Beitrag von Barbara Kuhn mit dem Titel: „‚nulla son io; […] due siam fatti d’uno‘ (Geta e Birria) – Subtraktion durch Verdoppelung oder: Amphitryons Wandlungen in der Frühen Neuzeit“ (S. 179– 212), befasst sich mit der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen italienischen Verserzählung Geta e Birria, die heute übereinstimmend den beiden Autoren Ghigo Brunelleschi und Domenico da Prato zugeschrieben wird. Unter diesem Titel verbirgt sich eine frühneuzeitliche Version des AmphitryonMythos, die sich, wie Kuhn herausarbeitet, zwar auf die Autorität des Plautus als Quelle beruft, sich aber zugleich wesentlich auf die mittellateinische Version des Amphitryon-Stoffes stützt, wie sie der Geta des Vitalis von Blois überliefert, sodass der Dialog mit der Antike in diesem Fall buchstäblich über das Mittelalter vermittelt ist. Vor diesem Hintergrund geht die Autorin zum einen der Frage nach, wo sich der umstrittene Text, der zwischen unterschiedlichen Gattungen wie cantare, poemetto und novella in versi, zwischen Oralität und Literalität, zwischen tagesaktueller Satire und gelehrter Transformation des antiken Erbes changiert, gattungs- und geistesgeschichtlich in seiner Zeit verorten lässt. Zum anderen und vor allem macht die Autorin aber deutlich, in welcher Weise schon in diesem frühen Beispiel das Problem der – offenbar bereits im frühen 15. Jahrhundert fraglich gewordenen – Selbstdefinition des Menschen verhandelt wird. Signifikant hierfür ist insbesondere die spezifische Ausgestaltung des Doppelgängermotivs, auf dem schon der antike Mythos beruht: Die menschliche Seite wird gegenüber der göttlichen aufgewertet und zugleich der Dienerebene größeres Gewicht verliehen, als ihr bei Plautus und noch bei Vitalis zugekommen war. Durch diese Verschiebungen gerät die Metamorphose der Götter in Menschen, die ja den Amphitryon-Mythos als Verbindung von Himmel und Erde fundiert, in den Hintergrund zugunsten der Metamorphose von Menschen in Tiere, die in der Frühen Neuzeit häufig in Verbindung mit der Frage nach der Identität des Menschen als Möglichkeit gedacht und in literarischen Texten gestaltet wird. Erscheint die Metamorphose hier dem einen als erstrebenswertes Ziel, weil damit der Mühsal menschlichen Daseins entronnen werden kann, wird sie für den anderen geradezu zu einer Bedrohung der eigenen Existenz, so wie auch das Auftreten des vermeintlichen Doppelgängers, der die eigene Stelle einnimmt, den Verlust des eigenen Ich bewirkt, weil diesem nur mehr das Nichts zu bleiben scheint. In dem Maße, wie auf der Figurenebene – außer im Falle der in sich ruhenden Almena – jede Bestimmung einer eigenen Identität scheitert, deutet der Text auf die offene Frage nach dem Ort und dem Selbstverständnis des Menschen.

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Auch der zweite Beitrag der Sektion aus der Feder von Gernot Michael Müller ist der Literatur des italienischen Quattrocento gewidmet. Unter dem Titel „Variationen der Liebe und des Lebens. Über die unterschiedlichen Konzepte der Liebesdichtungen Cristoforo Landinos“ (S. 213–248) gelten seine Ausführungen den verschiedenen Fassungen der erotischen Poesie des im Aufsatztitel genannten florentinischen Autors und deren Unterschieden im Hinblick auf Adressatenkreis, Selbstanspruch und Liebeskonzept, für deren Modellierung Landino virtuos auf diverse antike, aber auch volkssprachliche Vorlagen zurückgegriffen hat. Ausgangspunkt sind Landinos erster Gedichtzyklus und darin vor allem dessen Widmungsgedicht an den Gelehrten und Literaten Leon Battista Alberti. Dem Kompositionsprinzip inhaltlicher varietas, in der die titelgebende Frauenfigur Xandra zwar einen prominenten, aber trotzdem nur einen Platz unter mehreren Geliebten einnimmt, korrespondiert in der Zueignung an Alberti eine auf Catulls Widmungsgedicht an Cornelius Nepos aufbauende Präsentation des Gedichtbuchs als Sammlung poetischer Kleinigkeiten, die ihre Adressaten in einem Kreis an der Rezeption gelehrter Poesie und deren gegenseitiger Begutachtung interessierter Literaten finden will. Vor diesem Hintergrund sticht in der auf drei Bücher erheblich erweiterten zweiten Fassung des Xandra-Zyklus zunächst der Wechsel des Widmungsadressaten auf den signore von Florenz Piero de’ Medici hervor. Zwar ergibt sich dadurch auch eine Veränderung in der Werbung für seine weiterhin als nugae bewertete Dichtung, insofern diese Piero nun als Möglichkeit der Entspannung von der aufreibenden Politik angeboten wird. Die entscheidende Neuerung liegt allerdings darin, dass mit der Fokussierung auf Xandra als alleinige Partnerin des lyrischen Ich eine konzeptionelle Umarbeitung der Sammlung von einer zeitlosen gelehrten Spielerei zu einer episodenhaften Schilderung unterschiedlicher Erlebnisse in einer konstanten Liebesbeziehung korrespondiert, die nicht nur einen präzisen Anfang kennt, sondern zu Beginn in signifikant variierender Adaptation von Petrarcas Eröffnungsgedicht auf die Jugend fokussiert und als für dieses Lebensalter billigenswerte Erfahrung legitimiert wird. In der Tat begründet das lyrische Ich seine spätere, am römischen Elegiker Properz orientierte Abkehr von der Liebesdichtung nicht wie dieser mit dem Überdruss an der Geliebten, sondern als notwendige Folge eines dichterischen Reifungsprozesses, in dem Liebesdichtung komplementär zum einzig angemessenen biographischen Ort erotischer Erfahrung als in der Jugend zu vollziehende Schulung für eine dem vorgerückten Alter zukommende Hinwendung zu höheren Gegenständen verstanden wird, als die das lyrische Ich das Lob der Stadt Florenz und seiner berühmten Persönlichkeiten für sich entdeckt. Ein kleiner, nach der zweiten Xandra-Fassung entstandener Gedichtzyklus an Bernardo Bembo, der von der Forschung bislang kaum beachtet worden ist, führt Landinos lyrisches Ich indes erneut als über Liebe und dabei auch über seine Beziehung zu Xandra sprechend ein, und dies, obwohl es deutlich als gealtert modelliert ist. Die Lizenz hierfür hat sich Landino durch den Rückgriff auf das renaissanceplatonische Liebeskonzept seines Schülers Marsilio Ficino eröffnet, vor dessen

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Hintergrund er die Motivation für seine anhaltende Zuneigung zu Xandra vom erotischen Begehren auf die innere Tugendhaftigkeit der Geliebten verlagert. Die unterschiedlichen Liebeskonzepte in Landinos zwei Xandra-Fassungen sowie in seiner späteren an Bernardo Bembo adressierten Gedichtsammlung verbinden sich somit in komplementärer Weise zu einem Lebenskonzept, in der Liebeserfahrung und die poetische Rede über diese in jeder Altersphase ihren legitimen Platz haben kann. Ein Ausblick auf den im zeitlichen Umfeld entstandenen volkssprachlichen Gedichtzyklus des Matteo Maria Boiardo mit dem Titel Amorum libri tres deutet abschließend an, dass Landino mit seiner Strategie, erotisches Begehren und dessen dichterische Verarbeitung für das Jugendalter zu legitimieren, zwar in einem zeitgenössischen Kontext steht, seine dazu komplementäre renaissanceplatonische Konzeption einer Altersdichtung über die Liebe in diesem aber als einzigartig zu bezeichnen ist. Der folgende Beitrag wechselt von der Literatur der Renaissance zur Geographiegeschichte der Frühen Neuzeit. Unter dem Titel „Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition“ (S. 249–269) wendet sich Alfred Stückelberger den beiden Hauptwerken des Ptolemaios zu und deutet dabei an, dass diese in der Geschichte des modernen Weltbildes eine teils innovative, teils retardierende Rolle gespielt haben. So habe Ptolemaios’ geographisches Hauptwerk, die Geographike Hyphegesis, mit seiner Wiederentdeckung und dem Transfer nach Italien (um 1400) das noch von mittelalterlichen Vorstellungen geprägte geographische Weltbild revolutioniert und Impulse für die Entdeckerfahrten des Kolumbus und anderer gegeben. Demgegenüber hat sein astronomisches Hauptwerk, der Almagest, für anderthalb Jahrtausende bis zur sogenannten ‚kopernikanischen Revolution‘ das geozentrische Weltbild konserviert, und dies, obwohl Aristarch von Samos schon im 3. Jh. v. Chr. ein heliozentrisches Weltbild vertreten hatte, welches Ptolemaios durchaus bekannt war. Dass sich Ptolemaios’ Ansicht so lange halten konnte, mag, wie Stückelberger herausstellt, daran liegen, dass er seine Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes mit einem durchaus gewichtigen Argument begründete, das selbst Kopernikus und Galilei nicht widerlegen konnten: Wenn die Erde sich in einer Umlaufbahn um die Sonne bewegte, dann müssten sich – so folgert Ptolemaios – ‚bei den Fixsternen Verschiebungen‘, sogenannte Parallaxen, ergeben, welche tatsächlich erst F.W. Bessel 1837 nachweisen konnte. Brigitte Sölchs anschließender Beitrag „Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee – mit einem Ausblick auf das ‚Humboldt-Forum‘ in Berlin“ (S. 271–317) gilt einem Desiderat der Forschung, nämlich der systematischen Erfassung und Historisierung der Forumsidee. Dabei geht Sölch von der These aus, dass diesem mit einer Entwicklungsgeschichte formaltypologischer Prägung allein kaum Rechnung zu tragen ist, sondern dass es dazu auch der Beantwortung struktureller Fragen in Bezug auf Rezeption und Nachleben ‚der‘ Antike bedarf, Fragen also wie etwa jener, welches die besonderen Potentiale der Forumsidee und die Problemlagen sind, in denen diese aktiviert

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und ausgestaltet wird. Sölch skizziert Antworten auf diese anhand eines zentralen, nämlich politisch-administrativen Traditionsstrangs der Forumsidee und erörtert deren Bedeutung für das ‚Selbstverständnis‘ öffentlicher Rathäuser und Regierungsbauten in der Frühen Neuzeit. Der Beitrag stellt dabei Aspekte der Kommunikation zwischen Innen und Außen, was in diesem Fall heißt: zwischen der dargestellten und der gebauten Platz-Architektur, in den Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund schließen Sölchs Ausführungen mit einem Ausblick auf Rathausprojekte der Gegenwart und damit auch auf optimistische Visionen des Forums als Synonym für Öffentlichkeit, Partizipation und Kommunikation. Wie sich das Berliner Humboldt-Forum dazu und zum politischen Bedeutungshorizont der Forumsidee verhält, bildet den Endpunkt der Betrachtung. Der abschließende Beitrag des Sammelbands stammt von Ernst Baltrusch und trägt den Titel „Thukydides und die moderne Politik“ (S. 319–341). Baltruschs Ausgangspunkt ist der Befund, dass anhand der Ukraine-Krise jüngst der Versuch unternommen wurde, die Aktualität des antiken Geschichtsschreibers Thukydides zu erweisen. Vor diesem Hintergrund legt er dar, dass Thukydides neben seiner bis in die Gegenwart unbestrittenen Bedeutung als Historiker, die in seinem sich aus den sophistischen Diskursen seiner Zeit speisenden historiographischen Ansatz begründet ist, heute von nicht wenigen Forschern auch als Politikwissenschaftler gesehen wird. Dass diese Sichtweise, deren Gründe bisher noch nicht systematisch aufgedeckt worden sind, durchaus stichhaltig ist, legt Baltrusch zunächst an einigen Beispielen für die Wirkmächtigkeit des Thukydides im politischen Diskurs der USA im 20. Jh. dar, um daraufhin anhand der exemplarischen Interpretation einer Passage aus Thukydides’ Geschichtswerk, dem Bürgerkrieg auf Korkyra (Thuk. 3,69–95), dessen Potential für eine politikwissenschaftliche Lektüre herauszuarbeiten. Es versteht sich von selbst, dass eine Reihe von zehn Beiträgen keine umfassende Bestandsaufnahme sinnstiftender Bezugnahmen auf die Vergangenheit von der Antike bis in die Moderne im Sinne einer transepochalen Kulturgeschichte dieses Phänomens leisten kann. Dennoch lassen sich aus ihnen einige grundlegende Linien erkennen, die wesentliche Elemente einer solchen andeuten. So arbeitet der Beitrag von Ralf Krumeich am Beispiel von Athen heraus, dass der Rückgriff auf eine als bedeutend begriffene Vergangenheit nicht nur das Selbstverständnis späterer Zeiten zu prägen vermag, sondern auch die Attraktivität des betreffenden Gemeinwesens als Modell und Referenzraum wirkungsvoll begründen und sichern kann, ein Phänomen, das sich später im Italien der Renaissance in vergleichbarer Weise erneut beobachten lässt, wenn dieses auf der Grundlage des sich ab dem 14. Jh. herausbildenden Selbstverständnisses, legitimer Erbe des Römischen Reichs zu sein, eine an der Antike orientierte Kunstauffassung ausbildete, die über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg und darüber hinaus internationale Strahlkraft entwickelte. Thomas Schirrens Beitrag über den augusteischen Antiquar Dionysios von Halikarnassos deutet komplementär dazu nicht nur die Bedeutung einer Erfor-

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schung jener für die Gegenwart als sinnrelevant angesehenen Vergangenheit an, sondern weist auch deren bewussten Konstruktionscharakter im Hinblick auf ihre legitimierende Funktion nach, ein Phänomen, das sich in vergleichbarer Weise erneut im Antiquarianismus der Frühen Neuzeit zeigt.26 Freilich arbeitet Schirren ergänzend dazu auch heraus, dass es solchen Vergangenheitskonstruktionen keinen Abbruch tut, wenn diese mit dem Konzept des Kulturtransfers operieren. Die Bereitschaft Roms, sich auf ein derartiges Geschichtsnarrativ einzulassen, hat dabei nicht weniger als das bis in die Neuzeit wirkungsmächtige Paradigma der Translatio zur Begründung kultureller und politischer Ansprüche befördert.27 Andreas Hillerts Beitrag legt in diesem Zusammenhang schließlich nahe, dass die ästhetische Orientierung an einer aus der Vergangenheit abgeleiteten Norm dabei zu solcher Perfektion gelangen kann, dass sich kaum mehr Unterschiede zwischen Original und Nachbildung wahrnehmen lassen.28 Die lange Wirkmächtigkeit der von Ralf Krumeich herausgearbeiteten Strategie Athens, sich über seine große Vergangenheit als Bildungszentrum zu profilieren, belegt Henriette Harich-Schwarzbauer, wenn sie aufzeigen kann, dass Sidonius Apollinaris den fiktiven Schauplatz seines Epithalamiums auf Polemius und Araneola deswegen nach Athen verlegt, weil er auf diese Weise die philosophische Bildung des Bräutigams und mit ihm den philosophischen Zirkel um Claudianus Mamertus, dem Polemius angehörte, insgesamt in die Tradition griechischer Gelehrsamkeit stellen kann. Ziel dabei ist es zu suggerieren, dass sich diese im ausgehenden 5. Jh. in den Süden Galliens verlagert habe und dort ihr Fortleben finde. Sidonius’ Epithalamium wird somit zu einem weiteren Beleg für die Verbreitung des Translatio-Gedankens bei der Beziehungsstiftung zwischen der eigenen Gegenwart und einer in ihr sinnfällig fortlebenden Vergangenheit. Gleichzeitig ist es Beispiel für das oben bereits angedeutete grundsätzliche Be-

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Vgl. Leonard Barkan: Unearthing the Past. Archeology and Aesthetics in the Making of Renaissance Culture, New Haven 1999 sowie die Beiträge in: Antiquarische Gelehrsamkeit und bildende Kunst. Die Gegenwart der Antike in der Renaissance, hg. von Gunter Schweikhart, Köln 1996 (Atlas 1). Zum Konzept kultureller Translatio zur Bestimmung rinascimentalen Selbstverständnisses s. exemplarisch mit Blick auf Italien: Gernot Michael Müller: Zwischen Properz und Petrarca. Strategien der aemulatio im Xandra-Zyklus des Cristoforo Landino, in: Abgrenzung und Synthese. Lateinische Dichtung und volkssprachliche Traditionen in Renaissance und Barock, hg. von Marc Föcking und dems., Heidelberg 2007 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 31), S. 133–164, hier S. 133–138 sowie im Hinblick auf den deutschen Kulturraum: Herbert Jaumann: Das dreistellige translatio-Schema und einige Schwierigkeiten mit der Renaissance in Deutschland: Konrad Celtis’ Ode ad Apolllinem (1486), in: Vogt-Spira/Rommel (Hgg.): Rezeption und Identität (wie Anm. 14), S. 335–349. Vgl. hierzu auch Wilfried Geominy: Zwischen Kennerschaft und Cliché. Römische Kopien und die Geschichte ihrer Bewertung, in: Vogt-Spira/Rommel (Hgg.): Rezeption und Identität (wie Anm. 14), S. 38–59.

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streben der Spätantike, sich in einer ungebrochenenen Kontinuität mit den ihr vorangehenden Jahrhunderten und deren Kultur zu sehen, der dabei normative Geltung für die eigene Gegenwart zuerkannt wurde.29 Freilich weist Bardo Maria Gaulys Beitrag über Ausonius’ Cupido cruciatus am Beispiel einer Mythenadaptation auf das Bewusstsein spätantiker Künstler hin, dass solche Kontinuitätsbehauptungen nicht mehr ohne Weiteres herbeizuführen waren, indem diese das Spannungsfeld von fortwährender Attraktivität des Mythos und dessen nicht mehr vorhandener Referenzialität zur außerliterarischen Realität thematisiert. Eine solche Problematisierung weist nicht nur idealtypisch darauf, dass mythische Exempla in der Spätantike nur mehr als Code fortlebten, der vor allem auf die Markierung von Kontinuität bestimmter politischer und kultureller Diskurse zielte, wie sich beispielhaft an den epischpanegyrischen Dichtungen Claudians oder des Sidonius Apollinaris zeigen lässt,30 sondern auch, dass sich die Rezeption antiker Vergangenheit von dieser Epoche an in von jener unterschiedlichen kulturellen und zunehmend auch gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vollzog. 31 Die Schwierigkeiten, in einer von christlichen Normvorstellungen geprägten Umwelt auf die Antike zurückzugreifen, prägen letztlich auch die italienische Renaissance trotz ihrer programmatischen Hinwendung zu dieser, wie der Beitrag von Gernot Michael Müller am Beispiel der verschiedenen Strategien Cristoforo Landinos, eine an antiken Vorbildern angelehnte Liebesdichtung zu legitimieren, aufzeigt. Daneben gibt die hohe Bedeutung, die der Dichtung Petrarcas für dieses Anliegen bei Landino zukommt, auch zu erkennen, dass sich Antikenrezeption spätestens seit dem Hohen Mittelalter neben und in Konkurrenz zu jeweils jüngeren Traditionen vollzog, was keinesfalls nur zu Abgrenzung und Verdrängung führte, wie es insbesondere das Selbstverständnis der italienischen Renaissance suggeriert, sondern vielfach auch zu Hybridbildungen einlud.32 Ergänzend dazu 29

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S. am Beispiel von Cassiodors Variae Ida Gilda Mastrorosa: Illa virtutum omnium latissimum templum. Values and Cult of Republican Rome in Cassiodorus’ Variae, in: Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Studien zur lateinischen Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter, hg. von Gernot Michael Müller, Stuttgart 2018 (Roma aeterna 7), S. 221–235. Vgl. hierzu Antonella Bruzzone: Mito e politica nei Panegyrici di Sidonio Apollinare, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. von Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller, Berlin/Boston 2013 (MilleniumStudien 43), S. 355–378. Vgl. exemplarisch am epistolaren Freundschaftsdiskurs der ausgehenden Spätantike Gernot Michael Müller: Freundschaften wider den Verfall. Gemeinschaftsbildung und kulturelle Selbstverortung im Briefwechsel des Ruricius von Limoges, in: Diefenbach/Müller (Hgg.): Gallien in Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 30), S. 421– 454. S. hierzu Jörg Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel. Die Autorisierung der Liebeselegie im Licht ihrer rinascimentalen Kommentierung, in:

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weist Barbara Kuhn mit ihren Ausführungen zur Amphitryon-Adaptation des Vitalis von Blois als den Mythos vermittelnde Vorlage für das in ihrem Beitrag im Zentrum stehende Werk Geta e Birria nicht nur auf die lebendige Rezeption der Antike im Mittelalter hin, sondern sie stellt auf diese Weise auch heraus, dass die Adaptation von antiken Stoffen oder Motiven veritable Traditionsstränge ausbilden konnte, über die diese zum einen vermittelt weitergegeben wurden und die zum anderen dazu anregten, deren verschiedene Fassungen zu kommentieren und zur Diskussion zu stellen. Zudem deutet sich in der komplexen Gattungszugehörigkeit des Werks an, dass sich das Fortleben der Antike keinesfalls nur im Gelehrtendiskurs und dessen bevorzugtem Idiom Latein vollzog, sondern durchweg die gesamte Kultur erfassen konnte. Ein weiteres eindrückliches Beispiel für die breite Wirksamkeit der Antike geben Brigitte Sölchs Ausführungen über die urbanistische Strahlkraft des antiken Forums sowohl als konkreter Platzanlage wie auch als Idee in Früher Neuzeit und Moderne, die zudem die Bedeutung der Antike für die Konzipierung nachantiker gesellschaftlicher Realitäten und der ihr zugehörigen politischen Diskurse, und dies bis in die unmittelbare Gegenwart, offenlegen. Die Antike erweist sich eben keinesfalls nur als kontinuierliche Impulsgeberin für den ästhetischen Diskurs, sondern prägte in vielfältiger Weise auch die Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Weltbild der nachantiken Epochen.33 Beleg hierfür ist nicht nur im Bereich des geographischen Weltbilds der von Alfred Stückelberger besprochene Claudios Ptolemaios, sondern auch der Historiker Thukydides, dessen Bedeutung für den politischen Diskurs bis in die Moderne Ernst Baltrusch am auffälligen Rekurs US-amerikanischer Außenpolitiker des 20. Jh.s auf diesen herausstellt. Thukydides steht auf diese Weise für den fundamentalen Einfluss antiker Geschichtsschreibung und Philosophie auf Verständnis und Begründung von Politik in den nachantiken Epochen, der – zumindest partiell – offensichtlich auch noch in der Gegenwart zu greifen ist. Im Hinblick auf die von Baltrusch angesprochenen Akteure der USamerikanischen Politik und ihre Kenntnis des Thukydides stellt sich indirekt die Frage nach den heutigen Vermittlungsinstanzen, die eine produktive Auseinandersetzung mit antiken Autoren und den von ihnen vermittelten Inhalten möglich machen. Diese dürfte bei den genannten Politikern in deren Schulbildung zu suchen sein, der zwar seit jeher eine wichtige, aber spätestens seit der Moderne sicherlich die entscheidende Rolle für die Vermittlung von Wissen über die Antike und damit auch für die Möglichkeit ihrer produktiven Adaptation zukommt. Insofern ihre sinnstiftende Funktion seit Beginn der Moderne sichtlich schwä-

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Questo leggiadrissimo Poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen LyrikKommentar, hg. von Gerhard Regn, Münster u. a. 2004 (Pluralisierung & Autorität 6), S. 111–154. Vgl. hierzu die Beiträge in der zweiten Sektion des Sammelbandes Antike als Konzept. Lesarten in Kunst, Literatur und Politik, hg. von Gernot Kamecke, Berlin 2009.

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cher und inzwischen bestenfalls nur mehr als eine Option innerhalb einer Pluralität von entsprechenden Möglichkeit wahrgenommen wird, dürfte freilich auch die für die europäische Kulturgeschichte so wichtige kreative Auseinandersetzung mit der Antike selbst in zunehmendem Maße zu einem Gegenstand historischer Bildung werden, den es bewusst zu vermitteln gilt, weil eine lebendige Kultur der Antikenrezeption nur noch als randständiges Phänomen fortlebt. In diesem Horizont hat der Pisaner Archäologe Salvatore Settis in einem kurz nach der Jahrtausendwende entstandenen Essay auf eine eigentümlich gegenläufige Entwicklung in jüngster Zeit hingewiesen.34 So konstatierte er auf der einen Seite ein wiedererwachendes Interesse an der Antike, welches er mit einer virulenten Suche Europas nach kultureller Selbstvergewisserung in Verbindung brachte.35 Diese rühre daher, dass in einer globalisierten Welt der über Jahrhunderte unangefochten behauptete Primat europäischer Kultur zunehmend infrage gestellt und durch eine Pluralität sich prinzipiell gleichberechtigt empfindender Kulturentwürfe ersetzt werde. Die sich daraus für Europa erstmals ergebende Frage nach dem spezifisch Eigenen im Vergleich zu anderen Kulturregionen der Welt werde dabei immer wieder mit der produktiven Auseinandersetzung mit der Antike, die dessen Kulturgeschichte in unterschiedlichen Konjunkturen aber letztlich durchweg geprägt habe, beantwortet. Im Gegensatz dazu konstatiert Settis einen ungebrochenen Rückgang von Kenntnissen über Kultur und Geschichte der Antike aufgrund des anhaltenden Bedeutungsschwunds der einschlägigen Schulfächer. Hieraus ergebe sich die Gefahr, dass jenes Alleinstellungsmerkmal europäischer Kultur trotz neuerlicher Konjunktur allmählich definitiv aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwinde, weil das Wissen darüber in der Breite unweigerlich abhandenkomme.36 Identitätsstiftende Relevanz von Antike und die Frage nach den bildungspolitischen Grundlagen, die dazu befähigen, den Rückbezug auf die Antike als verbindendes Element europäischer Kulturgeschichte bis in die Gegenwart zu erkennen, gilt es also mehr denn je auszuloten. Dies allerdings weniger in Form der Klage über die abnehmende Relevanz altertumswissenschaftlicher Inhalte in den europäischen Bildungslandschaften, denn vielmehr im kontinuierlichen Bewusstmachen der fundamentalen Bedeutung, die die Antike als Impulsgeberin in der europäischen Kulturgeschichte und den von ihr beeinflussten Weltregionen hatte, sowie des Potentials, welches sich daraus für eine nachhaltige Konstruktion einer europäischen Identität jenseits einer rein marktorientierten Idee

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Salvatore Settis: Die Zukunft des ‚Klassischen‘. Eine Idee im Wandel der Zeiten, Berlin 2004 (it. Original: Il futuro del classico, Turin 2004). Dass das Thema seit der Jahrtausendwende auch in der Forschung vermehrte Konjunktur hat, betonen mit einem Überblick über einschlägige Veröffentlichungen: Stefano Rocchi und Cecilia Mussini: Introduction, in: dies. (Hgg.): Imagines Antiquitatis (wie Anm. 24), S. 1–14, hier S. 1–6. Settis: Die Zukunft des ‚Klassischen‘ (wie Anm. 34), S. 9–15.

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von Europa entwickeln lässt.37 Es wäre kein geringer Erfolg, wenn die hier versammelten Beiträge auch in dieser den engen wissenschaftlichen Diskurs hinter sich lassenden Hinsicht anregend wirken würden.

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Thesen für eine zeitgemäße Konzeption des Klassischen formuliert Settis: Die Zukunft des ‚Klassischen‘ (wie Anm. 34), S. 89–98.

I

Antike und Spätantike

Ralf Krumeich

Ein Zentrum des „wahren und unverfälschten Griechenland“ Zur Aktualisierung vergangener Größe in Athen von den Perserkriegen bis zur römischen Kaiserzeit Athen galt in der römischen Kaiserzeit nicht allein aus griechischer bzw. athenischer Perspektive als eines der wichtigsten Zentren der Provinz Achaia und damit des „wahren und unverfälschten Griechenland“, dessen Gründerheroen, Gottheiten, Alter und Ruhm ein in Achaia eingesetzter römischer Magistrat auf Empfehlung Plinius’ des Jüngeren unbedingt zu respektieren habe.1 Vorbereitet war dieser zentrale und in vielen Bereichen durchaus retrospektiv ausgerichtete Charakter des kaiserzeitlichen Athen durch die bereits seit den Perserkriegen des frühen 5. Jh.s v. Chr. belegte Repräsentation der Athener als Protagonisten bei der Abwehr von Barbaren der älteren (mythischen) und jüngeren Vergangenheit: Ein wesentlicher Bestandteil der politischen Reden athenischer Gesandter bestand seit dem früheren 5. Jh. v. Chr. in den sogenannten Tatenkatalogen und damit in ostentativen Verweisen auf die großen Leistungen der Polis zur Zeit des Theseus und im Trojanischen Krieg, aber auch während der Perserkriege.2 Weitere retrospektive Elemente athenischer Repräsentation und Rekurse auf die ‚große Vergangenheit‘ Athens kamen seit dem 4. Jh. v. Chr., vor allem aber im späten Hellenismus und der römischen Kaiserzeit hinzu. 1

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Plin. epist. 8,24; vgl. Susan Ellen Alcock: Archaeologies of the Greek Past. Landscape, Monuments, and Memories, Cambridge 2002, S. 42f.; Ralf Krumeich und Christian Witschel: Die Akropolis als zentrales Heiligtum und Ort athenischer Identitätsbildung, in: Die Akropolis von Athen im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, hg. von dens., Wiesbaden 2010, S. 1. Nicole Loraux: The Invention of Athens. The Funeral Oration in the Classical City, Cambridge (Mass.) et. al. 1986, S. 132–171; Jonas Grethlein: The Greeks and their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE, Cambridge 2010, S. 109–117; 122–125; Tonio Hölscher: Athen – die Polis als Raum der Erinnerung, in: Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, hg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp, München 2010, S. 128‒149, hier S. 130; Bernd Steinbock: Social Memory in Athenian Public Discourse. Uses and Meanings of the Past, Ann Arbor 2013, S. 19–29; 84–99.

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Ralf Krumeich

Abb. 1: Athen, Nordmauer der Akropolis mit unfertigen Säulentrommeln des Vorparthenon

Intentionale Bezugnahmen auf die eigene Vergangenheit in der Repräsentation Athens sind seit Langem ein Thema der historischen und archäologischen Forschung; eine Intensivierung erfuhren diese Studien vor einigen Jahren im Zuge der Untersuchungen zu antiken Erinnerungsorten.3 Nach wie vor lohnt sich je3

Alcock: Past (wie Anm. 1), S. 1–98; 176–178; Elke Stein-Hölkeskamp und KarlJoachim Hölkeskamp: ‚Erinnerungsorte‘ à la grecque – nochmals zu Begriff und Programm, in: Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, hg. von dens., München 2010, S. 11–16; Anne Gangloff: Mémoires et lieux de mémoire dans

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doch ein genauerer Blick auf den kulturhistorischen Kontext der Aussagen des jüngeren Plinius, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der im frühen 2. Jh. n. Chr. in Athen in vielen Fällen noch sichtbaren retrospektiven Denkmäler älterer und jüngerer Zeit zu verstehen sind und hierdurch zusätzlich an Gewicht gewinnen. Thema des folgenden Beitrages sind die seit dem frühen 5. Jh. v. Chr. ausgeprägten Spielarten retrospektiver Strömungen in Athen, wobei der Schwerpunkt auf den Epochen des späteren Hellenismus und der römischen Kaiserzeit liegt. Zu fragen ist hier insbesondere nach zeitspezifischen Formen der in Athen konstruierten Vergangenheitsbezüge, aber auch nach den jeweils unterschiedlichen Perspektiven athenischer und fremder bzw. römischer Rezipienten. 1

Monumentalisierte Erinnerung an die Perserkriege und retrospektive Strömungen im 5. und früheren 4. Jh.

Bereits seit der Zeit kurz nach den Perserkriegen entstanden in Athen Denkmäler, die auf die ‚große Vergangenheit‘ der Stadt sowie auf deren Leistungen bei der Abwehr der Barbaren sowie die Vertreibung der Tyrannen Bezug nahmen und ihrerseits in der Folgezeit eine beträchtliche Wirkung entfalteten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die öffentlichen Bereiche der Akropolis und der Agora von zentraler Bedeutung: Kurz nach 480 v. Chr. wurde unter planvoller Verwendung älteren Baumaterials die Nordmauer der Akropolis angelegt (Abb. 1); kunstvoll arrangierte man an der Außenseite der neuen Mauer Teile des dorischen Triglyphon des von den Persern zum Teil zerstörten Alten AthenaTempels sowie unkannelierte Säulentrommeln des im Jahr 480 noch unvollendeten Vorparthenon. Eindrucksvoll und noch heute bereits von Weitem sichtbar l’antiquité gréco-romaine, in: Lieux de mémoire en Orient grec à l’époque impériale, hg. von ders., Bern 2013 (Echo 9), S. 1–21; vgl. Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 (Édition discours 21), S. 13f.; 20f. (Ausführungen zum kollektiven Gedächtnis; im Original 1941 erschienen); Reinhard Förtsch: Zeugen der Vergangenheit, in: Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus, hg. von Michael Wörrle und Paul Zanker, München 1995 (Vestigia 47), S. 173–188; Andreas Hartmann: Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften, Berlin 2010 (Studien zur Alten Geschichte 11), S. 31–47. Zu dem von Pierre Nora seit den 1980er Jahren geprägten Begriff der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) vgl. Etienne François: Pierre Nora und die „Lieux de mémoire“, in: Erinnerungsorte Frankreichs, hg. von Pierre Nora, München 2005, S. 8–12; Hartmann: Relikt (ebd.), S. 35–38; Michael Jung: Methodisches: Heiligtümer und lieux de mémoire, in: Griechische Heiligtümer als Erinnerungsorte, hg. von Matthias Haake und dems., Stuttgart 2011 (Alte Geschichte), S. 10–15; François Jequier: Les lieux de mémoire, in: Lieux de mémoire en Orient grec à l’époque impériale, hg. von Anne Gangloff, Bern 2013, S. 23–33.

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erinnerten diese ‚Spolien‘ an den Frevel der Perser und deren erfolgreiche Abwehr durch die Athener.4 Und nur wenig später (460/450 v. Chr.) erfolgte die Stiftung mehrerer großformatiger Tafelbilder mit mythologischen und historischen Themen in der kurz zuvor erbauten Stoa Poikile an der Nordseite der Agora; zu sehen war hier unter anderem ein Gemälde der Schlacht von Marathon, das insbesondere den athenischen Anteil am Sieg über die Perser feierte.5 Auf diese Weise memorierten ganz unterschiedliche staatliche Denkmäler bereits seit etwa 480 v. Chr. die großen Leistungen Athens bei der Abwehr der Barbaren in den Perserkriegen und präsentierten sie als zentrale Elemente athenischer Geschichte der jüngeren Vergangenheit.

Abb. 2: Basis des von Chairedemos gestifteten und von Strongylion verfertigten bronzenen Trojanischen Pferdes (um 420 v. Chr.). Athen, Akropolis

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Manolis Korres: On the North Acropolis Wall, in: Excavating Classical Culture. Recent Archaeological Discoveries in Greece, hg. von Maria Stamatopoulou und Marina Yeroulanou, Oxford 2002, S. 179–186; Riccardo Di Cesare: La storia murata. Note sul significato del riutilizzo nel muro di cinta dell’acropoli di Atene, in: NumAntCl 33 (2004), S. 99–134; Hölscher: Athen (wie Anm. 2), S. 128–149. Paus. 1,15,3; Tonio Hölscher: Griechische Historienbilder des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Würzburg 1973 (Beiträge zur Archäologie 6), S. 50–68; Ralf Krumeich: Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im 5. Jahrhundert v. Chr., München 1997, S. 102–109; Marion Meyer: Bilder und Vorbilder. Zu Sinn und Zweck von Siegesmonumenten Athens in klassischer Zeit, in: ÖJh 74 (2005), S. 287–289; Hölscher: Athen (wie Anm. 2), S. 141f.

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Abb. 3: Wie Abb. 2. Rekonstruktion des Trojanischen Pferdes

Seit etwa der gleichen Zeit gehörten die athenische Teilnahme am Trojanischen Krieg und insbesondere die Leistungen der Stadt in den Perserkriegen zu den zentralen Elementen der ‚Tatenkataloge‘, die von nun an regelmäßig bei diplomatischen Verhandlungen eingesetzt wurden, um athenischen Argumenten und Ansprüchen Gewicht zu verleihen.6 Vor diesem Hintergrund ist auch ein sehr eindrucksvolles Anathem zu verstehen, das von Pausanias im mittleren 2. Jh. n. Chr. noch im Bezirk der Artemis Brauronia auf der Akropolis gesehen wurde und dessen Basis bis heute erhalten ist (Abb. 2 u. 3): Es handelte sich um ein um 420 v. Chr. entstandenes, von einem Athener namens Chairedemos gestiftetes, 6

S.o. Anm. 2 und u. Anm. 32.

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ursprünglich mindestens fünf Meter hohes, bronzenes hölzernes Pferd, aus dessen Bauch sich die athenischen Helden Menestheus, Teukros und zwei Söhne des Theseus herausbeugten und zur Eroberung Trojas anschickten.7 Für das Verständnis retrospektiver athenischer Denkmäler in der römischen Kaiserzeit bieten die hier genannten, in staatlichem und persönlichem Auftrag gestifteten Anatheme des 5. Jh.s v. Chr. sowie die bereits erwähnten ‚Tatenkataloge‘ mit ihren rhetorischen Topoi einen wichtigen Hintergrund. Schon früh verwies man an mehreren Stellen zudem auf das hohe Alter der Akropolis und damit der Stadt insgesamt: So erinnerte eine polygonale Aussparung in der klassischen Kalksteinverkleidung der Nike-Bastion, auf der um 430/420 v. Chr. über einem Vorgängerbau der archaischen Zeit der klassische Athena-Nike-Tempel errichtet wurde, an die Frühzeit des Burgberges (Abb. 4). Dieses auffällige, nicht zufällig polygonal und damit altertümlich gerahmte ‚Fenster‘ gewährte einen unmittelbaren Blick auf die mykenische, nach Ansicht der Athener ‚pelasgische‘ Bastion am Zugang zur Akropolis, deren mykenische Mauern auch an mehreren anderen Stellen sichtbar waren.8 Jeder Besucher 7

8

IG I3 895; Paus. 1,23,8; Der Neue Overbeck. Die antiken Schriftquellen zu den bildenden Künsten der Griechen, hg. von Sascha Kansteiner et al., Berlin 2014, Bd. II, S. 422–425, Nr. 5 (Axel Filges und Klaus Hallof); Gorham Phillips Stevens: The Periclean Entrance Court of the Acropolis of Athens, in: Hesperia 5 (1936), S. 443‒ 520, hier S. 460f.; Antony E. Raubitschek: Dedications from the Athenian Akropolis, Cambridge (Mass.) 1949 (Inscriptiones Atticae / Supplementum 7), S. 298f., Nr. 176; Friedrich Wilhelm Hamdorf: Zur Weihung des Chairedemos auf der Akropolis von Athen, in: Στήλη. Τόµος εἰς µνήµην Νικολάου Κοντολέοντος, Athen 1980, S. 231–235; Jeffrey M. Hurwit: The Acropolis in the Age of Pericles, Cambridge 2004, S. 197f.; Bruno d’Agostino: The Trojan Horse: Between Athena and Artemis, in: AnnAStorAnt 13/14 (2006/07), S. 185‒196; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 17; H. A. Shapiro: Attic Heroes and the Construction of the Athenian Past in the Fifth Century, in: Greek Notions of the Past in the Archaic and Classical Eras, hg. von John Marincola, Lloyd Llewellyn-Jones und Calum Maciver, Edinburgh 2012, S. 160‒182, hier S. 172f. Vgl. hier auch das bekannte Akropolisgemälde Leo von Klenzes in der Münchner Neuen Pinakothek („Ideale Ansicht von Athen“, 1846), in dem dieses Anathem einen wichtigen Platz einnimmt: Winfried Nerdinger: „Das Hellenische mit dem Neuen verknüpft“ – Der Architekt Leo von Klenze als neuer Palladio, in: Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof 1784–1864, hg. von dems., München 2000, S. 8‒49, hier S. 24f. J. A. Bundgaard, Parthenon and the Mycenaean City on the Heights, Kopenhagen 1976, S. 44–46 mit Abb. 22–24; Hurwit: Acropolis (wie Anm. 7), S. 64f.; Hartmann: Relikt (wie Anm. 3), S. 503; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 6 mit Abb. 8 und 9. Von den an der Nike-Bastion oberhalb (temporär?) angebrachten Elementen (den von Kleon im Jahr 425 v. Chr. erbeuteten spartanischen Schilden?) wurde die polygonale Aussparung nicht verdeckt; zu letzteren vgl. Mike Lippmann, David Scahill und Peter Schultz: Knights 843–59, the Nike Temple Bastion, and Cleon’s Shields from Pylos, in: AJA 110 (2006), S. 551‒563, hier S. 555–557, Abb. 4–6. Die mykenische Akropolismauer war auf der Akropolis des 5. Jhs. v. Chr. und

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Athens wurde auf diese Weise bereits seit dem späteren 5. Jh. v. Chr. an Alter und Bedeutung der Akropolis in der ägäischen Bronzezeit erinnert.

Abb. 4: Tempel der Athena Nike. Blick von den Propyläen auf die Nordseite des Tempels und die Nike-Bastion mit polygonaler Aussparung. Links oberhalb der kleinen Treppe ist die Basis für die Reiterstatue des Germanicus (Abb. 13) zu sehen nachklassischer Zeit auch sonst partiell sichtbar und wurde hier als ostentativer Verweis auf das Alter des Heiligtums präsentiert: Förtsch: Zeugen (wie Anm. 3), S. 174; Hurwit: Acropolis (wie Anm. 7), S. 61–65; Heiner Knell: Ein Denkmal antiker Denkmalspflege, in: Die ‚Denkmalpflege‘ vor der Denkmalpflege, hg. von Volker Hoffmann, Jürg Schweizer und Wolfgang Wolters, Bern 2005 (Neue Berner Schriften zur Kunst 8), S. 202–208; Hölscher: Athen (wie Anm. 2), S. 132.

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Außer der Abwehr der Barbaren (in mythischer und historischer Zeit), der erfolgreichen Teilnahme am Trojanischen Krieg und dem Alter des nach allgemeiner Überzeugung zur Zeit des Theseus geeinten Athen gehörten bekanntlich die Gründung der Demokratie und das weitgehend ahistorische, bereits seit der spätarchaischen Zeit auch durch Trinklieder (Skolien) verbreitete panegyrische Lob ihrer ‚Gründerheroen‘ Harmodios und Aristogeiton zu den zentralen Bestandteilen der offiziellen staatlichen Repräsentation Athens.9 Die von Antenor um 500 v. Chr. verfertigten bronzenen Ehrenstatuen der beiden Tyrannenmörder wurden in den Perserkriegen unter Xerxes geraubt und kurz darauf (im Jahr 477/76 v. Chr.) durch eine neue Gruppe von der Hand des Kritios und des Nesiotes ersetzt (Abb. 5). Nach der Rückführung der älteren Statuen aus Susa standen nebeneinander zwei Tyrannenmördergruppen auf der Agora, die noch weit bis in die römische Kaiserzeit zentrale Elemente des kollektiven Selbstbewusstseins Athens bildeten.10 Eigene Maßstäbe setzten die Athener in der perikleischen Zeit und den Jahren bis zum Ende des 5. Jh.s v. Chr. mit der Errichtung des Parthenons und weiterer Bauten auf der Akropolis, deren zügige Fertigstellung sowie Pracht und „immerwährende Jugend“ noch von Plutarch gerühmt wurden und die bereits bei den Zeitgenossen als großartige Monumente der machtpolitischen Blütezeit Athens zur Zeit des Perikles galten.11 Im späteren 5. Jh. v. Chr. setzte eine intensive Rezeption und dauerhafte Memorierung von Denkmälern aus der gloriosen Zeit Athens ein. Dieser Vorgang diente zum einen der Stabilisierung des Selbstbewusstseins der Polis Athen und ihrer Machtansprüche; andererseits fungierten klassische Monumente wie

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Michael W. Taylor: The Tyrant Slayers. The Heroic Image in Fifth Century B.C. Athenian Art and Politics, Salem/New Hampshire 21991 (Monographs in classical studies), S. 22–35; Krumeich: Bildnisse (wie Anm. 5), S. 58; Fernande Hölscher: Die Tyrannenmörder – ein Denkmal der Demokratie, in: Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, hg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp, München 2010, S. 244–258; V. Azoulay: Les tyrannicides d’Athènes. Vie et mort de deux statues, Paris 2014, S. 70–72. Der Neue Overbeck. Die antiken Schriftquellen zu den bildenden Künsten der Griechen, hg. von Sascha Kansteiner et al., Berlin 2014, Bd. I, S. 292–297, Nr. 382–388 (Klaus Hallof, Ralf Krumeich und Lauri Lehmann); ebd., Bd. I, S. 475–479, Nr. 558– 562 (Klaus Hallof, Sascha Kansteiner und Lauri Lehmann); Sture Brunnsåker: The Tyrant-Slayers of Kritios and Nesiotes, Stockholm 21971 (Skrifter utgivna av Svenska Instituet i Athen/Kvart 17); Hölscher: Historienbilder (wie Anm. 5), S. 85–88; Burkhard Fehr: Die Tyrannentöter oder: Kann man der Demokratie ein Denkmal setzen?, Frankfurt/M. 1984; Krumeich: Bildnisse (wie Anm. 5), S. 57–59; Tonio Hölscher: Images and political identity. The case of Athens, in: Democracy, Empire, and the Arts in Fifth-Century Athens, hg. von Deborah Dickmann Boedeker und Kurt A. Raaflaub, Cambridge (Mass.) 1998 (Center for Hellenic Studies colloquia 2), S. 153‒ 184, hier S. 158–160; 162; 169; Hölscher: Tyrannenmörder (wie Anm. 9); Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), 214. Plut. Per. 13,3.

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der Parthenon nun als prächtiger Hintergrund für die Repräsentation athenischer Stifter.

Abb. 5: Tyrannenmördergruppe des Kritios und des Nesiotes (477/476 v. Chr.), Rekonstruktion. Rom, Museo dei Gessi

Der Sturz der Dreißig im Jahr 403 v. Chr. bot einen angemessenen Anlass, die im kollektiven Bewusstsein der Athener ohnehin fest verankerte und nahezu omnipräsente Tat der Tyrannenmörder als Hinweis auf die nun erfolgte Restitu-

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tion der Demokratie von staatlicher Seite zu memorieren und als große, weiterhin verpflichtende Leistung hervorzuheben.12 Die im Jahr 403/402 angefertigten Preisamphoren für athenische und fremde Sieger in den Panathenäen zeigten auf der Vorderseite eine Athena, deren Schild mit einem Zitat der frühklassischen Tyrannenmörder-Gruppe verziert war.13 Etwa in der gleichen Zeit, vielleicht auch einige Jahre zuvor, diente der Parthenon als prachtvoller Hintergrund für die persönliche Repräsentation prominenter Athener.14 Nicht von ungefähr (und mit Zustimmung der zuständigen Behörden) dürfte der Stratege Konon zu Beginn des 4. Jh.s v. Chr. ein aufwendiges Denkmal an der Heiligen Straße unmittelbar vor der Parthenon-Nordseite platziert haben. Seine etwa lebensgroße bronzene Porträtstatue befand sich – seit etwa 375 v. Chr. zusammen mit einer ähnlich großen Figur seines Sohnes Timotheos (Stratege in der Schlacht von Kerkyra) – auf einer gekrümmten, aus zwei Stufen hellen pentelischen Marmors und einer bekrönenden Lage aus dunklem eleusinischen Kalkstein gebildeten Basis, die eine der aufwendigsten Postamente auf der Akropolis der spätklassischen Zeit darstellte.15 Mit einiger Wahrscheinlichkeit reflektierte dieses prächtige, in 12

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Zur Herrschaft der Dreißig in Athen vgl. Hermann Bengtson: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, München 51977 (Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft 3,4), S. 259–261. Brunnsåker: Tyrant-Slayers (wie Anm. 10), Taf. 23,6; Martin Bentz: Panathenäische Preisamphoren. Eine athenische Vasengattung und ihre Funktion vom 6.–4. Jahrhundert v. Chr, Basel 1998 (Antike Kunst, Beiheft 18), S. 49f., 157–159, Taf. 95, 97; Julia L. Shear: The Tyrannicides, their cult and the Panathenaia: a note, in: JHS 132 (2012), S. 107–119, hier S. 109–111; Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 105–108. Die Metopen dieses Tempels zeigten ihrerseits neben einer Gigantomachie und Szenen der Iliupersis auch eine Kentauromachie und eine Amazonomachie, an denen der Athener Theseus jeweils maßgeblich beteiligt war; zum Bildprogramm der Südmetopen gehörten zudem weitere Begebenheiten aus der mythischen Frühgeschichte Athens. Vgl. Heiner Knell: Mythos und Polis. Bildprogramme griechischer Bauskulptur, Darmstadt 1990, S. 95–108; 140–149; Katherine A. Schwab: Celebrations of Victory: The Metopes of the Parthenon, in: The Parthenon. From Antiquity to the Present, hg. von Jenifer Neils, New York 2005, S. 178–190; François Queyrel: Le Parthénon. Un monument dans l’histoire, Paris 2008 (Antiquea 9), S. 71–82; Hölscher: Athen (wie Anm. 2), S. 143f. IG II/III2 3774; SEG 36, 1986, 246; Paus. 1,24,3; Christoph Löhr: Griechische Familienweihungen. Untersuchungen einer Repräsentationsform von ihren Anfängen bis zum Ende des 4. Jh.s v. Chr., Rahden 2000 (Internationale Archäologie 54), S. 76f., Nr. 86; Ralf Krumeich: Ehrenstatuen als Weihgeschenke auf der Athener Akropolis. Staatliche Ehrungen in religiösem Kontext, in: Kult und Kommunikation. Medien in Heiligtümern der Antike, hg. von Christian Frevel und Henner von Hesberg, Wiesbaden 2007 (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die Antiken Kulturen des Mittelmeerraumes ‒ Centre for Mediterranean Cultures 4), S. 381‒414, hier S. 389–391.

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persönlichem Auftrag gestiftete Monument zugleich die hohen staatlichen Ehrungen der beiden Strategen, die beide zu den ersten Athenern gehörten, die jeweils zu Lebzeiten mit einer Ehrenstatue vor der Stoa des Zeus Eleutherios an der Agora geehrt worden waren.16 Darüber hinaus nutzten einige Athener bereits in klassischer Zeit den Parthenon selbst als Kulisse für die persönliche und familiäre Repräsentation. So befand sich seit dem späteren 5. Jh. ein Porträtgemälde des Themistokles in der Cella dieses Tempels; spätestens zur Zeit des Pausanias konnte jeder Besucher der Akropolis darüber hinaus die Porträtstatue des Strategen Iphikrates im Pronaos des Parthenon sehen.17 Diese und einige weitere Bildnisse waren seither eng mit dem Parthenon und der hier zu sehenden chryselephantinen Athena Parthenos verbunden – also mit zwei der berühmtesten Denkmäler des perikleischen Athen. 2

Retrospektive Strömungen des späteren 4. Jhs.: Das Dionysostheater

Mit dem Bau des steinernen Dionysostheaters am Südhang der Akropolis und seiner statuarischen Ausstattung kam im späteren 4. Jh. v. Chr. eine weitere Facette athenischer Selbstdarstellung und -vergewisserung hinzu, die ihre Bedeutung und Ausstrahlung ebenfalls bis in die römische Kaiserzeit behalten sollte.18 Großer Wert wurde in diesem Bereich insbesondere auf die Repräsentation 16

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Staatliche Ehrenstatuen des Konon und des Timotheos in Athen: Krumeich: Bildnisse (wie Anm. 5), S. 207–209; Krumeich: Ehrenstatuen (wie Anm. 15), S. 385f. (jeweils mit Nachweisen und weiterer Literatur); zur Verbindung beider Anatheme vgl. Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 18f.; Ralf Krumeich: Ehrung Roms und Stolz auf die Polis. Zur Repräsentation römischer Magistrate auf der Akropolis von Athen, in: Polis und Porträt. Standbilder als Medien der öffentlichen Repräsentation im hellenistischen Osten, hg. von Jochen Griesbach, Wiesbaden 2014 (Studien zur antiken Stadt 13), S. 141‒154, hier S. 143. Themistoklesgemälde (440/430–400 v. Chr.): Paus. 1,1,2; Maria Nowicka: Le portrait dans la peinture antique, Warschau 1993, S. 70; Krumeich: Bildnisse (wie Anm. 5), S. 83–85; Löhr: Familienweihungen (wie Anm. 15), S. 53, Kat. 58; Krumeich: Ehrenstatuen (wie Anm. 15), S. 403. – Iphikrates (früheres 4. Jh. v. Chr.?): Paus. 1,24,7; Krumeich: Bildnisse (wie Anm. 5), S. 212; Krumeich: Ehrenstatuen (wie Anm. 15), S. 403. Die meisten griechischen Tempel waren tagsüber (zu bestimmten Öffnungszeiten) zugänglich: Mary B. Hollinshead: „Adyton,“ „Opisthodomos,“ and the Inner Room of the Greek Temple, in: Hesperia 68 (1999), S. 189‒218, hier S. 207–210; 213f.; Ralf Krumeich: Vom Haus der Gottheit zum Museum? Zu Ausstattung und Funktion des Heraion von Olympia und des Athenatempels von Lindos, in: AntK 51 (2008), S. 73‒95, hier S. 75–77. Zur Architektur des gegen 350 v. Chr. begonnenen Dionysostheaters spätklassischer Zeit vgl. zuletzt Heide Froning: Bauformen – Vom Holzgerüst zum Theater von Epidauros, in: Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike, hg. von Susanne

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ausgewählter athenischer Dichter der Vergangenheit und Gegenwart durch bronzene Porträtstatuen gelegt. Eine wesentliche Rolle spielen hier die drei stehenden, leicht überlebensgroßen Bildnisse der drei ‚großen‘ Tragödiendichter des 5. Jhs. v. Chr. (Abb. 6), die auf Veranlassung des Staatsmanns Lykurg in den Jahren zwischen 338 und 326/25 v. Chr. errichtet wurden und sich (spätestens) seit der augusteischen Zeit auf einer langgestreckten Basis in der östlichen Parodos des Theaters befanden.19 Diese als postume staatliche Ehrenstatuen konzipierten Bildnisse dokumentieren die hohe Wertschätzung der drei seit mehreren Jahrzehnten verstorbenen Dichter und sind zudem vor dem Hintergrund weiterer retrospektiver Strömungen im Bereich des Theaters zu verstehen; denn bereits seit 386 v. Chr. war es üblich, bei den Großen Dionysien eine ältere Tragödie (beispielsweise des Euripides) außer Konkurrenz aufzuführen und auf diese Weise die Erinnerung an die großen Leistungen athenischer Dichter des vergangenen Jahrhunderts wachzuhalten.20 Dieses rühmende Herausheben der drei ‚großen‘ Dichter gehörte noch in der römischen Kaiserzeit zum Erfahrungshorizont eines jeden Besuchers Athens (und seiner öffentlichen Bereiche) und wird später noch weiter intensiviert.

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Moraw und Eckehart Nölle, Mainz 2002, S. 43–53; Christina Papastamati-von Moock: The Theatre of Dionysus Eleuthereus in Athens: New Data and Observations on its ‚Lycurgan‘ Phase, in: Greek Theatre in the Fourth Century B.C., hg. von E. Csapo et al., Berlin et al. 2014, S. 15–76 (jeweils mit weiterer Literatur). [Plut.] mor. 841f.; Paus. 1,21,1f.; Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995 (C.H. Beck Kulturwissenschaft), S. 49–61; Ralf Krumeich: Die „lykurgische Tragikerweihung“, in: Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit, hg. von Wolf-Dieter Heilmeyer, Mainz 2002, S. 542–546; Christiane Vorster: Die Porträts des 4. Jahrhunderts v. Chr., in: Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst II: Klassische Plastik, hg. von Peter C. Bol, Mainz 2004 (Schriften des Liebieghauses), S. 383‒428, hier S. 415–418; Christina Papastamati-von Moock: Menander und die Tragikergruppe. Neue Forschungen zu den Ehrenmonumenten im Dionysostheater von Athen, in: AM 122 (2007), S. 312– 326; Papastamati-von Moock: Theatre (wie Anm. 18), S. 35–52 (zur Neuaufstellung der Statuen in augusteischer Zeit). Zur Sitzstatue des Astydamas und weiteren Porträtstatuen im Dionysostheater vgl. Klaus Fittschen: Eine Stadt für Schaulustige und Müßiggänger. Athen im 3. und 2. Jh. v. Chr, in: Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus, hg. von Michael Wörrle und Paul Zanker, München 1995 (Vestigia 47), S. 55‒78, hier S. 65–69; Hans R. Goette: Die Basis des Astydamas im sogenannten lykurgischen Dionysos-Theater zu Athen, in: AntK 42 (1999), S. 21–25; Papastamativon Moock: Theatre (wie Anm. 18), S. 23f. Arthur Wallace Pickard-Cambridge: The Dramatic Festivals of Athens, Oxford 21968, S. 99f.; Bernd Seidensticker: Wie die Tragiker zu Klassikern wurden, in: Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit, hg. von Wolf-Dieter Heilmeyer, Mainz 2002, S. 526‒528, hier S. 527f.

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Abb. 6: Sophokles (Typus Lateran). Römische Kopie nach der Statue des Dichters in der ‚lykurgischen‘ Tragikerweihung (338–326/325 v. Chr.). Rom, Vatikanische Museen

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Retrospektive Strömungen im Hellenismus

Weitere, zum Teil signifikante Schritte zu einer intensiven Betonung der ‚großen‘ Vergangenheit Athens fanden seit der frühhellenistischen Zeit statt. Zugleich ist der Hellenismus diejenige Epoche, in der auswärtige Stifter zum ersten Mal dezidiert Bezug auf klassische Denkmäler Athens nehmen und sich auf diese Weise in Beziehung zur ‚großen‘ Vergangenheit Athens setzen oder aber von den Athenern selbst vor dem Hintergrund klassischer Bauten repräsentiert werden. 3.1

Früh- und Hochhellenismus

Zu den zentralen Sehenswürdigkeiten Athens gehörten nach der frühhellenistischen Stadtbeschreibung des Herakleides Kritikos unter anderem die Akropolis und das Dionysostheater.21 Insbesondere die prestigeträchtigen Bauten auf der 21

Herakl. Krit. 1,1–5; Friedrich Pfister: Die Reisebilder des Herakleides. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar mit einer Übersicht über die Geschichte der

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Akropolis galten weiterhin als Inbegriff athenischer ‚Blütezeit‘ und Vormachtstellung im 5. Jh. v. Chr. und wurden seit Alexander d. Gr. gerne mit der Repräsentation von Herrschern (und später Kaisern) verknüpft. In diesem Kontext ist auch der Besuch des römischen Feldherrn Aemilius Paullus zu erwähnen, der bei seiner Reise durch Griechenland im Jahr 168 v. Chr. unter anderem Athen besichtigte und der Athena auf der Akropolis opferte.22 Die Anbringung vergoldeter Schilde als monumentalisierte Siegesanatheme an den Architraven des Parthenon und damit des größten und repräsentativsten Tempels auf der Akropolis (Abb. 7 u. 8) war zum einen sehr vorteilhaft für Alexander d. Gr. und weitere königliche Stifter der hellenistischen Zeit;23 darüber hinaus unterstrichen die prächtigen Anatheme aber auch das hohe Ansehen des zentralen städtischen Heiligtums Athens. Während die Stifter der Schilde auf diese Weise der Athena dankten und ihre aktuellen Siege zugleich mit der machtpolitischen Blütezeit Athens in der perikleischen Epoche verbanden, profitierten die Athener jeweils von ebendieser Evokation vergangener Größe ihrer Stadt sowie von prächtigen neuen Anathemen, deren schimmernder Glanz bereits von Weitem zu sehen gewesen sein muss. Ähnliches dürfte für das goldene Medusenhaupt gelten, das Antiochos III. oder Antiochos IV. hoch über dem Dionysostheater an der Südmauer der Akropolis montieren ließ.24

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griechischen Volkskunde, Wien 1951 (Österreichische Akademie der Wissenschaften [Wien] bzw. Philosophisch-Historische Klasse: Sitzungsberichte 227,2); Fittschen: Stadt (wie Anm. 19), S. 55–60; Alexander Arenz: Herakleides Kritikos „Über die Städte in Hellas“. Eine Periegese Griechenlands am Vorabend des Chremonideischen Krieges, München 2006. Liv. 45,27,11–45,28,1; Christian Habicht: Athen. Die Geschichte der Stadt in hellenistischer Zeit, München 1995, S. 217f. Arr. An. 1,16,7; Plut. Alex. 16,17–18; Manolis Korres: The Parthenon from Antiquity to the 19th Century, in: The Parthenon and its Impact in Modern Times, hg. von Panagiotes Tournikiotis, Athen 1994, S. 136‒161, hier S. 138f. mit Abb. 1 und 2; Schenkungen hellenistischer Herrscher an griechische Städte und Heiligtümer I: Zeugnisse und Kommentare, hg. von Klaus Bringmann und Hans von Steuben, Berlin 1995, S. 17f., Kat. Nr. 2; Jeffrey M. Hurwit: The Athenian Acropolis. History, Mythology, and Archaeology from the Neolithic Era to the Present, Cambridge et al. 1999, S. 253f.; Lambert Schneider und Christoph Höcker: Die Akropolis von Athen. Eine Kunst- und Kulturgeschichte, Darmstadt 2001, S. 189f.; Bernard Holtzmann: L’Acropole d’Athènes. Monuments, cultes et histoire du sanctuaire d’Athèna Polias, Paris 2003 (Antiqua 7), S. 214; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 19f. mit Abb. 15; Dyfri Williams: The East Pediment of the Parthenon: From Perikles to Nero, London 2013 (Bulletin of the Institute of Classical Studies / Supplement 118), S. 63–65; 81, Abb. 65. Paus. 1,21,3; 5,12,4; vgl. Christian Habicht: Athen in hellenistischer Zeit. Gesammelte Aufsätze, München 1994, S. 168f. (Antiochos III.); Klaus Bringmann: Die Ehre des Königs und der Ruhm der Stadt. Bemerkungen zu königlichen Bau- und Feststiftungen, in: Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus, hg. von Michael Wörrle und

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Abb. 7: Athen, Parthenon. Architrav der Ostseite mit Dübellöchern von Schildweihungen und Bronzelettern der neronischen Ehreninschrift Paul Zanker, München 1995 (Vestigia 47), S. 93‒102, hier S. 96 (Antiochos III.); Bringmann/Steuben: Schenkungen (wie Anm. 23), S. 53f., Kat. Nr. 23 (Antiochos III. oder IV.); Hurwit: Acropolis (wie Anm. 23), S. 273; Holtzmann: L’Acropole (wie Anm. 23), S. 206; Riccardo Di Cesare: L’Acropoli dall’ellenismo all’impero ‚umanistico‘. Aspetti politici di monumenti, in: Die Akropolis von Athen im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, hg. von Ralf Krumeich und Christian Witschel, Wiesbaden 2010, S. 233‒250, hier S. 235.

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Abb. 8: Athen, Parthenon. Rekonstruktion der Ostseite und des Pfeilermonuments an der Nordostecke des Tempels

Insbesondere für die Attaliden von Pergamon ist die Anbindung an klassische athenische Bauten und traditionell gerühmte Leistungen Athens in Kombination mit einer aufwendigen Selbstdarstellung gut überliefert. Die hoch aufragenden Pfeilermonumente pergamenischer Könige am Aufgang zu den Propyläen und an der Nordostecke des Parthenons (Abb. 13 u. 8), auf denen vermutlich Eumenes

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II. bzw. Attalos II. als Lenker oder Begleiter bronzener Viergespanne repräsentiert waren, stellten zunächst eindrucksvolle Monumente hellenistischer Herrscher und großzügiger Euergeten dar, die fortan den visuellen Eindruck des Burgberges und seiner statuarischen Ausstattung maßgeblich bestimmten.25 Zweifellos konnten und sollten die Pfeilermonumente der Attaliden zugleich vor dem Hintergrund der klassischen Propyläen und des Parthenons rezipiert werden und waren auf diese Weise unmittelbar mit den prächtigen Bauten aus der Zeit des Perikles und des späteren 5. Jh.s v. Chr. verbunden. Zumindest ebenso deutlich ist die ideologische Anbindung an die ‚große‘ Vergangenheit Athens bei einem weiteren Anathem der Attaliden, das zudem zu den figurenreichsten Statuengruppen der hellenistischen Zeit gehört: Mit dem ‚Kleinen Attalischen Weihgeschenk‘ ließ ein pergamenischer König namens Attalos – wahrscheinlich Attalos II. im mittleren 2. Jh. v. Chr. – nahe der Akropolis-Südmauer eine der umfangreichsten Statuengruppen der hellenistischen Zeit und der Antike überhaupt errichten. Einige Figuren dieser ursprünglich aus mehr als 120 unterlebensgroßen Bronzestatuen bestehenden Gruppe waren zwar durch römische Marmorkopien seit Langem bekannt, jedoch haben Aufbau und Konzeption des gesamten Anathems erst durch neueste Forschungen in den letzten Jahren an Gestalt gewonnen:26 Vier separate Schlachtengruppen auf hohen Sockeln zeigten 25

26

Vgl. Hurwit: Acropolis (wie Anm. 23), S. 271f.; Manolis Korres: Αναθηµατικά και τιµητικά τέθριππα στην Αθήνα και τους Δελφούς, in: Delphes. Cent ans après la Grande Fouille, hg. von Anne Jacquemin, Athen/Paris 2000 (Bulletin de correspondance hellénique 36), S. 314–325; Schneider/Höcker: Akropolis (wie Anm. 23), S. 191; Patrick Schollmeyer: Antike Gespanndenkmäler, Hamburg 2001 (Schriftenreihe Antiquitates 13), S. 107–109; Holtzmann: L’Acropole (wie Anm. 23), S. 185; François Queyrel: Les portraits des Attalides. Fonction et représentation, Paris 2003 (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 308), S. 300–304; Frank Jünger: Gespann und Herrschaft. Form und Intention großformatiger Gespanndenkmäler im griechischen Kulturraum von der archaischen bis in die hellenistische Zeit, Hamburg 2006 (Antiquitates 36), S. 318–324; 332–357; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 21f. mit Abb. 14 und 15; Williams: Pediment (wie Anm. 23), S. 66–68, Abb. 57. Da die hellenistischen Stifterinschriften heute fehlen, lässt sich kaum entscheiden, ob es sich um königliche Weihungen nach Siegen im Wagenrennen bei den Panathenäen oder vielmehr um athenische Ehrendenkmäler für die beiden auswärtigen Wohltäter handelte. Für das ‚Kleine Attalische Weihgeschenk‘ s.u. Anm. 29. Paus. 1,25,2; Tonio Hölscher: Die Geschlagenen und Ausgelieferten in der Kunst des Hellenismus, in: AntK 28 (1985), S. 123–128; Paolo Moreno: Scultura ellenistica, Rom 1994, S. 586–593; Bernard Andreae, Albert Hirmer und Irmgard ErnstmeierHirmer: Skulptur des Hellenismus, München 2001, Abb. 146–157; Christian Kunze: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation, München 2002, S. 221–226; Attalos, Athens, and the Akropolis. The Pergamene ‘Little Barbarians’ and their Roman and Renaissance Legacy, hg. von Andrew Stewart, Cambridge 2004; Erich Kistler: Funktionalisierte Keltenbilder. Die

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die siegreichen Kämpfe der Olympischen Götter gegen die Giganten, der Athener gegen die Amazonen bzw. gegen die Perser bei Marathon im Jahre 490 v. Chr. und schließlich den Sieg der Pergamener über die Gallier. Deutlicher konnte der König kaum seinen Anspruch formulieren, ebenso wie die Athener der mythischen und historischen Vergangenheit als Retter der griechischen Zivilisation vor den Barbaren zu gelten. Neben der Akropolis gehörte in der hellenistischen Zeit auch die Agora zu den wichtigsten Orten der persönlichen und insbesondere staatlichen Repräsentation. An diesem Ort wurde die Rückführung der spätarchaischen, von Xerxes nach Persien transferierten Tyrannenmördergruppe mit Sicherheit als eine der großen Euergesien Alexanders d. Gr. oder eines seiner Nachfolger gegenüber Athen wahrgenommen. Seit dem späten 4. oder früheren 3. Jh. v. Chr. waren inmitten der Agora nunmehr zwei Tyrannenmördergruppen zu sehen, die als zentrale Monumente athenischen Selbstbewusstseins galten.27 Die in einigen Fällen nachweisbare Platzierung staatlicher Ehrenstatuen in unmittelbarer Nähe zu den beiden statuarischen Gruppen stellte eine große Ehrung dar und setzte die Geehrten in unmittelbaren Bezug zur Frühgeschichte der athenischen Demokratie.28 Dies gilt beispielsweise für die makedonischen Könige Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes, die in Athen als göttliche Wohltäter

27

28

Indienstnahme der Kelten zur Vermittlung von Normen und Werten in der hellenistischen Welt, Berlin 2009, S. 65–87; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 20f.; Rita Amedick: Gallier und Orientalen, Kleinasien und Rom. Siegesmonumente in der Epoche der römischen Expansion, in: MarbWPr (2014), S. 91–117. Die in der Forschung bisher zu Recht mit dem ‚Kleinen Attalischen Weihgeschenk‘ verbundenen Marmorfiguren werden von Amedick (Gallier [ebd.], bes. S. 93–102; 113–116) neuerdings von diesem getrennt und als republikanisches Siegesmonument interpretiert; diese These und ihre Grundlagen können an dieser Stelle freilich nicht systematisch besprochen werden. Zu den von Manolis Korres identifizierten Steinen der zugehörigen Basis vgl. Manolis Korres: The Pedestals and the Akropolis South Wall, in: Attalos, Athens, and the Akropolis. The Pergamene ‘Little Barbarians’ and their Roman and Renaissance Legacy, hg. von Andrew Stewart, Cambridge 2004, S. 242–285. Paus. 1,8,5; Richard Ernest Wycherley: Literary and Epigraphical Testimonia, Princeton 1957 (The Athenian Agora 3), S. 93; Brunnsåker: Tyrant-Slayers (wie Anm. 10), S. 41; 44f. (jeweils mit weiteren Schriftquellen zur Rückführung der Gruppe durch Alexander d. Gr., Antiochos I. oder Seleukos I. in der Zeit zwischen 324 und 261 v. Chr.); vgl. Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 158–162. Nur wenige athenische Ehrendekrete enthalten das ausdrückliche Verbot einer Lokalisierung der beschlossenen Statue neben der bzw. den Tyrannenmördergruppe(n): IG II/III2 450, Z. b 7–12 (314/13 v. Chr.); IG II/III2 646, Z. 37–40 (295/94 v. Chr.); Wycherley: Testimonia (wie Anm. 27), S. 97, Nr. 278f.; Brunnsåker: TyrantSlayers (wie Anm. 10), S. 35f., Nr. 5f., vgl. Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 169–175 (mit der These, dass athenische Ehrenstatuen in anderen Fällen durchaus neben den Tyrannenmördern stehen durften).

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(σωτῆρες) kultisch verehrt wurden und zudem seit 307 v. Chr. für mehr als 100 Jahre durch vergoldete Statuen in einem Viergespann neben den beiden Gruppen von Harmodios und Aristogeiton repräsentiert waren.29 Ebenfalls im öffentlichen Bereich muss sich der ‚Elgin-Thron‘ – ein marmorner Beamten- oder Priestersessel des früheren 3. Jh.s v. Chr. – befunden haben, dessen Außenseite mit Bildern der jüngeren Tyrannenmördergruppe sowie eines Zweikampfes zwischen einem Griechen (Theseus?) und einer in die Knie gebrochenen Amazone verziert war (Abb. 9 u. 10).30 Erinnert wurde hier an die glanzvollen Taten der Athener zur Zeit des Theseus in der mythischen Vergangenheit sowie an die ‚Gründerheroen‘ der attischen Demokratie. Die bereits kurz nach den Perserkriegen ausgeprägte Tendenz der Athener, die Leistungen ihrer Stadt seit der mythischen Frühzeit wirkungsvoll zu präsentieren, wurde nicht zuletzt durch die Aktivitäten hellenistischer Herrscher seit dem späten 4. Jh. v. Chr. zweifellos weiter stabilisiert und intensiviert. Dies setzte sich auch im späten Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit fort, als

29

30

Diod. 20,46,1f.; Wycherley: Testimonia (wie Anm. 27), S. 95, Nr. 264; Haritini Kotsidu: ΤΙΜΗ ΚΑΙ ΔΟΞΑ. Ehrungen für hellenistische Herrscher im griechischen Mutterland und in Kleinasien unter besonderer Berücksichtigung der archäologischen Denkmäler, Berlin 2000, S. 34; 37f.; Löhr: Familienweihungen (wie Anm. 15), S. 150f., Nr. 172; Schollmeyer: Gespanndenkmäler (wie Anm. 25), S. 102f.; Thomas M. Brogan: Liberation honors: Athenian monuments from Antigonid victories in their immediate and broader contexts, in: The Macedonians in Athens 322–229 B.C., hg. von Olga Palagia und Stephen V. Tracy, Oxford 2003, S. 195–197; Jünger: Gespann (wie Anm. 25), S. 336–339; Ralf Krumeich und Christian Witschel: Hellenistische Statuen in ihrem räumlichen Kontext: Das Beispiel der Akropolis und der Agora von Athen, in: Stadtbilder im Hellenismus, hg. von Albrecht Matthaei und Martin Zimmermann, Berlin 2009 (Die hellenistische Polis als Lebensform 1), S. 201–203; Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 165f. Das Viergespanndenkmal wurde wahrscheinlich im Jahr 201/200 v. Chr. zerstört: Habicht: Athen (wie Anm. 22), S. 200f.; Kotsidu: ΤΙΜΗ (ebd.), S. 38. Malibu, The J. Paul Getty Museum 74.AA.12 (ehemals Broomhall, Slg. Elgin). Charles Theodore Seltman: Two Athenian Marble Thrones, in: JHS 67 (1947), S. 22– 27; Jean Marcadé: Recueil des signatures de sculpteurs grecs II, Paris 1957, S. 35f.; Brunnsåker: Tyrant-Slayers (wie Anm. 10), S. 107, Taf. 24,10; Jiri Frel: Some Notes on the Elgin Throne, in: AM 91 (1976), S. 185–188 mit Taf. 65–67; Luigi Beschi: L.S. Fauvel e il c.d. trono Elgin, in: GMusJ 5 (1977), S. 33–40 (mit präzisen Ausführungen zur Provenienz des Marmorthrones, der sich im frühen 19. Jh. neben der byzantinischen Kirche Soteira Lykodemou im Süden des Syntagma-Platzes, etwa 500 m östlich von Akropolis und Agora befand); The J. Paul Getty Museum. Handbook of the Antiquities Collection, hg. von Kenneth Lapatin und Karol Wight, Los Angeles ²2010, S. 22f.; Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 136–141; Der Neue Overbeck. Die antiken Schriftquellen zu den bildenden Künsten der Griechen, hg. von Sascha Kansteiner et al., Berlin 2014, Bd. III, S. 578f., Nr. 2454 (Sebastian Prignitz/Sascha Kansteiner).

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Athen zwar offiziell zur römischen Provinz Achaia gehörte, seine Autonomie in innenpolitischer Hinsicht jedoch weitgehend behielt.31

Abb. 9: Athenischer Marmorsessel (‚Elgin-Throne‘). Malibu, The J. Paul Getty Museum

31

Zur Geschichte Athens im 1. Jh. v. Chr. und in der römischen Kaiserzeit vgl. Daniel J. Geagan: Roman Athens: Some Aspects of Life and Culture I. 86 B.C.–A.D. 267, in: ANRW II 7,1 (1979), S. 371–437; T. Leslie Shear Jr.: Athens: From City-State to Provincial Town, in: Hesperia 50 (1981), S. 356–370.

Ein Zentrum des „wahren und unverfälschten Griechenland“

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Abb. 10: Wie Abb. 9. Repräsentation der Tyrannenmörder im Schema der jüngeren Statuengruppe (Abb. 5) an der rechten Außenseite des ‚Elgin-Thrones‘

3.2

Späthellenismus

Noch in der späthellenistischen Zeit verwiesen die Athener – gelegentlich durchaus zum Verdruss ihrer Dialogpartner – anlässlich politischer Verhandlungen auf die Taten ihrer Vorfahren in der älteren (mythischen) und jüngeren Vergangenheit.32 Weiterhin spielte(n) selbstverständlich auch die beiden Gruppen von 32

Vgl. nur Plut. Sull. 13,5; Loraux: Invention (wie Anm. 2), S. 252 (athenische Leistungen zur Zeit des Theseus und in den Perserkriegen als Argumente gegenüber Sulla).

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Harmodios und Aristogeiton eine zentrale Rolle im athenischen Selbstbewusstsein: Im Jahr 84/83 v. Chr. oder kurz danach erinnerte eine Darstellung der jüngeren Tyrannenmördergruppe auf den athenischen Silbermünzen Neuen Stils an den Sturz der angeblichen, von den Athenern selbst zuvor allerdings durchaus unterstützten ‚Tyrannen‘ Athenion und Aristion, die als Anführer Athens mit Mithridates VI. von Pontos gegen Rom paktiert hatten.33 Welch ein wichtiges und vielseitig einsetzbares politisches Kapital die Tyrannenmörder darstellten, zeigt nicht zuletzt die Repräsentation der Caesarmörder direkt neben Harmodios und Aristogeiton: Seit 44 v. Chr. standen für einige wenige Jahre bronzene Statuen von Brutus und Cassius als „Neue Tyrannenmörder“ in unmittelbarer Umgebung der beiden athenischen Tyrannenmördergruppen auf der Agora.34 Die politisch wenig zweckmäßige und nur auf wenige Jahre begrenzte Verbindung Athens mit den Caesarmördern stellte die wichtige Rolle der Tyrannenmörder als (angebliche) Protagonisten der athenischen Demokratie noch einmal deutlich ins Rampenlicht. Bereits seit dem früheren 5. Jh. v. Chr. waren in Athen historische Denkmäler entstanden, die in den meisten Fällen bis in die römische Kaiserzeit sichtbar blieben und zusammen mit den entsprechenden Inschriften, Verweisen und Praktiken ein stolzerfülltes und partiell retrospektives Klima erzeugten, dessen Respektierung in Athen und anderen Städten des kaiserzeitlichen Griechenlands Plinius der Jüngere noch im frühen 2. Jh. n. Chr. sehr empfiehlt.35 Wie Cicero in seinem Buch Über die Ziele menschlichen Handelns eindrucksvoll schildert, war Athen im Jahr 79 v. Chr. in weiten Teilen geprägt durch ein geradezu museales Ambiente, das die Erinnerung an die ‚große‘ Vergangenheit an zentralen Orten der Stadt wachhielt.36 Die Wirkung dieser ‚retrospektiven Topographie‘ Athens 33

34

35 36

Habicht: Athen (wie Anm. 22), S. 310f.; Elena Mango, Tanta vis admonitionis inest in locis. Zur Veränderung von Erinnerungsräumen im Athen des 1. Jahrhunderts v. Chr., in: Die Akropolis von Athen im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, hg. von Ralf Krumeich und Christian Witschel, Wiesbaden 2010, S. 117‒156, hier S. 123f. Zum Bild der Tyrannenmörder auf den athenischen Münzen des Neuen Stils vgl. Margaret Thompson: The New Style Silver Coinage of Athens, New York 1961 (Numismatic Studies 10), S. 371f., Taf. 130; Brunnsåker: Tyrant-Slayers (wie Anm. 10), S. 100f., Taf. 23,2; Horst Herzog: Untersuchungen zur Darstellung von Statuen auf Athener Silbermünzen des Neuen Stils, Hamburg 1996 (Schriftenreihe Antiquitates 11), S. 81–84; Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 195–198. Cass. Dio 47,20,4; Wycherley: Testimonia (wie Anm. 27), S. 95, Nr. 262; SEG 17, 1960, 75 (Fragment der Brutusbasis auf der Agora); vgl. Habicht: Athen (wie Anm. 22), S. 354f.; Krumeich/Witschel: Statuen (wie Anm. 29), S. 208f.; Mango: vis (wie Anm. 33), S. 126f.; Azoulay: tyrannicides (wie Anm. 9), S. 198–200. Plin. epist. 8,24; s.o. Anm. 1. Cic. fin. 5,1–8 (Handlungsort ist neben der Akademie und anderen zentralen Orten Athens auch der Strand von Phaleron), vgl. Habicht: Athen (wie Anm. 22), S. 327f.; Alcock: Past (wie Anm. 1), S. 66f.; Ralf Krumeich: Vergegenwärtigung einer ‚großen‘ Vergangenheit. Zitate älterer Bildnisse und retrospektive Statuen berühmter

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auf römische oder andere fremde Besucher, aber auch auf die Athener selbst kann kaum überschätzt werden. Darüber hinaus war das Interesse römischer Auftraggeber an griechischer und hier insbesondere attischer Kunst sehr ausgeprägt. Charakteristisch hierfür sind etwa die Ladungen der im früheren 1. Jh. v. Chr. bei Mahdia (an der tunesischen Küste) und Antikythera auf dem Weg nach Italien gesunkenen Schiffe oder die Bestellung genuin athenischer Denkmäler durch vermögende römische Villenbesitzer wie Cicero.37 4

Retrospektive Strömungen in der römischen Kaiserzeit

In der Kaiserzeit setzte sich das römische Interesse am Besitz attischer Werke nahtlos fort, und nun bestellte man insbesondere Kopien oder Teilkopien bekannter athenischer Denkmäler. Die Wertschätzung griechischer Originale in Athen dürfte durch kaiserliche Aufträge zusätzlich intensiviert worden sein, die sich auf die Ausstattung großer Anlagen in Rom und Latium richteten. So ließ Augustus Marmorkopien der Erechtheionkoren anfertigen und in die Attikazone des Forum Augustum integrieren. Um 130 n. Chr. gab Kaiser Hadrian vier weitere Kopien dieser Statuen in Auftrag, die zur Ausstattung des Canopus seiner Villa in Tivoli dienen sollten.38 Der Rekurs auf die figürliche Bauplastik eines

37

38

Athener im Athen der römischen Kaiserzeit, in: Original und Kopie. Formen und Konzepte der Nachahmung in der antiken Kunst, hg. von Klaus Junker und Adrian Stähli, Wiesbaden 2008, S. 159‒176, hier S. 160f.; Hartmann: Relikt (wie Anm. 3), S. 31–35; Gangloff: Mémoires (wie Anm. 3), S. 7f. Vgl. Cic. Att. 1,1,7; 1,4,2; 1,6,3; 1,8,2; 1,9,3; fam. 7,23,1–3; Paul Zanker: Zur Funktion und Bedeutung griechischer Skulptur in der Römerzeit, in: Le classicisme à Rome aux Iers siècles avant et après J.-C., hg. von Thomas Gelzer und Hellmut Flashar, Genf 1979 (Entretiens sur l’antiquité classique 25), S. 283‒314, hier S. 284– 289; Richard Neudecker: Die Skulpturenausstattung römischer Villen in Italien, Mainz 1988 (Beiträge zur Erschließung hellenistischer und kaiserzeitlicher Skulptur und Architektur 9), S. 8–18; Tonio Hölscher: Hellenistische Kunst und römische Aristokratie, in: Das Wrack. Der antike Schiffsfund von Mahdia, hg. von Gisela Hellenkemper Salies et al., Köln 1994 (Kataloge des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1,2), S. 875‒888, hier S. 875; 881–884; Polyxeni Bouyia: The Era. Society – Economy – Technology, in: The Antikythera Shipwreck. The Ship, the Treasures, the Mechanism, hg. von Nikolaos Kaltsas, Elena Vlachogianni und ders., Athen 2012, S. 273‒285, hier S. 280f. Augustusforum: Paul Zanker: Forum Augustum. Das Bildprogramm, Tübingen 1968, S. 7f.; 11–13 mit Abb. 5, 25; Erika E. Schmidt: Die Kopien der Erechtheionkoren, in: AntPl 13 (1973), S. 7–19, Taf. 1–5; Martin Spannagel: Exemplaria Principis. Untersuchungen zu Entstehung und Ausstattung des Augustusforums, Heidelberg 1999 (Archäologie und Geschichte 9), S. 286f. – Villa Hadriana in Tivoli: Salvatore Aurigemma: Villa Adriana, Rom 1961, S. 109f. mit Abb. 94–99; 103–106, Taf. 6f.;

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der bekanntesten Tempel der klassischen Akropolis dokumentiert nicht zuletzt die vorbildhafte Funktion der griechischen, insbesondere in Athen entstandenen klassischen Kunst und Kultur für diese kaiserlichen Auftraggeber. Diese ideologischen Bezüge sind mehrfach besprochen worden und dienen in unserem Zusammenhang lediglich der Überleitung zu einem anderen und weniger oft behandelten Phänomen – dem kaiserzeitlichen Umgang der Athener selbst mit der ‚großen‘ Vergangenheit ihrer Stadt. Hier lassen sich zum einen eine frühkaiserzeitliche, im späten Hellenismus wurzelnde Phase und zum anderen eine solche der mittleren bis späten Kaiserzeit unterscheiden, für die neue Akzente bestimmend waren. 4.1

Retrospektive Strömungen in der frühen Kaiserzeit

Ausgeprägt ist der Rekurs auf klassische Denkmäler von Seiten der Athener in der frühen Kaiserzeit: Beim Bau des Tempels für Roma und den vergöttlichten Augustus auf der Akropolis zitierte man in den Jahren kurz nach 20 v. Chr. die Bauornamentik des nahegelegenen Erechtheion und verband das Äußere des baldachinartigen Gebäudes für den Kult dieser beiden Gottheiten (und ihre Kultstatuen?) auf diese Weise optisch intensiv mit der klassischen Epoche des 5. Jhs. v. Chr.39 Ähnliches gilt für die ungewöhnliche Ehrung des Kaisers Nero, der

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Schmidt: Kopien (ebd.), S. 19–27, Taf. 6–32; Joachim Raeder: Die statuarische Ausstattung der Villa Hadriana bei Tivoli, Frankfurt a.M. 1983, S. 299–315, bes. 311f. IG II/III2 3173; Wolfgang Binder: Der Roma-Augustus-Monopteros auf der Akropolis in Athen und sein typologischer Ort, Stuttgart 1969; Heidi Hänlein-Schäfer: Veneratio Augusti. Eine Studie zu den Tempeln des ersten römischen Kaisers, Rom 1985, S. 156–159, Kat. A 20; Paola Baldassarri, Augusto soter. Ipotesi sull’monopteros dell’acropoli ateniese, in: Ostraka 4 (1995), S. 69–84; Michael Hoff: The Politics and Architecture of the Roman Imperial Cult at Athens, in: Subject and Ruler: the Cult of the Ruling Power in Classical Antiquity, hg. von Alastair M. Small, Ann Arbor 1996 (Journal of Roman archaeology / Supplementary series 17), S. 185–194; Paola Baldassarri: ΣΕΒΑΣΤΩΙ ΣΩΤΗΡΙ. Edilizia monumentale ad Atene durante il saeculum Augustum, Rom 1998 (Archaeologica 124), S. 45–63; Thomas Schäfer: Spolia et signa. Baupolitik und Reichskultur nach dem Parthererfolg des Augustus, Göttingen 1998 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, philologischhistorische Klasse 1998,2), S. 46–67; Maria Kantiréa: Les dieux et les dieux Augustes. Le culte impérial en Grèce sous les Julio-claudiens et les Flaviens, Athen 2007 (Meletemata / Kentron Hellenikes kai Romaikes Archaiotetos, Ethnikon Hidryma Ereunon 50), S. 125–127; Ortwin Dally: Athen in der frühen Kaiserzeit – ein Werk des Kaisers Augustus?, in: Athens During the Roman Period: Recent Discoveries, New Evidence, hg. von Stauros Vlizos, Athen 2008 (Museio Mpenake: Parartēma 4), S. 43‒53, hier S. 43–47; Theodosia Stefanidou-Tiveriou: Tradition and Romanization in

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von den Athenern im Jahr 61/62 n. Chr. durch eine monumentale, aus vergoldeten Bronzelettern bestehende Inschrift am Architrav über der Eingangsseite des Parthenon gerühmt wurde (Abb. 7). Denkbar ist, dass dies in Hoffnung auf einen Besuch des Kaisers in Athen erfolgte.40 Der regierende Kaiser (und Gott) wurde auf diese Weise auch hier in engen Bezug zur klassischen Vergangenheit Athens gesetzt.41 Ein Blick auf die statuarischen Denkmäler auf der frühkaiserzeitlichen Akropolis verdeutlicht vielfältige und bemerkenswerte Formen der Ehrung auswärtiger, insbesondere römischer Honoranden, die außerhalb Athens kaum bezeugt sind und zudem zeitspezifische Formen des athenischen Umgangs mit der ‚großen‘ Vergangenheit sichtbar machen. Seit der späthellenistischen Zeit wurde die Athener Akropolis zunehmend zu einem der zentralen Aufstellungsorte für staatliche Ehrenstatuen, die seit etwa 120 v. Chr. auch für Römer und Klientelkönige Roms beschlossen wurden. In der Regel handelte es sich um neu errichtete lebens- oder leicht überlebensgroße Bronzestatuen, die sich durch ihre Kombinati-

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the Monumental Landscape of Athens, in: Athens During the Roman Period: Recent Discoveries, New Evidence, hg. von Stauros Vlizos, Athen 2008 (Museio Mpenake: Parartēma 4), S. 11‒40, hier S. 21–23; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 9f. (mit weiterer Literatur). Die genaue Position des Monopteros auf der Akropolis ist bis heute nicht gesichert. Entgegen der communis opinio nicht als Fundament in Frage kommt das östlich des Parthenon gelegene, annähernd quadratische Quaderfeld, da dieses erst oberhalb (und damit nach) einer spätkaiserzeitlichen oder byzantinischen Zisterne angelegt wurde; vgl. Binder: Roma (ebd.), S. 28–33 und jetzt auch Johannes Fouquet: Der Roma-Augustus-Monopteros auf der Athener Akropolis. Herrscherkult und Memoria „ad Palladis templi vestibulum“?, in: Thetis 19 (2012), S. 66–77. IG II/III2 3277; vgl. Kevin K. Carroll: The Parthenon Inscription, Durham 1982 (Greek, Roman and Byzantine monographs 9); Korres: Parthenon (wie Anm. 23), S. 139f. mit Abb. 1; Kantiréa: dieux (wie Anm. 39), S. 123–125; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 23f. mit Abb. 15; Williams: Pediment (wie Anm. 23), S. 80–84 mit Abb. 65. Zur inhaltlichen Bedeutung der Inschrift s. insbesondere Carroll: Parthenon (ebd.), S. 59–63, und Williams: Pediment (wie Anm. 23), S. 84, nach dem diese Ehrung Neros auch in Verbindung mit einer frühkaiserzeitlichen Reparatur des Parthenon-Ostgiebels (vgl. ebd., 68–78) stehen könnte. Die bronzenen Buchstaben nehmen Rücksicht auf die in der frühen Kaiserzeit offenbar noch existenten Schildweihungen frühhellenistischer Zeit (s.o. Anm. 23 mit Abb. 7 und 8) und den pergamenischen Pfeiler an der Nordostecke des Tempels: Korres: Parthenon (ebd.), S. 139f. mit Abb. 1f. Die prächtigen Buchstaben dürften nach dem Tod des Kaisers allerdings bald wieder entfernt worden sein, vgl. Carroll: Parthenon (wie Anm. 40), S. 7; vgl. auch u. Anm. 53 u. 54 zu den Statuen des Hadrian und der Iulia Domna in Parthenon bzw. Erechtheion.

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on mit traditionell niedrigen Quaderbasen in eine seit spätarchaischer Zeit bestehende Tradition der Präsentation von Statuen auf der Akropolis einreihten.42 Noch eindrucksvoller war auf der Akropolis allerdings die vom früheren 1. Jh. v. Chr. bis zur julisch-claudischen Zeit belegte Praxis der Wiederverwendung älterer Statuen (Abb. 11 u. 12): Durch einfache Umschreibung der älteren Inschriften und in der Regel ohne jede Änderung der Anatheme selbst wurden klassische und hellenistische Statuen griechischer, zumeist athenischer Stifter zu Ehrenstatuen für Römer und Klientelkönige Roms (wie Herodes I. von Iudaea oder Rhaskuporis I. von Thrakien) sowie ihrer weiblichen Angehörigen erklärt.43 Die neuen Honorand(inn)en erschienen auf der Akropolis daher nun zumindest hinsichtlich des Statuenkörpers in einem genuin griechischen bzw. athenischen ‚Kostüm‘ mit Chiton und Himation oder aber – bei männlichen Figuren – vollständig oder weitgehend nackt oder aber gepanzert.44 In einigen Fällen waren sie darüber hinaus in erstaunlich dynamischer Ausfallstellung repräsentiert und somit aufs Engste mit Repräsentationsformen (früh-)klassischer bzw. hellenistischer Zeit verbunden. In vielen Fällen kennzeichneten die beibehaltenen originalen Künstlersignaturen die Statuen zudem als qualitätvolle Originalwerke be42

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Zur auffällig traditionellen Typologie der Statuenbasen auf der Athener Akropolis vgl. Krumeich: Ehrung (wie Anm. 16), S. 145f.; 153. Vgl. Horst Blanck: Wiederverwendung alter Statuen als Ehrendenkmäler bei Griechen und Römern, Rom 1969 (Studia archaeologica 11), S. 11–25; 77–85; Julia L. Shear: Reusing statues, rewriting inscriptions and bestowing honours in Roman Athens, in: Art and Inscriptions in the Ancient World, hg. von Zarah Newby und Ruth Leader-Newby, Cambridge et al. 2007, S. 221–246; Catherine Marie Keesling: The Hellenistic and Roman Afterlives of Dedications on the Athenian Akropolis, in: Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 303–327; Ralf Krumeich: Vor klassischem Hintergrund. Zum Phänomen der Wiederverwendung älterer Statuen auf der Athener Akropolis als Ehrenstatuen für Römer, in: Krumeich/Witschel: Akropolis, S. 329–398; Anna Heller: D’un Polybe à l’autre: statuaire honorifique et mémoire des ancêtres dans le monde grec d’époque impériale, in: Chiron 41 (2011), S. 294– 302; Ralf Krumeich: Denkmäler für die Ewigkeit? Zum Fortbestehen kollektiver und individueller Erinnerung bei wiederverwendeten Statuen auf der Athener Akropolis, in: Weiter- und Wiederverwendungen von Weihestatuen in griechischen Heiligtümern, hg. von Christina Leypold und Jochen Griesbach, Rahden 2014 (Zürcher archäologische Forschungen 2), S. 71–86; Krumeich: Ehrung (wie Anm. 16); Ralf Krumeich und Achim Lichtenberger: „Seiner Wohltätigkeit wegen.“ Zur statuarischen Repräsentation Herodes’ I. von Iudaea, in: JdI 129 (2014), S. 184–192 (Herodes I.). Zur Systematik der Statuenumschreibungen auf der Athener Akropolis sowie zur Relation zwischen neu aufgestellten und wiederverwendeten Statuen (ca. 15 Prozent des Materials) in diesem Heiligtum vgl. Krumeich: Denkmäler (ebd.), S. 76, Taf. 15d. Ähnliches dürfte zumeist auch für die Bildnisköpfe der Statuen gelten, deren Köpfe (insbesondere bei weiblichen Figuren) mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in allen Fällen ausgetauscht wurden; vgl. Blanck: Wiederverwendung (wie Anm. 43), S. 115f.; Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 346–350.

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rühmter griechischer Künstler des 5. bis 1. Jhs. v. Chr.45 Die von Cicero und Dion Chrysostomos harsch kritisierte Wiederverwendung älterer Statuen hatte für die auf diese Weise geehrten Personen zweifellos durchaus positive Konnotationen.46

Abb. 11: Wie Abb. 12. Zeichnung von Ober- und Vorderseite der Basis 45

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Hinzu kam die Tatsache, dass beibehaltene oder auszugsweise wiederholte primäre Stifterinschriften an die athenische Identität des oder der ursprünglich Dargestellten erinnerten; zu dieser für Athen (und Oropos) charakteristischen Umschreibungspraxis vgl. Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), bes. S. 361–367; Krumeich: Denkmäler (wie Anm. 43), S. 76–81. Cic. Att. 6,1,26; Dion Chrys. 31. Für die positiven Aspekte der Wiederverwendung vgl. Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 364–366; Krumeich: Denkmäler (wie Anm. 43), S. 80.

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Ralf Krumeich

Abb. 12: Basis eines Anathems der Athener Thrasyllos und Gnathios (480–460 v. Chr.), wiederverwendet für L. Aemilius Paullus (Konsul 1 n. Chr.). Athen, Akropolis

Einige prominente Fälle der Ehrung fremder Honoranden auf der Akropolis sind geeignet, die athenische Ehrenpraxis des späten Hellenismus und der frühen Kaiserzeit weiter zu beleuchten: In frühaugusteischer Zeit (27–12 v. Chr.) ehrten die Athener Agrippa, den Schwiegersohn des regierenden Kaisers Augustus, durch eine Statue in einem leicht überlebensgroßen bronzenen Viergespann, das nun als neu angefertigtes Monument auf dem pergamenischen Pfeiler des früheren 2. Jh.s v. Chr. vor den Propyläen platziert wurde.47 Handelte es sich hier (ähnlich wie bei dem Pfeilermonument im Nordosten des Parthenon [Abb. 8]) ‚lediglich‘ um die Weiterverwendung eines älteren Pfeilermonuments fremder Stifter auf der Akropolis, so lässt sich in der frühen Kaiserzeit zumindest in zwei Fällen eine ausgeprägte Bereitschaft zur Verbindung aktueller (nichtathenischer) Honoranden mit der eigenen athenischen Vergangenheit beobachten. Dies gilt für die Ehrung des Prinzen Germanicus durch eine unterlebensgroße Reiterstatue vor den Propyläen, die im Jahr 18 n. Chr. – zusammen mit einer weiteren, für uns anonymen Reiterfigur auf der nördlichen Ante des Propyläen-Unterbaus – neben der Treppe zur Terrasse des Athena-Nike-Tempels errichtet wurde (Abb. 13). Als Sockel dieses Denkmals nutzte man eine hochklassische Quaderbasis aus pentelischem Marmor, die ursprünglich ein von Lykios verfertigtes, aus Pferd und Pferdeführer bestehendes Anathem der athenischen Ritter aus dem 47

IG II/III2 4122; William Bell Dinsmoor: The Monument of Agrippa at Athens, in: AJA 24 (1920), S. 83; Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 22, Abb. 14. Zum wiederverwendeten hellenistischen Pfeilermonument s.o. Anm. 25 und 26.

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mittleren 5. Jh. v. Chr. getragen hatte.48 Anlässlich der Weiterverwendung der Basis wurden die originale Weihinschrift der athenischen Ritter sowie die Lykios-Signatur auf der neuen Vorderseite des gedrehten Steins in klassizistischen Buchstaben wiederholt, wodurch sich ein klarer inhaltlicher und formaler Bezug zur klassischen Zeit Athens ergab.49 Für alle Besucher der Akropolis war der auch in Athen höchst beliebte Prinz erkennbar als kaiserzeitlicher ‚Repräsentant‘ der athenischen Reiterei der perikleischen Zeit geehrt; seine eigentliche Identität verrieten freilich der hier zu postulierende Porträtkopf des Prinzen sowie eine unterhalb des Monuments zu lesende Ehreninschrift.50 Ähnlich bemerkenswert und programmatisch war die Repräsentation eines aus Syrien stammenden Euergeten namens Iulius Nikanor, der von den Athenern im frühen oder mittleren 1. Jh. n. Chr. durch zwei Statuen auf der Akropolis und jeweils eine weitere in Piräus und Eleusis geehrt und hier in allen Fällen als „Neuer Homer“ und „Neuer Themistokles“ gerühmt wurde; in zwei Fällen war Nikanor durch Sitzstatuen repräsentiert, die offenbar auf die (angeblichen) dichterischen Qualitäten des Honoranden verwiesen.51 Demnach waren die Athener in der frühen Kaiserzeit offenbar ohne Weiteres bereit, ihre eigene Vergangenheit mit fremden Honoranden in gewisser Weise zu teilen und diese nicht allein in einem griechischen bzw. athenischen ‚Kostüm‘ zu repräsentieren, sondern auch in engster Verbindung zu Protagonisten ihrer eigenen, athenischen Geschichte.

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IG I3 511, IG II/III2 3260; vgl. Raubitschek: Dedications (wie Anm. 7), S. 146–152, Nr. 135; Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 355–360; 366f. mit Abb. 30–36. IG I3 511. Die gleichen Zeilen waren nun auch auf der Basis der zweiten Reiterfigur zu lesen, die vermutlich zur gleichen Zeit als Pendant im Norden des Akropolisaufgangs errichtet wurde. Von Pausanias wurden die beiden Reiterstatuen aufgrund der jeweils wiederholten klassischen Inschrift mit der Nennung eines Hipparchen namens Xenophon irrtümlich für eine (mögliche) Repräsentation der Söhne des (Historikers) Xenophon gehalten: Paus. 1,22,4; vgl. Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 358f. Für weitere Bezüge der neu angefertigten Reiterstaue des Germanicus auf das hochklassische Monument der athenischen Reiter (Unterlebensgröße, Zügelhalter) s. Krumeich: Hintergrund (ebd.), S. 357; 359f. IG II/III2 3260. IG II/III2 3786–3789; Kevin Clinton: Eleusis. The Inscriptions on Stone I, Athen 2005 (Bibliotheke tes en Athenais Archaiologikes Hetaireias), S. 328, Nr. 362, Taf. 167 (Eleusis); vgl. Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 360f. mit Abb. 37f.; zu Person und Chronologie des Geehrten s. ebd., S. 360, Anm. 156. Sitzstatuen: IG II/III2 3787 (Akropolis); 3789 (= Clinton: Eleusis [ebd.], S. 328, Nr. 362; Eleusis). Für Analogien zum erstaunlich rühmenden Epitheton „Neuer Themistokles“ im kaiserzeitlichen Athen und anderen Städten; vgl. Louis Robert: Une épigramme satirique d’Automédon et Athènes au début de l’Empire. Anthologie Palatine XI 319, in: REG 94 (1981), S. 338–361; Heller: Polybe (wie Anm. 43), S. 309f.

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Ralf Krumeich

Abb. 13: Athen, Akropolis. Reiterstatue des Germanicus vor den Propyläen (18 n. Chr.). Rekonstruktion

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Retrospektive Strömungen in der mittleren Kaiserzeit

Dies sollte sich in der mittleren Kaiserzeit ändern. In der lokalen Bronzeprägung feierte man nun zentrale Monumente athenischer Topographie und Geschichte und verwies auf die großen Leistungen Athens bei der Abwehr der Barbaren in mythischer und historischer Zeit: Bildthemen waren hier unter anderem die Akropolis, das Dionysostheater sowie Theseus, Miltiades und Themistokles als siegreiche athenische Anführer bzw. Feldherren der Vergangenheit (Abb. 14) sowie Protagonisten in der Abwehr barbarischer Angriffe auf die griechische Zivilisation.52 Traditionell wirkt die Stiftung einer Hadrianstatue im Parthenon, deren prominenter Platz an Praktiken der klassischen Zeit erinnert, als Themistokles oder Iphikrates durch in persönlichem Auftrag entstandene Bildnisse in diesem Tempel und damit vor dem Hintergrund eines der prächtigsten Gebäude der perikleischen Epoche repräsentiert wurden.53 Neue Maßstäbe galten dagegen offenbar für ein goldenes agalma der Iulia Domna im Parthenon sowie für ein weiteres Kultbild derselben Kaiserin, das seit dem späten 2. Jh. n. Chr. zusammen mit demjenigen der Athena Polias im Erechtheion zu sehen war.54 Der Kult der lebenden und göttlich verehrten Kaiserin war auf diese Weise zugleich eng mit der prachtvollen Athena Parthenos des Pheidias und dem uralten Xoanon der Stadtgöttin Athena Polias verbunden und damit zugleich mit Kultbildern, welche ihrerseits die Blütezeit der perikleischen Epoche bzw. die weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte der Akropolis evozierten.

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Hans-Christoph von Mosch: Das panegyrische Münzprogramm Athens in der Kaiserzeit, in: Retrospektive: Konzepte von Vergangenheit in der griechischrömischen Antike, hg. von Martin Flashar, Hans-Jürgen Gehrke und Ernst Heinrich, München 1996, S. 159‒178, hier S. 161; 164; 168; 172, Abb. 6; 32–34; 42–44; HansChristoph von Mosch: Bilder zum Ruhme Athens. Aspekte des Städtelobs in der kaiserzeitlichen Münzprägung Athens, Mailand 1999 (Nomismata 4), S. 57–68; 71f., Abb. 60–62; 67; 79–81; 85–87. Hadrian: Paus. 1,24,7; vgl. Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 24; Francesco Camia: Theoi Sebastoi. Il culto degli imperatori romani in Grecia (provincia Achaia) nel secondo secolo d.C., Athen 2011, S. 55f. Zu den Bildnissen des Themistokles und des Iphikrates im Parthenon s.o. Anm. 17. IG II/III2 1076, Z. 15f.; 27f.; James H. Oliver: Julia Domna as Athena Polias, in: Athenian Studies Presented to W. S. Ferguson, HarvStClPhil Suppl. 1, Cambridge (Mass.) 1940, S. 521–530 (hier Z. 23–25; 33f.); Krumeich/Witschel: Akropolis (wie Anm. 1), S. 24; Camia: Theoi (wie Anm. 53), S. 87f.; Achim Lichtenberger: Severus Pius Augustus. Studien zur sakralen Repräsentation und Rezeption der Herrschaft des Septimius Severus und seiner Familie (193–211 n. Chr.), Leiden 2011 (Impact of Empire 14), S. 371f.

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Abb. 14: Themistokles als siegreicher Feldherr. Athenische Bronzemünze des 2. Jhs. n. Chr. Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen

Neuartige Formen kommen auch in Bezug auf die statuarische Ehrung seit Langem verstorbener und aktueller Honoranden auf. So blieb die Wiederverwendung klassischer und hellenistischer Statuen auf der Akropolis (und vermutlich in der gesamten Stadt) ein Phänomen des späten Hellenismus und der frühen Kaiserzeit und wurde seit der flavischen Zeit offenbar nicht mehr praktiziert; augenscheinlich war man nun nicht mehr bereit, ältere athenische Statuen ganz oder weitgehend unverändert auf Römer oder andere Honoranden umzuschreiben bzw. die athenische Tradition mit Fremden zu teilen.55 Auf der anderen Seite 55

Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 363f.; Krumeich: Denkmäler (wie Anm. 43), S. 80f. Seit etwa 69 n. Chr. wurden offenbar lediglich Basen älterer Anatheme wiederverwendet, nicht aber die Statuen selbst. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Tilgung der rühmenden Beinamen „Neuer Homer“ und „Neuer Themistokles“ auf fast allen Statuenbasen des Iulius Nikanor, die spätestens in trajanischer Zeit bereits von Dion Chrys. 31,116 kritisiert wurde; vgl. Krumeich: Hintergrund (wie Anm. 43), S. 360f.

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spielen retrospektive Statuen berühmter Athener der Vergangenheit eine immer größere Rolle.56 Besonders deutlich konkretisierte sich die Evokation athenischer Vergangenheitsbezüge im Dionysostheater. Spätestens in antoninischer Zeit gehörten Statuen des Miltiades und des Themistokles (jeweils mit einem gefangenen Perser) zur Ausstattung dieses Theaters, und im 2. Jh. n. Chr. ließen die Athener leicht überlebensgroße bronzene Sitzstatuen der Dichter Thespis und Aischylos anfertigen, die hier fortan zusätzlich zu den spätklassischen (stehenden) Statuen der drei ‚großen‘ Tragiker des 5. Jh.s v. Chr. an die zentrale Rolle Athens bei der Etablierung dramatischer Aufführungen erinnerten.57 Die retrospektiven, auf die ‚große‘ Vergangenheit Athens fokussierten Strömungen wurden nicht allein auf einer offiziellen Ebene gefördert, sondern natürlich auch von den Bewohnern der Stadt getragen und im Rahmen der persönlichen oder familiären Repräsentation instrumentalisiert. So ließen sich athenische Familien Stammbäume rekonstruieren, die bis zu Themistokles, Perikles oder Konon zurückreichten und die eigene Person und Familie somit aufs Engste mit der Blütezeit des klassischen Athen verbanden;58 es handelte sich keineswegs lediglich um interne familiäre Dokumente, sondern um repräsentative, öffentlich zur Schau gestellte Inschriften zur Rühmung aristokratischer athenischer Familien. Ähnliches galt für einen beträchtlichen Anteil kaiserzeitlicher Kosmeten, die zeitweise als Direktoren eines Gymnasions (des Diogeneion?) in Athen fungierten.59 Die Bildnisköpfe dieser athenischen Aristokraten des 2. und 3. Jh.s sind 56

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Zum Folgenden vgl. Krumeich: Vergegenwärtigung (wie Anm. 36). Für eine frühkaiserzeitliche retrospektive Statue des Redners Lykurg auf der Agora, die nicht weit entfernt von der frühhellenistischen Statue des gleichen Staatsmanns (aus dem Jahr 307/06 v. Chr.) gestanden haben kann, s. IG II/III2 4259; Gisela Marie Augusta Richter: The Portraits of the Greeks, London 1965, Bd. II, S. 212, Abb. 1366; Krumeich: Vergegenwärtigung (ebd.), S. 171f., Abb. 7; die Bezeichnung „Lykurg, der Redner“ dokumentiert hier die große Distanz zwischen der Lebenszeit des Dargestellten und der Anfertigung der kaiserzeitlichen Statue. Miltiades und Themistokles (in Orchestra oder Skenengebäude): Schol. Aristeid. 3,154; Richter: Portraits (wie Anm. 56), Bd. I, S. 95; 98; Krumeich: Bildnisse (wie Anm. 5), S. 86f.; 148f.; Krumeich: Vergegenwärtigung (wie Anm. 36), S. 166f. – Tragikerstatuen des 2. Jhs.: IG II/III2 4264, 4265; Richter: Portraits (ebd.), S. 73f., Nr. 2, Abb. 266f.; S. 121f., Abb. 610; Krumeich: Bildnisse (ebd.), S. 167–169, Abb. 3f.; auf den explikativen Zusatz „Tragödiendichter“ (vgl. o. Anm.57) konnte man im Kontext des Theaters verzichten. Zur ‚lykurgischen Tragikerweihung‘ s.o. Anm. 19. Kevin Clinton: A Family of Eumolpidai and Kerykes Descended from Pericles, in: Hesperia 73 (2004), S. 39–57, bes. S. 54–56; Krumeich: Vergegenwärtigung (wie Anm. 36), S. 160; Heller: Polybe (wie Anm. 43), S. 308–310 (auch zu Beispielen aus Sparta). Kosmetenhermen: Paul Graindor: Les cosmètes du Musée d’Athènes, in: BCH 39 (1915), S. 241–401; Elena Lattanzi: I ritratti dei cosmeti nel Museo Nazionale di Ate-

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Ralf Krumeich

zum einen wie viele andere Porträts der römischen Kaiserzeit deutlich durch ikonographische Anleihen am zeitgenössischen Kaiserporträt gekennzeichnet – als ‚Zeitgesichter‘ zitierten sie das Bildnis des regierenden oder eines kürzlich verstorbenen Kaisers. Charakteristisch für etwa 25 Prozent dieser Gruppe athenischer Bildnisse sind darüber hinaus eindeutig retrospektive Bildnisse, die durch typologische und ikonographische Anleihen bei Porträtstatuen berühmter Athener wie etwa des Xenophon, des Platon oder des Aischines gekennzeichnet sind und hierdurch eindeutig Bezug auf die ‚große‘ athenische Vergangenheit nehmen. Ein Beispiel hierfür ist die Porträtherme eines Kosmeten severischer Zeit, dessen langer Vollbart keine Parallelen im zeitgenössischen Porträt findet; in dieser Hinsicht lässt sich der Kopf jedoch sehr gut mit dem spätklassischen, um 350/340 v. Chr. entstandenen Bildnis des Platon vergleichen, dessen originale Porträtstatue sich noch im 3. Jh. n. Chr. ganz in der Nähe befand (Abb. 15 u. 16).60 Retrospektive Tendenzen wurden im Athen der mittleren Kaiserzeit nicht allein weiter gepflegt und intensiviert, sondern – und dies kann als zeitspezifisches Phänomen interpretiert werden – im 2. und 3. Jh. n. Chr. offenbar ausschließlich zugunsten einer Überhöhung Athens und seiner historischen bzw. kulturellen Verdienste insgesamt oder aber im Rahmen der Repräsentation athenischer Familien und einzelner athenischer Aristokraten verwendet. Diese Fokussierung stellt eine auffällige Konzentration athenischer Interessen auf athenische Belange dar; umgekehrt kann man allerdings auch von einer Einschränkung der bis zur iulisch-claudischen Zeit genutzten Möglichkeiten von Instrumentalisierungen der ‚großen‘ Vergangenheit Athens sprechen.

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ne, Rom 1968 (Studia archaeologica 9); Ralf Krumeich: ‚Klassiker‘ im Gymnasion. Bildnisse attischer Kosmeten der mittleren und späten Kaiserzeit zwischen Rom und griechischer Vergangenheit, in: Paideia: The World of the Second Sophistic, hg. von Barbara E. Borg, Berlin 2004 (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 2), S. 140–149; Eve D’Ambra: Kosmetai, the Second Sophistic, and Portraiture in the Second Century, in: Periklean Athens and Its Legacy. Problems and Perspectives, hg. von Judith M. Barringer und Jeffrey M. Hurwit, Austin 2005, S. 201–216; Thoralf Schröder: Porträtstilisierungen der lokalen Eliten in Athen im 2. und 3. Jh. Kontinuität oder Umbruch in severischer Zeit? Mit einem Beitrag zur kaiserlichen Selbstdarstellung des Jahres 193, in: Repräsentationsformen in severischer Zeit, hg. von Stephan Faust und Florian Leitmeir, Berlin 2011, S. 34–76. Nikolaos Kaltsas: Sculpture in the National Archaeological Museum, Athens, Athen 2002, S. 334, Kat. 706; Krumeich: Klassiker (wie Anm. 59), S. 142, Abb. 9 und 11. – Platon (Typus Boehringer): Diog. Laert. 3,25; Richter, Portraits (wie Anm. 56), Bd. II, S. 164–170, Abb. 903–926, 930–953, 957–959; Zanker: Maske (wie Anm. 19), S. 70–79; Karl Schefold: Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker, Basel ²1997, S. 134–137, Abb. 58; Ralf Krumeich: Porträts und Historienbilder der klassischen Zeit, in: Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit, hg. von WolfDieter Heilmeyer, Mainz 2002, S. 209‒240, hier S. 235f., Kat. 130; Vorster: Porträts (wie Anm. 19), S. 399–402, Abb. 370, 371.

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Abb. 15: Platon (Typus Boehringer). Römische Kopie nach einem Original der Zeit um 350/340 v. Chr.). München, Glyptothek

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Abb. 16: Kopf eines athenischen Kosmeten severischer Zeit. Athen, Nationalmuseum

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Zusammenfassung

In Athen war man seit dem traumatischen Erlebnis der Perserkriege an vielen Orten von Verweisen auf die mythische Frühzeit und die jüngere Vergangenheit der Stadt umgeben. Die mächtige, partiell aus Elementen des teilzerstörten Alten Athenatempels und des unvollendeten Vorparthenon erbaute Akropolis-Nordmauer führte den Bewohnern Athens und seinen Besuchern bereits seit kurz nach 480 v. Chr. das Alter der Stadt und ihre Leistung bei der Abwehr der Barbaren dauerhaft und wirkungsvoll vor Augen; ähnliche Ziele verfolgte man auf diplomatischem Wege auch durch den Einsatz umfangreicher ‚Tatenkataloge‘ in athenischen Reden. Eine Intensivierung derartiger Bezugnahmen lässt sich in der hoch- und spätklassischen Zeit feststellen: Nun verwiesen auch die zeichenhafte polygonale Aussparung in der Kalksteinummantelung der Nike-Bastion und retrospektive Ehrenstatuen für Dichter der ‚großen‘ Vergangenheit auf das Alter der Stadt bzw. ihre kulturellen Leistungen im 5. Jh. v. Chr. Wie attraktiv Athen mit seiner berühmten Vergangenheit für die Repräsentation Alexanders d. Gr., die Attaliden und andere hellenistische Könige gewesen ist, zeigen deren höchst repräsentative und keineswegs selbstlose Stiftungen auf der Akropolis, die mit ihren mächtigen Bauten einen sehr geeigneten Hintergrund für neuartige Pfeilermonumente und figurenreiche Anatheme bot. Insbesondere das Kleine Attalische Weihgeschenk belegt sehr deutlich, wie intensiv der pergamenische Stifter auf athenische Großtaten der mythischen und historischen Vergangenheit Bezug nahm und sich – einem bereits ausgeprägten athenischen Modell folgend – in die Tradition großer Kämpfe für die griechische Kultur und Zivilisation einreihte. Im Athen der römischen Kaiserzeit lassen sich im Wesentlichen zwei Schritte bei der Aktualisierung der Vergangenheit erkennen. In der frühen Kaiserzeit waren die Athener bereit, römische Kaiser und Beamte sowie Klientelkönige Roms vor dem Hintergrund des Parthenon und anderer hochklassischer Bauten zu repräsentieren. Die Weiternutzung klassischer und hellenistischer, zum Teil stark bewegter und von berühmten Künstlern signierter Statuen dokumentiert die Bereitschaft der Athener, die reiche statuarische Ausstattung der Akropolis partiell mit Fremden und insbesondere mit Römern zu verbinden. Vor diesem Hintergrund sind auch die Zitate der Bauornamentik des Erechtheion am AugustusRoma-Monopteros, der an ein hochklassisches Denkmal der athenischen Reiterei erinnernde Germanicus vor den Propyläen, die programmatische Rühmung des Iulius Nikanor als „Neuer Homer“ und (vor allem) „Neuer Themistokles“ oder die prächtige Ehreninschrift für Nero am Architrav des Parthenon zu verstehen. Die Zeiten bzw. der politische Wille scheinen sich in der flavischen Epoche in einigen Bereichen allerdings markant geändert zu haben: Während die Akropolis und der Parthenon auch weiterhin für die Repräsentation des Kaiserhauses genutzt wurden und nun gelegentlich sogar als Stätten des Kaiserkultes fungierten,

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Ralf Krumeich

sind ‚liberale‘ oder gar programmatische Verbindungen mit der großen Vergangenheit seither ausschließlich innerhalb eines innerathenischen Rahmens bezeugt. Die Weiternutzung einer älteren athenischen (Ehren-)Statue ist nach der iulisch-claudischen Zeit in keinem einzigen Fall belegt, und sämtliche Aktualisierungen der großen Vergangenheit in der mittleren Kaiserzeit wie etwa die Bilder der autonomen Bronzeprägung, die Herstellung von Kosmetenporträts mit stark retrospektiven Zügen oder die Konstruktion einschlägiger, bis auf Perikles oder andere Protagonisten des klassischen Athens zurückreichender Stammbäume finden nun ausschließlich zugunsten Athens sowie athenischer Familien und Aristokraten statt. Die hier skizzierten zeitspezifischen Charakteristika der Aktualisierung und Instrumentalisierung der großen Vergangenheit Athens verweisen zunächst auf eine notwendige, in Zukunft auf breiterer Grundlage noch weiter auszuarbeitende historische Differenzierung des Phänomens. In der Summe musste Athen mit seinen mächtigen Tempeln, statuarischen Denkmälern und anderen Erinnerungsorten, aber auch mit den seit den Perserkriegen und insbesondere seit dem 4. Jh. v. Chr. systematisch betonten retrospektiven Strömungen aus römischer Perspektive in der mittleren Kaiserzeit tatsächlich als ein bedeutendes, wenn nicht das bedeutendste Zentrum des „wahren und unverfälschten Griechenland“ wahrgenommen werden, in dem die Pflege der eigenen Identität sowie der Stolz auf große militärische und kulturelle Leistungen der Vergangenheit höchst lebendig und dynamisch waren.

Andreas Hillert

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln? Kaiserzeitliches Kunsthandwerk zwischen Virtuosität, Eklektizismus, Dekadenz und Frömmigkeit 1 Klassische Archäologie: eine Kunstwissenschaft mit vagen Methoden und konkreten Objekten? Dass sich Stil und Ikonographie im Verlauf der Zeit wandeln respektive mehr oder weniger kontinuierlichen Veränderungen unterworfen sind, ist spätestens seit Johann Joachim Winckelmann Credo und Arbeitsgrundlage der kunsthistorischen Disziplinen. Strittig war und ist nur, ob diese auch in unserem Alltag unübersehbaren Entwicklungen nach bestimmten Regeln verlaufen, seien sie linear (von primitiven Anfängen zu klassischen Höhepunkten), zyklisch (nach Überschreitung der Höhepunkte folgt Verfall, worauf die Entwicklung erneut beginnt), oder ob sie letztlich doch regellos sind und bestenfalls mit chaostheoretischen Ansätzen angemessen beschrieben werden können. Vom zugrunde gelegten Entwicklungsmodell hängt mehr ab als die Möglichkeit, Einzelobjekte einordnen und damit (möglichst genau) datieren zu können.1 Die präferierten Modelle kultureller Entwicklungsprozesse sind ihrerseits elementare Bestandteile des jeweiligen kulturellen Selbstverständnisses und damit gewissermaßen die Kommunikationsbasis, auf der wir den Dialog mit dem Altertum führen. Wenn es gilt, Erzeugnisse anderer Kulturen und Epochen zu bewerten, wird eben dies zwangsläufig zum Maßstab. Noch komplexer wird diese Konstellation dadurch, dass sich Geistes- und Wissenschaftsgeschichte ihrerseits als Abfolge wechselnder Präferenzen bezüglich der jeweiligen Kultur-Entwicklungsmodelle beschreiben lassen. Es resultiert ein dynamisches Bedingungsgefüge selbstreferierender 1

Beispielsweise Bernhard Schweitzer: Das Problem der Form in der Kunst des Altertums, in: Allgemeine Grundlagen der Archäologie, hg. von Ulrich Hausmann, München 1969 (Handbuch der Archäologie 6,1), S. 163‒204; Adolf H. Borbein: Formanalyse, in: Klassische Archäologie. Eine Einführung, hg. von dems., Tonio Hölscher und Paul Zanker, Berlin 2000, S. 109ff.; Tonio Hölscher: Klassische Archäologie. Grundwissen, Darmstadt 2002, S. 85ff., jeweils mit Literatur.

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Andreas Hillert

Bezüge und über alledem schwebt – zumal in der klassischen Archäologie – das Ziel einer möglichst korrekten Rekonstruktion der antiken Kultur und ihrer Menschen.2 Ein Genre, an dem sich die mehrdimensionalen Konsequenzen unterschiedlicher Betrachterperspektiven eindrucksvoll explizieren lassen, ist das in zahlreichen Beispielen erhaltene, unter anderem zum Essen, Trinken und/oder in kultischen Kontexten verwendete Bronzegeschirr. Während entsprechende griechische Produkte von geometrischer Zeit bis in den Hellenismus hinein gerne als genuine Werke ihrer Zeit diskutiert werden, scheint es angesichts des Stilpluralismus römischer Bronzen nahezuliegen, diese trotz mitunter hoher Qualität als primär dekorative, entsprechend profane Manufakturware und vorzugsweise als Ausdruck von ‚Luxus und Dekadenz‘ wahrzunehmen.3 2

Ein frühklassischer Sirenenkannenhenkel

„Kannenhenkel mit Sirene. L 16 cm. Profilierter, geschwungener Henkel. Als Henkelattasche eine frontale Sirene mit einem Delfin in den Fängen. 1. Hälfte 5. Jhdt. v. Chr. Schöne lindgrüne Patina. Korrosionsspuren.“ 2

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Zur Interaktion von Betrachterperspektive, Methoden und Ergebnissen der klassischen Archäologie sowie dem Stellenwert selbstreflexiver Ansätze vgl. Posthumanistische Klassische Archäologie. Historizität und Wissenschaftlichkeit von Interessen und Methoden. Kolloquium Berlin 19.2.–21.2.1999, hg. von Stefan Altekamp, Mathias R. Hofter und Michael Krumme, München 2001, S. 11ff.; Andreas Hillert: Archäologische Souvenirs aus Griechenland. Zur Wahrnehmung antiker Plastik, Keramik und Malerei im beginnenden 21. Jahrhundert, Möhnesee 2007 (Arianna 6), S. 14ff. mit Literatur. Römische Bronzegefäße wurden u.a. im Rahmen folgender, auf großes Publikumsinteresse stoßender Ausstellungen gezeigt: Pompeji Wiederentdeckt, hg. von Luisa Franchi dell’Orto und Antonio Varone, New York City, IBM Gallery of Science and Art, 12.06.1990–15.09.1990 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg im Börsensaal der Handelskammer, 30.07.1993–26.09.1993, Rom 1993; Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum, hg. von Josef Mühlenbrock und Dieter Richter, Ausstellungskatalog 21. Mai–28. August 2005, Westfälisches Römermuseum Haltern; 22. September 2005–1. Januar 2006, Pergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin; Januar–April 2006, Focke Museum, Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Mainz 2005, S. 318ff.; Luxus und Dekadenz. Römisches Leben am Golf von Neapel, hg. von Rudolf Aßkamp, Marijke Brouwer, Jörn Christiansen und Herwig Kenzler, Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung von 2007 bis 2009 an verschiedenen Orten in Deutschland und den Niederlanden sowie in Japan; Archäologische Staatssammlung, München, 7. Februar–30. August 2009, Mainz 2007, S. 249ff.; vgl. ebd. Marinella Lista: „Befreit von den sinnlosen Trinkgesetzen.“ Tafelluxus bei Gastmahl und Gelage, S. 150–159.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

Abb. 1: Kannenhenkel mit Sirenenattasche

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Abb. 2: Sirenenattasche (Ausschnitt Abb. 1)

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

Abb. 3: Kannenhenkel (Abb. 1), Seitenansicht

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Mit diesen Worten wurde in einem Auktionskatalog ein Kannenhenkel vorgestellt (Abb. 1–3).4 Eine symmetrisch angelegte, frontal gezeigte Sirene hat ihre Flügel erhoben und sichelförmig um zwei oberhalb der Schultern liegende, ausgesparte Kreise ausgebreitet. Ihr schildförmig präsentierter Körper hat die Form eines hochgestellten gleichschenkligen Dreiecks. Die leicht vorgewölbte Brust, ohne dass sich Brüste als solche abzeichnen, und die relativ dazu zurückweichenden Flügelpartien gehen konturlos ineinander über. Mittig sitzt dem Vogelkörper ein Mädchenkopf auf. Die Frisur der Sirene ist gescheitelt, wobei ihre Haare jeweils zu den Seiten und dann nach oben über einen Reif gelegt sind. Von hier aus werden die Haare in den Nacken und dann, seitlich des Halses, über Schultern und Brustkorb geführt. Hier deuten tropfenförmig-flache Eintiefungen vermutlich Lockenstränge an. Beidseits des Vogelkörpers, dessen obere Ecken bzw. Schwingen zipfelförmig gestaltet sind, setzen bogenförmig ausgerichtete Federn an, im oberen Drittel kurze und im mittleren Drittel lange, wobei die langen die kurzen überkragen. Die Federn bestehen aus feingeschwungenen, von Ritzlinien begrenzten Graden und daran anschließenden, mit feiner Strichelung optisch abgesetzten flachen Streifen. Auf den oben bis in Scheitelhöhe der Sirene geführten Flügelschwung antworten jeweils zwei im Bereich der Nackenpartie entspringende nach außen gerichtete Federn, womit sich die aus den Flügelfedern gebildeten Kreise jeweils um eine kreisförmige Öffnung schließen. Am unteren Drittel des Körpers setzen die Schwanzfedern an. Diese schwingen zunächst ein Stück weit nach unten aus, um dann in nach oben gerichteten Spitzen zu enden. Indem Letztes mit der Ausrichtung der Flügel kommuniziert, ergibt sich ein von unten nach oben sich steigernder Rhythmus. In ihren ausgestreckten Fängen hält die Sirene jeweils einen – relativ zur eigenen Größe – winzigen Fisch oder Delphin. Die Schwänze dieser Tiere stehen beidseitig symmetrisch zu den Seiten weg. Mittig unter den Fängen ist schließlich eine winzige, nicht weiter differenzierte Basis in Form eines nach unten gerichteten kleinen Bogens angedeutet. Es resultiert das emblematische Bild eines elegant schwebenden, mächtigen, die Meere beherrschenden VogelMädchens, das sich auf undefiniertem Ort, vielleicht auf einer Felsenspitze, zu voller Größe und Würde aufgerichtet hat.

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H Sirene 5,2 cm, H des Kopfes der Sirene 1,2 cm, max. Breite der Attasche 5,2 cm. Die Rückseite der ehemals am gewölbten Korpus der Kanne befestigten Attasche ist muldenförmig eingetieft. Die Oberfläche ist von mehreren, mit einem Hohlmesser geschnitzten bzw. ausgestemmten Furchen durchzogen, offenbar um die Haftung des Schmelzlotes zu erhöhen. Der Henkel wurde von Laszlo Lehóczky, RGZM Mainz, gereinigt. Auktion 119 am 16.10.2002. Kunstobjekte der Antike, hg. von Gorny & Mosch, München 2002, S. 75, Nr. 3397. Publiziert zudem in: Vorsicht Lebensgefahr! Sirenen, Nixen, Meerjungfrauen in der Kunst seit der Antike, Katalog zur Ausstellung im Winckelmann-Museum vom 20.10.2013 bis 19.01.2014, hg. von Max Kunze und Eva Hofstetter-Dolega, Ruhpolding 2013, S. 51f.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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Der Henkel oberhalb der Sirene verläuft zunächst annähernd gerade, um dann in weit gezogenem Bogen nach hinten und unten auszuschwingen, wo er mit einem fischschwanzförmigen Ansatzstück endet (Abb. 3). Rückseitig ist der Schaft abgerundet und glatt. Vorne rahmen jeweils ein Perlstab mit anschließendem abfallenden Steg und flacher Hohlkehle eine zentrale Mittelkerbe ein, aus der im Verlauf des Henkels, unterhalb des Scheitelpunktes der Krümmung, ein lanzettförmiges Blatt auswächst. Dieses endet über dem Kopf der Sirene in Form einer Blattspitze. Oberhalb der Sirenenattasche verbreitert sich der Henkel. Beidseits zwischen Lanzettblatt und Perlstäben sind schwalbenschwanzförmige, akanthusartig krause Blätter eingefügt, in deren Zwickeln jeweils ein spitz zulaufendes Blatt in den Grund eingetieft ist. Die Qualität der Bronze, sowohl was den stringenten Entwurf als auch was die handwerkliche Ausführung anbelangt, ist auffallend hoch. Nach dem Guss wurden die nicht dekorierten Teile sorgfältig geglättet und die figürlichen und ornamentalen Partien ‚kalt‘ nachgearbeitet. An der Innenseite des Henkels, vor allem unterhalb des oberen Ansatzes, sind diverse feine, vorzugsweise horizontal ausgerichtete Feilspuren erkennbar. Mit dem Nebeneinander von spiegelndglatten Partien (vor allem der Sirenenkörper), von mit kräftigen Graden gezogenen Konturen (u.a. im Bereich der Haare) und von mit feiner Graviernadel geritzten Schattierungen dürften ehemals markante optische Kontraste erzielt worden sein. Bei der Restaurierung des Stückes wurden im Bereich der auf die Brust fallenden Locken (s.u.) Reste von Silbereinlagen festgestellt. Möglicherweise waren ursprünglich alle großflächigeren Vertiefungen, insbesondere auch die Blattspitzen zwischen den schwalbenschwanzförmigen Blättern in den Zwickeln oberhalb des Sirenenkopfes und sogar die einzelnen Federn hinter den schmalen Graten bzw. Kielen, mit Silber tauschiert. Heute ist der Henkel von einer olivbis lindgrünen Patina überzogen. Kleinere Fehlstellen (u.a. der untere äußere Rand der rechten Schwinge sowie die Spitze der linken Schwanzfedern sind ausbzw. abgebrochen) und Korrosionen mit fleckig brauner, rauer Oberfläche (vor allem im oberen Bereich des Henkelschaftes, der linken Schwinge der Sirene und deren Beine) sind zu verzeichnen. Das Stück wurde, zusammen u.a. mit zwei anderen, möglicherweise aus dem gleichen Fundkontext stammenden Bronzen (s.u.), angeblich aus einer älteren, in Wien beheimateten Sammlung, die viele aus dem nordöstlichen Mittelmeerraum stammende Stücke enthielt, in die Auktion eingeliefert.5

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Für Hinweise, die Provenienz des Stückes betreffend, bin ich Herrn Dr. HansChristoph von Mosch, München, zu Dank verpflichtet.

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Sirenen: Bedeutungsebenen und Kontexte

Zwischen Dies- und Jenseits agierende Vogel-Mädchen-Mischwesen haben eine lange, bis ins alte Ägypten und das Zweistromland zurückreichende Vorgeschichte.6 Ihren prominentesten Auftritt erleben sie als Sirenen in der Odyssee.7 Sie lockten durch wohlklingenden Gesang Seefahrer an und nahmen sie so in Bann, dass deren Schiffe an todbringenden Klippen zerschellten. Odysseus, von Kirke gewarnt, ließ seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verschließen und sich selbst an den Mast binden. So gelang es ihm, gleichzeitig dem Gesang der Sirenen zu lauschen und der damit verbundenen Gefahr zu entrinnen (worauf sich die Sirenen, späterer Überlieferung zur Folge, in den Tod gestürzt haben sollen). Darstellungen von Sirenen waren, wohl im Sinne ihrer über die Gegenwart hinausweisenden (weiblichen) Schönheit, seit archaischer Zeit im Bereich der Kosmetik, auf Spiegeln bzw. als Spiegelgriffe und als Salbgefäße häufig anzutreffen. Darüber hinaus finden sich Sirenen, vereinzelt in spätarchaischer Zeit und dann häufiger vom frühen 5. Jahrhundert bis ins 4. Jahrhundert, auf Henkelattaschen von Bronzehydrien und Kalpiden (Letztere sind eine durch den fließenden Übergang von Hals und Schulter charakterisierte jüngere Form der Hydria). Dass Sirenen im Kontext dieser zu Transport, Aufbewahrung und Spende von Wasser im Kult verschiedener Gottheiten verwendeten Gefäße nicht zufällig und aus rein dekorativen Gründen auftauchen, kann vorausgesetzt werden. Die erhaltenen Bronzehydrien stammen vermutlich zum größten Teil aus Gräbern. Die Implikationen der Sirenen werden demnach beiden Kontexten angemessen gewesen sein, wobei es schwerfällt, diese ausgehend von den sporadischen schriftlichen Quellen und der archäologischen Befundlage konkreter zu formulieren. Ernst Buschor bezeichnete Sirenen im Titel seines gleichnamigen Buches als „Musen des Jenseits“, wobei dieser vor allem deren häufiges Erscheinen auf Grabdenkmälern

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Zu Sirenen allgemein Georg Weicke: Der Seelenvogel, Leipzig 1902; Ernst Buschor: Die Musen des Jenseits, München 1944, S. 5ff.; Eva Hofstetter-Dolega: Sirenen im archaischen und klassischen Griechenland, Würzburg 1990 (Beiträge zur Archäologie 19), S. 9ff.; Pferdemann und Löwenfrau. Mischwesen der Antike. Katalog zur Ausstellung der Archäologischen Staatssammlung München vom 15.12.2000– 22.04.2001, hg. von Gisela Zahlhaas, München 2000 (Ausstellungskataloge der Archäologischen Staatssammlung 31), S. 122–130 (Meerabenteuer des Odysseus / Sirenen); zuletzt ausführlich in Kunze/Hofstetter-Dolega: Vorsicht Lebensgefahr! (wie Anm. 4). Zum Sirenen-Abenteuer des Odysseus zusammenfassend Odysseus. Mythos und Erinnerung. Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst vom 1. Oktober 1999 bis 9. Januar 2000, hg. von Bernard Andreae, München 1999, S. 288–301 mit Abbildungen.

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spätklassischer Zeit würdigende Begriff dem historischen Bedeutungsspektrum des Mischwesens vermutlich nur teilweise gerecht wird.8 4

Eine Sirene mit frühklassischen und archaischen Aspekten

Die den Sirenenhenkel im Auktionskatalog beschreibenden Archäologen zögerten offenbar nicht, ihn als ein Werk aus der Zeit des Strengen Stils zu identifizieren und entsprechend in die erste Hälfte des 5. Jhdt. v. Chr. zu datieren. Der dem zugrunde liegende implizite Entscheidungsprozess lässt sich unschwer mit ikonographischen und stilistischen Argumenten nachvollziehen. Ein Vergleich mit – vereinzelt durch Fundkontexte datierten, als Gattung geläufigen – frühklassischen, von Hydrien stammenden Sirenenhenkeln (Abb. 4) legt die Datierung unseres Henkels in eben diese Zeit nahe. Insbesondere der Kopftypus und die Frisur der Sirene mit gescheitelten, über einen Reif hochgedrehten Haaren sind für diese Epoche charakteristisch, wobei die lang auf die Brust fallenden Locken als archaisches Relikt aufgefasst werden könnten. In ihrem Buch über „Die Hydria“ führte Erika Zwierlein-Diehl9 ebendiesen Typus als Untergruppe c) der Sirenenattaschen auf: „Sirenen mit Haarrolle und herabhängenden Lockensträhnen“. Relativ zu den Typen a) „Sirenen mit glatt herabhängendem Haar und Haarreif“ und b) „Sirenen mit Haarrolle“ gilt der um die Mitte des 5. Jahrhunderts nachweisbare Typ a) als stilistisch fortgeschrittener. Verglichen hiermit fehlen unserem Stück die bei Hydrienhenkeln üblicherweise seitlich unterhalb der Flügel angebrachten Dekorationselemente: Voluten bzw. aus Palmetten, Volutenleiern und teils auch aus Akanthusmotiven bestehende Gebilde. Dies ließe sich durch die geringere Größe des Kannenhen8

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Zu den Sirenenhenkeln von Hydrien zusammenfassend Erika Zwierlein-Diehl: Die Hydria. Formgeschichte und Verwendung im Kult des Altertums, Mainz 1964, zu Kalpiden mit Sirenenattaschen S. 34ff., Pl. 14–18. Seitdem sind sowohl auf Grabungen und auch im Kunsthandel zahlreiche weitere Sirenenhenkel entdeckt bzw. bekannt geworden, so z.B. ein Bronze-Hortfund des 5.–4. Jhdts. v. Chr. aus Sibirien, der u.a. fünf Hydrien, zwei Situlen und drei Amphoren enthielt, darunter eine Hydria mit Sirenenhenkel. Hierzu: Im Zeichen des goldenen Greifen. Königsgräber der Skythen. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Archäologischen Instituts und des Museums für Vor- und Frühgeschichte, hg. von Hermann Parzinger und Wilfried Menghin, Staatliche Museen zu Berlin, Martin-Gropius-Bau: 6.7.–1.10.2007; München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung: 26.10.2007–20.1.2008; Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe: 12.2.–25.5.2008, München u.a. 2007, S. 34, Abb. 5. Zudem: Julie Vocotopoulou: Le trésor de vases de bronze de Votonosi, in: BCH 99,2 (1979), S. 729–788, Nr. 5 und 6. Zu Sirenen im Kontext von Spiegeln und Spiegelgriffen s. Kunze/Hofstetter-Dolega: Vorsicht Lebensgefahr! (wie Anm. 4), S. 144ff. Zwierlein-Diehl: Die Hydria (wie Anm. 8), S. 35.

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kels begründen. Florale Ornamentik, an Pflanzenstängel erinnernde, in Akanthusbüscheln endende Henkel, sind bei Hydrien klassischer Zeit belegbar. Auch Silbereinlagen kommen hier vereinzelt vor, etwa im Kontext der Blattornamente eines Henkels oder auf dem Sirenenstirnband eines anderen.10 Zudem können Silbereinlagen vergleichsweise leicht verloren gehen, etwaige Reste fallen mitunter erst dann auf, wenn man mit technischen Mitteln danach sucht.11

Abb. 4: Sirenenhenkel von Hydrien, 5. Jhdt. v. Chr.

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Vgl. ebd., S. 35f., B 149 (Hydria in Athen, Mittelrippen der Blätter mit Silber eingelegt), B 149 a (Henkel aus Torone, Stirnband der Sirene mit Silber eingelegt); vgl. u.a. Thomas Weber: Bronzekannen. Studien zu ausgewählten archaischen und klassischen Oinochoenformen aus Metall in Griechenland und Etrurien, Frankfurt a. M./Bern 1983 (Archäologische Studien 5), S. 122f. (in Gold eingelegtes Fischgrätenmuster auf einem Kannenhenkel). Beim Kannenhenkel (Abb. 1–3) wurden die Reste der Silbereinlagen erst von einem Restaurator im Rahmen einer technischen Untersuchung nachgewiesen. Silberreste finden sich vor allem noch im scharf eingekerbten Randbereich der links auf die Schulter fallenden Lockensträhnen.

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Aber auch wenn sie ehemals nicht durch Silbereinlagen besonders hervorgehoben gewesen sein sollten, sind die Sirenenfedern unseres Kannenhenkels auffallend differenziert wiedergegeben. Selbst bei besonders sorgfältig gearbeiteten Sirenenflügeln auf Hydrien-Henkeln klassischer Zeit sind deren Federn entweder nur durch gestaffelte Zungen angedeutet oder durch parallele Linien gegeneinander abgegrenzt. Im Kontext frühklassischer Sirenenattaschen fällt unser Exemplar schließlich auch durch prägnante archaisierende Züge auf. Eine vergleichbar ornamentale, seitlich des Sirenenhalses liegende Löcher umschließende Darbietung der Flügel war bislang bei sicher aus klassischer Zeit stammenden Sirenenhenkeln nicht nachweisbar. Und symmetrisch ausschwingende Schwanzfedern wiederum finden sich vor allem im archaisch-etruskischen Bereich.12 Welche Folgerungen lassen sich aus unseren vergleichsweise detaillierten Betrachtungen der Sirenenattaschen ziehen? Grundsätzlich muss konstatiert werden, dass die Kannenhenkel-Sirene ikonographisch in mehreren Hinsichten Werken frühklassischer Zeit entspricht. Gleichzeitig weist das Stück markante archaische bzw. archaistische Züge und zudem, etwa hinsichtlich der floralen Ornamentik des Henkelschaftes und der ehemals reichen Silbereinlagen, relativ zu einer Datierung in die Zeit des strengen Stils, eher jüngere Aspekte auf. Im Kontext der weiterhin allseits offenen Diskussion um die Herstellungsorte bzw. Zentren der archaischen und klassischen Bronzegefäße ließe sich darüber spekulieren, ob das Stück gegebenenfalls von einem griechischen Bronzehandwerker im etruskisch-italischen Einflussgebiet, etwa in Kampanien, geschaffen worden sein könnte. Falls der Henkel tatsächlich im nordöstlichen Mittelmeerraum gefunden wurde, müsste das Stück bereits in der Antike exportiert worden sein, was potentiell denkbar wäre. Oder wurde es von einem griechischen Künstler im Mutterland, unter Berücksichtigung importierter und/oder seinerzeit bereits antiker archaischer Vorbilder gefertigt?13 12

13

Weber: Bronzekannen (wie Anm. 10), S. 165ff., 390, Taf. XV, Nr. III; vgl. den Sirenenhenkel in Berlin Inv. Fr. 1435; Karl Friederich: Berlins antike Bildwerke, Bd. II: Geräthe und Broncen im Alten Museum: Kleinere Kunst und Industrie im Alterthum, Düsseldorf 1871, S. 299, Nr. 1435, H. 14,9 cm sowie ebendort S. 475, Nr. 2172a; Kunst der Antike. Schätze aus norddeutschem Privatbesitz, Katalog zur Ausstellung vom 21. Januar–6. März 1977, hg. von Wilhelm Hornbostel, Hamburg 1977, Nr. 56, S. 86f.; ders.: Ein etruskischer Cistenfuß in Form einer Sirene, frühes 5. Jhdt. v. Chr.; Kunst der Etrusker. In Zusammenarbeit mit dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, bearb. von Wilhelm Hornbostel, Hamburg 1981 (Interversa 90), Nr. 98, S. 82, etruskischer Eimer mit Bügelhenkel, Attaschen in Form von Sirenenprotomen, Hakenflügeln und Vogelschwanz, frühes 5. Jhdt. v. Chr. Das grundsätzliche Problem liegt darin, dass bei leicht transportablen Objekten – wie eben Bronzegefäßen – auch dann, wenn der Fundort gesichert ist, offenbleibt, wo die Stücke hergestellt worden sind. Stilvergleiche, die als Referenz zumeist auf vergleichsweise standortgebundene Monumentalplastiken und literarisch überlieferte Informationen angewiesen sind, setzen ein hohes Maß an Abstraktion voraus, was

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Eine Sirene kommt selten allein

Relativ zur Vielzahl der aus archaischer und vor allem klassischer Zeit bekannt gewordenen Hydriensirenenhenkel sind durch Fundkontext und/oder stilistisch sicher in dieser Zeit entstandene Kannenhenkel Raritäten. Ein noch spätarchaisches Beispiel wurde in dem zu Korinth gehörenden Heiligtum von Perachora gefunden (Abb. 5). Der obere, ehemals auf der Lippe der Kanne ansetzende Teil des mit einem zentralen Grad geschmückten Henkels ist mit Gorgo-Rotellen verziert. Als Attasche fungiert eine mit hochgeschwungenen Flügeln gezeigte Sirene, jedoch ohne weiteres ornamentales Beiwerk (worin er an den Kannenhenkel Abb. 1–3 erinnert). Weitergehende stilistische Analysen werden durch die schlechte Erhaltung des Stückes limitiert. Dies gilt auch für einen ähnlichen, aus Unteritalien stammenden Sirenenkannenhenkel in Hannover.14 Wohl aus klassischer Zeit stammt

14

zwangsläufig erheblichen Raum für individuelle Gewichtungen lässt: Was ist charakteristisch/typisch/unabdingbar für korinthischen oder attischen Stil im jeweiligen Genre etc. (vgl. Anm. 1)? Selbst wenn eine Bestimmung etwa als ‚korinthisch‘, zutreffen sollte, was de facto bislang kaum durch Außenkriterien abzusichern ist, wäre damit noch nicht den Möglichkeiten Rechnung getragen, wonach a) antike Handwerker bzw. Werkstätten potentiell mobil gewesen sind und b) dass entsprechende Stücke bereits in der Antike abgeformt worden sein könnten bzw. Abgüsse/Modelle kursierten. Angesichts dessen verwundern die unter Experten oft umstrittenen Zuweisungen von Kleinbronzen, Bronzegeräten etc. nicht; eines von unzähligen diesbezüglichen Beispielen siehe etwa Anm. 15. Bei Tonstatuetten lässt sich die Ausformung z.B. ostgriechischer Aphrodite-Typen in Unteritalien anhand des üblicherweise lokalen Tons aufzeigen, z. B. Hauch des Prometheus. Meisterwerke in Ton, Katalog zur Ausstellung der griechischen Terrakotten in der Staatlichen Antikensammlung in München 1996, hg. von Friedrich Wilhelm Hamdorf, München 1996, S. 40ff. Mit erheblichen Einschränkungen, etwa dass Bronze Handelsware war und als Altmetall verwendet wurde, ließen sich wenn dann noch aus Materialanalysen objektivere Hinweise auf die Herkunft erwarten. Vgl. kritisch hierzu Ernst Pernicka und Gerhard Eggert: Die Zusammensetzung der Bronzeobjekte von Mahdia, in: Das Wrack. Der antike Schiffsfund von Mahdia. Katalog zur Ausstellung „Das Wrack – der antike Schiffsfund von Mahdia“ im Rheinischen Landesmuseum in Bonn vom 8.09.1994–29.01.1995, hg. von Gisela Hellenkemper-Salies et al., Köln 1994 (Kataloge des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1,2), S. 1041ff. Zum Henkel aus Perachora, Temenos der Hera Limeneia, s. Humfry Payne: Perachora. The Sanctuaries of Hera Akraia and Limnia, Bd. 1: Architecture, bronzes, terracottas, Oxford 1940, Taf. 68, 21 und 22, S. 163f., Abb. 24 (frühes 5. Jhdt.): „Gorgon on each rotelle, sirene at point of attachment to the body of the vase […] the right wing complete, the left broken off. In a very bad state of preservation, almost none of the modeling being preserved. The schema is simpler than that of the previous example, an upward nick with ribbing below taking the place of the lion’s head is the other. The stiffness of the handle […] suggests that it is still archaic.“ Zum Henkel in Han-

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eine in mehreren Hinsichten bemerkenswerte Bronzekanne in Boston, deren Henkel, auf dem zuoberst eine Frauenprotome aufsitzt, als Attasche eine Sirene klassischen Stils zeigt; darüber hinaus gibt es nur noch vereinzelte, teils ihrerseits in der Datierung unsichere Beispiele.15

Abb. 5: Henkel einer Bronzekanne aus Perachora

15

nover, s. Rolf Blatter: Zu einem griechischen Henkeltypus, in: AA 1 (1966), S. 48‒58, hier S. 53f., Abb. 8–9; Ursula Liepmann: Griechische Terrakotten, Bronzen, Skulpturen, in: Bildkatalog des Kestner Museums Hannover 12 (1975), Nr. B 19, S. 115 (H des Henkels 9,8 cm, mit noch archaisch anmutenden Gorgo-Rotellen, an der Henkelwölbung ein Frauenkopf, unten eine Sirene auf Palmettenornament, beide mit frühklassischen Frisuren, als „unteritalisch, wahrscheinlich tarentinisch, 1. Hälfte 5. Jh. v. Chr.“ bestimmt). Zum Kannentypus s. Weber: Bronzekannen (wie Anm. 10), S. 5ff. Zur Kanne in Boston, Museum of Fine Arts 99.481, H 28 cm, s. David M. Robinson: New Greek Bronze Vases, in: AJA 46 (1942), S. 173–197, insb. S. 186: „Langlotz has pointed out that such a bust with rolled hair is characteristic of, but not peculiar to Corinth“, Abb. 19–21; Weber: Bronzekannen (wie Anm. 10), S. 300, I. E. 8; Kunze/Hofstetter-Dolega: Vorsicht Lebensgefahr (wie Anm. 4), Nr. V 18, S. 288; Mary Comstock/Cornelius Vermeule: Greek, Etruscan and Roman Bronzes in the Museum of Fine Arts Boston, in: CJ 55,5 (1960), S. 296ff., Nr. 243. Fundort: Spongano bei Vasto, Unteritalien, zusammen mit weiteren Bronzegefäßen, einer Oinochoe und einem monumentalen Volutenkrater Nr. 423, 436, 441.

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Mit diesen vagen Parallelen wäre die Diskussion des Sirenenhenkels (Abb. 1–3) als Werk der Zeit kurz vor 450 v. Chr. soweit abgeschlossen. Trotz adäquater stilkundlicher Argumente bleibt ein ambivalentes Gefühl, insbesondere wegen des Fehlens engerer Parallelen. Aber wäre nicht gerade in der Zeit um 450 v. Chr. mit herausragenden Einzelleistungen zu rechnen? Fasziniert von der Feinheit der Arbeit drängt sich das Bild eines frühklassische und archaische Aspekte verschmelzenden, den politischen und kulturellen Epochenwandel von der Archaik zur Klassik auf individuelle Art und Weise artikulierenden griechischen Künstlers auf. Leider ist diese von der Ausstrahlung und der Qualität des Stückes inspirierte Deutung falsch und der betreffende individuell-kreative griechische Bronzehandwerker ein Phantom. 6

Römische Sirenenhenkel

Etwa 400 Jahre später und in, was die Form des Gefäßes anbelangt, anderem Kontext begegnen wir Sirenenhenkeln wieder. Aus einer Bronzekanne und einer mit einem Griff versehenen Bronzeschale (Patera) bestehende, zur rituellen Handwaschung sowohl im öffentlichen als auch im privateren Rahmen verwendete Gerätschaften sind seit dem Hellenismus nachweisbar und seit der frühen römischen Kaiserzeit im gesamten Reichsgebiet (und darüber hinaus) verbreitet.16 Im überlieferten Bestand dieser gewissermaßen zur Standardausstattung des gehobenen römischen Hausstandes gehörenden, oft aus einer Werkstatt bezogenen Gefäße lassen sich derzeit zumindest sechs unserem Stück eng verwandte Sirenenkannenhenkel bzw. damit ausgestattete Kannen nachweisen. 6.1

Trifoliarkanne aus Boscotrecase oder Scafati, Antikenmuseum Berlin

Die 1899 von den Berliner Museen über den Kunsthandel erworbene Kanne (Abb. 6) wurde entweder in der Villa von Boscotrecase oder der von Scafati, 16

Dabei ist zu berücksichtigen, dass ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ in der griechischrömischen Antike nicht unserer, weiterhin vom bürgerlich-intimen Zeitalter geprägten Konnotation entsprechen. So waren das Atrium und oft weitere Räume der Häuser führender römischer Familien u.a. für die Klienten des patronus offen; amici nahmen auch an Gastmählern teil, womit den im Rahmen der Mahlzeiten durchgeführten Kulthandlungen – und den dabei verwendeten Gerätschaften – ein quasi semiöffentlicher, repräsentativer Aspekt zukam, vgl. Andrew Wallace-Hadrill: The social structure of the roman house, in: PBSR 56 (1988), S. 43–97; Paul Zanker: Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack, Mainz 1995 (Kulturgeschichte der antiken Welt 61), S. 18f.

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jedenfalls also in einer Villa Rustica nahe Pompeji, gefunden und muss damit vor der endgültigen Verschüttung der Gegend durch den Vesuvausbruch vom 24. August 79 entstanden sein.17

Abb. 6: Trifoliarkanne aus Boscotrecase oder Scafati 17

Trifoliarkanne aus Boscotrecase K. 23, Fundgruppe 1 oder Scafati K. 19, porticus B (vor triclinium D), Antikenmuseum Berlin, Misc. 8878. H der Kanne 17 cm, H mit Henkel 22 cm, d.h. H des Henkels ca. 17 cm. Erich Pernice: Bronzen aus Boscoreale, in: AA (1900), S. 177‒197, hier S. 187, Nr. 14, Abb. 13; Andreas Oettel: Bronzen aus Boscoreale in Berlin. Katalog Antikenmuseum, Berlin 1991, Nr. 12, S. 45, Taf. 12a, 13a mit weiterer Literatur.

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Der ca. 17 cm hohe Henkel der gegossenen Kleeblattkanne ist, wie die Kanne selbst, erheblich korrodiert. Ob dieses Stück ehemals Silbereinlagen besessen hat, bleibt angesichts dessen offen. Dass der Henkel dieser Kanne unserem Sirenenhenkel weitgehend entspricht, ist gleichwohl evident. Praktisch identisch ist auch die florale Ornamentik beider Henkel. Diskrete Unterschiede finden sich hinsichtlich der Ausformulierung des Sirenenkörpers, der bei der Kanne schmaler wirkt. Zudem hat diese Sirene etwas kürzere, nicht voneinander – im Sinne einer durchbrochenen Arbeit – abgegrenzte Beine. Auch hält sie keine Fische bzw. Delphine in den Klauen. Diese sind hier auf kommaförmige Häkchen reduziert. Vermutlich gehörte zu dieser Kanne auch eine Bronzeschale mit Griff und ggf. ein Henkelbecken. Durch die nach der Auffindung in verschiedenen Villen erfolgte Vermengung diverser Bronzegefäße sind heute definitive Zuordnungen dieser Art nicht mehr möglich.18 6.2

Kanne mit Sirenenhenkel aus Speyer

Beim Bau des Realgymnasiums in Speyer wurde 1869 eine antike Kleeblattkanne gefunden. Aufgrund der guten Erhaltung, einschließlich zahlreicher Silbereinlagen, wurde ihr schon früh besondere Aufmerksamkeit zuteil (Abb. 7).19 Vom Aufbau her entspricht die Sirene dieser Kanne weitgehend unserem Exemplar. Ihre Frisur, sie trägt über den leicht gewellten Stirnhaaren ein Haarband, wobei es den Anschein hat, als würde dies über den Schultern in Form der beiden Strähnen enden, und die Partie unterhalb der Klauen, wobei hier die Fische bzw. Delphine fehlen, sind jedoch anders gestaltet. Das Stirnband, die auf die Schulter fallenden Partien, die flachen Leisten aller Federn und die Augen besitzen zumeist noch ihre ursprünglichen Silbereinlagen. Auf dem Henkelschaft der Kanne in Speyer hingegen fehlt, verglichen mit unserem Henkel, das spitz über dem Sirenenkopf auslaufende Mittelblatt. Beidseits von flügelartigen Blättern gerahmt, erscheint hier eine mit der Öffnung nach unten gerichtete Lotusblüte. Auch der Henkel, in den Vertiefungen der Blätter und, in kurzen abgesetzten Streifen, mittig auf dem Henkelschaft, wurde mit Silbereinlagen dekoriert. Zu-

18

19

Hierzu Oettel: Bronzen aus Boscoreale in Berlin (wie Anm. 17), S. 9ff. zur Rekonstruktion der Fundorte und Kontexte. Speyer. Historisches Museum der Pfalz, Inv. 12a, H 17,5 cm, H mit Henkel 22,3 cm, H der Sirene 6,7 cm. Heinz Menzel: Die römischen Bronzen aus Deutschland, Bd. 1: Speyer, Mainz 1960, S. 34f., Nr. 62 mit Tafel 42 und älterer Literatur; ebd., Nr. 28 mit Abb.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

83

nächst als „etruskische Arbeit“ angesprochen,20 wurde bald die Ähnlichkeit dieser Kanne zur Kanne in Berlin (Nr. 2) erkannt.

Abb. 7: Trifoliarkanne aus Speyer 20

So in Leonhard Mayrhofer: Katalog der historischen Abteilung des Museums in Speyer, Speyer 1880, S. 18; Richard Petrovszky: Die Römerzeit, Ostfilden-Ruit 1994, S. 32 mit Abb.

84 6.3

Andreas Hillert

Kanne mit Sirenenhenkel in Berlin, Inv. 663

Ebenfalls mit einem ikonographisch wie stilistisch sehr ähnlichen Sirenenhenkel ausgestattet ist eine wohl bereits vor 1825 aus der Sammlung Heinrich Menu von Minutoli für die Berliner Sammlungen erworbene Kanne unbekannter Herkunft (Abb. 8). Mutmaßlich im Rahmen einer starken, jede Reste von Patina entfernenden Reinigung ist deren Oberfläche verschliffen. Im Katalog von C. Friedrichs von 1871 wird das Stück wie folgt beschrieben:21 663. Weinkanne, römisch. Am Henkelschluss über der Palmette eine Sirene mit vier Flügeln und einer Binde, die zu beiden Seiten auf die Schulter herabhängt und in Kupfer eingelegt ist. Auch über der Sirene sind noch einige von Silber und Kupfer eingelegte Ornamente. Schönes Exemplar.

In den Zwickeln des Henkelansatzes, beidseits über dem Haupt der Sirene, finden sich stilisierte Blütenmotive, deren Blätter in Kupfer und deren Basis in Silber eingelegt sind. Ebenfalls in Kupfer eingelegt sind die auf die Schulter fallenden Strähnen. Ansonsten entspricht die Figur weitgehend der des Sirenenhenkels Nr. 1; selbst die Fisch- bzw. Delphinschwänze zeichnen sich ab. Als unterer Abschluss findet sich hier jedoch eine Palmette. Auch der Henkel entspricht in der Grundkonzeption dem Henkel Nr. 1, wurde aber hinsichtlich verschiedener Details deutlich vereinfacht. So wurde die vegetabile Struktur des Mittelgrades bei der Kanne 663 zugunsten eines gleichmäßig dicken Wulstes aufgegeben.

21

H 21 cm. Friederich: Berlins antike Bildwerke (wie Anm. 12), S. 156, Nr. 663. Silbereinlagen werden in der aktuellen Dokumentation im Rahmen der „Bilddatenbank Friederich“ (http://empl.zetcom.ch/eMP-BerlinSPSG/eMuseum Plus?service) nicht erwähnt (zuletzt aufgerufen am 23.02.2016).

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

Abb. 8: Kanne mit Sirenenhenkel

85

86 6.4

Andreas Hillert

Sirenenhenkel im Louvre, Paris

Auch der Fundort eines in den Louvre gelangten Sirenenhenkels ist unbekannt (Abb. 9).22

Abb. 9: Sirenenhenkel, Louvre 22

Musée du Louvre, E.D. 3827, N 6199; Inv. 416; Longp., 414. H 17,5 cm, Höhe der Sirene 4,7 cm. André de Ridder: Bronzes Louvre II, Paris 1915, S. 119 („Au-dessus de la palmette, sirène de face, avec deux paires d’ailes, les yeux incrustés d’argent, les cheveux nodules sur le front, ceints d’une bandelette incrustée et tombant sur les épaules“), Nr. 2796, Taf. 100.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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Von der Größe (Höhe 17,5 cm) her ist er den übrigen hier diskutierten Stücken vergleichbar. Von unserem Sirenenhenkel unterscheidet sich das ebenfalls mit Silbereinlagen verzierte Stück (im Bereich der Ornamentik und u.a. des Haarbandes der Sirene) vor allem durch die Haartracht des Vogel-Mädchens. Die auf die Schulter fallenden Strähnen der Sirene in Paris sind plastisch angegeben. Darüber hinaus sind die von den hochgeschwungenen Flügeln umschlossenen Öffnungen hier nicht rund, sondern annähernd kleeblattförmig. Die Sirene in Paris hält zudem zwei kommaförmige Gebilde in den Klauen und steht auf einer fünfblättrigen Palmette. Der Henkel ist – abweichend vom erheblich vegetabileren Exemplar (Abb. 1–3) – mittig mit einem Perlstab dekoriert. Die in den Zwickeln sitzenden Akanthus-Blätter wurden jeweils auf ein gefiedertes Blatt reduziert. 6.5

Kannen mit Sirenenhenkel, ehemals im Schweizer sowie im französischen Kunsthandel

Im 1976 erschienenen Katalog der Baseler Kunsthandlung Palladion wurde eine weitgehend intakte Bronzekanne vorgestellt, deren Sirenenhenkel ein charakteristisches Beispiel des hier diskutierten Typus ist (Abb. 10a).23 Die Sirene selbst ist bis in die Anlage der Frisur hinein dem Exemplar Nr. 1 sehr ähnlich, wobei die auf die Schulter fallenden Strähnen aber plastisch erhaben ausmodelliert wurden. Delphine, soweit anhand der Abbildung erkennbar, fehlen. Als Basis der Sirene fungiert eine Palmette. Aufbau und Ornamentik des Henkels fallen aus dem Rahmen der anderen hier diskutierten Stücke. Der Henkelschaft der ehemals im Schweizer Kunsthandel befindlichen Kanne wird beidseits von einem relativ groß dimensionierten Perlstab begrenzt, mittig findet sich – statt vegetabiler Ornamentik – einzig ein weiterer, deutlich kleinteiligerer Perlstab. Ob diese Kanne ehemals Silbereinlagen besessen hat, bleibt offen. Im Katalog von Palladion wurde die Kanne mit Hinweis unter anderem auf Hydrien-Henkel mit Sirenenschmuck (s. o. Abb. 4) in das zweite Viertel des 5. Jhdts. v. Chr. datiert und eine Herkunft aus Großgriechenland erwogen. Dass dies nicht zutreffen kann, wird im Kontext dieses Beitrags unübersehbar (s.u.). 23

Palladion, Antike Kunst, Basel, Katalog 1976, S. 90, Nr. 110. H 21,5 cm: „Das grossflüglige Wesen steht auf einer siebenblättrigen Palmette; der elegant geschwungene Henkel scheint aus ihrem Haupte zu erwachsen.“ Im Katalog-Text finden sich keine Hinweise auf Einlagen oder sonstige technische Details. Die frühklassische Datierung wird in Kunze/Hofstetter-Dolega: Vorsicht Lebensgefahr (wie Anm. 4), S. 262 als Nr. W 27 übernommen, ihre daraus abgeleiteten Überlegungen sind entsprechend zu relativieren. Die auf Abb. 10b gezeigte Kanne – für die Publikationsgenehmigung danke ich Antonia Eberwein, Paris – stammt aus französischem Privatbesitz (über: www.antike-kunst-goettingen.de/impressum, abgerufen am 27.02.2016).

88

Andreas Hillert

Abb. 10a: Kanne mit Sirenenhenkel, ehem. Schweizer Kunsthandel

Eine weitere sehr ähnliche, aufgrund der abweichenden Größe (Höhe: 18,6 cm) und der elaborierteren Dekoration nicht mit dem ehemals in der Schweiz befind-

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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lichen Stück identische Kanne befand sich vor 1980 in einer niederländischen Privatsammlung und war zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Aufsatzes im französischen Kunsthandel. Im gravierten Schmuckband auf dem Korpus, am Gefäßrand und auf der Sirene finden sich hier, entsprechend der Beschreibung, Einlagen aus Silber und Niello (Abb. 10b). Dies und der Kontext der Sirenenhenkel (6.1–6.5) relativieren den Vorschlag einer Datierung ins 4. Jhdt. v. Chr. (s. Anm. 23).

Abb. 10b: Kanne im französischen Kunsthandel

Neben den frühklassisch-archaisierenden Sirenenhenkeln haben sich römische Kannen bzw. Kannenhenkel erhalten, die mit Sirenenattaschen anderer Art bzw. anderer Typen – und allesamt erheblich geringerer handwerklicher Qualität – versehen sind:

90 6.6

Andreas Hillert

Sirenenkannenhenkel aus dem Mainzer Legionskastell

Im Jahre 1910 wurde in einem Brunnen innerhalb des Legionskastells in Mainz (im Bereich der späteren Universitätskliniken) eine stark beschädigte Kleeblattkanne gefunden (Abb. 11).24 Nur der untere Teil des Henkels, insbesondere die mit einer frontal gezeigten Sirene geschmückte Attasche, ist erhalten. Die Sirene hat ihre Flügel in die Waagerechte erhoben, wobei diese dann mit engem Radius umgeschlagen erscheinen. Von den Ausgräbern wurde – mit Hinweis auf die Kanne in Berlin (Nr. 2) – eine Datierung in das späte erste oder frühe zweite Jahrhundert n. Chr. vorgeschlagen.

Abb. 11: Sirenenhenkel aus dem Mainzer Legionskastell 24

Gustav Behrens und Eduard Brenner: Ausgrabungen im Legionskastell zu Mainz während des Jahres 1910, in: Mainzer Zeitschrift 6 (1911), S. 53ff., insb. S. 112 mit Abb. 27, Nr. 182.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

Abb. 12: Sirenenhenkel aus Marpingen

91

92 6.7

Andreas Hillert

Sirenenkannenhenkel aus Marpingen

In einem Brandgrab des 2. Jahrhunderts, das 1962 in Marpingen, Saarland, Kreis St. Wendel, ausgegraben werden konnte, fand sich – als Rest einer ansonsten verlorenen Kanne – ein mit einem Mittelgrad verzierter Sirenenhenkel offenkundig eher summarischer Qualität (Abb. 12).25 Die Sirene sitzt frontal, mit leicht zu ihrer rechten Seite gewendetem Kopf. Ihre Flügel sind geöffnet und parallel zum Körper nach unten geführt („niedergeschlagen“). Mit den übrigen hier aufgeführten Beispielen verbindet diese Bronze letztlich nur das gemeinsame Sirenenmotiv. Ikonographie und Stil sind grundverschieden. Weitere, den Stücken aus Mainz und Marpingen eher allgemein und hinsichtlich der Qualität vergleichbare und damit die relative Beliebtheit der Sirene als Kannentaschenschmuck dokumentierende Belege haben sich u.a. in England und sogar, außerhalb der römischen Reichsgrenzen, in Polen gefunden.26 7

Ein heraldischer, frühklassische und archaistische Elemente integrierender Sirenenhenkel-Typus

Dass die hier als Nummer 1–6 vorgestellten Sirenenhenkel bzw. die Henkel der komplett erhaltenen Kleeblattkannen ikonographisch, stilistisch, hinsichtlich technischer Aspekte und bezüglich der Größe eng verwandt sind, wird zumal mit Blick auf die nicht diesem Typus angehörigen, weniger elaborierten und mutmaßlich späteren Sirenenkannenhenkel (Abb. 11–12) offenkundig. Die handwerkliche Qualität der sechs Bronzen ist im Kontext römischer Bronzegefäße

25

26

Alfons Kolling: Die römischen Brandgräber von Marpingen, Kreis St. Wendel, 14. Bericht der staatlichen Denkmalpflege im Saarland 1967, Saarbrücken 1967, S. 37ff., insb. S. 42, Abb. Taf. 42,1 (Grab 1); Hans-Ulrich Nuber: Kanne und Griffschale. Ihr Gebrauch im täglichen Leben und die Beigabe in Gräbern der römischen Kaiserzeit, in: RGK 53 (1972), S. 1–232, hier S. 195. Vgl. Hans Jürgen Eggers: Der römische Import im freien Germanien, in: Atlas der Urgeschichte 1 (1951), Nr. 2038, Brandgrab von Giebultow, Kr. Krakow, Polen; Nuber, Grabliste 99; Brandgrab, England, Kent (1875): George Payne: Roman Interment discovered at Sittingbourne, London 1877 (Archaeologia Cantiana 11), S. 47f.; Nuber: Kanne und Griffschale (wie Anm. 25), S. 215, Grabliste Nr. 16; zudem Aladar Radnòti: Die römischen Bronzegefässe von Pannonien, Leipzig 1938 (Dissertationes Pannonicae 2,6), S. 150 (erwähnt ein „abgewetztes Kannenhenkelbruchstück“, Ung. NM Inv. 65/1885, mit Darstellung einer Sirene), zudem: Nat. Mus. Neapel, Inv. 69056.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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insgesamt weit überdurchschnittlich.27 Die bei zumindest vier Exemplaren (Nr. 6.1, 6.3, 6.5, 6.6b sowie ggf. Nr. 6.4) erhaltenen bzw. sicher zu erschließenden Silbereinlagen und die bei einem weiteren Henkel nachweisbaren Kupfereinlagen (Nr. 4) sind diesbezüglich besonders bemerkenswert. Die Übereinstimmungen der Sirenenattaschen der Henkel untereinander sind so groß, dass ein gemeinsames Ur-Modell angenommen werden muss. Bei den sechs Henkeln handelt es sich andererseits sicher nicht um unmittelbar aus einer Form gezogene, respektive ausgehend von einem Modell mechanisch reproduzierte Güsse. Bei allen Gemeinsamkeiten sind markante individuelle Merkmale bzw. Merkmalskombinationen unübersehbar. So ‚stehen‘ vier der Henkel-Sirenen auf bzw. über Palmetten (Nr. 6.2, 6.4–6.6a/b), zwei halten Fische/Delphine in den Klauen, bei einer Sirene finden sich an dieser Stelle zwei Häkchen, möglicherweise formale Reminiszenzen an Meerestiere (Nr. 6.2). Unterschiede finden sich auch hinsichtlich der Sirenenfrisuren, wobei einige der Mädchenköpfe gescheiteltes, seitlich über einen Reif hochgeführtes (Nr. 6.1, 6.2, 6.6a/b) und andere in der Stirn in Wellen gelegtes, von einem Band gehaltenes Haar tragen (Nr. 6.3, 6.4?, 6.5). Sobald die hier als „auf die Schulter gefallene Lockenstränge“ beschriebenen Gebilde nicht wie bei den Nummern 6.2, 6.4 und 6.6a/b plastische Qualität gewinnen, was die Deutung als Lockenstränge sichert, wird ihr Charakter ambivalent. Wenn diese ‚Lockenstränge‘ durch Silbereinlagen markiert werden (Nr. 6.1, 6.3, 6.5), resultiert daraus nämlich zum einen eine mit Schulter und Brust plane Oberfläche und zum anderen ein von der Haarfarbe – repräsentiert durch das Material Bronze – abweichendes Erscheinungsbild. Die naheliegende Deutung als Haarbänder kann jedoch auch nicht überzeugen, da herabfallende Haarbänder in dieser Form und Breite im Kontext der Haarmoden archaischer und klassischer Zeit so nicht vorkommen. Ein ursprünglich von der Frisur abgeleitetes Muster wurde so weit stilisiert, dass immerhin eine technisch virtuose, kostbare Verzierung übrigbleibt. Relativ zu den trotz individueller Züge sehr ähnlichen Sirenen sind die Unterschiede zwischen den zugehörigen Henkelschäften, die dementsprechend nicht obligatorisch zum Sirenentypus gehört haben können, erheblich markanter. Als Endpunkte des formalen und stilistischen Spektrums stehen sich der aus diversen vegetabilen Elementen abgeleitete Henkel Nr. 6.1 und der mit drei Perlstäben 27

Zu römischen Bronzegefäßen allg. s. Erich Pernice: Gefäße und Geräte aus Bronze, Berlin 1925 (Die hellenistische Kunst in Pompeji 4); Suzanne Tassinari: Il Vasellame Bronzeo di Pompei, Rom 1993 (Soprintendenza Archeologica di Pompei: Cataloghi 1) (s.u.). Da zumal in Einzelpublikationen (wie dieser) tendenziell vor allem qualitativ herausragende Stücke bekannt gemacht wurden, ist die Frage, was bei römischen Bronzegefäßen qualitativer ‚Durchschnitt‘ ist, allein anhand der Literatur kaum angemessen zu beantworten. Darüber hinaus ist es dem jeweiligen Betrachter überlassen, ob er handwerklich-detaillierte, sprichwörtlich ausgefeilte Arbeiten oder ggf. weniger subtil ausgeführte, von der Darstellung her originelle Arbeiten (z.B. in hellenistisch barocker Tradition) als Qualitätsstandard setzt.

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Andreas Hillert

rein ornamental gehaltene Henkel Nr. 6.6 gegenüber. Hinsichtlich des vegetabilen Dekors steht der Henkel Nr. 6.2 dem Henkel Nr. 6.1 am nächsten, gefolgt von der stärker stilisierten Variante bei Nr. 6.4. Auf dem Henkel in Paris (Nr. 6.5) ist zwar das zentrale Blatt als solches noch erkennbar, wird aber durch einen daraufgelegten Perlstab als pflanzliche Form relativiert. Bei der Kanne in Speyer (Nr. 6.3) wiederum wurden die seitlichen Zwickelblätter – ähnlich dem vorgenannten Stück – beibehalten, mittig jedoch eine hängende Lotusknospe eingefügt. Auf dem Schaft fehlt nun das zentrale Blatt vollständig, was zum rein ornamentalen Henkel der Kanne (Nr. 6.6a) überleitet. Liegen in den sechs Bronzehenkeln bzw. deren Sirenenattaschen letztlich Kopien eines seinerzeit bereits antiken, um 450 v. Chr. entstandenen Kannenhenkels vor oder wurde der entsprechende Typus erst zu einem späteren Zeitpunkt, in mehr oder weniger freier Anlehnung an entsprechende Vorbilder, neu geschaffen? Die diesbezüglich relevanten Argumente wurden bereits im Kontext des Vergleiches des Sirenenhenkels (Nr. 6.1, Abb. 1–3) mit den um 450 v. Chr. entstandenen Hydrienhenkeln aufgeführt. Solange an der Datierung des Henkels Nr. 1 in das 5. Jahrhundert festgehalten wurde, ließen sich die diversen stilistischen und technischen Eigentümlichkeiten argumentativ weitgehend relativieren. Im Rahmen der dem gleichen Typus angehörenden römischen Kannenhenkel drängt sich unmittelbar eine ganz andere Wertung der betreffenden Aspekte auf: Der eklektizistische, mehrdimensional altertümelnde Charakter des Typus, verbunden mit der handwerklichen Qualität und dem hohen Stellenwert von Materialeffekten, ist letztlich nur als genuine Schöpfung römischer Zeit plausibel erklärbar. Aus unterschiedlichen Kontexten entlehnte Bildformeln wurden souverän zusammengefügt, um das heraldische Bild einer altehrwürdigen, mächtig, lieblich und kostbar dekorativ wirkenden Sirene zu schaffen. Ihr Kopf – je nach Frisur – gehört in die Zeit vor bzw. nach 450 v. Chr. Der hochstilisierte, schildförmige Körper, hinter dem sich nicht die Spur weiblicher Anatomie abzeichnet, wäre im 5. Jahrhundert merkwürdig steif. Die Flügel wiederum sind in ihrer ornamentalen Qualität archaisch, die differenziert ausgebildeten Federn jedoch deutlich später und die Schwanzfedern muten wenn dann etruskisch-archaisch an (vgl. Anm. 12). Übrigens: So authentisch und inhaltlich überzeugend die Verbindung der Sirenen (Nr. 6.1, 6.4) mit den Fischen/Delphinen auch anmutet, sicher aus dem 6. oder 5. Jhdt. stammende Sirenenattaschen dieser Art sind bislang nicht bekannt geworden.28 Dem in römischer Zeit retrospektiven Schöpfer des frühklassisch-archaisierenden Sirenentypus ist somit – im Sinne eines Dialo28

Vgl. Kunze/Hofstetter-Dolega: Vorsicht Lebensgefahr! (wie Anm. 4), S. 9ff. – wobei zwar auf Vasenbildern gelegentlich im Meer schwimmende Delphine und auf Felsen sitzende oder fliegende Sirenen gezeigt werden, Letztere aber nicht Delphine erbeuten bzw. erbeutet haben. Im Fall unseres Sirenenhenkels kann angesichts der gewissermaßen emblematischen Qualität von Delphinen davon ausgegangen werden, dass bei den von der Sirene gehaltenen Tieren ebensolche gemeint sind, auch wenn die Darstellung diesbezüglich vage bleibt.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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ges des römischen mit dem griechischen Altertum – ein mutmaßlich seine Zeitgenossen und offenkundig auch uns nachgeborene Betrachter ‚archetypisch‘ überzeugender Wurf gelungen. 8

Zukunft durch Vergangenheit: augusteische Kunst- und Religionspolitik

Hinweise darauf, wann und in welchem Kontext der Sirenentypus entstanden ist, lassen sich aus Vergleichen mit stilistisch ähnlichen Schöpfungen ableiten. Die sakrale Konnotation archaischer Formeln war seit der klassischen Zeit geläufig.29 Eine Blüte erlebten solche Schöpfungen dann vor allem wieder in augusteischer Zeit. Dem Kaiser und den ihm nahestehenden Kreisen ging es offenbar darum, ergänzend zur Renovierung alter und dem Bau neuer Tempel sowie der Pflege mitunter neuer, sich aber betont traditionell gebender Kulte, auch künstlerische Zeichen gegen den – zumindest als solches erlebten – sittlich-moralischen Verfall der ausgehenden Republik zu setzen.30 Ehrwürdig-züchtige Götterstatuen und darüber hinaus komplette Dekorationsprogramme mit Frömmigkeit (pietas) und Erhabenheit (dignitas) zum Ausdruck bringendem Gehalt wurden vorzugsweise in frühklassischem Stil, unter Verwendung archaisierender Muster, neu geschaffen. Eindeutig datierbar sind dabei vor allem die im öffentlichen bzw. kaiserlichen Auftrag geschaffenen Plastiken und Reliefs sowie Münzen. Im Ambiente und Zeitgeist etwa der ebenfalls qualitativ bemerkenswert gediegenen, um 30 v. Chr. entstandenen Tonreliefs des Apollon-Tempels auf dem Palatin wäre eine Entstehung unseres Sirenentypus am ehesten vorstellbar.31 Im Bereich der Kleinkunst blieben frühklassisch-archaistische Stilmerkmale, wie sie unser Typus gewissermaßen in Reinform verkörpert, eine Facette neben anderen, die offenbar nach mehr oder weniger stringenten Kriterien passend zum jeweils damit verzierten Gegenstand ausgewählt wurden. Unseren Sirenenhenkeln bzw. Bronzekannen hinsichtlich Größe und mutmaßlicher Funktion vergleichbare 29

30

31

Zum Phänomen „Archaismus“, s. Mark David Fullerton: Archaistic Draped Statuary in the round of classical, hellenistic and roman periods, Ann Arbor (Mi.) 1982; Tatjana Brahms: Archaismus. Untersuchungen zu Funktion und Bedeutung archaistischer Kunst in der Klassik und im Hellenismus, Frankfurt a. M. 1994 (Europäische Hochschulschriften 38,53); vgl. Hans-Ulrich Cain und Olaf Dräger: Die sogenannten neuattischen Werkstätten, in: Hellenkemper-Salies et al. (wie Anm. 13), S. S. 808ff. Zum augusteischen Archaismus und Klassizismus zusammenfassend Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München 42003, S. 244–247, 248–252, 264ff. Gianfilippo Carettoni: Die „Campana“-Terrakotten vom Apollo-Palatinus Tempel, in: Kaiser Augustus und die verlorene Republik. Ausstellungskatalog Berlin 1988, hg. von Wolf-Dieter Heilmeyer, Berlin 1988, S. 267–272 mit Literatur, vgl. z.B. die ornamental geschwungenen Flügel der Löwengreifen der Kat. Nr. 125; Zanker: Augustus (wie Anm. 30), S. 246f. mit Abb. 193.

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Kannen gab es in Mengen, wobei diese mehrheitlich auf den Henkelattaschen aber keine Sirenen zeigen. Besonders beliebt sind auch hier Darstellungen aus dem dionysischen Bereich.32 Im speziellen Kontext römischer Bronzekannen bleiben Sirenenhenkel somit – quantitativ-statistisch, nicht qualitativ – Marginalien. Sind die Sirenenhenkel somit letztlich nur eine Spielart dekorativen Kunstgewerbes ohne weitergehende und vor allem ohne spezifische inhaltliche Implikationen? Ob eine Kanne mit einer Sirene oder beispielsweise spielenden Eroten oder dionysischen Motiven verziert ist, wäre dann weitgehend egal gewesen. Von der Form her lässt sich eine Sirene natürlich gut in der Form einer Attasche unterbringen, die ausgebreiteten Flügel sind zumal in Kombination mit einem hübschen Mädchenkopf zweifellos attraktiv. Die Homogenität und Qualität unseres Sirenenkannenhenkel-Typus spricht gegen eine solche Beliebigkeitsannahme. Bronzehydrien klassischer Zeit waren mehr als eine reine Funktionsform: Fundkontexte und Darstellungen verweisen – wie dargelegt (s.o. Anm. 9) – auf die immanente Bedeutung dieser Gefäße als Behälter für im Rahmen von öffentlichen Kulthandlungen benötigtes Wasser. In ebendieser seinerzeit offenbar auch mit Sirenen assoziierten Funktion liegt eine markante Parallele zu den Sirenenhenkelkannen römischer Zeit. Die Kultpraxis hatte sich, was den Gebrauch der Hydria anbelangt, seit der klassischen Zeit grundlegend verändert. De facto gab es in der frühen römischen Kaiserzeit überhaupt keine Hydrien mehr. Für die kultische, symbolische Form der Handreinigung im Kontext von Opferhandlungen, sei es im offiziellen Rahmen von Staatskulten oder im eher privaten Rahmen der in den Häusern angesehener Familien gepflegten religiösen Handlungen, waren seit dem Hellenismus – zusammen mit Stielpfannen (s.o.) – Bronzekannen üblich geworden, die sich in Form und Dekor offenbar eng an ‚Weinkannen‘ archaischer und klassischer Zeit orientierten.33 Angesichts der beträchtli32

33

Nuber: Kanne und Griffschale (wie Anm. 25), S. 195f., führt neben acht Kannen mit Sirenenattaschen 14 mit Amoretten, zwei mit dionysischen Figuren, zwei Victoriadarstellungen u.a. auf; Tassinari: Il Vasellame Bronzeo (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 221ff.; zur Henkel-Ornamentik griechischer Kannen vgl. Weber: Bronzekannen (wie Anm. 10), S. 115ff. Nuber: Kanne und Griffschale (wie Anm. 25), S. 45ff. zum Service Typ E (Millingen), zu den Kannen ebd., S. 48ff.: „In Form und Technik stehen diese Kannen vollkommen in griechisch-hellenistischer Tradition. Das zeigen auch bildliche Details auf den Attaschen, wie beispielsweise sitzende Harpyien, ein in der frühen Toreutik außerordentlich beliebtes Motiv.“ Dabei übersieht Nuber bei dieser Tradition den Bruch bzw. den Wechsel von einer auf eine andere Gefäßform. Ab claudischer Zeit ist Nuber zufolge der – seit augusteischer Zeit anzunehmende – Gebrauch dieses Typus sicher belegt, s. ebd., S. 53, Anm. 293; Tassinari: Il Vasellame Bronzeo (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 232. Zur Form und Formtradition der Bronzekannen vgl. Weber: Bronzekannen (wie Anm. 10), S. 1ff. mit Bezug auf die Typologie von Beazley. Von Weber wird die Problematik, woran genau griechische Kannen des 5. Jhdts. v. Chr. von römischen

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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chen zeitlichen Distanz zwischen den archaischen und klassischen Sirenenhydrienhenkeln und den Sirenenkannenhenkeln römischer Zeit ist eine diesbezüglich kontinuierliche Kulttradition auszuschließen. Vielmehr wurde – letztlich in einem intellektuellen Akt – Anschluss an eine Kulttradition gesucht. Was die ikonographischen und stilistischen Aspekte anbelangt, dienten seinerzeit bereits antike Stücke als Vorbild. Sinn und Zweck des neuen, sich dezidiert antik gebenden, qualitativ elaboriert ausgeführten Sirenenbildes war es, Anschluss an eine Kulttradition zu dokumentieren, die es so eigentlich nicht gab, respektive durch den Bezug auf eine den göttlichen Sphären gegenüber mutmaßlich ehrfürchtigere Vergangenheit die Grundlage für eine goldene Zukunft zu legen. Gerade auch im Bestreben, altehrwürdige Vorbilder durch technische Raffinesse, kostbare Ausführung und Herausstellung von als besonders markant erachteten ikonographischen Aspekten zu übertreffen, sind diese Sirenenhenkel charakteristische und authentische Dokumente der augusteischen Epoche. Aus dem Dialog mit ehrwürdigen Vorbildern wurden Inhalte und Argumente generiert, die im Dialog mit den Zeitgenossen programmatische Qualität bekommen sollten.34

34

Nachahmungen bzw. Repliken unterschieden werden können, angesprochen, aber nicht (an)diskutiert, vgl. ebd., z.B. S. 360 zu einem Kannenhenkel in Frankfurt. Im klassischen Griechenland wurden Kleeblattkannen bzw. die Oinochoe auch in kultischen Kontexten verwendet, vgl. Weber: Bronzekannen (wie Anm. 10), S. 142f. mit Anm. 6, wobei eine kategorische Unterscheidung von profan und sakral, zumal im Kontext von Symposium, Weinopfer u.a. sicher primär modernem Denken und nicht griechisch-antiker Wahrnehmung entspricht. Zumindest bis ins 18. Jahrhundert hinein konnte mit Kanne und Becken zelebriertes Händewaschen, neben dem hygienischen Aspekt, als „eine Form der symbolischen Reinigung, die man vornahm, bevor man die Früchte der Erde als göttliche Gaben zu sich nahm“, verstanden werden; vgl. z. B. Geist und Galanterie. Kunst und Wissenschaft im 18. Jahrhundert aus dem Musée du Petit Palais, Paris. Katalog zur Ausstellung „Geist und Galanterie. Kunst und Wissenschaft im 18. Jahrhundert aus dem Musée du Petit Palais, Paris“ vom 13. Dezember 2002 bis zum 6. April 2003 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, hg. von Jutta Frings, Berlin 2002, Nr. 187, S. 198f. (Patrick Lemasson). Archaistische Motive sind auch im Kontext von Bronzegefäßen dieser Zeit per se nicht selten, vgl. Tassinari: Il Vasellame Bronzeo (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 229f., D 2120, z. B. ebd., Tav. CXV 4–7, CXVIII 2, 3. Den Henkel auf letztgenanntem Stück ziert als Attasche eine Sphinx, wobei der frontal gezeigte Körper praktisch identisch mit dem Sirenentypus ist, dann aber beidseitig (!) abgewinkelte Sphinx-Hinterkörper besitzt. Die prägnant heraldische Form des frühklassisch-archaistischen Sirenenhenkelattaschen-Typus dürfte die in diesem Kontext vergleichsweise große Verbreitung mitbedingt haben. Bereits angesichts dieser Beispiele wird die selektive Qualität antiker Antikenrezeption deutlich, wobei, seinerzeit wie (allerdings unter anderen Gesichtspunkten) heute, eine als stimmig empfundene Balance zwischen ästhetisch dekorativen und inhaltlichen Aspekten für den Erfolg einer Schöpfung ausschlaggebend gewesen sein wird.

98 9

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Kult-Kannen im Kontext

Wie Hans Ulrich Nuber in seiner brillanten, alle seinerzeit bekannten diesbezüglichen Fundkonstellationen zusammenfassenden Arbeit über „Kanne und Griffschale“ herausarbeiten konnte, wurden diese Geräte gewissermaßen als Sets für rituelle Handreinigungen verwendet (s. Anm. 33), wobei Kanne und Griffschale in vielen Fällen in einer Werkstatt hergestellt wurden. Wie dargelegt ist der Fundkontext des Sirenenhenkels (Nr. 1, Abb. 1–3) unbekannt. Auf der gleichen Auktion und vom gleichen Einlieferer wurden jedoch der Griff einer Patera („Griffschale“) und ein von einem Becken stammender Querhenkel angeboten. Über diese Informationen hinaus stimmen die beiden Bronzegriffe technisch (einschließlich Silbereinlagen), qualitativ und zudem von der von braunen Flecken und Korrosionen durchsetzten oliv- bis lindgrünen Patina her mit dem Kannenhenkel so weit überein, dass ein gemeinsamer Fundkontext und darüber hinaus eine Zusammengehörigkeit der Stücke – im Sinne eines Sets – zumindest erwogen werden muss. 9.1

Patera-Griff mit Widderkopf

Der auf kanneliertem Schaft mit einem Widderkopf endende Patera-Griff, insgesamt 16 cm lang, entspricht einem in der frühen Kaiserzeit weit verbreiteten Typus, wobei das vorliegende Exemplar durch seine differenzierte Ausarbeitung einschließlich der in Silber eingelegten Augen auffällt (Abb. 13).35 35

Gorny & Mosch: Auktion 119 am 16.10.2002 (wie Anm. 4), S. 76, Nr. 3397: „Pateragriff mit Widderkopf. L 16 cm, frühe Kaiserzeit, italische Werkstatt (?), Bronzehohlguss. Prächtiger, detailliert durchmodellierter Widderkopf mit in Silber eingelegten Augen auf einer Manschette, der Griff kanneliert und mit einer weiteren Manschette mit der Schale verbunden. Schöne lindgrüne Patina, Spitzen der Attasche gebrochen.“ Zum Typus vgl. Tassinari: Il Vasellame Bronzeo (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 226ff., Fig. e. Widderkopf-Griffe dieser Art sind in archaischer und klassischer Zeit nicht belegt. Der Widderkopf des Griffes weist zum einen naturnahe Aspekte (die Form des Schädels, Augenschnitt und feingerippte Hörner), zum anderen aber auch archaistische Formulierungen auf (etwa was die perlenförmig angeordneten StirnhaarFlocken und die symmetrische Anordnung der Fellstruktur anbelangt), vgl. diesbezüglich Michael Maaß: Griechische und römische Bronzewerke, München 1979 (Bildhefte der Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek München), S. 61, Nr. 36 zu einem bei St. Johann im Pongau gefundenen Schalengriff. Die in klassischer Zeit verbreiteten Griff-Phialen ließen sich von der Funktion her als Vorläufer der römischen Griffschalen diskutieren; hier waren nackte Jünglinge als Griffe üblich, was mit römischem Kult-Verständnis zumal augusteischer Zeit mutmaßlich schwer vereinbar gewesen wäre, vgl. Ulf Jantzen: Griechische Griffphialen, Berlin 1958 (BerlWPr

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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Abb. 13: Schalengriff mit Widderkopf

9.2

Querhenkel eines Bronzebeckens mit Seeungeheuer-Attaschen

Der 16,5 cm breite, beidseitig mit Seeungeheuer- bzw. Ketosköpfen geschmückte Querhenkel, stammt – mit einem zu rekonstruierenden, heute verlorenen Gegenstück – von einem großen, relativ flachen Becken (Abb. 14 und 15).36

36

114), S. 1ff.; seitdem zahlreiche Neufunde und neupublizierte Exemplare, z.B. W. Horbostel und H. Jucker, in: Kunst der Antike. Schätze aus norddeutschem Privatbesitz. Ausst. Kat. Hamburg, hg. von Wilhelm Hornbostel, Mainz 1979, S. 78ff. Gorny & Mosch: Auktion 119 am 16.10.2002 (wie Anm. 4), S. 75, Nr. 3392 (mit Abb.): „Henkel mit Ketosköpfen. B 16,5 cm. 5. Jh. v. Chr. In der Mitte profilierter Querhenkel mit Ketosköpfen an den Attaschen. Dunkelbraune Patina, intakt.“ Breite 16,5 cm, L einer Ketos-Attasche (noch) ca. 6,6 cm. Unmittelbar hinter den Henkelansätzen ist die Ansatzfläche der Attasche innen muldenförmig eingetieft, ansonsten aber geglättet und mit wenigen Kratzern aufgeraut. Zum Typus vgl. Oettel: Bronzen aus Boscoreale in Berlin (wie Anm. 17), S. 47f. („Henkelbecken“); Tassinari: Il Vasellame Bronzeo (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 90ff., Tav. LXff („Bacili e colatoi di grandi

100

Andreas Hillert

Abb. 14: Querhenkel eines Bronzebeckens mit Seeungeheuer-Attaschen

Abb. 15: Seeungeheuer-Attasche (Ausschnitt Abb. 14)

dimensioni“); dies., Bd. 2, S. 222ff. – mit Querhenkelattaschen in Form u.a. von Schlangen-, Greifen- und Entenprotomen.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

101

Sich zu beiden Seiten hin organisch verjüngend, wird der Henkel mittig durch einen kräftigen Wulst akzentuiert. Durch tiefe Rillen abgesetzt, schließen sich dann jeweils innen ein schmaler und außen, nach einer eingeschobenen Hohlkehle, ein etwas breiterer Wulst an. An beiden Enden geht der Henkel in tropfenbzw. nierenförmig geschwungene, zur Henkelmitte hin undekorierte, glatte Attaschen über. Diese nehmen zu den Rändern hin, als wollten sie sich an die Gefäßwand anschmiegen, kontinuierlich an Stärke ab. Dem Schwung des Henkels folgend, reißen die Attaschen zu den Seiten hin auf. Aus den blattartig ausgefranst wirkenden Rissen entspringt jeweils ein im Nacken mit einem Flossensaum versehener Seedrachenhals bzw. eine Seedrachenprotome. Den Nacken dieser Wesen ziert ein von eingeritzten Grätenlinien und dazwischen in kleinen Bögen geschwungen verlaufender Flossensaum. Die am Hinterkopf der Ungeheuer ansetzenden Ohren sind spitz und nach vorne gerichtet. Ehemals hatten die Fabeltiere lange, schnabelähnliche Schnauzen; deren fragile Spitzen sind abgebrochen und fehlen. Am Kieferwinkel setzten jeweils S-förmig ausgezogene, bartähnliche Gebilde an. Das Innere der beiden mit hochgezogenen Brauen versehenen Augen schließlich wurde mit Silber eingelegt und die Pupille mit einem gravierten Punkt hervorgehoben. Offenbar war eine symmetrische Anlage der beiden in Details durchaus individuell ausgebildeten Ketosprotomen intendiert (so fehlen beispielsweise die die ‚aufgerissene‘ Attasche andeutenden Ritzungen unterhalb der rechten Protome). Während der Pateragriff ikonographisch wie stilistisch einem – frühestens – in hellenistischer Zeit entstandenen Typus folgt (vgl. Anm. 35), orientiert sich der Ketoshenkel, ähnlich dem Sirenenhenkel Nr. 1, an Werken frühklassischer Zeit – und dies wiederum so stilsicher, dass auch er zunächst in das 5. Jahrhundert v. Chr. datiert wurde (s. Anm. 36). Im Rahmen der Funde aus den VesuvStädten und deren Umgebung wurden zahlreiche Bronzebecken bzw. Querhenkel gefunden, die vom Aufbau her mit dem vorliegenden Stück gut vergleichbar sind. Mitunter sind die Attaschen in Form von Tierprotomen ausgebildet. Die meisten Henkel dieser Art enden jedoch in mehr oder weniger s-förmig geschwungenen, rein ornamentalen Attaschen, deren Herleitung von Tierprotomen spontan nicht mehr deutlich wird. Die konkrete Funktion dieser Becken wurde bislang nicht problematisiert respektive im Kontext des Küchengeschirrs vermutet. Relativ zur Vielzahl der Bronzebecken und Pateragriffen, die in Pompeji und z.B. auch in den Villen von Boscotrecase und Scafati gefunden wurden, ist die hohe handwerkliche und künstlerische Qualität der vorliegenden Stücke evident. Hans Georg Nuber hat eine gewissermaßen kanonische Kombination von Kanne und Griffschale aufgezeigt (vgl. Anm. 33). Ausgehend von dem hier – allerdings nur auf Grundlage von Indizien – rekonstruierten, zusätzlich eine Griffschale enthaltenen Set stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, in welchen Kontexten entsprechend umfangreichere Kombinationen als solche intendiert waren und welche Funktion darin der Griffschale zukam. Neben der vergleichsweise wenig stabilen Anbringung der Henkel auf der Wandung des Beckens, was

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Andreas Hillert

eine Alltagsverwendung, etwa als Kochgeschirr, wenig wahrscheinlich macht, lässt die zumindest in einigen Fällen aufwendige, inhaltlich zumeist auf das Meer bzw. die Wasserwelt bezogene Attaschendekoration an eine kultische Konnotation und Verwendung denken. Wurde darin das in den Griffschalen aufgefangene Wasser gesammelt? Eine Überprüfung dieser Hypothesen anhand der in den meisten Fällen leider nicht oder nur vage dokumentierten Fundkontexte der Bronzebecken steht an. 10

Zusammenfassung: Werkstatt- und Datierungsfragen sowie kommunikativ dialogische Ein- und Ausblicke

Der eingangs als ein in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. entstandenes Werk vorgestellte Sirenenkannenhenkel (Abb. 1–3) konnte als eine in augusteischer Zeit konzipierte retrospektive Schöpfung im frühklassisch-archaistischen Stil identifiziert werden. Der Henkel dürfte ehemals Teil eines aus Kanne, Griffpfanne und Becken bestehenden, im kultischen Kontext ritueller Handwaschungen verwendeten Ensembles gewesen sein. Das Motiv der Sirene wiederum geht auf Hydrien-Attaschen zurück, wobei diese Gefässe in klassischer Zeit in ähnlichem rituellen Kontext benutzt wurden wie später die Kannen. Über dekorative Aspekte hinaus wurde den Sirenen auf den Kannenhenkeln im Ritus offenbar eine spezifische inhaltliche Bedeutung zugemessen. Mit dem betont retrospektiven Stil der Darstellung, einem Musterbeispiel antiker Antikenrezeption (bzw. Ergebnis eines innerhalb des Altertums abgelaufenen ,Dialogesʻ), dürften zudem auf traditionelle Werte abzielende religions- und damit sozialpolitische Aussagen intendiert gewesen sein. Die hohe Qualität der drei Stücke, einschließlich Silbereinlagen, verweist auf eine führende Werkstatt und vermögende, in der römischen Oberschicht zu suchende, der augusteischen Religionspolitik nahestehende Auftraggeber bzw. Käufer. Neben stringent zusammenfassbaren Ergebnissen dieser Art bleiben mehrere ebenso relevante, sich inhaltlich überlappende Fragen offen. Diese betreffen zum einen die Werkstätten, aus der die Sirenenkannenhenkel stammen, und die Beziehung der sechs dem frühklassisch-archaisierenden Sirenentypus zuweisbaren Stücke untereinander. Zum anderen geht es um uns als postmoderne Betrachter: Der Sirenenhenkel ist nach unserer Untersuchung derselbe, der er war, als er noch als originales Werk der griechischen Frühklassik angesehen wurde. Inwieweit wirkt sich – als Spiegel der von uns internalisierten Schemata – die Umdatierung auf unsere Wahrnehmung und Bewertung der betreffenden Denkmäler aus? Stammen die sechs Sirenenhenkel (Nr. 1–6) aus einer Werkstatt, sind sie praktisch zeitgleich entstanden? Jeder Antwortversuch auf diese Frage setzt einen Blick auf die technischen Grundlagen des Genres voraus. Den Bronze-

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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handwerkern lag offenbar jeweils ein Exemplar, ein Werkmodell oder ein Modell der Sirenenattasche vor. Ein entsprechender, von Hand etwas übergangener und ggf. modifizierter Wachsabguss wurde dann mit einem (aus einer eigenen Form stammenden) Wachshenkelschaft zusammengefügt. Der vollständige Wachshenkel wurde anschließend mit Gusskanälen versehen und mit Ton umhüllt. Das Wachs wurde ausgeschmolzen, der Henkel gegossen. Abschließend konnte der Henkelrohling geglättet, mit Kupfer und/oder Silbereinlagen dekoriert, graviert und poliert werden.37 Die hier skizzierten technischen Abläufe bzw. Gegebenheiten unterlaufen letztlich mehrere der in der klassischen Archäologie etablierten Zuschreibungsbzw. Datierungsverfahren. Wenn Abgüsse ohne eingehendere Überarbeitung der Modelle hergestellt werden, lassen sich bestenfalls aus sekundären Indizien, etwa der Abnutzung der Form, gewisse Datierungshinweise ableiten. Selbst die offenkundigen Unterschiede bzw. Eigenarten der Henkelschäfte verlieren vor diesem Hintergrund ihre Aussagekraft hinsichtlich der konkreten Datierungen der einzelnen Bronzen. Und dies interferiert zusätzlich mit der Frage nach der jeweiligen Werkstatt. Aber auch wenn sicher davon ausgegangen werden könnte, dass alle Henkel aus einer Werkstatt stammen, ließe sich zwar anhand der Henkelgestaltung ein Stilwandel postulieren (s.o.), wobei aber offenbliebe, ob dieser von eher vegetabilen Formen zu abstrakten Formulierungen führte oder umgekehrt. Ausgehend von den seit Winckelmann in den Kunstwissenschaften tradierten Entwicklungsmodellen dürfte derzeit den meisten Betrachtern die Entwicklung hin zum Abstrakten spontan am plausibelsten erscheinen. Aber standen die abstrakten, gewissermaßen am altertümlichsten wirkenden Formen nicht vielmehr am Anfang, die dann nach Abklingen der programmatisch-altertumsbezogenen augusteischen Zeit schrittweise aufgeweicht wurden? Wie gesagt, die hier postulierten ‚Entwicklungsreihen‘ und die diesbezüglichen Überlegungen basieren auf der – durchaus fraglichen – Grundannahme, wonach die sechs Henkel aus einer Werkstatt stammen. Dass sie einem ggf. sukzessiv abgewandelten Typus angehören, ist angesichts der weitreichenden ikonographischen und stilistischen Parallelen naheliegend. Dies kann aber, ausgehend von leicht transportablen Werkstücken an verschiedenen Orten geschehen sein. Andreas Oettel geht davon aus, dass die Trifoliarkanne aus Boscotrecase (Nr. 6.1) in einer vermutlich in Kampanien beheimateten („capuanischen“) Werkstatt gefertigt wurde, worauf die qualitätvolle plastische Durchgestaltung ihrer Verzierungen hinweise. Andere, ebenfalls in Boscotrecase und Scafati gefundene Bronzen müssten demgegenüber, angesichts von überwiegend „eingetieften oder gravierten“ Dekorationen, aus 37

Bettine Gralfs: Metallverarbeitende Produktionsstätten in Pompeji, Oxford 1988 (BAR / International series 433); vgl. Anm. 34. Zur Technik s.a. Peter C. Bol: Antike Bronzetechnik. Kunst und Handwerk antiker Erzbildner, München 1985, S. 80ff.; Barbara Cüppers: Metalleinlagen als farbige Ziertechnik, in: Hellenkemper-Salies et al. (wie Anm. 13), S. 1013ff.; Oettel: Bronzen aus Boscoreale in Berlin (wie Anm. 17), S. 15ff.; Tassinari: Il Vasellame Bronzeo (Anm. 27), Bd. 1, S. 223ff.

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Andreas Hillert

einer provinziellen, möglicherweise in Gallien beheimateten Werkstätte stammen.38 So plausibel dies klingen mag, archäologische Evidenzen bezüglich der konkreten Lokalisation der Werkstätten gibt es bis dato ebenso wenig wie hinsichtlich des stilistischen und ikonographischen Spektrums, das innerhalb einer Werkstatt in einem umschriebenen Zeitraum gepflegt wurde. Darauf, dass dieses Spektrum eher größer gewesen sein könnte als aus moderner Perspektive mit einem guten Geschmack vereinbar wäre, gibt es zumindest Hinweise (vgl. Anm. 34). Angesichts griechischer Werke archaischer und klassischer Zeit fällt es oft nicht schwer, ein Stück aufs Jahrzehnt genau zu datieren, d.h. in eine als weitgehend autonom verstandene Entwicklungsreihe einzuordnen. Dass dies bei römischen Werken wie den Kannenhenkeln, die letztlich ab etwa 30 v. Chr. bis zum Untergang von Pompeji und darüber hinaus bis ins zweite Jahrhundert entstanden sein könnten, de facto kaum möglich ist, wurde wiederholt konstatiert und nicht selten als Negativkriterium römischer Kunst verstanden. Unter dem Vorzeichen ‚Dialog‘ betrachtet hieße das, je intensiver ein Werk bzw. dessen Produzent über Zeit und Ort hinweg in Dialoge tritt, umso schwerer bzw. unschärfer wird die klassifikatorische Zuordnung. Akribischen Forschern ist die Vorstellung, einen archäologischen Fund eben nicht konkret verorten zu können, in der Regel ungemütlich. Dass eben dies auch als Hinweis auf die dialogische Offenheit der Urheber verstanden werden kann, ist einerseits ein schwacher Trost und andererseits ein wichtiger Befund. Zumindest kann konstatiert werden, dass ikonographischer und stilistischer Eklektizismus im ‚Kunsthandwerk‘ römischer Zeit nicht zwangsläufig mit inhaltlicher Beliebigkeit einhergeht, sondern – etwa bei den Sirenenhenkeln – dezidiert mit Blick auf inhaltliche Bezüge hin geschehen konnte. Heute, in einer Epoche postmoderner (positiv formuliert) Vielfalt, dürfte es uns erheblich leichter fallen als Kollegen im vergangenen Jahrhundert, die spezifische Qualität u.a. der hier diskutierten Kannenhenkel wertzuschätzen. Der in seiner Werkstatt authentisch inspiriert und aus sich heraus schaffende klassische Künstler ist ein unserem Erleben emotional nahestehender Topos, dessen romantische Qualität zunehmend deutlicher wird. Demgegenüber kann sich der gezielt aus dem Repertoire historischer Vorlagen bedienende, intellektuelle und gleichzeitig auf höchstem Qualitätsniveau schaffende Mitarbeiter einer römischen Manufaktur – dem wir faktisch vermutlich erheblich näherstehen, ihn aber möglicherweise eben deshalb weniger emotional ins Herz schließen können – derzeit zumindest wieder unserer Achtung sicher sein. Spricht nicht die hohe Qualität der Bronzen, wenn sie denn schon ‚nur‘ römisch sind, nicht klar für eine augusteische und

38

Oettel: Bronzen aus Boscoreale in Berlin (wie Anm. 17), S. 23ff.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

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spätestens claudische Entstehung der vorliegenden Güsse?39 Sympathien scheinen aufzukommen, Liebe ist es noch nicht. Dass eben dies auch die wissenschaftliche Bewertung der Sirenenhenkel mitbestimmt, ist kein provokativer Einschub, sondern eine wahrnehmungspsychologische Tatsache. Davon, dass sich unsere Bewertungskontexte und Perspektiven auch weiterhin verändern werden, ist auszugehen. Eben dies – zumal in geisteswissenschaftlichen Sphären – schließt endgültige Befunde aus. Was dieser Dialog für das Altertum bedeuten mag, bleibt bestenfalls virtuell. Dass wir immanenter Teil eines Dialoges mit dem Altertum sind und bleiben, ermöglicht uns – wenn wir denn den Mut dazu haben – ein unendliches Spektrum von Möglichkeiten zur Reflexion und Standortbestimmung. An mehreren argumentativen Bruchstellen wurde deutlich, dass und ggf. sogar wie unmittelbar dort, wo die Evidenz der Fakten aussetzt, unsere von eigenen Erfahrungshorizonten ausgehende, spontan Kontexte herstellende Phantasie einsetzt. Wo genau die Grenzen zwischen faktengestützter und intuitiver Rekonstruktion verlaufen, war ansatzweise durch akribisch-sokratisches Auseinanderdividieren von Befunden und Bewertungsmustern möglich. Wenn, dann wird klassische Archäologie eben deshalb, unabhängig davon, ob es spektakuläre Neufunde gibt oder auch nicht, spannend bleiben. Eine zumindest partielle archäologische Klärung der hier abschließend andiskutierten Sachfragen wäre natürlich sehr wünschenswert. Materialanalysen könnten etwa bezüglich der Werkstattfrage ergänzende Hinweise ergeben. Am erfreulichsten wäre der Fund einer kompletten römischen Bronzewerkstätte, mit umfangreichen WarenmusterBeständen, Werkstücken, Modeln. Würde ein solcher Glücksfund das Paradigma einer letztlich doch stringent-kalkulierbaren, stilistisch-ikonographischen Entwicklung der römischen Kunst jenseits von Frisurmoden und Faltenwürfen der Marmorplastik bestätigen oder unser diesbezügliches Weltbild definitiv auf postmodernen Standard reduzieren? Wetten werden entgegengenommen. 11

Postskriptum

Sirenen, um die es in diesem Beitrag auch ging, waren und sind zwar zwielichtige, aber überaus dialogfreudige Wesen. Mit ihren ‚sex and crime‘- und Grenzerfahrungsqualitäten, die der Begegnung mit ihnen immanent ist, fanden sie über die Jahrtausende hinweg Verehrerinnen und Verehrer. Odysseus musste sich, um den von Sirenen ausgehenden Gefahren zu entgehen, am Mast seines Schiffes festbinden lassen. Die Sirenenausstellung in Stendal (2013–2014) präsentierte 39

Auch wenn die rhetorische Qualität der Frage unüberhörbar ist, eine Distanzierung von den darin anklingenden traditionell in der Archäologie vertretenden Wertungen bleibt – auf emotionaler Ebene – gleichwohl schwer; vgl. Anm. 2.

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Andreas Hillert

ein von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart reichendes Spektrum von Darstellungen dieser betörenden Vogelfrauen, die man hier ohne entsprechende Sicherungsmaßnahmen, zwischen den Epochen dialogisierend, genießen konnte. Sirenenfaszination war, über das, was in der Ausstellung gezeigt wurde, hinausgehend, kein auf das Abendland beschränktes Phänomen. Auch eine Dame im islamischen Mittelalter, im 12.–13. Jahrhundert, konnte ihr Parfüm aus einem sirenenförmigen Gefäß tropfen lassen (Abb. 16).40 Womit sie sich in altehrwürdiger Tradition befand: Schon griechische Frauen archaischer Zeit benutzten Sirenenflacons. Parfümherstellern sei angesichts dessen ‚Sirene‘ als Markenname, Logo und Flacondesign anempfohlen. Solche Dialoge über Epochen und Kulturgrenzen hinweg offen führen und entsprechende Traditionen als gemeinsamen Identitätsaspekt erleben zu können, wäre absehbar von Vorteil und ein Schritt zur Lösung aktuell unlösbar erscheinender globaler Konflikte.41

40

41

H 6,9 cm, Münzenhandlung Auktion 305 am 11.02.2015, hg. von Gerhard Hirsch Nachfolger, München 2015, Nr. 325, ehemals im englischen Kunsthandel. Die Bronze-Sirene ist als Hohlguss ausgeführt. Auf ihrem Kopf findet sich die als Ausguss dienende kleine Öffnung. Der am Hinterkopf ansetzende Dorn ist durchbohrt, zur Aufhängung eines verlorenen kleinen Deckels. Zu Sirenen in der islamischen Kunst und der Datierung s. Joachim Gierlichs: Fabelwesen in der Islamischen Kunst. Teil I: Al Buraq, in: Spectrum Iran 8,1 (1995), S. 8–28 mit Literatur; vgl. eine Feldflasche mit Sirenendarstellung, Nationalmuseum Damaskus A, 2065; Land des Baal. Syrien – Forum der Völker und Kulturen. Ausstellung des Museums für Vor- u. Frühgeschichte, Berlin, in der Großen Orangerie des Schlosses Charlottenburg vom 4. März bis 1. Juni 1982, hg. von Kay Kohlmeyer, Mainz u.a. 1982, S. 278, Nr. 253 (Michael Meinecke); ein archaisches Salbgefäß in Form einer Sirene siehe Kunze/HofstetterDolega: Vorsicht Lebensgefahr! (wie Anm. 4), S. 48f., Nr. 2,5. (Eva HofstetterDolega). Für Anregungen, Hinweise und Korrekturen bin ich Antje Krug und Norbert Franken, beide in Berlin, zu Dank verpflichtet. Und ohne die Unterstützung meiner Frau Christina Lemnitz wäre nicht nur der Sirenenhenkelaufsatz ungeschrieben geblieben.

Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln?

Abb. 16: Salb- bzw. Parfümgefäß in Form einer Sirene, islamisch, 12.–13. Jhdt.

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Thomas Schirren

Zukunft ist Herkunft Ein Grieche forscht nach den dunklen Ursprüngen einer glänzenden Gegenwart im augusteischen Rom 1

Vorbemerkung

Der Titel der folgenden Ausführung „Zukunft ist Herkunft“ bedarf einer kurzen Erklärung und vielleicht auch Rechtfertigung. Odo Marquard hat in einem Aufsatz die Herkunft als den menschlichen Faktor bestimmt, der sich als retardierendes Moment dem rasanten technischen Fortschritt entgegenstellt, der in die Zukunft eilt.1 Wenn er zu Recht die modernen Medien als Beispiel dieser technischen Beschleunigung nimmt, so erkennt er im menschlichen Gespräch, das auf Verständigung beruht, jene Verlangsamung, die zugleich die Informationsflut bändigt und auf das Wesentliche reduziert – besser als dies jeder technische Filter könnte. Das Gespräch aber stellt auch die philosophische Hermeneutik in den Mittelpunkt. In der Heidelberger Laudatio des damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel wurde der 100-jährige Nestor Hans-Georg Gadamer als Vermittler von Herkunft und Zukunft betrachtet. In der Tat ist der Zusammenhang von Herkunft und Zukunft ein eminent hermeneutischer Gedanke. Gadamers hermeneutische Philosophie versteht sich als Rückwendung zur und Betrachtung der Vergangenheit, um Gegenwart zu erklären und Wege in die Zukunft zu bahnen. Gadamers Hermeneutik ist die Philosophie eines Lesenden. In der Lektüre der Werke aus der Vergangenheit gewinnt der Hermeneut Orientierung für die Gegenwart und Perspektiven für eine Zukunft. Sie wendet sich damit gegen eine falsch verstandene Überbewertung der Gegenwart, indem die Gegenwart als Folgeprodukt und Ergebnis einer weit zurückreichenden Vergangenheit begriffen 1

Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit, in: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, hg von Odo Marquard, Stuttgart 2003, S. 234–246; vgl. auch Joachim Ritter: Europäisierung als europäisches Problem (1956), in: Metaphysik und Politik, hg. von dems., Frankfurt a.M. 1969 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 199), S. 321–340, bes. S. 335; Ritter beschäftigt sich mit der Türkei der 50er Jahre; was er dort jedoch über den Status säkularer und religiöser Gegensätze bemerkt hat, wirkt von heute aus betrachtet geradezu prophetisch.

110

Thomas Schirren

wird. In der Zukunft die Folgen der Herkunft zu sehen bedeutet somit, das Kontinuum von Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft zu verlängern. Dass Gadamer mit solchen Gedanken sich als Hermeneut zugleich in die lange Tradition des Antiquarianismus stellt, dessen erste Anfänge bereits in der Antike aufzufinden sind, ist eine These, die ich im Folgenden zu belegen suche. Es ließe sich zeigen und wurde auch vielfach schon gesehen, dass der Antiquarianismus seinerseits nicht eine selbstvergessene Suche der Vergangenheit unternimmt, sondern dass er nach einer Orientierung in der Gegenwart sucht und dafür die Vergangenheit befragt. Her- und Zukunft verschmelzen so im Moment der Gegenwart, die sich zweigesichtig einerseits auf die Vergangenheit bezieht und andererseits in die Zukunft schaut. Der Autor, den ich in diesen Horizont stellen möchte, steht nun seinerseits an einer Zeitenwende, vielleicht der bedeutendsten in der Antike, dem aufkommenden Prinzipat. Diese ‚Krisenzeit‘2, die die alte res publica ablöst, aber dennoch symbolisch am Alten festhält, ja sogar das Alte ‚neu‘ zu bewahren sucht, gibt dem Antiquarianismus als Vergewisserungsstrategie eine neue Bedeutung. Daher soll im Folgenden ein Autor untersucht werden, der sich daran gemacht hat, eine Biographie Roms zu verfassen, um dessen Bewertung in der Gegenwart zu verbessern.3 Varro war ihm darin vorangegangen, als er seine vita populi Romani verfasste und die griechische Konzeption eigenständig weiterverarbeitete.4 Vor diesem Hintergrund ist die ἀρχαιολογία Ῥωµαική zu sehen. 2

3

4

Reinhart Koselleck: Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3 (1982), S. 617–650, hier S.619; 626f. Siehe dazu auch Karl Galinsky: Augustan culture. An interpretive introduction, Princeton 1996; Andrew Wallace-Hadrill: Rome’s cultural revolution, Cambridge 2008, S. 3–37; Nicolas Wiater: The Ideology of Classicism. Language, History, and Identity in Dionysios of Halicarnassos, Berlin 2011 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 105), S. 8–18. Damit greift Dionys ein Projekt älterer Historiographen auf: Dikaiarch hat einen βίος Ἑλλάδος (Die Schule des Aristoteles. Texte und Kommentar, Bd. 1: Dikaiarchos, hg. von Fritz Wehrli, Basel ²1967, S. 22–28, Fr. 47–66) verfasst, in dem er die Kulturgeschichte Griechenlands in mehreren Phasen entwickelte. Eine neuere Edition bei Mirhady in: Dicaearchus of Messana, hg. von William W. Fortenbaugh und Eckart Schütrumpf, New Brunswick/London, S. 1–142. Vgl. darin auch den Beitrag von Schütrumpf, Dikaiarchs βίος Ἑλλάδος und die Philosophie des vierten Jahrhunderts, S. 255–277, bes. S. 260 zu Herakles als Rinderhirten in Lykien, und S. 271–277 zum Leben unter Kronos, s.u. S. 129–130. Wolfram Ax: Dikaiarchs Bios Hellados und Varros de vita populi romani, in: RhM 143 (2000), S. 337–369; zur Übertragung des individuellen, biologischen Lebens (βίοϛ) auf die Geschichte einer Stadt, bzw. einer Nation ebd., S. 348f.: „Dikaiarch stellt sich mit seiner Titeljunktur über Aristoteles hinaus auch in die vorsokratische Tradition der Kulturentstehungslehre, die im Rahmen eines aszendenten technisch zivilisatorischen Entwicklungsmodells als Kulturzustand, Zivilisationsstufe o.ä. verstanden wissen will, und so könnte man den Titel seiner Schrift auch mit ‚Über die

Zukunft ist Herkunft

2

Das Vorhaben

2.1

Die dunklen Ursprünge Roms

111

Im Folgenden möchte ich zunächst das Proömium von Dionys’ Antiquitates Romanae untersuchen und hierbei insbesondere zeigen, welchen programmatischen Anspruch er für die Abfassung seines umfassenden, 20-bändigen Werkes erhebt. Im ausführlichen Proömium (Dion. Hal. ant. 1,4) nennt er einige Gründe, die Frühgeschichte Roms zu untersuchen. Da gebe es z.B. Kritiker der Weltmacht, die behaupten, dass Rom unbedeutende und wenig ehrenvolle Anfänge gehabt habe; auch Pompeius Trogus überliefert uns davon einiges in seinem Geschichtswerk, wo es heißt:5

5

Kultur/Zivilisation Griechenlands‘ wiedergeben“ (ebd., S. 350). Andererseits reichert sich der Begriff des Lebens mit dem der Lebensgeschichte an. Zur Struktur und Absicht von Varros vita populi Romani s. ebd. S. 356–363. Emilio Gabba: Dionysius and „The History of Archaic Rome“, Berkeley u.a. 1991 (Sather classical lectures 56), S. 78f. schränkt den Einfluss Dikaiarchs ein, da Dionys nicht das anthropologische Konzept übernehme, dennoch stehe er in der Tradition des Theopomp: „Roman history is thus understood as a global history of Roman society in its historical development, an epoch-making period in the story of civilization“ (ebd., S. 79). Hier wie im Folgenden alle Übersetzungen vom Verfasser; Pompeius Trogus bei Iust. 28,2,8–10; 38,6,7: Quos autem homines Romanos esse? nempe pastores, qui latrocinio iustis dominis ademptum solum teneant, qui uxores cum propter origines dehonestamenta non invenirent, vi publica rapuerint, qui denique urbem ipsam parricidio condiderint murorumque fundamenta fraterno sanguine adperserint. Antwort der Ätoler auf eine römische Gesandtschaft: quia ipsi tales reges habuerint, quorum etiam nominibus erubescant, aut pastores Aboriginum, aut haruspices Sabinorum, aut exules Corinthiorum, aut servos vernasque Tuscorum, aut quod honoratissimum nomen fuit inter haec, Superbos; atque ut ipsi ferunt conditores suos lupae uberibus altos, sic omnem illum populum luporum animos inexplebiles sanguinis, atque imperii divitiarumque avidos ac ieiunos habere. Ebenso kritisch ist Sall. hist. frg. 4,69,17: An ignoras Romanos, postquam ad occidentem pergentibus finem Oceanus fecit, arma huc convortisse, neque quicquam a principio nisi raptum habere, domum coniuges agros imperium? Convenas olim sine patria parentibus, peste conditos orbis terrarum, quibus non humana ulla neque divina obstant quin socios amicos, procul iuxta sitos, inopes potentisque trahant excindant, omniaque non serva, et maxume regna, hostilia ducant? Zur ganzen Problematik der antirömischen Polemik s. Metrodor von Skepsis (FGrHist II C S. 224) und Glen W. Bowersock: Augustus and the Greek World, Oxford 1965, S. 131, Anm. 5 und Harald Fuchs: Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt, Berlin 1938, S. 41f.; Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 190–192.

112

Thomas Schirren Wer sind überhaupt diese Römer? Ja, es waren Hirten, die jenen Grund und Boden in Besitz hatten, den sie mit Raub ihren rechtmäßigen Vorbesitzern entrissen hatten; die die Frauen, die sie aufgrund ihres schlechten Herkommens nicht gewinnen konnten, mit öffentlicher Gewalt raubten; schließlich solche, die eine Stadt durch Brudermord gründeten und somit die Fundamente ihrer Mauern mit dem Blute ihrer Brüder befleckten.

Dem hält Dionys entgegen, dass es nichts Größeres gerade in der römischen Geschichte gebe als deren Anfänge. Dort nämlich sei den Römern der Sieg über starke Gegner gelungen, wie über die Makedonen und Phöniker. Überhaupt wüssten die Griechen viel zu wenig von dieser Geschichte ihrer Herren. Dionys wendet sich auch gegen jene Vorstellung, dass es nicht die Tugenden der Römer gewesen seien, sondern reiner Zufall, der zum Aufstieg der Stadt Rom geführt habe, so etwa eine Bemerkung bei Polybios (1,63,9). Viele, die sich derart negativ über Rom und seine Geschichte äußern, seien jedoch, so ist sich Dionys gewiss, einfach nur Schmeichler jener von den Römern unterjochten Barbaren und redeten diesen nach dem Munde. Daraus gewinnt nun Dionys einige historiographische Topoi, die sich typischerweise am Beginn historiographischer Texte als sogenannte Exordialtopoi6 befinden. Zunächst also geht es darum, falsche und irrige Annahmen zu beseitigen, in einem nächsten Schritt darum, zu zeigen, dass die Römer bisher von den Griechen literarisch noch nicht angemessen dargestellt worden seien – hieran schließt sich natürlich die für uns besonders interessante Frage nach dem Adressaten der Antiquitates Romanae an. Dionys versichert seinen Lesern, dass jeder, der nicht maliziös gegen die Römer eingestellt sei, einsehen müsse, dass die Römer nur jenes Naturrecht (νόµος φύσεως) verwirklichen, nach welchem der Stärkere zu Recht herrsche. Solche dauernde Herrschaft jedoch könne nur durch eine Stärke garantiert werden, die sowohl moralisch wie militärisch fundiert sei.7 Daraus ergeben sich nun die spezifischen Gegenstände seiner Geschichtsschreibung. Gefragt wird also nach den Gründern der römischen Geschichte und wir können vorausgreifend schon beantworten, dass Dionys die Griechen als die eigentlichen Gründer Roms ansah. Daran knüpfen sich weitere Fragen, nämlich wie diese in Italien einwandernden Griechen mit der dortigen Bevölkerung um6

7

Zu diesem Begriff Klaus Schöpsdau: Exordium, in: HWRh 3 (1996), Sp. 136–140, bes. Sp. 138 („Exordiale Topoi“); Tore Janson: Latin Prose Prefaces. Studies in Literary Conventions, Stockholm u.a. 1964 (Studia Latina Stockholmiensia 13) und Elmar Herkommer: Die Topoi in den Proömien der römischen Geschichtswerke, Tübingen 1968; s. auch Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 190. Wiater: The Ideology of Classicism (wie Anm. 2), S. 191 verbindet diese Argumentation mit der Position der Athener in Thuk. 5,89, wo sich die Athenischen Unterhändler nicht ohne Zynismus auf das Recht des rein militärisch Stärkeren berufen. Für ein intertextuelles Signal spräche, dass Dionys sich sehr kritisch mit den Historien des Thukydides auseinandersetzt, wie Wiater zeigt, siehe ders., S. 130–165.

Zukunft ist Herkunft

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gingen und wie des Weiteren die Lebensumstände jener Einwanderer waren, die schließlich zur Größe Roms führten. All dies zusammen erst bildet die Grundlage einer angemessenen Bewertung der geschichtlichen Bedeutung der Römer. Ziehen wir hier ein kurzes Fazit, so lässt sich festhalten, dass Dionys in seinem historiographischen Werk darlegen möchte, dass das Imperium Romanum eine gerechte Herrschaft ausübt; dazu möchte er in einer Archäologie auf den Anfang dieser Herrschaft zurückgehen. Die Römer herrschen nämlich zumal durch ihre besonderen moralischen Qualitäten, und diese zeigten sie bereits von Anfang an. Die „Biographie“ Roms folgt damit den Grundgegebenheiten dieser Textsorte, nämlich der Darstellung der moralischen Qualitäten des Porträtierten, am besten von frühester Jugend an.8 Dadurch ist auch eine moralische Erbauung der Rezipienten impliziert. Doch sollte diese transgenerische Betrachtung nicht verdecken, dass die Frage nach den Anfängen eine eminent griechische ist, die in der Philosophie ebenso wie in der Historie verfolgt wurde: Geht es philosophisch um den Ursprung des Seienden, indem die Prinzipien des Seins offengelegt werden, so gelangt die Frage nach den Anfängen in der Historie schließlich zu Mythischem, indem eine Bevölkerung oder eine Stadt sich auf einen Heroen zurückführt, der den historischen Grund ihres Daseins gelegt hat. Die Griechen blieben dabei nicht bei ihrer eigenen Geschichte, sondern sie forschten universal nach den origines gentium. Freilich benannten sie dabei immer wieder griechische Heroen, die auch die Stammväter der Barbaren gewesen seien.9 Diese Suche nannte man ἀρχαιολογία.

8

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Dazu Albrecht Dihle: Die Entstehung der historischen Biographie, Heidelberg 1987 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1986,3), S. 22: „Die Specifica ihrer Formgebung, wie man sie bei Plutarch finden kann, ergaben sich aus ihrer Verwurzelung in den anthropologischen Vorstellungen hellenistischer Philosophie und der moralisch-paränetischen Zielsetzung biographischer Schriftstellerei.“ Nur wo dies nachweisbar ist, handelt es sich gattungsmäßig um Biographie; Albrecht Dihle: Zur antiken Biographie, in: La biographie antique, hg. von Stefan M. Maul und Widu Wolfgang Ehlers, Genf 1998 (Entretiens sur l’antiquité classique 44), S. 119–146, wo die besondere Bedeutung der Bioi Paralleloi Plutarchs und einer berühmten Stelle bei Polybios (10,21) für die Entstehung der Gattung betont wird. Einen anderen Akzent legt Wiater: The Ideology of Classicism (wie Anm. 2), wenn er die Formulierung εὐθὺς ἐξ ἀρχῆς S. 171–198 zum Ausgang seiner Überlegungen nimmt. Dazu immer noch grundlegend Elias Bickerman: origines gentium, in: ClPh 47 (1952), S. 65–80.

114 2.2

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Quellen und Vorgänger

Dionys betont selbst, dass er bei seinen Studien zur römischen Geschichte einerseits das Gespräch mit Fachleuten gesucht, andererseits selbst die Quellen studiert habe, sowohl griechische als auch lateinische.10 Die griechischen Vorgänger der römischen Geschichte werden von Dionys benannt. Der erste, der sich freilich nur oberflächlich mit der römischen ‚Archäologie‘ beschäftigt haben soll, sei 1.) Hieronymus von Cardia gewesen, ein hellenistischer Historiograph, der um 360 v. Chr. geboren wurde und der ethnologische Exkurse zur Archaeologia Roms in sein Werk eingeflochten haben soll.11 Nach ihm habe 2.) Timaios von Tauromenion im Rahmen seiner „allgemeinen Geschichte“ auch die Frühgeschichte (τὰ ἀρχαῖα) gestreift und dem Krieg mit Pyrrhos (280–272) eine eigene Monographie gewidmet.12 Es folgen 3.) Antigonos von Karystos, von dem wir nur zwei Nachrichten zu seiner Frühgeschichte Roms besitzen,13 4.) Polybios, von dem nur wenige Fragmente zur römischen Archäologie erhalten sind,14 und 5.) Selenus von Kale Akte, der um 218–201 v. Chr. eine Geschichte Hannibals 10

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Dion. Hal. ant. 1,7,2: ἐγὼ καταπλεύσας εἰς Ἰταλίαν ἅµα τῷ καταλυθῆναι τὸν ἐµφύλιον πόλεµον ὑπὸ τοῦ Σεβαστοῦ Καίσαρος ἑβδόµης καὶ ὀγδοηκοστῆς καὶ ἑκατοστῆς ὀλυµπιάδος µεσούσης, καὶ τὸν ἐξ ἐκείνου χρόνον ἐτῶν δύο καὶ εἴκοσι µέχρι τοῦ παρόντος γενόµενον ἐν Ῥώµῃ διατρίψας, διάλεκτόν τε τὴν Ῥωµαϊκὴν ἐκ αθὼν καὶ γραµµάτων ἐπιχωρίων λαβὼν ἐπιστήµην, ἐν παντὶ τούτῳ χρόνῳ τὰ συντείνοντα πρὸς τὴν ὑπόθεσιν ταύτην διετέλουν πραγµατευόµενος. καὶ τὰ µὲν παρὰ τῶν λογιωτάτων ἀνδρῶν, οἷς εἰς ὁµιλίαν ἦλθον, διδαχῇ παραλαβὼν, τὰ δ᾿ ἐκ τῶν ἱστοριῶν ἀναλεξάµενος – „Ich aber segelte nach Italien gleich mit Ende des Bürgerkrieges, den der Kaiser Augustus in der Mitte der 187. Olympiade beendet hatte, und verbrachte seitdem 22 Jahre in Rom, dabei lernte ich die römische Sprache und die einheimische Schrift, wobei ich mich während dieser ganzen Zeit all dem widmete, das mit diesem Thema zusammenhängt. Und einesteils ließ ich mich durch Unterweisung von den angesehensten Leuten, mit denen ich verkehrte, informieren, andernteils las ich es mir aus den historischen Darstellungen zusammen.“ Unsere Stelle ist aufgenommen in FGrHist 154 als F13. Sonst haben wir keine Evidenzen für solche Inhalte. Timaios hat eine Geschichte von Italien und Sizilien in 38 Bänden verfasst, und über einige antiquarische Gegenstände des römischen Volkes berichtet. Unsere Stelle ist aufgenommen in FGrHist 566 F42a; Gell. 11,1,1: Timaeus in historiis, quas oratione Graeca de rebus populi Romani composuit, et M. Varro in antiquitatibus rerum humanarum terram Italiam de Graeco vocabulo appellatam scripserunt, quoniam boves Graeca vetere lingua ἰταλοί vocitati sint, quorum in Italia magna copia fuerit, bucetaque in ea terra gigni pascique solita sint complurima. Unsere Stelle in FGrHist 816 T1. Zur römischen Archäologie dort F1 (Festus p. 328,2 Lindsay); zu Rhomus als Gründer Roms F2; Plut. Rom. 17,5 zur Tarpeia. Polybe: Histoires Livre VII. Texte établi et traduit par Raymond Weil, Paris 1977, S. 28–35.

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115

und Siziliens schrieb und im Zuge dieser Darstellungen wohl auch Antiquarisches aufgenommen hat, und „viele andere“.15 Doch alle diese Historiographen seien weder gewissenhaft noch genau zu Werke gegangen, sondern hätten sich auf zufällig Erfahrenes beschränkt. Nicht besser seien freilich die Römer selbst, ob sie nun in griechischer oder römischer Sprache geschrieben hätten: Quintus Fabius Pictor und Lucius Cincius Alimentus, die ihre Akme während der Punischen Kriege hatten.16 Denn was diese römischen Geschichtsschreiber auf Griechisch schrieben, so Dionys, ist nur in den Punkten exakt, die sie selbst erlebt haben, gerade die ‚Archäologie‘ Roms, und zwar besonders was nach der Gründung geschehen sei, bleibe summarisch (κεφαλαιωδῶς ἐπέδραµεν ἑκάτερος 1,6,2).17 Aus heutiger Sicht wäre diese Bestandsaufnahme kritisch zu reflektieren. Zunächst ist ja auffällig, dass die meisten Geschichtsschreiber sich der Geschichte Roms von ihren Anfängen, also ab urbe condita widmen. Und so können wir aus den Fragmenten rekonstruieren, dass Quintus Fabius sowohl die Ankunft des Herakles in Italien behandelt hat als auch die des Aeneas und den 15

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Unsere Stelle in FGrHist 175 T4; Überlegungen zur Etymologie in FGrHist 175 F8: Palatium nemo dubitaverit quin Arcadas habeat auctores […] sunt qui velint a balatibus ovium mutata littera, vel a Pale pastorali dea, aut ut Silenus probat, a Palantho Hyperborei filia, quam Hercules ibi compressisse visus est, nomen monti adoptatum (Solin. 1,14f.). Unter die „vielen anderen“ ist wohl auch Hellanikos zu zählen, den er später gerade für die Frage der Abstammung der „Tyrrhener“ (Etrusker) in Dion. Hal. ant. 1,28,3 benutzt; die Flucht des Aeneas erzählt Dionys auch nach der Troika des Hellanikos (Dion. Hal. ant. 1,47 vgl. 1,48,1 = FGrHist 4 F31) und nach dessen Hiereiai zur Gründung Roms in Dion. Hal. ant. 1,72 = FGrHist 4 F84. Zur ersten Information Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken Bd. I, Berlin 21994, S. 290–298; zu Q. Fabius Pictor, ebd., S. 299–301: er kämpft 225 gegen die Gallier (HRR I F23 S. 36), übernimmt wohl von Hellanikos die Aeneassage und die Gründungslegende von Hieronymos von Kardia, Timaios von Tauromenion. Fabius steht einerseits in der Tradition der Annalen, andererseits war er auch von der pragmatischen Geschichtsschreibung beeinflusst. Er schreibt auf Griechisch FGrHist 809; HRR I S. 5–39. Zu den ältesten römischen Historikern zählt auch Cincius Alimentus, der um 210 v. Chr. als Prätor verzeichnet ist (HRR I S. 40–43; FGrHist 810); er behandelt auch die Anfänge Roms. Nach dem zu schließen, was erhalten ist, bevorzugte er einen hellenistisch farbigen Stil mit vielen Anekdoten. Wie Dion. Hal. hebt er den kulturstiftenden Einfluss Griechenlands heraus, so habe Euander das Alphabet mitgebracht. Dion. Hal. scheint ihn ausführlich benutzt zu haben. Dion. Hal. ant. 1,5,4 οὐδεµία γὰρ ἀκριβὴς ἐξελήλυθε περὶ αὐτῶν Ἑλληνὶς

ἱστορία µέχρι τῶν καθ᾿ ἡµᾶς χρόνων, ὅτι µὴ κεφαλαιώδεις ἐπιτοµαὶ πάνυ βραχεῖαι – „Es gab nämlich zu meiner Zeit keine genaue griechische

Geschichtsschreibung zu diesem Thema, sieht man von allzu knappen Zusammenfassungen ab, die sich auf die Hauptpunkte beschränken mussten.“ Das wird in der neueren Forschung bestritten, s. von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur (wie Anm. 16), S. 300f.

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Gründungsmythos von Rom mit Romulus und Remus,18 d.h. mit den Ktiseis der Städte wird die mythische Gründungsgenealogie geliefert. Cincius Alimentus behandelt ebenfalls die Urgeschichte und zwar mit etymologischen Interessen; auch er hebt die Rolle des Kulturheros Euander aus Arkadien heraus.19 Diese Rolle erfüllt er noch bei Cato.20 Diese Muster entsprechen der oral tradition, die für die Entstehungsbedingungen und die Legitimierung der frühen Geschichtsschreibung wesentlich und konstitutiv ist.21 Dagegen ist die Unterscheidung in annales und historiae sekundär. Denn selbst in der Annalistik gibt es Raum für weitschweifige Erzählungen, der Annalist des 2. Jh. Cornelius Gellius etwa gibt Antiquarischem breiten Raum und Dionys hat, wie er sagt, Gellius benutzt. Die Kritik also, die Dionys an den Vorgängern übt, darf wohl nicht unbesehen akzeptiert werden. Vielmehr scheint Dionys bestrebt, die Wichtigkeit seines Unternehmens herauszustreichen, indem er die vorliegenden Werke diskreditiert. Seine Behauptung, er habe Gelehrte aufgesucht und mit diesen gesprochen, ist jedoch vor dem Hintergrund der oral tradition aufschlussreich: Möglicherweise war die Bedeutung der römischen Geschichtsschreibung, die ja von der Nobilität ausgeübt wurde, nicht auf das Medium Schriftrolle fixiert, sondern wurde auch noch mündlich praktiziert, als es schon 200 Jahre Buchrollen gab. Gerade die Ausschmückung der Stadtgründungsmythen, die ja so ausführlich nicht schriftlich überliefert sein soll, wird bei der Rekonstruktion der Werke der frühen Annalisten vielleicht voreilig dem Fabius gegeben.22 Wiederum zieht Dionys ein Fazit aus der Sachlage.23 Man kann dieses in zwei Aspekte unterscheiden: Ihn treiben bei der Geschichtsschreibung offenbar Motive zur moralischen Besserung an, wenn er sich vornimmt, dass man als Historiker dafür Sorge zu tragen habe, den Männern ihren verdienten Ruhm zu bescheren. Im Ruhm nämlich erreiche der Mensch eine Ähnlichkeit mit Gott. Des Weiteren ergibt sich daraus die Exemplum-Wirkung für die Nachfahren der geschilderten Vorbilder und der sich daraus ergebende Imperativ, sich der Vorfahren als würdig zu erweisen. Dieses Vorgehen sei keineswegs Schmeichelei, sondern sei als ein gerechter Dank zu verstehen, den der Autor der Stadt abstatten wolle, von der er so viel Gutes erfahren habe. Dionys schwingt nicht die moralische Keule eines Livius, doch eine protreptische Absicht ist durchaus

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FGrHist 809 F1; F2; F3; F4a. Hier folge Fabius, so Plutarch, dem Diokles von Peparethos, während Dionys Fabius folgt (Dion. Hal. ant. 1,79). Wer von wem abhängt, ist strittig. Hatte vielleicht Diokles wirklich die erste Ῥώµης κτίσις verfasst? FGrHist 810 F6; F7. HRR I F56 S. 71. HLL I S. 354–355; 362. Mit Polyb. 9,1,3f.; 9,2,1–6; 10,21,3 Unterscheidung in γενεαλογίαι καὶ µῦθοι ἀποικίαι und πραγµατικὸς τρόπος. S. Anm. 17. Dion. Hal. ant. 1,6,5.

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erkennbar, nach dem Bürgerkrieg sich wieder der virtus von ehedem zu entsinnen.24 Dieses Fazit mag überraschen, denn der Autor stimmt damit deutlich einen panegyrischen Ton an: Geschichtsschreibung habe der moralischen Erbauung zu dienen und gerade die Frühgeschichte Roms sei dazu geeignet. Wenn das noch keiner so deutlich gemacht habe, dann sei es umso notwendiger, eine solche Geschichte des Anfangs zu schreiben. Auf diese Weise wird die große Gegenwart als Folge eines Anfangs gedeutet, der sich gewissermaßen durchgehalten hat. Nun ist die moralische Betrachtung der Geschichte nichts Ungewöhnliches: Sowohl Sallust als auch Livius sehen die Geschichte Roms jedoch als kontinuierlichen moralischen Abstieg. Dem hält der Grieche entgegen, dass die gegenwärtige Erneuerung unter dem Prinzipat, die gerade auch die alten Kulte wiederbelebt, eine Renaissance der ursprünglichen virtus zeitige. Die Vorgabe bzw. die Entdeckung, dass das Imperium Romanum griechische Wurzeln habe, lässt nun aber diese Renaissance in einer neuen politisch-kulturellen Dimension erscheinen. Die politische Herrschaft Roms und die kulturelle Hoheit der Griechen sollen eine neue integrative Einheit eingehen. Dieses Muster wird für das Kaiserreich von allergrößter Bedeutung sein und Dionys erscheint vor diesem Hintergrund als ein Mann von besonderem Weitblick.25 Freilich hat man genau diese Position auch als besonders problematisch angesehen, weil der Autor sich der Macht angedient habe.26 Für uns stellt sich heute natürlich die Frage, wie Dionys zu seinen Quellen gekommen ist und wie er diese dann verarbeitet hat. Darf man ihm glauben, wenn er beklagt, dass die ihm schriftlich vorliegenden zu wenig detaillierte Informationen böten? Dionys jedoch scheint gerade solche für die Erforschung der Frühzeit zu benötigen, jedenfalls wartet er im Zuge seiner Darstellungen immer wieder mit sehr detaillierten Informationen auf. Entweder ist dies ein Versuch, die Bedeutung der Quellen, aus denen er schöpft, herabzusetzen, um seine eigene Leistung umso höher anzusetzen, oder es handelt sich hierbei bereits um ein indirektes Eingeständnis fiktionaler Anteile in der darzustellenden ‚Archäologie‘ Roms. Freilich weist das Dionys in 1,7,1–2 explizit zurück; doch das will nicht viel heißen.27 Insbesondere der Positivismus war schnell mit vernichtenden Ur24 25

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Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 191. Vgl. Anouk Delcourt: Lecture des Antiquités romaines de Denys d’Halicarnasse. Un historien entre deux mondes, Brüssel 2005 (Mémoires de la Classe des Lettres 3,34), S. 38: „Il apparaît en effet comme celui qui, en promouvant un Empire politiquement romain mais culturellement hellène, apaise les déchirements des historiens grecs sur la question de l’acceptation de l’hégémonie de l’Vrbs; d’autre part, en tant que premier théoricien d’un monde gréco-romain, il ouvre la voie à une aventure intellectuelle hors du commun, celle de la seconde sophistique.“ Eduard Schwartz: Dionysios [113] von Halikarnassos, in: RE V,1 (1905), Sp. 934– 961. Denn genau das ist auch für den sogenannten Fiktionalitätskontrakt wesentlich, s.

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teilen bei der Hand, wenn sie die von Dionys gepflogene Methode, besonders die Reden im Geschichtswerk herauszustellen und herauszuarbeiten, als eine aus den Rhetorenschulen stammende Attitüde abtat, die kaum Anspruch auf historische Wahrheit machen könne.28 Dionys selbst bleibt in diesem Punkt noch unbestimmt, denn er verweist lediglich auf seine eigene persönliche Erfahrung, da er selbst im Jahre 30 v. Chr., also nach der Schlacht von Actium und dem Ende des Bürgerkrieges, nach Rom gekommen sei und angesehene Gelehrte vor Ort befragt habe. Wenn man das nicht als einen verdeckten Hinweis auf Fiktion deuten möchte, dann bliebe hier nur die Folgerung, dass er die oral tradition befragt hat, die in der Tat die frühe Geschichtsschreibung in Rom bestimmt hat. Die schriftlichen historischen Quellen habe er insbesondere bei folgenden Autoren genauer untersuchen können. Er gibt eine weitere Liste römischer Autoren, die selbst nicht explizit eine ‚Archäologie‘ Roms verfasst haben, die aber für das ‚archäologische‘ Unternehmen wichtige Informationen bereitstellen. Es ist dies etwa der bekannte Marcus Porcius Cato, genannt Censorius (234–149 v. Chr.), dessen Werk über die Ursprünge des römischen Volkes (Origines gentis Romanae) benutzt wurde,29 dann Fabius Maximus, Konsul des Jahres 142, der Annales geschrieben habe,30 Valerius Antias um 111 v. Chr.,31 Licinius Macer,

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Rainer Warning: Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion, in: Funktionen des Fiktiven, hg von Wolfgang Iser und Dieter Henrich, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183–206. Der RE Artikel von Schwartz (wie Anm. 26) ist ein Markstein der Forschung, insofern er nach der immer noch maßgeblichen Edition von Jacoby (1885–1905) das Interesse an diesem Autor geradezu verhinderte. Unter den Augen der positivistischen Wissenschaft konnte dieser Autor nicht bestehen: „Rhetorische Geschichtsschreibung, welcher die Redekunst nicht bloß als ein Kunstmittel neben anderen gilt, sondern umgekehrt der historische Stoff nichts weiter als ein Objekt, an welchem diese Kunst gezeigt und dokumentiert wird, gewissermaßen das Thema eine µελέτη großen Stils“ (Sp. 934), doch gebricht es für Schwartz Dionys gerade an der Fähigkeit zu erzählen, sein „Mangel an archaischem Kolorit“ wirke sich für die Frühe Roms besonders nachteilig aus. Einziger Vorteil ist, dass diese künstlerische Defizienz die verarbeiteten Quellen besser bewahren könne: „So tritt bei ihm der tendenziös-politische Charakter, das räsonierende Element der jungen republikanischen Annalistik bestimmter hervor als bei Livius“ (Sp. 958). Gerade aber der Vergleich mit Plutarch zeige, „dass der classizistische Rhetor der römischen Realphilologie wenig Geschmack abgewonnen hat“ (Sp. 958). Dionys ist also sowohl sachlich wie stilistisch-literarisch eine Niete, allenfalls als Überlieferer dessen, was er nicht verstand und so auch nicht verschlechterte, von Nutzen. Sicherlich vor allem die ersten drei Bücher; Cato entwickelt dort die Gründungsgeschichten, die als κτίσεις ganz in griechischer Tradition stehen und für Dionys besonders wertvoll sein mochten, s. von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur (wie Anm. 16), S. 318f.; eine explizite Benutzung macht Dionys nirgends deutlich, ant. 1,56,2–5 wird auf Fabius zurückgeführt. Fr. bei HRR I S. 117f. Dazu siehe HLL I S. 364f.

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Volkstribun des Jahres 73 v. Chr.32 und eine Gruppe von für uns schwer fassbaren Autoren, die er im Plural mit Gellii und Calpurnii anspricht;33 bei letzteren vermutet man den Autor Calpurnius Piso.34 Nach solchen Präliminarien stellt sich also die Frage, welche Geschichten sich besonders gut eignen, bereits in der Frühzeit Roms diejenigen Stärken herauszuheben, die die nachmalige Suprematie Roms ausmachen werden. 3

Glanzstücke aus der Frühzeit Roms

3.1

Hercules

Ich möchte im Folgenden zwei Geschichten aus dem ersten Buch der Antiquitates etwas genauer betrachten, die an prononcierter Stelle im historisch strukturierten Verlauf der Entwicklung Roms zu stehen scheinen. Es ist einmal die Geschichte des Herakles in Italien (1,34–44) und zum anderen jener berühmte Stadtgründungsmythos, der oben schon erwähnt wurde, der Konflikt zwischen Romulus und seinem Bruder Remus, der mit dem Tod des Remus endet und Romulus zum ersten Alleinherrscher Roms machte (1,85–87). Herakles zieht nach der zehnten Tat, dem Raub der Rinder des Geryoneus im äußersten Westen, durch Italien zurück nach Griechenland.35 Das Thema Rinder 31

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Seine Annalen umfassten 75 Bücher und reichten vom Anfang bis 91 v. Chr. Auch er beschäftigte sich also mit dem Zeitraum, den Dionys interessierte, nämlich dem Übergang vom Mythos zu „wahreren“ Ereignissen, wie er sich selbst ausdrückt. Insbesondere Livius scheint ihn benutzt zu haben, s. von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur (wie Anm. 16), S. 310f. In seinen Annales (mindestens 16 Bücher) scheint er sich insbesondere genaue Angaben zu den Magistraten des 5. und 4. Jh. verschafft haben zu wollen. Cic. leg. 1,7 schilt seine loquacitas und multae ineptiae. Kommentar ad loc. von Valérie Fromentin (Denys d’Halicarnasse: Les antiquités romaines. Texte établi et trad. par Valerie Fromentin Bd. 1, Paris 2007 [Collection des universités de France / Série grecque 386], S. 225): Bei den Aelii könnte man an Quintus Aelius Tubero denken, dem Dionys seinen Thukydides-Essay widmet, ebenso an dessen Vater Lucius, der eine Geschichte Roms geschrieben haben soll. Die Gellii könnten auch von Cic. div. 1,55 (omnes hoc historici Fabii, Gelli, sed proxime Coelius) erwähnt worden zu sein, man sollte vor allem an Cn. Gellius denken. L. Calpurnius Piso Censorius Frugi (cos. 133 v. Chr.); er erzählt in seinem Werk anekdotenreich von Aeneas bis 146 v. Chr. (45 Fragmente haben sich bei HRR I S. 120–138 erhalten). Piso scheint sich auch für etymologische und topographische Fragen interessiert zu haben, weshalb er auch von Varro, Livius und Plinius benutzt wurde. Quellen dazu Hes. theog. 287–294 (Herakles stiehlt die Rinder des Geryoneus auf der

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ist für den Aufenthalt des Helden in Italien geradezu ein Leitmotiv, sicherlich nicht zufällig, da die Rinder auch als Zeichen der Fruchtbarkeit des Landes gelten.36 Zunächst unterscheidet Dionys hier die Erzählung über Herakles in einen mythischen und einen, wie er es nennt, „wahreren“ (ἀληθέστερος) Logos.37 Diese Unterscheidung mag verwundern, sind wir doch gewohnt, dass, wenn Historiographen sich mit einer mythischen Überlieferung beschäftigen, sie diese bald zur Seite legen, um sich in euhemeristischer Manier auf eine Rekonstruktion des historisch Möglichen, d.h. Plausibleren zu beschränken. Dionys aber lässt den Mythos ausführlich zur Sprache kommen. Dieser lehnt sich eng an den Dodekathlon an, indem Herakles nach Italien gelangt, als er von seiner zehnten Tat, dem Raub der Rinder des Geryoneus, aus Spanien kommt. In der Landschaft von Pallantion am Tiber hält er eine Rast zwischen dem Palatin und dem Aventin und schläft dort, erschöpft von den Anstrengungen der Reise, ein, nachdem er die Rinder auf die Weide gelassen hat. Ein Bandit vom Aventin, Kakos mit Namen, entbrennt in Begierde nach diesen Rindern (αὐτῶν ἔρωτα ἴσχει) und da er nicht alle stehlen zu können glaubt, zieht er einige mit jenem Trick des Hermes (Hermeshymnos 75–86) am Schwanz voran in seine Höhle, um die Spuren zu verwischen:38 ἀποκρύπτεται ἔµπαλιν τῆς κατὰ φύσιν τοῖς ζῴοις πορείας ἐπισπώµενος ἑκάστην κατ᾿οὐράν – „Er verbarg die Spuren, indem er jede einzelne Kuh am Schwanz entgegen der natürlichen Marschrichtung dieser Tiere in die Höhle zog.“ Herakles sucht die Rinder lange vergeblich und fragt auch den Dieb danach, der vor seiner Höhle steht und antwortet, dass er keine gesehen hätte; der Dieb lässt den Eigentümer aber auch nicht bei sich in der Höhle suchen. Da kommt Herakles der Gedanke, die anderen Rinder in der Nähe zu versammeln. Durch ihr Gebrüll provozieren diese eine Antwort der gefangenen Rinder im Inneren der Höhle. Solchermaßen überführt geht Kakos zum Angriff über, doch Herakles tötet den Dieb mit seiner Keule. Da er die Höhle als Räuberversteck erkennt, zerstört er diesen Unterschlupf und stiftet zum Dank dem Jupiter Inventor einen Altar an der späteren Porta Trigemina.39 Es handelt sich in dieser Form um eine geradezu mustergültige Aitiologie eines Altares an der späteren Porta Trigemina: Der Held tötet einen Unhold und

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Insel Erytheia) und Apollod. bibl. 2,106–109 (ed. Wagner). Im zehnten Athlon führt Herakles die dem Geryoneus gestohlenen Rinder über Spanien und Italien durch das Ionische Meer nach Griechenland. Die von Dionys in 1,35,2f. (= FGrHist 4 F111) erzählte Geschichte, dass Italien seinen Namen vom verlorenen Kalb des Herakles (vitulus) erhalten hat, stammt von Hellanikos. Sie wird nach Gellius 11,1 aber auch von Timaios erzählt (FGrHist 566 F42a), s.o. Anm. 12. Dion. Hal. ant. 1,39,1: Ἔστι δὲ τῶν ὑπὲρ τοῦ δαίµονος τοῦδε λεγοµένων τὰ µὲν µυθικώτερα, τὰ δ᾿ ἀληθέστερα – „Was man sich über diesen Gott erzählt, ist teils mythischerer, teils wahrerer Natur.“ Dion Hal. ant. 1,39,2. Dion. Hal. ant. 1,39.

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befreit die Gegend von dessen Unwesen. Dem Gott wird ein Dankesaltar errichtet, zugleich erweist sich der Überwinder als Held.40 Der Erzähler schließt mit der Bemerkung, dass bis in seine Gegenwart der Kult an diesem Altar griechisch vollzogen werde.41 Doch ist die Begebenheit damit noch nicht abgeschlossen. Denn die Aborigines und die Arkader, die um das Pallantion wohnen, sind über den Tod des Unholds ebenso erleichtert, wie sie die Erscheinung des Herakles als göttliche Epiphanie empfinden. Die Vornehmen laden den Helden ein, und als sie seinen Namen erfahren, bieten sie ihm gleich bereitwillig ihr Land und ihre Freundschaft an. Nun tritt Euander auf, der Grieche aus Arkadien, und stiftet dem siegreichen Helden am Fuß des Palatin am Forum Boarium die Ara Maxima, und das ist der Kult für den Hercules Invictus, der älteste Hercules-Kult in Rom.42 Denn Euander hatte von seiner Mutter Themis erfahren, dass Herakles aufgrund seiner Tüchtigkeit (ἀρετή) einst vergöttlicht werden sollte. Und nun möchte Euander der erste sein, der ihm huldigt. Das erste Opfer für diesen Hercules Invictus ist eine noch nicht unter das Joch gezwungene Kuh (δάµαλις ἄζυξ). Herakles bewirtet nun seinerseits die Menge der Bewohner aus Dank für diese Gastfreundlichkeit, indem er einige Rinder seiner Herde schlachtet und den Zehnten seiner Beute abgibt.43 Des Weiteren verteilt Herakles Länder, die die Ligurier besessen hatten, und die anderer Nachbarn an die Bewohner von Pallantion, nachdem er einige Gesetzlose aus diesen Ländern hinausgeworfen hat.44 Er bittet schließlich 40

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Dazu Walter Burkert: Antiker Mythos – Begriff und Funktion, in: Antike Mythen in der europäischen Tradition, hg. von Heinz Hofmann und Walter Burkert, Tübingen 1999, S. 11‒26, hier S. 14f.: Mythos als „applied tale“ oder „charter myth“; s. auch Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einführung, München 1985, S. 117–137; die Trennung von Mythisch und Historisch ist nicht grundsätzlich zu verstehen, sondern die fernere Vergangenheit ist stärker durch vielfältige Erzählungen überwuchert und es kostet mehr Mühe, den wahren Kern zu erkennen. Dazu in der Topographie Roms Jaakko Aronen: Pater Inventor, in: LTUR 4 (1999), 62. Filippo Coarelli: Hercules Invictus, Ara Maxima, in: LTUR 3 (1996), S. 15: Dieser Altar gilt als ältester Kultort für Hercules in Rom; neben der Version des Dionys, die Euander zum Gründer macht, gibt es auch jene, in der Herakles selbst diesen Kult einrichtet: Ov. fast. 1,581; Liv. 1,7,11. Möglicherweise hängt diese Frage der Kultgründung aber mit der Gründung des Altars für den Jupiter Inventor an der Porta Trigemina zusammen. Der Kult ist griechisch, d.h. es wurde unverhüllt geopfert und das Opferfleisch musste im Heiligtum verzehrt werden. Zugelassen waren nur Männer. Die Hauptfeierlichkeit fand am 12. August statt. Dion. Hal. ant. 1,40,3 τὸν µὲν δῆµον ἑστιάσει ὑποδέχεται θύσας τῶν βοῶν τινας καὶ τῆς ἄλλης λείας τὰς δεκάτας ἐξελών – „Das Volk bewirtete er gastlich, indem er einige der Kühe schlachtete und von der übrigen Beute den Zehnten abgab.“ Welche Gebiete das sein sollen, ist hier nicht erkennbar; die Ligurer oder Ligyer sind zwar zuvor einige Male genannt worden (Dion. Hal. ant. 1,10,3; 1,13,4; 1,22,2–5), doch erstreckt sich ihr Siedlungsraum in zwei Bereichen, nämlich Liguria transalpina

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die Bewohner, dieses Opfer jedes Jahr für ihn zu wiederholen. Als Kultfamilien werden die Potitii und Pinarii eingesetzt. Nun führt Dionys eine Kultgeschichte als ein antiquarisches Detail an, indem er bemerkt, dass jetzt dieser Kult in staatlicher Hand sei und von Sklaven versehen werde. Er verweist dafür auf das Jahr 312, in welchem der Zensor Appius Claudius den Kult verstaatlicht habe.45 Hier an der Ara Maxima werden üblicherweise eidliche Verträge unter Abgabe des Zehnten gelobt.46 Dionys betont, dass dieser Altar zwar unscheinbar wirkt, doch überall in Italien sich Kulte für Herakles fänden.47 Auch hier folgt Dionys mit dieser Erzählung dem klassischen Muster einer Aitiologie. Dabei ist zu bemerken, dass der Kult an der Ara Maxima von einem Griechen begründet wurde, der einen ortsansässigen Unhold bestrafte. Noch bis in augusteische Zeit wurde, wie wir aus anderen Quellen wissen, der Kult an der Ara Maxima nach griechischen Kultformen begangen, nämlich insbesondere barhäuptig und nicht wie nach römischem Brauch capite velato.48 Wie angekündigt, erzählt Dionys nun in einem zweiten Anlauf den „wahreren“ Logos (1,41); wenn man dabei etwa auch an den deuteros plous Platons denken möchte, so läge man wohl nicht ganz falsch.49 Damit ist ein Verfahren bezeichnet, dass nach einem ersten Ausgriff auf das Ideale eine menschlichere, konkretere Vorgehensweise gewählt wird. In dieser Perspektive erscheint Herakles als ein erfolgreicher Truppenführer oder General mit großem Gefolge. Er durchzieht das ganze Land mit seiner großen Heeresmacht und vollbringt dabei Taten, die dem besseren Leben aller dienen. Er löst Tyranneis auf oder bestraft Städte, die ihre Nachbarn bedrohen; wo immer Menschen sich ungesetzlich benehmen, setzt er gesetzlich legitimierte Königsherrschaften ein und sorgt für vernünftige Verfassungen, die Lebensformen ermöglichen, die auf gegenseitiger Achtung und auf emotionaler Bindung der Bürger untereinander beruhen. Er verbindet Griechen und Barbaren, Menschen, die am Meer, und solche, die im Landesinneren leben. Auch Städte, die in einsamen, von Menschen verlassenen

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und Liguria cisalpina (vgl. Strab. 4,6,2 und 5,2,1). Die Ligurer wurden von den Römern in heftigen Kriegen 328 unterworfen, doch folgten immer wieder Aufstände (Liv. 38,42,8–41,19,3). Es liegt daher nahe, dass Dionys diesen Stamm auch schon durch Herakles besiegen lassen will. Vgl. Liv. 9,29,9: Eodem Appio auctore Potitia gens, cuius ad Aram Maximam Herculis familiare sacerdotium fuerat, servos publicos ministerii delegandi causa sollemnia eius sacri docuerat. S. Friedrich Münzer: Claudius Caecus, in: RE III,2 (1899), Sp. 2682. Das mag erklären, warum auch Herakles hier den Zehnten abgibt (s.o. Anm. 43). Dion. Hal. ant. 1,40,6: τῇ µέντοι κατασκευῇ πολὺ τῆς δόξης ἐστὶ καταδεέστερος· πολλαχῇ δὲ καὶ ἄλλῃ τῆς Ἰταλίας ἀνεῖται τεµένη τῷ θεῷ – „In der baulichen Ausführung ist er freilich viel dürftiger als sein Ruf erwarten ließe; vielerorts indessen, gerade in Italien, sind dem Gotte Tempelbezirke geweiht.“ Liv. 1,7,3; Varro l. l. 6,54; s.o. Anm. 42. Plat. Phaid. 99d ff.

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Gegenden gegründet werden, sind Taten des Herakles, ebenso wie die Begradigungen von Flüssen, die Austrocknung von Sumpflandschaften oder das Bahnen von Pfaden in unwegsamen Gegenden.50 Diese rhetorisch geschickt copia evozierende Aufzählung von Wohltaten des griechischen Helden macht diesen zu einem Kulturhelden besonderer Art; er bringt nicht nur griechische Errungenschaften wie die gesetzliche Ordnung nach Italien, er vermittelt auch zwischen den dortigen Menschen, Barbaren und Griechen oder Seefahrern und Bauern. Natürlich ist dieser Held nicht mit den Rindern nach Argos unterwegs (Italien läge ja auch nicht auf dem Weg), sondern er ist auf einem Feldzug, der ihm Untertanen und Länder einbringen soll:51 ἀλλ᾿ ἐπὶ δουλώσει καὶ ἀρχῇ τῶν τῇδε ἀνθρώπων στρατὸν ἄγων πολὺν Ἰβηρίαν ἤδη κεχειρωµένος („Sondern zum Zwecke der Unterwerfung und der Herrschaftserweiterung über die dortigen Menschen führte er ein großes Heer, nachdem er Spanien gerade unterworfen hatte“). Auf dem Wege freilich gibt es auch manchen Widerstand, besonders die Ligurer im Norden, am Alpenrand werden erwähnt, auf die schon der Aischyleische Prometheus anspiele, wenn er dem Zeussohn prophezeit, dass ihm die Geschosse ausgehen würden.52 Doch schließlich kann er auch diese bezwingen und gelangt auf die italische Halbinsel und nach Latium, wo er auf Kakos stößt, einen „durchaus barbarischen Herrscher, der über wilde Menschen gebeut“.53 Dieser nämlich macht einen plötzlichen Überfall auf das schlafende Heerlager und zieht mit großer Beute davon. Als er später vom griechischen Heer belagert wird, fällt er im Sturm seiner Festung. Sein Land wird unter den Arkadern um Euander und 50

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Dion. Hal. ant. 1,41,1 ὡς στρατηλάτης γενόµενος ἁπάντων κράτιστος τῶν καθ᾿ ἑαυτὸν Ἡρακλῆς καὶ δυνάµεως πολλῆς ἡγούµενος ἅπασαν ἐπῆλθε τὴν ἐντὸς Ὠκεανοῦ, καταλύων µὲν εἴ τις εἴη τυραννὶς βαρεῖα καὶ λυπηρὰ τοῖς ἀρχοµ ένοις ἢ πόλις ὑβρίζουσα καὶ λωβωµένη τὰς πέλας ἢ ἡγεµονία [coni. Kiessling, ἡγεµονίας AS] ἀνθρώπων ἀνηµέρῳ διαίτῃ καὶ ξενοκτονίαις ἀθεµίστοις χρωµένων, καθιστὰς δὲ νοµίµους βασιλείας καὶ σωφρονικὰ πολιτεύµατα καὶ βίων ἔθη φιλάνθρωπα καὶ κοινοπαθῆ – „Da er der beste Heerführer seiner Zeit war und über eine große Macht gebot, kam er in das ganze rings vom Okeanos umschlossene Land; er machte ein Ende, wenn eine Tyrannis schwer und drückend für die Untertanen war, wenn eine Stadt Unrecht tat und die Nachbarn schädigte oder wenn Menschen die Vorherrschaft hatten, die unzivilisiert lebten und gesetzlos Fremde töteten. An deren Stelle setzte er rechtmäßige Königsherrschaften ein und vernünftigere Verfassungen und etablierte Lebensformen, die human und auf wechselseitiger Achtung beruhten.“ Dion. Hal. ant. 1,42,2. TrGF III S. 315–317 Nr. 199 Radt. Dort freilich wird ihm der Weg vom Kaukasus nach Spanien gewiesen, nicht umgekehrt. Die Gegend wird auch von Strabo (Strab. 4,1,7), der ebenfalls das Aischylosfragment bringt, beschrieben. Sie hat eine Fülle von kleineren Steinen, mit denen Zeus dem Sohn helfen wollte, sich gegen die Ligurer zu wehren, weil es sonst keine Steine dort gegeben habe, vgl. auch Diod. 4,19f. Dion. Hal. ant. 1,42,2: δυνάστην τινὰ κοµιδῇ βάρβαρον καὶ ἀνθρώπων ἀνηµέρων ἄρχοντα – „Einen Herrscher, der ganz und gar barbarisch war und über unzivilisierte Menschen herrschte.“

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den Aborigines um König Faunus verteilt. Der Erzähler vermutet, dass der griechische Heerführer allerdings auch Epeier, Arkader und Troer dort zurückgelassen hätte, denn es sei ein bedeutender strategischer Griff, Söldner aus den eroberten Städten mit sich zu führen, die er nach und nach auf andere unterworfene Gebiete verteilt und am Gewinn der Eroberungen beteiligt habe.54 Der Ruhm des Herakles, der sich ja durch viele Kulte zeige, sei vor allem durch diese strategisch-politische Maßnahme zu erklären. Herakles’ Zug nach Italien beweist zunächst sein militärisches Talent zur Unterwerfung all derer, die sich ihm entgegenstellen. Die dafür verwendeten Ausdrücke ἐπὶ δουλώσει und ἐπ᾿ ἀρχῇ machen den imperialen Anspruch deutlich. Dies lässt an den Bericht in den Res Gestae § 26 denken, wo Augustus von seinem Sieg über die Alpenvölker berichtet.55 Ebenso hat Augustus sich um die Versorgung der Veteranen gekümmert, indem er sie mit Abfindungen entließ, die teils in Grundbesitz, teils (so vor allem später) in Geldbeträgen bestanden; schließlich hat er sie auch in den Provinzen angesiedelt. Diese Maßnahmen ge54

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Dion. Hal. ant. 1,42,3f.: εἰκάσειε δ᾿ ἄν τις καὶ τοὺς ὑποµείναντας αὐτόθι τῶν Ἑλλήνων Ἐπειοὺς καὶ τοὺς ἐκ Φενεοῦ Ἀρκάδας καὶ Τρῶας ἐπὶ φυλακῇ τῆς χώρας καταλειφθῆναι. στρατηγικὸν γὰρ δὴ καὶ τοῦτο τῶν Ἡρακλέους ἔργων καὶ οὐδενὸς ἧττον θαυµάζεσθαι ἐπιτήδειον, τὸ δὴ τοὺς ἀνασπάστους ἐκ τῶν κεκρατηµένων πόλεων τέως µὲν ἐπάγεσθαι κατὰ τὰς στρατείας, ἐπεὶ δὲ προθύµως τοὺς πολέµους συνδιενέγκαιεν εἰς τὰ δορίκτητα κατοικίζειν τοῖς παρ᾿ ἑτέρων ἐπιχορηγηθεῖσι δωρεῖσθαι πλούτοις – „Man könnte vermuten. dass auch die dort verbleibenden Griechen, nämlich die Epeier, Arkader aus Pheneos und Troer zum Zwecke der Bewachung des Ortes zurückgeblieben seien. Das nämlich entspricht militärischen Gesichtspunkten und ist ein Merkmal der Politik des Herakles, die man durchaus bewundern sollte, hatte er es sich doch geradezu zum Prinzip gemacht, die Gefangenen aus den unterworfenen Städten auf seinem Heereszug eine Zeitlang mit sich zu führen, wenn sie sich aber beherzt an der Kriegführung beteiligt hatten, in den eroberten Gebieten anzusiedeln und sie mit jenem Reichtum zu beschenken, der von anderen beigesteuert wurde.“ R. Gest. div. Aug. 26: Alpes a regione ea, quae proxima est Hadriano mari, ad Tuscum pacari feci; s. Jochen Bleicken: Augustus. Eine Biographie, Berlin 31999, S. 338: „Er [nämlich Aulus Terentius Varro] schlug im Jahre 25 die seit längerem unruhigen Salasser in den mittleren Westalpen; sie wurden weitgehend ausgelöscht. […] Ihre Vernichtung brachte einen großen strategischen Gewinn; die aus dem südwestlichen Gallien nach Italien führenden Alpenpässe (Großer und Kleiner St. Bernhard) waren jetzt frei. Augustus gründete auf dem Platz, wo Varro sein Hauptlager aufgeschlagen hatte, später eine Stadt, die den Namen Augusta Praetoria (Aosta) erhielt.“ Eine endgültige Unterwerfung fand erst im Jahre 15 durch Drusus und Tiberius in aufreibenden Belagerungen statt: „Das Hauptheer nahm seinen Weg wahrscheinlich durch das Etsch- und Eisacktal über den Brenner in das heutige Tirol; es hatte vor allem die in den Tälern der Zentralalpen […] siedelnden Räter vor sich. […] Tiberius hatte es neben den Rätern unter anderem mit dem keltischen Stamm der Videliker […] zu tun, deren Kern auf der oberschwäbischen und bayrischen Hochebene siedelte“, ebd., S. 573.

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hörten zur neuen Rolle, die das Militär im Prinzipat spielte. Wie in den Bürgerkriegen war die Loyalität der Truppe gegenüber ihrem Patron für dessen Erfolg entscheidend. Dieser Loyalität versicherte sich der Princeps durch Belohnungen.56 Die Erzählung des „wahreren“ Logos, der des aition entbehrt, aber von einem strategisch wie politisch geschickten Heerführer erzählt, rückt so unmerklich den Princeps, der sonst nirgends vom Erzähler erwähnt wird, in den Horizont des griechischen Helden. Herakles wird so zu einer Identifikationsfigur des Princeps, auch wenn dieser wegen seines einstigen Gegners Antonius diesen Heros nicht selbst in sein politisches Programm einbezog.57 Erwähnt wird auch die Gründung von Herculaneum.58 Dionys betont, dass diejenigen aus dem Gefolge des Herakles, die in Italien zurückgeblieben sind, sich nach zwei Generationen mit den Aborigines vermischt hätten. Auch hierfür kann man an die Veteranenpolitik des Augustus erinnern. Parallel wäre zu bemerken, dass Augustus von Kampanien aus im Jahre 22 nach Sizilien übergesetzt ist. Auch hier gibt es also eine Verbindung, denn Augustus war auch in Spanien, das ihm als Triumvirn zugefallen war, durch Heereszüge und Siege hervorgetreten, die im Jahre 25 zur zweiten Schließung der Januspforten geführt hatten.59 56

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Werner Dahlheim: Geschichte der Römischen Kaiserzeit, München ²1989 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 3), S. 70f.; Bleicken: Augustus (wie Anm. 55), S. 178–189; 231–235; 457–460. Zu Hercules in der römischen Kunst s. Stefan Ritter: Hercules in der römischen Kunst. Von den Anfängen bis Augustus, Heidelberg 1995 (Archäologie und Geschichte 5), bes. S. 70–86; 129–170. Hercules war zuvor bereits von Pompeius als Schutzgott gewählt worden, daher distanzierte sich Caesar von Hercules und betonte die Stammmutter der Julier, Venus. Octavian übernimmt diese Patin – Antonius, der seine gens über Anton, den mythischen Sohn des Hercules, auf diesen zurückführte, stellt sich in die Tradition des Pompeius. Wenn man das berühmte Campana-Relief aus dem Apollontempel des Augustus vom Streit zwischen Apoll und Hercules um den Dreifuß (vgl. R. Gest. div. Aug. 24) auf die Rivalität der beiden Triumvirn bezieht oder auf den Sieg des Octavian, dann sollte andererseits auch nicht übersehen werden, dass Octavian seinen dreifachen Triumph des Jahres 29 auf den 13. bis 15. August legte, während am 12. August der Tag des Hercules Invictus (Ara Maxima) und der Venus Victrix war: Überbietung oder Anlehnung? Zur Vermeidung von ideologiebelasteten Festlegungen in diesen semiotischen und kulturellen Fragen s.u. S. 137ff. Dion. Hal. ant. 1,44,1. Bleicken: Augustus (wie Anm. 55), S. 337: „Obwohl der Feldzug mit starken Kräften und entsprechend hohen Geldmitteln geführt wurde […] brachte er keine Glanzpunkte, weder für den Herrscher persönlich, der ihm nur aus der Ferne zugeschaut hatte, noch für die Sicherheit des nördlichen Spanien. Dieses letzte große, von Augustus selbst geführte militärische Unternehmen war rein politischer Natur, und sein Adressat war die römische Öffentlichkeit. […] Den ausgebliebenen Ruhm ersetzte der Theaterdonner. Erneut ließ der geschickte Organisator der öffentlichen

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Wenn wir diese beiden Versionen nebeneinanderhalten, stellt sich noch einmal – und dringlicher – die Frage, warum diese Erzählungen aufeinander folgen. In der historiographischen Tradition finden sich immer wieder Erwähnungen des Mythos als Zeugnisse aus einer fernen Vergangenheit, die deshalb in der Überlieferung an Zuverlässigkeit verloren hätten oder sogar vollständig verfälscht worden seien:60 Dion. Hal. ant. 1,39,1: Ἔστι δὲ τῶν ὑπὲρ τοῦ δαίµονος τοῦδε λεγοµένων τὰ µὲν µυθικώτερα, τὰ δ᾿ ἀληθέστερα. ὁ µὲν οὖν µυθικὸς περὶ τῆς παρουσίας αὐτοῦ λόγος ὧδ᾿ ἔχει· Was über diesen Gott erzählt wird, ist teils mythischerer, teils wahrerer Natur. Die mythische Erzählung über seine Anwesenheit verhält sich so… Dion. Hal. ant. 1,41,1: Ὁ δ᾿ ἀληθέστερος, ᾧ πολλοὶ τῶν ἐν ἱστορίας σχήµατι τὰς πράξεις αὐτοῦ διηγησαµένων ἐχρήσαντο, τοιόςδε· Die wahrere Erzählung, die viele derer, die seine Taten in Form eines historiographischen Berichtes erzählen, verwenden, ist diese…

Der Erzähler enthält sich also jeder Wertung und unterscheidet pragmatisch nach den Kommunikationsbedingungen, in denen diese Erzählungen funktionieren: Wer in Form von historiae oder res gestae von Herakles erzählt, bringt anderes als der, der eine Aretalogie61 über den Gott Herakles gibt. Es geht dem Erzähler also bei dem, was er erzählt, weniger um die Wahrheit als um die Pragmatik des Erzählten, Gottesschau hier, Feldzüge dort. Für den Anspruch einer Frühgeschichte im augusteischen Rom könnte diese Strategie aufschlussreich sein. Darauf wird am Ende zurückzukommen sein.62 Blicken wir noch einmal zurück auf die Wanderbewegungen der Griechen nach Italien. Ant. 1,17–20 erzählt Dionys von den Pelasgern. Sie stammen durch Pelasgos, den Sohn der Niobe, die als erste Sterbliche von Zeus geschwängert

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Meinung das Tor des Janus-Bogens schließen, so als ob der Feldzug der Welt wieder Frieden und ihm selbst Sieg und Ruhm gebracht hätte.“ Vor diesem Hintergrund ist die Assoziation mit Herakles natürlich besonders aufschlussreich. So bei Hekataios von Milet FGrHist 1 F1; der Topos schon bei Hes. theog. 26–28; Thukydides nimmt diesen auf, wenn er seine Forschungen von der vagen oral history unterschieden wissen will: Thuk. 1,22,2. Zum Begriff der Aretalogie s. Mareile Haase: Aretalogien, in: DNP 12,2 (2002), Sp. 902f. Freilich wäre auch an die Strategie Herodots zu erinnern, der sich auf ein Berichten des Überlieferten beschränkt, ohne schon seine Zustimmung zu geben, z.B. 7,152; demgegenüber sieht Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 96f. Dionys eher dem Überlieferten auch Glauben schenken. Das könnte an der Funktion der Vergangenheitsschau in der augusteischen Restauration liegen.

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wurde, von Griechen ab und siedelten ursprünglich in der Peloponnes. Sechs Generationen später zogen sie unter der Führung von Achaios, Phthios und Pelasgos (den Söhnen von Poseidon und Larissa) nach Thessalien. Obwohl sie dort sehr erfolgreich siedelten und das Land bebauten, wurden sie von den Kureten und den Lelegern vertrieben. Sie verteilten sich über die griechischen Inseln und sogar bis Asien, die meisten aber zogen durch das Festland nach Westen nach Dodona; als sie dort nicht mehr bleiben konnten, segelten sie über das Ionische Meer nach Italien, kamen aber nördlicher an als gewollt, nämlich an die Mündung des Po, wo sie einen Stützpunkt aufbauten, aus dem später die Stadt Spina wurde. Während dort ein Teil zurückgelassen wurde, zogen die anderen durch Italien Richtung Süden und vermischten sich mit den Aboriginern, während die in Spina verbleibenden Pelasger von Barbaren getötet wurden.63 In ant. 1,31 wird ein weiterer, dritter Zug geschildert, in dem Griechen aus Arkadien nach Italien gekommen sind. Das sei 60 Jahre vor den Trojanern gewesen. Euander, der Sohn des Hermes und der Nymphe Themis sei ihr Anführer gewesen. Er sei ein Sohn des Pallas, nach welchem auch der Ursprungsort Pallantion in Arkadien, der von diesem gegründet worden sei, genannt worden sei, und der Nymphe Themis, die von den Römern Carmente genannt wird und so auf das carmen verweist, denn sie habe die Sehergabe besessen.64 Euander wiederum ist ein kulturstiftender Heros gewesen, der den Italikern mit Buchstaben, Musikinstrumenten und Gesetzen die höhere Form menschlicher Kultur überhaupt vermittelt habe. Ursache dieses zweiten Zuges sei ein Streit unter den Griechen in Arkadien gewesen, von denen ein kleinerer Teil unter Euander freiwillig auswanderte.65 In Italien war damals Faunus der König der Aborigines, der wie ein Gott verehrt wurde;66 er gab den einwandernden Griechen Land und diese wählten den späteren Palatin als Siedlungsort. Nicht zufällig wurde dieser Hügel nach ihrem Heimatort so genannt und aus diesem Pallantion sei später Rom, die größ63

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Diese Geschichte von Spina wird durch neuere archäologische Forschungen bestätigt: Spina. Storia di una Città tra Greci ed Etruschi, hg. von Fede Berti und Pier Giovanni Guzzo, Ferrara 1993; Dionys zitiert dafür in 1,28 ausführlich Hellanikos (FGrHist 4 F4); ob auch Hellanikos die Pelasger für Griechen hielt wie Dionys, ist nicht klar, s. 1,28,3: οἱ Πελασγοὶ ὑπ᾿ Ἑλλήνων ἀνέστησαν, καὶ ἐπὶ Σπινῆτι […] τὰς νῆας καταλιπόντες. Explizit einen griechischen Ursprung von Spina behauptet auch Strab. 5,1,7, ohne freilich auf die Pelasger zu verweisen. Dieselben Angaben macht auch Livius in knappster Form, als er Euander mit dem siegreichen Hercules zusammentreffen lässt, s. 1,7,8: Euander tum ea, profugus ex Peloponneso, auctoritate magis quam imperio regebat loca, uenerabilis uir miraculo litterarum, rei nouae inter rudes artium homines, uenerabilior diuinitate credita Carmentae matris, quam fatiloquam ante Sibyllae in Italiam aduentum miratae eae gentes fuerant. In Dion. Hal. ant. 1,16 wird das ver sacrum beschrieben. Zu Faunus als altitalischem Gott siehe Kurt Latte: Römische Religionsgeschichte, München 1960 (Handbuch der Altertumswissenschaft 5,4), S. 83–85.

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te Stadt der Geschichte, geworden. Die Wurzeln von Rom gehen also auf die Arkader zurück, nämlich durch eben jenen Euander, der in seinem Namen schon das Gute trägt, das er nach Italien gebracht hat. Der in der Erzählung etwas unvermittelt sich anschließende Nebensatz (Dion. Hal. ant. 1,31,3f.) κώµη, ἣν ἔµελλε τὸ πεπρωµένον σὺν χρόνῳ θήσειν ὅσην οὔθ᾿ Ἑλλάδα πόλιν οὔτε βάρβαρον κατά τε οἰκήσεως µέγεθος καὶ κατὰ δυναστείας ἀξίωσιν καὶ τὴν ἄλλην ἅπασαν εὐτυχίαν, χρόνον τε ὁπόσον ἂν ὁ θνητὸς αἰὼν ἀντέχῃ πόλεων µάλιστα πασῶν µνηµονευθησοµένην. ὄνοµα δὲ τῷ πολίσµατι τούτῳ τίθενται Παλλάντιον ἐπὶ τῆς ἐν Ἀρκαδίᾳ σφῶν µητροπόλεως· Ein Dorf, welches die Verheißung mit der Zeit so groß machen würde, wie keine Stadt in Hellas oder bei den Barbaren, hinsichtlich der Größe der Besiedlung und der Bedeutung der Herrschaft und all der anderen glücklichen Umstände, und sie sollte so lange wie keine andere Stadt im Gedächtnis bleiben. Sie gaben diesem Städtchen den Namen Pallantion, nämlich nach ihrer Metropole in Arkadien.

soll dem Leser die geschichtliche Dimension verdeutlichen, die diese unscheinbare Gründung haben sollte: Aus Pallantion sollte einst Rom, die Herrscherin der Oikoumene werden. Der Hinweis auf den Kulturheros Euander steht so im Kontext mit der Größe Roms (1,32,3; 1,33,4). Die Botschaft ist klar: Erst die griechische Kultur macht Rom groß. Dagegen überliefere Polybios,67 dass Pallas, der Sohn des Herakles und der Launa, einer Tochter des Euander, dort gestorben sei und so habe man den Hügel Pallantion genannt. Pallas sei also ein Enkel des Euander, doch kann Dionys dafür keine Belege finden, obwohl es durchaus Opferstätten für Euander gäbe, etwa beim Aventin. Der Erzähler gibt sich hier als Antiquar auf der Suche nach Überresten der griechischen Siedler.68 Weitere Kultorte oder Kultplätze, die auf den griechischen Ursprung der italischen Kultur verweisen, kann Dionys etwa am Lupercal festmachen, das ursprünglich dem griechischen Pan Lykeios geweiht gewesen sei.69 Des Weiteren nennt er den Tempel der Victoria bzw. Nike 67

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Diese Passage gehört zu denjenigen, die verloren sind, jetzt in Polybios 6,11a als Testimonium; Polybe: Histoires Livre VII (wie Anm. 14), S. 30. Diese Auskünfte erinnern an ähnliche Passagen in Hdt. 1,68,3; 1,183,3; 2,44; 2,73; 3,12 u.a. Zu erinnern wäre freilich auch an den Satz Ciceros, dass Varro als Antiquar Rom den Römern gezeigt hätte (Cic. ac. 1,3,9): Nam nos in nostra urbe peregrinantis errantisque tamquam hospites tui libri quasi domum deduxerunt, ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere. Eine ausführlichere Beschreibung dieses Kultortes gibt Dionys in ant. 1,79,8. Hier in 1,32,4 wird nur betont, dass man die „alte Natur des Ortes“ (ἡ παλαιὰ τοῦ τόπου φύσις) nicht mehr erkennen könnte wegen der vielen Bauten ringsherum, es sei aber früher eine Höhle gewesen, umgeben von reichem Bewuchs und Quellen, die unter den Steinen aus der Tiefe hervorsprudelten. Dem griechischen Gotte würde im Februar nach altem unverändertem Brauch, d.h. griechisch, geopfert. Die Arkader

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auf dem Aventin (nicht auf dem Palatin, wie Dionys fälschlich behauptet), den Altar der Demeter, also der römischen Ceres, der noch bis zu den Zeiten des Dionys unverändert im griechischen Kult gewesen sei,70 den Kult für den Poseidon Hippios71 und noch viele andere, wie Dionys summarisch schließt. Nun hatte Herakles eine Gefolgschaft, die sich, wie bereits erwähnt, immer wieder während des Zuges an geeigneten Orten absetzte und sich in den eroberten Gebieten selbst ansiedelte. Und so habe man einen Hügel Saturnius genannt und dort eine Siedlung errichtet. Dieser Name entspreche im Griechischen Kronios, so wie in Elis der λόφος Κρόνιος auf den Vater des Zeus, Kronos, verweist. Die Arkader hätten also mit Herakles am Fuße des späteren Kapitols einen griechischen Altar errichtet und dessen Kult sähe im Dezember die Schlachtung eines Schweines nach griechischem Brauche vor: Die später sogenannten Saturnalien waren also von einem Griechen gegründet!72 Auch hier wurde Herakles als Kulturgründer benötigt. Doch erwähnt Dionys auch noch, dass bereits vor Herakles Italien das Land des Saturn gewesen sei, wie die Einheimischen erzählten (1,36). Noch vor der Herrschaft des Zeus habe hier Saturn/Kronos geherrscht. Das werde zumal dadurch deutlich, dass das „Land des Saturn“ das bei weitem fruchtbarste sei.73 Die Saturnia Tellus gibt dem Erzähler in einer weit ausschweifenden digressio Gelegenheit, die laudes Italiae anzustimmen.74 Die

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hätten gleich zu Beginn ihrer Besiedlung unter Anleitung der Themis diesen Kult eingerichtet. So möchte der Erzähler eine Verbindung zum ältesten griechischen Kult und dem späteren Lupercal herstellen. Zu dieser Verbindung s. Henri Le Bonniec: Le culte de Cérès à Rome, des origines à la fin de la République, Paris 1959 (Études et commentaires 27); Ov. fast. 4,393–620. Es war der Tempel des Consus, des Gottes der ‚geborgenen Frucht‘, dessen Altar das ganze Jahr über unter der Erde lag und nur zu religiösen Festen freigelegt wurde, nämlich am 15. Dezember und am 21. August, dann wurden auch die Arbeitstiere von ihrem Dienst befreit. Da an diesen Festtagen auch Wagenrennen stattfanden, lag die Verbindung mit dem Poseidon Hippios nahe, doch ist das eine Idiosynkrasie des Griechen, s. Latte: Römische Religionsgeschichte (wie Anm. 66), S. 72. Zu den Saturnalien s. ebd., S. 254f. Dion. Hal. ant. 1,36,2: Καὶ εἴ τις ἄλλως ἀφελῶν τὸ µυθῶδες τοῦ λόγου χώρας ἀρετὴν ἐξετάζειν ἐθελήσειεν, ἐξ ἧς γένος τὸ ἀνθρώπων πλείστας εὐφροσύνας ἐκαρπώσατο γενόµενον εὐθὺς εἴτ᾿ ἐκ γῆς ὡς ὁ παλαιὸς ἔχει λόγος, εἴτ᾿ ἄλλως πως, οὐκ ἂν εὕροι ταύτης τινὰ ἐπιτηδειοτέραν. ὡς γὰρ µία γῆ πρὸς ἑτέραν κρίνεσθαι τοσαύτην τὸ µέγεθος, οὐ µόνον τῆς Εὐρώπης, ἀλλὰ καὶ τῆς ἄλλης ἁπάσης κρατίστη κατ᾿ ἐµὴν δόξαν ἐστὶν Ἰταλία – „Und wenn einer anderweitig das Mythische bereinigen und die Vorzüge des Landes untersuchen wollte, aus dem das menschliche Geschlecht die größte Lebensfreude gewann, nämlich entweder aus der Erde, wie die alte Sage will, oder irgendwie anders, fände er keines, das geeigneter wäre als dieses: Italien ist nämlich, wenn man es als ein Land mit einem anderen so großen vergleichen wollte, nicht nur in Europa, sondern überhaupt, das beste Land.“ Dion. Hal. ant. 1,37; vgl. dazu auch Ov. fast. 1,235; Verg. Aen. 8,319–327; georg. 2,136–176; Strab. 6,4,1. Anders als Vergil, der Saturn nach der Kastration durch

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Herrschaft des Kronos wird hier, wie auch in anderen Mythen als eine für die Menschen besonders glückliche Zeit beschrieben. Seit dieser frühen Zeit werde die Halbinsel Italia genannt, vorher hätten die Griechen sie Hesperia (Westen) oder Ausonia genannt, die Einheimischen aber Satornia. Dionys ergänzt aber, dass nach einer anderen Tradition (genannt wird Antiochos von Syrakus)75 die Insel nach Italos benannt worden sei, der der Abkunft nach ein Oinoter gewesen sei. Dieser sei ein besonders geschickter und weiser König gewesen, weshalb die ganze Halbinsel nach ihm benannt worden sei. Mit Italos schließt der Erzähler so wieder an die Pelasger an, denn Italos ist als Nachkomme des Oinoter Pelasger, d.h. Grieche.76 Oder die Halbinsel habe den Namen daher erhalten, dass Herakles ein Rind verlor, dieses überall suchte und nach der „vitula“ fragte, was dann zu Vitulia und schließlich Italien führte.77 Die Ethnien, die in der frühen Zeit Italien besiedelt hätten, seien die Pheneaten und die Epeer gewesen und andere, von denen Dionys nur sagt, dass sie sesshaft geworden seien, als sie vom Herumziehen genug gehabt hätten; sie alle aber seien aus Griechenland hierhergekommen. Von besonderer Bedeutung ist der Hinweis, dass Herakles auch ein bei den Autochthonen praktiziertes Menschenopfer, das karthagischen und keltischen Ursprungs gewesen sei,78 abgeschafft habe und dann statt lebender Menschen nur Abbilder derselben in den Tiber geworfen worden seien, damit Kronos nicht aller Gaben verlustig ginge. Wenn wir diese Erzählungen der frühen Besiedlung und der Benennung der italischen Halbinsel zusammenfassen wollen, so können wir festhalten, dass Dionys sich bemüht, Belege und Plausibilitäten dafür zu finden, dass bereits vor dem trojanischen Krieg Griechen in Italien gesiedelt hätten. Die Geschichte Roms erscheint dabei als eine griechische Kolonisation. Es seien immer solche griechischen Volksgruppen gewesen, die aufgrund von Zwistigkeiten oder Drangsalen ihre Heimat verlassen mussten und mit dem Schiff nach Italien gekommen seien, um hier ihre Kulturen in mehreren Schritten der dortigen Bevölkerung nahezubringen und sich schließlich mit dieser vollkommen zu vermischen. Anders als die typisch griechische Kolonisationsbewegung, die grundsätzlich in Verbindung mit der Mutterstadt blieb und sich von der Urbevölkerung unterschied, lösen sich die Grenzen soweit auf, dass Rom als ein wahres Integra-

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dessen Sohn nach Italien fliehen lässt (Verg. Aen. 8,319–327), ist für Dionys die Volksetymologie des ‚sator‘ Saturn wichtig und deshalb ist er in Italien als Herrscher gedacht. Antiochos in FGrHist 555 F5 (zweite Hälfte des 5. Jh.). Dion. Hal. ant. 1,11: Oinoter war Sohn des Lykaon; Oinoter stand in der fünften Generation nach den ersten Königen der Peloponnes, Aizeios und Phoroneus: 1.) Phoroneus, 2.) Niobe, 3.) Pelasgos (Zeus); 1.) Aizeios, 2.) Lykaon, 3.) Deianeira, 4.) Lykaon II. (Pelasgos) 5.) Oinoter. Zum leitmotivisch gebrauchten Rind s.o. S. 119. Man vermutet einen Baalkult (Fromentin: Denys d’Halicarnasse [wie Anm. 33], S. 131); anders Latte: Römische Religionsgeschichte (wie Anm. 66), S. 412–414.

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tionswunder erscheint. Später wird Dionys Romulus insbesondere für seine Politik des asylum loben.79 Diese Konzeption mag für Dionys deswegen besonders nahegelegen haben, weil er so die Verbindung von zwei oder mehreren Ethnien zu einer neuen nachzeichnen und die Frage nach einer griechischen Herkunft auf einige wenige Kulte oder Einrichtungen reduzieren kann. Was also den Zeitgenossen in Italien, den Römern, im Imperium Romanum als griechische Sitten unbekannter Herkunft erscheinen mochte, wurde ihnen nun als ein griechischer Import einer bestimmten Kolonisation dargestellt, der sich durch eine innige Vermischung der Volksgruppen kaum noch als solcher erkennen lasse. Im genauen Verfolg dieser Einwanderungsbewegung jedoch erweist es sich deutlich, dass alle großen Kulte und sogar der Name der Halbinsel in allen Versionen auf griechische Siedler führen. Dabei löst er das griechische Programm der Autochthonie durch eines der Integration zur Sesshaftigkeit ab: Es kommt nicht mehr darauf an, dass man ‚immer schon‘ am Ort der Siedlung war, sondern dass man diese bleibend besiedelte, indem man sich mit den indigenen Gruppen vermischte. Der Heros Herakles spielt hierbei eine sinnfällige und programmatische Rolle, insofern er die zwölf Taten als Ausweis seiner eigentlich göttlichen Bestimmung vollbringt und die zehnte Tat im äußersten Westen als Verbindungsglied zur italischen Kultur in Latium sinnträchtig wiederholt, indem er Kakos die Rinder wieder abnimmt, die ihm von diesem gestohlen worden waren. In der Wiederholung und somit Ergänzung des Athlon, durch diesen, wenn man will, Athlon Nr. 10a, erweist sich aufs Neue die spiegelbildliche Übertragung des griechischen Heros in den italischen Kontext. Verbunden wird dieser insbesondere durch das Rind; der Hauptkultort auf dem Forum Boarium wiederum verweist auf die Saturnia Tellus und zugleich auf die häufig anzutreffenden Rinder und Boukrania in der augusteischen Formensprache. 80 Der wandernde Heros als Gründer (ktistes) versinnbildlicht geradezu das Integrationsprogramm der Griechenrömer. Denn anders als Thukydides dies tut, wird nicht die archaiologia als rückwärtsgewandte Ethnographie begriffen, sondern als zukunftsorientiertes Unternehmen, das im Hier und Jetzt Spuren des Alten aufweist. Die Saturnia Tellus ist nicht ein vergangenes Zeitalter, sondern steht der Gegenwart offen.81 Die Emigration aus Griechenland führt so zur Progression in eine römische Zukunft – im Zeichen griechischer Kultur! Bickerman hat in seiner oben genannten Studie82 die vielleicht provokante Frage gestellt, warum die Römer sich eigentlich nicht auf Herakles oder Diome79 80

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Dion. Hal. ant. 2,15,3f.; vgl. 3,47,2 dazu Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 103. Zum Beispiel die lagernden Rinder im sogenannten Tellus-Relief der Ara Pacis oder die Opferrinder im sogenannten Grimanirelief; s. auch Erika Simon: Augustus. Kunst und Leben im Rom der Zeitenwende, München 1986, S. 206–211, oder die Boukrania, auf deren Bedeutung im Opferkult Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München ²1990, S. 119–124 hinweist. Siehe dazu Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 105. Siehe oben Anm. 9.

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des zurückgeführt hätten, denn die Kulte hätten das nahegelegt. Oder auf Euander oder sogar Odysseus? Die früheste uns fassbare Fassung jedoch scheint uns Hellanikos zu verbürgen, der sich mit der Irrfahrt des Aeneas beschäftigt.83 Dieser sei mit Odysseus nach Italien gekommen und habe dort Rom gegründet, weil die Frauen die Schiffe angezündet hätten, um nicht weiterfahren zu müssen. Diese Episode erweist sich als tragisches Interpretament, das nicht leicht in die Logik der Erzählung zu integrieren ist: Aus den trojanischen Sklavinnen, die der Verschleppung durch die Griechen entgehen wollen, werden des Reisens überdrüssige Ehefrauen!84 Für Hellanikos mochte aber Rom nur eine Station gewesen und der Held noch weiter gen Westen gereist sein. All das aber sind gelehrte Spekulationen, die von Mythographen stammen, nicht Volkssagen, die tradiert werden. Diese scheinen erst in der Romulus- und Remussage greifbar zu werden, wenn auch hier griechische Überformungen nachweisbar sind.85 3.2

Der Streit der Königsbrüder

Eine weitere für unseren Zusammenhang höchst aufschlussreiche Geschichte ist die der Gründung Roms durch das Brüderpaar Romulus und Romus bzw. Remus.86 Dionys widmet sich dieser Geschichte unter der programmatischen Äußerung, dass er bei Griechen und Römern Divergenzen und Unterschiede in der Erzählung dieser Geschichte finde.87 Er selbst jedoch hält eine für besonders wahrscheinlich, die freilich von keiner der ihm zur Verfügung stehenden Quellen belegt werde. Man könnte diese Behauptung auch als Hinweis auf fiktionale Anteile in der Erzählung verstehen.

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Hellanikos FGrHist 4 F84 = Dion. Hal. ant. 1,72,2: ὁ δὲ τὰς ἱερείας τὰς ἐν Ἄργει καὶ τὰ καθ᾿ ἑκάστην πραχθέντα συναγαγὼν Αἰνείαν φησὶν ἐκ Μολοττῶν εἰς Ἰταλίαν ἐλθόντα µετ᾿ Ὀδυσσέα οἰκιστὴν γενέσθαι τῆς πόλεως, ὀνοµάσαι δ᾿ αὐτὴν ἀπὸ µιᾶς τῶν Ἰλιάδων Ῥώµης – „Derjenige, der die Heiligtümer in Argos und was in jedem geschehen ist, zusammenstellte [sc. Hellanikos], sagt, dass Aeneas von den Molossern nach Italien gelangt sei und zwar sei er zusammen mit Odysseus Gründer der Stadt gewesen. Benannt aber habe er sie nach einer Italienerin, nämlich Rome.“ Bickerman: origines gentium (wie Anm. 9), S. 66. Dazu Hermann Strasburger: Zur Sage von der Gründung Roms. Vorgetragen am 20. Juli 1968, Heidelberg 1968 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1968,5). Zur Namensform s. Arthur Rosenberg: Romulus, in: RE IA.1 (1914), Sp. 1079: Angleichung des Heros ktistes Rhomus an den Gentilnamen Remnius. Wir können heute noch rund 25 Versionen dieser Gründungssage fassen, Bickerman: origines gentium (wie Anm. 9), S. 65; Strasburger: Zur Sage von der Gründung Roms (wie Anm. 85), S. 9.

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Dionys erzählt die Geschichte von der Stadtgründung, indem er damit beginnt, wie Nemetor, der Großvater der Zwillinge, den Enkeln eben jenes Land schenkt, wo sie aufgefunden worden sind. Nach dem Tod des Bruders Amulius erneuert der Großvater die Herrschaft, nachdem er einige Zeit verstreichen lässt, um die Stadt aus einem politischen Chaos wieder in ihre alte Ordnung zurückzuführen, und denkt nun im Zuge der Neustrukturierung darüber nach, den beiden Enkeln eine je eigene Herrschaft zu verschaffen. Zugleich aber drängt auch die Bevölkerungsentwicklung zu einem solchen politischen Schritt. Es gesellt sich ein persönlicher Grund dazu, nämlich jenes erste Zusammentreffen mit seinen noch unerkannten Enkeln, als diese versuchten, ihn als Repräsentanten des alten Systems zu stürzen. Mit dieser Weitergabe der Herrschaft wollte Nemetor also sicherstellen, dass zwischen dem Großvater und den Enkeln keinerlei Argwohn und Missgunst mehr bestehe. Romulus und Remus wählen sich nun allerdings solche Männer zur Gefolgschaft aus, die sich mit Nemetor entzweit hatten und darauf brannten, eine neue politische Ordnung zu gründen, doch kamen auch Freiwillige aus anderen Gründen hinzu. Diese personelle Seite der Staatsgründung zeigt wiederum, wie der Erzähler darauf Wert legt, die Gründung Roms bereits von ihren Anfängen und von ihrer Vorgeschichte her von politischen Unruhen mitbestimmt sein zu lassen: Der Großvater Nemetor ist darauf bedacht, zwischen sich und den Enkeln jeglichen Argwohn zu beseitigen, aber die jungen Führer wählen sich solche Personen aus, die gerade nicht zu den Gefolgsleuten des Nemetor gehören, ja, die sogar eine neue politische Ordnung anstreben. Dennoch bleibt Nemetor für die beiden jungen Helden ein Orientierungspunkt, wie das Weitere zeigen wird. Man könnte das so deuten, dass der innovative Schub, den die jungen Königskinder initiieren, der Rückversicherung bedarf, wie auch die römische Gesellschaft durch Patronate und Senatoren an aristokratische Strukturen gebunden war.88 Die soziale Lage stellt sich nun im Einzelnen so dar, dass es einerseits genug ‚Plebejer‘ (δηµοτικὸν γένος) gibt, andererseits aber auch genug Aristokraten, d.h. Männer, die bereit sind, Führungsaufgaben zu übernehmen. Die für die römische Politik und Geschichte so grundlegende Einteilung in Plebs und Aristokratie wird hier also zur Voraussetzung einer Gründung gemacht. Erwähnt werden aber auch die Abkömmlinge troischer Flüchtlinge, die mit Aeneas nach Italien gekommen sind und bis zur Zeit des Dionys auf diese Abstammung verweisen; das seien ungefähr 50 Familien gewesen, die so zu den Gründern Roms gehören. An dieser für die weitere Erzählung wichtigen Station wird vom Erzähler die Bedeutung Trojas und somit auch der Griechen besonders betont. Er blickt nämlich sogleich in die Zukunft dieser kleinen Siedlung und berichtet, dass sie sich mit den Autochthonen am Palatin und Saturnhügel vermischt hätten. Die Folge ist, dass es zwischen den beiden Aussiedlergruppen zunächst zu einem Wettbewerb, dann aber zu einer Spaltung kommt. Aus dem Agon wird also ein handfes88

So auch Wiater: The Ideology of Classicism (wie Anm. 2), S. 176.

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ter politischer Zwist. Jede der beiden Gruppen vertraut ihrem eigenen Führer und verehrt ihn über die Maßen. Daraufhin entzweien sich die beiden Brüder, weil jeder einen Führungsanspruch erhebt. Romulus will den Palatin besiedeln, im Angedenken an den Ort ihrer wunderbaren Auffindung, während Remus die Remoria besiedelt, die etwa 30 Stadien vom heutigen Rom entfernt liegt.89 Romulus gibt sich so als Traditionalist, während Remus als ‚Aussteiger‘ erscheint. Aus dem persönlichen Ehrgeiz der Brüder (φιλονεικία) wird so ein ungehemmtes Machtstreben (φιλαρχία). Solche Konkurrenzsituationen streben wie von selbst nach einer Entscheidung: Nur einer kann derjenige sein, der die Geschicke des jungen Volkes in Händen hält. Hier kommt nun noch einmal der senex ins Spiel. Das Neue bedarf der Rückversicherung. Nemetor gibt den jungen Führern den Rat, die Götter sollten darüber entscheiden, wer die Führung übernehmen soll. Also verabredet man, auf ein günstiges omen zu warten. Dieses omen sollen Vögel sein. Wer von beiden früher die „besseren Vögel“ (ὁποτέρῳ ἂν κρείττους οἱ ὄρνιθες γένωνται) sehe, der solle auch die Herrschaft übernehmen. Kampfrichter hätten dafür Sorge zu tragen, dass nichts verkündet werde, was nicht offenbar geworden sei. Dieser Zusatz verwundert etwas, weist aber bereits auf den problematischen Ausgang dieses Gottesentscheides voraus.90 Denn es ist Romulus, der als erster ein Vogelzeichen verkündet, ohne dies überhaupt wahrgenommen zu haben. Der Erzähler fragt nach dem Motiv und gibt eine Alternative zur Antwort: Entweder sei dies durch Eingabe eines Gottes entschieden und also von höherer Stelle legitimiert worden oder aber der Neid auf den Bruder habe gewissermaßen vorauseilend dem anderen den Anspruch verweigert. Romulus jedenfalls meldet ein Vogelzeichen und der Erzähler nennt dies eine Täuschung (ἀπάτη). Der Bruder Remus jedoch sieht wirklich ein Vogelzeichen von sechs Geiern, die von rechts herankommen (ἀπὸ τῶν δεξιῶν 1,86,3), wird aber von Romulus zu sich bestellt, um, wie dieser behauptet, das eigene, bessere Vogelzeichen in Augenschein zu nehmen. Als Remus den Bruder zur Rede stellt, ist der Schwindler zunächst ratlos, doch da erscheinen plötzlich zwölf Geier und zwar von links, und der eben noch Ratlose fühlt sich der Antwort enthoben: „Was fragst du mich nach altem Zeug? (τὰ παλαὶ γενόµενα) Diese Vögel dort kannst du doch selbst sehen!“91 Wer hat nun eigentlich das entscheidende göttliche Zeichen erhalten? In beiden omina sind es Geier. Remus zählt sechs und hat diese früher gesehen, Romulus später zwölf, behauptet aber, sie als erster gesehen zu haben. Aus dieser schwierigen Lage ergibt sich wieder ein Streit über die Bedeutung des Vogelzeichens. Mit anderen Worten, der Götterentscheid ist wieder auf die Menschen und

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Die genaue Lage der Remoria ist unbekannt. In manchen Quellen wird sie mit dem Aventin identifiziert, so Plut. Rom. 9,4. Ähnlich auch Ov. fast. 4,817; Liv.1,7,1; auch Plut. Rom. 9,5 erwähnt kommentarlos auch die Version vom Trug des Romulus, möglicherweise nach Dionys. Dion. Hal. ant. 1,86,4.

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ihr begrenztes Erkenntnisvermögen zurückgeworfen worden. Unter dem Anschein von Fairness möchte jeder mehr als der andere haben, was aber öffentlich verlautbart wird, ist, dass man jedenfalls nicht weniger haben möchte als der andere. Aus dieser vertrackten Lage scheint ein friedlicher Ausweg nicht möglich. In dem Moment, als Romulus der Täuschung hätte überführt werden können, greifen die Götter ein und legitimieren den Trug. Diese Form von göttlichem Trug ist für den griechischen Mythos keineswegs außergewöhnlich. Zu erinnern wäre etwa an den Trug der Athene, der dem Hektor im Zweikampf das Leben kosten wird.92 Nun kommt aber noch ein Detail hinzu, das die göttlichen Zeichen für Romulus sprechen lassen könnte. Es wird ausdrücklich die Richtung der Geier betont: Remus sieht Geier von rechts, Romulus von links heranfliegen. Im zweiten Buch (2,5,3f.) wird ausführlich über die omina, die Romulus in Rom für politische Entscheidungen festlegt, berichtet. Demnach haben die Römer deutlich zwischen günstigen (αἴσιος) Zeichen von links und ungünstigen Zeichen von rechts unterschieden. So deutlich dies im zweiten Buch jedoch erörtert wird, beim Brüderstreit wird dieses Argument nicht explizit. Es ist nicht davon auszugehen, dass die griechischen Leser das schon wussten, denn sonst hätte dieser Brauch nicht später so ausführlich beschrieben werden müssen. Vor dem Hintergrund dieses Wissens um die Richtung der omina zeichnet sich indessen ab, dass Remus ungünstige Vogelzeichen bekam; der Erzähler sagt freilich nur „Geier von rechts“ und lässt die Bedeutung im Unklaren, wie auch Remus offenbar nicht erschrocken war, sondern die Vögel als günstiges omen auffasste. Daher könnte die Vorstellung vom täuschenden Gott durchaus erklären, warum Remus dieses Zeichen so fundamental missverstand und erst ex eventu deutlich wird, dass Romulus der Günstling der Götter war.93 Der nun entbrennende Bürgerkrieg der beiden verfeindeten Brüder führt zunächst zum Tod des Ziehvaters Faustulus, der verzweifelt im Kampf den Tod sucht, schließlich fällt auch Remus. Als Romulus schließlich gesiegt hat, ist er angesichts des hohen Verlustes, den dieser Krieg forderte, dem Selbstmord nahe. Damit verweist der Erzähler auf die Problematik eines Sieges im Bürgerkrieg, der nämlich, wie man betonen muss, niemals triumphal sein kann. Zu hoch ist der Blutzoll, den das eigene Volk zu leisten hat. Als Topos ist denn auch der Brudermord in vielen römischen und griechischen Texten nachzuweisen. Bereits das frühe Rom ist mit dem Bruderblut befleckt und dieses Miasma lastet für einige Beobachter auf der Geschichte des

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Hom. Il. 22,214–366; dazu Karl Deichgräber: Der listensinnende Trug des Gottes, in: Der listensinnende Trug des Gottes. Vier Themen des griechischen Denkens, hg. von dems., Göttingen 1951, S. 117–119. Hektor erkennt sogleich, dass die Götter seinen Tod beschlossen haben, dennoch möchte er nicht ruhmlos sterben, sondern so, dass die Späteren etwas zu erzählen haben (22,304–305). Gleichwohl betont Dionys in ant. 2,5,5, dass die Deutung der Vogelzeichen bereits seit dem Sohn des Aeneas, Ascanius, festgelegt war. Warum hat Remus dies nicht begriffen?

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großen Imperiums. 94 Der Brudermord, den Dionys immerhin dadurch abschwächt, dass er es offen lässt, von wem Remus getötet wurde, steht indes im Rahmen einer Geschichte, die bereits seit ihren Anfängen beim Großvater Nemetor und dessen Bruder vom Verwandtenmord überschattet ist. Denn Amulius, selbst ohne männlichen Nachkommen, ermordet den Neffen Aigestos und macht die Nichte Silvia zu einer Vestalin, damit ihm durch sie keine Rächer geboren würden. Zwar weiß deren Vater Nemetor um diese Taten bzw. Absichten, gibt dem Bruder aber nichts zu erkennen.95 Auch der göttliche Vater der Zwillinge, Ares, verführt nicht etwa die fromme Vestalin, sondern vergewaltigt sie in seinem temenos, sucht sie aber zu trösten, dass sie zwei Kinder zur Welt bringen werde, die sich in virtus und kriegerischen Taten auszeichnen würden.96 Und tatsächlich sind bereits die unter Hirten aufwachsenden Kinder für ihre expansiven Ansprüche, die sie zumal mit Waffengewalt erheben, berüchtigt.97 Man gewinnt also den Eindruck, dass der Erzähler die spätere Größe Roms als Herrscherin eines riesigen Imperiums jedenfalls nicht durch Verschweigung oder Beschönigung dieser martialisch-mörderischen Züge ihrer ‚Biographie‘ reinigen will. Diese Züge gehören vielmehr wesentlich zur Biographie Roms.98 Umso wichtiger mag die Betonung des göttlichen Ursprungs sein. Denn es wird auch die Version erwähnt, dass Amulius sich selbst eine Rüstung anlegte, um sich so unkenntlich zu machen.99 Die nachfolgende Reflexion über solche göttlichen Interventionen nimmt Bezug auf zeitgenössische philosophische Positionen:100 ὅπως µὲν οὖν χρὴ περὶ τῶν τοιῶνδε δόξης ἔχειν, πότερον καταφρονεῖν ὡς ἀνθρωπίνων ῥᾳδιουργηµάτων εἰς θεοὺς ἀναφεροµένων, ηδὲν ἂν τοῦ θεοῦ λειτούργηµα τῆς ἀφθάρτου καὶ µακαρίας φύσεως ἀνάξιον ὑποµένοντος, ἢ καὶ ταύτας παραδέχεσθαι τὰς ἱστορίας, ὡς ἀνακεκραµένης τῆς ἁπάσης οὐσίας τοῦ κόσµου καὶ µεταξὺ τοῦ θείου καὶ θνητοῦ γένους τρίτης τινὸς ὑπαρχούσης φύσεως ἣν τὸ δαιµόνων φῦλον ἐπέχει, τοτὲ µὲν ἀνθρώποις, τοτὲ δὲ θεοῖς ἐπιµιγνύµενον, ἐξ οὗ ὁ λόγος ἔχει τὸ µυθευόµενον ἡρώων φῦναι γένος, οὔτε καιρὸς ἐν τῷ παρόντι διασκοπεῖν ἀρκεῖ τε ὅσα φιλοσόφοις περὶ αὐτῶν ἐλέχθη. 94

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Lucan. 1,95; Tac. ann. 13,17,1; Hor. epod. 7,17–20; Stellen nach Strasburger: Zur Sage von der Gründung Roms (wie Anm. 85), S. 36f. Dion. Hal. ant. 1,76,1–3. Dion. Hal. ant. 1,77,2. Dion. Hal. ant. 1,79,12‒14. In den Büchern sechs und sieben der Antiquitates Romanae nehmen die internen Aufstände breiten Raum ein, s. auch Gabba: Dionysios (wie Anm. 4), S. 81. Dion. Hal. ant. 1,77,1: οἱ δὲ αὐτὸν Ἀµόλιον οὐκ ἐπιθυµίας µᾶλλον ἢ ἐπιβουλῆς ἕνεκα φραξάµενόν τε ὅπλοις ὡς ἐκπληκτικώτατος ὀφθήσεσθαι ἔµελλε καὶ τὸ τῆς ὄψεως γνώριµον εἰς ἀσαφὲς ὡς µάλιστα ἐδύνατο καθιστάντα – „Andere sagen, dass Amulius weniger aus Begierde denn aus Intrige sich mit Waffen versah, um möglichst entsetzlich auszusehen und sein bekanntes Gesicht so gut er es vermochte zu verundeutlichen.“ Dion. Hal. ant. 1,77,3.

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Wie man zu dergleichen stehen soll, ob man es als menschliche Leichtsinnigkeiten, die man den Göttern zuschreibt, abtun, weil der Gott grundsätzlich nichts täte, was seiner glückseligen Natur unwürdig sei, oder ob man auch diese Geschichten akzeptieren möchte – ist doch das gesamte Wesen des Kosmos gemischt und zwischen dem menschlichen und göttlichen Geschlecht gibt es noch ein drittes, welches den Stamm der Daimones umfasst, das sich bald mit den Menschen, bald mit den Göttern verbindet, woraus die Erzählung das mythische Geschlecht der Heroen hat –, dafür ist jetzt keine Gelegenheit, es zu prüfen, sondern es genügt, das zu sagen, was die Philosophen dazu gesagt haben.

Dionys bemüht diese Philosopheme des Mittelplatonismus,101 um die Möglichkeiten göttlichen Eingriffs in die Geschicke Roms plausibel zu machen, ohne sich der ‚unhistorischen‘ Fabelei zu überlassen. Strasburger hat diese negativen Seiten in der Gründungssage Roms zum Anlass genommen, nachzuforschen, ob nicht bereits diese Gründungssage als eine maliziöse Darstellung von Griechen erzählt worden sei.102 Wenn dem so ist, so stellt sich umso drängender die Frage, warum Dionys in ‚seiner‘ Version gerade diesen Trug erwähnt. Hätte er nicht korrigierend eingreifen müssen, um sein erklärtes Ziel, die Herrlichkeit Roms bereits von Anbeginn seiner Geschichte darzustellen, nicht zu verfehlen? Versuchen wir also ein Fazit dieser Darstellung myth-historischer Geschehnisse. 4

Poetik des Schwebens?

Wir haben gesehen, dass der Erzähler ein Nebeneinander von Mythos und wie er es nennt, „wahrerem“ Logos als Grundlage seiner Historiographie zu akzeptieren scheint. Man fragt sich, was eigentlich dieser „wahrere“ Logos sein kann, bzw. warum er überhaupt noch den weniger wahren Logos seinen Lesern präsentieren will. Hierfür könnte man auf die Problematik einer ‚Archäologie‘ verweisen, die notgedrungen und notwendigerweise mit Gegenständen zu tun hat, die weit entfernt sind. In der antiken Zeitrechnung etwa unterscheidet man ein spatium mythicum von einem spatium historicum.103 Das spatium historicum beginnt mit der 101

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Dazu Friedrich Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie. 1. Teil: Die Philosophie des Altertums, hg. von Karl Praechter, Berlin 121923, S. 536 zu Plutarch (de def. or. 10; 13. Hintergrund ist Plat. symp. 202e ff.; epin. 984e, was von Xenokrates (Fr. 23–25 ed. Heinze) und auch Chrysipp (SVF 2, F1105) weitergeführt worden ist; Fritz-Peter Hager: Dämonen, in: HWPh 2 (1971), Sp. 1–4. Vgl. Strasburger: Zur Sage von der Gründung Roms (wie Anm. 85). Das findet sich in den Fragmenten von Varros de gente populi Romani bei Peter: HRR II F3 S. 10 (Aus Cens. 21,1): Nunc vero id intervallum temporis tractabo, quod historicon Varro adpellat. Hic enim tria discrimina temporum esse tradit, primum ab hominum principio ad cataclysmum priorem, quod propter ignorantiam vocatur adelon, secundum a cataclysmo priore ad olympiadem primam, quod, quia multa in

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Zerstörung Trojas; alles, was vor diesem Zeitpunkt liegt, ist mythisch durchzogen und schwer für den Historiographen zu fixieren. Die Geschichten von Herakles aber sind Geschichten, die vor dem trojanischen Krieg stattfanden, und deswegen gehören sie in das spatium mythicum. Der Versuch, dieses mythische Zeitalter etwas zu erhellen, indem man auf rationale Plausibilitäten verweist, gehört in den größeren Kontext des sogenannten Euhemerismus, jener Hermeneutik mythischer Figuren, die in den Helden des Mythos große Politiker der Frühzeit gesehen hat.104 Solches Nebeneinander von Mythos und historisch ‚Wahreren‘ verweist aber wiederum auf die typischen Formen der augusteischen Herrschaft in den Zwanziger- und Zehnerjahren in Rom. Vereinzelt haben wir schon auf Parallelen hingewiesen, die sich zwischen dem Helden Herakles und dem Princeps Augustus herstellen lassen. Beide kämpfen gegen Widerstände, beide kommen nach Triumphen im Westen nach Italien und beide erreichen eine Neuordnung von Kulten, die dem besseren sozialen Gefüge dienen sollen. In der Erzählung selbst erscheinen die mythischen Exkurse zu Herakles wie Kultaitiologien und belegen die These des Autors von der Vorherrschaft Griechenlands und dem kulturstiftenden Wirken der Griechen in Italien, insbesondere von der griechischen Abstammung der Römer. Auf diese Weise wird die augusteische Herrschaft als ‚archäologisches‘ Unternehmen zugleich gräzisiert.105 Die Fundamente des Imperium Romanum sind griechisch und es war Augustus, der auf diese Fundamente wieder hingewiesen hat. So könnte die Botschaft des Griechen in Rom gewesen sein und zwar an jene, die das Imperium Romanum von außen, also als Griechen betrachteten.106 Ein anderer Punkt scheint aber noch wichtiger. Das Nebeneinander von Mythischem und historisch Plausiblerem führt zu einer wechselseitigen Stützung bei

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eo fabulosa referuntur, mythicon nominatur, tertium a prima olympiade ad nos, quod dicitur historicon, quia res in eo gestae veris historiis continentur; s. dazu Ax: Dikaiarchs Bios Hellados (wie Anm. 4), S. 359f. Zum Euhemerismus Massimo Fusillo: Euhemeros, in: DNP 4 (1998), Sp. 235f. Euhemeros hatte mit seiner verlorenen sacra historia (ἱερὰ ἀναγραφή um 300 v. Chr.) eine romanhafte Erzählung verfasst, in der die olympischen Götter als Sterbliche erklärt werden, die wegen ihrer großen Verdienste um die Menschheit vergöttlicht worden seien. Dass das nicht mit jenen Strömungen vereinbar ist, die Augustus gerade aus lokalen Kulten speisen wollte, steht auf einem anderen Blatt, dazu Adolf H. Borbein: Augustus/Romulus. Italische Reminiszenzen in der augusteischen Bildersprache, in: Kunst von unten? Stil und Gesellschaft in der antiken Welt von der arte plebea bis heute. Internationales Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstages von Paul Zanker, Rom Villa Massimo, 8. bis 9. Juni 2007, hg. von Francesco de Angelis, Wiesbaden 2012 (Palilia 27), S. 133–155. Zu den möglichen Adressaten des Werkes s. Gabba: Dionysius (wie Anm. 4), S. 80: „His audience consists of the upper classes of imperial society, above all those in the Greek cities.“

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der Vergewisserung über das, was uns umgibt, bei der Vergewisserung über die Gegenwart. Die Gegenwart ist, so zeigt sich an diesem Bericht, teils göttlich und teils sehr irdisch. Jedoch kann sich beides durchdringen – und zwar im Kult. Der Kult der Ara Maxima ist ein Beispiel dafür, wie die Tat eines Heroen göttlicher Abkunft den Menschen eine Orientierung gibt, sich in dieser Welt zurechtzufinden und an den Sieg des Guten zu glauben. Der Bösewicht Kakos trägt das Übel nicht zufällig im Namen, so wenig wie der ‚Gutmann‘ Euander verkennen könnte, dass Herakles an der Bestimmung Roms mitwirken wird. Dieses Nebeneinander von Göttlich und Irdisch stellt dem Interpreten eine schwierige Aufgabe. In der archäologischen Interpretation des römischen Prinzipats wurde immer wieder, insbesondere von Paul Zanker, darauf abgehoben, dass in den Bildwelten, die den damaligen Menschen umgaben, der Mythos aufgerufen und zu einer ideologischen Waffe des Princeps umfunktioniert wurde. Scheinbar nur der Dekoration dienende Putti in Ranken mutieren bei genauerem Blick unversehens zur Bekräftigung der augusteischen Ehegesetzgebung.107 Diese sehr wirkungsmächtigen Deutungen können freilich dazu verleiten, Göttliches und Menschliches allzu eindimensional, d.h. zu festgelegt zu betrachten. Dieser Reduktion möchte ich im Sinne der romantischen Poetologie das „eigentümliche Schweben“ gegenüberstellen, von dem Friedrich Schlegel in einigen Fragmenten spricht. Insbesondere im berühmten Athenäum-Fragment 116 wird die romantische Poesie als eine Möglichkeit und ein Modus gesehen, zwischen idealem Interesse und den Gegebenheiten der Realität zu vermitteln: […] Und doch kann sie [sc. die romantische Poesie] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.

Schlegel notiert andernorts,108 dass „das Transzendentale der alten Mythologie auch in dem Schweben zwischen Verschiedenheit und Identität der Gottheit und der Menschheit“ liege.109 „Transzendental heißt Schweben zwischen Idealität und Realität“.110 Für die Heroen der Tragödie stellt Schlegel fest:111

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Zanker: Augustus (wie Anm. 80), S. 187f.; 161–164. Die folgenden Zitate stammen aus den bisher noch unveröffentlichten Notizheften, deren Edition ich mit Armin Erlinghagen im Rahmen der Kritischen FriedrichSchlegel-Ausgabe 15,3 vorbereite. Die Angaben beziehen sich auf Blatt und Zeile des Manuskriptes. Studien 11v 7–9. Studien 25v 11–17. Studien 25v 23–29.

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Thomas Schirren Die Charaktere in der τραγ[Tragödie] sind nicht Ideale, es sind historische Menschen höchst poetisirt. Die Darstellung ist idealisch aber nicht d.[as] Dargestellte. – (In der συστ[systematischen] π[Poesie] muß nicht ηθος sondern παθος herrschen. –) Schwebend, allgemein und doch nicht ganz abstract sind auch die Charactere in d.[er] alten Tragödie

Diese Bemerkungen zur Darstellungsform der Heroen in der Tragödie ließen sich auch auf den Umgang des Dionys in seiner historiographischen Ausbreitung und Aufbereitung der Frühgeschichte Roms übertragen. Die Charaktere, die hier auftreten, werden dadurch idealisch, dass sie in einer Darstellung idealisiert werden, allerdings nicht als Dargestellte, sondern im Rahmen der Darstellung, die die Frühgeschichte als ein Ideal erzählt. Im Schweben dieser Figuren zwischen Idealität und Realität gewinnt die Poesie jene Freiheit, die sich im Nebeneinanderstellen und im Beziehen, im Relationen-Herstellen, aber nicht im Verordnen und eindeutigen Zuordnen vollziehen. Es werden demgemäß Deutungsangebote gemacht, statt dass Ideologeme propagiert würden. Es wird in Form einer poetischen Darstellung erzählt, aber nicht in Erlassen befohlen. Das mag selbstverständlich erscheinen, sollte aber doch hier noch einmal betont werden, da die Rede von Herrscherideologie, Propaganda und ähnlichem dazu verleitet, den Deutungshorizont zu verengen. Eine ‚poetische‘ Betrachtung dieser Gegenstände dagegen führt auf die poetischen Probleme, die zu bewältigen sind. Die Vorgabe einer Historiographie, die der Programmatik entspricht, die Dionys im Proömium entwickelt, erfordert einen Umgang mit Idealem und Realem, der jenseits positivistischer Einwände liegt. In der höchsten Poetisierung des „historischen Menschen“ gewinnt dieser eine überzeitliche Bedeutung, die ihn zu einem schwebenden Allgemeinen macht. Er thront nicht über der Welt, sondern ist in einem fortwährenden Vermittlungsprozess begriffen. Das ist genauer betrachtet gerade keine Ideologie, sondern vielmehr deren Transzendenz, insofern sie überhaupt nur verstehbar macht, wie Ideologien funktionieren, nämlich als allzu kurzes Herunterbrechen von allgemeinen Begriffen. Im mythischen Heroen, der durch die Geschichte zieht, wird aber nicht ein politisches Programm überhöht, sondern umgekehrt, das politische Programm als mehr oder weniger gelungener Versuch betrachtet, vor den Prinzipien des Allgemeinen zu bestehen. Im dichterischen Prozess selbst verlieren sich sogar die Interessen, ob real oder ideal: In der Produktion bleibt alles in einem ewigen Werden, das Schlegel als Schweben beschreibt. Man sollte diese Daseinsart nicht allzu unbedacht auf den Boden oder im Himmel fixieren. Wer dergleichen als romantischen Anachronismus abtun möchte, dem sei freilich entgegnet, dass auch für die gängige Münze der ‚Ideologie‘ und der ‚Propaganda‘ weder ein begriffliches Äquivalent noch ein sachliches Fundament in der Antike zu finden ist.112 Ohne kontrollierte Anachronismen ist das hermeneuti112

Siehe dazu Doehring von Manteuffel: Propaganda, in: HWRh 7 (2005), Sp. 266–290; bes. Sp. 261–271; Reinhard Romberg: Ideologie, in: HWPh 4 (1976), Sp. 158–185.

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sche Geschäft wohl auch nicht zu leisten: Nur deshalb können wir aus der Herkunft die Zukunft immer neu schaffen.

Der Begriff der Ideologie stammt aus der französischen Revolution, wurde aber im 19. Jh. zu einem Kampfbegriff; insbesondere durch den Marxismus erfuhr der Begriff eine Zuspitzung auf eine realitätsferne, aber von Machtinteressen gesteuerte Doktrin. Wenn Zanker: Augustus (wie Anm. 80), S. 12f.; 157–196 damit die Formen der augusteischen Restauration beschreibt, so benutzt er auch den der Propaganda (z.B. S. 191), zwar weist er einen regelrechten „Propagandaapparat“ a limine (als anachronistisch?) ab, vielmehr sei ein „mehr oder weniger selbstläufiger Prozessaus dem Ineinandergreifen von Selbstdarstellung des Herrschers und ihm dargebrachten, mehr oder weniger spontanen Ehrungen“ zu konstatieren (ebd., S. 13), doch widerspricht diese Einschränkung eigentlich seinem Ansatz von der Macht der Bilder und von Bildern der Macht. Der Ideologiebegriff ist daher bei Zanker auch durchweg als negativer Index gebraucht. Angemessener wäre sicherlich, sich eines eher operativen Ideologiebegriffes zu bedienen, der als Ordnungsmuster fungiert. Dass Ideologien auf eine hohe semiotische Valenz setzen müssen, um funktionieren zu können, ist eine semiologische Einsicht, deren grundlegende Rhetorizität, wie sie Roland Barthes aufgezeigt hat, von jener operativen Freiheit ist, die zur Beschreibung soziopolitischer Prozesse besser geeignet ist als der mehr oder weniger sichtbare Gestus moralisierender Aufdeckung, die ihrerseits der Schlagworte und Suggestion nicht entraten kann. In der amerikanischen Soziologie hat sich denn auch ein ganz pragmatischer Begriff durchgesetzt, Ideologie sei ein „system of beliefs publicly expressed“, als solche kann sie gerade in Umbruchzeiten das Individuum stabilisieren, indem eine Gruppenzugehörigkeit vermittelt wird. Denn „Sozialpsychologischanthropologisch gesehen ist die Ideologie das unentbehrliche ‚Antriebs- und Steuerungssystem der menschlichen Gesellschaft‘, sie entlastet und stabilisiert menschliches Verhalten, gibt ihm aber auch ‚Flexibilität und Variationsbreite‘“ (Romberg, Sp. 178). So ist es denn wohl auch kein Zufall, dass neuere Arbeiten zur Augusteischen Kultur des anglophonen Sprachraumes diesen operativen Ideologiebegriff verfolgen, so Galinsky. Eine sehr ausgewogene zusammenfassende Darstellung dieses Themas findet sich bei Wiater: The Ideology of Classicism (wie Anm. 2), S. 19–22.

Bardo Maria Gauly

Ausonius’ Cupido cruciatus und die Liebe zum Mythos Die lateinische Literatur der Spätantike bestimmt sich selbst in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von einer Antike, die einerseits selbstverständlich präsent ist – insbesondere im Bildungssystem, das noch immer die Lektüre der großen Autoren in den Mittelpunkt stellt –, die aber andererseits nicht mehr den Anspruch erheben kann, die einzig gültige Deutung der Welt zu sein. Die pagane und christliche Dichtung der Zeit rekurriert in Sprache, Stil und poetischen Formen auf die Autoren, die, wie Vergil oder Statius, in der Schule und in gebildeten Zirkeln noch immer maßgeblich sind, doch wandeln sich die Stoffe, die Gegenstand der Poesie sind.1 Dem Mythos wird nur noch selten die Fähigkeit zugebilligt, kulturell und sozial Relevantes zu verhandeln, nachdem eine umfangreiche christliche Kritik den Anthropomorphismus der Götter und ihr notorisch unmoralisches Verhalten gerügt hatte.2 Sie scheint Wirkung gezeigt zu haben, da wir nur wenig mythologische Dichtung (meist in Kleinformen) haben,3 wenn wir von der großen Ausnahme, Claudians Epos über den Raub der Proserpina, absehen. Auch Ausonius’ Epyllion über trauernde Heroinen in der Unterwelt, die sich für das Liebesleid ihrer einstigen Existenz an Amor zu rächen versuchen, bildet eine solche Ausnahme, auch wenn man es im Kontext des Gesamtwerkes des Dichters betrachtet. Es erscheint auf den ersten Blick als Etüde über eine Passage der Aeneis, da es seinen intertextuellen Bezug auf deren sechstes Buch in ungewöhnlicher Weise markiert, indem es im ersten Vers auf seinen Prätext unter Angabe des Autors hinweist.4 Dem entspricht, dass der letzte Vers das berühmte Ende dieses Buches zitiert, wo von den beiden Pforten der Träume die Rede ist.5 Und schließlich 1

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Zur Rezeption der antiken Dichter in der christlichen Spätantike s. Peter Gemeinhardt: Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, Tübingen 2007 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 41), S. 411–417. Christine Schmitz: Art. „Mythos“, in: RAC 25 (2013), Sp. 471–516, hier Sp. 487–495. Wie Reposians Epyllion über Venus und Mars (Al 247 Sh. B. = 253 R.2). Auson. 19,1: Aeris in campis, memorat quos Musa Maronis […] („In den luftigen Gefilden, von denen Vergils Muse erzählt […]“). Der Text wird, wenn nicht anders angegeben, nach der Ausgabe von Green zitiert: Decimi Magni Ausonii opera, Recognovit brevique annotatione critica instruxit R. P. H. Green, Oxford 1999 (OCT). Auson. 19,103: Evolat ad superos portaque evadit eburna („Er fliegt zu den Himmlischen empor und entkommt durch die Pforte aus Elfenbein“). Vgl. Verg. Aen. 6,897f.:

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deklariert auch schon die Prosa-praefatio Vergils Unterweltserzählung zur Vorlage. Die Forschung hat sich denn auch vor allem mit den intertextuellen Bezügen des Gedichts befasst und nicht nur den Dialog mit Vergil analysiert, sondern auch weitere Prätexte ausgemacht.6 Dazu kommt, dass die praefatio noch auf eine andere Vorlage hinweist, ein Wandgemälde in Trier, dessen Darstellung das Gedicht folge,7 so dass Ausonius’ Palimpsest auf ein Substrat verschiedener literarischer und bildlicher Deutungen des Mythos hin durchsichtig ist. Dass die Untersuchung der poetischen Auseinandersetzung mit der Dichtung der Vergangenheit in der Regel die Prosa-praefatio des Epyllions ignoriert hat,8 ist insofern verständlich, als diese aus konventionellen Versatzstücken dieser Textsorte zu bestehen scheint; sie nennt das Thema, die Bestrafung Amors durch

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His ibi tum natum Anchises unaque Sibyllam / prosequitur dictis portaque emittit eburna („Mit diesen Worten gibt Anchises dann dem Sohn und mit ihm der Sibylle das Geleit und entlässt sie durch die Pforte aus Elfenbein“). Rosa Maria Lucifora: I loci similes del Cupido cruciatus, in: Atti dell’Accademia Peloritana, Classe di Lettere, Filosofia e Belle Arti n.s. 55 (1979), S. 261–271; Laura Vannucci: Ausonio fra Virgilio e Stazio: A proposito dei modelli poetici del Cupido Cruciatus, in: Atene e Roma 34 (1989), S. 39–54; N. Gregson Davis: Cupid at the ivory gates: Ausonius as a reader of Vergil’s Aeneid, in: ColbyQ 30,3 (1994), S. 162–170; Carlo Santini: Ambiguità intertestuale nel Cupido cruciatus di Ausonio, in: Curiositas. Studi di cultura classica e medievale in onore di Ubaldo Pizzani, hg. von Antonino Isola u.a., Neapel 2002 (Bibliotheca / Università degli Studi di Perugia 1), S. 243–256; Luca Mondin: Genesi del Cupido cruciatus, in: Lexis 23 (2005), S. 339–372; Orazio Aiello: Tra Perseo e Sinone. I volti di Cupido (Ausonio, Cupido Cruciatus, vv. 45–50; 54; 60), in: Sileno 32 (2006), S. 1–8; Marion Gindhart: Evolat ad superos portaque evadit eburna. Intertextuelle Strategien und Vergilparodie im Cupido cruciatus des Ausonius, in: RhM 149 (2006), S. 214–236; Ulrich Schmitzer: Amor in der Unterwelt. Zu Ausonius’ Gedicht Cupido cruciatus, in: Suus cuique mos. Beiträge zur paganen Kultur des lateinischen Westens im 4. Jh. n.Chr., hg. von Ulrich Schmitzer, Göttingen 2006, S. 167–184; Meinolf Vielberg: Cupido cruciatus. Jenseitsvorstellungen des antiken Epos im Spiegel von Auson. XIX, in: Topographie des Jenseits. Studien zur Geschichte des Todes in Kaiserzeit und Spätantike, hg. von Walter Ameling, Stuttgart 2011 (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 21), S. 143–159; ders.: Picture and poetry. Conceptions of the hereafter and of court scenes in the works of Ausonius of Bordeaux and Paulinus of Nola, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. von Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller, Berlin 2013 (Millenium-Studien 43), S. 331–353. Die Einleitung weist selbst darauf hin, dass die Aeneis nur eine von mehreren Quellen ist (Z. 6f.): Quarum partem in lugentibus campis Maro noster enumerat („Einen Teil von ihnen nennt unser Vergil in seinen Trauergefilden“). Der Verweis bezieht sich auf Aen. 6,440–476. Auson. 19 praef. Z. 2f.: Treveris quippe in triclinio Zoili fucata est pictura haec („In Trier, in Zoilos’ Speisesaal, ist ja dies farbenfroh gemalt“). Die Ausnahme von der Regel ist die Arbeit von S. Georgia Nugent (Ausonius’ ‘LateAntique poetics’ and ‘Post-modern’ literary theory, in: Ramus 19 [1990], S. 26–50), auf die zurückzukommen sein wird.

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die liebenden Heroinen, sie widmet das Gedicht Ausonius’ Freund Gregorius Proculus,9 deutet die Umstände der Entstehung an und versucht, dem Werk durch die üblichen Bescheidenheitstopoi eine günstige Aufnahme zu sichern.10 Aber ihre Bedeutung erschöpft sich darin nicht, weil ihre poetologischen Reflexionen eine Epochendifferenz konstatieren, die Auswirkungen auf das mythische Sujet hat. Wenn die liebenden Heroinen als Frauen einer heroischen Zeit bezeichnet werden, die in ihrem moralischen bzw. unmoralischen Verhalten von denen der Gegenwart unterschieden werden,11 dann wird die Welt des Mythos zu einer vergangenen Welt. Im Folgenden soll also die These begründet werden, dass dem Text ein Bewusstsein davon inhärent ist, dass der Text und seine Prätexte unterschiedlichen Epochen angehören, dass er thematisiert, wie prekär der Status mythologischer Dichtung in der Spätantike geworden ist. Dies wird im mythologischen Epyllion selbst vor allem dadurch deutlich, dass der fiktionale Charakter der Erzählung immer wieder markiert wird. Der Bezug auf das sechste Buch der Aeneis wird schon, bevor Vergil namentlich eingeführt wird, durch ein Zitat explizit gemacht, das als den Ort der Handlung die Unterwelt bestimmt (V. 1). Dort weilen Heroinen, die an ihrer unglücklichen Liebe zugrunde gingen; noch jetzt verweisen ihre jeweiligen Attribute darauf, wie sie zu Tode kamen. Die Unterwelt ist still und finster; nur Blumen, die einst durch Metamorphose aus Knaben und Königen entstanden sind, bringen Farbe ins Bild (V. 1–12). Ein Katalog von 14 trauernden Liebenden deutet die jeweiligen Mythen an (V. 13– 44). Als sich unvorsichtigerweise Amor nähert, ergreifen ihn die Frauen und binden ihn an eine Myrte, um ihn zu strafen (V. 45–64). Dabei entspricht die Methode der Bestrafung jeweils dem Leid, das die Heroine einst selbst erdulden musste (V. 65–78). Schließlich greift Amors Mutter Venus ein (V. 79–98), doch anders, als es zu erwarten wäre. Anstatt ihrem Sohn beizustehen, schließt sie sich den Rächerinnen an, da auch ihre Liebschaften ihr mitunter Schande eintrugen. Als sie Amor mit ihrem Kranz von Rosen blutig schlägt, intervenieren die anderen Frauen zu seinen Gunsten, so dass es zu allgemeiner Versöhnung kommt. Schließlich entlarvt der Erzähler das Geschehen als Cupidos Albtraum, so dass der Liebesgott nach seinem Erwachen durch die Pforte aus Elfenbein zu den Himmlischen entkommen kann (V. 99–103). Der Beginn des Gedichtes veranschaulicht die Düsternis der Unterweltslandschaft, in die nur die in Blumen verwandelten Helden Farbe bringen, und stellt die Heroinen vor, die durch ihre Attribute auf ihr trauriges Schicksal verweisen, so dass zunächst die Ekphrasis dominiert, bevor mit dem Erscheinen Amors die 9

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Zum Widmungsempfänger s. die Kommentare von R. P. H. Green (The works of Ausonius, Edited with introduction and commentary, Oxford 1991, S. 526) und Alessandro Franzoi (Decimo Magno Ausonio, Cupido messo in croce. Introduzione, testo, traduzione e commento, Neapel 2002 [Studi Latini 47], S. 17f.). Die zweite Hälfte der praefatio gibt sich als Verteidigung des kleinen Werks; der Leser solle Nachsicht mit dem error des Dichters haben. Auson. 19 praef. Z. 3–6.

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Erzählung zu ihrem Recht kommt.12 Dieser Auftritt ist plötzlich, und mit ihm entwickelt sich eine dynamische Szenenfolge, die mit der Vorstellung, der Dichter folge einer bildlichen Darstellung, schwer zu vereinen ist: die Gefangennahme des Gottes, seine Peinigung durch die Heroinen, Venus’ Ankunft usw. Natürlich gibt es Bildtechniken, die es erlauben, ein zeitliches Nacheinander in einem Bild zu simulieren, aber plausibler ist ein Verständnis, das die Visualisierung des Geschehens ganz der Imagination des Lesers überlässt.13 Verschiedene Prätexte sind mit im Spiel, neben Vergil insbesondere Ovid und Statius,14 doch nur der Bezug auf Vergil wird explizit formuliert. Allerdings lokalisiert Ausonius das Geschehen mit zwei Zitaten aus der Aeneis, die sich dort auf unterschiedliche Orte beziehen. Die Formulierung aeris in campis (V. 1: „in den luftigen Gefilden“) meint bei Vergil das Elysium, während die unglücklich liebenden Heroinen bei Vergil in den lugentes campi verortet werden, auf die auch schon Ausonius’ praefatio verwiesen hatte.15 Der Widerspruch wird nicht aufgelöst, so dass der Charakter der Unterwelt diffus bleibt, als ob sich der Text von einer ideologischen Festlegung ihres Wesens dispensieren wollte. Entsprechendes lässt sich über das Ende des Gedichtes sagen, das das Erzählte als Traumbild entlarvt (V. 99–103):16 talia nocturnis olim simulacra figuris exercent trepidam casso terrore quietem. quae postquam multa perpessus nocte Cupido effugit, pulsa tandem caligine somni evolat ad superos portaque evadit eburna. Solche Traumgebilde suchen mitunter mit nächtlichen Gestalten den unruhigen Schlummer mit falschem Schrecken heim. Nachdem Cupido sie in tiefer Nacht durchlitten hatte und ihnen entronnen war, fliegt er – endlich ist das Dunkel des Schlafes vertrieben – zu den Himmlischen empor und entkommt durch die Pforte aus Elfenbein.

Mit diesen Versen wird die Erzählung im Rückblick als fiktionale Erzählung gekennzeichnet, und dies hat man, wie ich meine, mit Recht als Hinweis darauf verstanden, wie prekär mythologisches Erzählen in einer Zeit erscheinen musste, in der der Mythos seine alte kulturelle und soziale Funktion verlor. Man hat deshalb davon gesprochen, dass sich Ausonius damit vom Inhalt des Gedichts distanziere,

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Vannucci: Ausonio fra Virgilio e Stazio (wie Anm. 6), S. 53. Nugent: Ausonius’ ‘Late-Antique poetics’ (wie Anm. 8), S. 31f. Santini: Ambiguità intertestuale (wie Anm. 6), S. 251–254; Vannucci: Ausonio fra Virgilio e Stazio (wie Anm. 6). Verg. Aen. 6,887 bzw. 6,441. S. dazu Santini: Ambiguità intertestuale (wie Anm. 6), S. 244–251. Auson. 19,99–103.

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und dies mit der Rede von einem error in der praefatio in Verbindung gebracht.17 Die Vorstellung, dass sich der Erzähler am Ende von seiner eigenen Erzählung lossage, scheint mir zu weit zu gehen; die Offenlegung ihres fiktionalen Charakters bedeutet nicht Distanzierung von ihr, sondern sichert ihr einen eigenen Wert als Literatur, deren Wahrheitswert nicht von ihren Referenzen auf die außerliterarische Welt abhängt. Und auch die Rede vom error in der praefatio hat, wie wir sehen werden, nicht die Aufgabe, sich vom eigenen Werk abzusetzen, sondern vielmehr, wie andere Bescheidenheitstopoi auch, auf seine spezifischen Qualitäten aufmerksam zu machen. Gregson Davis weist in seiner scharfsinnigen Deutung des Schlusses darauf hin, dass V. 99f. als Erzählerkommentar zu lesen seien, der das Thema des Wahrheitsgehaltes von Träumen und Traumerzählungen etabliere, ein Thema, das schon die homerische Erzählung von den zwei Pforten der Träume bestimme. Im 19. Buch der Odyssee erzählt Penelope Odysseus von einem Traum, der sich selbst deutet (der Adler, der die Gänse tötet, stellt sich noch im Traum als Odysseus vor); als Odysseus diese immanente Traumdeutung bestätigt, antwortet Penelope mit der Erzählung über die zwei Tore, die klarmacht, dass erst der Eintritt von im Traum gesehenen Ereignissen deren Wahrheitswert klären wird.18 Am Ende des sechsten Buches der Aeneis, so Davis weiter, ergebe sich insofern eine Ambivalenz, als einerseits Roms künftiges Geschick prophezeit werde, das der Leser schon kenne, andererseits das Geleit durch das elfenbeinerne Tor Anchises, also einem der Manen, die falsa insomnia senden, zugeschrieben und damit fokalisiert werde, so dass die Figuren von Aeneas und Sibylle für den Leser zu uneindeutigen Zeichen würden.19 Ausonius lese, Servius vergleichbar, Vergils Erzählung als Traumerzählung;20 Davis verweist auf eine Parallele in Ausonius’ Ephemeris, einer Gedichtfolge, die die verschiedenen Phasen eines Tages begleitet: Im letzten Gedicht reflektiert der Sprecher über das Wesen der Träume; dabei erinnert er sowohl an Vergils Traumpforten als auch an dessen Unterweltsulme, an deren Zweigen die somnia uana hängen; wenn die Schrecken des Albtraums, so heißt es in 17

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Von „Distanzierung“ spricht Vielberg: Picture and poetry (wie Anm. 6), S. 158f. (der Begriff S. 159); nach Mondin hat die Schlusswendung die Funktion, das Werk ideologisch unangreifbar zu machen (Genesi del Cupido cruciatus [wie Anm. 6], S. 372). Indizien für eine Vergilparodie, wie sie Gindhart annimmt (Evolat ad superos portaque evadit eburna [wie Anm. 6], S. 233–235), sehe ich nicht. Hom. Od. 19,535–569; s. dazu Davis: Cupid at the ivory gates (wie Anm. 6), S. 163f. Verg. Aen. 6,893–899; s. dazu Davis: Cupid at the ivory gates (wie Anm. 6), S. 164– 166. Vgl. Serv. Aen. 6,893: Vult autem intellegi falsa esse omnia quae dixit („Man soll verstehen, dass alles, was er sagt, fiktiv ist“). Waldes Untersuchung der Traumdarstellungen in der antiken Poesie schließt die Spätantike nicht ein; auch sie arbeitet aber die Nähe des Traummotivs zum Thema der Fiktionalität heraus (Christine Walde: Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, München/Leipzig 2001, z.B. S. 424f.).

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der Ephemeris, nicht Wirklichkeit würden, dann falle es leicht, in Kauf zu nehmen, dass sich auch die glückverheißenden Träume als trügerisch erwiesen.21 Eines aber unterscheidet Ausonius’ Cupido-Gedicht von Vergils Erzählung: Die Frage ihres Wahrheitsgehaltes wird nicht erst an ihrem Ende virulent. Die Schlusswendung ist vielfach vorbereitet: Semeles Blitz ist ein simulatum fulgur (V. 18); Ariadne trägt das Bild einer vana corona (V. 33); auch die Stärke, die die Heroinen gegenüber Amor zeigen, ist vanus (V. 51); eine anonyme Heroine bedrängt Amor mit der species inanis einer Klinge (V. 68), andere mit Fackeln ohne Feuer (V. 72). Der Eindruck einer unwirklichen Welt wird aber nicht nur durch diese expliziten Hinweise auf den fiktionalen Charakter des Erzählten erzeugt, sondern auch durch die Lichtführung in Beschreibung und Erzählung, die die Szenerie in ein Zwielicht taucht. Da ist von fahlem Licht (V. 5: lux maligna) die Rede, von Nebel (V. 8), vom Schatten finsteren Dunkels (V. 45) oder von feuchten Wolken (V. 48f.). Eine italienische Gelehrte spricht mit Bezug darauf von chiaroscuro, und das ist insofern ein treffender Begriff, als das Halbdunkel des Textes von punktuellen Licht- und Farbeffekten erhellt wird, wenn etwa am Ufer des nebligen Flusses Narzisse, Hyazinthe oder Anemone erblühen (V. 9–12), Amors Gürtelbeschläge inmitten von Wolken golden schimmern (V. 49f.) oder aus einer kleinen Wunde Amors ein roter Blutstropfen quillt, aus dem eine Rose erwächst (V. 76f.).22 Zum Zwielicht kommt noch die Stille, die in den Beschreibungen der Gewässer wahrnehmbar wird, in den stillen Fluten, den Flüssen ohne Murmeln (V. 7) oder dem unbewegten See (V. 70).23 Die größte Herausforderung an die Imagination des Lesers ist aber die Passage, in der die Heroinen Amor mit den je eigenen Waffen bedrohen (V. 68–71): haec laqueum tenet, haec speciem mucronis inanem ingerit, illa cavos amnes rupemque fragosam insanique metum pelagi et sine fluctibus aequor. nonnullae flammas quatiunt […]. Die eine hält den Strick in der Hand, die andere bedrängt ihn mit dem nichtigen Bild einer Klinge, eine dritte mit tiefen Flüssen, einer felsigen Klippe, der Furcht vor dem Toben des Meeres und einer See ohne Fluten. Einige schwenken Flammen […].

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Auson. 2,8,22–31; vgl. Verg. Aen. 6,282–284; s. dazu Davis: Cupid at the ivory gates (wie Anm. 6), S. 166f. Patrizia Mastroianni: Su due luoghi del Cupido cruciatus, in: Bollettino di studi latini 26 (1996), S. 545–558, hier S. 549f.; nur die ersten beiden Beispiele sind Mastroianni entnommen. Zu synästhetischen Metaphern als Bedingung der Möglichkeit der Handlung s. Vielberg: Picture and poetry (wie Anm. 6).

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Die Vorstellung, dass eine der Frauen den Gott mit Flüssen und Felsen ebenso attackiert wie andere mit Schwertern, erfordert keine geringe Abstraktionsleistung des Lesers.24 Das Gedicht stellt also deutlich heraus, dass es eine fiktionale Welt präsentiert; mit der Thematisierung der Traumwelt steht aber noch ein weiteres Motiv in Verbindung, das in beiden Texten, in Vorrede und Gedicht, eine Rolle spielt und auf das wiederum Davis hingewiesen hat. Ausonius interpretiere Vergil auch insofern subjektiv, als er in seiner Traumerzählung das psychologische Motiv der Externalisierung thematisiere.25 Die Heroinen strafen Amor für ihre eigenen sexuellen Eskapaden, und dass es um die Übertragung eigener Schuld auf andere geht, wird im Text ausgesprochen. Davis selbst verweist dafür nur auf V. 63f.: Se quisque absolvere gestit, / transferat ut proprias aliena in crimina culpas („Eine jede will sich selbst freisprechen, um eigene Schuld auf fremde Schultern zu laden“). Doch findet sich das Motiv auch beim Auftritt der Venus, die, so heißt es, similis culpa („ähnliche Schuld“) auf sich geladen habe (V. 79). Und als die Heroinen am Ende eingreifen, um Venus an allzu harter Bestrafung ihres Sohnes zu hindern, als sie einsehen, dass Amor allzu hart bestraft wird, ziehen sie daraus nicht die Konsequenz, die Schuld an den Verfehlungen selbst zu übernehmen (V. 95f.): Ipsae intercedunt heroides et sua quaeque / funera crudeli malunt ascribere fato („Sie schreiten selbst ein, und eine jede lastet den eigenen Untergang lieber einem grausamen Schicksal an“). Ein neuer Schuldiger ist gefunden, das fatum, und die Heroinen bleiben exkulpiert. Damit ist offensichtlich ein zentrales Motiv des Gedichtes ausgemacht; allerdings würde ich es, anders als Davis, schon deshalb nicht mit psychologischer Traumdeutung in Verbindung bringen, weil es schon in der praefatio anklingt, ohne dass dort in irgendeiner Weise Traumphänomene reflektiert werden. Die praefatio ist bisher vor allem in zwei Richtungen ausgewertet worden; zum einen hat man versucht, das Gemälde, auf das sie verweist, zu rekonstruieren, ein Versuch, dem man schon deshalb wenig Aussicht auf Erfolg zuschreiben wird, weil unser Gedicht die einzige Quelle dafür ist und weil ein solcher Versuch leicht in einen hermeneutischen Zirkel führt, in dem das aus dem Gedicht rekonstruierte Gemälde zur Grundlage einer Gedichtinterpretation wird;26 zum anderen hat man 24

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Zu Recht hervorgehoben von Nugent: Ausonius’ ‘Late-Antique poetics’ (wie Anm. 8), S. 32. Davis: Cupid at the ivory gates (wie Anm. 6), S. 168. Insbesondere Rosa Maria Lucifora: Il Cupido cruciatus di Ausonio rivisitato, in: Atti dell’Accademia Peloritana, Classe di Lettere, Filosofia e Belle Arti n. s. 54 (1978), S. 306–318, hier S. 315–318; Paul Dräger: Ein verschollenes Trierer Wandgemälde der Spätantike (Ausonius, Cupido cruciatur), in: Trierer Zeitschrift 65 (2002 [2004]), S. 121–139, aber auch Green in seinem Kommentar (The works of Ausonius [wie Anm. 9], S. 527); dagegen tritt Gindhart mit guten Gründen dafür ein, das Gemälde als Imagination anzusehen (Evolat ad superos portaque evadit eburna [wie Anm. 6], S. 229– 231).

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das Vorwort als konventionelles Versatzstück verstanden, das sich darauf beschränke, Anlass, Adressaten und Thema zu benennen und durch gespielte Bescheidenheit Sympathien einzuwerben.27 Nun verhalten sich gerade bei Ausonius Vorreden und das Werk, das sie begleiten, oft in ungewöhnlicher Weise; so sind praefationes überliefert, die sich keinem Werk zuordnen lassen; manche Werke haben mehr als ein Vorwort, und es kommt vor, dass die Vorreden dem Umfang nach das Werk übertreffen (z.B. in der Bissula), so dass man damit rechnen wird, dass auch der Anspruch, den sie auf die Aufmerksamkeit des Lesers erheben, entsprechend hoch ist.28 Dass unsere praefatio mit für diese Textsorte typischen Topoi arbeitet, ist offensichtlich, aber dies sagt noch nichts über die Funktion, die diese Topoi im Kontext haben. Wenn man Genettes grundlegende Untersuchung von Paratexten heranzieht, genauer: seinen Katalog der Funktionen, die der hier einschlägigen Unterkategorie von Paratext, dem originalen auktorialen Vorwort, zugeschrieben werden, dann findet man leicht eine ganze Reihe solcher Funktionen bei Ausonius wieder: die Aufwertung des Themas, die Klärung des Verhältnisses zur Tradition, die vorbeugende Selbstkritik, die Anleitung zur richtigen Lektüre oder Hinweise zur Entstehung des Werkes. Wichtiger aber ist die Erkenntnis, dass all diese Funktionen (und Genette nennt noch viele andere) einer zentralen Funktion untergeordnet sind, der nämlich, „eine gute Lektüre des Textes zu gewährleisten“.29 Dabei ist die erste Aufgabe, den Leser überhaupt dazu zu bringen, das Werk zu lesen, und dies impliziere die Notwendigkeit, das Thema aufzuwerten, ohne ihn „durch eine allzu unbescheidene oder auch nur offenkundige Aufwertung des Autors zu verstimmen“.30 27

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Z.B. Fritz Felgentreu: Claudians praefationes. Bedingungen, Beschreibungen und Wirkungen einer poetischen Kleinform, Stuttgart/Leipzig 1999 (BzA 130), S. 56f. In den literaturgeschichtlichen Untersuchungen zur lateinischen Prosa-praefatio wird vor allem Ausonius’ Anknüpfung an Martial und Statius hervorgehoben; das Vorwort zum Cupido cruciatus wird bestenfalls beiläufig erwähnt: Tore Janson (Latin prose prefaces. Studies in literary conventions, Stockholm 1964 [Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia Latina Stockholmiensia 13]) und Zoja Pavlovskis (From Statius to Ennodius: A brief history of prose prefaces to poems, in: RIL 101 [1967], S. 535–567) erwähnen es gar nicht; Hagith Sivan (The dedicatory presentation in Late Antiquity: The example of Ausonius, in: ICS 17 [1992], S. 83–101) weist darauf hin, dass die ostentative Bescheidenheit darauf ziele, Widerspruch des Adressaten Gregorius Proculus zu provozieren (S. 96f.). Dagegen zeigt Scott McGill in exemplarischen Analysen dreier praefationes (Auson. 1,5; 27,19a und 18) die je unterschiedliche rhetorische Funktion der Topoi (Ausonius at night, in: AmJPh 135 [2014], S. 123–148). An verschiedene Adressaten sind die Praefationes variae (Auson. 1) gerichtet; der Bissula (Auson. 17) ist eine Prosa-praefatio an den Freund Paulus, eine weitere Verspraefatio an denselben Adressaten und eine dritte Vorrede (ebenfalls in Versen) an den Leser. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 2001 (stw 1510), S. 190–227; das Zitat S. 191. Ebd., S. 192.

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Dass wir es in Ausonius’ praefatio zum Cupido cruciatus mit vorbeugender Selbstkritik zu tun haben, ist offensichtlich, doch genügt es nicht, Bescheidenheitstopoi auszumachen, die indirekt auf die Qualität der Dichtung hinweisen; zu fragen ist vielmehr, welche spezifische Qualität angedeutet wird, um die Lektüre des Lesers zu lenken. Auffällig ist insbesondere, dass in den wenigen Zeilen der praefatio das Motiv der Selbstliebe in zwei unterschiedlichen Brechungen zur Sprache kommt. Da ist zum einen die Bereitschaft, mit den eigenen Fehlern Nachsicht zu üben und eigene Schuld auf andere zu übertragen; sie wird den Frauen heroischer Zeit zugeschrieben und bereitet die entsprechenden Passagen des Gedichtes vor.31 Zum anderen wirbt der Dichter beim Leser um Verständnis für seine eigene Selbstverliebtheit, die ihn zu einer Dichtung wie der vorliegenden veranlasst habe (19, praef. Z. 9–12). Dass diese zwei Versionen des gleichen Motivs nicht unabhängig voneinander zu lesen sind und dass aus ihrer Verbindung Konsequenzen für das Textverständnis erwachsen, hat, soweit ich sehe, bisher nur Georgia Nugent erkannt. Sie untersucht Ausonius’ Poetik im Licht postmoderner Literaturtheorie und geht auf unser Gedicht nicht nur unter dem Stichwort representation ein (der Text appelliere an die Imagination des Lesers), sondern auch unter dem des reader-response, wobei sie nicht nur auf Parallelitäten zwischen Cupido und Leser bzw. zwischen Traum- und Lektüreerfahrung hinweist, sondern auch auf die zwischen Heroinen und Dichter in der praefatio. Sie weist auf die motivischen Entsprechungen hin (Liebe und Verfehlung sind die Stichworte) und nimmt die doppelte Parallelisierung (Cupido und Leser bzw. Heroinen und Dichter) als Beleg der These, der Text fungiere als offener Raum, zu dem sowohl Autor als auch Leser Zugang fänden.32 Ich habe gegen ein solches Verständnis wenig einzuwenden; allerdings scheint es mir in zweierlei Hinsicht noch nicht hinreichend. Zum einen ignoriert es, dass der Autor, indem er sich seinen Figuren annähert, eine spezielle Verbindung zu seinem Stoff reklamiert, die auch sonst in der praefatio thematisiert wird. Zum anderen wird die zeitliche Struktur, die durch das Vorwort etabliert wird, nicht ins Kalkül einbezogen. Es scheint mir aber für das Verständnis des Gedichtes grundlegend, dass die praefatio zwischen der Epoche des Dichters und seiner Leser auf der einen Seite und der seiner Figuren und seines Stoffes auf der anderen unterscheidet. Letztere werden einer heroischen (wir würden wohl eher sagen: mythischen) Vergangenheit zugeordnet (Auson. 19 praef. Z. 4f.), und die Wahrnehmung dieses Abstandes wird in der praefatio reflektiert. Die Liebe des Dichters zu seinem Gegenstand ist die Liebe zum Mythos einer vergangenen Epoche. Der folgenden Übersetzung und Analyse liegt mit einer Ausnahme der Text von Green zugrunde: En umquam vidisti nebulam pictam in pariete […]? vidisti utique et meministi. Treveris quippe in triclinio Zoili fucata est pictura haec: Cupidinem cruci affigunt

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Auson. 19 praef. Z. 5f.; vgl. 19,63f.; 79, 95f. Nugent: Ausonius’ ‘Late-Antique poetics’ (wie Anm. 8), S. 42.

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Bardo Maria Gauly mulieres amatrices, non istae de nostro saeculo quae sponte peccant, sed illae heroicae quae sibi ignoscunt et plectunt deum. quarum partem in lugentibus campis Maro noster enumerat. hanc ego imaginem specie et argumento miratus sum. denique mirandi stuporem transtuli ad ineptiam poetandi. mihi praeter lemma nihil placet, sed commendo tibi errorem meum; naevos nostros et cicatrices amamus, nec soli nostro vitio peccasse contenti affectamus ut amentur. verum quid ego huic eclogae studiose patrocinor? certus sum, quodcumque meum scieris, amabis; quod magis spero quam ut laudes. vale ac dilige parentem. ‚Hast du je einen Nebel gesehen, der auf eine Wand gemalt ist […]?‘ Natürlich hast du das, und du weißt es auch noch. In Trier, in Zoilos’ Speisesaal, ist ja farbenfroh gemalt, wie liebende Frauen Cupido ans Holz der Martern binden – nicht die aus unserer Zeit, die für ihre Sünden selbst verantwortlich sind, sondern die aus heroischen Zeiten, die mit sich selbst Nachsicht üben und dafür den Gott bestrafen. Einen Teil von ihnen nennt unser Vergil in seinen Trauergefilden. Künstlerische Gestalt und Thema dieses Bildes ließen mich staunen. Schließlich verwandelte ich staunende Erstarrung in poetische Spielerei. Mir selbst gefällt zwar nur das Sujet, aber ich lege dir dennoch meine Verfehlung ans Herz; wir lieben ja unsere kleinen Schönheitsfehler und Narben und sind nicht einmal damit zufrieden, wenn unsere Sünden nur zu unseren Lasten gehen, sondern sind sogar darauf aus, dass auch andere sie lieben. Doch warum verteidige ich dieses kleine Gedicht so eifrig? Ich bin sicher, du liebst alles, wenn du weißt, dass es von mir kommt, und auf deine Liebe hoffe ich mehr als auf dein Lob. Leb wohl und bleibe mir, deinem väterlichen Freund, gewogen.

Das Vorwort wird mit einem Zitat aus Plautus’ Menaechmi eröffnet, genauer gesagt: mit einer Variation dazu. Bei Plautus vergleicht sich einer der Zwillinge mit Ganymed und weist dabei auf ein entsprechendes Gemälde an der Wand;33 die Ausoniushandschriften aber überliefern einhellig nebulam pictam. Dies hält Green für sinnlos und konjiziert daher nach Plautus tabulam. Nun haben wir ja schon gesehen, dass im Gedicht das Zwielicht geradezu zum Leitmotiv wird und dass das fahle Licht mit Nebel assoziiert wird, so dass die Szenerie der Handlung mit der Rede von einem gemalten Nebel sehr gut auf den Begriff gebracht wird.34 Da ein Speisesaal des Zoilos in Trier unbekannt ist, wird man gut daran tun, auf Spekulationen zu verzichten,35 zumal in den kaiserzeitlichen Liebesromanen nicht 33

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Plaut. Men. 143: Dic mi, enumquam tu uidisti tabulam pictam in pariete […]? („Sag’ mir, hast du je das Gemälde an der Wand gesehen?“) Augustinus kritisiert in den Confessiones (1,16,26) eine Passage aus Terenzens Eunuchus (V. 583–591), wo von einem Gemälde (tabulam quandam pictam) die Rede ist, das Jupiter und Danae zeige; seine Formulierung (tabulam quandam pictam in pariete) klingt wie eine Kontamination aus Plautus und Terenz. Vgl. Auson. 19,8.48f. Überzeugend dazu Mastroianni: Su due luoghi (wie Anm. 22), S. 545–554; vgl. Santini: Ambiguità intertestuale (wie Anm. 6), S. 248f. Wie die von Lucifora (Il Cupido cruciatus [wie Anm. 26], S. 315–318) oder Dräger (Ein verschollenes Trierer Wandgemälde [wie Anm. 26]). Auch Fauths These von einer

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selten ein Gemälde zum Ausgangspunkt erotischen Erzählens wird und die rhetorische Praxis der Ekphrasis, die darauf zielt, dem Rezipienten klare innere Vorstellungen zu erzeugen, unabhängig davon ist, ob ihr reale oder fiktive Bilder zugrunde liegen.36 Der Text selbst tut ein Übriges, um jede Eindeutigkeit in der Frage der Vorlage zu unterminieren, wenn er wenig später ausdrücklich festhält, dass die Heroinen des Gedichts nur teilweise Vergil zu verdanken sind (Z. 6),37 und den Begriff imago durch ein deiktisches Pronomen sowohl auf das Trierer Gemälde als auch auf das Epos bezieht (Auson. 19 praef. Z. 7). Die Angabe des Themas, der Marterung Cupidos, ist mit der Charakterisierung der weiblichen Figuren verbunden: Es sind liebende Frauen heroischer Zeit, die ihre eigene Schuld auf den Liebesgott abwälzen (Z. 3–6). Überraschend daran ist, dass die Heroinen ausdrücklich von den Frauen der Gegenwart des Dichters und seiner Leser unterschieden werden; sie gehören einem anderen saeculum an, das noch die Option hatte, Götter und ihre Macht für das eigene Tun verantwortlich zu machen. Dies ist den Frauen der Gegenwart verwehrt, die, wenn sie Verfehlungen begehen, dafür auch selbst Rechenschaft ablegen müssen. Damit ist gesagt, dass die alten Götter und die mit ihnen verbundenen Mythen obsolet sind; es wird aber nicht gesagt, warum das so ist. Das Stichwort Christentum fällt weder hier noch im restlichen Gedicht, doch ist der Bezug deutlich genug, zumal die Verfehlungen, um die es geht, sexueller Natur sind und die Mythen, die einer vergangenen Epoche angehören, erotische Mythen sind.38 Mit den Mythen wird durch die Nennung

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Nähe zu Mysterienkulten ist zu Recht kritisiert worden (Wolfgang Fauth: Cupido cruciatur, in: Grazer Beiträge 2 [1974], S. 39–60); s. dazu Lucifora: Il Cupido cruciatus (wie Anm. 26) und Green in seinem Kommentar (The works of Ausonius [wie Anm. 9], S. 526f.). Zum Roman s. Petron. 83; Ach. Tat. 1,1f.; Long. praef. 3; zur Ekphrasis vgl. Thomas Schirren (Bewegte Bilder. Zur Entstehung des Kunstwerks bei dessen Betrachtung, in: Aiakeion. Beiträge zur Klassischen Altertumswissenschaft zu Ehren von Florens Felten, hg. von Claus Reinholdt u.a., Wien 2009, S. 129–142), der die den Eikones Philostrats zugrunde liegende rhetorische und philosophische Theorie untersucht. In der Tat steuert Ovid nicht weniger mythische Figuren bei als Vergil (Santini: Ambiguità intertestuale [wie Anm. 6], S. 251–254). Zur Rezeption Ovids in der Spätantike s. Pierluigi Leone Gatti (Ovid in Antike und Mittelalter. Geschichte der philologischen Rezeption, Stuttgart 2014 [Hermes-Einzelschriften 106], S. 53–85), der zeigt, dass die philologische Rezeption, d.h. die Behandlung von Ovid als Schulautor, nach dem 1. Jh. stark zurückgeht und erst um 500 n.Chr. wieder erneuert wird; davon grenzt er aber die durchgehende Präsenz in der literarischen Rezeption ab. Vielberg erwägt in einer kurzen Schlussbemerkung seiner Arbeit über die Jenseitsvorstellungen des Cupido cruciatus, ohne eine Antwort zu geben, die Frage, „ob in Ausonius’ Darstellung des an einer Myrte hängenden und gefolterten Gottes, ob ungewollt oder als kalkulierter Nebeneffekt, nicht auch eine versteckte Anspielung auf die christliche Lehre mitschwingen könnte“ (Cupido cruciatus [wie Anm. 6], S. 159). Mir scheint es eher symptomatisch, dass explizit die mythologische Epoche als Vergangenheit bezeichnet wird, ohne dass das Neue in irgendeiner Weise benannt ist.

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Vergils die mythologische Dichtung verbunden, so dass sowohl der Stoff als auch die ihn darstellende Poesie von der Gegenwart distanziert werden. Die Nennung der Aeneis als eine Vorlage provoziert dann fast notwendig die Bescheidenheitstopoi, die die ganze zweite Hälfte der praefatio ausmachen. Sie geben die eigentlichen Interpretationsprobleme des Textes auf, weil ihre Referenzen nicht eindeutig formuliert sind. Die Bewunderung des Dichters richtet sich auf species und argumentum, auf die Form der Darstellung und den Stoff; der eigene poetische Versuch, der aus dieser Bewunderung erwächst, gefällt aber nur durch das lemma, das Sujet.39 Die Liebe zum Stoff, und das heißt im konkreten Fall: zu den erotischen Mythen der Vergangenheit, ist es, die den Dichter dazu bringt, einen eigenen Versuch neben die Werke der großen Vorgänger zu stellen, und der Leser ist aufgefordert, diese Liebe zu teilen. Wenn die eigene Dichtung ironisch als ineptia poetandi abgewertet wird, so ist die Begrifflichkeit wiederum nicht eindeutig. In Catulls Fragment c. 14,b scheinen die ineptiae den nugae von c. 1 vergleichbar,40 so dass man denken könnte, Ausonius stelle sich in die Tradition neoterischer Poetik; auf Catull beruft sich explizit Plinius, als er einem Freund seine hendecasyllabi empfiehlt, und seine Rechtfertigung der kleinen Dichtung bezieht sich auch auf den Inhalt (lascivia rerum), insofern die Frivolität der Verse die Würde des Senators zu schmälern droht.41 Die nächsten Parallelen zu Ausonius’ Formulierung ineptia poetandi finden sich aber bei Seneca.42 In De vita beata verteidigt er sich gegen Angriffe, sein Lebensstil entspreche nicht seinen stoischen Idealen; der stoische Weise, so seine Antwort, stehe über solcher Kritik und könne sich darin den Göttern vergleichen.43 Vergleichbar ist eine Passage aus De beneficiis, wo sich Seneca 39

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Franzoi: Decimo Magno Ausonio (wie Anm. 9), ad loc.: „nel senso di titolo in quanto indicativo del soggetto.“ Vgl. Cat. 14b: Si qui forte mearum ineptiarum / lectores eritis manusque uestras / non horrebitis admouere nobis / *** („Wenn ihr vielleicht meine Albernheiten lesen wollt und nicht davor zurückschreckt, meine Dichtung anzufassen […]“). Plin. epist. 4,14 (der zitierte Begriff in §4). Plinius verweist zur Entschuldigung seiner poetischen Spielereien auf das Vorbild anonymer summi et grauissimi uiri (epist. 4,14,4) und schließt (epist. 4,14,8): Nam longa praefatione uel excusare uel commendare ineptias ineptissimum est („Denn Albernheiten mit einer langen Vorrede zu entschuldigen oder zu empfehlen ist albern“). Als mögliche Gattungsbezeichnung erwägt Plinius neben anderen eclogae (epist. 4,14,9), einen Begriff, den Ausonius für den Cupido cruciatus verwendet (praef. Z. 12). Registriert, aber nicht ausgewertet von Orazio Aiello: Studi di letteratura tardoantica e medioevale in Gallia, Palermo 2005 [Politetnico mediterraneo. Filologia 3], S. 5–34, hier S. 5. Sen. dial. 7,26,6: Sic uestras halucinationes fero quemadmodum Iuppiter optimus maximus ineptias poetarum, quorum alius illi alas inposuit, alius cornua, alius adulterum illum induxit et abnoctantem […] quibus nihil aliud actum est quam ut pudor hominibus peccandi demeretur, si tales deos credidissent („Ich ertrage euer Gerede wie Iuppiter, der Große und Erhabene, die Albernheiten der Dichter, von denen ihm der eine Flügel

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gegen eine allegorische Deutung der Charitinnen bei Chrysipp verwahrt: Solche ineptiae solle man den Dichtern überlassen.44 In beiden Fällen richtet sich die Kritik gegen die Frivolität mythologischer Erzählung, die göttlicher Erhabenheit unangemessen ist. Wenn also Ausonius seine eigene poetische Verfehlung mit dem Stoff seiner Dichtung in Verbindung bringt, dann akzeptiert er, und sei es ironisch, eine Bewertung, die den Mythos für eine Frivolität hält. Der Begriff ineptia fällt auch in der Prosa-praefatio zu Ausonius’ Parentalia, der erkennbar ein gleiches Konzept zugrunde liegt. Am Anfang steht die Selbstverkleinerung: Seine Poesie verdiene es, dass man sie nur widerwillig lese. Allerdings wird dieser Befund gleich eingeschränkt:45 Sed quosdam solet commendare materia et aliquotiens fortasse lectorem solum lemma sollicitat tituli, ut festivitate persuasus et ineptiam ferre contentus sit („Aber in der Regel werden doch manche Verse durch ihren Stoff empfohlen, und mitunter ermuntert den Leser allein die Formulierung des Titels dazu, sich von der Heiterkeit überzeugen zu lassen und sich damit zu begnügen, die Albernheit zu ertragen“). Die Parallelen zur praefatio des Cupido cruciatus sind nicht zu übersehen: Der Begriff lemma wird auch hier mit dem Stoff assoziiert (materia entspricht dem argumentum im Cupido), und auch hier ist davon die Rede, dass der Leser die Unvollkommenheit der Poesie akzeptiert, wenn er sich vom Reiz des Inhaltes verlocken lässt; dieser wiederum wird als heiter vorgestellt. An welche Dichtung dabei gedacht ist, wird nicht gesagt; die Parentalia selbst werden jedenfalls davon abgegrenzt, weil sie ja an die verstorbenen Angehörigen der Familie erinnern. Selbstverliebtheit, das Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit und die Entschuldigung eigener Fehler sind die Motive, die in der praefatio den Dichter mit den Figuren seines Gedichtes verbinden.46 Wie die Heroinen der alten Zeit ihre eigenen Verfehlungen ebenso lieben wie die Götter, mit deren Hilfe sie sich exkulpieren können, so liebt der Dichter nicht nur die eigene unvollkommene Dichtung, sondern auch den Mythos der vergangenen Epoche, der ihm dazu den Stoff schenkt. Den sexuellen Eskapaden der liebenden Frauen entsprechen die mythologischen Eskapaden des spätantiken Dichters, der sich darüber im Klaren ist, dass die Zeit der alten Götter abläuft. Gerade die Parallelisierung mit den eigenen Figuren legt ein Textverständnis nahe, das die Liebe des Dichters zu seiner Dichtung auf deren Gegenstand bezieht; dazu kommen die expliziten Verweise auf argumentum und lemma. Die Verfehlung, derer sich der Dichter selbst bezichtigt,

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zugedichtet hat, der andere Hörner; wieder ein anderer hat ihn beim Ehebruch und Seitensprung gezeigt […] Diese Dichtungen führten zu nichts anderem, als den Menschen ihre Scheu vor Fehltritten zu nehmen, wenn sie erst einmal an solche Götter glaubten“). Sen. benef. 1,4,5. Auson. 10 praef. (A), Z. 2–5. Für die Verknüpfung von Selbstliebe und Rechtfertigung könnte man mit Lucifora (I loci similes del Cupido cruciatus [wie Anm. 6], S. 265) auf Sen. epist. 116,8 verweisen: Vitia nostra quia amamus defendimus („Wir verteidigen unsere Fehler, weil wir sie lieben“).

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besteht dann in dieser Liebe zum Mythos (und nicht etwa in der poetisch unvollkommenen Ausführung einer mythologischen Erzählung). Dafür spricht auch, dass der Leser die Liebe des Dichters teilen soll, denn der Satz, der diesen Wunsch formuliert, besagt nicht, dass der Leser das Werk des Poeten trotz seiner Unvollkommenheiten gutheißen solle, sondern dass er eben diese Unvollkommenheiten gutheißen solle. Diese werden mit merkwürdigen Metaphern bezeichnet, als naevi („Muttermale“) und cicatrices („Narben“). Merkwürdig sind sie, weil das tertium comparationis unklar ist, weil sie ja kleine Makel an einem sonst wohlgebildeten Körper bezeichnen. Hier aber beziehen sie sich auf das ganze Gedicht. Die Kommentare von Green und Franzoi vermuten (mit Bezug auf naevus) eine sprichwörtliche Wendung, und Letzterer verweist auf einen entsprechenden alten Nachtrag zu Ottos Sprichwörtersammlung; die in diesem Zusammenhang angeführten Stellen aus Cicero, Horazens Satiren, Fronto und aus spätantiken Texten sind aber weder geeignet, ein solches Sprichwort zu belegen, noch dazu, Ausonius’ Metapher zu erklären. Nur in einem Fall liegt der gleiche Gedanke wie bei Ausonius vor, dass nämlich der Fehler das Ganze erst reizvoll macht; die anderen Passagen illustrieren entweder, dass der liebende Blick über kleinere Makel gerne hinwegsieht bzw. sie gar nicht wahrnimmt, oder dass ein kleiner Fehler noch kein Grund ist, den ganzen Menschen zu verurteilen.47 In keinem Fall aber (auch nicht bei Cicero) geht es dabei um Selbstliebe, um Nachsicht mit der eigenen Unvollkommenheit. Bei Ausonius ist der Gedanke aber ein anderer: Gerade der Fehler ist das, was das Ganze attraktiv macht, und so bittet er den Leser auch darum, eben die naevi und cicatrices zu lieben. Für diesen Gebrauch der Metapher findet sich aber auch ein Vorbild, das bisher nicht mit unserer Stelle in Zusammenhang gebracht worden ist. Seneca Rhetor erzählt im zweiten Buch seiner Controversiae über die Deklamationsübungen Ovids:48 Molesta illi erat omnis argumentatio. verbis minime 47

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S. Green: The works of Ausonius und Franzoi: Decimo Magno Ausonio (wie Anm. 9) ad loc. sowie C. Weyman: Zu den Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, in: Archiv f. lat. Lexik 13 (1904), S. 253–270, hier S. 255: Cic. nat. 1,79 zitiert ein sonst unbekanntes Alkaios-Gedicht, in dem das Muttermal am Knöchel des geliebten Knaben dem lyrischen Ich zum erotischen Reiz wird; anders dagegen Hor. sat. 1,3,38–40; 1,6,66f.; Fronto p. 89,14sq. van den Hout. Sen. contr. 2,2,8–12. Seneca schreibt aber nicht nur dem Dichter Ovid Selbstverliebtheit zu, sondern auch anderen Deklamatoren. In contr. 9,6,12 zitiert er L. Cestius Pius mit der Bemerkung, er sage manches, was albern (ineptus) sei, wenn er damit rechne, beim Publikum Gefallen zu gewinnen. Aber auch wenn Seneca den Fehler nicht selten wahrnimmt (contr. 9,6,11), so bleibt doch Ovid das berühmteste und am ausführlichsten dargestellte Beispiel. Zum Motiv der Selbstverliebtheit bei den Deklamatoren s. Emanuele Berti: Scholasticorum studia. Seneca il Vecchio e la cultura retorica e letteraria della prima età imperiale, Pisa 2007 (Biblioteca di „Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici“ 20), S. 209–212. Dass Senecas Controversiae im Unterricht der Spätantike benutzt wurden, zeigen die in dieser Zeit angefertigten Exzerpte; s. dazu

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licenter usus est, non in carminibus, in quibus non ignoravit vitia sua sed amavit („Jede Argumentation war ihm lästig. Sein Wortgebrauch war keineswegs ungebunden, anders als in seinen Gedichten, in denen er seine Fehler genau kannte und sie liebte“). Es folgt die Anekdote, der zufolge Ovid mit seinen Freunden vereinbarte, sie dürften aus seinen Dichtungen drei Verse streichen, während er drei Verse benennen dürfe, die tabu seien. Wie zu erwarten, fällt die Wahl der Verse genau gleich aus. Der Ältere Seneca, der zwei von ihnen zitiert, kommentiert das Geschehen wie folgt: Ex quo apparet summi ingenii viro non iudicium defuisse ad compescendam licentiam carminum suorum sed animum. aiebat interim decentiorem faciem esse, in qua aliquis naevos fuisset („Daran kann man sehen, dass diesem so hoch begabten Mann nicht die Urteilsfähigkeit fehlte, seine Ungebundenheit zu zügeln, sondern die Lust dazu. Er pflegte mitunter zu sagen, ein Gesicht, in dem sich ein Muttermal befinde, sei anmutiger“). In diesem Apophthegma hat die Metapher ihren richtigen Platz: Sie besagt, dass in einem schönen Ganzen die kleine Unregelmäßigkeit das Ganze noch interessanter und reizvoller mache; kein Wunder also, dass der Dichter, der sich des Verstoßes gegen die Regelpoetik bewusst ist, gerade diese Verse so liebt. Das Muttermal steht also nicht für etwas, das tolerabel ist, wenn der Körper sonst schön gebildet ist, sondern für den eigentlichen Reiz, der gesucht wird.49 Ovids Liebe zum eigenen Fehler, d.h. seine Unfähigkeit und Unlust, das überbordende ingenium durch ars zu bändigen, ist geradezu zum Topos der römischen Literaturkritik geworden. Der Jüngere Seneca kritisiert in den Naturales Quaestiones, als er auf die Vorstellung einer zyklischen Flutkatastrophe zu sprechen kommt, die Darstellung der deukalionischen Flut in den Metamorphosen;50 Ovid, von allen Dichtern mit dem höchsten ingenium begabt, habe das erhabene Thema ad pueriles ineptias („auf kindische Albernheiten“) reduziert, als er dem Einfall nachgegeben habe, Wölfe zwischen Schafen schwimmen zu lassen; und Seneca fährt fort: Non est res satis sobria lasciuire deuorato orbe terrarum („Allzu

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Harald Hagendahl: Rhetorica, in: Apophoreta Gotoburgensia Vilelmo Lundström oblata, Göteborg 1936, S. 282–338, hier S. 299–313 und M. Winterbottom: The Elder Seneca, in: Texts and transmission. A survey of the Latin Classics, hg. von L. D. Reynolds, Oxford 1983, S. 356f. Man könnte dafür auf die französische Sitte des 17. und 18. Jh.s verweisen, das weibliche Gesicht durch künstliche Pigmentflecken aus schwarzem Samt oder Taft attraktiver zu machen (so genannte mouches), die zum einen durch den punktuellen Kontrast den weißen Schimmer der Haut betonen sollten, zum anderen durch unterschiedliche Form und Platzierung zu Zeichen eines erotischen Codes wurden. S. dazu Sigrid Metken: Ein Schmuck, den sie uns Fliegen abgeborgt […] (La Fontaine, Fabeln IV/3), in: Geist und Galanterie. Kunst und Wissenschaft im 18. Jahrhundert aus dem Musée du Petit Palais Paris, hg. von Jutta Frings, Bonn 2002, S. 90f.; Rosemarie Gerken: La Toilette – Die Inszenierung eines Raumes im 18. Jahrhundert in Frankreich, Hildesheim u.a. 2007, S. 94–101. Sen. nat. 3,27,13–3,28,3 (die Zitate nat. 3,27,13f.).

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unbesonnen ist es, Übermut zu zeigen, wenn die Erde überflutet wird“). Vergleichbares findet man bei Quintilian, bei dem erneut das Motiv der Selbstliebe anklingt.51 Die Einschätzung, dass Ovid alle Regeln der Dichtkunst ignoriere, weil er seine Idiosynkrasien liebe, aber auch die dem Dichter zugeschriebene Äußerung könnten ihren Ausgangspunkt in Ovids Dichtung selbst haben, da er das Motiv, dass kleine Unvollkommenheiten einen eigenen Reiz ausüben, mehrfach zur Sprache gebracht hat. Beim Auftritt der personifizierten Liebeselegie in am. 3,1 ist die ungleiche Länge ihrer pedes („Beine“ bzw. „Versfüße“) zwar ein Makel, doch trägt ebendieser zu ihrer Schönheit bei.52 In der Ars amatoria wird den Frauen ein leichtes Lispeln empfohlen, damit sie attraktiver wirken.53 Und mit der Anwendung auf die Sprache ist der Schritt hin zur Dichtung nicht mehr weit, so dass es dann in der Exildichtung heißt:54 Et mea Musa potest, proprio deprensa colore, / insignis uitiis forsitan esse suis („Auch meine Poesie kann man an ihrer eigenen Färbung erkennen und sie kann vielleicht durch ihre Fehler auf sich aufmerksam machen“). Das Motiv ist immer das gleiche: Der kleine Verstoß gegen die Regel, die kleine Abweichung vom Normalen oder die kleine unerwartete Eigenheit üben den erotischen oder poetischen Reiz aus. Damit zurück zu Ausonius: Mit der Ausnahme von cicatrix finden sich alle Stichwörter, mit denen die praefatio die Verfehlung des Dichters kennzeichnet (ineptia, error, naevus, vitium), in den Werken Ovids, wo sie die Attraktivität dessen bezeichnen, was von der Norm abweicht, oder in der Ovidkritik der Kaiserzeit, wo die Lust an der Regelverletzung gerügt wird. Die Begriffe sind Allgemeingut, allerdings mit der Ausnahme der Metapher naevus, die bei Ovid am Platze ist, da sie die punktuelle Abweichung kennzeichnet, bei Ausonius aber schwer verständlich ist, weil das ganze Gedicht zum Schönheitsfleck wird. Denkbar wäre ein Bezug auf das gesamte Corpus der Schriften, das als Einheit konzipiert ist und in dem mythologische Themen nur eine geringe Rolle spielen.55 Gemeinsam ist Ovid und Ausonius jedenfalls die Selbstverliebtheit des Dichters, der seine Eigenheiten 51

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Quint. inst. 10,1,88: Lasciuus quidem in herois quoque Ouidius et nimium amator ingenii sui, laudandus tamen partibus („Zwar ist Ovid auch in seiner epischen Dichtung frivol und allzu sehr verliebt in seine eigene Begabung, aber man muss ihn doch teilweise loben“). Vgl. 10,1,98. Ov. am. 3,1,10: Et pedibus uitium causa decoris erat („Und die Unvollkommenheit ihrer Füße machte sie reizvoll“). Ov. ars 3,295: In uitio decor est quaedam male reddere uerba („In der Unvollkommenheit liegt ein Reiz, wenn man manches unkorrekt ausspricht“). Ov. Pont. 4,13,13f. Mythologisch sind noch die Epitaphia heroum qui bello Troico interfuerunt (Auson. 12); auf solche Werke könnte sich die zitierte Bemerkung in der praefatio zu den Parentalia beziehen (10 praef. [A]). Zur Einheit des Œuvres s. Peter Lebrecht Schmidt: D. Magnus Ausonius. A: Text und Überlieferungsgeschichte, in: Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5: Restauration und Erneuerung, hg. von Reinhart Herzog, München 1989, S. 270–277, hier S. 270f.

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pflegt, auch wenn sie innerhalb der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft Anstoß erregen. Der Gegensatz von ingenium und ars, der für die Ovidanekdote und die Ovidkritik insgesamt konstitutiv ist, spielt bei Ausonius keine Rolle; wenn man sich fragt, worin denn nun seine Verfehlung bestehe, so muss die Antwort heißen, dass sie sich auf den mythologischen, genauer: den erotisch-mythologischen Stoff bezieht. Darauf weist die Parallelität zwischen den Heroinen und dem Dichter, die beide mit sich selbst nachsichtig sind, die Heroinen, die andere für ihre erotischen Verirrungen haftbar machen, und der Dichter, der von ihren erotischen Verirrungen erzählt. Darauf weist aber auch die Bemerkung, es sei das lemma, das Sujet, das den error des Dichters ausmache. Dass Ausonius für die Formulierung seiner Position zum Mythos auf eine Motivik und Metaphorik zurückgreift, die auf Ovid und seine Rezeption Bezug nimmt, ist insofern angemessen, als er sich damit in die Tradition des erotisch-mythologischen Dichters par excellence stellt. Die praefatio zu Ausonius’ Gedicht Cupido cruciatus bietet also mehr als eine Ansammlung konventioneller Topoi; sie leitet die Lektüre des Lesers, indem sie ihm den relativen und den prekären Wert mythologischer und insbesondere erotisch-mythologischer Erzählung vor Augen führt. Der Mythos, das wird explizit gesagt, ist poetischer Stoff aus einer vergangenen Epoche, in der die Heiterkeit der Dichtung aus Frivolität, Selbstverliebtheit und leichtfertigen Reden über Götter resultierte. Die mythische Epoche wird von der Gegenwart abgegrenzt (nostrum saeculum), doch über diese Gegenwart erfährt man in der praefatio nicht viel und im Gedicht gar nichts. Nur eines wird im Vorwort gesagt: dass sie moralisch nicht besser ist. Die Frauen sündigen noch immer, der einzige Unterschied ist, dass sie ihre Schuld nicht mehr auf Götter abwälzen können. Damit ist klar, dass mit dieser Gegenwart die historische Phase gemeint ist, in der sich das Christentum durchsetzt. Nur wird das eben nicht gesagt, und auch dieses Schweigen darf man wohl programmatisch verstehen. Die praefatio setzt sich weder mit konkurrierenden Weltentwürfen auseinander noch argumentiert sie gegen Apologeten und Theologen noch erwägt sie die Möglichkeit, die traditionellen Mythen neu, sprich: allegorisch zu deuten. Gleichwohl gibt sie ein Bewusstsein davon zu erkennen, dass die Zeit des Mythos abläuft oder bereits abgelaufen ist, indem sie sich dafür entschuldigt, dass sie eine neue Version alter mythologischer Erzählungen anbietet. Damit positioniert sich der Dichter; er bekennt sich zur Liebe zum Mythos in einer nachmythischen Zeit. Die Dichtung ermöglicht die Rückkehr in eine vergangene Welt, die fiktionale Welt des Mythos. Dass der Mythos von der Bestrafung Amors durch die unglücklich liebenden Heroinen in einer Traumerzählung verhandelt wird, wird damit symptomatisch. Wie Bilder den träumenden Cupido heimsuchen, so appelliert das Gedicht an die Imagination des Lesers.56 Die Verbindung von Traum und Poesie wird in einer der praefationes zu Ausonius’ Gedichtsammlung Bissula über seine gleichnamige germanische Sklavin gezogen; die letzte praefatio wendet sich in Versen an den Leser, um ihn auf anspruchslose Dichtung 56

Nugent: Ausonius’ ‘Late-Antique poetics’ (wie Anm. 8), S. 41f.

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einzustimmen; am besten lese man sie nach dem Genuss von Wein. Im anschließenden Schlummer werde ihm seine Lektüre wie ein Traum vorkommen:57 Sed magis hic sapiat, si dormiat et putet ista / somnia missa sibi („Aber weiser dürfte noch der Leser sein, wenn er schläft und diese Dichtung für Träume hält, die ihm gesandt sind“). Gemeinsam ist Traum und Lektüre ihre begrenzte Dauer, und so gewährt Ausonius’ Dichtung über die liebenden Heroinen und ihre Götter dem Leser die Rückkehr in die Epoche des Mythos, aber nur auf Zeit, einem Traum vergleichbar, auf den unweigerlich das Erwachen folgt.58

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Auson. 17 (Bissula), 2,9f. Für Hinweise und Kritik danke ich den Teilnehmern an den Volturnia 2014 in Salzburg, wo ich eine frühere Version des Beitrags vorgetragen habe.

Henriette Harich-Schwarzbauer

Pallas Athena im gallo-römischen Narbonne: Der ‚Tempel‘ der Philosophie und der ‚Tempel‘ der Webkunst bei Sidonius Apollinaris, carm. 15 1

Einleitung

Sidonius Apollinaris hatte in der Literaturgeschichte über lange Zeit einen schweren Stand, so wurde er u. a. mit dem Attribut semibarbarus versehen und in die Grauzone des Übergangs von der Spätantike zum Mittelalter eingereiht.1 Inzwischen sind seine Texte zu einem bevorzugten Gegenstand einer Forschung avanciert, die sich dem Phänomen von Schwellenzeiten annimmt, aber auch von Fragestellungen, die sich der Ästhetik der spätantiken Literatur als eigenständiger widmen. Die zeitliche Entfernung des Sidonius Apollinaris zu den Autoren der klassischen Epoche beträgt, wenn man denn Periodisierungen vornehmen möchte, mindestens 400 Jahre. Seine Zugehörigkeit zur spätantiken Aristokratie der Auvergne schafft überdies eine kulturelle Distanz zum symbolischen Zentrum Rom, sodass man bei seinen Werken von einem doppelt gebrochenen Blick auf die Antike ausgehen möchte. In meinem Beitrag werde ich mich auf das Epithalamium an Polemius und Araneola, carm. 15, konzentrieren, um zu fragen, welches Altertum in diesem Hochzeitsgedicht evoziert und wie dieses entworfen wird. Das Gedicht zählt 201 Hexameter, erweitert wird es durch zwei Paratexte, einen Prosa-Brief und eine praefatio in Elfsilblern. In der Widmungsepistel (14) äußert sich Sidonius gegenüber Polemius insbesondere zur Notwendigkeit, griechische philosophische Fachbegriffe in die Poesie einzuführen, da sein Gegenstand dies verlange, wodurch er – und dies ist nicht das einzige Beispiel – eine

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Dazu Henriette Harich-Schwarzbauer: Die ‚Lust‘ der Poesie – ‚Décadence‘ in den spätantiken Epithalamien (Claudius Claudianus, carm. min. 25 und Sidonius Apollinaris, carm. 10–11; 14–15), in: Décadence: „Decline and Fall“ or „Other Antiquity“?, hg. von Marco Formisano und Therese Fuhrer, Heidelberg 2014 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften 140), S. 133–148, hier S. 134–136; Étienne Wolff: Quelques jalons dans l’histoire de la réception de Sidoine Apollinaire, in: ebd., S. 249–260 allgemein zu zentralen Stationen der Sidonius-Rezeption.

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zeitliche Distanz zur klassischen Latinität sowie ihrem poetischen Regelwerk offenlegt und so neue Herausforderungen der Literatur identifiziert. In carm. 15 geht es um die bevorstehende Heirat eines Paares der aquitanischen Aristokratie, des Adepten der Philosophie Polemius und der Araneola. Polemius war vermutlich in den Jahren 471/472 praefectus Galliae.2 Araneola dürfte mit Sidonius verwandt gewesen sein, ihr Vater Magnus, der zu den Honoratioren von Narbonne gehörte, war Konsul im Jahr 460.3 Bald darauf, zwischen 461/462 und 469 ist das Hochzeitsgedicht entstanden.4 Sidonius gehörte zum Freundeskreis des Polemius5 (carm. 14, epist. 1–2) und der Familie der Araneola, namentlich war er ein condiscipulus des Bruders der Araneola, Felix.6 In der an Polemius gerichteten Widmungsepistel zum Hochzeitsanlass fordert er den Freund dazu auf, seine Entscheidung, die poetische Diktion bei philosophischen Themen zu entgrenzen, mitzutragen, sein Fürsprecher im Kreis der Platoniker (complatonici) zu sein und auch ein kritisches Urteil abzugeben.7 Zugleich gibt er anhand der Würdigung des Freundes eine Leseempfehlung ab: Dieses Epithalamium werde die Gattung aufwerten und den konventionellen Rahmen hinter sich lassen oder, anders gewendet: Nicht werde Venus den Ton angeben. Mit dem Epithalamium schreibt sich Sidonius Apollinaris in eine Tradition ein, die in der Spätantike beginnend mit Claudian zu einem überaus beliebten Genre avanciert war. Mit ihm wurden führende Persönlichkeiten der Aristokratie gefeiert. Aber es bot den literarischen Raum, in dem ihre Frauen gewürdigt werden konnten, zumal im Epithalamium die Bedeutung der Ehe für die Frau, die in eine neue Lebensphase eintritt, im Mittelpunkt steht.8 Das Gedicht an Polemius und Araneola folgt in seiner Struktur und seinem Motivschatz der literarischen Tradition zugleich der spätantiken panegyrischen Anlassdichtung. Die Braut und der Bräutigam werden in typischen, das meint

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Zur Prosopographie siehe Frank-Michael Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris, Frankfurt a.M./Wien 1995, S. 336. Er wird für seine philosophischen Neigungen auch in epist. 14,4,2 gerühmt. Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris (wie Anm. 2), S. 281. Le nozze di Polemio e Araneola (Sidonio Apollinare, Carmina XIV-XV), introd., testo, trad. e commento a cura di Giovanni Ravenna, Bologna 1990 (Testi e manuali per l’insegnamento universitario del latino 33), S. 10, setzt das Gedicht zwischen 461– 462, bald nach dem Konsulat des Magnus an. Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris (wie Anm. 2), S. 336 nennt als terminus ante quem das Jahr 469. Vgl. den Widmungsbrief (14,1). Sidon. carm. 9,330. Sidon. carm. 14, epist. 1: […] quarum talis ordo est, ut sine plurimis nouis uerbis, quae praefata pace reliquorum eloquentum specialiter tibi et Complatonicis tuis nota sunt, nugae ipsae non ualuerint expediri. Vgl. auch Sidon. carm. 11 an Ruricius und Hiberia. Ruricius, der uns auch aus der Korrespondenz des Sidonius bekannt ist, stammte aus der mächtigen und berühmten römischen gens Anicia. Im Jahr 485 wurde er Bischof von Limoges.

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auch geschlechterspezifischen Tätigkeiten vorgestellt, insbesondere wird die bedeutende Herkunft der Braut gewürdigt. Die Komposition des Gedichts ist einfach, der Inhalt rasch dargelegt: Pallas Athena kehrt aus Troia zurück nach Athen (1–35). Dort befinden sich zwei Tempel, die unter ihrem Schutz stehen: der Hort der Philosophie (36–125), in dem Polemius, der Bräutigam, seinen Studien nachgeht, und ein zweiter Tempel, in dem die Braut Araneola mit Webarbeit beschäftigt ist (126–184). Pallas Athena, die von Sidonius nur mit Bezug auf ihre Matronage der Webkunst als Minerva bezeichnet wird,9 bringt die Vermählung in Gang. Sie unterbricht die Tätigkeit der Weberin Araneola und fordert sie auf, sich auf die bevorstehende Hochzeit vorzubereiten. Danach wird auch der Bräutigam von seinem Lehrer umgehend dazu aufgefordert, den schäbigen Philosophenmantel abzulegen und sich zur Hochzeit zu begeben (185–195). Die Göttin nimmt schließlich die dextrarum iunctio vor (196–201), zudem wird die Hochzeit rechtlich abgesichert. Die Frage, wie Sidonius Apollinaris das literarisch bedeutsame Erbe ins Gedicht einführt und welches Altertum er imaginiert, bringt einen bemerkenswerten Befund. Denn es wird kein offenkundiger Bezug zur römischen Antike hergestellt, vielmehr dominieren die Referenzen auf das griechische Altertum.10 Diese Beobachtung sollte nicht erstaunen, zumal einer der Freundeskreise des Sidonius Apollinaris für seine Vorliebe für die (griechische) Philosophie bekannt war.11 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere Claudianus Mamertus12 und Consentius von Narbonne13, mit denen Sidonius Apollinaris eine Korres9

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Sidon. carm. 15,126; 15,148. Diese spezifische, lateinische Antonomasie ist für das Weben nicht ohne Bedeutung. Sie führt zur metapoetischen Ebene des Gedichts. Das Weben als Metapher für poetische Produktion findet in der römischen Welt, sprich in lateinischer Sprache statt. Referenzen auf die römische Welt sind die Ausnahme (V. 126: Iovis), sieht man von der Genealogie der Familie der Araneola, exemplifiziert an den Ämtern ihres Vaters und Großvaters (V. 150–158), sowie der Erwähnung des Nymphidius […] avus in V. 200 ab. Implizite Anspielungen auf römische Autoren und Philosophen sind hingegen selbstverständlich. Bemerkenswert demgegenüber Claud. carm. 17,93–94: […] et nobiliore magistro / in Latium spretis Academia migrat Athenis […]. Claudianus Mamertus war ein Priester und Gelehrter in Vienne (Prediger, Dichter, Philosoph). Von ihm stammt ein Traktat De statu animae in drei Büchern (CSEL 11, 1885), ein Werk, das er Sidonius Apollinaris widmete (epist. 4,3; 5,2). Claudianus Mamertus rekurriert auf Augustinus und den Neuplatonismus, um die Lehre von der Nichtkörperlichkeit der Seele (gegen den Bischof Faustus von Riez) zu positionieren. Zur Prosopographie des Claudius Mamertus siehe Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris (wie Anm. 2), S. 290–292; David Amherdt: Sidoine Apollinaire. Le quatrième livre de la correspondance. Introduction et commentaire, Bern 2001 (Sapheneia 6), S. 93–94. Auch mit Consentius gibt es eine dichte Kommunikation. Consentius ist ein ‚Dichterfreund‘. Zudem gibt es eine Verbindung zum Vater des Freundes, der ebenfalls ein

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pondenz führte. Claudianus Mamertus wird für seine philosophische Kompetenz überschwänglich gelobt.14 So ist er dafür bekannt, dass er eine triplex bibliotheca besaß: Sie umfasste eine römische, eine griechische und eine christliche Abteilung (epist. 4,11,6, V. 4–5). Für ihn war Griechenland die disciplinarum omnium atque artium magistra Graecia.15 Ein prononciertes Interesse für die griechische Kultur ist aus carm. 15 ganz allgemein ablesbar, ungeachtet der Frage, ob Sidonius Apollinaris überhaupt Griechisch konnte, wie gut er es konnte und auch, ob er diese Kultur vermittelt rezipierte. Immerhin gibt er zu verstehen, dass er eine Übersetzung der Vita des Apollonius von Tyana Philostrats angefertigt habe.16 2

Die ‚Tempel‘ in der literarischen Topographie Athens

Die Eingangsszene des Gedichts ist bemerkenswert. Pallas Athena besucht Attika und Athen. Sie ist auf der Heimkehr von Troia, hat den Gewaltakt des Ajax gegenüber Kassandra eben gerächt und sucht in Athen die zwei Tempel auf, in denen Polemius und Araneola tätig sind:17 Hic duo templa micant; quorum supereminet unus ut meritis sic sede locus, qui continet alta scrutantes ratione uiros […].

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herausragender Vertreter des Philosophenzirkels von Narbonne gewesen sein muss. In Verbindung mit der Erwähnung des Vaters flicht Sidonius u.a. auch einen philosophischen Diskurs ein (carm. 23,101–119). Zur Prosopographie des Consentius s. Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris (wie Anm. 2), S. 292–293, sowie nun auch Frank Riess: Narbonne and its Territory in Late Antiquity. From the Visigoths to the Arabs, Farnham 2013, S. 93–100 (zu carm. 23); allerdings geht Riess (S. 98) auf die Verse, die dem Philosophenzirkel in Narbonne gewidmet sind, nicht ein. Sidon. epist. 5,2,1. Sidon. epist. 4,3,6. Lobend zur Bedeutung des Claudianus Mamertus für die Philosophie äußerte sich auch Gennadius, vir. ill. 83. Siehe Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris (wie Anm. 2), S. 291. Sidon. epist. 8,3 (an Leo). Zu dieser strittigen Frage vgl. zuletzt Amherdt: Sidoine Apollinaire (wie Anm. 12), S. 307. Zu Recht macht in diesem Zusammenhang Kaufmann: Studien zu Sidonius Apollinaris (wie Anm. 2), S. 293, auf die hervorragenden Griechischkenntnisse des Consentius (Sidon. carm. 23,233–240) aufmerksam. Vgl. auch Amherdt: Sidoine Apollinaire (wie Anm. 12), S. 93 und S. 141–142 (zu epist. 3,6). Sidon. carm. 15,36–38. Text nach Sidoine Apollinaire. Tom. 1: Poèmes. Texte établi et traduit par André Loyen, Paris 1960; Übersetzungen: H. Harich-Schwarzbauer.

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Hier leuchten zwei Tempel hervor, von denen einer an Verdiensten wie auch aufgrund seiner Lage alles überragt. Er hat die Männer aufgenommen, die mittels höchster Vernunft das Höchste erforschen […].

Der herausragende ‚Tempel‘ ist die Denkerwerkstatt, die Polemius besucht. Auf den zweiten ‚Tempel‘, das textrinum der Weberinnen, kommt Sidonius erst 100 Verse später zu sprechen:18 At parte ex alia textrino prima Mineruae palla Iouis rutilat […]. Doch auf der anderen Seite leuchtet in der Webwerkstätte der Minerva zuerst eine Palla Jupiters hervor […].

Die archäologische Forschung hat sich bereits vor etwas mehr als 100 Jahren für die Lokalisierung der beiden Tempel in Athen interessiert. Damals hat Anton von Premerstein19 die Ortsangabe als historisches Faktum genommen und die zwei Tempel in Athen lokalisiert. Das Interesse meiner Untersuchung wendet sich dezidiert von einem Ansatz ab, welcher den poetischen Text als historisches Zeugnis und archäologisches Quellenmaterial liest, um etwa zu erkunden, wie weit man bei Sidonius Apollinaris von einer Ortskenntnis Athens, sei es der antiken, sei es der zeitgenössischen Topographie, ausgehen konnte. Damit steht hier nicht zur Debatte, ob der Adressat des Epithalamiums, Polemius, „trotz der phantastischen Einkleidung“ (sc. des Ortes) tatsächlich in Athen studierte.20 Vielmehr gilt es zu zeigen, welche Funktion das Athen des Altertums beim gallo-römischen Autor zu übernehmen vermochte. Premerstein setzte voraus, dass vereinzelte Besuche von gallischen Aristokraten in Athen trotz der Schwierigkeiten, welche die Besetzung Galliens durch die Ostgoten (ab 461) gebracht hatte, noch möglich waren.21 Richtig lag er – was er aber als Archäologe nicht näher reflektierte – zumindest in dem Punkt, dass die athenische Philosophie im fünften Jahrhundert durchaus lebendig war.22 Premerstein spricht nämlich von einer gemeinsamen Ausbildungsstätte aller philosophischen Schulen, die sich an erhöhter Stelle in der Unterstadt befunden habe. Er 18 19

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Sidon. carm. 15,126–127. Anton von Premerstein: Der Parthenonfries und die Werkstatt des panathenäischen Peplos, in: JÖAI 15 (1912), S. 1–35. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32–33, führt die folgenden Belege an: Sidonius Apollinaris an Felix (carm. 9,277–301) über drei Männer aus Gallien, die aus ihrer Heimat nach Athen bzw. nach Rom gingen, und Venantius Fortunatus carm. 7,8,25–26: si sibi forte fuit bene notus Homerus Athenis / aut Maro Traiano lectus in urbe foro. Vgl. Henry D. Saffrey: Allusions antichrétiennes chez Proclus: le diadoque platonicien, in: RSPh 59 (1975), S. 553‒563, hier S. 553; Alison Frantz: Late Antiquity A.D. 267–700, Princeton N.J. 1988 (The Athenian Agora 24), S. 49–63.

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schließt dies aus den Versen 36–37, in denen behauptet wird, dass der Tempel der Philosophen alle anderen überragte und somit höher lag als der Tempel, in dem Araneola den Weberinnen vorstand. In seiner Argumentation geht der Archäologe von einer Darstellung am Parthenonfries aus, der entsprechend der neue Peplos der Athena für die Panathenäen in einer Werkstätte am Fuße der Akropolis hergestellt worden sei. Der Vorschlag Premersteins wurde in der älteren Forschung sehr wohl zur Kenntnis genommen, doch verworfen.23 Heute wird diese Stelle des Gedichts nicht mehr näher kommentiert. Im Kommentar des Hochzeitsgedichts von Giovanni Ravenna (1990) wird zu Vers 36 lapidar vermerkt: „I luoghi sono immaginari.“24 Selbst wenn Premerstein den Text wörtlich versteht und auch davon ausgeht, dass die Braut, Araneola, in Athen in einem textrinum webte, wird man sich dennoch gegen einen Besuch des Brautpaares in Athen aussprechen wollen, wenn Sidonius (V. 145–147) ausführt: […] Sed in agmine toto inter Cecropias Ephyreiadasque puellas Araneola micat […]. Doch aus der ganzen Schar ragt unter den jungen Frauen Athens und Korinths Araneola hervor.

Es wäre modern gedacht, wenn man – was Premerstein wohl voraussetzen dürfte – davon ausgehen wollte, dass es den sittlichen Normen nicht widersprach, dass sich ein Brautpaar vor der Hochzeit gemeinsam in Athen aufhielt. Zudem ist kaum anzunehmen, dass eine gallo-römische Aristokratin ausgerechnet in einer Webwerkstatt in Athen tätig gewesen sein sollte.25 Wie ist also die Verpflanzung des Brautpaares nach Athen zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, sollen die Tempel, in denen Polemius und Araneola jeweils wirken, näher in den Blick genommen werden. Über die Tempel ist, 23

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So Sidonius. Poems. Letters I–II, ed. and translated by W. B. Anderson, Cambridge 1996, S. 227: „For an ingenious but unconvincing attempt to identify and locate the ‘two temples’ see […].“ Ravenna: Le nozze di Polemio e Araneola (wie Anm. 4), S. 64 zur Stelle. Nicht auszuschließen ist, dass der Archäologe von der damals aktuellen Debatte um die fabrikmäßige Herstellung von Tuchen im Gegensatz zu Geweben, die im Hause produziert wurden, beeinflusst war, die in der deutschen Geschichtswissenschaft durch Forschungen Karl Büchers: Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1893 zur antiken Wirtschaft ausgelöst worden war. Explizit gibt es keine Referenz Premersteins auf diese Debatte. Zu Büchers These siehe Beate Wagner-Hasel: Hundert Jahre Gelehrtenstreit über den Charakter der antiken Wirtschaft: Zur Aktualität von Karl Büchers Wirtschaftsanthropologie, in: Historische Anthropologie 17,2 (2009), S. 178–201.

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abgesehen vom knappen Hinweis auf ihre Lage, wenig zu erfahren. Indes ist das Prooemium ganz auf Pallas Athena fokussiert, die nach Athen zurückgekehrt ist, wo sie die Brautleute an ihren Wirkungsstätten beobachten und begleiten wird. Während also jegliche Beschreibung der Tempel fehlt, werden hingegen die Beschäftigungen der Brautleute, die sie in diesen Tempeln ausführen, minutiös abgehandelt. Anders gesprochen fungieren die beiden Tempel als eine Art Speicher des kulturellen Gedächtnisses, in dem ihr Inventar – Gegenstände der Philosophie einerseits und des Mythos sowie regionaler, historisch bedeutsamer Ereignisse andererseits – aufgelistet wird. 2.1

Der Tempel der Philosophie

Zwei Tempel stehen also einander gegenüber und laden zum Vergleich ein. Sie sind topographisch wie auch symbolisch hierarchisch angeordnet: Die Philosophie, das Studienobjekt des Polemius, steht höher als die Mythologie und die Historie, welche die Braut verwebt. Das ‚Inventar‘ der beiden Tempel ist, nimmt man die wenigen Zeitbezüge aus, die sich auf die vornehme Herkunft Araneolas beziehen, in der griechischen Welt verortet. Die Verbindung zum Hochzeitsanlass und zur gallo-römischen Aristokratie wird durch die Genealogie des Brautvaters erreicht, auf dessen Konsularkleid und anderen Magistratsroben Mythen dargestellt werden. Polemius hält sich in einem virtuellen Raum auf, der von den Hauptvertretern der philosophischen Schulen, beginnend mit den ionischen Naturphilosophen über Sokrates bis zu Platon und den Stoikern ‚bewohnt‘ wird. Polemius ist nebenbei gesagt eine blasse Figur, indem er im Phrontisterion der Philosophen nie aktiv in Erscheinung tritt. Platon ist ein hellenistisch skeptischer und zugleich auch ein neuplatonischer Platoniker geworden. Die Philosophen, die in die Reihe der Studiengegenstände aufgenommen sind, werden bevorzugt mit Bezug auf ihre Ansichten zur Transzendenz bzw. zu einer Schöpfungsinstanz knapp charakterisiert. Die Stoiker und Kyniker werden mit nur wenigen Versen bedacht. Die Reihe der antiken Denker wird mit den Epikureern beschlossen, für die in diesem Tempel kein Platz ist. Erst hier erinnert Sidonius Apollinaris die Leser daran, dass sich Polemius in einem Tempel befindet, indem er zur Metaphorik des Raumes greift, wenn die Kyniker an der Reihe sind. Die Kyniker verharren an der Schwelle des Tempels, wohingegen den Epikureern kein Einlass gewährt wird. Die Grenzen zwischen einem konkreten Raum – dem Tempel der Philosophie – und einem symbolischen – dem Spektrum einer als rechtmäßig definierten Philosophie – lösen sich auf (V. 124–125):

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Henriette Harich-Schwarzbauer Exclusi prope iam Cynici, sed limine restant; ast Epicureos eliminat undique Virtus. Schon nahezu ausgeschlossen sind die Kyniker, doch sie bleiben an der Türschwelle, die Epikureer hingegen hält die Virtus gänzlich fern.

Die Liste der philosophischen Schulen und ihrer bekanntesten Vertreter schließt keinen einzigen Römer mit ein. So hält Sidonius Apollinaris die Fiktion aufrecht, dass es sich um einen Tempel handelt, der in der griechischen Tradition und im antiken Athen verwurzelt ist. Die Liste liest sich allerdings, auch wenn dies nicht offengelegt, sondern durch die Namen der erwähnten griechischen Philosophen erkennbar wird, als spätantik interpretierter Kanon der wichtigsten Schulen und ihrer wichtigsten Schulhäupter. Philosopheme und habituelle Formen der Selbstrepräsentation der Stoiker – ohne Namensnennung – und des Kynismos ergänzen die Liste. Die sog. scala naturae, welche die Wesensstufen in der Gesamtnatur definiert, nimmt in dieser Liste einen prominenten Platz ein (V. 102– 117). Diese Stufung der Natur wird von Sidonius undifferenziert Platon zugeschrieben. Die scala naturae führt von der untersten Stufe, der Substanz (so etwa dem Stein), über die Pflanzen, Tiere, Menschen und Dämonen zum höchsten Sein.26 2.2

Das textrinum der Araneola

Der ‚Tempel‘ der Minerva ist der Ort, an dem Araneola ihr herausragendes Können als Weberin entfaltet. Ihr stehen 60 Verse zu, 90 Verse hingegen waren für die Studierstube des Polemius anberaumt. Für einmal ist es die römische Minerva, die für die Fertigkeit des Webens steht. Araneola erweist sich als Weberin als souverän, Minerva wiederum zeigt, wie sich rasch herausstellen sollte, wenig 26

Vgl. Wolfgang Speyer: Zu einem Quellenproblem bei Sidonius Apollinaris (Carmen 15,36–125), in: Hermes 92,2 (1964), S. 225–248, hier S. 241f. Nur Seneca (epist. 58) und Porphyrios und danach Boethius kennen, so Speyer, diese Stufung. Claudianus Mamertus habe diese Sechs-Stufigkeit in seiner Schrift De statu animae (datiert auf 468–472) weitergeführt. Speyer folgert zu Recht, dass es im Kreis unseres Autors eine Debatte in dieser Frage schon vor der Veröffentlichung von Claudianus Mamertus’ Werk gegeben hat. Speyer, S. 247, schließt mit dem Ergebnis, dass Sidonius Apollinaris eine nichtchristliche Philosophiegeschichte eingesehen habe. Das Problem der sog. scala naturae war jedenfalls ein zentrales Thema und in der Spätantike weit über Porphyrios und Boethius hinaus hoch aktuell. Einen Überblick über die Quellenlage zur sog. scala naturae (ausgehend von Seneca, epist. 58) gibt Jula Wildberger: Seneca und die Stoa. Der Platz des Menschen in der Welt, 2 Bde., Berlin/New York 2006 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 84,2), S. 759 (mit Anm. 1004; 1006).

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Ehrgeiz, mit ihr einen Wettstreit anzuzetteln. Dieser Aspekt ist ein Signal an die Leser dafür, dass der Vergleich mit dem Wettstreit zwischen Arachne und Minerva, wie er in Ovids Metamorphosen (6,53–128) geführt wird, und damit verbunden die Bewertung der Kunstfertigkeit der jungen Frau als Weberin nicht das Wesentliche der Gestalt treffen.27 Schon aufgrund der panegyrischen Anlage des Epithalamiums wäre diese Stoßrichtung kaum aufrechtzuhalten gewesen. Was bereits für Polemius zu beobachten war, trifft auch für Araneola zu. Sie bewegt sich in einem virtuellen Altertum, indem sie mitten unter athenischen und korinthischen Frauen in einer Webwerkstatt Platz genommen hat. Sidonius verzichtet darauf, eine Ekphrasis der Webstätte und ihrer Umgebung zu zeichnen. Vielmehr verlegt er das Geschehen auf das Rauminnere. Im Tempel der Weberinnen, dem textrinum, hängen bereits fertige Webstücke: eine palla Jupiters, ein amictus des Glaucus sowie ein Gewand (vestis), das für Hercules bestimmt ist. Jupiter steht für die Macht des Himmels, Glaucus für die Herrschaft über die Meere. Hercules wiederum ist anfangs ein naiver Baby-Heros, dessen göttliche Fähigkeiten sich noch nicht manifestieren, da er die Schlangen in seiner Wiege für Spielzeug hält. Alle Lebensstationen des Hercules bis hin zu seiner Verbrennung auf dem Oeta sind auf vollendeten Webstücken bereits zu sehen. Araneola webt hingegen gleichsam auf die Gegenwart und auf die Zukunft zu. Sie fertigt nach dem Vorbild der trabea des Urgroßvaters eine trabea palmata für das Konsulat ihres Vaters an mit dem Zweck, die berühmte Genealogie ihrer Familie darzustellen. Andere chlamydes, so lässt uns Sidonius Apollinaris wissen, hat sie bereits vollendet, Gewänder, mit denen ihr Vater als Magistrat in Spanien und als praefectus würdig in die Öffentlichkeit getreten war. Araneola nimmt spielerisch28 auf den Anlass des Gedichts, die eigene Hochzeit, Bezug und lässt die berühmten Ehefrauen des Mythos, von Penelope bis Hypermestra und dann selbst Orpheus, Revue passieren. Es handelt sich durchwegs um tragische Heroinen, deren schmerzliches Los sich in den Ehebruchgeschichten der Olympier thematisch fortsetzt. Araneola ist eben dabei, den Goldregen zu weben, der sich Danaë nähert – Jupiter als Goldregen ist übrigens ein unverzichtbares Sujet, mit dem sich eine gelungene und zugleich pretiöse Webarbeit ausweist, zumal es darum geht, vergleichsweise ungeschmeidige Goldfäden in die Webe einzubeziehen. Doch endet dieser Webkatalog abrupt, da die Göttin kein ernsthaftes Interesse an diesen Sujets bekundet. Ihre Domäne ist und bleibt die Philosophie. Die Weberin ist 27

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Dazu Henriette Harich-Schwarzbauer: Over the Rainbow. Arachne und Araneola – Figuren der Transgression, in: Weben und Gewebe in der Antike: Materialität – Repräsentation – Episteme – Metapoetik / Texts and Textiles in the Ancient World: Materiality – Representation – Episteme – Metapoetics, hg von ders., Oxford 2016, S. 147–163, hier S. 158–159. V. 158: luserat. Mit diesem Reizwort signalisiert Sidonius, dass ein metapoetischer Diskurs über den Mythenkanon angelegt ist, und vermutlich auch, dass dieser Kanon für ihn an Relevanz eingebüßt hat.

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wendig, sie reagiert klug und mit einer List, denn auch sie wechselt das Thema und geht ebenfalls zur Philosophie über, und zwar zu einer Problematik, die sie als Braut beschäftigt. Sie knüpft dort an, wo dem Bräutigam in seiner philosophischen Unterweisung eine Grenze gesetzt worden war – eine Grenze, die ihm von der kanonischen Philosophie vorgegeben wurde (V. 174–184): Iamque Iouem in formas mutat quibus ille tenere Mnemosynam, Europam, Semelen, Ledam, Cynosuram serpens, bos, fulmen, cygnus, Dictynna solebat. Iamque opus in turrem Danaae pluuiamque metalli ibat et hic alio stillabat Iuppiter auro, cum uirgo aspiciens uidit Tritonida uerso lumine doctisonas spectare libentius artes; commutat commota manus ac pollice docto pingere philosophi uictricem Laida coepit, quae Cynici per menta feri rugosaque colla rupit odoratam redolenti forpice barbam. Und schon verwandelt sie Jupiter in die Gestalten, in denen er Mnemosyne, Europa, Semele, Leda und Cynosura in Besitz nahm, als Schlange, Rind, Blitz, Schwan und Dictynna. Schon lief die Webarbeit auf den Turm der Danaë zu und auf den Metallregen, und schon tropfte Jupiter aus einem anderen Gold, als die junge Frau aufsah und bemerkte, dass Pallas ihren Blick abgewandt hatte und lieber die gelehrt tönenden Künste verfolgte. Da änderte sie die Richtung ihrer Hände erregt und begann mit gelehrtem Daumen Laïs zu weben, die den Philosophen bezwungen hatte: Laïs, die entlang des Kinns des rauen Kynikers und entlang seines faltenreichen Nackens dessen Bart stutzte, der nun duften sollte, und dies mit einer wohlriechenden Pinzette.

Araneola öffnet gleichsam ein kynisches Fenster.29 Sie beginnt einen Diskurs über einen aus der Sicht der jungen Frau wünschenswerten, sprich begehrenswerten Bräutigam. Die Integration der Sinnlichkeit in die Eheverbindung und die damit einhergehende Abwahl der philosophisch motivierten Körperverachtung des Mannes sind nun ihr Thema. Füglich webt sie die Verwandlung des bärtigen, ältlichen und ungepflegten Philosophen, der von der Hetäre Laïs für die Erotik empfänglich gemacht wird. Denn Laïs besiegt den Kyniker Diogenes,30 indem sie ihm den Bart stutzt und ihn mit Duftölen salbt. Araneola artikuliert mittels der Metamorphose des Diogenes ihren Vorbehalt gegenüber Polemius. Ihre Ab29

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Dieses Ausgreifen zu den Kynikern, die in Polemius’ Tempel auf der Schwelle verharren müssen, ist wiederum eine entgrenzende Bewegung der Araneola. Dazu Harich-Schwarzbauer: Die ‚Lust‘ der Poesie (wie Anm. 1). Es handelt sich bei dem kynischen Philosophen nicht, wie Roger P. H. Green: Rezension zu Giovanni Ravenna (wie Anm. 4), in: Gnomon 65,5 (1993), S. 398‒400, hier S. 398, festhält, um Sokrates.

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lehnung eines philosophischen modus vivendi, der sich im kynischen Habitus Ausdruck gibt, ist unmissverständlich. Sie reklamiert einen Aspekt für die Philosophie, der im Curriculum des Polemius, das ganz auf die letzten und höchsten Fragen der Philosophie abzielte, keinen Platz hatte, die Erotik und sinnliche, d.h. physische Anziehung.31 Pallas Athena – im philosophischen Kontext wird sie konsequent mit dem griechischen Namen bezeichnet – tadelt mit dem Anflug eines Lächelns diese implizite Kritik und ermahnt Araneola zur Sittsamkeit (V. 186–187): Non nostra ulterius ridebis dogmata, uirgo philosopho nuptura meo […]. Nicht länger wirst du meine Lehre verlachen, junge Frau, die du meinen Philosophen ehelichen wirst […].

Die Göttin fordert das Brautpaar auf, sich auf die Ehe vorzubereiten und damit von ihrer bevorzugten Tätigkeit, für Araneola vom Weben, und für Polemius von der ausschließlichen Beschäftigung mit der strengen Philosophie, vorerst Abstand zu nehmen. Polemius’ hochgezogene Augenbraue – sie geht in der Doxographie auf Xenokrates zurück32 – müsse verschwinden. Es benötige die kynische Lust, um den Auftrag einer Ehe zu erfüllen und Nachkommen zu zeugen.33 Unmittelbar nach dieser Protreptik weist ein zuvor nicht erwähnter und namentlich nicht genannter Lehrer Polemius auf das Vorbild Sokrates hin, der sich ebenfalls für die Ehe ausgesprochen habe. Nachdem sich die Brautleute der Aufforderung, sich der Tatsache der Vermählung zu stellen, gefügt haben, wird die Hochzeit auch schon vollzogen. Wenn man jedoch bedenkt, dass die Ehe des Sokrates mit Xanthippe, die zum Vorbild genommen wird, nicht eben positiv konnotiert war und die Brautleute von Pallas Athena zur Ehe überhaupt erst ermuntert werden müssen, ist die bisweilen ironische Färbung des Gedichts kaum zu übersehen.

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Claudianus Mamertus wird in De statu animae (2,9) von einer Harmonisierung der Seelenlehre der Alten Stoa und des Augustinus sprechen. Die Kyniker und Epikureer unter seinen Zeitgenossen bedenkt er mit einem Seitenhieb: […] ut non immerito ab istis corporalibus nostri saeculi Epicureis aut Cynicis spiritalis sophista dissenserit. Vgl. Diog. Laert. 4,6. Zur Kritik am philosophischen Kanon durch Araneola vgl. Harich-Schwarzbauer: Die ‚Lust‘ der Poesie (wie Anm. 1), S. 143f.

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Die Rückkehr Athenas nach ‚Athen‘

Das Gedicht endet, selbst wenn man die Gattungskonvention großzügig auslegt, abrupt. Einzelne Elemente der Hochzeitsfeier, wie sie in Auswahl in den Epithalamien aufgeboten zu werden pflegen, fehlen, sieht man von der dextrarum iunctio und dem Hinweis auf einen Ehevertrag (V. 198–201) ab. Indes geht das Gedicht weit über den Anlass eines traditionellen Epithalamiums hinaus.34 Michael Roberts spricht gar von einer poetischen „aberration“. Die sonderbare Vermengung von Zeit und Raum – Athena trifft im alten Athen mit einem spätantiken Brautpaar zusammen – erklärt er mit der allegorischen Intention des Sidonius Apollinaris: Es gehe dem Autor um das Verhältnis von Dichtung und Philosophie, die in diesem Poem ausgesöhnt werden sollen. Die Göttin, hauptsächlich als pronuba am Werk, verbinde die beiden Bereiche. Durch den Griff zum Mythos, über den die Braut mit Athena kommuniziere, würde die Allgemeingültigkeit der Problematik dargelegt. Der Mythos würde der übergeordneten Funktion, die er in der Spätantike übernimmt, nämlich „to universalize contemporary experience“ bestens gerecht.35 Roberts spricht von einer thematischen Einheit des Gedichts, die über eine doppelte Opposition laufe: Die Göttin Pallas, in ihrem ersten Auftreten noch kriegerisch, werde als Minerva zur Göttin der Verbindung, der Harmonie.36 Der zweite Gegensatz, der einer Lösung zugeführt werde, sei der zwischen Vernunft und ‚Webarbeit‘ – respektive zwischen Philosophie und Poesie. Damit ist die Verbindung einer kriegerischen Athena, die in der Eingangsekphrasis als Promachos-Typ gezeichnet wird, mit der Philosophie noch nicht beantwortet. Der Herausgeber der französischen Edition Loyen hatte die auffällige Zeit-Ort-Konstruktion als eine der phantastischsten und als schockierend („choque même le bon sens“) kritisiert.37 Der Schauplatz Athen mag in der Tat irritieren, diese Irritation, wenn es denn für den zeitgenössischen Rezipienten eine war und nicht eher zum Amüsement Anlass gab, ist, so meine Argumentation, beabsichtigt.

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Ravenna: Le nozze di Polemio e Araneola (wie Anm. 4), S. 15f. (mit Anm. 30) reiht das Hochzeitspoem, in dem er „una parodia di tipo serio“ identifiziert, unter die spoudaiogeloia ein. Vgl. Michael Roberts: The Use of Myth in Latin Epithalamia from Statius to Venantius Fortunatus, in: TAPhA 119 (1989), S. 321–348, hier S. 343. Ähnlich auch Ravenna: Le nozze di Polemio e Araneola (wie Anm. 4), S. 14. Loyen: Sidoine Apollinaire (wie Anm. 17), S. 189f., Anm. 4, zu Vers 36–37: „La localisation de la scène dans le temps (peu après la guerre de Troie, v. 3) comme dans l’espace (en Attique, à Athènes ou près d’Athènes) est des plus fantaisistes et choque même le bon sens.“ Ähnlich auch ebd., S. IX–X, Anm. 2. Vgl. auch Roberts: The Use of Myth (wie Anm. 35), S. 342.

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Mit der Athena-Promachos-Ekphrasis stellt Sidonius Apollinaris gleich in den ersten Versen Pallas Athena in den Mittelpunkt, die nach der Rache für Kassandra, der Gewalt angetan worden war, nach Athen zurückgekehrt ist. Die Beschreibung nimmt 32 der insgesamt 201 Verse des Epithalamiums ein. In die Beschreibung der Göttin ist eine zweite, längere, die des Schildes der Pallas, gleich einer Intarsie eingelegt. Athena steht im Epithalamium für die Weisheit; ihre Domäne ist, enggeführt, die Philosophie. Ihre Funktion als Schutzherrin der weiblichen Tätigkeiten – dazu gehört das Weben – ist demgegenüber sekundär. Kunstbeschreibungen haben in der spätantiken Dichtung einen prominenten Platz und übernehmen wichtige Funktionen für die ‚Gesamtschau‘ eines Gedichts. Der Beschreibung der Pallas Athena wird die Funktion zugeschrieben, die Transformation der rächenden Göttin zur Begleiterin der Braut (pronuba) und zur Sachwalterin der Harmonie zwischen zwei sehr unterschiedlichen Lebenssphären in Gang zu setzen.38 Doch verdient die prominente Hervorhebung der Pallas Athena, die ich als emblematische einstufen möchte, im Hinblick auf ihre Implikationen für das kulturelle und philosophiegeschichtliche Selbstverständnis jener vielschichtigen Schwellenzeit tiefergehende Betrachtung. Dazu nochmals ein selektiver Textausschnitt (V. 1–32): Forte […] remeans […] […] Pallas Erechtheo Xanthum mutabat Hymetto. Aurato micat aere caput […] […] Gorgo tenet pectus medium, […]. Squameus ad mediam thorax non peruenit aluum post chalybem pendente peplo; tegit extima limbi circite palla pedes, qui cum sub ueste mouentur, crispato rigidae crepitant in syrmate39 rugae. Laeuam parma tegit […] […] Hastam dextra tenet […]. Zufällig kehrte Pallas zurück […] und tauschte den Xanthus mit dem attischen Hymettus. Ihr Haupt glänzt von goldenem Metall […], Gorgo nimmt die Mitte ihrer Brust ein […], ihr Schuppenpanzer geht nicht bis zur Körpermitte, der Peplos reicht über das Erz hinunter. Der äußerste Saum der Palla bedeckt rundherum ihre 38 39

Vgl. Ravenna: Le nozze di Polemio e Araneola (wie Anm. 4), S. 14. Hier wie auch im Folgenden ist hervorzuheben, dass Sidonius Apollinaris bevorzugt griechische Ausdrücke verwendet. Und dies nicht nur, wie von ihm programmatisch angezeigt, für Begriffe aus der Philosophie. Syrma (Schleppkleid) ist im Lateinischen selten; vgl. aber z. B. Sen. Oed. 423; Herc. f. 475; metonymisch steht syrma für die Tragödie (z. B. Mart. 4,49,8) oder den Tragödiendichter (Sidon. epist. 8,11).

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Henriette Harich-Schwarzbauer Füße, die sich unter dem Gewand zusammen mit diesem bewegen. Es knirscht der steife Faltenwurf ihres Kleides. In der Linken hält sie den Schild […], in der Rechten den Speer […].

Diese Ekphrasis kann als die Beschreibung des Wandels einer Göttin gelesen werden, die vom furor (über die Gewalt an Kassandra) allmählich Abstand nimmt und zur Stifterin von Harmonie, aber damit auch zur pronuba einer ‚Philosophenhochzeit‘ auf gallo-römischem Boden wird. Dazu sei nicht zuletzt auf die Bedeutung der Pallas Athena im griechischen Osten des fünften Jahrhunderts verwiesen. Athena kehrt, wie gleich eingangs in Vers 3 festgehalten wird, zum Hymettus zurück, der metonymisch die platonische Akademie in Athen bezeichnet.40 Athena ist zudem die Schutzgöttin der platonischen Schule. Der Neuplatoniker Marinus betont, um ein zeitgenössisches Beispiel aufzurufen, in der Vita seines Lehrers Proclus mehrmals, Athena sei die Göttin der Philosophie.41 In Kap. 30,5–11 berichtet er von einer Erscheinung der Athena, die das Schulhaupt der Platoniker, Proclus, dazu aufgeforderte habe, dass er sie in seinem Haus aufnehmen möge, da nun die Rechtgläubigkeit, d.h. das höchste Wissen um das Göttliche, von den Christen monopolisiert werde: „Athena hat das selbst kundgetan, als ihre Statue, die bislang im Parthenon aufgestellt war, durch diejenigen, die das Unbewegte bewegen, entfernt wurde.“ Den Anspruch, die im griechischen Osten dislozierte Athena aufzunehmen und ihr eine neue Öffentlichkeit zu geben, dürfte Sidonius mit der ‚emblematischen‘ Athena in den Anfangsversen des Hochzeitspoems formulieren. 4

Das gallo-römische Athen im fünften Jahrhundert

Die Statue der Athena, von der Marinus berichtet – sie gilt als Athena Promachos des Phidias –, wurde um das Jahr 470 von Athen nach Konstantinopel gebracht und auf dem Forum des Konstantin aufgestellt.42 Abbildungen (Miniaturen) der Athena Promachos waren zudem weit verbreitet.43 Noch Niketas 40 41

42 43

Athena ist schon bei Plat. Tim. 24 D1 die Symbolgottheit der Philosophie. Marin. v. Proc. 10,12; 30,1 (Text: Marinus Neapolitanus: Proclus ou sur le bonheur. Texte établi, trad. et annot. par Henri Dominique Saffrey et Alain-Philippe, Paris 2001 [Collection des universités de France. Série grecque 414]). Proclus preist Athena übrigens auch in einem Hymnus. Vgl. ebd., S. 164, zu v. Proc. 30,1. Sidonius schenkt Nachahmungen von antiken Kunstwerken generell eine erhöhte Aufmerksamkeit. Von der Ausstattung spätantiker Villen in Südwestgallien mit Statuetten und anderen Kunstobjekten, die antike Gottheiten repräsentieren, gibt Sidonius Apollinaris mehrfach Zeugnis. Dazu Lea M. Stirling: The Learned Collector. Mythological and Classical Taste in Late Antique Gaul, Ann Arbor 2005; hier S. 76f.

Pallas Athena im gallo-römischen Narbonne

175

Choniates 44 beschreibt die Kolossalstatue, die nach Konstantinopel gebracht worden sei: Ihr Gewand reichte bis zu den Füßen und war gefältelt, die Statue ca. 30 Fuß hoch und ganz aus Bronze. Es ist nicht abwegig, dass Berichte über das Schicksal dieser Statue umliefen, die in den gallischen Philosophenzirkeln bekannt waren. So ist der Schluss durchaus zulässig, dass sich der philosophische Kreis, in dem Sidonius Apollinaris verkehrte, mit dieser Symbolfigur der Neuplatoniker identifizierte und sie zur Repräsentantin des eigenen Zirkels erkor. Mit anderen Worten: Der Philosophenkreis in Narbonne, dem Polemius angehörte, bot der Philosophie, die aus Athen auswandern musste und in Konstantinopel zu Repräsentationszwecken des ‚Neuen Rom‘ degradiert wurde, eine neue Heimstatt an. Folgt man dieser Argumentation, so ist es plausibel, dass eine außerliterarische Konstellation die Ekphrasis der Pallas Athena anregen konnte.45 Athena hat dann eine Signalfunktion für den Philosophiebetrieb in der Auvergne, wobei Narbonne die philosophische Tradition lebendig hält.46 Diese Schlussfolgerung wird übrigens durch die Worte der Athena pronuba insinuiert. Ihr geht es anlässlich der dextrarum iunctio des Brautpaares nicht darum, bloß eine Hochzeit zu stiften, sondern konsequent darum, die philosophische Tradition der Platoniker sicher zu verankern. Für Athena als pronuba ist die Verständigung der Brautleute eine Möglichkeit, ihr höchstes Ziel, eine philosophische Nachkommenschaft zu sichern, in Angriff zu nehmen (V. 188–191): […] Consurge, sophorum egregium Polemi decus, […] […] et Cynicos imitatus amantes incipies iterum paruum mihi ferre Platona. Erhebe dich, erhabene Zier der Weisen, Polemius, […] und indem du die sinnlich liebenden Kyniker nachahmst, wirst du mir einen kleinen Platon zeugen.

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45

46

Niketas Choniates, Hist., ed. van Dieten 1972, S. 558,47–559,73. S. Romilly J. H. Jenkins: The Bronze Athena at Byzantium, in: JHS 67 (1947), S. 31–33, Abb. plate 10. (mit Übersicht über die Testimonien zur Athena [Promachos?] bei Arethas, Bischof von Caesarea [9./10. Jh.]: chalke Athena, Kedrenos (11./12. Jh.). und Niketas Choniates (12./13. Jh.); Volker Michael Strocka: Kopien nach Phidias. Logische Stilentwicklung oder circulus vitiosus?, in: Meisterwerke. Internationales Symposion anläßlich des 150. Geburtstages von Adolf Furtwängler, Freiburg im Breisgau, 30. Juni ‒ 3. Juli 2003, hg. von dems., München 2005, S. 121–142, hier S. 123. Mit Bezug auf die Panegyrici des Sidonius Apollinaris wird diese Ansicht nunmehr forciert von Tiziana Brolli: Writing commentary on Sidonius’ Panegyrics, in: New Approaches to Sidonius Apollinaris, ed. by Johannes A. van Waarden and Gavin Kelly, Leuven 2013 (Late antique history and religion 7), S. 93–109, hier S. 94. Pierre Courcelle: Les lettres grecques en Occident. De Macrobe à Cassiodore, Paris 1943, S. 223, geht in seiner optimistischen Einschätzung einer Renaissance der griechischen Philosophie nicht auf das Epithalamium carm. 15 des Sidonius ein.

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Henriette Harich-Schwarzbauer

Aus dem Epithalamium an Polemius und Araneola spricht das Selbstbewusstsein gallo-römischer Aristokraten, die für sich die Rolle von legitimen Fortsetzern der platonischen Philosophie reklamieren. Nicht ohne Ironie spricht der Dichter über einen Punkt, der unter seinen Philosophenfreunden heftig debattiert wurde: die Frage nach dem Wesen der Seele. Araneola, die Außenstehende, macht den ersten, entscheidenden Schritt zu einer Harmonisierung, das meint zu einer Verständigung zwischen Kynikern und Platonikern, indem sie dieses Problem mittels Weben auf den Plan ruft, um durch die Nachkommenschaft, die sie von Polemius gebären wird, den Platonismus am Leben zu erhalten.

II

Frühe Neuzeit und Moderne

Barbara Kuhn

„nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ (Geta e Birria) – Subtraktion durch Verdoppelung oder: Amphitryons Wandlungen in der Frühen Neuzeit Das Zitat im Titel dieses Beitrags,1 „Nichts bin ich; […] zwei sind wir, die aus einem gemacht wurden“2, deutet bereits auf eine recht spezifische Art von höherer oder vielleicht auch niederer, zumindest aber recht verwirrter Mathematik hin, wenn nichts oder null, zwei und eins in gewisser Weise alle dasselbe meinen sollen, und diesen Eindruck bestätigt die Lektüre der aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammenden Erzählung Geta e Birria, die heute übereinstimmend den beiden Autoren Ghigo Brunelleschi und Domenico da Prato zugeschrieben wird3 und deren Erzähler sich, wenngleich als unmittelbare Quelle ein mittelalterlicher Text diente, auf Plautus als den ‚ersten Erfinder dieser Komödie‘ (vgl. 182,1f.) beruft, dem er wörtlich zu folgen vorgibt (vgl. 173,1–3). Ei1

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Eine revidierte Fassung des Beitrags in englischer Sprache ist unter dem Titel ‚nulla son io; […] due siam fatti d’uno‘ (Geta e Birria) – Subtracting by Duplicating, or The Transformations of Amphitryon in the Early Modern Period erschienen in dem Band: Renaissance Rewritings, ed. by Helmut Pfeiffer, Irene Fantappiè, Tobias Roth. Berlin/Boston 2017 (Transformationen der Antike 50), S. 99–125. Sämtliche Zitate nach der Ausgabe: Geta e Birria, in: Novelle italiane. Il Quattrocento, a cura di Gioachino Chiarini, Milano 1982 (I grandi libri Garzanti 281), S. 29–85. Unmittelbar nach den Zitaten werden in Klammern jeweils Strophe und Vers angegeben. Die als Verständnishilfe gedachten und daher eher wörtlichen als literarischen Übersetzungen des Primärtextes finden sich, außer bei sehr kurzen Passagen, in den zugehörigen Fußnoten. Das Zitat im Titel des Beitrags entstammt den Versen 136,8– 137,1. Ohne indes die Möglichkeit weiterer Bearbeiter bzw. Eingriffe in den Text völlig auszuschließen, da, wie Mazzotta formuliert, ein „ragionevole sospetto“ bestehen bleibe, „che l’opera nasconda un insondabile conglomerato di interventi, frutto di quel complesso lavoro di collaborazione ‚attraverso sostituzioni e interpolazioni di ottave, circostanze, episodi, per un bisogno di amplificazione, di illustrazione, di coloritura […] per intrusione di materia estranea, per riorganizzazione e utilizzazione diversa di elementi narrativi o descrittivi‘ [Domenico De Robertis]“. Clemente Mazzotta: Rezension von Antonio Lanza: Polemiche e berte letterarie nella Firenze del primo Quattrocento. Storia e testi, Roma 1972 [sic], in: Studi e problemi di critica testuale 10 (1975), S. 228–231, hier S. 229.

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Barbara Kuhn

nem ähnlichen Zahlenspiel sah sich die Figur, die auf Plautus’ Sosia zurückgeht, bereits zuvor ausgeliefert, als sie klagte: „siàn fatti due ch’eravam’uno“ (108,3: „wir, die wir einer waren, wurden zu zweien gemacht“); diese dem Ich unverständliche Verdoppelung hätte aber auch vermieden werden können, wenn es anderswo geblieben wäre; so hingegen, weil die eigene Stimme von außen kommt, lässt sich die Zweiheit nicht leugnen: „udendo me mi fa chiaro di dua“ (108,8: „da ich mich höre, wird mir klar, dass es zwei sind“), obwohl im nächsten Vers wieder bekräftigt wird: „Quel ch’è uno è uno“. Dem unumstößlich formulierten Diktum „eins gleich eins“ steht jedoch die Erfahrung entgegen: „ma i’ che parlo | non sono un sol“ (109,1f.: „aber ich, der ich spreche, bin nicht nur einer“), so dass sich als Lösung, wenn eins nicht mehr gleich eins ist, nur die Addition oder die Subtraktion anbietet: „essere dua, od esser nulla“ (111,4: „zwei oder nichts sein“). Was aber vom subtrahierten Ich übrigbleibt – „chi è che sanza me poss’esser io?“ (120,8: „Wer kann ohne mich ich sein?“) –, ist nicht viel: „tu sie Geta et io zero“ (124,6: „du sollst Geta sein und ich null“), „nulla son io“ (136,8: „nichts bin ich“), „or di me stesso sono fatto niente“ (142,4: „nun bin ich aus mir selbst zu nichts geworden“), „nulla son sanza rimedio“ (144,8: „ich bin unwiderruflich nichts“) – und die Beispiele ließen sich noch vermehren. Das Spiel mit null, eins und zwei, die offenbar alle wechselseitig füreinander eintreten können, scheint geeignet, die Figur, die hier „ich“ sagt, verrückt zu machen – und mit ihr den Leser, der in diesem Zwischenraum, in dieser Erzählung ‚zwischen allen Stühlen‘ kaum mehr weiß, wo er steht. Denn wie sich in einem ersten Schritt zeigen soll, gilt die Frage, ob eins oder doch eher zwei oder gar null, in vielerlei Hinsicht auch für die Erzählung selbst, die sich in ihrem Dialog mit einer – buchstäblich über das Mittelalter vermittelten – Antike von beiden Traditionen, der antiken wie der mittelalterlichen, unterscheidet und in der Differenz eben das dialogische statt imitierende Moment in der Berufung auf den antiken Autor und dessen Amphitruo hervortreibt. Um die Spezifik der frühneuzeitlichen Version des Mythos herauszuarbeiten, wird der zweite Teil des Beitrags dann genauer als mit den bislang angeführten Zitaten auf die Zusammenhänge der drei Zahlen mit dem sich darin andeutenden Identitätsproblem eingehen, bevor der dritte auf dieser doppelten Basis der vom Text aufgeworfenen Frage nach dem Menschen nachgeht. Zuvor jedoch soll noch ein kurzer Blick auf die umstrittene Position des Textes in der Forschung geworfen werden, da er gerade in den vergangenen Jahrzehnten und bis in die jüngste Zeit immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen, zu Polemik und zu manchmal heftigen Attacken gab. Ohne die Einzelheiten hier entfalten zu können, sei doch wenigstens erwähnt, dass die eine der beiden Seiten – vor allen anderen Antonio Lanza seit 1971 und noch 2007 mit einem Beitrag in einem Tagungsband, dessen aktualisierte Fas-

„nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ (Geta e Birria)

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sung 2010 erschien4 – die These vertritt, es sei zunächst, noch im 14. Jahrhundert, ein mündlich und auf öffentlichen Plätzen vorgetragener Erzähltext, ein cantare, entstanden. Autor dieses cantare sei Ghigo Brunelleschi, der sich, wie in dieser Gattung üblich, an einer literarischen Quelle, in diesem Fall dem überaus beliebten und weithin bekannten Geta des Vitalis von Blois aus dem 12. Jahrhundert, orientierte. Ohne des Lateinischen in all seinen Feinheiten mächtig zu sein, übertrug er sie ins Italienische und in die für cantari typische Form der Oktaven oder ottaverime. Trotz der Missverständnisse, die stellenweise sogar zu ganz neuen Figuren oder Episoden führten, und dank der Freiheiten, die sich der Autor an anderen Stellen nahm, entstand so ein überaus gelungener Text, der sich zudem in eine konkrete Situation im Florenz des späten Trecento und des beginnenden Quattrocento einfügte, in den Streit zwischen Traditionalisten und Humanisten. Die zahlreichen Handschriften, die Geta e Birria überliefern, geben allerdings unterschiedliche Verfasser und vor allem an einer Stelle gegen Ende an, bis hierher sei der Text das Werk von Ghigo (manchmal auch Filippo) Brunelleschi und zum Abschluss geführt worden sei die Erzählung von Domenico da Prato.5 Nicht erst Lanza, sondern bereits Guerri6 hatte 1931 den Verdacht, dieser zweite Autor habe auch das Vorausgehende bearbeitet, habe ganze Strophen eingefügt und so den originellen cantare in ein mehr oder weniger langweiliges poemetto, eine Verserzählung verwandelt – aus dem einfachen Grund, dass Domenico da Prato sich als einer der sogenannten Traditionalisten angegriffen gefühlt habe und ihm daran gelegen gewesen sei, eine harmlose, verwässerte Version kursieren zu lassen. Entsprechend erstellte Lanza 1971 als Anhang zu seiner Monographie über das florentinische Quattrocento eine ‚bereinigte‘ Version des seiner Meinung nach ursprünglichen cantare, indem er von dem, was die Handschriften überliefern, 31 Strophen wegließ, die seiner Mei-

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5

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Vgl. Antonio Lanza: Il Geta e Birria, in: Il cantare italiano fra folklore e letteratura. Atti del Convegno internazionale a Zurigo, 23–25 giugno 2005, a cura di Michelangelo Picone e Luisa Rubini, Firenze 2007 (Biblioteca dell’Archivum Romanicum 341), S. 235–257 (nach dieser Version wird der Aufsatz im Folgenden zitiert). In durchgesehener und aktualisierter Form wieder in: ders.: Spigolature di letteratura antica, in: Orti Oricellari 1 (2010), S. 231–264. In der Zählung der hier verwendeten Ausgabe, die Pippo (also Filippo) Brunelleschi und Domenico da Prato als die beiden Autoren nennt, liegt die Zäsur zwischen den Strophen 161 und 162. Lanza hingegen geht von einem späteren Einschnitt aus (Strophe 181 der hier zugrunde gelegten Ausgabe), weist aber sämtliche Oktaven bis zu diesem Punkt, der zugleich das Ende seiner Edition des Textes bildet, Ghigo Brunelleschi zu. Vgl. hierzu das Zitat von Mazzotta in Anm. 7. Vgl. Domenico Guerri: La corrente popolare nel Rinascimento. Berte, burle e baie nella Firenze del Brunellesco e del Burchiello, Firenze 1931 (Biblioteca storica del Rinascimento 8).

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nung nach unbestreitbar von der Hand Domenicos stammten.7 Diesem abwertenden Urteil widerspricht Gioachino Chiarini in seiner 1982 erschienenen Novellen-Anthologie, die wieder den vollständigen Text abdruckt: Zwar ist auch er überzeugt, Domenico da Prato habe nicht nur den Text zu Ende gedichtet, sondern durchaus in Struktur und Stil des bereits Vorhandenen eingegriffen, da dies bei der Tradierung solcher Erzähltexte, die stets dem eigenen Publikum und dem eigenen Zweck angepasst wurden, der übliche Modus war. Eine Verschlechterung erkennt er jedoch in den hinzugefügten Oktaven keineswegs; vielmehr übe die neu gedichtete cornice eine strukturelle Funktion aus, insofern jeder Teil, der Rahmen wie die umrahmte Erzählung, für den jeweils anderen komplementär sei und ein ständiges Spiel der Interaktion und Kontrapunktik zwischen den beiden Seiten bestehe. Während Lanza in einer langen und polemischen Fußnote diese Interpretation als ebenso unbegründet wie willkürlich – „completamente infondata e arbitraria“ – abtut und sich gleichzeitig, allerdings zu Unrecht, beschwert, dass der Autor und Herausgeber seine Edition benutzt, dies aber verschwiegen habe,8 verschweigt Michelangelo Picone 1993 ebenso wie Emilio Pasquini 1996 sowohl die Polemik als auch Lanzas sich in großen Teilen wiederholende Beiträge zur Debatte; stattdessen erwähnt Picone zustimmend Chiarinis Analyse des Textes und verweist zugleich auf dessen Edition der Erzählung im genannten Band.9 Hingegen äußert sich Paolo Orvieto, der 1997 einige Teile von Geta e 7

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Vgl. die fundierte Kritik von Mazzotta in seiner ausführlichen Rezension des Bandes (wie Anm. 3) nicht zuletzt an der von Lanza hergestellten Edition. Insbesondere plädiert Mazzotta für einen vorsichtigeren Umgang mit Zuschreibungen: „Suscita non poche perplessità la perentoria espunzione di 31 ottave dell’edizione Arlìa […], operata in conformità alle indicazioni del Guerri al fine di rendere all’operetta l’originaria fisionomia canterina e polemica: in effetti, la proclamata conservazione delle ‚sole ottave del Brunelleschi‘ e l’esclusione di ‚quelle di Domenico‘ è ben lungi dal prospettarsi come un’operazione pacifica e senza rischi: è vero che il Geta sembra configurarsi come opera composita […], ma non è certo il caso di sottovalutare il fatto che tante testimonianze riconducono a Domenico le 16 ottave che chiudono l’edizione del Lanza, e, in più occasioni, avanzano attribuzioni diverse (Pippo Brunelleschi, Giovanni da Prato, Antonio da Prato ecc.). Il che impone una maggiore cautela nelle attribuzioni, o, se non altro, una meno drastica distinzione dell parti“; ebd., S. 229. Vgl. Antonio Lanza: Polemiche e berte letterarie nella Firenze del primo Rinascimento (1375–1449), seconda ed. completamente rifatta, Roma 1989 (Biblioteca di cultura 383), S. 266. Allerdings listet Chiarini: Geta e Birria (wie Anm. 2) in der Nota ai testi zu seiner Novellen-Anthologie sehr wohl die Übernahmen aus Lanzas Edition auf, vgl. Chiarini, S. XLVI–XLIX, hier S. XLVII. Die umstrittene Edition des Geta e Birria ist nur in der ersten Ausgabe der Studie enthalten: Antonio Lanza: Polemiche e berte letterarie nella Firenze del primo Quattrocento. Storia e testi, Roma 1971 (Biblioteca di cultura 27), S. 271–302, Appendice mit 18 Oktaven von Giovanni Gherardi, S. 303– 306. Vgl. Michelangelo Picone: Il racconto, in: Manuale di letteratura italiana. Storia per generi e problemi, Vol. I: Dalle origini alla fine del Quattrocento, a cura di Franco

„nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ (Geta e Birria)

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Birria in die von Segre und Ossola herausgegebene Antologia della poesia italiana aufnimmt und kommentiert, zu Lanzas verstümmelter Edition, die noch weniger brauchbar sei als die lediglich auf einem früheren Druck beruhende Ausgabe von 1879, da die Streichungen seiner Meinung nach willkürlich seien.10 Im vorerst letzten Beitrag zu diesem Streit, Lanzas 2007 in einem von Picone herausgegebenen Tagungsband und 2010 erneut publizierten Aufsatz, reagiert der Autor wiederum empfindlich auf die von Orvieto aufgeworfene Frage der Zuverlässigkeit seiner Edition und greift seinerseits den „amico Orvieto“ an, insofern die Elimination quasi zwingend sei, eine „doverosa operazione di risanamento del cantare“, und wer sie für willkürlich halte, sei in seiner unglaublichen Kurzsichtigkeit nicht imstande, die Hand eines „ottimo poeta satirico“ von der eines „mediocre poetastro“ zu unterscheiden.11 Mögen, von außen betrachtet, die Polemiken und Positionen eher amüsant als sachlich und weiterführend erscheinen, zeigen sie doch eines überaus deutlich: Nicht nur eine neue, möglichst kritische Edition dieses „straordinario testo“12, der „sofisticata novella in versi“13 ist ein Desideratum; es lohnt sich vor allem auch, sich mit dem Text näher zu befassen, da die interessanten Interpretationen, insbesondere die von Chiarini und Picone,14 sich mit dem Text jeweils im Rahmen größerer Zusammenhänge befassen, so dass sie der Novelle selbst nur wenige, eher summarische Seiten widmen können, während Lanza zwar in fast all seinen Büchern immer wieder auf diesen offenbar wunden Punkt ausführlich zu sprechen kommt,15 aber zum einen stets die bekannten Thesen des von ihm bewunderten Guerri wiederholt, zum anderen gewiss ausführlich aus dem Text zitiert, jedoch diese manchmal seitenlangen Zitate meist nur als für sich selbst sprechende Belege einfügt. Dieser Logik zufolge erkennt folglich jeder, der nicht von der beklagten Kurzsichtigkeit geschlagen ist, das Gemeinte unmittelbar,

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Brioschi e Costanzo di Girolamo, Torino 1993, S. 587–696, hier S. 678; Emilio Pasquini: Letteratura popolareggiante, comica e giocosa, lirica minore e narrativa in volgare del Quattrocento, in: Storia della letteratura italiana, Vol. III: Il Quattrocento, a cura di Enrico Malato, Roma 1996, S. 803–911, hier S. 872f. Vgl. Paolo Orvieto: Ghigo Brunelleschi, in: Antologia della poesia italiana, Vol. II: Quattrocento – Settecento, diretta da Cesare Segre e Carlo Ossola, Torino 1998 (Biblioteca della Pléiade 28), S. 1440. Lanza: Il Geta e Birria (wie Anm. 4), S. 249–254. Michelangelo Picone e Luisa Rubini: Premessa, in: Picone/Rubini (wie Anm. 4), S. V–XIII, hier S. IX. Picone: Il racconto (wie Anm. 9), S. 679. Gioachino Chiarini: Introduzione, in: Chiarini: Geta e Birria (wie Anm. 2), S. VII– XLII, hier: S. XI–XIV; Picone: Il racconto (wie Anm. 9), S. 678–680. Vgl. außer den bereits genannten Bänden und Beiträgen: Antonio Lanza: Il „doppio“ nel Rinascimento, in: ders.: Primi secoli. Saggi di letteratura italiana antica, Roma 1991 (Biblioteca dell’Archivio. Saggi 4), S. 197–218; ders.: La letteratura tardogotica. Arte e poesia a Firenze e Siena nell’autunno del Medioevo, Anzio 1994 (Medioevo e Rinascimento 4).

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ohne anderer Begründungen zu bedürfen. Legitimiert wird die unumstößliche Richtigkeit der eigenen Sicht mehrfach schlicht mit der jahrzehntelangen Beschäftigung mit diesem Gegenstand – schließlich habe er sich bereits als Vierzehnjähriger für Guerris Buch und die darin besprochenen Texte wie eben Geta e Birria begeistert – und mit der Tatsache, dass er selbst in seiner Anthologie toskanischer Lyriker des Quattrocento das lyrische Werk von Domenico da Prato veröffentlicht habe und folglich wisse, wozu dieser fähig war und wozu nicht.16 Statt bei der autoritätsgläubigen Autorität und bei der verstümmelten Edition stehen zu bleiben, gilt es also, sich erneut dem vergnüglichen Text und seiner eigenartigen Position ‚zwischen allen Stühlen‘ zuzuwenden. 1

Zwischenräume

Um es – nach dem einleitenden Umkreisen der Erzählung – erneut zu unterstreichen: Auch wenn der Titel Geta e Birria es nicht unmittelbar zu erkennen gibt, fügt sich dieser Text in die Reihe der zahlreichen Gestaltungen des antiken Amphitryon-Stoffes ein, mit dem Mittelalter und Neuzeit einen intensiven Dialog unterhalten.17 Der Erzähler selbst nennt, wie erwähnt, gegen Ende seines Textes zweimal Plautus18 als seinen „degno poeta“ (182,1; vgl. 173,2), obwohl er ganz offensichtlich nicht dessen Amphitruo als Quelle benutzte, sondern den bereits genannten Geta des Vitalis von Blois. Im Unterschied zur großen Mehrzahl der literarischen Bearbeitungen des Stoffes handelt es sich nicht um einen zur szenischen Aufführung bestimmten, sondern um einen narrativen Text; auch in dieser Hinsicht schließt Geta e Birria an das in elegischen Distichen verfasste mittellateinische Vorbild an, das sich aber aufgrund des hohen Anteils an dialogischen Partien und der meist nur wenige Verse langen narrativen Textteile für eine Auf16 17

18

Vgl. Lanza: Il Geta e Birria (wie Anm. 4), S. 235 und 250. Vgl. Peter Szondi: Fünfmal Amphitryon: Plautus, Molière, Kleist, Giraudoux, Kaiser, in: Lektüren und Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und Literatursoziologie, hg. von dems., Frankfurt a.M. 1973, S. 153–184; Hans Robert Jauß: Befragung des Mythos und Behauptung der Identität in der Geschichte des ‚Amphitryon‘, in: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, hg. von dems., Frankfurt a.M. 2 1997, S. 534–584. Zwar stellt Jauß zwischen Plautus’ und Molières Stücken kurz den Geta des Vitalis von Blois vor (vgl. ebd., S. 547–549), doch gehen weder Szondi noch Jauß auf die hier im Mittelpunkt stehende Version des Mythos aus dem italienischen 15. Jahrhundert ein. Die Berufung auf schriftliche Quellen zur Legitimierung und Nobilitierung des eigenen Erzählens ist ein gängiges Verfahren in den in hohem Maße selbstreferentiellen cantari und die sich in ihren Texten selbst inszenierenden canterini; vgl. Beatrice Barbiellini Amidei: Quando il testo si fa voce. A proposito del „cantare“ e della sua funzione sociale, in: Proteo 3 (1997), S. 7–17, hier S. 8 sowie S. 14, Anm. 15.

„nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ (Geta e Birria)

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führung oder einen mimischen Vortrag anbietet.19 Dennoch ist, ebenfalls ähnlich wie bei diesem Vorbild, wenngleich in einem völlig anderen historischen und literarischen Umfeld, die Gattungsfrage auch für den italienischen Text nicht eindeutig zu beantworten. Lanza zufolge lag mit dem ursprünglichen und von ihm durch Emendation und Konjektur rekonstruierten Text ein cantare vor, aus dem durch die Überarbeitung eine Erzählung geworden sei, die möglicherweise nicht mehr für den Vortrag auf dem Platz, sondern primär zur Lektüre bestimmt war. Andere sprechen auch für die nicht beschnittene Version des Textes, so wie sie die Handschriften tradieren, von einem cantare, nehmen ihn aber gleichwohl in Anthologien auf, die laut Titelblatt Novellen versammeln.20 Gelegentlich wird jedoch außer von „cantare novellistico“ (im Unterschied unter anderem zum „cantare fiabesco“ und zum „cantare cavalleresco“) auch von „novella in versi“ oder gar von „poemetto“ gesprochen, während für andere, etwa für Cesare Segre, die Gattungsdefinition der Novelle in aller Regel die Prosaform einschließt,21 so dass der hier zur Debatte stehende Text nicht darunter fiele. Bezeichnenderweise findet er sich denn auch in Auszügen in der von Segre und Ossola herausgegebenen Antologia della poesia italiana.22 Die unklare Gattungszuordnung setzt sich folglich sprechend in der programmatischen Unterbringung des Textes in unterschiedlichen Anthologien fort. Eingedenk der Tatsache, dass Gattungen ohnehin 19

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21

22

Vgl. Wieland Schmidt: Untersuchungen zum „Geta“ des Vitalis Blesensis, Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf 1975 (Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 14), S. 35–38. Zur „zwischen Leseepik und Drama“ stehenden Gattung der Elegienkomödie, als deren ‚Erfinder‘ Vitalis von Blois „mit Geta (1125/30) und Aulularia (um 1145)“ gelte, vgl. auch Karl Bertau: Schrift, Macht, Heiligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlich-muslimischen Mittelalters, hg. von Sonja Glauch, Berlin 2005, S. 357; vgl. ferner Ferruccio Bertini: La commedia elegiaca latina in Francia nel secolo XII. Con un saggio di tradizione dell’Amphitryo di Vitale di Blois, Genova 1973. Bertini fügt seiner Studie auf den Seiten 90–127 den vollständigen lateinischen Text sowie eine italienische Prosaübersetzung bei. Im Folgenden wird Vitalis’ Text unter Angabe der Verszahlen zitiert nach der Edition: Der „Geta“ des Vitalis von Blois. Kritische Ausgabe, hg. von Arnold Paeske, Köln 1976. Vgl. neben der bereits genannten, von Chiarini herausgegebenen Anthologie (wie Anm. 2): Novelle del Quattrocento, a cura di Aldo Borlenghi, Milano 1962, S. 39–99. Vgl. Cesare Segre: La novella e i generi letterari, in: La novella italiana. Atti del Convegno di Caprarola, 19–24 settembre 1988, Vol. I, Roma 1989 (Biblioteca di Filologia e critica 3), S. 47–57, hier S. 48. Wie offen die Zuordnung des cantare zum Gattungssystem ist, zeigt im selben Band auch der Beitrag von Giorgio Varanini: Cantari e novelle, S. 407–430, der einerseits die Definition der Novelle weiter fasst als Segre, andererseits die Vers- und die Prosaformen von Erzählung durch das Kriterium öffentliche Rezitation vs. private Lektüre differenziert, zugleich aber einräumt, dass auch die cantari teilweise für die private Lektüre bestimmt sind (vgl. ebd., S. 407). Ghigo Brunelleschi: Da Geta e Birria, in: Segre/Ossola: Antologia della poesia italiana (wie Anm. 10), S. 269–272.

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Konventionen sind, kommt es freilich weniger darauf an, eine und nur eine präzise Schublade zu benennen, in die der Text zweifelsfrei einsortiert werden könnte, als vielmehr darauf, sich seiner Besonderheiten und eben dieser seiner Zwischenstellung bewusst zu bleiben. Mit dem Zwischenraum zwischen novella, cantare und poemetto verbindet sich, wie in den Bemerkungen zur Gattung cantare schon angedeutet, eine kulturgeschichtlich besonders interessante weitere Zwischenposition, die Frage nach Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die der Text in doppelter Hinsicht aufwirft: zum einen durch die bekannte Aufführungs- bzw. Vortragspraxis der cantari, die der sogenannten sekundären Mündlichkeit zugerechnet werden, zum anderen durch Signale im Text selbst, die die Zwischenstellung offensichtlich machen. Als sekundär wird diese Oralität bekanntlich bezeichnet, weil sie nicht, wie in vollständig oder doch weitestgehend mündlichen Kulturen, dem eventuellen Aufschreiben eines Textes vorausgeht, der zunächst ausschließlich durch mündliche Weitergabe erinnert und tradiert wurde, sondern weil es sich um eine Mündlichkeit handelt, die eine schriftliche Kultur voraussetzt und auf ihr basiert, etwa wenn ein Text vorliegt, der dann statt in privater Lektüre durch einen öffentlichen Vortrag, eine Rezitation oder auch eine mimische Darstellung kollektiv rezipiert wird,23 manchmal aber auch nur eine Situation der Mündlichkeit, der Kopräsenz von Vortragendem und Publikum fingiert.24 Im Falle der cantari ist es sogar, wie hier mit der sich de facto auf Vitalis beziehenden Plautus-Erwähnung angedeutet, der Regelfall, dass sich der Ich-Erzähler auf eine vorausliegende Quelle beruft, die er als ‚wahre Geschichte‘ präsentiert, um sein eigenes Erzählen zu autorisieren, sodass sich im cantare als einem „genere-crocevia“25 selbst nicht nur das Schillern zwischen Oralität und Literalität spiegelt, sondern in eins die vermittelnde Stellung des cantare zwischen Volkskultur und literarischer

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Vgl. Giorgio Patrizi: Oralità e oratoria in alcuni novellieri del Cinquecento, in: La novella, la voce, il libro. Dal „cantare“ trecentesco alla penna narratrice barocca, a cura di Marina Beer u.a., Napoli 1996 (Il codice della novella italiana 1), S. 99–115, hier S. 100f. Patrizis Definition schließt an Maria Cortis und vor allem Paul Zumthors Forschungen zur Oralität an und unterscheidet sich folglich von dem auf Walter Ongs Thesen beruhenden Verständnis einer „zweiten Mündlichkeit“, jener „von Grammophon, Telefon, Rundfunk und Fernsehen“ (Heinz Schlaffer: Einleitung, in: Jack Goody, Ian Watt und Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, hg. von Heinz Schlaffer, Frankfurt a.M. 1986 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 600], S. 7–23, hier S. 7). Dies gilt insbesondere für die cantari ab dem 15. Jahrhundert, „destinati esclusivamente alla lettura“: „Se l’oralità è una delle caratteristiche stilistico-retoriche che segnano innegabilmente il testo del cantare, gli danno forma, è importante rammentare che tale oralità diviene spesso una finzione di oralità del tutto indipendente da qualsiasi evento di performance.“ Beatrice Barbiellini Amidei: I cantari tra oralità e scrittura, in: Picone/Rubini: Il cantare italiano (wie Anm. 4), S. 19–28, hier S. 23. Barbiellini Amidei: I cantari (wie Anm. 24), S. 7.

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Tradition, zwischen „alto“ und „basso“, manchmal auch die zwischen Standardsprache und Dialekt: eine Stellung, durch die erneut, auch ohne den unmittelbaren Bezug von antiker Quelle und frühneuzeitlichem Text, das dialogische Verhältnis zur Antike sichtbar wird.26 Neben dieser aus der Position im Zwischenraum resultierenden, konstitutiven Hybridität der Gattung, die die ständige Selbstreflexion und Selbstvergewisserung geradezu einzufordern scheint, ist diese mit der Hybridität eng verbundene Autoreferentialität, selbst dort, wo die Rezitation auf öffentlichen Plätzen nur mehr Erinnerung und Imagination ist und ein vermutlich für die Lektüre bestimmter Text vorliegt,27 ein rekurrentes Charakteristikum der cantari, die sich selbst – oft sogar in ein und demselben Text – als Schrift und als Stimme thematisieren,28 wie nicht zuletzt die Erzählung Geta e Birria veranschaulicht. 26

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Vgl. ebd., S. 7. Ich danke Bardo Maria Gauly für den Hinweis, dass auch die frühe palliata, mithin auch Plautus’ Amphitruo, zwischen der literarischen Komödie des Hellenismus und den Traditionen des italischen subliterarischen Theaters steht. In diesem Sinn erwächst ein Dialog mit der Antike nicht nur aus dem Rückgriff auf den antiken Mythos, wie ihn der mittelalterliche Text überliefert, sondern zudem aus der gleichsam pragmatisch-performativen Dimension der beiden Texte, die in vergleichbarer Weise auf literarischen wie auf nicht literarischen Traditionen basieren und daraus ihre ‚Eigen-Art‘ gewinnen. „È difficile separare nel secondo Quattrocento la messa in rima per motivi di cantabilità – che inserisce quindi il testo all’interno di un circuito di comunicazione più spiccatamente vocale – dalla messa in rima ‚d’autore‘, specie per alcune novelle particolarmente note, e in particolare a Firenze, dove la letteratura popolareggiante fa le sue prove più riuscite: è questo il caso del volgarizzamento primoquattrocentesco in ottava rima del Geta mediolatino di Vitale di Blois di Ghigo Brunelleschi.“ Marina Beer: Alcune osservazioni su oralità e novella italiana in versi (XIV–XV secolo), in: Beer: La novella, la voce, il libro (wie Anm. 23), S. 5–35, hier S. 13. Vgl. Barbiellini Amidei: Quando il testo si fa voce (wie Anm. 18), S. 8. Wie der hier im Zentrum stehende Text exemplarisch vorführt, entspricht die von Barbiellini Amidei und Beer vertretene These der komplexen Realität des cantare und insbesondere von Geta e Birria eher als die pauschale Separierung in für die einsame Lektüre bestimmte Texte wie Petrarcas Canzoniere und Ariostos Orlando furioso hier und die ‚tatsächlich und ausschließlich‘ in einer mündlichen Kommunikationssituation realisierten cantari dort, wie dies erst jüngst wieder Morabito formulierte, indem er den Aspekt der – ja gleichwohl präsenten – Schriftlichkeit primär pragmatischen Zwängen zuordnete: „In the case of the cantari, […] the oral dimension is to be understood as the real condition of communication: real and exclusive. If, beyond that, the texts were to experience a written existence, then this was partly due to the canterino’s practical necessities concerning memorization; in part it constituted an attempt to move onto a higher level which continued to differentiate itself more and more from ‘popular’ poetry; to move on to the poetry by lettered poets for a lettered audience, which was attempting to establish itself in the fifteenth and sixteenth centuries as ‘classic’, to stake out room for itself and to earn a status of literary nobility equal to that of the classics“. Raffaele Morabito: The Italian Cantari between Orality and Writ-

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So findet sich hier etwa gleich am Ende der drei einleitenden Oktaven, in denen der Erzähler Amor anruft und seine Liebe mit seinem Erzählen verknüpft, und vor Beginn der nun zu erzählenden Geschichte wie ein Scharnier zwischen beiden Welten die Wendung „come appresso udirà chi bene ascolta“ (3,8: „wie sogleich hören wird, wer gut zuhört“), die wenig später mit der Formel „Come udirete“ (6,8: „Wie ihr hören werdet“) aufgegriffen wird. Mehrfach bezieht er sein Publikum in seine Rede mit ein – „perché i’ non v’inganni“ (11,6: „Damit ich euch nicht täusche“), „non vi nascondo“ (11,8: „ich verberge euch nicht“) –, gibt er gar vor, in seinem Erzählen die Wünsche des Publikums zu berücksichtigen: „Per ch’i’ son certo che troppo vi grava | parlar di Geta sì lungo sermone | lascerò lui, e parlerovvi un poco | di Birria“ (15,5–8).29 Nur drei Strophen später jedoch kann er ebenso selbstverständlich wie bisher sein mündliches Erzählen auch sein schriftliches Komponieren der Geschichte betonen: „el Birria e ’l Geta m’hanno già sì stanco, | che di loro opre misere e cattive | ne lascerò la penna e ’l foglio bianco“ (18,3–5).30 Danach allerdings fordert er das anwesende Publikum, „ciascun ch’è qui presente“, auf, das Nicht-Erzählte, Jupiters nur schamhaft angedeutetes Liebesglück, zu imaginieren, und verweist durch diese „presenza della voce, del discorso in praesentia“, auch wenn sie zu einem „topos letterario“ geronnen ist,31 auf die fingierte oder reale mündliche Aufführungssituation: Allo estremo valor, ch’Amor consente, tosto ne venne lo ’nfiammato idio; immagini ciascun ch’è qui presente quant’ebbe di piacere il Signor pio; làsciolo riposar sì dolcemente, per dir del Birria quando si partìo […]. (63,1–6)32

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ing, in: Medieval Oral Literature, ed. by Karl Reichl, Berlin/Boston 2012, S. 371–386, hier S. 380. Vgl. demgegenüber: „Per comprendere il significato del cantare non si possono non richiamare alla mente le modalità di ricezione del genere, con le sue dimensioni, quella della lettura privata, e quella dell’ascolto collettivo della performance, in cui ognuno si sente almeno in parte coinvolto e chiamato in causa, poiché è a lui, direttamente, che si rivolge il cantare“ (Barbiellini Amidei: Quando il testo si fa voce [wie Anm. 18], S. 9). Dieser „carattere sociale del cantare“ bleibe selbst dort erhalten, wo die unmittelbare Beziehung zwischen canterino und Publikum offensichtliche Fiktion sei, weil auf ihr „il meccanismo del testo, la sua tecnica narrativa“ beruhe (ebd.). „Denn ich bin gewiss, dass es euch lästig ist, | dass ich eine so lange Rede über Geta halte; | ich lasse ihn und erzähle euch ein wenig | von Birria“. „Birria und Geta haben mich schon so ermüdet, | dass ich nun die Feder von ihren elenden und schlechten Werken und das Blatt weiß davon lasse.“ Barbiellini Amidei: Quando il testo si fa voce (wie Anm. 18), S. 12. „Zum höchsten Glück, das Amor gewährt, | gelangte der entflammte Gott sogleich; | es stelle sich jeder, der hier anwesend ist, selbst vor, | wieviel Lust der göttliche Herr empfand; | ich lasse ihn nun sanft ausruhen, | um von Birria, als er aufbrach, zu erzählen“.

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An anderen Stellen hingegen überspringt er die Instanz des Publikums geradezu und unterstreicht so die Zweisamkeit von personaggi und autore in einer Situation der Schriftlichkeit, wie wesentlich später Pirandello sie zu seinem Gegenstand machen sollte: „lascerò stare la penna e ’l Geta ancora | el saluto aspettar che più gli grada“ (146,1f.). Hier geht es weniger um den realen oder fiktiven Dialog des Erzählers mit seinem Publikum, dessen Wünsche er zu berücksichtigen vorgibt oder das er zur imaginierenden Mitarbeit auffordert, wenn die detaillierte Schilderung allzu körperlich werden und damit zumal dem göttlichen Liebhaber nicht mehr angemessen scheinen könnte; vielmehr werden, wie das Zeugma sinnfällig macht, die Leser dank einer fast schon an den Orlando furioso anklingenden Metalepse in dieselbe Situation des Wartens versetzt wie die Figur, während der Erzähler sich vorerst anderem – jener, die in seinem Herzen lebt und herrscht (vgl. 18,6) – widmen will und daher die Feder beiseitelegt. Auf der einen Seite schreibt sich Geta e Birria durch derlei Wendungen in eine Tradition ein, insofern diese für die cantari typische Form der Autoreferentialität, zumal in einer Zeit der zunehmenden Literalisierung der Gattung, geradezu zu einem formelhaften Inventar wird, zu einer spezifischen Rhetorik, die dann auch die Romane etwa eines Pulci oder eines Boiardo übernehmen.33 Auf der anderen Seite jedoch werden die Anspielungen auf die mündliche Aufführungssituation einerseits, auf das Schreiben und den gerade entstehenden Text andererseits für Geta e Birria zugleich zu mehr als einem gattungskonstitutiven Moment, verweisen sie doch außer auf die Tradition der cantari auch auf die besondere Entstehungsgeschichte dieses einen Textes, auf die – vermutlich – mindestens doppelte Autorschaft. Denn gerade jene beiden zitierten Passagen des Dialogs zwischen Erzähler und Publikum, die die Schriftlichkeit ins Spiel bringen, gehören zu den von Lanza inkriminierten und folglich eliminierten Strophen des Textes, könnten aber statt als Beweis für rigide Zuschreibungsthesen und damit verbundene Wertungen eher als Beleg für einen Wandel der Erzählformen zwischen dem späten Trecento und der ersten Hälfte des Quattrocento dienen. Ohne diesen „pregevolissimo cantare“ 34 bereits für eine anachronistische Vorwegnahme Ariostos und der im Orlando furioso entfalteten Fiktionsironie in Anspruch nehmen zu wollen, gilt es doch, auch hier schon das Spiel mit der auf die Folter gespannten Erwartung der Figur und des Lesers zu sehen, statt den Text nur in ältere Schablonen zu pressen. Keineswegs wird damit einfach aus einer der „invenzioni più originali e curiose“, einer der ‚originellsten und eigenartigsten Erfindungen‘, die so lebhaft war, dass sie noch einen Ariosto und einen 33

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Vgl. Barbiellini Amidei: Quando il testo si fa voce (wie Anm. 18), S. 8. Zur Existenz einer „vera e propria ‚retorica giullaresca‘“ vgl. Maria Cristina Cabani: Narratore e pubblico nel cantare cavalleresco. I modi della partecipazione emotiva, in: Giornale storico della letteratura italiana 157 (1980), S. 1–42, hier S. 3. Paolo Orvieto: „Poesia realistica e burlesca“, in: Segre/Ossola: Antologia della poesia italiana (wie Anm. 10), S. 258–262, hier S. 259.

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Molière inspiriert habe, zum Ärger Guerris und Lanzas ‚eine der albernsten und abgeschmacktesten Liebesklagen‘, „una delle più scialbe e sbiadite e abusate nenie d’amore“35; vielmehr macht die zitierte Passage („lascerò stare la penna e ’l Geta […] aspettar“, 146,1f.) deutlich, wie sich in diesem Text die Zwischenstellung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit und zwischen zwei Autoren mit dem Hin und Her zwischen zwei Erzählsträngen und zwei literarischen Traditionen verbindet. Denn die in den Handschriften und frühen Drucken einzig erhaltene und damit weiter wirkende, ausgesprochen populär gewordene36 Version des Textes ist eben die, für die diese Doppelheit von antikem Mythos einerseits und stilnovistischem Liebesdiskurs andererseits konstitutiv ist, wie sich zum einen in den folgenden beiden Teilen zeigen soll, die nicht zuletzt die frühneuzeitlichen Umakzentuierungen sichtbar machen, zum anderen an einem diesen Beitrag abschließenden, die Resultate der drei Teile resümierenden Beispiel, das die wechselseitige Bezogenheit unterstreicht. Zugleich spiegelt sich diese Doppelung – der Gattungszugehörigkeit, der Autorschaft, der Kommunikationssituation, der Erzählstränge – sogar noch auf der Ebene des Mythos, der erzählten Geschichte, und macht so offenkundig, dass das Sein im Zwischenraum, zwischen unterschiedlichen Traditionen, weder einfach die Summe der Teile entstehen lässt noch sich in Inkohärenz und Widersprüchlichkeit erschöpft, sondern auf die Emergenz neuer, anderer Fragen verweist. Denn nicht nur ist hier, verglichen mit Plautus, nach dem Vorbild der mittellateinischen Version die Dienerfigur verdoppelt zu Geta und Birria (wobei im italienischen Text, wie dies die Zwillingsformel des Titels suggeriert, Birrias Rolle ausgebaut und insbeson35

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Guerri: La corrente popolare (wie Anm. 6), S. 16. Statt die umrahmenden Oktaven nur als überkommene und längst verblasste Formeln altbekannter Liebesklagen zu lesen, gälte es gerade, diese Anrufungen Amors und am Ende auch der Venus als Antwort auf die – üblicheren – religiösen Apostrophen, „le invocazioni religiosi che secondo la tecnica ormai fossilizzata del genere aprono e chiudono questi testi“ (Barbiellini Amidei: Quando il testo si fa voce [wie Anm. 18], S. 11), zu sehen, durch die sich Geta e Birria von vielen anderen cantari unterscheidet (vgl. die Beispiele in der zweibändigen Anthologie: Cantari novellistici. Dal Tre al Cinquecento, a cura di Elisabetta Benucci/Roberta Manetti/Franco Zabagli, Roma 2002 [I novellieri italiani 17]). Demgegenüber bewertet Lanza auf Guerris Pfaden, aber ohne dies mit Hilfe des Textes zu begründen, diese Strophen als „ottave amorose scipite e maldestre che tentano di scimmiottare malamente quelle che fanno da cornice al Filostrato e al Ninfale fiesolano“. Lanza: Il Geta e Birria (wie Anm. 4), S. 253f. Wie weit verbreitet die Erzählung war, illustriert nicht zuletzt ein in der Forschungsliteratur ausgesprochen häufig erwähntes Rezeptionszeugnis, der berühmte Brief Machiavellis an Francesco Vettori vom 10. Dezember 1513, in dem der Autor sich selbst mit Geta als einer unfreiwillig komischen Figur vergleicht und dabei ganz offensichtlich auf die Kenntnis des Textes auch bei seinem Leser vertrauen kann: vgl. John M. Najemy: Geta and the „Antiqui Huomini“ (The Letter of 10 December 1513), in: ders.: Between Friends. Discourses of Power and Desire in the Machiavelli-Vettori Letters of 1513–1515, Princeton N.J. 1993, S. 215–240, besonders S. 225–230.

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dere neben das wenig schmeichelhafte Porträt Getas ein gleichermaßen hässliches von Birria gestellt wurde); vor allem handelt es sich um eine Doppelgängergeschichte, die insbesondere in der Begegnung von Geta und Arcade komisch-dramatische und geradezu existenzbedrohende Züge annimmt, wie zu Beginn mit den Zitaten zur rätselhaften Mathematik des Textes bereits angedeutet. 2

Zwischen allen Identitäten: Identitätsverlust und Identitätssuche

Natürlich ist gerade das Doppelgängermotiv weder im mittelalterlichen noch im frühneuzeitlichen Text ein neues Element, basiert doch eben hierauf der Amphitryon-Mythos, dessen Verwicklungen sich bekanntlich gerade daraus ergeben, dass Jupiter und Merkur die Gestalt des Feldherrn Amphitryon und seines Dieners Sosia annehmen und so für die doppelte Verwirrung unter den Menschen sorgen, für die Eifersucht des Herrn auf einen vermuteten Rivalen und für den drohenden Selbstverlust seines Dieners durch denjenigen, der ihm seinen Namen nimmt. Dennoch setzen schon der Geta des Vitalis und erneut Geta e Birria andere Akzente, die auf andere von den Texten aufgeworfene oder hinter den Texten stehende Fragen deuten. Die offensichtlichste Veränderung ist dabei, neben der Doppelung der Dienerfiguren,37 zunächst die weitgehende Verlagerung der Handlung von der Herren- auf die Dienerebene, die zugleich eine eindeutigere Komisierung des bekannten, im Laufe seiner langen Geschichte sowohl tragisch als auch komisch als auch – eben bei Plautus – tragikomisch gestalteten Stoffes bewirkt.38 Schon der mittellateinische Geta macht demnach Amphitryon und Alkmene zu Randfiguren des Geschehens, eine Gewichtung, die die italienischen Autoren in ihrer Version übernehmen, ohne sich indes sklavisch an den Text der Vorlage zu binden. Vielmehr ist gerade die neuerliche Verschiebung interessant, die ein 37

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Möglicherweise steckt in der Doppelung, die „später im Repertoire der Commedia dell’Arte wieder auf[taucht]“, eine Erinnerung an „die halb verborgene Tradition des antiken Mimus“, wie Jauß bezogen auf den Geta des Vitalis vermutet: Jauß: Befragung des Mythos (wie Anm. 17), S. 547. Dies problematisiert bereits der Prolog des Amphitruo unter Hinweis auf den Publikumsgeschmack, dem der göttliche auctor, Mercurius, sein Stück anzupassen verspricht, und auf dessen gemischtes Personal: Gott und König verhindern, dass das Stück ausschließlich Komödie wird, die dem Sklaven zugewiesene Rolle lässt eine reine Tragödie unmöglich erscheinen; ergo wird daraus eine tragicomoedia gemacht. Vgl. die Verse 50–64 in Titus Maccius Plautus: Amphitruo. Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Jürgen Blänsdorf, Stuttgart 2002 (Reclams Universal-Bibliothek 9931), S. 10. Zu diesem Prolog im rezeptionsgeschichtlichen Kontext vgl. Jauß: Befragung des Mythos (wie Anm. 17), S. 538f.

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Blick auf die Anfänge der drei Texte enthüllt: Hatte Plautus die Dramenhandlung mit dem langen Streitgespräch zwischen Mercurius und dem armen Sosia begonnen, lässt Vitalis, der aus dieser Szene das Zentrum seines Textes machen wird, die Handlung seiner comœdia im Himmel mit Jupiters Entbranntsein für Almena und seiner Eifersucht auf den Menschen Amphitrion, dem eine solche Frau vergönnt ist, einsetzen. Alles folgende Handeln der Menschen ist demnach nur Konsequenz dieses göttlichen Treibens oder Triebes. Demgegenüber setzt der frühneuzeitliche Text gänzlich in der menschlichen Sphäre ein, mit Anfitrione und Almena, die damit hier den Rahmen der Erzählung abgeben, in deren Mittelpunkt zunächst Geta und Birria und dann Geta und Arcade stehen, bevor es zum glücklichen Ende kommt, das nicht mehr wie bei Plautus von einem Deus ex machina herbeigeführt wird.39 Hier begegnen sich, nachdem Giove sein Liebesfeuer gelöscht hat und in den Himmel zurückgekehrt ist (vgl. 168f.), erneut die vier Menschenwesen Geta, Birria, Anfitrione und Almena, bevor die beiden ersten in die Küche geschickt werden und die beiden letzten das Schlafgemach aufsuchen, um die vergangenen sieben Jahre nachzuholen – „per ristorare i perduti sett’anni“ (180,8) –, so dass mit diesem märchenhaften Ende nach den geradezu existenzbedrohenden Wirrungen alle zufrieden sein können: „con lunga vita ognun di lor fiorisce. | Così d’Anfitrion l’opra finisce“ (181,7f.: „ein langes Leben sei jedem von ihnen gegönnt. | Hiermit endet das Werk von Anfitrione“). Existenzbedrohend sind diese Wirrungen weniger, weil Anfitrione selbst hier – in einer Erinnerung an sein Feldherrn-Dasein, die für den Leser komisch ist, doch bei seiner Frau ängstliches Erstaunen auslöst: „Or che bisogna venir col coltello?“ (174,2: „Was musst Du mit dem Messer kommen?“) –, am Ende doch noch kurz die Waffen ergreift;40 existenzbedrohend sind und waren sie für den Diener, der mit ihm von der Reise zurückgekehrt ist. Wie bei Vitalis und anders als noch bei Plautus waren Herr und Diener nicht in den Krieg gezogen, sondern zum Studium nach Athen, doch anders als bei Vitalis, der die Abreise gar nicht thematisiert, sondern nur im Argumentum erwähnt, dass Amphitryon mit Geta zum Studium der Griechen verreist ist,41 wird die Trennung von der Frau im 39

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Schon im Mittelalter ist die durch den Deus ex machina herbeigeführte Lösung des Konflikts offenkundig nicht mehr möglich, sodass bereits Vitalis von Blois sie durch die elegante ‚realistische‘ Lösung des Traums ersetzt und dabei zugleich raffiniert vorführt, dass „eine Frau die Sophismata siegreich handhabt und den Mann und Studierten überwindet“, Schmidt: Untersuchungen zum „Geta“ des Vitalis Blesensis (wie Anm. 19), S. 99. Im Gegenteil, indem er die Waffen auf den mit engelsgleicher Stimme gesprochenen Befehl Almenas, „Baci e non arme piglia“ (174,4), sogleich bereitwillig wieder fallen lässt, entlarvt er dieses Agieren als Zitat und lenkt so einmal mehr den Blick auf den armen Geta, der sofort die Tür absperrt und das ganze Haus durchsucht (vgl. 175f.). Zu Beginn der Erzählung wird in einer Serie von Oppositionen noch einmal humorvoll auf den Wettstreit um Almena hingewiesen, insofern Jupiter sich selbst an die von Amphitrion besetzte Stelle zu setzen beabsichtigt und das Studium der Almena

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frühneuzeitlichen Text zum Problem, weil Almena nicht einfach hinnehmen will, dass ihr Mann sie verlässt.42 Dennoch nimmt Anfitrione sich vor, wie ein mittelalterlicher Ritter auszuziehen, aber die zu bestehende Prüfung, die er sich auferlegt, bevor er die geliebte Frau wiedersieht, ist kein körperlicher, sondern ein geistiger Kampf: […] O donna mia, ad Atene vogl’ir sanza soggiorno: et infin ch’i’ non so ben filosofia a rivederti già mai non ritorno […]. (5,1–4)43

Entsprechend ist das Ziel seiner Reise auch weniger der Erwerb von Ehre wie bei seinen mittelalterlichen Vorgängern oder eher ‚Vorreitern‘ als vielmehr der von Verstand: „Onesto è l’andar mio, po’ ch’io n’acquisto | senno, che sai ch’avanza ogn’altra cosa“ (9,1f.: „Ehrenwert ist mein Weggang, denn ich erwerbe dadurch | Verstand, der, wie du weißt, über allem steht“). Parallel hingegen sind die beiden Texte wiederum, zumindest auf der lexikalischen Ebene, was den Gegenstand der Studien angeht: Die Logik bzw. die Dialektik ist es, die die Adepten klug machen soll und die jeweils ins Blickfeld der Satire gerät, zugleich aber über das satirische Moment hinausgeht und auf einen epistemologischen Wandel verweist. Dabei steht im älteren Text die scholastische Methode im Vordergrund, wie sie von Abaelards Sic et non begründet wurde, das noch durch Getas verzweifeltes „Sic sum, sic non sum“ (V. 409) hindurchklingt, das Spiel mit den

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dem der Philosophie gegenübergesetzt wird, das Lesen dem Lieben und die Verehrung der artes jener Almenas: „Iupiter Almene studeat thalamo, uir Athenis | Philosophetur. Amet Iupiter, ille legat. | Disputet Amphitrion et fallat Iupiter. Artes | Hic colat, Almenam Iupiter ipse suam“ (V. 31–34: „Jupiter möge sich um Almenas Ehebett kümmern, ihr Mann | um die Philosophie in Athen. Jupiter möge lieben, jener lesen. | Amphitrion möge disputieren und Jupiter ihn betrügen. Dieser möge die freien Künste verehren, Jupiter seine Almena“). „Poi che hai preso per partito | di divenir filosofo perfetto | non so che dirmi; ma non è mia voglia | di star qui sola a morirmi di doglia“ (7,5–8: „Da du ja beschlossen hast, | ein vollkommener Philosoph zu werden, | weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll; aber ich habe keine Lust, | hier allein zu bleiben und betrübt zu sterben“). Erst in der zehnten Strophe hat Anfitrione seine Frau durch seine Schmeicheleien so weit besänftigt, dass sie immerhin einwilligt, da dies sein Wunsch sei: „Po’ che ti piace, i’ l’acconsento“ (10,4). Was auf der diegetischen Ebene ein kleiner – wiewohl in genderperspektivischer Betrachtung überaus interessanter – Ehekrach ist, lässt sich auf der Ebene der narration als vergnügliche Prolepse lesen, durch die das Einverständnis zwischen dem Erzähler und jenem Leser besiegelt wird, der den Mythos kennt und in Almenas Unlust, allein zu bleiben, schon eine Anspielung auf Gioves ungehindertes Eindringen ins eheliche Schlafgemach hört. „[…] O meine Dame, | nach Athen möchte ich unverzüglich aufbrechen: | Und solange ich die Philosophie nicht beherrsche, | kehre ich nicht zu dir zurück.“

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Trugschlüssen, von denen einige geradezu in den Text eingebaut sind, ferner der sogenannte Universalienstreit, der in der dem Namen beigemessenen Bedeutung mitschwingt, neu entdeckte Schriften von Aristoteles etc.44 Im neueren Text hingegen dürfte eher die Spätscholastik die Zielscheibe der Satire abgeben, wenn man an andere, ungefähr zeitgenössische Texte, Invektiven beispielsweise gegen Wilhelm von Ockham, denkt, die ihrerseits auf einen grundlegenden Wandel im Blick auf die Welt45 und damit auch in der Philosophie deuten. Trotz dieser Divergenzen ist es bezeichnenderweise beide Male die Logik, die das Unglück der unglücklichen Diener bewirkt und sie an den Rand des Wahnsinns bringt, wenn etwa der italienische Geta feststellen muss, dass alles, was er bei seiner Rückkehr erfährt, nicht mit der in Athen gelernten Lektion übereinstimmt: So schließt die Logik zwar nicht aus – „loica non vieta“ (103,3) –, dass zwei mit ähnlicher Stimme sprechen, und auch nicht, dass zwei Menschen denselben Namen tragen. Dass aber der andere ihn, ohne ihn zu sehen, exakt in all seiner Hässlichkeit, bei der Giotto den Pinsel verweigert hätte (vgl. 13,5),46 besser beschreiben kann, als er selbst es vermöchte (vgl. 122), dass er zudem über Getas Erinnerungen verfügt, als wären es seine eigenen (vgl. 105, 125–133), das lässt sich nicht mehr 44

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Vgl. Schmidt: Untersuchungen zum „Geta“ des Vitalis Blesensis (wie Anm. 19), S. 17, 91–94; Martin Grabmann: Die Sophismataliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts mit Textausgabe eines Sophisma des Boetius von Dacien. Ein Beitrag zur Geschichte des Einwirkens der Aristotelischen Logik auf die Ausgestaltung der mittelalterlichen philosophischen Disputation, Münster 1940 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 36,1), S. 12f. Vgl. in Kurt Flaschs Lektüre des Decameron als „Gewitterzone spätmittelalterlicher Konflikte“ die Darstellung Ockhams als Dialektiker, dem es „um die Erörterung des Verhältnisses von Wörtern und Sätzen zu Sachen, […] um Regeln für das Gewinnen neuer Sätze aus vorhandenen […,] um Sprachlogik“ ging: Kurt Flasch: Poesie als Philosophie. Eine Einleitung, in: Giovanni Boccaccio: Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron. Italienisch-Deutsch, neu übersetzt und erklärt von Kurt Flasch, Mainz 1992 (Excerpta classica 10), S. 13–32, hier S. 21–23. Die Anspielung auf Giotto und seine Malkunst lässt sich zugleich lesen als Hinweis auf das komplexe intertextuelle Spiel zwischen den Geta-Versionen und Boccaccios Texten. Denn auch in Boccaccios Amorosa visione führt der Erzähler Giotto als den einzigen, der diese übermenschlich schönen Fresken hätte malen können, ein und schafft so mit dem Hinweis auf die Malkunst ein Supplement für seine ungenügende Beschreibungskunst. Signifikant ist freilich der Unterschied, dass der kaschierte Unsagbarkeitstopos in Geta e Birria die unsagbare Hässlichkeit, in der Amorosa visione hingegen die unsagbare Schönheit sagen soll, der cantare mithin Boccaccios Text, in dem sich eine kurze Zusammenfassung des mittellateinischen Geta findet, herbeizitiert und dabei auf den Kopf stellt. Zur Funktion dieser Bezüge zur bildenden Kunst vgl. Barbara Kuhn: Sprechende Bilder und malende Worte: Boccaccios Amorosa visione als Vexierbild in Worten, erscheint in: Kunstgeschichten – Parlare dell’arte nell Trecento. Akten der Internationalen Tagung am Kunsthistorischen Institut Florenz, 4.–6. Juni 2009, hg. von Gerhard Wolf [im Druck].

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mit Hilfe der Logik erklären und löst Zweifel weniger an dieser Logik als vielmehr am eigenen Ich aus: „Son io errato?“ (107,1: „Irre ich?“), „Son impazzato, od ho il cervello secco […]?“ (110,1f.: „Bin ich verrückt geworden oder ist mein Gehirn vertrocknet […]?“). Die Logik lehrt den Satz vom Widerspruch, dem zufolge etwas, das ist, nicht gleichzeitig nicht sein kann, doch eben dies muss Geta hier erfahren: Er ist, und er ist nicht. Sie lehrt den Satz von der Identität, dem zufolge A gleich A ist, aber hier gilt nicht mehr, dass Geta gleich Geta ist, wenn Ich Geta ist und der andere Geta ist, dann wäre Ich gleich dem anderen, was absurd scheint. Und schließlich lehrt sie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, dem zufolge es zwischen Sein und Nicht-Sein eines Gegenstands kein Drittes gebe, was Geta zu dem Schluss führt, er müsse nichts sein, da ja der andere Geta sei. Kein logischer Schluss ermöglicht ihm, zwingend auf seine Existenz oder auf seine Nicht-Existenz zu schließen: Gegen Erstere spricht die Existenz des anderen, der von sich behauptet, er sei Geta; gegen Letztere sprechen seine Sinneserfahrungen, die Tatsache, dass er sich selbst hören, sehen, berühren und spüren kann, obwohl doch offenbar sein Sein erloschen ist (vgl. 139). Schuld an allem ist die zu Unrecht verehrte Logik, die er in einer großen Apostrophe ob ihrer Falschheit verflucht, weil sie ihn zu nichts habe werden lassen, indem sie ihm Namen und Sein geraubt habe: Loica! Maladetto sia chi prima mi disse che tu eri il fior d’ogn’arte; i’ feci d’appararti grande stima, e per lodarti empiuto ho mille carte: or hai sì fatto con tua falsa lima ch’el nome, e l’esser mio da me si parte; dov’util di saperti riputava, sì tu mi nuoce, e quanto puoi mi grava! (140,1–8)47

Sind sich in dieser Verfluchung und in der Schuldzuweisung der mittelalterliche und der frühneuzeitliche Geta einig,48 scheinen doch insbesondere die Unterschiede zwischen beiden interessant, weil sie die neuerlichen Verschiebungen beleuchten, die vom 12. bis zum 15. Jahrhundert erfolgen und damit einen Blick auf die in der frühen Neuzeit – nicht zuletzt durch deren erneuten ‚Dialog mit der 47

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„Logik! Verflucht sei, wer zuerst | mir sagte, du seist die Blüte jeder Kunst; | ich achtete es hoch, dich zu erlernen, | und um dich zu loben, füllte ich tausend Blätter: | nun hast du mit deiner falschen Feile bewirkt, | dass mir mein Name und mein Sein abhanden kommen; | wo ich es für nützlich hielt, dich zu kennen, | schadest du mir und drückst mich nieder, so sehr du kannst!“ „Pereat dialectica, per quam | Sic perii penitus. Nunc scio: scire nocet“ (V. 409f.: „Untergehen soll die Dialektik, durch die | ich selbst so ganz und gar zugrunde gegangen bin. Nun weiß ich: Wissen schadet“), hatte es bei Vitalis geheißen, der das verderbliche Wirken der Dialektik durch die Anhäufung von Alliteration, Chiasmus, Polyptoton und Paronomasie in nur zwei Versen wirkungsvoll unterstreicht.

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Antike‘ – gewandelten Fragen erlauben. Vor allem anderen scheint die Frage der Metamorphose und mit ihr der mögliche Verlust der Identität49 deutlich stärker als zuvor im Mittelpunkt des Denkens und der Beunruhigungen50 zu stehen, wie der Vergleich der beiden Texte ergibt. Die Frage nach der Stellung des Menschen zwischen Gott und Tier war offenbar spätestens in der frühen Neuzeit erheblich ins Wanken geraten, schon vor Kopernikus und Galilei und auch schon vor Pico und seiner Oratio de hominis dignitate. Dabei rückt in Geta e Birria die Metamorphose der Götter in Menschen, die ja den Amphitryon-Mythos als Verbindung von Himmel und Erde, von Gott und Mensch fundiert, ausdrücklich in den Hintergrund: nicht nur, weil hier die Geburt des Herkules, die die Renaissance dann so häufig im ernsten Modus thematisieren sollte,51 überhaupt keine Rolle spielt;52 mehr noch wird diese Metamorphose der Götter, die menschliche Gestalt annehmen, wie der Erzähler befürchtet, seinem Publikum ohnehin verschlossen bleiben: „come comprenderete che mai fosse | l’umana forma presa dagl’idii? | Non veggio il modo“ (47,2–5).53 Außerdem lässt der Text mehrfach deutlich werden, dass diese angebliche Verwandlung im Grunde eher eine Art Verkleidung ist, da nicht zuletzt die hellseherischen Fähigkeiten des falschen Geta unterstreichen, dass er stets seine göttlichen Attribute behält. Darauf insistieren sowohl die Verse, die beschreiben, wie die beiden Götter bei Almena ankommen – „l’un par lo sposo, e l’altro il suo famiglio“ (56,8: „der eine scheint der Gatte zu sein, der andere dessen Diener“) –, als auch Jupiters Finte, als er sich nach erfolgtem Liebesgenuss wieder von Almena davonstehlen will und dafür vor ihr Theater spielt, indem er fingiert, er müsse noch einmal zu den Schiffen zurückkehren (vgl. 168). Statt der Gott-Mensch-Metamorphose widmet Geta e Birria jedoch der Mensch-Tier-Metamorphose wesentlich mehr Raum als der mittelalterliche Ge49

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„L’interesse del Geta e Birria, e la ragione della sua vasta diffusione, sta, oltre che nella maniera in cui è costruito, nella tematica trattata: la comica quête da parte del servo Geta della sua identità perduta.“ Picone: Il racconto (wie Anm. 9), S. 679. Und damit auch der literarischen Bemühungen, wie Chiarini unterstreicht: „il motivo delle metamorfosi diventò assolutamente centrale in una cultura nella quale l’intervento riplasmatore dell’artefice su uomini e cose era visto come banco di prova decisivo del talento individuale.“ Chiarini: Novelle italiane (wie Anm. 2), S. XII. Vgl. Picone: Il racconto (wie Anm. 9), S. 678. Im Gegenteil hat diese Almena bereits einen Sohn, der, so wie die Mutter, die sieben Jahre lang quasi verwitwet ist, durch die Abreise des sich seinen philosophischen Studien widmenden Vaters ebenso lange verwaist, und von einer erneuten Schwangerschaft ist nicht die Rede. Dass schon bei Vitalis Herkules keine Rolle spielt, betont bereits Montaiglon: Anatole de Montaiglon: Le Livre de Geta e de Birria, ou l’Amphitryonéide. Poème latin composé par un auteur inconnu nommé Vitalis, et publié d’après cinq manuscrits de la Bibliothèque nationale, in: Bibliothèque de l’école de Chartres 9 (1848), S. 474–505, hier S. 477. „Wie werdet ihr je verstehen, was | die von den Göttern angenommene Menschengestalt ist? | Ich sehe keinen Weg.“

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ta, ist doch diese – stets bedrohliche, weil die Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Lebewesen in Frage stellende – Verwandlung bereits vor der Entfaltung des Doppelgängermotivs in der Episode, die die beiden Diener konfrontiert, ein großes Thema. Spielt diese Metamorphose in Plautus’ Version des Mythos keine Rolle, klingt sie bei Vitalis immerhin an, zumal die bereits erwähnten mittelalterlichen Trugschlüsse, die hier quasi zitiert werden, immer wieder auf die mögliche Verwandlung des Menschen in einen Esel oder auch auf sein EselSein eingehen.54 Schon im mittellateinischen Text ist Geta folglich eine lächerliche Figur, weil er die Trugschlüsse für wahr hält, mithin glaubt, er könne Birria tatsächlich mittels seiner überragenden Logikkenntnisse in einen Esel verwandeln.55 Dies greift der cantare unmittelbar auf, und auch hier lässt sich Birria, der schon in der lateinischen Version geantwortet hatte: „erit Birria semper homo“ (V. 172: „Birria wird immer ein Mensch sein“), von den Allmachtsphantasien des studierten Dieners nicht erschrecken: „[…] sommo loico son, onde si prova che l’asino sia uom mostro per prova. Così farò di ciascuno animale, sillogizando, mutar forma e nome, ciascun del suo prim’esser diseguale, e così a’ colori, all’erbe ancora, a’ pomi. El Birria, perché è lento e poco vale, asino vo’ che sia, perché si domi la schiena sua.“ Il Birria fra sé giura: „Ma’ non mi to’ quel che mi dié natura. Ciò che tu mi dirai, Geta, per certo, con tuo sofismi e con tue false prove, i’ ti risponderò col viso aperto: i’ son ver uom, com’è piaciuto a Giove.“ (79,7–81,4)56 54

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Vgl. die zahlreichen Beispiele in Traktaten mittelalterlicher Logiker, die sich in den Textanhängen (Vol. I, Appendices, und Vol. II.2, Textband zu Vol. II.1) in Lambert Marie de Rijks monumentaler Studie finden und jeweils über den Index sophismatum et exemplorum erschlossen werden, der auch den „asinus“ aufführt: Lambert Marie de Rijk: Logica modernorum. A Contribution to the History of Early Terminist Logic, Assen 1962–1967. Vgl. auch Grabmann: Die Sophismataliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts (wie Anm. 44), S. 21f. Zum Mensch-Esel-Trugschluss vgl. Schmidt: Untersuchungen zum „Geta“ des Vitalis Blesensis (wie Anm. 19), S. 85 und 92. „‚Der größte Logiker bin ich; wie man beweist, | dass der Esel ein Mensch ist, führe ich vor. || So werde ich durch Syllogismen eines jeden Lebewesens | Gestalt und Namen verwandeln, | jeden anders als sein ursprüngliches Wesen machen, | und ebenso die Farben, die Kräuter auch und die Früchte. | Birria will ich, da er langsam und wenig wert ist, | zum Esel machen, damit sein Rücken | gezähmt werde.‘ Birria schwört

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Doch schon vor der Begegnung der beiden Diener spielt die Mensch-TierThematik eine Rolle, und zwar in Birrias Klage darüber, dass Almena aufgrund der Nachricht von der bevorstehenden Rückkehr Anfitriones ihn geweckt und zum Hafen geschickt hatte: aus seiner Perspektive eine ungeheuerliche Zumutung, die er zuerst hartnäckig überhört, dann wegzureden versucht hatte (vgl. 51– 56), doch Almena bleibt noch hartnäckiger, sodass er wohl oder übel losziehen muss, sich aber unterwegs in einem Selbstgespräch bitterlich über sein so schweres Schicksal beklagt. Was im Text von Vitalis nur neun Verse in Anspruch genommen hatte, umfasst hier 24 (vgl. 64–66), doch nicht nur die quantitative Veränderung fällt auf: Beschwerte sich der mittelalterliche Birria vor allem über die Frau, kommt hier zur Misogynie der Neid auf die Tiere hinzu, die nicht wie er dem Joch einer „femmina vana“ (65,2) unterworfen sind: „s’i’ fussi porco, e mangiassi nel truogo, | me’ mi sarebbe, ch’aver forma umana“ (65,3f.: „wäre ich ein Schwein und fräße aus dem Trog, | das wäre besser für mich, als menschlicher Gestalt zu sein“). Es fällt schwer, in der Figur, die diese Worte äußert, wie Lanza die positivste Gestalt der gesamten Erzählung zu sehen, die Verkörperung von Weisheit und gesundem Menschenverstand, von „sana saggezza contadina“ und „buon senso comune“57. Weder war sie am Anfang der Erzählung schmeichelhafter porträtiert worden als ihr Pendant Geta noch steht Birria für irgendwelche positiven Eigenschaften: Nur seine Faulheit, seine Langsamkeit und sein geliebter Rückzug in die Küche werden immer wieder hervorgehoben. Dieser Birria, dem das tierhafte Dasein genügen würde und der alle Götter verflucht – „bestemmiava ogni parte superna“ (74,2) –, weil er nun zum Hafen gehen soll, ist alles andere als ein weiser Vertreter des gesunden Menschenverstands, auch wenn er selbst von sich glaubt, im Unterschied zu Geta, der bereits mit einem Teil des Gepäcks beladen vom Schiff kommt, der wahre Mensch zu sein und vernunftgemäß zu leben, da er sich der Arbeit zu entziehen trachtet, während Geta als eine Art Packesel für ihn einer anderen Art anzugehören scheint. Entsprechend zeigt er keinerlei Empathie, selbst wenn der andere an seiner Schlepperei zugrunde ginge:

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leise: | ‚Niemals wirst du mir nehmen, was die Natur mir gab. || Was du mir auch sagen wirst, Geta, sei gewiss, | mit deinen Sophismen und deinen falschen Beweisen, | ich werde dir offenen Blickes antworten: | ich bin ein wahrer Mensch, wie es Jupiter gefallen hat.‘“ Lanza: Il „doppio“ nel Rinascimento (wie Anm. 15), S. 204. Ähnlich wieder in dem Aufsatz von 2007, in dem die These noch dadurch überboten wird, dass sich der Autor mit eben dieser Figur vollständig identifiziere: vgl. Lanza: Il Geta e Birria (wie Anm. 4), S. 248. Dieselbe reduktive Opposition hatten Guerri und vor ihm Montaiglon schon bezogen auf Vitalis’ Text aufgestellt, wie Levi bereits 1932 moniert, und auch hier wird sie dem Text nicht gerecht: vgl. Giulio Augusto Levi: La novella di Geta e Birria e la sua fonte latina, in: Convivium 10 (1932), S. 522–527, hier S. 524.

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i’ son mal vago di portare incarco; così perisca quel Geta poltrone, che com’asino è vago d’esser domo, ma i’ vivo a ragione, e son ver uomo. (69,5–8)58

Die beiden tauschen geradezu die Attribute untereinander aus. Jeder hält den anderen aus anderen Gründen für den wahren Esel und sich selbst für den wahren Menschen, sodass der Text die Verbindung zu den Trugschlüssen der Logiker intensiviert,59 vor allem aber jede der beiden Figuren als das Spiegelbild der jeweils anderen und damit beide Positionen lächerlich erscheinen lässt. Beispielsweise tut sich Geta, der sich doch so viel auf seine neu erworbenen Kenntnisse zugutehält und glaubt, alle würden nun erfahren, „quanta scienza mia mente assottiglia“, und ihn daher „Maestro Geta“60 nennen (94,4–5), ebenfalls drei Strophen lang (vgl. 77–79) ebenso leid wie Birria, den er beneidet, weil er „tanto divora | di bere e di mangiar che pare un orso“61 (77,3f.), und den er gerne den getrunkenen Wein durch die zu tragenden Lasten wieder ausschwitzen lassen würde (vgl. 77,5–7). Noch komischer als der vermeintlich wahre Mensch, der zugleich lieber ein Schwein wäre, wirkt der „sommo loico“, der am liebsten ebenfalls wie ein Bär fressen und saufen würde und gleichzeitig von sich glaubt, er habe die Macht, mittels seiner Syllogismen die anderen Lebewesen zu verwandeln. Einmal mehr scheint der Text auf Picos erwähnte Rede samt ihrer Ironie vorauszudeuten, auf jenen Gipfelpunkt menschlicher Entwicklung und menschlicher Würde, den allein der Philosoph erreichen könne, auf den Zusammenhang mit der Erhebung des Menschen über seine körperlichen Bedürfnisse, auf seine Degradierung zu tier- oder gar pflanzenartigen Wesen, wo dies nicht gelinge, etc. Beide, Geta und Birria, halten sich demnach für überlegen und erfahren doch sogleich ihre Grenzen: So glaubt Birria, sich vor der anstrengenden Qual, die Lasten vom Hafen nach Hause tragen zu müssen, schützen zu können, indem er sich in einer Höhle versteckt, als er Geta schwer beladen sich entgegenkommen sieht. Dieser hatte ihn jedoch bereits erspäht und setzt seine List gegen die des anderen ein: Er gibt vor, in der Höhle etwas gehört zu haben, möglicherweise einen Hasen oder ein Kaninchen, und wirft Steine hinein, um es zu töten und 58

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„Ich begehre nicht, Lasten zu tragen; | möge doch dieser Faulpelz Geta umkommen, | der wie ein Esel begehrt, gezähmt zu werden, | ich hingegen lebe vernünftig und bin ein wahrer Mensch“. Die mittellateinische Version spricht an dieser Stelle nicht von einem Esel, sondern von einem beliebigen Lasttier ohne Bezug zum restlichen Text: „pondera portet equus, Birria uiuat homo“ (V. 130: „soll dieser Gaul die Lasten tragen; Birria lebe als Mensch“). „Wenn sie eindeutig erfahren werden, | wie viel Wissenschaft meinen Geist verfeinert, | werden mich alle Meister Geta nennen.“ „Er verschlingt so viel | beim Essen und Trinken, dass er ein Bär zu sein scheint.“

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seinem Herrn zum Festmahl mitzubringen – eine Episode, die an Boccaccios Calandrino-Novelle am achten Tag des Decameron erinnert und auch gelegentlich mit ihr als möglicher Quelle in Verbindung gebracht wird,62 obwohl gerade sie sich sehr ähnlich bereits in der mittellateinischen Erzählung findet, die Boccaccio selbst in einer seiner Handschriften abgeschrieben hatte, die er außerdem mehrfach in seinen Werken erwähnt63 und in der Amorosa visione sogar kurz 62

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Vgl. Guerri: La corrente popolare nel Rinascimento (wie Anm. 6), S. 10. Entsprechend ist auch Lanzas These, die Autoren des cantare hätten sich für die Episode des in seinem Versteck ‚gesteinigten‘ Birria an Boccaccios ebenfalls ‚unsichtbarer‘ bzw. sich unsichtbar glaubender und von den Freunden mit Steinen beworfener Figur Calandrino in der dritten Novelle des achten Tages im Decameron inspiriert, zumindest dahingehend zu nuancieren, dass umgekehrt schon Boccaccio sich für diese Calandrino-Episode möglicherweise am lateinischen Geta orientierte, der ihm, wie dessen Epitome in der Amorosa visione und die in jungen Jahren angefertigte Abschrift belegen, offenbar wohlvertraut war. Auf diese ‚umgekehrte‘ Filiation weist wiederum bereits Levi (vgl. Levi: La novella di Geta e Birria [wie Anm. 57], S. 527) mit seiner auf die Primärtexte gestützten Kritik an Guerri hin, auf den sich Lanza jedoch unbeirrt beruft. Auch Borlenghi spricht in der kurzen Einleitung zu der Novelle in der von ihm herausgegebenen Anthologie davon, hier sei „ripreso il tema della burlesca lapidazione di Calandrino nel greto del Mugnone, del Boccoccio“, Borlenghi: Novelle del Quattrocento (wie Anm. 20), S. 42f., und noch Picone erwähnt im Zusammenhang mit der ‚Unsichtbarkeit‘ Birrias Calandrino als dessen „modello trecentesco“ (Picone: Il racconto [wie Anm. 9], S. 680), ohne auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede im lateinischen Vorbild einzugehen. Vgl. Chiarini: Novelle italiane (wie Anm. 2), S. XII. Nicht das vermeintliche „modello trecentesco“ (Picone) gibt demnach erschöpfend Aufschluss über die Verschiebungen, sondern vor allem der Vergleich mit der entsprechenden Passage in Vitalis’ Version. Auf Birrias Flehen, Geta möge keine Steine mehr werfen, da er doch Birria sei, verlangt hier Geta als Beweis, der andere solle seinen Kopf aus der Höhle strecken, was dieser unverzüglich im selben Vers tut: „‚Ergo caput profer!‘ ‚Iam profero. Saxa repone, | Ne caput hoc pereat ad tua saxa meum!‘“ (V. 207f.: „‚Also streck deinen Kopf heraus!‘ | ‚Ich strecke ihn ja schon heraus. Leg die Steine weg, | damit dieser mein Kopf nicht durch deine Steine getroffen wird!‘“). Ebenso rasch ist im folgenden Vers der Zweikampf schon beendet – „Cessat hic, hic exit“ (V. 209: „Jener hört auf, dieser kommt heraus“) –, und es folgen unmittelbar Getas Frage, weshalb er sich denn in der Höhle versteckt habe, wo dies doch seinen Tod hätte bedeuten können, und Birrias Hinweis auf den Mond, der sich schließlich ebenfalls verstecke, sodass auch er diesem Beispiel folgen dürfe; beide, Frage und Hinweis, greift der cantare auf (vgl. 89,8–90,8). Sprechend aber sind einmal mehr die Verse, die der italienische Text zwischen Birrias Flehen und Getas Warnung vor der tödlichen Gefahr gegenüber der älteren Version hinzufügt (vgl. 87,7–89,8). Besteht Getas List zunächst darin, rundweg die Anerkennung der Identität Birrias zu verweigern – „Anima stolta, | tu non se’ il Birria“ (88,3f.: „du dumme Seele, | du bist nicht Birria“) –, hofft Birria verzweifelt, der andere müsse doch seine Identität, sein Id est bzw. „ich bin“, an seiner Stimme erkennen: „Ora m’ascolta: | non mi conosci tu pure alla boce? | Deh, pon giù e sassi, i’

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nacherzählt. Anders aber als Calandrino, der über die Steinigung durch die Freunde glücklich ist, weil sie ihm, wie er glaubt, seine Unsichtbarkeit beweist, schwebt Birria sehr rasch in Todesängsten und verwandelt sich damit vom Überlegenen, der sich nicht zum Lastentragen erniedrigt, in einen Bettler um die bloße Existenz, der sich der Macht des noch Listigeren, dessen List er nicht durchschaut, unterwirft und für das nackte Leben seine Souveränität hingibt: „Geta non gittar, ch’i’ sono | il Birria, e viver voglio per tuo dono“64 (87,7f.) ruft er zuerst, und wenig später gar: „Deh, pon giù i sassi, i’ sono il Birria tuo: | non dee il signor guastare il servo suo“65 (88,7f.). Mag Geta hier als der Sieger aus der Begegnung hervorgehen, fleht er doch unmittelbar danach, als er mit Arcade streitet, wer denn nun der wahre Geta sei, mit beinahe denselben Worten um seine bloße Existenz: „Sia tu me; i’ mi ti dono, | po’ che di me a me nulla mi resta“66 (134,5f.). So wird er seinerseits, wie Schmidt dies bereits über den mittelalterlichen Geta schreibt, vom überheblichen Philosophen zum bittenden Winsler67 und damit, ungeachtet der scheinbaren Verschiedenheit, zum Spiegelbild Birrias, dem angesichts des drohenden Nichts nichts von seiner Überheblichkeit bleibt. Allerdings kann sich Birria, der über-

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sono il Birria tuo“ (88,5–7: „Jetzt hör mir zu: | Erkennst du mich nicht an der Stimme? | Auf, leg die Steine hin, ich bin dein Birria“). Doch nicht genug mit dieser Auslieferung des Ich an das Du um den Preis der Bestätigung der fraglich gewordenen Identität; Geta treibt sein grausames Spiel mit der Angst des anderen, die wiederum proleptisch auf seine eigene Begegnung mit Arcade und die ungleich weiterreichende Bedrohung seines Selbst vorausdeutet, noch eine Weile weiter. Gleich mehrfach lässt er sich „con giuri e con segni“ (89,2: „mit Schwüren und mit Zeichen“) die Identität des anderen bezeugen – „Più volte fece il Gieta farsi fede, | che fusse desso“ (89,1f.: „mehrmals ließ Geta ihn beschwören, dass er jener sei“) –, bevor er in einer huldvollen Geste – „I’ non saprei negar merzede“ (89,3: „ich kann die Gnade nicht verwehren“) – dem anderen das Verlassen der Höhle und damit eine Art pseudoplatonische Wiedergewinnung seiner Identität als der Mensch Birria gestattet. Zentral, weil offenkundig problematisch, ist folglich, wie die Accumulatio der Identitätsnegierungen und -bezeugungen unterstreicht, eben diese Frage der Identität eines Ich geworden, und bereits hier klingt an, was die Erzählung in der Folge auseinanderfaltet und potenziert, indem sie nicht nur der Verweigerung der Selbstgewissheit wesentlich größeren Raum und mehr Variationsbreite als der antike und der mittelalterliche Text gibt. Sie steigert zudem die schon hier eingeführte Evidenz, dass das „Ich bin“ essentiell abhängig ist von der Anerkennung durch ein Du, durch den Charakter des Unheimlichen, der aus Merkurs bzw. Arcades göttlichem Wissen über Geta resultiert und weit über die – ebenso perfide wie primitive – List Getas gegenüber Birria hinausreicht. „Geta, wirf nicht, ich bin doch | Birria, und ich will dank deiner Gnade leben.“ „Halt ein, leg die Steine ab, ich bin dein Birria: | Der Herr darf seinen Diener nicht verderben“. „Sei du ich, ich gebe mich dir hin, | weil mir von mir nichts bleibt.“ Vgl. Schmidt: Untersuchungen zum „Geta“ des Vitalis Blesensis (wie Anm. 19), S. 88.

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zeugt ist, er werde immerhin in anderer Gestalt weiterleben, selbst wenn eine Verwandlung gelingen sollte,68 kurz danach wieder als freier Mensch, als „uom franco“ (92,6) fühlen, auch wenn seine ganze Freiheit nur darin besteht, den Moment des Lastentragens durch möglichst große Langsamkeit noch etwas hinauszuzögern: „E’ convien ch’i’ m’affronti | a recar di que’ pesi com’uom franco, | po’ che schifare non gli posso, almeno | m’indugerò, quant’a giugner vi peno“ (92,5–8).69 Für Geta hingegen, den umgekehrt Arcade in der DoppelgängerEpisode gleich zweimal als Vieh und als Lasttier, „bestia da some“ (114,6; vgl. 102,2), bezeichnet, verknüpft sich das Thema der Metamorphose mit der Frage der Existenz und erweist sich folglich als ungleich entscheidender. Denn während Birria zwar außer der Arbeit auch den Tod fürchtet, aber sich, solange er lebt, seines Seins gewiss ist, fühlt Geta sich dank seiner Kenntnisse in Sachen Logik durch die Existenz eines anderen Geta, der glaubhaft versichert, er sei der wahre Geta, von der Nicht-Existenz bedroht, eben weil ihm, wie im „di me a me nulla mi resta“ die staccatoartige Iteration des me und mi einhämmert, nichts von sich selbst übrigbleibt, nachdem dies alles der andere usurpiert hat, sodass er der trügerischen Logik abschwört: Troppo m’ingannan ora i fatti tuoi, e le tue prove usate falsamente, con esse faccia altrui asini e buoi, or di me stesso sono fatto niente. (142,1–4)70

Wie die verzweifelt wiederholten und zu Beginn zitierten Rechenspiele ihm immer wieder vor Augen führen, gibt es, wenn er nicht der eine Geta ist, wenn also die bislang fraglos angenommene Eins als Lösung der Frage nach dem Ich wegfällt, nur die Null oder die Zwei: Entweder gibt es zwei Geta nebeneinander und damit keine Individualität; oder aber der andere hat ihm mit seiner Stellung im Haus, seinem Namen und seinem Aussehen sowie seinen Erinnerungen alles genommen, seine Rollenidentität, seine natürliche Identität und seine Ichidentität,71 sodass ihm aufgrund dieser durch die Verdoppelung bewirkten paradoxen Subtraktion nur die Null oder das Nichts bleibt. Nicht einmal die Existenz des 68

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„Puossi ben tramutare in atto strano, | ma pur del mondo non far mai partita; | dunque sarò io sempre il Birria“ (82,1–3: „Gesetzt, es gäbe eine merkwürdige Verwandlung, | kann etwas doch nicht von der Erde verschwinden; | ich werde also immer Birria sein“). „Es schickt sich, dass ich mich dem Tragen | dieser Lasten wie ein freier Mensch stelle, | da ich sie schon nicht umgehen kann, werde ich zumindest | mich solange unterwegs aufhalten, wie ich kann.“ „Zu sehr täuschen mich nun deine Taten | und deine falsch eingesetzten Beweise, | mögen andere mit ihnen Esel und Ochsen erzeugen, | ich bin nun aus mir selbst zu nichts geworden.“ So Jauß über Molières Sosie, in: Jauß: Befragung des Mythos (wie Anm. 17), S. 557.

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ihm entgegenkommenden Anfitrione scheint ihm zweifelsfrei – „sendo niente può egl’ire?“ (143,7: „wenn er nichts ist, kann er dann gehen?“) –, und mehr noch ist er selbst durch das Wirken der Logik geradezu vernichtet: Vedi quel che la loica m’ha fatto, che, s’egli è, o non è, non so per vero! E anche me per tal modo ha disfatto, che nulla son secondo il mio pensiero […]. (144,1–4)72

Die Entdeckung des eigenen Nichts ist bei Vitalis unmittelbar durch den Verlust des Namens bedingt und kann folglich in einem logischen Schluss in nur vier Versen resümiert werden, weil der Name die Existenz der Sache garantiert hatte und mit dem Fehlen des Namens auch das von ihm Bezeichnete fehlen muss.73 Da ihr dann aber doch die sinnliche Erfahrung widerspricht, bleibt nur das bereits zitierte „Sic sum, sic non sum“74 (V. 409), das Nebeneinander der widersprüchlichen Aussagen, aus dem dieser Schüler, anders als von Abaelard gedacht, keinen Ausweg findet, sodass er nur mehr die Dialektik verfluchen und als einzigen Schluss formulieren kann: „Nunc scio: scire nocet“. In Geta e Birria hingegen nimmt die Klage ganze 20 Verse ein (vgl. 136,5–138,8) und wird das Thema auch in der Folge ungleich breiter entfaltet, weil, wie es im folgenden dritten Teil zu zeigen gilt, das Thema der geraubten Identität, das im Motiv des Doppelgängers durchdekliniert wird, und das Thema der ebenfalls die Identität bedrohenden Metamorphose hier verbunden werden mit der Frage nach dem Menschen als einem Wesen aus Körper und Geist.

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„Sieh, was die Logik aus mir gemacht hat, | dass ich, ob er ist oder nicht ist, nicht sicher weiß! | Und auch mich hat sie auf diese Weise zerstört, | der ich meinem Denken zufolge nichts bin.“ „Geta quidem non sum Getaque dicor ego. | Si non sum Geta, non debeo Geta uocari. | Geta uocabar ego; quod mihi nomen erit? | Nomen erit nullum, quia sum nihil. Heu mihi, nil sum!“ (V. 400–403: „Gewiss bin ich nicht Geta, und werde doch Geta genannt. | Aber wenn ich nicht Geta bin, darf ich nicht Geta genannt werden. | Geta wurde ich genannt; welcher Name wird nun der meinige sein? | Kein Name wird sein, da ich ja nichts bin. Weh mir, ich bin nichts!“). Was kurz zuvor bloße Möglichkeit gewesen war – „ego sim nihil“ (V. 393: „ich sei nichts“) –, hat sich hier vom Potentialis in die Gewissheit des Indikativs verwandelt. Vgl. auch Schmidt: Untersuchungen zum „Geta“ des Vitalis Blesensis (wie Anm. 19), S. 89. Zu parallelen Strukturen zwischen der mittelalterlichen Literatur und dem Denken der Frühscholastik bzw. Abaelards Sic et Non vgl. auch Irene Lanz-Hubmann: „Nein unde jâ“: Mehrdeutigkeit im „Tristan“ Gottfrieds von Strassburg: ein Rezipientenproblem, Berlin u.a. 1989 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 5), S. 159 et passim.

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Die Frage nach dem Menschen

Denn ganz fraglos nimmt der frühneuzeitliche Geta seine Nichtung keineswegs hin; vielmehr sucht er nach immer neuen Erklärungsmöglichkeiten des Unerklärlichen, die freilich, da er sie nach und nach verwerfen muss, immer phantastischer werden und damit – außer von der sich steigernden Komik – von seiner sich gleichermaßen steigernden Verzweiflung zeugen. Hatte er zunächst, als er die Stimme des falschen Geta vernehmen musste, noch eine neue List Birrias erwogen, der auf einem anderen Weg schneller als er zum Haus zurückgeeilt wäre (vgl. 107), denkt er anschließend darüber nach, ob die Stimme im Innern des Hauses möglicherweise das Echo seiner eigenen Stimme sein könnte (vgl. 110). Auch diese noch natürliche oder diesseitige Lösung hat jedoch keinen Bestand, wenn der drinnen ihm ausführlich sein eigenes Äußeres wie auch sein Innerstes, die Erinnerung an die Anfitrione gegenüber in Athen verübten Schandtaten, schildern kann, sodass er als nächstes Denkexperiment, da er ja doch noch in menschlicher Gestalt existiert, in Erwägung zieht, ob er sich nicht vielleicht durch seine Studien in Platon oder einen anderen Griechen verwandelt habe (vgl. 136). Weil er aber weiß, dass er, wenn er Mensch ist, eben Geta wäre, bleibt auch bei diesem Versuch wieder nur das Nichts als conclusio des neuerlichen Syllogismus stehen: „I’ sarò uomo e non altro animale, | […] essendo uom sare’ Geta, com’i’ soglio; | dunque nulla son io […]“ (136,5–8).75 So versucht er es anschließend noch mit einer vierten Erklärung, indem er sich selbst in Körper und Seele bzw. Geist aufspaltet und überlegt, ob die eine Hälfte im Haus, die andere davor sich befinden könnte, doch sogleich tun sich neue Aporien auf: Sarebbe mai che l’alma, con ch’i’ rendo a me ’l giudizio, fosse entrata dentro, e me lasciassi fuori, e ripetendo ogni mi’ atto dalle coste al centro? Esser potria; ma or come i’ comprendo che i’ stia in vita, s’i’ non hommi dentro spirito ch’entenda, apprenda e serbi, e speri e tema, objetti in atti o ’n verbi? (138,1–8)76

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„Ich werde ein Mensch sein und kein anderes Lebewesen | […;] wäre ich ein Mensch, wäre ich Geta, wie ich es üblicherweise bin. | Also bin ich nichts.“ „Sollte es etwa so sein, dass die Seele, mit der ich | urteile, hineingegangen wäre | und mich draußen gelassen hätte und nun all mein | Tun vom Äußeren bis ins Innerste wiederholt? | Das könnte sein; aber wie verstehe ich dann, | dass ich am Leben bin, wenn ich nicht in mir | den Geist habe, der versteht, lernt und bewahrt | und hofft und fürchtet, mit Taten oder Worten entgegnet?“

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Konsequent zu Ende gedacht, entlarvt das Gedankenexperiment selbst die Unmöglichkeit seiner Realisierung, und noch mehr verwirrt die sinnliche Erfahrung, denn wie kann es sein, „s’i’ parlo, i’ m’odo, veggio e sento“ (139,1), dass das eigene Sein erloschen sein soll: „questo com’è che l’esser mio s’è spento?“ (139,5: „wenn ich spreche, mich höre, sehe und fühle, | […] wie kann mein Sein dann erloschen sein?“) In Anbetracht der erneuten Feststellung des Sic et non, „così sono et io non sono“ (139,8), bleibt dem buchstäblich außer sich seienden Ich, dem in Körper hier und Geist oder Seele dort gespaltenen Wesen nur mehr der Wunsch, in sich selbst zurückzukehren: „sol ch’i’ ritorni in me di grazia i’ chieggio“ (141,5: „ich erflehe nur die Gnade, in mich zurückkehren zu dürfen“), fleht er die Logik an und verspricht, künftig nicht mehr mit Syllogismen zu jonglieren (vgl. 141). Erneut bestätigt Birrias drei Strophen langer Kommentar (vgl. 156–158), gegenüber den nur acht mittellateinischen Versen, die Akzentverschiebung, die den frühneuzeitlichen Text essentiell vom mittelalterlichen unterscheidet. Auch Birria betont das Ver-rückt-Sein, das Außer-sich-Sein derer, die sich allein dem Studium widmeten: „savi eravate, ma or chiaro comprendo | che siate pazzi“ (156,5–6: „weise wart ihr, aber nun sehe ich eindeutig, | dass ihr verrückt seid“); auch er schreibt der Logik, „che del loro esser proprio gli trae fuori“ (157,4: „die sie aus ihrem eigenen Wesen treten lässt“), die Schuld zu. Und dennoch ist es zu kurz gegriffen, in Birrias Position das propagierte Ideal, in diesen drei Oktaven den „sugo di tutta la vicenda“ zu sehen, mit dem sich der Autor des ursprünglichen Textes, Ghigo Brunelleschi, identifiziere:77 Der Text signalisiert deutlich genug, dass Birria weniger den gesunden Menschenverstand inkarniert als vielmehr den entgegengesetzten Fehler praktiziert: So wie die beiden anderen den „senno“ über alles andere gestellt hatten – erinnert sei nur an Anfitriones mehr als sieben Jahre währende Abwesenheit von Frau und Kind – und sich durch diesen Verstand den anderen überlegen glaubten (vgl. 157,2), so verlegt er umgekehrt sein Menschsein gänzlich in seinen Körper und glaubt, auf diesem Wege gottgleich zu werden: „io troppo ben feci | a rimanermi a guardar la cucina, | armando il corpo con forza divina“ (156,6–8: „ich machte es nur zu richtig, | dass ich hier die Küche hütete | und den Körper mit göttlicher Kraft wappnete“). In dieser göttlichen Kraft, dem Essen und Trinken, verbunden mit dem NichtWissen, dem Verzicht auf das Studium der artes, liegt für ihn die ganze Weisheit, die ihn als wahren Menschen definiere – aber freilich in nichts von jenem Schwein unterscheidet, das zu sein er sich zuvor gewünscht hatte.78 77

78

Lanza zufolge inkarniere Birria diesen „rimatore satirico“, der sich mit seinem Text und durch dieses sein Sprachrohr über die „stolidità dei letterati tradizionalisti“ lustig mache. Vgl. Lanza: Il „doppio“ nel Rinascimento (wie Anm. 15), S. 204f. „Non saper arte troppo giova altrui | se in bestia si converte chi l’appara, | e parendo esser nulla ora a costui, | egli ha fatto di sé troppa gran tara. | I’ son pur savio, e così sempre fui, | et ho, come ver huom, la vita cara; | statti in cucina, e quivi ti trastulla, | loico sia chi vuol per esser nulla“ (158,1–8: „Die Kunst, nicht zu kennen, nützt einem,

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Eine dritte Logik stellt der Text neben die Lösung Birrias, nur Körper zu sein, und die Getas, alles auf den Verstand zu setzen: diejenige Anfitriones, die ebenfalls gegenüber der mittellateinischen Version beträchtlich differenziert ist. Für ihn scheint nach Getas Schilderung seiner Erlebnisse alles klar und sein Diener, der an die Metamorphose in einen anderen Menschen glaubt, die reine Verkörperung der Naivität: „Un uccel sanza penne | ti fe’ natura; in qual libro si trova | ch’un altro in te, o tu in altro ti muti?“ (159,5–7).79 Die einzige Logik, die für Anfitrione zählt und die sich problemlos durch sein offenbar eingeschränktes ‚Buchwissen‘80 stützen lässt, ist die aus Komödien und Novellen vertraute Logik des gehörnten Ehemannes, die ihm geradezu evident scheint. Alle Rätsel, so meint er, lassen sich lösen durch die Annahme, dass hinter der verschlossenen Tür bzw. im Schlafgemach der Liebhaber der „donna“ stecke, der Geta beobachtet habe und deshalb alles über ihn berichten konnte (vgl. 160). Kein Zweifel kommt ihm am Betrug seiner Frau, die ihm ebenso trügerisch erscheint wie Geta die Logik – „Veggio che la mia donna m’è fallace“ (160,5) –, und das Einzige, was ihn, der plötzlich doch wieder wie einst der plautinische Feldherr zu den Waffen greift, noch interessiert, ist die Frage, ob es einen Liebhaber gibt oder nicht, ob Almenas Küsse und Umarmungen wahrhaftig sind oder trügerisch, „fallaci“ (177,6). Zwar lässt er sich dank Almenas „boce angelica e vezzosa“ (174,3), dank ihrer lieblichen, engelsgleichen Stimme, sogleich von ihren Wor-

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| wenn sich der in ein Tier verwandelt, der sie erlernt, | und wenn jenem nun scheint, er sei nichts, | so hat er zuviel von sich selbst abgezogen. | Ich hingegen bin weise und bin es immer gewesen, | und mir ist als wahrem Menschen das Leben teuer: | Bleib in der Küche und vergnüge dich dort; | Logiker sei, wer will, wenn er nichts sein will“). „Als einen Vogel ohne Federn | erschuf dich die Natur; in welchem Buch steht, | dass ein anderer sich in dich oder du dich in einen anderen verwandelst?“ Die Metamorphosen eines Ovid oder eines Apuleius scheint Anfitrione trotz seiner Berufung auf die Autorität der Bücher nicht zu kennen. Die Passage stellt eine interessante Brücke zur oft mit Geta e Birria in Verbindung gebrachten, wohl ungefähr gleichzeitig oder wenig später im selben florentinischen Ambiente entstandenen, ebenfalls um die unheimliche Metamorphose und die problematisch gewordene Identität kreisende Novella del Grasso legnaiuolo dar, die heute meist, wenngleich nicht zweifelsfrei, Antonio Manetti zugeschrieben wird (nicht zuletzt spielt Filippo Brunelleschi, den einige Handschriften als einen der Autoren des cantare nennen, eine Rolle in der Novelle). Grasso, der ob seiner ihm von den Freunden vorgegaukelten Verwandlung in einen anderen zutiefst beunruhigt ist, fragt den Richter, ob er, der ja viel gelesen habe, auf dergleichen schon einmal gestoßen sei, und dieser beruhigt ihn: Er habe davon schon oft gelesen, und es gebe weit schlimmere Fälle als seinen, etwa Apuleius’ Verwandlung in einen Esel oder Aktaions Verwandlung in einen Hirsch und selbstverständlich all die Metamorphosen, die Kirke an Odysseus’ Gefährten und vielen anderen bewirkt habe. Zu dieser Berufung auf und Tröstung durch die Bücher vgl. Barbara Kuhn: Mythos und Metapher. Metamorphosen des Kirke-Mythos in der Literatur der italienischen Renaissance, München 2003 (Humanistische Bibliothek 55), S. 220–224.

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ten umgarnen – „le dolci parole l’han legato, | corse abbracciarla presto così armato“ (174,7f.: „die süßen Worte banden ihn, | sogleich lief er, bewaffnet, wie er war, um sie zu umarmen“) –, sodass er das Schwert fallen lässt und seinen Zorn durch die Küsse mäßigt (vgl. 175,1f.), doch wallt dieser gleich noch einmal auf, als Geta Almena nach dem Verbleib des Türhüters fragt und sie arglos antwortet: „O smemorato, | tu guardavi la porta, quando a letto | il mio Anfitrion teneva stretto“ (176,6–8: „O du vergesslicher Mensch, | du hütetest die Tür, als ich im Bett | meinen Anfitrione fest umfangen hielt“). Nun ist er sicher, sie überführt zu haben, wie die Verse bestätigen, die „veraci“ durch das Enjambement ironisch betonen und zudem ausgerechnet auf „fallaci“, ‚wahrhaftig‘ auf ‚trügerisch‘ reimen lassen: „gli veraci | abbracciamenti mutava in romore, | gridando: ‚Guai a me, ben son fallaci!‘“ (177,4–6: „die wahrhaftigen | Umarmungen verwandelte er in einen Höllenlärm | und schrie: ‚Weh mir, sie sind doch trügerisch!‘“). Seine Reaktion wiederum, die Vorstellung, der Mann in ihrem Bett solle nicht Anfitrione gewesen sein, versetzt seine Gattin in höchstes Erstaunen, und für sie – das wäre die letzte Logik, die der Text neben die drei anderen in ihrer Einseitigkeit stellt – gibt es nur zwei mögliche Schlüsse, da sie ihn doch gewiss gesehen habe oder ihr dies zumindest so schien: Maravigliossi allor la donna piùe, che quando armato il vide ritornare, dicendo: „Come? Or nun fusti esso tue? per certo i’ pur ti vidi, o e’ mi pare. Forse ch’al mondo de’ tuo’ par son due? O forse ch’i’ pote’ fra me sognare? Dunque ogni rio pensier vo’ che giù pogni, ché spesso ingannan l’animo li sogni.“ (178,1–8)81

Das identische „forse che“ in den beiden aufeinanderfolgenden Versen maskiert geschickt deren Unterschiedlichkeit, suggeriert doch nur das zweite eine wirkliche Möglichkeit – sollte ich vielleicht geträumt haben? –, während das erste das vom Satz Ausgesagte durch dieses Aussagen suggestiv in eine Unvorstellbarkeit, mithin eine Quasi-Unmöglichkeit verwandelt:82 Sollte es etwa auf der Welt zwei 81

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„Da wunderte sich die Dame noch mehr | als in dem Moment, in dem sie ihn hatte bewaffnet zurückkehren sehen, | und sie sagte: ‚Wie? So warst das nicht du? | Ich sah dich doch ganz gewiss, oder es scheint mir so. | Gibt es vielleicht zwei deinesgleichen auf der Welt? | Oder habe ich vielleicht geträumt? | Ich will also, dass du jeden bösen Gedanken fallen lässt, | denn die Träume täuschen oft den Geist.“‘ Die ‚logische‘ Alternative zum Traum bestünde in der Wirklichkeit – „habe ich etwa wirklich einen wie dich im Arm gehabt oder könnte ich vielleicht geträumt haben?“ –, doch diese verschweigt Almena raffiniert. Wiederum mit Hilfe subtiler Rhetorik eskamotiert sie das ‚wirkliche Geschehen‘, die von Anfitrione gefürchtete Wahrheit eines Liebhabers in seiner Abwesenheit, indem sie der Möglichkeit des Traums statt der

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von deiner Art, mithin einen zweiten deinesgleichen geben? So formuliert, kann Anfitrione nur geschmeichelt Almena und seiner Eitelkeit stattgeben, die zuvor zwingend erscheinende conclusio des gehörnten Ehemanns als Trugschluss erkennen, um sich der vom „Dunque“ eingeleiteten und folglich unumstößlichen conclusio des Pseudo-Syllogismus der rhetorisch bewanderten Frau anzuschließen und sich „con sommo piacere“ mit der „donna tutta lieta“ in das Schlafgemach zurückzuziehen, „per ristorare i perduti sett’anni“ (180,8: „in höchster Lust umarmt er seine überaus heitere Frau, […] um die verlorenen sieben Jahre wettzumachen“). Mit anderen Worten, wenn überhaupt eine Figur in dieser Geschichte den sogenannten gesunden Menschenverstand ‚verkörpert‘, genauer, Körper und Geist, Verstand und Seele in sich vereint, so ist dies Almena, die trotz ihrer Angst durch ihre klugen oder ‚süßen‘ Worte und ihre engelsgleiche Stimme den rasenden Zorn des wilden Kriegers sogleich in das Liebesrasen des nach sieben Jahren Abstinenz Brennenden zu verkehren versteht (vgl. 174,1– 175,2) und dank ihrer traumhaften Logik und überzeugenden Rhetorik alle zu einem so lustvollen lieto fine zu führen vermag, dass der Erzähler zum Unsagbarkeitstopos greift und einfach verstummt: „con tal piacer ch’i’ nol so dire“ (181,1: „mit solcher Lust, dass ich es nicht sagen kann“). * Nach diesem Ende der erzählten Welt – „Così d’Anfitrion l’opra finisce“ (181,8) –, mit dem Lanzas Fassung des Textes endet, meldet sich der Erzähler der Rahmenhandlung noch einmal mit einer Art Epilog zu Wort und verkündet als „maggior sustanza“ der Erzählung: „Amore è ’l mastro di questa matera“ (183,2: „Amor ist der Meister in diesen Dingen“), nachdem er zuvor bereits ausgerufen hatte: „Oh quanto vale | negli animi gentili il franco amore!“ (182,5f.: „Oh, wie viel ist | in den edlen Seelen die freie Liebe wert!“) und aus seiner angeblich übernommenen Quelle die Schlussfolgerung zitiert, „che chi più sa, men vede | gl’inganni, quando più veder gli crede“ (182,7f.: „wer mehr weiß, sieht die Täuschungen desto weniger, | je mehr er sie zu sehen glaubt“). Almena ist durch ihr Nicht-Wissen davor bewahrt, die ihr durch göttlichen Eingriff widerfahrenen Täuschungen zu erkennen, so wie der frühneuzeitliche Autor des Textes es aufgrund seines Missverständnisses83 auch vorgesehen hatte. Denn wo Vitalis von

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gleichermaßen möglichen Wirklichkeit die Unmöglichkeit eines zweiten Anfitrione gegenüberstellt. Vgl. Chiarinis Kommentar zu der Passage: „un curioso fraintendimento del testo latino di Vitale, che al v. 23 definisce Giove Saturnius, ha trasformato l’originale monologo interiore del dio in un dialogo col padre“ (Anm. zu 41,8 auf S. 44 der hier in Anm. 2 genannten Ausgabe). Wie die Engel in Dantes Vita nova sich bei Gott beschweren, dass Beatrice auf der Erde und nicht bei ihnen im Himmel ist, und wie alle

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Jupiter als dem Saturnius spricht, der sich mit seinem Sohn Arcas unterhält (vgl. V. 23), vermutet Ghigo, Jupiter habe seinen Vater Saturn in der Sache um Hilfe gebeten, und lässt diesen selbst zu Wort kommen. So gibt hier Saturno seinem Sohn Giove den Rat, sich gemeinsam mit Arcade entsprechend zu verkleiden, nicht um desto sicherer zum Ziel zu kommen, sondern, ganz höfisch und ungöttlich, um den Ruf der „donna“ zu wahren: „così sanza vergogna di tal dama | avrai ciò che ’l tuo cor disia e brama“ (44,7f.: „so wirst du, ohne dass daraus eine Schande für eine solche Dame entsteht, | das bekommen, was dein Herz begehrt und wünscht“). Dank der angenommenen Gestalt des Ehemanns bleibt Almena von Anfang an jede Schande erspart, und es gelingt ihr am Ende sogar, gleich ob naiv oder raffiniert, ob wissend oder unwissend, dank der durchaus realistischen Traumlösung auch Anfitrione, der aufgrund seines Mehrwissens glaubte, die Täuschungen zu durchschauen, und sie doch desto weniger auflösen konnte, vom Makel des Gehörnten zu befreien. Dieser Lektion eingedenk gibt sich der Erzähler, der ebenso wie Jupiter der Macht Amors unterstellt ist, nach der zwei Strophen langen Aufzählung aller möglichen Liebhaber, gleich in die Hände der geliebten Frau, um nicht allein Höllenqualen zu erleiden. Wie Jupiter Saturn, bittet er Amor selbst um Hilfe, indem er in seiner Formulierung sowohl an Geta als auch an Birria erinnert, die sich ihrerseits einem anderen hingegeben hatten, aber nicht einer liebenden Frau, die allein das lieto fine bewirken kann: E però, Signor mio, nel cui governo son sottoposto, non voler ch’i’ solo compagnia faccia a Tantalo in inferno, anzi di questa vita a picciol volo lieto mi guida, là dov’io discerno cruda mia donna. O Signor, che far puòlo, falla piatosa a me, po’ che suo sono, a lei mi raccomando, e tutto dono. (186,1–8)84

Weder lässt sich folglich die Behauptung aufrechterhalten, die von Domenico da Prato hinzugedichtete cornice bleibe der Erzählung völlig äußerlich, noch zerstört dieser Rahmen gar deren unmittelbare Wirkung, im Gegenteil. Zwar kann

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Heiligen auch dort nach dem Vorbild der Minnesänger „merzede“ erflehen, die Huld nicht der „donna“, sondern Gottes, der ihnen die „donna“ zuführen möge, so bittet auch Giove seinen Vater Saturno mit einem analogen Argument um die „merzede“: Es sei eine große Schande, dass ein sterblicher Mensch dieses „sommo bene“ besitze, während er, „un idio, che tanto vale“, leer ausgehe bzw. statt „piacer“ wie Anfitrione nur „pene“, statt Liebeslust nur Liebesleid erdulde (43,1–8). „Und doch, mein Herr, dessen Herrschaft | ich unterstellt bin, wolle nicht, dass ich allein | in der Hölle Tantalus Gesellschaft leiste; | führe mich lieber in diesem Leben heiter in einem kleinen Flug | dorthin, wo ich meine grausame Dame erblicke. | O Herr, der du es bewirken kannst, | stimme sie mir gnädig, denn ich bin der ihre, | ihr empfehle ich mich an und gebe ich mich ganz hin.“

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an dieser Stelle der Verflechtung von Rahmen- und Binnenerzählung, die ausführlicherer und gesonderter Betrachtung bedürfte, nicht im Einzelnen nachgegangen werden,85 doch mag immerhin ein Beispiel als pars pro toto fungieren: Auch Giove erscheint hier als eine Art karnevalistisch umgemünzter, stilnovistischer oder fast schon petrarkistischer Liebhaber, der im Himmel unsägliche Qualen, „pene“, leiden musste, nun aber, auf Erden und bei Almena, so viel Gutes, „tanto bene“, erlebt (vgl. 59,7f.), wie es das Ich der Rahmenhandlung sich und seinem mit ihm im Liebeshimmel befindlichen Publikum, den „cari amanti“ (60,7), wünscht und wie der Ich-Erzähler es am Ende von Jupiter selbst bezeugen lassen will: „per dar miglior prove, | testimon chieggio in quest’opere Giove“ (185,7f.). Analog hatte der Erzähler zuvor diejenigen unter den Liebenden, die in den Genuss kommen, die Frucht der Liebe zu genießen, aufgefordert, davon Zeugnis abzulegen (vgl. 60,7f.), bevor er wieder zum Liebesfeuer Gioves zurückkehrt, dem er dank dieses Einschubs einen kurzen Aufschub seiner äußersten Manneskraft, des „estremo valor“ (63,1), verschafft hat. Die große Lust, die der Gott dabei verspürte, möge das anwesende Publikum, wie bereits erwähnt, sich aber bitte selbst ausmalen;86 er werde ihn nun süß ruhen lassen, um einstweilen von Birria zu erzählen: Mit einem Augenzwinkern in Richtung des Lesers, der den Amphitryon-Mythos kennt, verkehrt er so die Rollen, indem er durch den Wechsel des Erzählstrangs dem Gott das Schäferstündchen verlängert, wo sonst Jupiter selbst die Nacht so lange dauern lässt, bis er seine Lust gestillt hat. Durch das Spiel mit An- und Abwesenheiten, mit Stimme und Schrift und durch das Hin- und Herspringen zwischen den unterschiedlichen Fiktionsebenen weist der Text selbst- und fiktionsironisch darauf hin, dass sich die Macht des Gottes in die Macht des Erzählers verwandelt hat. Dementsprechend kann sich der Göttervater mit seiner „donna accorta“, die eher an die klugen und gewitzten

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Vgl. zur umstrittenen Rolle der cornice, die für Guerri und Lanza nur ein zu eliminierendes Ärgernis darstellt, Picone: Il racconto (wie Anm. 9), S. 679, sowie vor allem Chiarini: Novelle italiane (wie Anm. 2), S. XIIIf., und hier insbesondere: „A una prima lettura, il dislivello che separa il registro alto e pesantemente concettoso di questa sezione esterna da quello, prevalentemente comico, della sezione interna sembra essere realmente incolmabile […]. Ma, a guardar più a fondo, se si riconosce l’intenzione autoironica […] della cornice, si scoprono anche, ben presto, più saldi elementi di comunione tra le due parti: non solo i passaggi da un registro all’altro sono abilmente curati, così da istituire un continuo gioco di interazione e contrappunto, ma persino la funzione strutturale di ciascuna è reciproca e complementare a quella dell’altra“ (S. XIII). Vgl. die oben im Zusammenhang mit dem „discorso in praesentia“ bereits zitierten Verse 63,1–6. Ein weiteres Beispiel für diese enge Verflechtung von Rahmen- und Binnenerzählung sind die Strophen 95 und 96, die wiederum, wie beim erwähnten Wartenlassen der Figuren und des Lesers, eine Steigerung der Fallhöhe bewirken, indem sie zwischen Getas Erwartung der „Gran festa“ und deren Enttäuschung durch Almenas Schweigen als eine Art retardierendes Moment eingeschoben werden.

„nulla son io; […] due siam fatti d’uno“ (Geta e Birria)

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„donne“ vieler Novellen Boccaccios und späterer Autoren als an die stilnovistischer oder petrarkistischer Lyrik erinnert, ins Schlafgemach zurückziehen (vgl. 61,8) und dort über hundert Strophen lang unbehelligt vom Erzähler sein Liebesglück genießen, bis in Strophe 168 sein Feuer zu erlöschen beginnt und er mit seinem Sohn an den Himmel zurückkehrt, der sogleich erstrahlt, während die trostlose Erde die beiden vergeblich zurückruft und die über das Strahlen staunende Almena erblasst, sprachlos und halbtot zurückbleibt (vgl. 169). Auch sie lässt der machtvolle Erzähler beinahe vier Strophen lang, vom „sanza parlar rimase mezza morta“ (169,7) bis zum „Rimase Almena sbigottita assai“ (173,5), stumm in ihrer verblüfften Bestürzung verharren, um zwischenzeitlich seinen Dialog mit Amor und sein Hoffen auf die „pietà“ (170,8; 172,8) seiner „donna“ fortzusetzen, bevor er sich und seine Leser wieder an sie und seine zu erzählende Geschichte erinnert (vgl. 173). War unmittelbar vor der Metalepse noch alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen – „quasi il bel viso scolora“ (169,6) –, lässt der Erzähler sie nun trotz ihres Entsetzens und trotz ihrer Angst als wahre „donna accorta“ (61,8) sich erheben und dem Mann als getreue „sposa“ mit „boce angelica e vezzosa“ und „luminosa | faccia“ entgegengehen (174,1–6) – nachdem er in seinem metadiegetischen Einschub an das „viso“ seiner „donna“ erinnert hatte, das jeden Wirbelsturm aufzuheitern verstehe und ihm sogar das Seufzen zur Lust werden lasse, wäre doch nur die „donna“ nicht so weit entfernt (vgl. 171). So bleibt ihm lediglich, Venere zu bitten, seiner „donna“ so viel „pietà“ einzuhauchen – „pietà nella mia donna spira“ (172,8) –, dass sie vom selben Geist, vom selben „spirto“ (172,3) wie Almena inspiriert werde: von jenem Geist, der eher der der „donna accorta“ der Novelle als der der unbarmherzigen „donna“ der Lyrik ist und der zugleich die beiden Erzählebenen ebenso verbindet wie die nach Jupiters Vorbild in der umrahmten Geschichte auch im Rahmen erhoffte „merzé“ (170,7). Statt also schlicht die in Ghigos cantare enthaltene Satire als durch die Umdichtung wirkungslos geworden zu beklagen, statt in dem Text lediglich eine literarische Umsetzung der florentinischen Tagesaktualität am Beginn des Quattrocento zu sehen, gilt es sich zu fragen, warum dieser Text seine große Wirkung ausüben konnte, die sich außer in den zahlreichen Handschriften wie auch den sprechenderweise noch entstandenen Frühdrucken ebenso spiegelt wie in den häufigen Zitaten und Erwähnungen. Der Grund dafür kann schwerlich allein in einer polemischen Darstellung des längst verjährten Streits zwischen Traditionalisten und Neuerern liegen. Plausibler scheint, dass Geta e Birria weit mehr als diese Tagesaktualität anspricht, indem der cantare novellistico heikle Fragen wie die nach der Selbstdefinition des Menschen aufwirft, die dann in der zweiten Jahrhunderthälfte und mehr noch im folgenden Cinquecento im Zentrum des Interesses stehen sollten. Mit anderen Worten, plausibler scheint, dass dem Text neben seiner satirischen eine essentielle philosophisch-anthropologische Komponente eignet, die aus seinem intensiven Dialog mit Antike und Mittelalter resultiert, der Konsonanzen wie Divergenzen hervortreibt, ebenso wie aus dem

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Barbara Kuhn

Spiel mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit einerseits, mit den konträren Traditionen der Novelle und der Lyrik andererseits. Gerade dank des Dialogs der burlesken, mit der Parodie der Philosophie verknüpften Variante des Amphitryon-Mythos mit dem seinerseits parodierten stilnovistischen Liebesdiskurs entsteht die diesem Text eigene, von der Novellentradition ‚inspirierte‘ Antwort auf die Frage nach dem Menschen, die eben nicht in einer simplen, vereindeutigenden Opposition – hier die überkandidelten Philosophen und dort der gesunde Menschenverstand – aufgeht, die vielmehr dialogisch und prozessual bleibt. Denn das Spiel mit antikem Mythos, mittelalterlicher Anverwandlung und zeitgenössischen Strömungen der Lyrik und Narrativik, das Spiel mit unterschiedlichen Erzählwelten und -ebenen, die sich ständig gegenseitig reflektieren und kommentieren, stellt nicht nur die Figuren, sondern auch die Leser des Textes selbst vor die immer offene Frage nach dem Menschen, nach seinen Metamorphosen und seinen Identitäten. In diesem Sinn singt der Text als Ganzes, indem er dem Beispiel der als Modell für die donna der Rahmenerzählung fungierenden Almena folgt, die so erfolgreich die Kunst des Wortes und die Logik des Traums praktiziert, das doppelte Lob der Rhetorik und der Imagination, das Lob der Literatur und ihrer Macht.

Gernot Michael Müller

Variationen der Liebe und des Lebens Über die unterschiedlichen Konzepte der Liebesdichtungen Cristoforo Landinos I In Pratovecchio südlich von Florenz 1425 geboren und unter Förderung der Medici später 1458 zum Professor am Florentiner Studio berufen, hat Cristoforo Landino nicht nur zahlreiche Abhandlungen und Kommentare zu antiken und volkssprachlichen Autoren verfasst,1 sondern er ist auch als Autor einer durchaus stattlichen Anzahl von Liebesdichtungen hervorgetreten.2 Zusammengefasst ist

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Zu Landino als Dichtungstheoretiker und Kommentator s. Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), 2 Bde., Hamburg 2017, Bd. 1, S. 498–507; zur Beziehung zwischen poetischem Œuvre und gelehrter Literaturkritik bei Landino vgl. auch Roberto Cardini: La critica del Landino, Florenz 1973 (Studi e testi 4), bes. S. 1–65 und passim sowie S. 85–112 zu seinen Dichterauslegungen. Zu Biographie und Œuvre Landinos s. den konzisen Überblick in Christoph Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere. Christoforo Landinos ‚Xandra‘ zwischen Liebe und Gesellschaft, Hildesheim/Zürich/New York 2008 (Noctes Neolatinae 8), S. 21–26 sowie daneben Ursula Rombach: Vita activa und vita contemplativa bei Cristoforo Landino, Stuttgart 1991 (Beiträge zur Altertumskunde 17), S. 19–32 und die Artikel von Roberto Cardini: Art. „Landino, Cristoforo (1424–1498)“, in: Dizionario critico della letteratura italiania, Bd. 2, Turin 1986, S. 528–531; Craig Kallendorf: Art. „Landino (Cristoforo, 1424–1498)“, in: Centuriae Latinae. Cent une figures humanistes de la Renaissance aux Lumières offertes à Jacques Chomarat, hg. von Colette Nativel, Genf 1997 (Travaux d’humanisme et renaissance 314), S. 477–483 und Simona Foà: Art. „Landino (Landini), Cristoforo“, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 63, Rom 2004, S. 428–433. Die Abweichung im Geburtsjahr in den Titeln der aufgelisteten Lexikonartikel ergibt sich aus der Orientierung am Florentiner Kalender, in dem das Jahr am 25. März begann (Landinos Geburtstag ist der 8. Februar); s. hierzu: Arthur M. Field: The origins of the Platonic Academy of Florence, Princeton 1988, S. 232 mit Anm. 2; zu Landinos von Konflikten um die Nachfolge des Vorgängers Carlo Marsuppini begleiteten Berufung an das Florentiner Studio s. ausführ-

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Gernot Michael Müller

deren überwiegender Teil unter dem Namen der dort mehrheitlich besungenen Dame Xandra.3 Bekanntlich sind jedoch zwei Sammlungen überliefert, die derart betitelt sind: eine erste, deren Vollendung in das Jahr 1444 datiert und die 53 in einem einzigen Buch zusammengefasste Gedichte zählt, und eine zweite, deren Fertigstellung in die Jahre 1458/59 fällt. Diese vereint in einem ersten Buch eine auf 33 Nummern reduzierte Auswahl der ersten Fassung, auf die zwei weitere Bücher mit einmal dreißig und einmal 19 Gedichten folgen.4 Die Unterschiede der beiden Sammlungen beziehen sich allerdings nicht nur auf den Umfang. Bereits die deutliche Verschlankung, die die ursprüngliche Sammlung im ersten Buch der zweiten Fassung erfahren hat, weist darauf hin, dass diese nicht lediglich eine Erweiterung darstellt, sondern Ergebnis bewusster Umarbeitung ist. Und in der Tat differieren beide Versionen in relevanten Aspekten, die neben Adressaten und Selbstanspruch des lyrischen Sprechers vor allem das Dichtungskonzept und damit verbunden die Art und Weise betreffen, wie die für

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lich und mit Diskussion der einschlägigen Forschung Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie oben), S. 26–52. Für eine angemessene Kritik an älteren Versuchen, die Xandra-Figur historisch zu greifen und aus Landinos Dichtung auf ein reales Liebesverhältnis zwischen jener und diesem zu schließen, s. ebd., S. 15–17 mit Anm. 57; vgl. aber auch die Überlegungen in Nikolaus Thurn: Neulatein und Volkssprachen. Beispiele für die Rezeption neusprachlicher Literatur durch die lateinische Dichtung Europas im 15.–16. Jahrhundert, München 2012 (Humanistische Bibliothek 1,61), S. 132–133, wonach es sich bei Xandra nicht zwingend um eine poetische Fiktion handeln muss. Antonia Wenzel: Die Xandra-Gedichte des Cristoforo Landino, Heidelberg 2010 (Kalliope 10), S. 12 mit Anm. 12 identifiziert Xandra mit Alessandra di Francesco degli Alberti, an deren Vater das Gedicht 48 der ersten Xandra-Fassung gerichtet ist (vgl. auch Nikolaus Thurn: Kommentar zur Carlias des Ugolino Verino, München 2002 [Humanistische Bibliothek 2,33], S. 569–570). Zur Entstehungs- und Textgeschichte der Sammlung und ihrer verschiedenen Fassungen s. Christophori Landini carmina omnia, hg. von Alessandro Perosa, Florenz 1939, S. XXXVII–XLIV, zur Überlieferung S. XLIV–LV; Cardini: La critica del Landino (wie Anm. 1), S. 1–15; knapp Martin McLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance. The Theory and Practice of Literary Imitation in Italy from Dante to Bembo, Oxford 1995, S. 167f. sowie Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 90–101 mit Blick auf Veränderungen in Textbestand und Inhalt; vgl. auch die konzise Charakterisierung der beiden Fassungen in Wenzel: Die XandraGedichte (wie Anm. 3), S. 15–24 und Thurn: Neulatein und Volkssprachen (wie Anm. 3), S. 127–128. Jean-Louis Charlet: État présent prospectif des recherches sur les poèmes latins de C. Landino, in: Text – Interpretation – Vergleich. Festschrift für Manfred Lentzen zum 65. Geburtstag, hg. von Joachim und Elisabeth Leeker, Berlin 2005, S. 151–168, erkennt in der zweiten Fassung drei Bearbeitungsstufen, die sich abgesehen vom Ausfall eines Gedichts auf den 1459 mit neun Jahren gestorbenen jüngeren Cosimo de’ Medici weitgehend in der Überarbeitung der vorhandenen Gedichte niederschlagen.

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beide Fassungen grundlegende Liebesthematik Behandlung findet. 5 Landinos offensichtliches Interesse, die poetologischen Möglichkeiten des Redens über Liebe immer wieder neu auszuloten, bestätigt sich hierauf von Neuem in einem nach der zweiten Fassung der Xandra entstandenen kleinen und für sich stehenden Korpus von Gedichten, das Bernardo Bembo (1433–1519), dem Vater des Humanisten Pietro Bembo, gewidmet ist6 und den Gegenstand der Liebe in nochmals anderer Variation aufgreift.7 Landinos beständige Arbeit an seinem dichterischen Œuvre siedelt sich somit im Horizont jener Pluralisierung des erotischen Diskurses an, wie sie sich in der frühneuzeitlichen Lyrik, angefangen von der Dichtung auf der Apenninenhalbinsel, herausgebildet hat.8 Deren Ursprünge liegen darin, dass mit der Wiederentdeckung der erotischen Literatur vor allem der lateinischen, in gewissem Maße aber auch der griechischen Antike im 15. Jh. neben den sich auf der Apenninenhalbinsel seit der Scuola Siciliana im Duecento herausgebildeten volkssprachlichen Traditionen des Mittelalters und der Frührenaissance neue Liebesmodelle greifbar wurden, welche sich teilweise mit Letzteren harmonisieren ließen, in der Regel aber vielfältige im poetischen Diskurs bislang noch nicht gepflegte Möglichkeiten anboten, über Liebe zu sprechen und zu reflektieren.9 Hinzu kam speziell im Florentiner Umfeld die maßgeblich von Landinos Schüler Marsilio Fici5

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Die Forschung hat sich bislang vor allem auf die zweite Fassung konzentriert, in der sie gleichsam die Ausgabe letzter Hand erkennt. Aus diesem Grunde bezeichnet Perosa in seiner kritischen Edition auch die erste Fassung mit der Sigle B und die zweite (weil seiner Meinung nach endgültige) mit der Sigle A. Erst in jüngerer Zeit werden beide Versionen öfters als Sammlungen eigenen Rechts beurteilt, die eigenständigen Kompositionsprinzipien gehorchen; s. mit kritischem Blick auf die Forschungsgeschichte Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 90–101; vgl. zudem in der neuesten deutschsprachigen Publikation zu Cristoforo Landinos Xandra die Beiträge von Hartmut Wulfram, Florian Hurka und Ulrike Auhagen: Cristoforo Landinos Xandra und die Transformationen römischer Liebesdichtung im Florenz des Quattrocento, hg. von Wolfgang Kofler und Anna Novokhatko, Tübingen 2016 (NeoLatina 20), S. 1–18 (Wulfram), S. 99–109 (Hurka), S. 151–169 (Auhagen). Zu Biographie und Wirken Bernardo Bembos s. unten Anm. 74. Zu diesem kleinen Gedichtzyklus s. jetzt den grundlegenden Artikel von Sonja Caterina Calzascia: La rappresentazione dell’amore in sei poesie di Cristoforo Landino dedicate a Bernardo Bembo (Carmina varia 3–8), in: Kofler/Novokhatko (Hgg.): Cristoforo Landinos Xandra (wie Anm. 5), S. 187–210. S. Klaus W. Hempfer: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 38 (1988), S. 251–264. Vgl. Andreas Kablitz: Die Selbstbestimmung des petrarkistischen Diskurses im Proömialsonett (Giovanni della Casa – Gaspara Stampa) im Spiegel der neueren Diskussion um den Petrarkismus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 (1992), S. 381–414 zum dialogischen, auf wechselseitige Kommentierung ausgerichteten Charakter italienischer Liebeslyrik der Renaissance.

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no (1433–1499) entworfene Philosophie des Florentiner Neuplatonismus, die sich ihrem Vorbild Platon entsprechend ebenfalls umfänglich mit der Liebesthematik auseinandersetzte und demzufolge eine weitere Ergänzung im Spektrum, sich dem Thema Liebe dichterisch zu nähern, bereitstellte.10 Indes sind Landinos Dichtungskorpora nicht nur unterschiedlichen Liebeskonzepten verpflichtet, die sich im soeben skizzierten Möglichkeitsspielraum zwischen volksprachlichen, antiken und renaissanceplatonischen Modellen bzw. Diskursen ansiedeln lassen.11 Daneben scheinen sie ganz grundsätzlich Wert und Bedeutung von Liebesdichtung in der Hierarchie der literarischen Gattungen zu diskutieren und ausgehend davon die Frage nach dem passenden gesellschaftlichen Ort für die Thematisierung von Liebe sowie schließlich nach dem angemessenen biographischen Zeitraum für die in den Gedichten inszenierten Liebeserfahrungen selbst zu reflektieren. Die Virulenz gerade der beiden letztgenannten Fragen ergibt sich nicht nur dadurch, dass die kulturellen Rahmenbedingungen des 15. Jahrhunderts die produktive Adaptation einer expliziten Darstellung körperlicher und dabei gleichermaßen hetero- wie homosexueller Liebesbeziehungen, wie sie etwa für die römische Liebeselegie und verwandte antike Sammlungen erotischer Dichtung charakteristisch ist, zu einem schwierigen Unterfangen machte.12 Zudem lehrte auf der Seite der volkssprachlichen Modelle niemand Geringerer als Francesco Petrarca mit seinen für die frühneuzeitliche Dichtung insgesamt so wirkungsmächtigen Rerum vulgarium fragmenta,13 dass über die eigene Erfahrung von Liebe vorzugsweise aus der Perspektive von Verirrung und Reue zu sprechen sei.14 10 11

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Zum Florentiner Renaissanceplatonismus s. S. 237 mit Anm. 77. Landino gehört dabei einer Phase rinascimentaler Liebesdichtung im Quattrocento an, die das verbindende Potential der unterschiedlichen Modelle und Diskurse der Liebe auslotet. S. hierzu grundlegend Jörg Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel. Die Autorisierung der römischen Liebeselegie im Licht ihrer rinascimentalen Kommentierung, in: Questo leggiadrissimo poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrikkommentar, hg. von Gerhard Regn, Münster 2004 (Pluralisierung & Autorität 6), S. 111–154, hier S. 111–112. Als erster Überblick über die römische Liebeselegie stets nützlich: Niklas Holzberg: Die römische Liebeselegie. Eine Einführung, Darmstadt 62015. Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta gehören bekanntlich zu den produktivsten Modellen nicht nur für die Dichtung der Renaissance, sondern der Frühen Neuzeit insgesamt; vgl. aus der neueren Forschungsliteratur zum italienischen und europäischen Petrarkismus statt vieler Andrea Afribo: Petrarca e petrarchismo. Capitoli di lingua, stile e metrica, Rom 2009 (Lingue e letterature Carocci 94) sowie die Beiträge in: Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, hg. von Klaus W. Hempfer, Stuttgart 1993 (Text und Kontext 11) und in: Der Petrarkismus – ein europäischer Gründungsmythos, hg. von Michael Bernsen, Göttingen 2011 (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst 4). So in den beiden Terzetten des Proömialsonetts: Petrarca: Rerum vulgarium fragmenta (RVF), 1,9–14: Ma ben veggio or sì come al popol tutto | favola fui gran tempo,

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Den Antworten, die Landino auf die sich aus dem prekären Status zumal einer an antiken Modellen orientierten Liebesdichtung ergebenden Anfragen an die Legitimität der Rede über individuelle erotische Erfahrungen und deren Rezeption gegeben hat, gelten die folgenden Ausführungen. Dabei wird zu zeigen sein, dass Landino die verschiedenen ihm zuhandenen Modelle virtuos dazu verwendet hat, die unterschiedlichen soeben skizzierten Problemfelder sukzessive in den Blick zu nehmen.15 Vor diesem Hintergrund werden sich die einzelnen Phasen seines Schaffens als bewusst inszenierte Stationen eines Entwicklungsprozesses des sich in den Dichtungen artikulierenden Autor-Ichs zu erkennen geben, in dessen Verlauf dieses nicht nur unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema Liebe erprobt, sondern diese in zunehmender Deutlichkeit auch mit bestimmten biographischen Altersstufen, denen es sich jeweils selbst zugehörig fühlt, abzugleichen bestrebt ist.16

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onde sovente | di me medesmo meco mi vergogno; || et del mio vaneggiar vergogna è ’l frutto, | e ’l pentérsi, e ’l conoscer chiaramente | che quanto piace al mondo è breve sogno („Wohl seh’ ich nun, wie ich in aller Munde | Das Märlein lange war, und solch Bekenntnis | Macht, daß beschämt ich drob in mir erglühte; || Und meiner Torheit einz’ge Frucht zur Stunde | Ist Scham und Reu’ und deutliche Erkenntnis, | Daß Weltlust wie ein kurzer Traum entfliehe“). Zitate aus den RVF folgen der Ausgabe: Francesco Petrarca: Canzoniere, hg. und komm. von Marco Santagata, Mailand 1996; die deutschen Übersetzungen stammen von Karl Förster in: Francesco Petrarca: Canzoniere. Zweisprachige Auswahl (Italienisch-Deutsch), auf Grund der Übertragung von Karl Förster ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gerhard Regn, Mainz 1987. Vgl. für eine systematisierende Betrachtung dieses Befundes Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 129–131. Die im Folgenden angestrengten Überlegungen und Lektüren wollen selbstredend nicht die Identität des Autors Landino mit dem lyrischen Ich seiner XandraDichtungen behaupten. Es gehört jedoch zu den Charakteristika von Landinos Liebesdichtungen – wie in rinascimentaler Dichtung grundsätzlich nicht selten –, dass dieser bei der Modellierung seines lyrischen Ichs wiederholt auf Aspekte seiner Vita zurückgreift und dessen Erfahrungen und Reflexionen auf diese Weise ein biographisches Substrat ausbilden lässt, das auf jene bezogen werden kann. Allerdings sind solche biographischen Anspielungen nicht leichtfertig als Einladung für eine autobiographische Lektüre der Xandra-Dichtung zu verstehen, sondern als Gestaltungselemente der fiktiven Liebes- und Lebenssituationen, die in dieser erzählt werden. Vgl. zu dieser Problematik grundlegend Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 17–20 sowie die erhellenden Bemerkungen über die Funktion der Xandra-Dichtung für Landinos self-fashioning seit seiner Übernahme der Professur für Rhetorik und Poetik am Florentiner Studio im Jahr 1458 ebd., S. 316–323; vgl. auch Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 25. Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 116 spricht zu Recht davon, dass die Liebesthematik in der erotischen Dichtung des Quattrocento „als Kristallisationskern eines sozialen Umfeldes wie einer Lebensform“ dient. Somit sei für sie auch zutreffend, was Gerhard Regn für die Dichtung Torquato Tassos konstatiert hat, nämlich dass

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Hierzu soll in einem ersten Schritt ein Blick auf die erste Fassung von Landinos Xandra geworfen werden, um zunächst die im dortigen Widmungsgedicht an Leon Battista Alberti implizit getätigten Aussagen zu Wertigkeit und gesellschaftlichem Ort dieser Version des Xandra-Zyklus herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund wird dann dessen zweite und, wie angedeutet, beträchtlich erweiterte Fassung analysiert und aufgezeigt werden, dass Landino mit der Wahl eines gegenüber Leon Battista Alberti höher gestellten Adressaten, nämlich Piero de’ Medici, auch die Strategie wechselt, seine Liebesdichtung gegenüber diesem zu legitimieren. Darüber hinaus wird in einem weiteren Schritt vor allem darzulegen sein, dass diese mit dem Bestreben einhergeht, die von ihm thematisierte Liebeserfahrung, die zudem sukzessive auf eine Geliebte eingeschränkt wird, präzise auf eine bestimmte Lebensphase, die Jugend nämlich, zu beschränken.17 Das dritte Kapitel wird sich dem chronologisch letzten Gedichtzyklus an Bernardo Bembo zuwenden und andeuten, dass sich Landino mit dem renaissanceplatonischen Diskursparadigma eine Möglichkeit eröffnet, um auch ein lyrisches Ich, das sich als alterndes präsentiert, noch über das Thema der Liebe reden zu lassen. Im letzten Abschnitt soll schließlich anhand der etwa zeitgleich entstandenen, indes im volgare abgefassten Amorum libri tres des Matteo Maria Boiardo nur mehr angedeutet werden, dass Landinos über unterschiedliche Bearbeitungsstufen seiner Dichtungen entwickeltes Plädoyer, das eine den antiken Modellen entsprechende Erfahrung von Liebe dann zu legitimieren sei, wenn sie in der Jugend und ausschließlich dort realisiert wird, als Stimme in einem breiter angelegten Diskurs unter italienischen Dichtern des Quattrocento zu verstehen ist. II Die 1444 entstandene erste Fassung von Landinos Xandra-Zyklus präsentiert sich bereits bei einem nur flüchtigen Überblick als Sammlung inhaltlich wie formal heterogener Gedichte. Diese Heterogenität artikuliert sich in inhaltlicher

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diese als „Liebesgeschichte mit einer scheinbar autobiographischen Dimension“ wahrgenommen werden sollte; vgl. Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur ‚parte prima‘ der Rime, Tübingen 1987 (Romanica Monacensia 25), S. 35; zum rekurrenten biographischen Verständnis der römischen Liebeselegie in deren rinascimentalen Kommentierungen s. knapp Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 140 und 142–143 speziell zur Kommentierung des für die zweite XandraFassung grundlegenden elegischen Zyklus des Properz. Die beiden Xandra-Fassungen werden hier mit den von Perosa vergebenen und in der Forschung etablierten Siglen bezeichnet. Somit steht die Sigle „B“ für die erste und „A“ für die zweite Fassung.

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Hinsicht zum einen in der Anrede an unterschiedliche Geliebte, von denen die titelgebende Xandra freilich schon hier die bevorzugte Aufmerksamkeit erhält,18 und in der Thematisierung unterschiedlicher mit diesen verlebter Erlebnisse und Erfahrungen. 19 Zum anderen werden diese Liebesgedichte im engeren Sinne wiederholt durch solche Nummern unterbrochen, in denen das lyrische Ich Freunde und Vertraute anspricht, um diesen von seinen Liebeserfahrungen zu berichten.20 Komplementär zur Spannbreite der Geliebten und der mit diesen durchlebten Situationen sowie zur Vielzahl der Adressaten erweist sich auch die Rede über die Liebe in der ersten Xandra-Fassung von großer inhaltlicher Spannbreite, angefangen von Freude und Enttäuschung bis hin zu beißendem Spott gegenüber rivalisierenden oder missgünstigen Adressaten.21 Diesem Befund gesellt sich bei, dass die Gedichte ganz unterschiedliche Versmaße und Gedichttypen erproben, die vor allem den Möglichkeitsspielraum antiker Liebesdichtung von Elegie, über die sapphische Strophe bis hin zum Epigramm ausmessen, aber auch Versmaße etablierter volkssprachlicher Dichtung in lateinische Metren zu übertragen suchen. 22 Kaum noch der Erwähnung bedarf es schließlich, dass dies mit der Adaptation konkreter literarischer Modelle einher-

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Die herausgehobene Bedeutung, die Xandra bereits in dieser Fassung zukommt, ergibt sich nicht nur daraus, dass sie die am häufigsten besungene Geliebte ist. Sie wird auch dadurch markiert, dass das erste und das letzte der Liebesthematik geltende Gedicht (B 3 und B 52) Xandra zum Gegenstand haben, die Xandra-Liebe somit eine Art Rahmen der Sammlung bildet. Schließlich begründet das lyrische Ich seine Entscheidung, diese nach Xandra zu benennen, mit deren Rolle als Inspirationsquelle für seine Dichtung. S. Xandra B 3: Xandra dedit quondam nobis in carmine vires, | nunc titulum libro candida Xandra dabit; „Sandra verlieh mir einst die Kräfte beim Dichten. Nun wird die schöne Sandra dem Buch den Titel geben“; Wiedergabe und deutsche Übersetzung von Gedichten aus der ersten Xandra-Fassung folgen der Ausgabe von Wenzel (Hg.): Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3). Zu den anderen besungenen Frauenfiguren s. Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 34. Die meiste Aufmerksamkeit neben der titelgebenden Xandra erhält eine Gnognia, der die Gedichte 13 bis 18 gelten. Diese Gewichtung entspricht durchaus der Tradition der römischen Liebeselegie, in der neben einer zentralen Geliebten immer wieder auch weitere Liebschaften des lyrischen Ichs thematisiert werden (ebd.). S. Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 16–17. Vgl. ebd., S. 66 mit Verweis auf den Einfluss von Beccadellis Hermaphroditus auf die betreffenden Gedichte; allgemein zum Einfluss dieser erotischen Gedichtsammlung auf die erste Xandra-Fassung s. ebd., S. 75–79 und Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 93 sowie S. 73–78. Zur Bedeutung insbesondere der epigrammatischen Tradition für die Poetik der ersten Xandra-Fassung s. Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 94– 97; für eine kurze Charakterisierung der ersten Xandra-Fassung s. auch Cardini: La critica del Landino (wie Anm. 1), S. 2–4.

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geht, die der Antike, aber auch der zeitgenössischen lateinischen Dichtung23 sowie – und hierin sticht Landino im lateinischsprachigen Kontext seiner Zeit heraus – mit Petrarca dem prominentesten Vertreter volkssprachlicher Poesie auf der Apenninenhalbinsel angehören. 24 Trotz der Prominenz der titelgebenden Geliebten präsentiert sich die erste Xandra-Fassung als nach Adressatinnen und Adressaten, im Zugriff auf die Liebes-Thematik, in sprachlichem Register und formaler Gestaltung sowie nach den adaptierten Modellen als äußerst variationsreiches literarisches Produkt. Es ist hier nicht der Ort, diesen gestalterischen Reichtum der Sammlung genauer zu analysieren.25 Für die hier behandelte Fragestellung ist von Relevanz, dass sich die vielschichtige varietas, die die erste Xandra-Fassung auszeichnet,26 nicht nur dem Rückgriff auf verschiedene antike und zeitgenössische Modelle verdankt,27 sondern dass deren kompositorisches Prinzip selbst vor allem einem dichterischen Vorbild verpflichtet ist, nämlich Catull, dem Landino auch im Hinblick auf den Anspruch, den er seinem Gedichtbuch beimisst, gefolgt ist.28 Erkennbar wird dies im einleitenden Dedikationsgedicht an Leon Battista Alberti,29 einem an das Gedichtbuch gerichteten Propemptikon, das, wenngleich er23

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S. neben dem Kommentar von Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 131– 295 Thomas M. Greene: The light in Troy. Imitation and discovery in Renaissance poetry, New Haven 1982 (The Elizabethan Club Series 7), S. 167–168. S. mit Interpretation der einschlägigen Gedichte Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 65–75. Allgemein zum lateinischen Petrarkismus im Quattrocento s. die Literatur unten in Anm. 58. Für umfassende formale und inhaltliche Charakterisierungen der ersten Fassung des Xandra-Zyklus s. Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 93–97 und Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 26–41 (zum Widmungsgedicht an Alberti ebd., S. 26). Dem widerspricht nicht, dass sich innerhalb der Sammlung einzelne kleinere thematische Einheiten identifizieren lassen, wie Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 97 mit Anm. 118 zu Recht darlegt. Grundsätzlich zu varietas als poetologischem Prinzip rinascimentaler Literatur s. die Beiträge in: Varietas und ordo. Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock, hg. von Marc Föcking und Bernhard Huss, Stuttgart 2003 (Text und Kontext 18), vgl. auch S. IX–XI in der Einleitung der Herausgeber; vgl. zum epistemologischen Hintergrund Klaus W. Hempfer: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen, hg. von dems., Stuttgart 1993 (Text und Kontext 10), S. 9–45. Zu den Bezügen der ersten Xandra-Fassung zur antiken Dichtung mit exemplarischen Analysen s. ausführlich Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 43–64. Vgl. ebd., S. 131 sowie den Stellenkommentar zu diesem Gedicht ebd., S. 131–140. Allgemein zur Rezeption Catulls in der Renaissance s. Julia Haig Gaisser: Catullus and his Renaissance Readers, Oxford 1993. Zu Vita, Wirken und Œuvre von Leon Battista Alberti, freilich in der Regel mit besonderer Berücksichtigung seiner architektur- und kunsttheoretischen Schriften und

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heblich umfangreicher, in wesentlichen Aspekten Catulls Auftaktgedicht adaptiert.30 Gleichermaßen im Hendekasyllabus verfasst und in Variation von Catulls Anrede an den als gelehrten Literaturkenner beschriebenen Cornelius31 gelten Landinos einleitende Widmungsverse dem Porträt Leon Battista Albertis als bedeutendem Literaten und geeignetem Kritiker des Gedichtbuchs. In der einleitenden Ermahnung des lyrischen Ichs, Scham, Unsicherheit und Selbstzweifel abzulegen und ohne Zögern den Weg nach Rom zu Alberti einzuschlagen, erscheint allerdings nicht nur dieser schmeichelhaft als Gelehrter von ebenso kenntnisreichem wie freundlichem Urteil. Außerdem verrät sie in erneut amplifizierendem Rückgriff auf Catulls Einleitungsgedicht einiges über die Poetik der Sammlung:32 Cur non sumis iter? Timesne tanti forsan iudicium viri subire? Nil est, quod timeas. Legit poetas doctos ille libens salesque laudat leves et placidos probat lepores, sed nec raucidulos malosque vates, quamvis molliculi nihil bonique candoris teneant, fugit severus. Laudat, si quid inest tamen modeste laudandum, reliquum nec usque mordens coram carpit opus bonusque amice secreta monet aure nigriora, quae tolli deceant simulque verti albis carmina versibus.

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seines architektonischen Wirkens, s. statt vieler Luca Boschetto: Leon Battista Alberti e Firenze. Biografia, Storia, Letteratura, Florenz 2000 (Ingenium 2) und Anthony Grafton: Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin 2002; zu dessen Bibliothek und intellektuellem Profil s. die Beiträge in: Leon Battista Alberti. La biblioteca di un umanista, hg. von Roberto Cardini, Florenz 2005 (Pubblicazioni del Centro di Studi sul Classicismo 6). Für eine weitere, in dieselbe Richtung gehende Interpretation des Widmungsgedichts s. Hartmut Wulfram: Gedichte an einen uomo universale – Leon Battista Alberti in Landinos Xandra (B), in: Kofler/Novokhatko (Hgg.): Cristoforo Landinos Xandra (wie Anm. 5), S. 1–18, hier S. 2–7 mit Herausarbeitung weiterer antiker Prätexte, unter denen Ov. trist. 1,1 von besonderer Bedeutung ist; zu den weiteren Gedichten der ersten Fassung, die sich Leon Battista Alberti widmen, s. ebd., S. 7–14, und Ulrike Auhagen: Landinos „hinkendes Büchlein“. Anfangs- und Schlussgedicht der Xandra (B 1 und B 53), in: ebd., S. 151–169, hier S. 157–164 mit besonderem Blick auf die sprachliche Gestaltung des Widmungsgedichts sowie seine antiken Vorlagen. Gemeint ist der Historiker Cornelius Nepos (ca. 100–24 v. Chr.). Landino: Xandra B 1,7–20a.

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Gernot Michael Müller Warum machst du dich nicht auf den Weg? Fürchtest du vielleicht, dich dem Urteil eines so bedeutenden Mannes zu unterziehen? Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest! Er liest gern gelehrte Dichter, lobt galanten Witz und mag feinen Humor. Doch auch rauklingende und schlechte Dichter meidet er nicht streng, auch wenn sie nichts an zartem und gutem Glanz haben. Er lobt sie, wenn es dennoch ein wenig Lobenswertes gibt. Das übrige Werk zerreißt er nicht fortwährend in aller Öffentlichkeit mit beißenden Worten, gut und freundlich macht er in privatem Gespräch auf die unschöneren Gedichte aufmerksam, welche besser entfernt und welche auch durch reine Verse verändert werden sollen.

Als indirekte Charakterisierung seines Inhalts und Anspruchs beschreiben die literarischen Vorlieben Albertis, die das lyrische Ich nennt, um seinem Buch die Angst vor seinem Empfänger zu nehmen, dieses als gelehrt und stilistisch ausgefeilt, sodann als witzig, kurzweilig und von leichten, wenig anspruchsvollen Themen geprägt. Damit korrespondiert im ersten Vers seine einmal mehr an Catull angelehnte Anrede im Diminutiv, wodurch es von seinem Anspruch her von Anfang an als Kleinigkeit und gleichsam leichte Kost bewertet wird:33 Ibis, sed tremulo, libelle, gressu, nam cursus pedibus malis negatur! Verum ibis tamen et meum Leonem Baptistam, Aonidum decus sororum, antiqua Eneadum videbis urbe! Geh, mein Büchlein, doch mit vorsichtigem Schritt, denn der Weg ist nichts für schlechte Füße! Aber geh trotzdem und besuche meinen Leon Battista, die Zier der aonischen Schwestern, in der alten Stadt der Aeneassöhne.

Zum Abschluss verheißt das lyrische Ich seinem Buch dennoch wohlwollende und sogar dauerhafte Aufnahme bei seinem Adressaten. Doch eingedenk seines zuvor angedeuteten Ranges möge es das richtige Bücherregal für sich wählen. 33

Landino: Xandra B 1,1–5; vgl. Catull. 1: Cui dono lepidum nouum libellum | arida modo pumice expolitum? | Corneli, tibi: namque tu solebas | meas esse aliquid putare nugas, | iam tum cum ausus es unus Italorum | omne aeuum tribus explicare cartis | doctis, Iupiter, et laboriosis. | Quare habe tibi quicquid hoc libelli, | qualecumque: quod, Thalia uirgo, | plus uno maneat perenne saeclo („Wem schenke ich das zierliche neue Büchlein, das soeben mit trockenem Bimsstein glatt geriebene? Cornelius, dir. Denn du pflegtest von meinen Kleinigkeiten etwas zu halten schon damals, als du es wagtest als einziger von den Italern, all die Jahrhunderte in drei Büchern zu entfalten, die gelehrt sind, beim Jupiter, und viel Mühe machten. Darum empfange dieses Büchlein, was auch immer und wie auch immer es sein mag; möge es, o jungfräuliche Thalia, mehr als ein Jahrhundert fortwährend Bestand haben“; Übersetzung von Niklas Holzberg). Die poetologisch relevante Anrede des Buchs wiederholt Landino gegen Ende des Gedichts in Variation noch zweimal (Xandra B 1,25: parve liber; 27: heus libelle).

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Die Werke Albertis, unter die es sich bescheiden als letztes einreihen soll, verweisen in ihrer Zugehörigkeit zum ebenso niedrigen wie spielerischen literarischen Register dabei ein letztes Mal auf den moderaten Anspruch der XandraSammlung, aber auch auf eine dazu komplementäre literarische Produktion Albertis:34 Hic te, parve liber, sinu benigno letus suscipiet suisque ponet libris hospitulum. Sed, heus libelle, audin, nequitie tue memento! Quare, si sapies, severiores, quos ille ingenuo pios pudore multos composuit, relinque libros et te Passeris illius querelis, doctis sive Canis iocis Hiberi, argute lepideque sive Musce extremum comitem dabis! Superque est istis, si potes, ultimus sedere. Er wird dich, kleines Buch, mit freundlichem Herzen und heiter aufnehmen und dich als kleinen Gast zu seinen eigenen Büchern stellen. Aber, he, Büchlein, hörst du? Denk an deine Leichtfertigkeit! Lass deshalb, wenn du Verstand hast, die ernsteren Bücher beiseite, von denen er viele seriöse mit der ihm eigenen Zurückhaltung geschrieben hat, und geselle dich den Klagen des berühmten ‚Passer‘, den gelehrten Späßen des spanischen ‚Canis‘ oder der geistreichen und heiteren ‚Musca‘ als letzten Gefährten zu! Dir bleibt, wenn du kannst, hinter ihnen zu sitzen.

In der Tat weist Albertis Œuvre auch solche Werke auf, deren Ort in der literarischen Hierarchie der ersten Xandra-Fassung nahekommt, wie etwa paradoxe Enkomia oder Werke, die im Horizont Lukians anzusiedeln sind.35 Alberti erscheint am Ende von Landinos Widmungsgedicht nicht mehr nur als Literaturkenner, sondern selbst als Literat, dessen Urteilsfähigkeit auf der Produktion von Literatur gleichen Registers basiert. Seine Versendung lässt Landinos Gedichtbuch somit zum Gegenstand der literarischen Kommunikation gelehrter Dichter und Literaten werden, die ihre amüsante und leichte Literatur zum gegenseitigen Gefallen zirkulieren lassen, um sich dabei auch dem kritischen Blick des literarischen Kenners zu stellen. Landinos leichte und scherzhafte Muse, die er mit

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Landino: Xandra B 1,25–36. S. Wulfram: Gedichte an einen uomo universale (wie Anm. 30), S. 4 mit Anm. 14. über Albertis im obigen Zitat angesprochene Werke im Horizont einer Gesamtcharakterisierung von dessen Œuvre sowie Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 139–140 ad loc.

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seiner ersten Xandra-Sammlung realisiert, erscheint damit als ebenso gelehrtes wie auf das Vergnügen gleichgesinnter Literaten ausgerichtetes Projekt.36 Vor diesem Hintergrund vollzieht die Zueignung der knapp fünfzehn Jahre später zu datierenden zweiten Xandra-Fassung an Piero de’ Medici nicht nur einen Wechsel des Adressaten, sondern auch deren Übertragung in einen neuen Rezeptionskontext. Widmungsträger der umgearbeiteten und erweiterten Sammlung ist nicht mehr ein Gelehrter und Dichterkollege, den das lyrische Ich als auctoritas in literarischen Fragen anspricht, sondern der Lenker der Stadt Florenz, dessen Gunst es sich mit seinem poetischen Werk versichern will.37 Ziel der Zueignung ist es infolgedessen nicht mehr, das Ergebnis poetischer Bemühung innerhalb einer literarischen Diskursgemeinschaft zu präsentieren, in der es auch um wechselseitige Begutachtung der von ihren Mitgliedern verfassten Produkte geht, sondern die Etablierung eines mäzenatischen Beziehungsverhältnisses.38 Freilich nimmt das lyrische Ich in seiner Widmung an Piero de’ Medici zentrale Koordinaten des Dedikationsgedichts an Leon Battista Alberti wieder auf:39 Qui nunc censuram mavult tolerasse legentum terna olim potuit lustra latere liber; namque pudens, gnarusque sui sapienter ineptas in lucem nugas noluit ire suas. Nunc tua cum videat geminos per limina fratres audere in doctas saepe redire manus,

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Damit korrespondiert die Vermutung Perosas, die erste Xandra-Fassung sei deswegen in nur einer Handschrift überliefert, weil sie lediglich in einem kleinen Kreis verbreitet worden sei; vgl. Perosa (Hg.): Christophori Landini carmina omnia (wie Anm. 4), S. XXXVIII. Zu Piero de’ Medici und seiner Kunstförderung s. Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 54–62. Allgemein zur Geschichte der Medici und ihrer Bedeutung für Florenz ab dem 15. Jh. s. beispielsweise Alison Brown: The Medici in Florence. The Exercise and Language of Power, Florenz/Perth 1992 (Italian Medieval and Renaissance Studies 3). Die zweite Xandra-Fassung ist in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit Landinos Berufung auf den Lehrstuhl für Poetik und Rhetorik am Studio Fiorentino entstanden, in deren Vorfeld sich dieser intensiv und letztlich erfolgreich um die Unterstützung Pieros de’ Medici bemüht hatte; vgl. Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 44–52. Landino: Xandra A 1,1,1–20. S. zu diesem Gedicht im Kontext von A 1,2 und A 1,33 Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 153–158. Die Wiedergabe dieses und aller weiteren Gedichte der zweiten Fassung folgt der Ausgabe von Perosa (Hg.): Christophori Landini carmina omnia (wie Anm. 4). Die Übersetzungen stammen vom Autor dieses Aufsatzes. Eine weitere Edition mit englischer Übersetzung findet sich in: Cristoforo Landino: Poems, translated by Mary P. Chatfield, Cambridge (Mass.)/London 2008 (The I Tatti Renaissance Library 35).

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ipse etiam Medicis se Maecenatis in aula sperat honoratum posse tenere locum. Qui faciam si magna tui clementia suadet tristia ne docti iudicis ora tremat, si nimium petulans, nimium te, Petre, superbus effugit obscurae sordida tecta domus? Ergo eat: at turbae morsus si quando malignos senserit et turpes in sua terga notas, heu, cupiet rursum spretas intrare latebras et semel invisos ultro redire lares; sed si forte sacro felix se fonte lavabit, qui fluit e Medica, lucida lympha, petra, tunc lautus, nigras vertens in candida mendas rumores de se negliget ille malos. Das Buch, das es jetzt vorzieht, sich der Kritik seiner Leserschaft zu stellen, vermochte dreimal fünf Jahre verborgen zu bleiben. Denn schüchtern und sich seiner bewusst wollte es seine törichten Nichtigkeiten nicht ans Licht bringen. Nun, da es sieht, wie seine Zwillingsbrüder es wagen, sich wiederholt über deine Türschwelle in gelehrte Hände zu begeben, hofft es, selbst einen ehrenvollen Platz im Palast des Maecenas Medici zu erhalten. Was soll ich tun, wenn es deine große Sanftmut dazu überredet, nicht vor der strengen Miene des gelehrten Kritikers zu erzittern, und wenn es allzu leichtfertig und sich deiner brüstend, Pietro, dem armseligen Dach eines einfachen Hauses entwischt? Also soll es gehen: Aber wenn es einmal die missgünstigen Angriffe der Menge bemerkt haben wird und wie hinter seinem Rücken schmählich auf es gezeigt wird, ach, dann wird es danach verlangen, wieder seine verschmähten Schlupfwinkel zu betreten und freiwillig in die einstmals verhasste Heimstatt zurückkehren. Aber sollte ihm das Glück widerfahren, sich im heiligen Quell zu waschen, der als klares Wasser dem mediceischen Fels entspringt, dann wird es, gereinigt und seine dunklen Schwachstellen auf diese Weise in Glanz verwandelnd, das üble Gerede über sich überhören.

Zwar redet das lyrische Ich das Buch nicht wie in jenem direkt an. Dennoch weiß es auch hier von ihm zu berichten, dass es sich ziert, in die Öffentlichkeit zu treten, weil es sich seines niedrigen Inhalts bewusst ist,40 und daher gedrängt werden muss, sich auf den Weg zu seinem Empfänger zu machen. Dieser wird, wenngleich kein Literat, trotzdem implizit einem Kreis gelehrter Rezipienten zugerechnet, die eine sich gerade durch ihren Reichtum an intertextuellen Bezügen zu antiken wie zeitgenössischen Vorlagen und Modellen auszeichnende Dichtung zu goutieren wissen.41 In dieser Hinsicht scheint sich der Adressat vom gemeinen Volk zu unterscheiden, dessen Verachtung das Büchlein offensichtlich in hohem Maße befürchten muss.42 Das Widmungsgedicht an Piero de’ Medici 40 41 42

Landino: Xandra A 1,1,3f. Ebd., v. 5–8. Ebd., v. 13f.

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ist folglich bemüht, eine exklusive Verbindung zwischen Dichter und Mäzen herzustellen und beide von einer gegenüber gelehrter Poesie unsensiblen Allgemeinheit abzugrenzen. Stiftet Dichtung auch hier Beziehung zwischen Autor und Adressaten auf der Grundlage gemeinsamer Wertschätzung gelehrter Dichtung, bleibt die Frage nach deren Rezeptionsmöglichkeiten im Leben eines Staatsmanns, die eingeschränkter sein müssen als jene eines Gelehrten wie Leon Battista Alberti. Benannt werden diese in der Widmung des zweiten Buchs, die diesmal sogar zwei Nummern umfasst, indem Landino sein lyrisches Ich unter Hinweis auf entsprechende antike Beispiele die Lektüre seiner Dichtung als Beschäftigung empfehlen lässt, die Piero zur Erholung von den schweren Staatsgeschäften dienen soll:43 Nostri certa salus, Medices, quo sospite numquam defuerunt sacris praemia virginibus, quo duce Tyrrhenis deductum montibus Arnum praeferet Aoniis turba canora iugis; publica si quando cessant tibi munera et audes instaurare brevi seria longa ioco, ne pudeat nostros percurrere, Petre, libellos, et nugas hilari fronte probare meas. Magnos magna decent, fateor: tamen haec quoque fessos quae reparent animos, ne fugienda putes. Scipio nam quantus, cessit cui Punica virtus, fortia cum Libyci contudit arma ducis; hunc tamen in placido viderunt otia ludo ostrea Campano spargere lecta salo. Unser sicheres Heil, Medici, zu dessen Lebzeiten den heiligen Jungfrauen niemals ihr Lohn versagt blieb und unter dessen Führung die singende Schar den Arno, hinabgeflossen aus den Bergen des Apennin, den Höhen des Helikon vorziehen: Wenn dich deine politischen Aufgaben irgendwann einmal in Ruhe lassen und du es dir erlauben kannst, deine langdauernden Verpflichtungen durch kurzes Scherzen aufzulockern, dann sollst du dich nicht genieren, Pietro, unsere Büchlein zu überfliegen und meine poetischen Kleinigkeiten mit einem Lächeln im Gesicht in Augenschein zu nehmen. Ich gestehe zu: Bedeutenden Menschen gebühren bedeutende Gegenstände. Dennoch sollst du auch das, was einen müden Geist erfrischt, nicht für ablehnenswert halten. Denn so groß Scipio auch war, dem sich Karthagos Stärke beugen musste, als er die gewaltigen Waffen des Feldherrn aus Libyen vernichtete, sahen ihn ruhige Momente dennoch friedlich beim Spiel, wenn er Muscheln warf, die er zuvor im kampanischen Meer gesammelt hatte.

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Landino: Xandra A 2,1,1–14.

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Die Gedichte werden somit auch hier als gelehrte Kleinigkeiten angeprochen.44 Allerdings siedeln sie sich nicht mehr innerhalb einer auf gegenseitige Kommentierung und Kritik zielenden Kommunikation von Literaten an. Dennoch sollen sie erneut der intellektuellen Kurzweil dienen, und zwar in den dünn gesäten Ruhephasen der großen Politik.45 Für diese Stand und Beruf des neuen Adressaten geschuldete Modifikation der Funktion, die Landino seiner Liebesdichtung zuweist, lassen sich erneut Vorläufer benennen, diesmal in der zeitgenössischen Poesie. So hatte bereits Antonio Beccadelli, genannt Panormita, seine um 1425 zusammengstellte Sammlung erotischer Gedichte mit dem Titel Hermaphroditus Pieros Vater Cosimo de’ Medici mit der Empfehlung gewidmet, sich mit deren Lektüre von den anstrengenden Aufgaben als Staatsmann zu erholen, und damit auf deren Entspannungspotential verwiesen:46 Si vacat a patrii cura studioque senatus, quicquid id est, placido lumine, Cosme, legas. Wenn der Rat frei hat von der Sorge um das Vaterland, mögest Du dies mit entspannten Augen lesen, was auch immer es ist.

Mit dem Verweis auf das Erholungspotential seiner gelehrten Dichtung als Argument für einen Staatsmann, diese zu rezipieren und damit als ihm dienliche kulturelle Leistung anzuerkennen, rekurriert Landino folglich auf eine im Umfeld der Medici bereits erprobte Strategie, Aufmerksamkeit und Interesse für humanistische Poesie zu erzielen. Dabei dient die Werbung für deren Erholungspotential dazu, die führenden Persönlichkeiten der Stadt durch die Betonung ihrer Gelehrsamkeit zwar nicht als Produzenten, aber immerhin als wohlwollende und kompetente Rezipienten in die intellektuelle Diskursgemeinschaft humanistischer Literaten zu integrieren. Ergebnis ist mithin ein wechselseitiger Nutzen: Versorgt der Dichter seinen Adressaten mit einem für seine Selbstrepräsentation verwertbaren kulturellen Prestige, verschafft er sich selbst eine privilegierte Position im Umfeld der städtischen Macht und vermag damit auch seine gesellschaftliche Rolle zu stärken. So sehr sich also der Verweis auf die Erholungsfunktion seiner Liebesdichtung mit ihrer Funktionalisierung als literarisches Spiel im Kontext gelehrter Kommunikation ähnelt, ist Landino mit dem Adressatenwechsel in der zweiten Fassung des Xandra-Zyklus bestrebt, seine Position als Dichter im gesellschaftlichen Gefüge der Arnostadt trotz gleichbleibender 44 45 46

Ebd., v. 7: nostros libellos; v. 8: nugas meas. Ebd., v. 5: publica munera; v. 6: brevi ioco. Beccadelli: Hermaphroditus 1,1,1f. (zitiert nach: Antonio Beccadelli: Hermaphroditus, Bd. 1, hg. von Donatella Coppini, Rom 1990 [Humanistica 10]; Übersetzung vom Verfasser); zum Widmungsgedicht s. konzise Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 73–78.

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Bewertung seiner Gedichte als spielerische Kleinigkeiten zu erhöhen und diese Steigerung des Prestiges auch zu markieren. III Antonio Beccadelli suchte die Nähe zu Cosimo de’ Medici mit einer Gedichtsammlung, die der ersten Xandra-Fassung dahingehend ähnelt, dass sie sich im Zugriff auf die Liebesthematik sowie im Hinblick auf Adressatenschaft und Anzahl der besungenen Geliebten ebenso einer Poetik der varietas verpflichtet zeigt.47 Landino hat seine Annäherung an den Nachfolger Cosimos demgegenüber mit einer Umarbeitung seiner Sammlung verbunden, die neben anderem weitreichende Konsequenzen für die Behandlung des Themas Liebe hat. Diese Veränderungen artikulieren sich zum einen darin, dass die Pluralität an Geliebten, der das lyrische Ich in der ersten Fassung neben der titelgebenden Xandra verfallen ist, fast ausschließlich auf diese reduziert wird.48 Thematisiert werden somit nicht mehr eine Mehrzahl von Liebesabenteuern, sondern die Wechselfälle einer einzigen Beziehung, die zunehmend alternativlos ist und trotz Seitensprüngen und anderweitiger Krisen grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird.49 Zum anderen wird die zu einer in Episoden erzählten Geschichte neu komponierte Liebesbeziehung, die infolgedessen auch einen präzisen Anfang kennt,50 47

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Dabei akzentuiert sie den erotischen Gehalt im Vergleich zur ersten Xandra-Fassung beträchtlich deutlicher. Zur Poetik des Hermaphroditus s. u.a. Donatella Coppini: Dummodo non castum. Appunti su trasgressioni, ambiguità, fonti e cure strutturali nell’Hermaphroditus del Panormita, in: Filologia umanistica per Gianvito Resta, Bd. 1, hg. von Vincenzo Fera und Giacomo Ferraù, Padua 1997 (Medioevo e umanesimo 94), S. 407–427. Die Fokussierung auf Xandra in der zweiten Fassung kann darauf aufbauen, dass diese, wie angedeutet, bereits in der ersten eine prägende Rolle spielt; vgl. oben Anm. 18. Umgekehrt reflektiert deren erstes Buch trotz Umarbeitungen die varietas der ersten durch die Beibehaltung einiger epigrammatischer Gedichte mit entsprechender Thematik; vgl. Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 97–98. Daneben weisen bereits zahlreiche Gedichte der ersten Xandra-Fassung elegische Züge auf; dass das Motiv des servitium amoris dabei nur in Gedichten auf Xandra erscheint, weist auf deren besondere Stellung im Kontext der anderen in dieser Fassung besungenen Frauen hin und bereitet die ausschließliche Konzentration auf sie in der zweiten Fassung vor; vgl. Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 27–34. Für eine Charakterisierung der zweiten Xandra-Fassung s. auch Martin L. McLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance (wie Anm. 4), S. 168–169 und Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 18–24. Von einem innamoramento handelt freilich auch schon ein Gedicht in der ersten Xandra-Fassung, nämlich B 4, das sich amplifizierend an Properz 1,1,1f. anlehnt; vgl. Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 143. Dennoch sind die darauffolgen-

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einem Lebensalter zugeordnet, der Jugend nämlich, in dem Liebeserfahrung und dichterische Rede darüber legitim und entschuldbar seien. So heißt es in der Elegie, die im ersten Buch auf die Widmung an Piero folgt:51 Si te Pierides, vatum si tutor Apollo, vivere, parve liber, saecula longa velint, hos fuge, quos nullo quondam violaverit arcu neve suis facibus usserit asper Amor; namque negant veniam tristes qui fronte severa censuraque graves mollia verba notant. Si quis at hamatis transfixus corda sagittis pertulerit nostri vulnera cruda dei, hic veniamque dabit simul et miserebitur ultro nec feret in nostris lumina sicca malis; nam semel indignas furias expertus amantum asseret in terris durius esse nihil. Praesertim ignoscet nimium iuvenilibus annis; semper enim haec aetas digna favore venit. Wofern dich, kleines Buch, die Musen und Apoll, der Beschützer der Dichter, über lange Jahrhunderte leben lassen möchten, meide diese, die der hartherzige Amor niemals mit seinem Pfeil verletzt noch mit seinen Fackeln versengt hat. Denn traurig verweigern diejenigen Verzeihung, die ernst und mit strengem Gesichtsausdruck zärtliche Worte mit ihrer Kritik versehen. Doch wenn einer, das Herz von den hakenförmigen Pfeilen durchstochen, die grausamen Wunden unseres Gottes ertragen hat, wird er verzeihen und sich zugleich freiwillig erbarmen, und seine Augen werden angesichts unseres Leidens nicht trocken bleiben. Denn wenn einer einmal die schmachvolle Raserei der Liebenden kennengelernt hat, wird er beipflichten, dass es auf Erden nichts Härteres gibt. Vor allem wird er dies noch allzu jugendlichen Jahren verzeihen; denn dieses Alter ist der Gunst immer wert.

Während sich die in der ersten Xandra-Fassung thematisierten Liebesbeziehungen jeder chronologischen Verortung enthalten und somit als Elemente eines zeitlosen poetischen Spiels erscheinen, erhält die Rede über Liebe in der zweiten Fassung zusätzlich zur sukzessiven Fokussierung auf die eine Geliebte Xandra eine biographische Verortung.52 Aber mehr noch: Verbunden mit deren Zuordnung auf die Jugend des lyrischen Ichs sieht es sich hier veranlasst, auf den im zeitgenössischen Kontext prekären Status der Liebe einzugehen,53 indem es vorab die kritischen Stimmen gegenüber dem expliziten Liebesbekenntnis imagi-

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den Gedichte, die von Xandra handeln, noch nicht wahrnehmbar als Episoden einer länger andauernden Beziehung gestaltet wie in der zweiten Fassung. Landino: Xandra A 1,2,1–14. Ebd., v. 13f. Ebd., v. 3–6.

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niert und ihnen mit dem Argument den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht, dass die Liebe in der Jugend zu verzeihen sei, weil letztlich jeder Mensch in dieser Lebensphase von der Regung der Liebe betroffen sei, so er sich nicht als gänzlich herzlos erweise.54 Das Modell, dem das lyrische Ich bei der biographischen Verortung seiner Liebeserfahrung sowie bei deren Rechtfertigung folgt, ist Petrarca, der sein lyrisches Ich dessen Zuneigung zur Dame Laura zu Beginn seines Canzoniere gleichermaßen in die Jugend datieren lässt. Auch wenn es diese dabei als Irrtum bezeichnet und damit strenger auf diese zurückblickt als Landino, qualifiziert es sie letztlich ebenso als Regung, die wegen seines damaligen Lebensalters zu entschuldigen sei:55 Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono di quei sospiri ond’io nudriva ’l core in sul mio primo giovenile errore quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’sono: del vario stile, in ch’io piango e ragiono, fra le vane speranze e ’l van dolore, ove sia chi per prova intenda amore, spero trovar pietà, nonché perdono. Die ihr, wie sie durch meine Reime gehen, Den Seufzern lauscht, womit mein Herz ich nährte, So lang der erste Jugendirrtum währte Und ich zu andrem war, als jetzt, ersehen! – Ungleichem Stil, drin ich in eitlen Wehen Und eitlem Hoffen weinend mich verzehrte, Wird, wen Erfahrung Liebe kennen lehrte, Mitleid, nicht bloß Verzeihung, zugestehen.

Petrarca ist auch das folgende Gedicht verpflichtet, und zwar nicht nur, weil es vom Beginn des innamoramento erzählt, sondern auch, weil es diesen in die gleiche Jahreszeit datiert wie das lyrische Ich des Canzoniere.56 Eine solche 54 55

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Ebd., v. 7–12. Petrarca: RVF 1,1–8 (Übersetzung: Karl Förster). Von Liebe als einer Regung, der es zu verzeihen gilt, weiß das Gedicht B 4 in der ersten Xandra-Fassung entsprechend seiner antiken Vorlage noch nichts. Vgl. Landino: Xandra A 1,3 mit erneutem Hinweis auf die Jugend des Sprechers mit etwa Petrarca: RVF 3 (aber auch 9 und 23). Für die Verbindung von liebeselegischer und petrarkistischer Motivik in A 1,3, zu denen noch Anspielungen auf Dante hinzutreten, s. die vorbildliche Interpretation von Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 101–117; vgl. auch Natascia Tonelli: Landino: La „Xandra“

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Anlehnung an den wirkungsmächtigsten volkssprachlichen Poeten des Trecento ist im Œuvre Landinos nicht neu. Wie oben angedeutet, beinhaltet schon die erste Xandra-Fassung einige Gedichte, die sichtlich solche Petrarcas nachahmen.57 Neu in der zweiten Version ist jedoch die mit deren Positionierung am Anfang der Sammlung verbundene Programmatik, durch die angezeigt werden soll, dass die Neukonzeption des Xandra-Zyklus mit einer bewussten Neuausrichtung im Hinblick auf das nachgeahmte Modell einhergeht.58 Anders als Petrarca, der die Zuneigung des lyrischen Ich gegenüber einer letztlich unerreichbaren Dame besingt, erzählt Landino indes durchaus, und dies nicht nur in den aus der ersten Fassung übernommenen Gedichten, von Episoden einer Beziehung, die tatsächlich und dauerhaft zustande kommt und zumindest in Anspielung den körperlichen Bereich einschließt. 59 Themen und spezifische Ausgestaltung der einschlägigen Gedichte hat Landino wiederum der römischen Liebeselegie entnommen, in der er die für die Xandra-Beziehung konstitutive Gegenseitigkeit sowie die darauf aufruhenden Motive von Rückschlag und Streit, temporärer Trennung sowie gelegentlicher Zuwendung des Sprechers zu anderen Geliebten vorgebildet finden konnte.60 Das Liebeskonzept der zweiten Xandra-Fassung prägt somit eine charakteristische Verbindung von petrarki-

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e il codice elegiaco, in: Giornale storico della letteratura Italiana 179 (2002), S. 193– 211, hier v.a. S. 193–203 sowie Thurn: Neulatein und Volkssprachen (wie Anm. 3), S. 135–139. Zu den an Petrarca angelehnten Gedichten Landinos in der zweiten Xandra-Fassung s. McLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance (wie Anm. 4), S. 168–171 sowie überblicksweise Thurn: Neulatein und Volkssprachen (wie Anm. 3), S. 128– 129. S. Gernot Michael Müller: Zwischen Properz und Petrarca. Strategien der aemulatio im Xandra-Zyklus des Cristoforo Landino, in: Abgrenzung und Synthese. Lateinische Dichtung und volkssprachliche Traditionen in Renaissance und Barock, hg. von Marc Föcking und dems., Heidelberg 2007 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 31), S. 133–164, hier S. 138–145; vgl. auch Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 123–125; überblicksweise zur Petrarca-imitatio in der zweiten Xandra-Fassung s. auch Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 159–166; allgemein zur Rezeption Petrarcas in der neulateinischen Lyrik s. Leonard Forster: Petrarkismus und Neulatein, in: Der petrarkistische Diskurs (wie Anm. 13), S. 165–185; speziell zum Einfluss Petrarcas auf die neulateinische Elegie s. knapp Walter Ludwig: Petrus Lotichius Secundus and the Roman Elegists: Prolegomena to a Study of the Neo-Latin Elegy, in: ders.: Litterae Neolatinae. Schriften zur neulateinischen Literatur, hg. von Ludwig Braun u.a., München 1989 (Humanistische Bibliothek 35), S. 202–217, hier S. 203–204. Vgl. Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 115–116 sowie Thurn: Neulatein und Volkssprachen (wie Anm. 3), S. 130 und 133–134. Vgl. Wenzel: Die Xandra-Gedichte (wie Anm. 3), S. 19–22, zu liebeselegischen Aspekten in der ersten Fassung s. ebd., S. 29–36.

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schem Modell und römischer Liebeselegie, die vor allem in deren ersten Buch programmatisch inszeniert und daraufhin in einer metapoetischen Elegie zu Beginn des zweiten Buches explizit gemacht wird.61 Dabei zeigt sich Landino einem Liebeselegiker besonders verpflichtet, den er in jener metapoetischen Elegie 2,4 im Gestus der eigenen Unzulänglichkeit explizit neben Petrarca als weiteren Referenzautor genannt hat, nämlich Properz.62 Sein Œuvre lieferte Landino nicht nur ein weiteres Beispiel für eine explizite Verortung der Liebeserfahrung in der Jugend des lyrischen Ichs.63 An ihm hat sich Landino vor allem orientieren können, um im weiteren Verlauf der zweiten Xandra-Fassung die Abkehr von der Liebesthematik zu vollziehen und diese komplementär zu ihrer Begrenzung auf eine Lebensphase als Episode in seinem poetischen Schaffen zu inszenieren. Denn bekanntlich lässt Properz sein lyrisches Ich gegen Ende des dritten Buches aus Überdruss an den beständigen Wechselbädern, die ihm seine Geliebte Cynthia verursacht, beschließen, sich von ihr zu lösen und seine Dichtung hinfort auf patriotische Themen auszurichten, die sodann das vierte Buch des properzischen Dichtungsœuvres prägen.64 61

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S. Tonelli: La „Xandra“ e il codice elegiaco (wie Anm. 56), S. 204–208 und Müller: Zwischen Properz und Petrarca (wie Anm. 58), S. 138–149. Zum Einfluss Landinos auf die Dichtung im Florenz des Quattrocento s. den Überblick von Nikolaus Thurn: Petrarchismo nella scuola fiorentina di Cristoforo Landino, in: Studi umanistici piceni 28 (2008), S. 141–148; sowie ders.: Neulatein und Volkssprachen (wie Anm. 3), S. 36–40 (speziell zu Ugolino Verinos Flametta) und S. 143–157. S. Landino: Xandra A 2,4,1–10 (vgl. darin insb. v. 3f.): Callimachus roseam Graja testudine nympham | et dominae lusit cygnea colla suae. | Dicere sed Latio voluit te, Cynthia, plectro | hic, cuius nota est Asis ob ingenium. | At Petrarca tuas versu cantavit Etrusco, | Laura, comas: doctus carmina docta facit. | Lauram cantavit, qua se sua Gallia iactet | et nuribus Tuscis cedere velle neget. | Ast ego nec Graja cithara nec posse Latina | sat videor: Tusce carmina nulla cano („Kallimachus besang mit griechischer Leier die rosenfarbene Nymphe und den schwanengleichen Hals seiner Geliebten. Mit lateinischer Laute wollte indes Dich, Cynthia, der besingen, ob dessen Begabung Assisi berühmt ist. Dagegen besang Petrarca deine Haare, Laura, im etruskischen Vers: Als Gelehrter hat er gelehrte Verse geschmiedet. Laura hat er besungen, deren sich ihr Frankreich rühmt und deretwegen es den toskanischen Mädchen nicht zu weichen gedenkt. Ich jedoch scheine weder auf der griechischen noch auf der lateinischen Laute genügend versiert zu sein; auf Toskanisch singe ich keine Lieder“); vgl. zu diesem poetologischen Programmgedicht Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 123–124 und Müller: Zwischen Properz und Petrarca (wie Anm. 58), S. 133–138. Vgl. Prop. 1,1,1f. Zur Properz-imitatio in der zweiten Fassung von Landinos Xandra-Zyklus s. Müller: Zwischen Properz und Petrarca (wie Anm. 58), S. 145–149. Dass bereits das zweite Buch diesen Themenwechsel vorbereitet, legt Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 99 dar; zur Vorbereitung der thematischen Neuausrichtung in den Gedichten A 2,29 und 30 s. ebd., S. 247–261; zu letzterem Gedicht s. auch Jean-

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Landinos programmatische Anlehnung an Properzens inhaltlicher Neuausrichtung zeigt sich insbesondere darin, dass dieser sein drittes Buch nach der Widmung an Piero de’ Medici mit einer Gegenüberstellung von aktuellem Glanz der Arnostadt und deren primitiven Ursprüngen zur Zeit Sullas beginnen lässt, die nach Idee und Sprechsituation dem Auftaktgedicht von Properzens viertem Buch entspricht, in welchem das lyrische Ich ebenfalls einen Besucher im Angesicht der Großartigkeit des augusteischen Rom an die ländlichen Anfänge der Tiberstadt erinnert.65 Landino übernimmt von Properz jedoch nicht dessen Moti-

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Louis Charlet: Une méditation poétique sur les ruines de Rome. Landino, Xandra II,30, in: Lettere e arti nel Rinascimento. Atti del X Convegno internazionale, Chianciano/Pienza, 20–23 luglio 1998, hg. von Luisa Rotondi Secchi Tarugi, Florenz 2000, S. 123–131. Pieper weist Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 160– 165 darauf hin, dass das lyrische Ich bereits in A 1,16 und 17 im Rückgriff auf Petrarca kurzzeitig eine Alternative zur Liebesdichtung erwägt. Dort erscheint es allerdings noch allzu sehr von der Liebe zu Xandra dominiert. Landino: Xandra A 3,3,1–8: Has omnes lautis opibus quas suspicis aedes, | seu sacra te stupidum sive profana tenent, || nullas Syllanus miles conspexerat olim, | cum Fesulos primum forte teneret agros. || Sed quae nunc multo splendent exculta labore, | limoso turpis texerat alga lacu; || namque retardatus spumantis vertice saxi | in stagnum pigras verterat Arnus aquas („Keines von diesen ganzen Häusern, die du in stattlicher Gestalt bewunderst, – seien es Sakral- oder Profanbauten, die dich in Staunen versetzen –, hatte einst der Soldat des Sulla erblickt, als er zufällig die Gegend um Fiesole in Besitz nahm. Stattdessen hatte das, was nun mit großer Mühe erbaut strahlt, unansehnliches Gras in schlammigem See bedeckt. Denn verlangsamt durch Strudel an Schaum verursachendem Gestein ergoss der Arno seine trägen Wassermassen in einen Teich“); vgl. hierzu Properz 4,1,1–4: Hoc quodcumque uides, hospes, qua maxima Roma est, | ante Phrygem Aenean collis et herba fuit; | atque ubi Nauali stant sacra Palatia Phoebo, | Euandri profugae concubuere boues („All das, was du siehst, Fremder, ist, wo das riesige Rom steht, vor dem Phryger Aineias Hügel- und Grasland gewesen, und wo Phoibos, der Schutzherr der Schifffahrt, seinen Palatinstempel stehen hat, legten als Flüchtlinge sich gemeinsam schlafen Euanders Kühe“; Übersetzung von Dieter Flach). Einen Überblick über den Inhalt des dritten Xandra-Buches gibt McLaughlin: Literary imitation in the Italian Renaissance (wie Anm. 4), S. 171f. und Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 100–101; speziell zu den drei Grabelegien 4,7 und 18 des dritten Buches und deren Beitrag zu dessen Florenzthematik s. Krystina Kubina: Aeterni monimenta decoris. Zur Dialogizität der Grabelegien im 3. Buch der Xandra, in: Kofler/Novokhatko (Hgg.): Cristoforo Landinos Xandra (wie Anm. 5), S. 39–60; zur Florenzthematik im dritten Buch der zweiten Xandra-Fassung s. Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 265– 309 (zu deren Vorbereitung in A 2,23 ebd., S. 229–242), sowie allgemein zu Reflexen auf Florenz in Landinos Xandra s. Wenzel: Landinos Xandra als Dokument florentinischer Kultur, in: Kofler/Novokhatko (Hgg.): Cristoforo Landinos Xandra (wie Anm. 5); S. 111–121, die ebd., S. 114–115 darauf hinweist, dass die diversen Liebschaften, von denen das lyrische Ich in der ersten Xandra-Fassung erzählt (s. hierzu Anm. 19), an verschiedenen Orten in der Toskana situiert werden. Eine gewisse Fokussierung

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vation, nämlich den Überdruss an der Geliebten und infolgedessen den Unwillen, diese weiter zu besingen, sondern er lässt sein lyrisches Ich den Gegenstandswechsel allein mit Blick auf die eingangs vorgenommene Eingrenzung der Liebesthematik auf das Lebensalter der Jugend vollziehen. So ist die bereits in der zweiten Hälfte des zweiten Buchs von diesem wiederholt vorgebrachte Ankündigung, sich demnächst vom Thema seiner Liebesbeziehung mit Xandra zu verabschieden,66 begleitet von Hinweisen, dass diese bereits über geraume Zeit andauere.67 Diese legen somit nahe, dass die Altersspanne, die das lyrische Ich eingangs für die Erfahrung der Liebe und die dichterische Rede darüber als angemessen definiert hat, langsam der Vergangenheit anzugehören beginnt. Die von Properz vorgeprägte Themenänderung ist folglich Indiz dafür, dass Landinos lyrisches Ich gegen Ende des zweiten Buches an jene Altersgrenze gekommen ist, die die Abkehr von der leidenschaftlichen Liebe geboten sein lässt und infolgedessen auch die Liebesdichtung im antiken Sinn obsolet macht. Der als Jugendgeschichte episodenweise erzählten Xandra-Liebe ordnet das lyrische Ich somit ein dazu komplementäres Verständnis von Dichtung zu, in der die Liebesthematik nur Episode bleiben darf und die als Alternative sodann höhere Gegenstände für sich entdeckt.68 Dabei beschränkt sich die einmal mehr auf zwei Gedichte ausgeweitete Widmung des dritten Buchs an Piero de’ Medici nicht darauf, die nun bevorstehende Einlösung des mehrfach angekündigten Themenwechsels zu betonen und diesen als Sprung vom leichten Spiel der Liebesdichtung in ein höheres Register zu markieren:69 Qui dominae varios nuper lusistis amores, quae iocunda mihi, tristia quaeque forent,

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auf Florenz ergibt sich in der zweiten Xandra-Fassung somit bereits vor dem dritten Buch durch die Konzentration auf die aus Florenz stammende Xandra als die weitgehend einzige Geliebte des lyrischen Ichs. Dass auch Florenz in der ersten Fassung der Xandra noch keine Rolle spielt, betont Pieper: Elegos redolere Vergiliosque sapere (wie Anm. 2), S. 92–93. S. z.B. Landino: Xandra A 2,23,1–4: Hactenus egregiam niveo candore puellam | et dominae lusi lumina nigra meae. || Nunc tua maiori, praestans Florentia, versu – | dent modo fata viam – fortia facta canam („Bis hierher habe ich mein Mädchen, das durch seinen schneeweißen Teint hervorsticht, und die schwarzen Augen meiner Geliebten besungen. Jetzt will ich deine großen Taten, vortreffliches Florenz, in erhabenerem Vers besingen – mag mir nur das Schicksal die Gelegenheit dazu geben“). Vgl. etwa Landino: Xandra A 2,5,1f.; A 2,7,1f. Die Vorstellung, dass sich das reifere Alter anspruchsvolleren Themen zuwenden solle, ist ebenso bei Properz vorgeprägt: s. z.B. Prop. 2,10,7 (Kontrast der Liebesdichtung zu epischen Themen, die dem Alter vorbehalten seien) oder Prop. 3,5,23–46 (im Hinblick auf Philosophie als Thema des alternden Dichters). Freilich ändert dies nichts daran, dass dessen lyrisches Ich den Themenwechsel am Ende des dritten Buches mit dem Überdruss an der Geliebten begründet. Landino: Xandra A 3,1,1–6.

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nunc elegi tempus; graviori insurgite plectro, exiguum vestro munere crescat opus. Sunt acris nunc acta viri celebranda; sed illi hoc date, Castalia quas lavat unda, deae. Elegische Verse, die ihr unlängst noch von der launenhaften Liebe zu meiner Geliebten sangt, von Erlebnissen, die mich erfreut haben, und auch solchen, die traurig waren, jetzt ist es Zeit: Erhebt euch zu ernsthafterem Gesang, durch euren Beitrag soll das kleine Werk wachsen. Jetzt müssen die Werke eines tatkräften Mannes gefeiert werden; gewährt ihm dies, Göttinnen, die ihr euch mit kastalischem Gewässer wascht.

Das zweite Widmungsgedicht, das erneut als Propemptikon an ein schüchternes und seiner selbst nicht sicheres Buch gestaltet ist, gibt im Bild des bis dahin nur mit rauer und schwacher Stimme ausgestatteten Sängers, der nun aus einer der Hypokrene weit überlegenen Quelle trinken darf und sich infolgedessen der Hoffnung hingibt, in bis dahin unerreichte Höhen vorzudringen, außerdem der Hoffnung des lyrischen Ichs Ausdruck, sich mit der neuen Themenwahl auch die Chance der eigenen dichterischen Vervollkommnung zu eröffnen:70 Musa Fluentini, claudo licet anxia gressu, i, Maecenatis splendida tecta subi. Dic modo qui misere poterat vix stridulus anser exiguum rauco carmen hiare sono, iam liquidum niveis sublatus ad aethera plumis sperat olorinos edere posse modos. Nam quod Gorgonei non praebuit unda liquoris olim nec Clarii laurea silva dei, hoc ego nunc hausi Tyrrheno e fonte profectus, qui fluit e Medica lucida lympha petra. Geh, Muse, und sei es ängstlich mit hinkendem Gang, und nähere dich dem prächtigen Haus des Florentinschen Maecenas. Sag ihm, dass der, der noch vor kurzem kläglich wie eine schnatternde Gans kaum ein kleines Gedicht mit rauhem Ton von sich zu geben vermocht hatte, jetzt, da er mit schneeweißen Federn in die klare Luft emporgehoben wurde, hofft, schwanengleiche Klänge hervorbringen zu können. Denn was einst das Gewässer der Hippokrene nicht gewähren konnte und auch nicht das Lorbeergehölz des Gottes aus Klaros, das habe ich nun getrunken, entsprungen aus einer tyrrhenischen Quelle, deren klares Wasser aus dem Mediceischen Fels fließt.

Der Hinweis, dass jene Quelle, die die kastalische Hypokrene an Wirkung übertreffe, im Hause der Medici entspringe, trägt unzweifelhaft auch panegyrische Züge, insofern er die Gelegenheit, sich in großer Dichtung zu üben, implizit mit 70

Landino: Xandra A 3,2.

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jenen Taten der Medici begründet, die bereits im ersten Widmungsgedicht als neuer Gegenstand des dritten Buches vorgestellt werden.71 Für die poetologische Aussage des Gedichts ist indes entscheidend, dass das lyrische Ich in diesem die willkommene Möglichkeit zur weiteren Entwicklung seiner dichterischen Fähigkeiten erblickt, in der der als lusus bewerteten Liebesdichtung lediglich die Rolle eines poetisch eher geringerwertigen Durchgangsstadiums zukommt.72 Die Umgestaltungen, die Landino in der zweiten Xandra-Fassung vorgenommen hat, siedeln sich somit auf zwei miteinander korrespondierenden Ebenen an. Die Liebesthematik in dieser anders als in der Ursprungsversion für rechtfertigungsbedürftig begreifend, konzipiert er diese zunächst als Bestandteil eines Lebenskonzepts, in dem die erotische Erfahrung ihren festen und legitimen Platz beanspruchen darf, wenn sie auf die Jugend beschränkt bleibt. Dabei siedelt er die Episoden, die er sein lyrisches Ich mit seiner Geliebten Xandra durchleben lässt, nicht nur einleitend in diesem Horizont an. Über die spezifisch narrative Komponente der zweiten Xandra-Fassung führt Landino zudem vor, wie sein lyrisches Ich seinen Postulaten genügt. Komplementär zur Umorganisation der Liebesthematik zu einer episodenweise erzählten Geschichte, die auf Grund der Alterung der Protagonisten ihr Ende haben und damit auch als Gegenstand der Dichtung ausscheiden muss, entkleidet Landino die bereits in der ersten Fassung als gelehrte Kleinigkeit gewertete Liebesdichtung sodann ihrer dortigen Zeitlosigkeit und führt sie als Epoche im Schaffen eines Dichterlebens vor, die, gleichsam als Übung verstanden, die Voraussetzung schafft, bei entsprechender Gelegenheit und Talent von höheren Gegenständen abgelöst zu werden.73 IV Zwar hat Landino die Liebesthematik im dritten Buch der zweiten XandraFassung anders als sein Vorbild Properz vollständig aufgegeben. Dennoch hat er 71

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Ebd., v. 7–10. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass das lyrische Ich in Xandra A 2,4 seine Befähigung zu einer Liebesdichtung, die den Wettbewerb mit Properz und Petrarca aufnehmen kann, auch an Xandra und ihren inneren wie äußeren Vorzügen festgemacht hatte. Es ist somit der jeweilige Gegenstand, der Stilhöhe und Niveau von Dichtung vorgibt. Ebd., v. 3–6. Schließlich scheinen beide Ebenen wechselseitig einem strategischen Bestreben Landinos zu gehorchen, nämlich sich als Dichterpersönlichkeit im Machtgefüge der Arnometropole wirksam zu positionieren. Die Umarbeitung des Xandra-Zyklus von der ersten zur zweiten Fassung lässt sich somit auch als durchaus erfolgreichen Versuch seines Autors deuten, vom Mitglied eines Netzwerks humanistischer Gelehrter und Dichter zum öffentlichen Dichter im Dienste der Medici zu werden; vgl. hierzu oben Anm. 38.

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die Liebesdichtung daraufhin nicht gänzlich aus den Augen verloren. Um das Jahr 1476 hat er einige an Bernardo Bembo,74 den Vater des Humanisten Pietro Bembo, adressierte Gedichte verfasst,75 die sich durch einen gemeinsamen Begleitbrief an diesen als eigenständiges Korpus innerhalb der nicht in den XandraZyklen überlieferten Dichtungen präsentieren und der Liebesthematik erneut Raum geben.76 Jedoch ist darin keine Revision seiner in der zweiten XandraFassung vorgenommenen Abkehr von der erotischen Dichtung zu sehen. Vielmehr eröffnete ihm die von seinem ehemaligen Schüler Marsilio Ficino in der Zwischenzeit entwickelte Liebeskonzeption des Florentiner Renaissanceplatonismus eine Möglichkeit, 77 die in der zweiten Xandra-Fassung lediglich als 74

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Zu Vita und Wirken Bernardo Bembos (1433–1519) s. Nella Giannetto: Bernardo Bembo. Umanista e politico veneziano, Florenz 1985 (Civiltà Veneziana 34); dort S. 29–33 und 131–152 zu den beiden Aufenthalten Bembos in Florenz als Botschafter in den Jahren 1476–1478 und 1480; zu Ersterem, in dessen zeitlichem Umfeld die im Folgenden besprochenen Gedichte Landinos entstanden sind, s. zudem Arnaldo della Torre: La prima ambasceria di Bernardo Bembo a Firenze, in: Giornale storico della letteratura italiana 18 (1900), S. 258–333; zur Datierung der Gedichte s. ebd., S. 310–312 sowie Perosa (Hg.): Christophori Landini carmina omnia (wie Anm. 4), S. XLIII. Chatfield in Landino: Poems (wie Anm. 39), S. 375 gibt als Entstehungszeit „1475–1480“ an und hält es somit für möglich, dass die Gedichte erst während Bembos zweitem Florenzaufenthalt oder zwischen dem ersten und diesem entstanden sind. Zur Überlieferung dieser Gedichte s. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 187 mit Anm. 5. Als Liebesdichter präsentiert sich das lyrische Ich explizit in Landino: Ad Bernardum Bembum 2,21–24; vgl. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 188–189. Marsilio Ficino hat seinen wirkungsmächtigen und für die platonisierende Dichtung der Renaissance grundlegenden Kommentar zum Symposion Platons im Jahr 1468/69 in lateinischer Sprache vollendet und bis 1474 selbst unter dem Titel Libro dello amore ins volgare übersetzt. Gedruckt wurde die lateinische Fassung mit der Überschrift Commentarium in Convivium Platonis de amore im Jahr 1484 in Florenz. Zu Ficinos Kommentar des platonischen Symposion s. Field: The Origins of the Platonic Academy (wie Anm. 2), S. 3–7 sowie jetzt umfassend Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 1306–1327, zur Entstehung des Symposion-Kommentars s. ebd., S. 1307; zu Ficinos Auffassung von Dichtung, die in diesem Zusammenhang auch von Relevanz ist, vgl. ebd., Bd. 1, S. 488–498. Zu Ficinos Dichtungskonzept s. Bernhard Huss: Lorenzo de’ Medicis Canzoniere und der Ficinianismus. Philosophica facere quae sunt amatoria, Tübingen 2007 (Romanica Monacensia 76), S. 43–76. Zur Förderung des Florentiner Renaissanceplatonismus durch die Medici und deren machtpolitischen Motiven dafür s. mit Blick auf die Ereignisgeschichte Alison Brown: Platonism in Fifteenth-Century Florence and Its Contribution to Early Modern Political Thought, in: The Journal of Modern History 58 (1986), S. 383–413, hier S. 383–403; zu Landinos Affinitäten zum Florentiner Renaissanceplatonismus s. Field: The Origins of the Platonic Academy of Florence (wie Anm. 2), S. 231–268; zur Gründung einer Academia Platonica in Flo-

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Thema der Jugend legitimierte Rede über die Liebe als philosophisches Thema zu konzipieren78 und auf diese Weise mit dem dort inszenierten dichterischen Werdegang seines lyrischen Ichs in Einklang zu bringen.79 Hierdurch bot sich

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renz durch Cosimo de’ Medici s. Manfred Lentzen: Die humanistische Akademiebewegung des Quattrocento und die Accademia Platonica in Florenz, in: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, 2 Bde, hg. von Klaus Garber und Heinz Wismann, Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 26), Bd. 1, S. 190–213. Dass sich Ficinos Renaissanceplatonismus dazu eigne, das Thema Liebe in ein philosophisches Sujet zu transformieren, geht aus einem Brief Giovanni Picos della Mirandola vom 15. Juli 1486 hervor, in dem dieser Lorenzos de’ Medici renaissanceplatonisch beeinflussten Canzoniere entsprechend würdigt: at fuit dubio procul summi ingenii opus, quod ipse praestas, philosophica facere quae sunt amatoria, et quae sunt sua severitate austerula, superinducta venere facere amabilia. Ita in tuis versibus amantium lusibus philosophorum seria sunt admixta, ut et illa hinc dignitatem et haec illinc hilaritatem gratiamque lucrifecerint, ut ambo hac copula et retinuerint quod erat proprium, et mutuo se sibi ita participaverint, ut habeant utraque singulatim quae prius erant simul amborum („Doch es war zweifellos ein Werk höchster Begabung, die dir ja eigen ist, aus dem, was eigentlich der Liebesthematik zugehörig ist, einen philosophischen Gegenstand gemacht, und dabei das, was auf Grund der ihm eigenen Ernsthaftigkeit spröde ist, ins Gewand der Liebe gekleidet und dadurch liebenswürdig gemacht zu haben. Auf solche Weise sind in deinen Versen den Spielereien der Liebenden die ernsten Gegenstände der Philosophen beigemischt, das jene von hier Würde und diese von dort Heiterkeit und Anmut gewinnen, so dass in dieser Verbindung beide Bereiche sowohl bewahren, was ihnen eigentümlich ist, als auch miteinander so viel teilen, dass beide Bereiche für sich besitzen, was zuvor zugleich beiden gehörte“). Vgl. Huss: Lorenzo de’ Medicis Canzoniere (wie Anm. 77), S. 10–11 (das Zitat ebd., S. 10); die Übersetzung stammt vom Autor dieses Beitrags. Zum platonischen Charakter des Bembo-Zyklus s. Cardini: La critica del Landino (wie Anm. 1), S. 15 und 150 mit Anm. 35, Charlet: État présent prospectif (wie Anm. 4), S. 167–168 sowie jetzt umfassend und grundlegend Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 202–208 mit überzeugenden Bezugnahmen auf Landinos Prolusione dantesca (vgl. Cardini: La critica del Landino [wie Anm. 1], S. 46–47) sowie auf die etwa zeitgleich entstandenen Disputationes Camaldulenses (vgl. Cristoforo Landino: Disputationes Camaldulenses, hg. von Peter Lohe, Florenz 1980 [Studi e testi 6], S. 127). Von hoher Aussagekraft ist in diesem Zusammenhang, dass Ficino in seinem Symposion-Kommentar, der auch dessen Dialoggefüge nachahmt, Landino die Rolle zuweist, den bei Platon von Aristophanes vorgetragenen Mythos von den Kugelmenschen zu erläutern. Im hier entwickelten Zusammenhang ist das von Landino vorgetragene Kapitel mit dem Titel Amor animas reducit in caelum (Kap. 6) einschlägig; vgl. Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 131–132, der Landinos Auftreten in Ficinos SymposionKommentar zu Recht mit dessen Xandra-Dichtung in Verbindung bringt und daraus schließt, Ficino habe damit Landino als platonischen Dichter würdigen wollen; vgl. auch Field: The Origins of the Platonic Academy (wie Anm. 2), S. 231–268 allgemein zur platonischen Poetik Landinos; zu Landinos eigenem philosophischem Œuvre s.

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ihm schließlich sogar die Gelegenheit, dieses noch einmal auf seine Liebe zu Xandra sprechen kommen zu lassen, obwohl es im Bembo-Zyklus als bereits ins Alter gekommenes erscheint.80 Vorbereitet wird die renaissanceplatonische Neuformulierung der Liebesthematik bereits im Widmungsschreiben an Bernardo Bembo. Denn dieser wird dort als jemand charakterisiert, der nichts Irdisches um seiner selbst liebgewönne, sondern allein wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Göttlichen, in welchem die menschliche Seele ihren Ursprung habe:81 Vidi enim te nihil terrenum, quia terrenum sit, adamare, sed ipsius divinitatis, a qua animi nostri sunt, similitudine, ubicumque illa reperiatur, vehementer delectari. Ich sah nämlich, dass Du nichts Irdisches liebgewinnst, weil es irdisch ist, sondern dich leidenschaftlich an seiner Ähnlichkeit mit dem Göttlichen selbst erfreust, von dem unsere Seelen ihre Herkunft haben, wo auch immer sie sich finden lässt.

Diese Haltung hat Konsequenzen für Bembos Liebe zu Ginevra de’ Benci,82 die im Zentrum des ihm gewidmeten Gedichtzyklus steht. Denn obwohl diese sogar Venus an Schönheit übertreffe, bescheinigt Landinos lyrisches Ich seinem Adressaten ihr gegenüber eine Neigung zur Liebe in Keuschheit:83

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grundlegend Cardini: La critica del Landino (wie Anm. 1), S. 66–84 (v.a. zu De nobilitate animae). Vgl. Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 126–127. Epistola dedicatoria ad Bernardum Bembum, S. 191,10–13. Die Widmungsepistel sowie die Gedichte an Bernardo Bembo werden zitiert nach: Perosa (Hg.): Cristofori Landini carmina omnia (wie Anm. 4); letztere ebd., S. 158–172 als carmina varia 3– 8). Die Übersetzungen stammen vom Autor dieses Beitrags. Zu dieser, Tochter Amerigos de’ Benci, eines Vertrauten Cosimos de’ Medici, s. Giannetto: Bernardo Bembo (wie Anm. 74), S. 137–141 sowie Ada Alessandrini: Art. „Benci, Ginevra“, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 8, Rom 1966, S. 193– 194. Ginevra de’ Benci wurde um 1474 von Leonardo da Vinci porträtiert (heute: Washington DC, National Gallery of Art); s. hierzu: Jennifer Fletcher: Bernardo Bembo and Leonardo’s Portrait of Ginevra de’ Benci, in: Burlington Magazine 131 (1989), S. 811–816. Dass die Beziehung nur als eine episodische zu denken, der kleine Gedichtzyklus somit vor dem Hintergrund des vorübergehenden Aufenthaltes von Bernardo Bembo in Florenz modelliert ist, deutet das lyrische Ich in Landino: Ad Bernardum Bembum 7 an. Landino: Ad Bernardum Bembum 3,25–32. Zum Motiv der castitas bzw. des castus amor in diesem Gedichtzyklus s. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 200–201. Dieses wird in Landino: Ad Bernardum Bembum 5,5 programmatisch auf die platonische Liebeskonzeption bezogen und damit evident platonisch aufgeladen (s. das einschlägige Zitat unten S. 241 mit Anm. 86).

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Gernot Michael Müller Quapropter Bembi castos ludemus amores, versibus ut surgat Bencia nota meis. Bembus, pulchra, tuam miratur, Bencia, formam, caelestes valeas qua superare deas, quam magnus Veneris Mavors praeponere amori, quam missa Europa Iuppiter ipse velit. Sed magis antiquos mores pectusque pudicum miratur stupidus Palladiasque manus. Daher werden wir die reine Liebe Bembos besingen, damit sich Bencia emporhebt, bekannt gemacht durch meine Verse. Bembo bewundert deine Gestalt, schöne Bencia, mit der Du die Göttinnen des Himmels zu übertreffen vermagst, die der große Mars seiner Liebe zu Venus vorziehen und für die selbst Jupiter Europa hätte wegschicken wollen. Aber mehr noch bewundert er staunend deinen ehrwürdigen Charakter, dein sittsames Herz und deine Hände, die jenen Minervas gleichkommen.

Mit dem castus amor, den Bembo in Bezug auf Ginevra an den Tag läge, korrespondiert, dass dieser mehr noch als an ihrer körperlichen Wohlgestalt84 an ihrer Tugendhaftigkeit und inneren Reinheit Wohlgefallen finde.85 In der Tat gelte Bembos Liebe zu Ginevra der himmlischen Liebe und infolgedessen jenem amor, den Platon in seinen Dialogen entworfen habe:86 84

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Bei seiner Beschreibung der Schönheit Ginevras rekurriert Landino erneut auf Properz wie auch auf Petrarca; vgl. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 190–196 und passim. Dass Petrarcas Laura-Liebe vielfältige Ansätze zu ihrer Platonisierung bot, betont Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 133; vgl. auch ebd., S. 136 zum Befund, dass es die „Petrarkisierung der Liebeselegie“ ist, welche die „Vorausetzung ihrer Platonisierung“ schafft (mit Blick nicht nur auf Landino, sondern auch auf die elegischen Zyklen Marrasios und Strozzis); zu platonisierenden Tendenzen in der ProperzKommentierung der Epoche s. ebd., S. 138–145. Vgl. auch Landino: Ad Bernardum Bembum 5,11–14: His flammis Bembus talique accensus amore | uritur, et medio corde Ginevra sedet. || Forma quidem pulchra est, animus quoque pulcher in illa: | horum utrum superet, non bene, Bembe, vides („Von diesen Flammen und von derartiger Liebe entzündet, entbrennt Bembo und tief in seinem Herzen sitzt Ginevra. Ihre Gestalt ist freilich schön, schön an ihr ist aber auch ihr Charakter“). Bereits in Landino: Ad Bernardum Bembum 3,31–38 macht das lyrische Ich deutlich, dass es vor allem der moralische Charakter und ein entsprechendes Eigenschaftsprofil Ginevras ist, welche Grundlage von Bembos Liebe bilden; vgl. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 193–194 mit weiteren einschlägigen Stellen in den anderen Gedichten des Bembo-Zyklus. Landino: Ad Bernardum Bembum 5,1–10; zu Recht bezieht Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 203 mit Anm. 81 und 83 die Verse 1–4 auf Plat. Symp. 180d–e sowie 204b in der lateinischen Übersetzung von Marsilio Ficino. Bernardo Bembo hat die Verse 7–10 des hier wiedergegebenen Abschnitts eigenhändig

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Hoc age nunc, Erato, Bembi referamus amores, sed quos caelestis comprobet ipsa Venus. Hic nihil obscenum est turpive libidine tetrum; castus amor castam postulat usque fidem. Talis amor Bembi, qualem divina Platonis pagina Socraticis exprimit eloquiis. Namque amor a pulchro cum sit, perculsa cupido pulchrum amat et pulchris gaudet imaginibus; at quodcumque bonum, pulchrum est, turpe omne nefandum sic bona deposcit, sic mala vitat amor. Wohlan nun, Erato, lasst uns von Bembos Liebe berichten, von einer solchen allerdings, die die himmlische Venus selbst billigt. Hier ist nichts Unzüchtiges oder Abstoßendes auf Grund von unanständiger Begierde. Reine Liebe fordert immerfort reine Treue. Bembos Liebe ist so beschaffen, wie sie die göttliche Seite Platons durch Sokrates’ Rede ausdrückt. Denn da die Liebe im Schönen ihren Ursprung hat, liebt die Begierde, nachdem sie sich überwunden hat, das Schöne und erfreut sich an den Abbildern des Schönen. Wie jedoch alles schön ist, was gut ist, und alles Schändliche böse, so verlangt die Liebe nach dem Guten, so meidet sie das Böse.

Das schmale Korpus von sechs Gedichten entfaltet somit ein gänzlich anderes Liebeskonzept als die beiden Xandra-Fassungen. Die körperliche Schönheit der weiblichen Protagonistin führt hier nicht zu erotischem Begehren, sondern im platonischen Sinne zu einem Streben nach der göttlichen Schönheit, auf welche die besungene Ginevra abbildhaft verweist.87 Durch diese philosophische Aufladung wird der Liebesdiskurs des Bembo-Zyklus mit den hohen Themen des dritten Xandra-Buchs vergleichbar und damit auf eine andere Ebene gehoben als die Liebeserfahrungen, die in den beiden Xandra-Fassungen thematisiert werden.88 Die Schilderungen von Bembos Liebe zu Ginevra de’ Benci wollen also

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auf fol. 16v in sein Exemplar von Marsilio Ficinos Commentum in Convivium Platonis de amore eingetragen (heute: Oxford, Bodleian Library, Can. Class. Lat. 156) und damit selbst eine Beziehung zwischen diesem und Landinos Gedichtzyklus auf ihn hergestellt; vgl. Giannetto: Bernardo Bembo (wie Anm. 74), S. 332–333 und Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 208. In der Tat bezeichnet oder beschreibt das lyrische Ich Ginevra wiederholt als göttliches Wesen (vgl. Landino: Ad Bernardum Bembum 4,8; 4,15; 4,53; 5,30–32; 6,42; 6,45–46; 8,57–60). Hiermit verlässt Landino seine Bindung an Properz, während Petrarca Laura mehrfach als göttlich apostrophiert (z.B. RVF 90,9–13; 213,1–4; 220,7–8; 335,1–6). S. hierzu Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 195– 196 mit Anm. 46 und 50 für eine Aufstellung der hier genannten Belege. Hierfür spricht auch, dass das lyrische Ich in Landino: Ad Bernardum Bembum 6,35– 46 in gleichsam epischer Manier auf die Hilfe der Muse hofft, um angemessen über Ginevra dichten zu können, und diese als einen poetischen Gegenstand preist, der einem Homer oder einem Vergil, mithin also den bedeutendsten epischen Dichtern der

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nicht als Revision der am Ende des zweiten Xandra-Buchs vorbereiteten und mit seinem Alter begründeten poetologischen Neuausrichtung des lyrischen Ichs verstanden werden, sondern als Variation seiner mit dieser vollzogenen Hinwendung zu einer Dichtung, die ernsthaften Themen gewidmet ist.89 Dass Landino seine kleine Sammlung an Bernardo Bembo im Horizont jener Altersvorstellungen situiert wissen will, die die zweite Xandra-Fassung für die angemessene Zeitspanne erotischer Erfahrungen formuliert und für die sie eine dazu komplementäre Vorstellung dichterischer Entwicklung entwirft, wird in deren einzigem Gedicht erkennbar, in dem er sein lyrisches Ich noch einmal über dessen eigene Liebe zu Xandra sprechen lässt:90 Quaeris, Bembe, diu sileat cur nostra Thalia, nec Xandram nobis pagina muta sonet; idque putas causae, curis quod forte solutum insano sanum pectus amore vacet. At, mihi crede, prius Pisanas Tuscus in undas Arnus ab aereis desinet ire iugis, quam nostro auratae vellantur corde sagittae, meque suis faculis urere cesset amor. Du fragst, Bembo, warum unsere Thalia so lange schweigt und meine Seite, still geworden, uns nicht von Xandra tönt; du meinst, Grund dafür sei, dass mein Herz, von Liebeskummer erlöst und von rasender Leidenschaft geheilt, frei sei. Doch glaube mir, eher wird der toskanische Arno aufhören, von den hoch aufragenden Bergen in die Wellen von Pisa zu fließen, als dass die goldenen Pfeile aus meinem Herz gerissen werden und Amor ablässt, mich mit seinen kleinen Fackeln zu versengen.

Auf die imaginierte Frage des Adressaten, warum es schon so lange nichts mehr von Xandra habe verlauten lassen,91 tritt das lyrische Ich allen Befürchtungen des

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Antike, würdig wäre: Et tamen interdum dulcis tibi, Bembe, Ginevrae, | sit modo Musa favens, nomen in astra feram. || Pierides, Bembo vos hoc praestabitis: orbe | carminibus toto nota sit illa meis. || Hanc nostris soboles miretur Graia libellis, | hanc stupeant Latii me recinente viri. || Illi Smyrnaeo dicent te carmine dignam, | hique Maroneo, Bencia diva, sono („Und dennoch will ich Dir, Bembo, den Namen deiner geliebten Ginevra gelegentlich zu den Sternen erheben, mag mir die Muse hierfür nur gewogen sein. Musen, ihr werdet Bembo dies gewähren: Auf der ganzen Erde soll jene durch meine Gedichte bekannt sein. Durch meine Büchlein sollen die Nachkommen Griechenlands sie bewundern und die Männer Latiums sie bestaunen, wenn ich sie immer wieder besinge. Jene werden dich der Dichtung Homers für würdig erachten, diese, göttliche Bencia, dem Klang Vergils“). Vgl. die Klassifizierung der Lyrik Lorenzos als auf Grund ihres philosophischen Inhalts mit ernsten Dingen angereicherte im Briefzitat oben Anm. 78. Landino: Ad Bernardum Bembum 6,1–8. Ebd., v. 1–4.

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Freundes entgegen, dass das Schweigen etwa auf ein Versiegen seiner Liebe zu Xandra hindeute.92 Doch auch wenn es Bembo gegenüber versichert, dass die sich einstmals in seinem Herzen festgesetzten Pfeile Amors niemals ihrer Wirkung verlustig gehen würden, muss er den Freund davon in Kenntnis setzen, dass sich zwar nicht seine Liebe, wohl aber Xandra verändert habe. Denn sie sei über die Jahre hinweg gealtert und ihrer einstmaligen Schönheit verlustig gegangen:93 Non Xandrae, ut quondam, flavent in vertice crines, non tantus, fateor, fulget in ore nitor. Sic voluit stabili fatorum lege potestas, ut quae sunt, ipso tempore nata cadant. […] Hoc [sc. verum decus]94 me iam sextum lustrum tenet, hocque tenebit dumque animus stabit, dum memor ipse mei. Nicht mehr leuchtet Xandra, wie einst, über dem Nacken das Haar, nicht mehr, ich gebe es zu, glänzt in ihrem Gesicht solch große Schönheit. So wollte es die Macht des Schicksals mit unerschütterlichem Gesetz, dass alles, was geboren wurde, durch den Gang der Zeit selbst verfällt […] Ihre wahre Zier besitzt mich schon das sechste Jahrfünft und jene wird mich besitzen, solange mein Geist bestehen wird, solange ich bei Bewusstsein sein werde.

Indes habe sie im Gegensatz dazu ihre Tugend, die nach Aussage des lyrischen Ichs schon im Moment des Kennenlernens der eigentliche Anlass für sein innamoramento gewesen sei, über die Zeit beständig zu steigern vermocht und damit eine freilich bereits von Anfang an in ihr angelegte Grundlage für eine dauerhafte Liebesbeziehung bis ins Alter geschaffen. Sentenzenhaft schließt das lyrische Ich das erneute Lob seiner Geliebten, indem er seine Leser insgesamt anspricht und diese heißt, den Sinn nicht nach der vergänglichen äußeren Schönheit zu richten, sondern ihr Begehren auf die inneren Werte zu verlegen:95 Inque dies crevit virtus, crescentibus annis, inque dies nobis sic quoque crevit amor.

92 93 94 95

Ebd., v. 5–8. Ebd., v. 9–12; 29f. Vgl. v. 28 im Zitat auf der nächsten Seite. Ebd., 19–28. Zu den Bezügen auf Platons Symposion in diesem Abschnitt (sowie in dem ähnlichen in Landino: Ad Bernardum Bembum 8,75–82) s. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 205–208 mit erneutem Verweis auf Landinos Disputationes Camaldulenses (vgl. Landino: Disputationes Camaldulenses [wie Anm. 79], S. 132) sowie auf Kap. 9 in der oratio secunda von Ficinos Commentarium in Convivium Platonis de amore (vgl. Marsilio Ficino: Commentaire sur le Banquet de Platon. Texte du manuscrit autographe présenté et traduit par Raymond Marcel, Paris 21978 [Les classiques de l’humanisme 2], S. 153 und 159).

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Gernot Michael Müller Nam quisquis sola forma vincitur amator, lubricus instabili nititur ille gradu; si quis at egregiam mentem, si diligit acre ingenium et variis corda referta bonis, hic pulchrum sequitur, quod nec vitiare vetustas, ulla nec a caelo magna ruina potest. Discite mortales animo, non corpore formam optandam, et verum discite amare decus. Mit wachsenden Jahren wuchs von Tag zu Tag ihre Tugend und so wuchs von Tag zu Tag in uns auch die Liebe. Denn jeder Liebende, der sich allein von der Gestalt überwältigen lässt, schreitet unsicher mit schwankendem Schritt. Wenn jemand aber erlesenen Sinn, wenn jemand scharfen Verstand und ein Herz liebt, das vielfältige gute Eigenschaften in sich trägt, der folgt dem Schönen, das weder das Alter noch irgendeine große Verderbnis vom Himmel her entstellen kann. Lernt Sterbliche, dass im Geist und nicht im Körper die Schönheit zu suchen ist, und lernt, die wahre Zier zu lieben!

Das lyrische Ich hat folglich gelernt, seine Liebe, wiewohl sich gerne an die einstige körperliche Schönheit Xandras erinnernd, ausschließlich an deren bleibende inneren Werte zu binden, eine Perspektive, durch die es sich offensichtlich als Vorbild für seine Rezipienten empfehlbar zu machen glaubt. Dass es seine Altersliebe zu Xandra dabei ebenso im Horizont platonischer Liebesauffassung verstanden wissen will, obwohl er dies hier nicht derart explizit wie in den Gedichten über Bembos Liebe zu Ginevra herausarbeitet, deutet sich darin an, dass mit den inneren Werten, die er an Xandra schätzt, jene Aspekte benannt sind, die als unsterblich gelten und dementsprechend über körperlichen Verfall und Tod hinaus Bestand haben.96 Auf seine Liebe zu Xandra zurückkommen zu dürfen, legitimiert das lyrische Ich folglich daraus, dass ihm die charakterliche Entwicklung seiner Geliebten die Gelegenheit eröffnet habe, seine Liebe mit zunehmendem Alter in eine gleichsam platonische zu transformieren. Xandra erscheint hier somit einmal mehr als Voraussetzung für die dichterische Befähigung des lyrischen Ichs, wobei der Unterschied zu entsprechenden Äußerungen in den beiden Xandra-Fassungen darin besteht, dass diese hier vollständig in ihre inneren Werte verlagert wird, welche eine platonische Deutung seiner fortdauernden Liebe zu ihr möglich macht.97 Es ist also Xandra und ihrem Wesen zu verdanken, dass das lyrische Ich 96

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Vgl. Calzascia: La rappresentazione dell’amore (wie Anm. 7), S. 202 mit Blick auf Landino: Ad Bernardum Bembum 6,15–16. Freilich wird bereits in den beiden Xandra-Fassungen neben der Schönheit Xandras auch deren tugendhafter Charakter hervorgehoben oder zumindest angedeutet. In Landino: Xandra B 3, das Xandra als Inspirationsquelle des lyrischen Ichs nennt, wird diese im zweiten Vers als candida bezeichnet, was wohl in erster Linie ihre Schönheit bezeichnen soll, aber auch auf ein redliches Wesen anspielen kann. In Landino: Xan-

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im Alter noch einmal auf das Thema seiner Liebe zu ihr zurückkommen darf, ohne von jenen Postulaten ablassen zu müssen, die er in der zweiten XandraFassung aufgestellt hat. Während Landino in der zweiten Xandra-Fassung seiner Forderung, dass die Liebesthematik dann zulässig sei, wenn sie auf die Jugend beschränkt bleibt, dadurch gerecht wird, dass er gegen Ende des zweiten Buches vom Thema der Liebe ablässt, eröffnet er sich in der späteren kleinen Sammlung an Bernardo Bembo mit dem Rekurs auf die von Marsilio Ficino reinterpretierte platonische Liebesauffassung nicht nur generell eine Möglichkeit, das Thema der Liebe wieder aufzugreifen, sondern im Speziellen auch sein als inzwischen gealtertes lyrisches Ich auf seine eigene Liebe zu Xandra zurückkommen zu lassen. Durch die Andeutungen auf sein fortgeschrittenes Alter und die Erinnerung an die Frühphase seiner Xandra-Beziehung markiert Landino dabei deutlich, dass sein lyrisches Ich über die verschiedenen Phasen seines dichterischen Schaffens stets das gleiche bleibt.98 Es ist ein lyrisches Ich, das die Liebe zunächst als zeitlosen lusus begreift, der verschiedenen Geliebten gelten kann, sein Begehren daraufhin auf eine Geliebte konzentriert, sich dabei die Selbstbeschränkung auferlegend, dieser nur in seiner Jugend Raum zu gewähren, und sich schließlich im Alter mit dem platonischen Liebeskonzept einen Weg erschließt, seine mit ihm gealterte Geliebte auch jenseits der Jugend zu besingen, weil sich die Liebe zu ihr von

98

dra A 2,4 führt das lyrische Ich Xandras inspirierende Wirkung nicht nur auf ihre körperlichen Vorzüge, sondern ebd., v. 25–28; 37–38 auf ihren sittsamen Charakter und ihre Bildung zurück: Nam neque tam moveor taurinis captus ocellis, | ista satis quamvis causa furoris erat, || quam quod nec mores desunt in cuncta venusti, | libera nec quicquid nosse puella velit | […] || Huic pudor in faciem ducit persaepe colorem, | qualem purpureas cernis habere rosas („Denn ich bin nicht so sehr erregt, weil ich von den Stieräuglein gefangen bin, so sehr dies ein ausreichender Grund für meinen Liebeswahn wäre, sondern vielmehr, weil ihr bei allem weder ein anmutiger Charakter noch all das fehlt, was ein freigeborenes Mädchen zu wissen wünscht […] Ihr treibt die Scham häufig die Farbe ins Gesicht, die man an den purpurfarbenen Rosen erblicken kann“); vgl. Müller: Zwischen Properz und Petrarca (wie Anm. 58), S. 151f. In der Tat verweist das lyrische Ich in Landino: Ad Bernardum Bembum 6,19 darauf, dass Xandra ihre Tugend im Laufe der Jahre beständig habe vergrößern können. Die Möglichkeit einer Transformation seiner Liebe zu ihr im platonischen Sinne begründet sich somit aus Anlagen, die ihr von Anfang an zueigen waren (und sie von den Geliebten der römischen Elegiker unterschieden sein lässt). Zum Einfluss Petrarcas auf diese Konzeption der Xandra-Figur in der zweiten Xandra-Fassung s. Müller: Zwischen Properz und Petrarca (wie Anm. 58), S. 149–157 Bei einer Gleichsetzung der textinternen Zeit mit dem Entstehungsdatum des Gedichtzyklus an Bernardo Bembo lässt die Angabe des lyrischen Ichs in Landino: Ad Bernardum Bembum 6,29 (vgl. das Zitat oben S. 243), dass sich die Dauer seiner Liebe zu Xandra bereits dem Ende des dritten Jahrzehnts nähert, deren Beginn in etwa mit der Vollendung der ersten Xandra-Fassung zusammenfallen (zu deren Entstehung s. oben S. 214 mit Anm. 4).

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einer auf körperliche Leidenschaft bezogenen Regung zu einer auf den himmlischen Ursprung der Seele hinweisende Zuneigung weiterentwickelt hat. V Landinos Liebesdichtung präsentiert sich in ihren unterschiedlichen Fassungen als aussagekräftiges Beispiel für die Pluralisierung des erotischen Diskurses, wie sie sich im Laufe der Renaissance zunächst auf der Apenninenhalbinsel herausgebildet hat.99 Dabei reflektieren die unterschiedlichen Versionen die für die Literatur des Quattrocento charakteristische experimentelle Herangehensweise an die verschiedenen zuhandenen volkssprachlichen und antiken Modelle.100 Entsprechend präsentiert sich Landinos Dichtungsœuvre auf den ersten Blick als Labor, das den Spielraum unterschiedlicher Liebeskonzepte und Modelle auslotet, diese dabei immer wieder auch aufeinander beziehend, wie es am prominentesten in der zweiten Xandra-Fassung mit ihrem verbindenden Rückriff auf die römische Liebeselegie eines Properz und Petrarcas Canzoniere sichtbar wird. Mit seiner dabei angewandten Strategie, Erfahrung und Thematisierung von Liebe dadurch zu legitimieren, dass diese als dabei notwendiger Bestandteil der Jugend begriffen wird,101 steht Landino in der Literatur des Quattrocento nicht alleine da. So stellen die in zeitlicher Nähe zur zweiten Xandra-Fassung entstandenen Amorum libri tres des Matteo Maria Boiardo eine ebensolche Verbindung von elegischer Liebeserfahrung – der lateinische Titel der volkssprachlichen Sammlung spielt ja deutlich auf Ovids Amores an – und einer auf Petrarca verweisenden zeitlichen Verortung von dieser in der Jugend her.102 Programmatisch wird diese schon in Boiardos Proömialsonett hergestellt:103 Amor, che me scaldava al suo bel sole Nel dolce tempo de mia età fiorita,

99 100 101

102

103

S. nochmals oben Anm. 8. Vgl. oben Anm. 11. Zu didaktischen Tendenzen in der Liebesdichtung des späten Quattrocento s. Robert: Lateinischer Petrarkismus und lyrischer Strukturwandel (wie Anm. 11), S. 146–148. S. Florian Mehltretter: Modelle des guten Lebens. Boiardos Amorum libri zwischen Petrarkismus und Antikebezug, in: Föcking/Müller (Hgg.): Abgrenzung und Synthese (wie Anm. 58), S. 165–184; zu den verschiedenen antiken, neulateinischen und im volgare verfassten Modellen, auf die sich Boiardo in seinen Amores neben dem dominierenden Petrarca bezieht, s. zusammenfassend ebd., S. 166. Boairdo: Amorum libri 1,1 (zitiert nach: Matteo Maria Boiardo: Amorum libri tres, hg. von Tiziano Zanato, Rom 2002 [Studi e testi del Rinascimento Europeo 19]; Übersetzung von Florian Mehltretter).

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a ripensar ancor oggi me invita quel che alora mi piacque, ora mi dole. Così racolto ho ciò che il pensier fole Meco parlava a l’amorosa vita, quando con voce or leta or sbigotita formava sospirando le parole. Ora de amara fede e dolci inganni l’alma mia consumata, non che lassa, fuge sdegnosa il puerile errore. Ma certo chi nel fior de’ soi primi anni Sanza caldo de amore il tempo passa, se in vista è vivo, vivo è sanza core. Amor, der mich in seiner schönen Sonne wärmte in der süßen Zeit meines blühenden Lebensalters, lädt mich heute dazu ein, wieder an das zu denken, was mir damals gefiel und mir heute Schmerzen bereitet. | So habe ich gesammelt, was mein tolles Denken mit mir sprach, als Liebe mein Leben bestimmte, als ich mit bald froher, bald verzagter Stimme seufzend Worte formte. | Nun, da meine Seele von bitter gewordener Treue und süßem Trug aufgezehrt, wo nicht ihrer müde, ist, flieht sie verachtend den Knabenirrtum. | Aber der, der in der Blüte seiner ersten Jahre seine Zeit ohne die Wärme der Liebe hinbringt, wenn er auch lebendig aussieht, so lebt er doch ohne Herz.

Boiardo beschreibt die Liebe ebenfalls in signifikanter Abwandlung von Petrarcas Proömialsonett104 als eine Regung, der im Alter zwar abzuschwören, die aber für die Jugend durchaus legitim und im übrigen auch notwendig sei.105 Liebe wird auch hier wie bei Landino eingebunden in ein Lebenskonzept, in dem diese ihren festen, aber eben auch begrenzten und zeitlich genau fixierten Platz hat. Anders als sein Zeitgenosse Boiardo thematisiert Landino allerdings auf der Grundlage von Properz auch die Alternative, der sich ein Dichter in reiferen Tagen zuwenden kann, wenn die Liebe beginnt, aus Altersgründen anstößig zu werden: Diese ist die Verherrlichung der Medici und der Arnostadt als kulturelles Zentrum Italiens, das in der rinascimentalen Gegenwart die Rolle des antiken Rom einnehmen kann.106 Aber mehr noch: Wie gesehen, eröffnet sich Landino mit der von seinem Schüler Marsilio Ficino in seinem Umfeld entwickelten renaissanceplatonischen Liebesauffassung darüber hinaus eine Möglichkeit, das

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105 106

Zu den intertextuellen Bezügen zu Petrarca: RVF 1 s. Mehltretter: Modelle des guten Lebens (wie Anm. 102), S. 169–172. Boiardo: Amorum libri 1,1–4; 13–16. Vgl. hierzu Müller: Zwischen Properz und Petrarca (wie Anm. 58), S. 157–164.

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Thema der Liebe auch über die Epoche der Jugend hinaus verfolgen zu können, ohne seine eigenen Forderungen zur Disposition stellen zu müssen.107 Mit dieser Boiardos Lösung hinter sich lassenden Weiterentwicklung seiner Dichtung rückt Landino schließlich in die Nähe zahlreicher ab der zweiten Hälfte des Quattrocento entstandenen Dichtungszyklen, die dem platonischen Liebeskonzept verpflichtet sind, wie exempli gratia jene Lorenzos de’ Medici.108 Somit hat sich Landino mit den unterschiedlichen Fassungen seines poetischen Œuvres in das gesamte Möglichkeitsspektrum von Liebesdichtung, welche das Quattrocento entwickelt hat, eingeschrieben. Doch nicht nur durch dieses bloße Faktum sticht es im zeitgenössischen Kontext heraus. Denn sein entscheidendes Charakteristikum ist es, dass Landino die unterschiedlichen Varianten nicht nur nacheinander erprobt, sondern dass er diese in ein an seinem lyrischen Ich exemplizifiziertes Lebenskonzept integriert, in dem alle im Quattrocento poetisch diskutierten Liebeskonzepte ihren Platz beanspruchen dürften und die Rede über die Liebe auf diese Weise zum Bestandteil des gesamten Lebens, und dies bis ins hohe Alter, avancieren darf.

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Zu platonischen Bezügen in Boiardos Amorum libri s. Mehltretter: Modelle des guten Lebens (wie Anm. 102), S. 176–177. Freilich konstituieren diese hier keine Möglichkeit, Liebeserfahrung und deren Verarbeitung in der Dichtung bis ins Alter auszudehnen. Boiardos Amorum libri münden dagegen trotz deren eindeutiger Akzeptanz in der Jugend im dritten Buch im an Petrarca orientierten Motiv des pentimento aus der Sicht des Alternden, das bei Landino signifikanterweise fehlt; vgl. ebd., S. 179–183. S. hierzu grundlegend die Lektüren in Huss: Lorenzo de’ Medicis Canzoniere (wie Anm. 77), S. 138–436.

Alfred Stückelberger

Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition Klaudios Ptolemaios gilt weitherum als markanter Repräsentant einer alten, durch neuere Erkenntnisse der Renaissance längst überwundenen Welt. Das so genannte ptolemäische Weltbild, d.h. das von ihm dezidiert verteidigte geozentrische Weltsystem, ist durch die so genannte kopernikanische Revolution endgültig zu Fall gebracht worden, und sein geographischer Atlas mit einer terra incognita an den Enden der Oikumene und einer Landbrücke von Südafrika nach China erschien nach den Entdeckerfahrten von Kolumbus und Magellan vollkommen überholt. So konnte Ptolemaios als Inbegriff des Alten und Überholten gesehen werden. Eine genauere Betrachtung der gut dokumentierten Rezeptionsgeschichte der beiden ptolemäischen Hauptwerke lässt die wissenschaftlichen Leistungen dieses bedeutenden alexandrinischen Gelehrten allerdings in einem anderen Licht erscheinen und stellt damit ein eindrückliches Beispiel eines fruchtbaren Dialoges mit dem Altertum dar:1

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Die Geographike Hyphegesis: Vom geographischen Lehrbuch zum antiquarischen Opus

Es muss ein eindrückliches Ereignis gewesen sein, als der byzantinische Gelehrte Manuel Chrysoloras (ca. 1350–1415), der später am Konzil von Konstanz eine bedeutende Rolle spielen sollte, 1397 nach Florenz kam und dort – nach einem fast tausendjährigen Unterbruch – erstmals im Abendland wieder einen Griechischunterricht einrichtete. Von besonderer Bedeutung war, dass Chrysoloras zahlreiche griechische Codices mitbrachte, unter diesen auch eine GeographieHandschrift des Ptolemaios. Ungefähr 100 Jahre zuvor war die fast ganz verschollene Geographie des Ptolemaios – offenbar nach langem Suchen2 – vom hochgelehrten byzantini1

2

Verschiedene unten angeführte Beiträge zum Thema sind zusammengestellt in: Handbuch der Geographie. Ergänzungsband mit einer Edition des „Kanons bedeutender Städte“, hg. von Alfred Stückelberger und Florian Mittenhuber, Basel 2009. So im 119. Brief des Planudes vom Sommer 1295 bezeugt. Vergleiche dazu: Alfred Stückelberger: Planudes und die Geographie des Ptolemaios [darin textkritische Aus-

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Alfred Stückelberger

schen Mönch und Philologen Maximos Planudes (ca. 1255–1305) wiederentdeckt worden. Das für die Wissenschaftsgeschichte hochbedeutsame Ereignis, das selbst am Hofe des Kaisers Andronikos II (reg. 1282–1328) Aufsehen erregte, hat Planudes in einem hexametrischen Gedicht gefeiert. Er sorgte dann auch für Abschriften der farbenprächtigen Handschrift, „die ungezählte Jahre verborgen war […] und nun wieder zum Vorschein gekommen ist“3, weshalb man allgemein von einer planudeischen Redaktion spricht, der wir die ganze weitere Überlieferung der Geographie verdanken.4 Offenbar ein Exemplar aus dieser planudeischen Redaktion der ptolemäischen Geographie, vielleicht sogar den berühmten, heute im Vatikan verwahrten Codex Urbinas Graecus 82 (Ende 13. Jh.), brachte Chrysoloras von Byzanz nach Florenz.5 Er selber begann damit, diesen ins Lateinische zu übersetzen. Die Übersetzungsarbeit führte dann um 1406 sein Schüler Jacobus Angelus (Jacopo Angeli da Scarperia, ca. 1360–1411) zu Ende, der dem Werk auch den Titel Cosmographia verlieh.6 Man kann sich das Erstaunen der Gelehrtenwelt, die noch vom mittelalterlichen, letztlich auf den TO-Karten basierenden Weltbild geprägt war, nicht groß genug vorstellen, als im lateinischen Westen erstmals bis dahin unbekannte Ptolemaios-Atlanten auftauchten.7 Eine Gegenüberstellung der

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gabe und deutsche Übersetzung des unten zitierten Planudes-Gedichtes], in: Museum Helveticum 53/2 (1996), S. 197–205, hier S. 199. Stückelberger: Planudes (wie Anm. 2), S. 202, V. 29 und 45. Ausführlicher dazu Stückelberger: Planudes (wie Anm. 2), S. 197–205. Jetzt auch in: ders.: Wege der Überlieferung, in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 320–335; neuere Textausgabe und englische Übersetzung [leider mit z.T. metrisch unhaltbaren Änderungsvorschlägen] von Filippomaria Pontani: The World on a Fingernail. An Unknown Byzantine Map, Planudes, and Ptolemy, in: Traditio 65 (2010), S. 177–200. Es steht nicht sicher fest, welche Handschrift Chrysoloras mitbrachte. Jedenfalls sind im Vorfeld der Eroberung von Byzanz um 1453 verschiedene weitere GeographieHandschriften auf unterschiedlichen Wegen aus dem Osten nach Italien gelangt, so der Cod. Vaticanus Graecus 177 (Ende 13. Jh.), der Cod. Marcianus Graecus 516 (14. Jh.), sowie der für die Basler Editio princeps bedeutsame Cod. Vaticanus Palatinus Graecus 388 (um 1435/37). Dazu Klaus Geus: Der lateinische Ptolemaios, in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 356–364. Im Mittelalter hatte man gewisse, meist recht vage Kenntnisse von Ptolemaios (oft mit einem Ptolemäer-König verwechselt, so in Raffaels berühmter Schule von Athen), eine direkte Benützung der Geographie ist aber nicht belegbar; vgl. dazu Patrick Gautier Dalché: Le souvenir de la ‚Géographie‘ de Ptolémée dans le monde Latin médiéval (VIe–XIVe siècles), in: Euphrosyne 27 (1999), S. 79–106. Anders ist es im islamischen Bereich, wo – neben dem Almagest – auch die Geographie des Ptolemaios verschiedentlich rezipiert worden ist. Vergleiche dazu Florian Mittenhuber und Celâl Sengör: Die Geographie des Ptolemaios in der arabischen Tradition, in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 336–355.

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bekannten Ebstorfer Weltkarte und der Ptolemaios-Weltkarte aus dem Cod. Seragliensis GI 57, die nur wenige Jahrzehnte auseinanderliegen, mag das veranschaulichen: Hier eine vom Ozean umrandete, von Christus gehaltene Scheibe (obwohl man im Mittelalter die Kugelgestalt der Erde durchaus kannte), in deren Mitte Jerusalem liegt und die von recht phantasievollen Gewässern durchquert ist und mehr ein theologisches als ein geographisches Weltbild darstellt (Abb. 1),8 dort eine Weltkarte, die mit Meridianen und Breitenkreisen auf kunstvolle Art die Kugelgestalt der Erde zum Ausdruck bringt und die – mindestens im Raum des heutigen Europa – ein einigermaßen realistisches Bild von den geographischen Verhältnissen vermittelt (Abb. 2). Nun bot aber das ptolemäische Werk noch sehr viel mehr als nur einen Atlas mit Weltkarte und Länderkarten: Ein Ortskatalog mit etwa 8000 Toponymen enthielt eine Fülle von Namen von bis dahin nie gehörten Orten und Ländern, die Einführung eines einheitlichen Koordinatensystems erlaubte eine für die ganze Oikumene gültige Positionierung einzelner Orte, und die in der Einleitung vorgeführten Methoden zur Umsetzung einer Kugeloberfläche auf eine Ebene ermöglichten die Anfertigung einigermaßen realistischer Weltkarten. Das große Interesse, das man dem Werk des Ptolemaios entgegenbrachte, manifestiert sich vorerst in den zahlreichen Abschriften, die man herstellte. Zunächst wurden von der von Chrysoloras mitgebrachten griechischen Vorlage Kopien hergestellt, so der Codex Florentinus Laurentianus XXVIII, 9, der Codex Florentinus Laurentianus XXVIII, 42 und der Codex Florentinus Laurentianus XXVIII, 38. Vor allem aber fand die leichter zugängliche lateinische Übersetzung riesiges Interesse, von dem über 80 noch heute erhaltene, oft mit prächtigen Karten ausgestattete Renaissance-Handschriften zeugen,9 unter ihnen der bekannte Codex Farnese VF 32 von 1466 und der besonders kostbare, von Federigo da Monte Feltro, Herzog von Urbino, 1472 in Auftrag gegebene Codex Urbinas Latinus 277.10 Kaum war die Buchdruckerkunst erfunden, erfolgte schließlich – lange vor der erst 1533 in Basel erschienenen Editio princeps des griechischen Textes – die Drucklegung der lateinischen Cosmographia. In dichter Folge wurden Ausgaben in Italien und bald auch nördlich der 8

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Zur Ebstorfer Weltkarte siehe vor allem Hartmut Kugler: Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, Berlin 2007. Zum geographischen Weltbild des Mittelalters überhaupt vgl. die zahlreichen Studien der profunden Kennerin Anna-Dorothee von den Brincken: Studien zur Universalkartographie des Mittelalters, hg. von Thomas Szabó, Göttingen 2008. Zur Ebstorfer Weltkarte dies.: Die Ebstorfer Weltkarte im Verhaltnis zur spanischen und angelsächsischen Weltkartentradition, in: ebd., S. 415–431. In seiner Zusammenstellung listet Geus 86 lateinische Geographie-Handschriften auf, vgl. Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 360–364. Von beiden gibt es hochwertige Faksimile-Ausgaben, s. Arthur Dürst: Die Cosmographia des Claudius Ptolemäus. Codex Urbinas Latinus 277, Zürich 1982; Lelio Pagani: Ptolemäus. Cosmographia. Das Weltbild der Antike, Stuttgart 1990 [nur Reproduktionen der Karten des Cod. Neapolitanus Latinus VF 32].

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Alpen gedruckt: 1475 die Editio princeps von Vicenza (noch ohne Karten), 1477 die erste Ausgabe mit Karten von Bologna, 1478 und 1490 die Ausgaben von Rom, 1482 und 1486 die Ausgaben von Ulm, usw. Bis zur griechischen Erstausgabe von 1533 sind etwa 20 lateinische Editionen nachweisbar.11

Abb. 1: Ebstorfer Weltkarte (um 1250, Nachbildung des 1943 zerstörten Originals) als Beispiel eines mittelalterlichen Weltbildes

11

Vgl. dazu Doris Oltrogge: Die Drucke der Geographie des Ptolemaios in der Inkunabel- und Frühdruckzeit (1475–1533), in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 365–381.

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Abb. 2: Weltkarte aus dem Ptolemaios-Codex Seragliensis GI 57 fol. 73v/74r (Ende 13. Jh.)

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Abb. 3: Trapezförmige Länderkarte (Gallien) nach dem Entwurf des Nicolaus Germanus, Cod. Neapolitanus Farnese VF 32 (1466), fol. 77v/78r

Man kann also geradezu von einer explosionsartigen Verbreitung der ptolemäischen Geographie im 15. Jahrhundert sprechen, die zunächst als begehrte Informationsquelle diente und das geographische Weltbild und insbesondere die Kartographie nachhaltig beeinflusste. In diesem Werk, welches das ganze geographische Wissen der Antike zusammenfasste, hörte man von den Insulae Fortunatae am Westrand der Oikumene, von den Nilquellen im Innern Afrikas, von der sagenhaften Insel Thule im Norden und der geheimnisvollen Sera Metropolis in China. Man übernahm – im Gegensatz zu den meist geosteten mittelalterlichen Karten – die für Ptolemaios aus astronomischen Überlegungen notwendige Nordausrichtung der Karten,12 man benützte sein System von Breiten- und Län-

12

Die Nordausrichtung der Karten ergibt sich für Ptolemaios folgerichtig aus der Konzeption seines Koordinatensystems, das vom Himmelsgewölbe auf die Erde projiziert ist. So spricht er etwa von Orten, die „unter demselben Meridian“ liegen statt „auf

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gengraden und zählte die Ersteren, wie noch heute, vom Äquator zu den Polen, die Letzteren noch bis 1884 von den Insulae Fortunatae (später genauer von Hierro) am Westrand der Oikumene an nach Osten.13 Dass dem Werk auch schwerwiegende Fehleinschätzungen innewohnten – so etwa die augenfällige Längenverzerrung –, konnte vorderhand nicht auffallen. Eine Schlüsselrolle in der Beschäftigung mit Ptolemaios spielte der sonst wenig bekannte Nicolaus Germanus (ca. 1420–1490), der sich in die ptolemäischen Projektionsmethoden einarbeitete und mit seinen verschiedenen Redaktionen der Karten die handschriftliche und später die gedruckte Tradition in hohem Maße beeinflusste. Auf Germanus geht die trapezförmige Gestalt der Länderkarten zurück, die – anders als es Ptolemaios vorgeschlagen hatte – auch bei den Teilkarten der Verkürzung der Längengrade Rechnung tragen sollte (Abb. 3).14 Von besonderer Bedeutung ist nun, dass das wiedergefundene geographische Werk des Ptolemaios rasch auf andere Werke ausstrahlte. So ließ etwa Guillaume Fillastre von Reims (Philastrius, ca. 1348–1428) in Konstanz anlässlich des dort 1414 einberufenen Konzils, an welchem auch der oben genannte Manuel Chrysoloras teilnahm, für seine Kapitelsbibliothek eine Abschrift eines MelaTextes herstellen, in welcher er zwei nach Ptolemaios gezeichnete Weltkarten aufnahm: die eine noch geostete und mittelalterliche Züge aufweisende ist im Cod. Reims B.M. 1312 fol. 13r (1417) als Miniatur in das Rund einer O-Initiale eingefügt, die andere, nun eindeutig ptolemäische, ist in einer wenig später angefertigten Abschrift, dem Cod. Vaticanus, Arch. S. Pietro H 31 fol. 8v, erhalten (Abb. 4).15

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demselben […]“, wie wir erwarten würden und wie wir es auch in unserer Ptolemaios-Übersetzung, um nicht zu irritieren, formuliert haben. Vgl. dazu Florian Mittenhuber/Thomas Klöti: Ptolemaios-Rezeption in der Kartographiegeschichte, in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 382–401; dort bes. S. 383, Anm. 5, zur Festlegung des Meridians durch Greenwich als Nullmeridian durch die Internationale Meridiankonferenz in Washington von 1884 (von Frankreich erst 1911 anerkannt). Dazu Florian Mittenhuber: Karten und Kartenüberlieferung, in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 34–108, hier S. 64f. Dazu Pomponius Mela: Kreuzfahrt durch die Alte Welt, hg. von Kai Brodersen, Darmstadt 1994, S. 17–19 (mit Abbildungen); vgl. auch Anna-Dorothee von den Brincken: Die Rahmung der ‚Welt‘ auf mittelalterlichen Karten, in: KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, hg. von Stephan Günzel und Lars Nowak, Wiesbaden 2012, S. 95–119, hier S. 116f. (mit Abbildungen).

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Abb. 4: Weltkarte im Stil des Ptolemaios im Mela-Codex Vaticanus, Arch. San Pietro H 31 fol. 8v (kurz nach 1417)

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Aber auch Angaben aus dem Textteil der Geographie fanden bald Eingang in zeitgenössische Werke, teilweise mit schwerwiegenden Folgen: So hatte Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II., in seiner Schrift Historia rerum ubique gestarum aus Ptolemaios den viel zu geringen Erdumfang von 180.000 Stadien16 übernommen: Ptholomaeus […] totum ambitum noti orbis stadiis centum et octoginta milibus constare censet (Kap. 4). 17 Auf diesen Wert von 180.000 Stadien (umgerechnet etwa 33.300 km) ist Kolumbus auf seiner Suche nach geographischen Größenangaben gestoßen, der – neben zahlreichen anderen Autoren18 – das Werk Aeneas Silvius Piccolominis intensiv studierte. Er schreibt zu dieser Stelle in seinem Exemplar ausdrücklich am Rand: totum anbitum noti orbis, scilicet 180 milibus. 19 Dass sich Kolumbus im Vorfeld seiner Entdeckungsfahrten auch eingehend mit der ptolemäischen Geographie selbst befasst hatte und zweifellos auch durch sie zu seinen Unternehmungen motiviert wurde, bezeugt ein Exemplar der Römer Ausgabe von 1478, das von ihm signiert und mit zahlreichen Randbemerkungen von seiner Hand versehen ist. Der auf Ptolemaios beruhende fatale Irrtum hinsichtlich des zu geringen Erdumfangs hat ihn zeit seines Lebens im Glauben gelassen, tatsächlich nach Indien gekommen zu sein. Es ist bezeichnend für den innovativen Geist der Renaissance, dass man sich bald nicht mehr mit dem bloßen Übernehmen des Vorgegebenen begnügte, sondern – noch längst vor den großen Entdeckerfahrten – damit begann, neue geographische Erkenntnisse zu verarbeiten. Dies geschah vorderhand so, dass den Ptolemaios-Handschriften, die man zunächst unverändert ließ, sog. tabulae bzw. descriptiones novae oder tabulae modernae anfügte, ein Vorgehen, das auch spätere Druckausgaben übernommen haben. Ein besonders schönes Beispiel stellt der oben genannte, 1472 hergestellte Prachtkodex Urbinas Latinus 277 dar, welcher neben dem kanonischen Satz von einer Weltkarte und 26 Länderkarten auch sieben doppelseitige descriptiones novae enthält (von Hispania, Gallia, Italia, Etruria, Peloponnesus, Creta, Aegyptus) sowie zehn Städteansichten (sog. Planveduten) mit überaus detaillierten Darstellungen markanter Gebäude (von 16

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So nach Ptol. geogr. 1,11,2 und 1,14,10. Eratosthenes hatte dagegen einen präziseren Erdumfang von 252'000 (allerdings kleineren) Stadien ermittelt (umgerechnet mit dem ägypt. Stadion von 157,5 m = 39690 km). Zum ganzen Problem vgl. Alfred Stückelberger: Das Gesamtbild der Oikumene, in: Stückelberger/Mittenhuber: Klaudios Ptolemaios (wie Anm. 1), S. 254–267, hier S. 254ff. Pius II Pontifex Maximus: Historia rerum ubique gestarum, Venedig 1477 (Nachdruck Madrid 1991), Kap. 4. Kolumbus hat nachweislich die entscheidenden Stellen der antiken Literatur gekannt, die einen Westweg von Spanien nach Indien für möglich halten: Eratosthenes bei Strabo 1,4,6; Aristot. cael. 2,14, 298 a 9ff.; Sen. nat. 1 praef. 13. Ausführlicher dazu Alfred Stückelberger: Kolumbus und die antiken Wissenschaften, in: AKG 69 (1987), S. 331–340. Ebd., S. 336.

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Mediolanum, Venetia, Florentia, Roma, Constantinopolis, Damascus, Hierusalem, Alexandria, Cairus [sic!], Volaterra).20 Diese neuen Karten zeichnen sich dadurch aus, dass sie meist verbesserte Küstenumrisse aufweisen, vor allem aber, dass sie zeitgenössische, erheblich vermehrte Ortsbezeichnungen anführen; sie haben aber, im Gegensatz zu den Ptolemaios-Karten, keine Randleisten mit Längen- und Breitenangaben und verzichten somit auf die Einordnung der Orte in ein übergeordnetes Koordinatensystem. Die entscheidende Umwälzung des geographischen Weltbildes wurde durch die Entdeckerfahrten des ausgehenden 15. Jh. und beginnenden 16. Jh. ausgelöst: Die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus 1492, die Umfahrung von Afrika durch Vasco da Gama 1498, die Weltumsegelung von Magellan 1519– 1521 hatten eine gewaltige Horizonterweiterung zur Folge, die sich nicht mehr mit dem überkommenen Bild der Oikumene vereinbaren ließ.21 Im Bestreben, Treue gegenüber dem ursprünglichen ptolemäischen Werk mit Berücksichtigung neuer Erkenntnisse zu verbinden, fügte man zunächst immer mehr tabulae novae an: In der Ulmer Ausgabe von 1482 waren es noch fünf, in der Römer Ausgabe von 1507 sind es sechs, in der von Martin Waldseemüller, Matthias Ringmann u.a. besorgten Straßburger Ptolemaios-Ausgabe von 1513 sind es bereits 20 tabulae novae, die nun auch über Randleisten mit Längen- und Breitenangaben verfügen. Besonderes Kopfzerbrechen verursachte nach den neuen Entdeckungen die Gesamtdarstellung der nun bekannten Welt: Während die Weltkarte in der Chronik des Hartmann Schedel (Nürnberg 1493) noch ganz dem ptolemäischen Schema folgt – typisch die hypothetische Landbrücke von Afrika nach China – (Abb. 5), ist in den Römer Ausgaben der Geographie von 1507 und 1508 eine von Johannes Ruysch entworfene Weltkarte beigegeben (neben der konventionellen ptolemäischen), welche nun Afrika mit realistischen Konturen zeigt und vor allem die Neue Welt – noch ganz unsicher – miteinbezieht (Abb. 6). Diese kreative Auseinandersetzung mit dem Neuen und der Respekt vor dem Alten kommen besonders schön in der monumentalen, auf zwölf Blättern gedruckten Weltkarte von Martin Waldseemüller von 1507 zum Ausdruck (Abb. 7). Während Europa und Asien noch der ptolemäischen Karte nachempfunden sind, zeigt Afrika eine erstaunlich korrekte Küstenlinie, und ganz im Westen ist – hier erstmals so genannt – Amerika eingezeichnet; und, in unserem Zusammenhang besonders bezeichnend: In den beiden Vignetten oberhalb der Karte sind, als Repräsentanten der alten und der neuen Sichtweise, Ptolemaios und Amerigo Vespucci abgebildet.

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Dazu Arthur Dürst: Die Cosmographia des Claudius Ptolemäus. Codex Urbinas Latinus 277. Eine Einführung, Zürich 1983, S. 70–72. Zum ganzen Thema ausführlich Florian Mittenhuber/Thomas Klöti: PtolemaiosRezeption (wie Anm. 13).

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Abb. 5: Weltkarte in der Weltchronik des Hartmann Schedel (Nürnberg 1493)

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Abb. 6: Weltkarte von Johannes Ruysch in der Römer Ptolemaios-Ausgabe von 1507

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Abb. 7: Weltkarte von Martin Waldseemüller in 12 Blättern (132x236 cm) von 1507

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Als dann Erasmus von Rotterdam 1533 bei Hieronymus Frobenius in Basel die Editio princeps des griechischen Textes der ptolemäischen Geographie herausbrachte, war das Werk schon weitgehend überholt; vielleicht mit ein Grund, dass er auf Karten verzichtete. Das historische Interesse dagegen, das man dem Werk entgegenbrachte, blieb im Kreise der Humanisten ungebrochen, fertigte doch Willibald Pirckheimer eine neue lateinische Übersetzung an, die 1525 in Straßburg gedruckt wurde und von da an die Übersetzung von Jacobus Angelus verdrängte. In der Folgezeit gehen die Wege immer weiter auseinander: Die neuen Karten bekommen immer größeres Gewicht und verselbständigen sich, das Werk des Ptolemaios wird zum historischen Dokument. Die Ausgabe von Sebastian Münster von 1540 umfasst neben den 26 ptolemäischen Länderkarten 20 moderne Karten, und neben einer konventionellen Weltkarte nach der zweiten ptolemäischen Projektion steht eine moderne in einer neuartigen Projektion, welche 360° umfasst und vom Nordpol zum Südpol reicht (Abb. 8). Das Auseinanderdriften der zwei Wege kommt schließlich besonders deutlich im Werk des bedeutendsten Kartographen des 16. Jh. zum Ausdruck: Gerhard Mercator (1512–1594) gab einerseits 1569 eine monumentale moderne Weltkarte auf 21 Blättern heraus, welche diejenige von Waldseemüller an Detailangaben weit übertraf; mit seiner sachkundig redigierten Ausgabe der ptolemäischen Karten von 1578, der 1584 eine Gesamtedition mit der Übersetzung von Pirckheimer folgte, kehrte er andererseits wieder zum originalen Urbestand der ptolemäischen Geographie zurück: Das geographische Interesse an Ptolemaios war verblasst, aber das philologischhistorische Interesse an seiner Geographie als einem bedeutenden Dokument der Wissenschaftsgeschichte ist geblieben.

Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition

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Abb. 8: Moderne Weltkarte von Sebastian Münster in seiner Geographie-Ausgabe (Basel 1540), vor dem ptolemäischen Kartensatz

264 2

Alfred Stückelberger

Der Almagest: Die Crux mit dem heliozentrischen Weltbild

Es hat schon immer Kopfzerbrechen22 verursacht, weshalb Ptolemaios, jener astronomisch und mathematisch bestens geschulte Gelehrte, in seinem astronomischen Hauptwerk, dem Almagest (= Syntaxis mathematica),23 dezidiert für das geozentrische Weltbild eingetreten ist und dieses für fast anderthalb Jahrtausende festgeschrieben hat, obwohl er das heliozentrische Gegenmodell des Aristarch von Samos, den er mehrmals zitiert, durchaus kannte. Wie uns Plutarch überliefert, hatte nämlich dieser Aristarch von Samos, ‚the ancient Copernicus‘, wie ihn Thomas Heath nennt,24 bereits im 3. Jh. v. Chr. gelehrt, „um die Himmelserscheinungen zu retten (σώζειν τὰ φαινόµενα), dass die Fixsternsphäre fest stehe, die Erde aber in einem geneigten Kreis (um die Sonne) kreise und sich gleichzeitig um ihre Achse drehe“.25 Ptolemaios dagegen propagiert gleich zu Beginn des Almagests mit fünf Thesen ein geozentrisches Weltbild, deren wichtigste lauten (synt. 1,2): Das Himmelsgewölbe hat Kugelgestalt und dreht sich wie eine Kugel. Ihrer Lage nach nimmt die Erde einem Zentrum vergleichbar die Mitte des ganzen Himmelsgewölbes ein. Die Erde hat ihrerseits keinerlei Ortsveränderung verursachende Bewegung.

Uns interessieren nun vor allem die Argumente, die Ptolemaios gegen ein heliozentrisches Weltmodell vorbringt. Es zeigt sich dabei, dass nicht unbelehrbarer Konservativismus oder weltanschauliche Voreingenommenheit für seine Haltung verantwortlich waren, sondern mathematische und physikalische Überlegungen, die vom damaligen Kenntnisstandpunkt aus gesehen durchaus stichhaltig sind und die auch Kopernikus und Galilei nicht widerlegen konnten. Zunächst führt Ptolemaios ein physikalisches Argument gegen die Erdrotation an:26

22

23

24

25 26

Ausführlicher dazu Alfred Stückelberger: Ptolemaios und das heliozentrische Weltbild. Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels, in: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption 8 (1998), S. 83–89. Immer noch maßgebend die Ausgabe von Johann Ludwig Heiberg: Claudii Ptolemaei Opera quae exstant omnia, vol. 1, pars 1–2: Syntaxis mathematica, Leipzig 1898– 1903. Die hier vorgeführten Stellen lehnen sich an die dt. Übersetzung an von Karl Manitius: Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie, Leipzig 1912/13 (Nachdruck: Leipzig 1963); engl. Übersetzung von Gerald James Toomer: Ptolemy’s Almagest, Translated and Annotated, London 1984. Thomas L. Heath: Aristarchus of Samos. The Ancient Copernicus, Oxford 1913 (Nachdruck: New York 1981). Plut. de fac. 6,923a; vgl. auch Archim. aren. 1,4f. Ptol. synt. 1,7.

Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition

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So müssten sie (d.h. die Vertreter einer Achsenbewegung) doch zugeben, dass die Drehung der Erde die gewaltigste von allen in ihrem Bereich existierenden Bewegungen wäre, insofern sie in kurzer Zeit (d.h. in 24 h) eine so ungeheuer schnelle Wiederkehr zum Ausgangspunkt bewerkstelligte, dass alles, was auf ihr nicht niet- und nagelfest wäre, scheinbar immer in einer einzigen Bewegung begriffen sein müsste, welche der Erde entgegengesetzt verliefe. So würde sich weder eine Wolke noch sonst etwas, was fliegt oder geworfen wird, in der Richtung nach Osten ziehend bemerkbar machen, weil die Erde stets alles überholen und nach Osten vorauseilen würde.

Als guter Mathematiker, dem der damals schon recht genau berechnete Erdumfang bekannt war, konnte sich Ptolemaios durchaus eine Vorstellung machen von den in der Tat recht unglaublichen Tangentialgeschwindigkeiten, die durch eine Erdrotation auftreten müssten: Sie betragen am Äquator immerhin etwa 463m/Sek. Die Folgerung, dass sich eine solche Geschwindigkeit doch irgendwie bemerkbar machen müsste, ist in einer Zeit, da die Trägheitsgesetze noch nicht bekannt waren, nachvollziehbar. Noch eindrücklicher ist seine mathematisch-astronomische Überlegung, nämlich sein Parallaxen-Argument:27 Wenn man aber eine Verschiebung der Erde in der Richtung nach Osten oder Westen annehmen wollte, dann würde der Fall eintreten, dass erstens die Größen und die gegenseitigen Abstände der Gestirne im östlichen Horizont scheinbar nicht die gleichen wie im westlichen sein würden und dass zweitens die Zeit vom Aufgang bis Kulmination nicht gleich sein würde wie die Zeit von Kulmination bis Untergang, was sichtlich mit den Erscheinungen vollkommen im Widerspruch steht.

Mit anderen Worten: Wenn sich die Erde nach der Annahme des Aristarch auf einer in der Ost-West-Ebene liegenden zirkumsolaren Bahn bewegte, müssten sich – so folgert Ptolemaios absolut richtig – sog. Parallaxen, d.h. Verschiebungen in den Fixsternkonstellationen ergeben. Horizontnahe Sternbilder würden im Herbst oder im Frühling größer oder kleiner erscheinen, und polarnahe Fixsterne würde man je nach Jahreszeit unter verschiedenem Winkel sehen (Abb. 9). Von solchen Parallaxen war – zu seiner Zeit – nichts zu bemerken. Analog begründet Ptolemaios auch seine Bezeichnung ‚Fixstern‘ (aster aplanes) mit dem Umstand, dass die geometrischen Sternbildfiguren (schemata) immer gleich bleiben, wobei er hier in diesem Zusammenhang das Stichwort a-parallaktos braucht, von welchem sich der Terminus Parallaxe herleitet.28

27 28

Ptol. synt. 1,5. Ptol. synt. 7,1.

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Alfred Stückelberger

Abb. 9: Parallaxen der Fixsterne; links: ein Fixstern in der Polarregion wird je nach Jahreszeit unter einem anderen Winkel gesehen; rechts: zwei horizontnahe Fixsterne haben je nach Jahreszeit einen größeren oder kleineren Winkelabstand

Der in der Tat ‚revolutionär‘ wirkende Ablösungsprozess vom geozentrischen zum vorläufig noch heftig umstrittenen heliozentrischen Weltbild wurde bekanntlich durch das 1543 in Nürnberg erschienene Werk des Kopernikus De revolutionibus orbium caelestium ins Rollen gebracht. Weniger bekannt ist, dass sich Kopernikus im 1. Buch29 seines Werkes an einer Stelle, die bei der Drucklegung einer Kürzung zum Opfer fiel und darum in den Ausgaben meist nicht erscheint, ausdrücklich auf Aristarch von Samos als Gewährsmann für das heliozentrische Weltbild beruft: Aristarchum Samium ferunt in eadem fuisse sententia („Man berichtet, Aristarch von Samos sei derselben Meinung gewesen“; vgl. Abb. 10).30

29

30

Nicolaus Copernicus: Über die Kreisbewegungen der Weltkörper. De revolutionibus orbium caelestium. Erstes Buch, übers. von C. L. Menzzer, hg. von Georg Klaus und Aleksander Birkenmajer, Berlin 1959. Die oben zitierte Plutarch-Stelle dürfte ihm aus der in Venedig 1509 erschienenen Editio princeps zugänglich gewesen sein.

Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition

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Abb. 10: Autograph des Kopernikus De revolutionibus orbium caelestium fol. 11v mit der Stelle, an welcher er auf Aristarch von Samos verweist (Pfeil)

Es liegt auf der Hand, dass sich Kopernikus bei der Begründung seines neuen Weltbildes mit den Gegenargumenten des Ptolemaios auseinanderzusetzen hatte. Auf das parallaktische Argument geht er nur kurz ein und erklärt die Tatsache, „dass Erdachse und Äquator annähernd nach derselben Himmelsgegend gerichtet sind“,31 an sich richtig, aber noch ohne dabei besondere Schwierigkeiten zu sehen, mit den ungeheuren Entfernungen. Ausführlicher geht er auf die von Ptolemaios dramatisch geschilderten physikalischen Folgen ein, die bei einer Achsendrehung der Erde auftreten müssten:32 Wenn aber nun einer der Meinung ist, die Erde drehe sich, so wird er gewiß auch die Ansicht vertreten, daß diese Bewegung natürlich und nicht gewaltsam sei [motum esse naturalem, non violentum]. Was aber der Natur gemäß ist, das bringt Wirkungen hervor, die dem entgegengesetzt sind, was durch Gewalt geschieht. 31 32

De rev. 1,11. De rev. 1,8; zitiert nach Copernicus: Über die Kreisbewegungen (wie Anm. 29), S. 50f.

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Alfred Stückelberger […] Ohne Grund also fürchtet Ptolemaios, daß die Erde und alle irdischen Gegenstände bei einer durch die Tätigkeit der Natur entstandenen Umdrehung zerstreut würden […].

Die recht spekulative Erklärung des Kopernikus ist hier noch ganz im mittelalterlichen, von Aristoteles geprägten Denken von den ‚natürlichen Bewegungen‘ verhaftet und vermag das physikalische Argument des Ptolemaios nicht eigentlich zu widerlegen. Erwartungsgemäß setzt sich auch Galilei in seiner grundlegenden Diskussion über das kopernikanische Weltsystem, im Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Tolmaico e Copernicano (1632), 33 ausführlich mit den von Ptolemaios gemachten Einwänden auseinander. Hier steht nun das parallaktische, d.h. das mathematische, Argument im Vordergrund. Galilei lässt Simplicio, den Vertreter des aristotelisch-ptolemäischen Konzeptes, einwenden:34 Aber doch werden wir diese Schwierigkeit noch nicht los, da auch von jener geringen Verschiedenheit [sc. der Sternpositionen], die vorhanden sein müsste, erfahrungsgemäß nichts bekannt ist. Ist diese Verschiedenheit aber gleich Null, so muss man notgedrungen zugeben, dass auch die jährliche der Erde beigelegte Bewegung längs des orbis magnus (= Erdumlaufbahn) gleich Null sei.

Darauf muss Salviati, der Vertreter des kopernikanischen Systems, zugeben: „Ich habe schon früher gesagt, dass meines Wissens niemand Beobachtungen darüber angestellt hat, ob zu verschiedenen Jahreszeiten irgendwelche Fixsternverschiebungen wahrzunehmen sind, welche sich auf die jährliche Erdbewegung zurückführen ließen,“35 und schließt wenig später die – durchaus richtige – Vermutung an: „Es ist vielleicht doch nicht ganz ausgeschlossen, dass im Verlauf der Zeit sich an den Fixsternen eine Erscheinung beobachten lässt, welche einen Rückschluss auf den Sitz der jährlichen Umdrehung erlaubt.“36 Darauf stellt Salviati Überlegungen an über die Ungenauigkeit der (eben erst erfundenen) Fernrohre und verteidigt das Vorhandensein solcher Parallaxen mit dem Argument, das zu seiner Zeit ebenso unglaublich wirken musste wie zur Zeit des Ptolemaios, dass solche Verschiebungen trotz der riesigen Umlaufbahn der Erde unmerklich klein sein müssten:37

33

34 35 36 37

Zitiert nach Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Das ptolemäische und das kopernikanische, aus dem Italienischen übers. und erl. von Emil Strauss, hg. von Roman Sexl und Karl von Meyenn, mit einem Beitrag von Albert Einstein sowie einem Vorwort zur Neuausgabe und weiteren Erläuterungen von Stillman Drake, Stuttgart 1982. Ebd., S. 394. Ebd., S. 394. Ebd., S. 400. Ebd., S. 404f.

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Aber sollte diese Parallaxe auch nicht sinnlich wahrzunehmen sein, so ist damit die Erdbewegung noch nicht widerlegt […] Denn möglicherweise macht die ungeheure Entfernung der Sternsphäre, wie Kopernikus behauptet, solche minimalen Erscheinungen (der Parallaxen) der Beobachtung unzugänglich. Überdies hat man, wie gesagt, bisher vielleicht noch nicht einmal den Versuch gemacht, sie zu konstatieren, oder wenn auch versucht, so doch nicht in der richtigen Weise, nämlich mit der Genauigkeit, die für so minutiöse Dinge erforderlich wäre. Eine solche Genauigkeit ist schwer zu erzielen wegen der Mängel der astronomischen Geräte.

In der ganzen, sich über mehrere Seiten hinziehenden Debatte spürt man, dass es Galilei nicht recht wohl war, hier am entscheidenden Punkt seiner Verteidigung des kopernikanischen Weltsystems nur Mutmaßungen und keine Beweise anführen zu können, um das auf Ptolemaios zurückgehende Argument zu widerlegen. Freilich sollte sich seine zuversichtliche Vermutung als richtig erweisen, dass allein die mangelnde Messgenauigkeit der Geräte daran schuld sei, dass man vorderhand keine Fixsternparallaxen nachweisen könne. Die endgültige Beweisführung, die Galilei Recht geben sollte, ließ nochmals gut 200 Jahre auf sich warten. Im Winter 1837/38 führte Friedrich Wilhelm Bessel in seiner Sternwarte in Königsberg so genaue Messungen durch, dass er tatsächlich solche Parallaxen nachweisen konnte: Er wies für 61 Cygni, einen der nächsten Fixsterne, eine Parallaxe von dem verschwindenden Betrag von 0,3136" nach.38 Bis dahin blieb das Argument des Ptolemaios gegen das heliozentrische Weltsystem unwiderlegt; eine Parallaxe von 1/3 Bogensekunde, d.h. etwa eine Zündholzbreite auf einen Kilometer: Wer will es dem Ptolemaios verargen, dass er diesen Betrag nicht ausmachen konnte?

38

Vgl. Ernst Zinner: Astronomie. Geschichte ihrer Probleme, Freiburg i. Br. 1951, S. 327ff. Schon vor Bessel angestellte, höchst unzuverlässige Parallaxenmessungen von Bradley und Struve ergaben ganz unrealistisch hohe Werte.

Brigitte Sölch

Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee – mit einem Ausblick auf das ‚Humboldt-Forum‘ in Berlin 1788 blickte Johann Wolfgang von Goethe im Abendglanz der Sonne vom Kapitol auf das Forum Romanum, das er als ein überwältigendes und nahezu auf einen Blick überschaubares Architektur- und Landschaftspanorama beschrieb: „Für uns […] blieb es ein unschätzbarer Genuß, […] das große Bild zu überblicken, das sich linker Hand vom Bogen des Septimius Severus das Campo Vaccino entlang bis zum Minerven- und Friedenstempel erstreckte, um dahinter das Koliseum hervorschauen zu lassen […].“1 Vergleichbare Impressionen stellten sich 2014 auch beim Besuch von Schloss Wilhelmshöhe in Kassel ein, in dem die Ausstellung forum romanum – Zeitreise durch 3000 Jahre Geschichte zu sehen war.2 Die Schau setzte bei den archäologischen Ausgrabungen des Areals im 20. Jahrhundert ein. Sie führte in konzentrierter Form bis zu den Anfängen des Forum Romanum und damit bis zum Gründungsmythos der Stadt Rom zurück. Verglichen werden konnte hier etwa die Darstellungsweise antiker Monumente in Stichen Giovanni Battista Piranesis und in aufwändig gestalteten Korkmodellen, die beliebte Sammlungsgegenstände waren und Rom über die Alpen tragen ließen.3 Mit dem Forum Romanum blieb die Schau auf ein Areal konzentriert, das selbst in großformatigen Stadtansichten wie dem berühmten perspektivischen Romplan von Antonio Tempesta aus dem Jahr 1593 leicht innerhalb der dichten Stadtbebauung auszumachen ist: als eine der größten Freiflächen Roms (Abb. 1), die sich vom Septimius-Severus-Bogen bis zum Titusbogen mit dem Kolosseum 1

2

3

Johann Wolfgang von Goethe schreibt dies im Februar 1788 in ders.: Autobiographische Schriften. Hamburger Ausgabe, Bd. 11, hg. von Erich Trunz, München 131992, S. 522–523. Vgl. forum romanum – Zeitreise durch 3000 Jahre Geschichte, hg. von Bernd Küster, Ausst.-Kat. Petersberg 2014. Der Katalog entspricht mit seinen Kapiteln „Archäologie“, „Alterthümer“, „campo vaccino“, „urbs marmorea“ und „Roma condita“ den gezeigten Sektionen der Ausstellung. Vgl. dazu auch Rom über die Alpen tragen. Fürsten sammeln antike Architektur: Die Aschaffenburger Korkmodelle, hg. von Werner Helmberger und Valentin Kockel, Landshut 1993.

272

Brigitte Sölch

im Hintergrund erstreckt und von architektonischen Monumenten eingefasst wird.4 Deren platzartiges Erscheinungsbild ist zugleich Ergebnis einer bildlichen Justierung der monumentalen Überlieferung, die das Kapitol wie ein architektonisches Panorama hinterfängt.

Abb. 1: Das Forum Romanum. Detail aus Antonio Tempestas Recens prout hodic iacet almae Urbis Roma […], 1593 4

Vgl. neben dem Ausschnitt des Tempesta-Plans in forum romannum (wie Anm. 2), S. 4 auch zu den Romplänen Georg Schelbert: „Spatiando con gli occhi.“ Die Rompläne des 16. bis 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Karte und Architekturvedute, in: KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, hg. von Stephan Günzel und Lars Nowak, Wiesbaden 2012 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften), S. 285–313, zu Tempesta S. 294, 296.

Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee

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Auf die Nachbarschaft von Forum und Michelangelos neu gestaltetem Kapitolsplatz wird später zurückzukommen sein. Festzuhalten an dieser Stelle bleibt, dass sich 3000 Jahre Forum Romanum wie überhaupt die Geschichte des Forums auf unterschiedlichen Wegen erfassen und darstellen lassen. In Kassel wurde – unter Aussparung politisch motivierter ‚Inbesitznahmen‘ des Areals5 – der symbolische Mittelpunkt Roms gewählt, auf den sich alle Blicke richteten.6 Die ‚Erzählung‘ ließe sich aber auch anders entfalten: indem das Forum von seiner Rezeption und dem Nachleben der Antike heraus betrachtet wird, wodurch zugleich andere Zeiten und Räume in den Blick geraten. Immerhin galt das Interesse über Jahrhunderte hinweg nicht nur den römischen Ruinen und den Fora des antiken Römischen Reichs. Vielmehr wurde auch an der Forumsidee als solcher festgehalten. Tradiert und aktualisiert, architektonisch und bildgeschichtlich neu interpretiert wurde sie seit dem Mittelalter.7 ‚Die‘ Antike blieb hierbei das entscheidende Dispositiv, ob als Vorbild oder bloße Chiffre. Es ist jedoch evident, dass damit nur ein Kollektivsingular gemeint sein kann. Jede Zeit schafft ihre eigenen Bilder und Vorstellungen von Antike, wie dies auch der Kulturwissen5

6

7

Unter Benito Mussolini wurden zum Beispiel die Kaiserforen wie auch das Forum Romanum als traditionsstiftende ‚Kulisse‘ der neuerrichteten Via dei Fori Imperiali in Anspruch genommen. Vgl. u. a. Stephen L. Dyson: From Mazzini to Richard Meier. Archaeology and urban ideology in modern Rome, in: Koine 1 (2009), S. 216–223, hier S. 220–222; Peter Aicher: Mussolini’s Forum and the Myth of Augustan Rome, in: The Classical Bulletin 76 (2000), S. 117–139; Harald Bodenschatz (Hg.): Städtebau für Mussolini. Auf der Suche nach der neuen Stadt im faschistischen Italien, Berlin 2011 (Schriften des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin 4). Vgl. forum romanum (wie Anm. 2) sowie zum Forum Romanum als Erinnerungsort Tonio Hölscher: Das Forum Romanum, die monumentale Geschichte Roms, in: Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, hg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl Joachim Hölkeskamp, München 2006, S. 100–122, hier S. 108–110, 112–113. Siehe zum Forum Romanum als Campo Vaccino auch Marliese M. E. Hoff: Rom. Vom Forum Romanum zum Campo Vaccino. Studien zur Darstellung des Forum Romanum im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1987. Bislang existiert zur Forumsidee aus diachroner Perspektive nur ein Lexikonbeitrag von Stefan Schweizer: Forum, in: DNP 13 (2000), Sp. 1152–1162. Vgl. darüber hinaus zur ersten Forumsrezeption der Renaissance Wolfgang Lotz: Die Piazza Ducale von Vigevano – Ein fürstliches Forum des späten 15. Jahrhunderts, in: Kunsthistorische Forschungen. Otto Pächt zu seinem 70. Geburtstag, hg. von Artur Rosenauer und Gerold Weber, Salzburg 1972, S. 243–257 sowie zur Forumsidee zuletzt Brigitte Sölch: Zentrum oder Zentralisierung? Mailand und das Forum als Exemplum, in: Platz und Territorium: Urbane Struktur gestaltet politische Räume, hg. von Alessandro Nova und Cornelia Jöchner, Berlin u. a. 2010 (I Mandorli 11), S. 113–137, hier S. 114, Anm. 9–11 mit weiterführender Literatur und Brigitte Sölch: Transformationen des Platzes. Vigevano, das Forum und die (Un-)Beständigkeit der Stadt, in: Kanon Kunstgeschichte. Einführungen in Werke, Methoden und Epochen, Bd. 2: Neuzeit, hg. von Kristin Marek und Martin Schulz, Paderborn 2015, S. 171–192.

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Brigitte Sölch

schaftler Hartmut Böhme treffend umschreibt, wenn er konstatiert, dass das „‚Objekt‘ Antike in den Medien der Rezeption stets neu hervorgebracht, ja auch ‚erfunden‘ und dabei fortlaufend verändert und differenziert wird.“8 Die Dialektik zwischen Tradierung und dem Prozess fortlaufender Veränderung, Differenzierung und Neujustierung kennzeichnet genauso die Forumsidee. Deren systematische Erfassung und Historisierung ist noch immer ein Desiderat der Forschung, dem mit einer Entwicklungsgeschichte formal-typologischer Prägung allein kaum Rechnung zu tragen ist, da es auch struktureller Fragen bedarf. Was sind zum Beispiel die besonderen Potenziale der Forumsidee und die Problemlagen, in denen diese aktiviert und ausgestaltet wird? Auf welche Traditionsstränge wurde hierbei Bezug genommen, oder anders herum gefragt: Welche Konzepte des Forums konnten sich über größere Zeiträume hinweg behaupten? Viele dieser Fragen lassen sich erst aus einer diachronen Perspektive beantworten, die die Rezeption der Antike genauso berücksichtigt wie deren Nachleben, das auch dem antizyklischen und nicht-intentionalen ‚Auf‘- und ‚Abtauchen‘ von Bildern gerecht wird9 – wie es George Didi Huberman anhand von Aby Warburgs Nachdenken über den „Phantomcharakter“ von Bildern gezeigt hat.10 Dass das Konzept des Nachlebens auch für die Erfassung der Forumsidee relevant ist, wird der abschließende Ausblick auf Berlins neue historische Mitte zeigen, handelt es sich hierbei doch um ein Projekt, dessen städtebauliche Position von einer erstaunlichen und kaum thematisierten Dichte, ja geradezu Schichtung staatlich-kultureller Forumsprojekte geprägt ist. Diese erinnern noch an einen der zentralen Traditionsstränge, nämlich den politisch-administrativen, der Rezeption und Nachleben des Forums als öffentliche Bauaufgabe bis weit in das 18. Jahrhundert hinein prägte. Nur dieser Traditionsstrang wird im Folgenden berührt, wenn die Bedeutung der Forumsidee für das ‚Selbstverständnis‘ öffentlicher Rathäuser und Regierungsbauten in der Vormoderne diskutiert wird, und zwar am Beispiel der Kommunikation zwischen Innen und Außen, was in diesem Fall heißt: zwischen dargestellter und gebauter Platz-Architektur.11 Da-

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Zitiert nach Gernot Kamecke: Negativität und Transformation. Antike als Konzept bei Jean-Jacques Rousseau, in: Antike als Konzept. Lesarten in Kunst, Literatur und Politik, hg. von Gernot Kamecke, Berlin 2009, S. 11–26, hier S. 15. Die Ideengeschichte des Forums aus diachroner, architektur- und bildgeschichtlicher Perspektive ist Gegenstand meines Habilitationsprojektes am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Vgl. zum Nachleben der Antike Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010 sowie aus der vielfältigen Literatur zur Rezeption der Antike neben Antike als Konzept (wie Anm. 8) auch den ersten Band einer neuen Reihe zur Antikenrezeption: Antikenrezeption 2013 n.Chr., Bd. 1: Rezeption der Antike, hg. von Martin Lindner, Heidelberg 2013. Einzelne Aspekte dieses Beitrags wurden bereits bei der von Cornelia Jöchner und Annette Urban veranstalteten Tagung Gebaute Stadt / dargestellte Stadt an der Ruhr-

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rauf ist in aller Kürze einzugehen, bevor die Forumsidee als Beziehung zwischen Innen und Außen sowie das Bild des (Forums-)Platzes in neuzeitlichen Rathäusern im Zentrum der Betrachtung steht. 1 Kommunikation zwischen Innen und Außen Die Kommunikation zwischen Innen und Außen und die Idee der Fassade als Membran ist seit dem frühen 20. Jahrhundert vielfach thematisiert worden. Nicht wenige Regierungs- und Verwaltungsbauten sind davon beeinflusst und suchen dem Gedanken demokratischer und partizipatorischer Öffentlichkeit architektonisch Ausdruck zu verleihen; so auch die 2002 eröffnete City Hall in London von Foster and Partners.12 Traditionell gilt es die hohe Aufgabe der städtischen Selbstverwaltung herauszustellen, weshalb der Ratssaal als „Symbol aller vom Volk ausgehender Gewalt“, das Herz des Rathauses und symbolisch auch der Stadt, oftmals sichtbar nach außen gekehrt wird.13 Umgekehrt ist es aus zeitlich größerer Distanz interessant zu sehen, wie auch das Außen im Innen thematisiert werden konnte. Schon Ambrogio Lorenzettis berühmte Trecento-Fresken im Palazzo Pubblico in Siena repräsentierten die gebaute Stadt im Innenraum,14 die später selbst im Theater in Erscheinung tritt.15 Erinnert sei nur an das 1585 eröffnete Teatro Olimpico von Andrea Palladio in Vicenza (Abb. 2), dessen Innenraum von der Idee der öffentlichen Piazza ausgeht und den Blick durch die Öffnungen der scaenae frons, der architektonisch reich gegliederten Bühnenwand, auf von Palästen gesäumte Straßen und Gassen und damit in den Stadtraum hinein lenkt.16

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Universität Bochum (30.01.–01.02.2014) vorgestellt, deren anregenden Diskussionsbeiträgen hier zu danken ist. Vgl. dazu u. a. Kenneth Allinson: London’s Contemporary Architecture, Oxford 5 2009, S. 150–151 sowie allgemein das als Handbuch für Architekten aufgefasste Werk von Ben Rogers: Reinventing the Town Hall. A handbook, London 2004. Vgl. Martin Damus: Das Rathaus. Architektur- und Sozialgeschichte von der Gründerzeit zur Postmoderne, Berlin 1988, S. 13. Vgl. u. a Mariella Carlotti: Il bene di tutti. Gli affreschi del Buon governo di Ambrogio Lorenzetti nel Palazzo Pubblico di Siena, Florenz 2010; Adrienne Chambon: Perspectives, positions and public space in the fresco by Ambrogio Lorenzetti, in: Bullettino senese di storia patria 112 (2005/2006), S. 247–266. So brachte auch die Deutsche Oper in Berlin bei der Aufführung von La Gioconda im Jahr 2014 restaurierte Bühnenbilder aus der Zeit der Mailänder Uraufführung (1876) zum Einsatz, die Plätze und Paläste Venedigs zeigen. Vgl. dazu die Homepage der Deutschen Oper (letzter Zugriff 07.04.2015). Vgl. zur Platzidee des Teatro Olimpico Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München 2005, S. 151–152 sowie zum Teatro Olimpico allg.

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Was hat die Kommunikation zwischen Innen und Außen nun aber mit der vor-/modernen Forumsidee zu tun und inwiefern handelt es sich bei dieser um einen der zentralen Versuche, eine Beziehung zwischen der städtischen Öffentlichkeit und den Regierungsvertretern der Stadt herzustellen? Diese Überlegung berührt zugleich ein übergeordnetes Problem, nämlich die Frage, wie das Politische – im Sinn der politischen Haltung oder auch nur des Bewusstwerdens des Politischen17 – entstehen oder zumindest vergegenwärtigt werden kann und welche Rolle das Forum dabei spielt? Hannah Arendt nahm an, dass es das Politische nicht im Menschen gibt. Es entstehe vielmehr außerhalb, im Zwischen-denMenschen und etabliere sich als der Bezug. Dazu bedürfe es des öffentlichen Raumes, der Arendt zufolge erst dann politisch wird, wenn er wie die Polis architektonisch gefestigt und um einen Marktplatz, um die Agora herum gebaut ist, also folglich um einen Stadtraum, in dem das Zwischen-den-Menschen erst möglich werde.18 Arendt knüpfte ihr Nachdenken über das Politische an den Wert des gebauten Platzes, der symptomatisch für den „spatialen Charakter“ ihrer Öffentlichkeitsvorstellungen steht.19 Auch in der folgenden Betrachtung stehen der Stadtplatz und das „Zwischen“ im Zentrum, jedoch in einem leicht abgewandelten Sinn: Nicht der gebaute, sondern der dargestellte Platz wird Ausgangspunkt der Frage sein, inwieweit sich das frühneuzeitliche Forum selbst im oder besser als Gefüge zwischen Innen und Außen und dabei auch zwischen Bild und Architektur konstituieren konnte; das Forum, das auf die Antike alludiert und in dem der Mensch als Akteur und Zuschauer aktiv wird, das aber auch ein mögliches ‚Zwischen‘ erzeugt, in dem Politisches erfahrbar wird oder entstehen kann.

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Andreas Beyer: Andrea Palladio, Teatro Olimpico. Triumpharchitektur für eine humanistische Gesellschaft, Berlin 2009 (Wagenbachs Taschenbuch 625). Vgl. zur Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen auch die Beiträge in Das Politische und die Politik, hg. von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers, Berlin 2010 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1957). Vgl. Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München u. a. 32007 (Serie Piper 3770), S. 11, 37, 40–41, 46 sowie allgemein: Raum und Zeit. Denkformen des Politischen bei Hannah Arendt, hg. von Karlfriedrich Herb, Mareike Gebhardt und Kathrin Morgenstern, Frankfurt a. M. 2014. Vgl. zu Hannah Arendts Öffentlichkeits- und Gesellschaftsbegriff auch Hannes Bajohr: Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt, Berlin 2011.

Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee

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Abb. 2: Die scaenae frons des Teatro Olimpico von Andrea Palladio in Vicenza

2 Das frühneuzeitliche Forum als Beziehung zwischen Innen und Außen Die Forumsidee in ihrer historischen Tragweite und ihrem Gestaltungsreichtum zu erfassen bedeutet auch, über ihre formaltypologische Definition hinauszugehen, die freilich ihre Berechtigung und auch ihre antiken Wurzeln hat. Gemeint ist die modellhafte Vorstellung des Forums als eines queroblongen, durch Portiken eingefassten Platzraums unter freiem Himmel. Dieses Bild wurde von der Städtebauliteratur des späten 19. und 20. Jahrhunderts vertreten und schon von ihrem Begründer Camillo Sitte popularisiert. Sitte verglich das Forum mit Raumkonstellationen wie dem Theater, dem Festsaal und dem Wohnzimmer der Stadt, die bis heute als Sinnbilder der geschlossenen Platzanlage fungieren. Damit erklärte er das Forum zum Ideal einer bürgerlichen Öffentlichkeit und stellte jenes von Pompeji (Abb. 3) an den Beginn seiner typologischen und formalästhetischen Platz- und Raumanalysen.20 Wiederentdeckt werden musste der Fo20

Vgl. Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, Wien 31901, S. 1–12 sowie zu Sittes Metaphorik

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rumsgedanke um 1900 allerdings nicht, der zu Recht mit Stadträumen wie der venezianischen Piazza di San Marco in Verbindung gebracht wird.21 Er wurde über Jahrhunderte hinweg am Leben gehalten, und es waren vor allem die Vitruvkommentare, die das Forum zugleich in einen juridischen und politischadministrativen Bezugsrahmen stellten. Dies kann insofern nicht verwundern, als das Rathaus, die Basilika, der Kerker und das Schatzhaus seit Vitruv als die zentralen Bauaufgaben am Platz galten.22 Mag sich der Forumsgedanke im 20. Jahrhundert dann auch von den Funktionen städtischer Regierungs- und Verwaltungszentren gelöst haben, so hat er seine staatlich-repräsentative Symbolik keineswegs verloren.23 Lassen wir die nationalsozialistischen und faschistischen Forumsplanungen, die einer eigenen Betrachtung bedürfen,24 sowie die Shopping- und Einkaufszentren, die mit dem Forumsbegriff nur mehr jonglieren,25 beiseite und denken bloß an die großen Berliner Forumsplanungen der vergangenen Jahrzehnte: vom Kulturforum in der Nähe des Potsdamer Platzes über das geplante Bürgerforum vor dem Bundeskanzleramt bis zum jüngsten Projekt eines Humboldt-Forums.26 Diese Foren sind

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Sonja Hnilica: Metaphern für die Stadt. Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie, Bielefeld 2012 (Architekturen 15), insbes. S. 177–200 zur Stadt als Theater; Cornelia Jöchner: Das Innen des Außen. Der Platz als Raum-Entdeckung bei Camillo Sitte und Albert Erich Brinckmann, in: Platz und Territorium (wie Anm. 7), S. 45–62, hier S. 49–56 zum Platz als eingerichtetem Zimmer. Richard Borrmann: Die geschlossenen Platzanlagen im Altertum und in neuerer Zeit, Berlin 1912 (Städtebauliche Vorträge 5,8), begriff die Piazza San Marco als Ideal der geschlossenen Platzanlage, die über Konstantinopel vermittelt worden sei. Dass sich in der Piazza San Marco weniger die Dogen, als die Prokuratoren ein Forum schufen, wurde sodann herausgestellt von Thomas Hirthe: Il „Foro all’antica“ di Venezia. La trasformazione di Piazza San Marco nel Cinquecento, Venedig 1986 (Quaderni / Centro Tedesco di Studi Veneziani 35). Vgl. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur/Vitruvii De Architectura libri decem, hg., übers. und mit Anm. vers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, V,1–3 sowie im Überblick Hanno-Walter Kruft: L’idea della piazza rinascimentale secondo i trattati e le fonti visive, in: Annali di architettura, IV/V (1993), S. 215–229. Dass sich der Begriff aus seinen architektonischen Zusammenhängen löst, betont auch Stefan Schweizer in Forum (wie Anm. 7), Sp. 1160. Vgl. u. a. Christiane Wolf: Gauforen. Zentren der Macht. Zur nationalsozialistischen Architektur und Stadtplanung, Berlin 1999; Piero Ostilio Rossi: L’esposizione del 1942 e le Olimpiadi del 1944. L’E42 e il Foro Mussolini come porte urbane della Terza Roma, in: Monumentidiroma 2 (2004), S. 13–28; Giorgio Muratore: Die Kultstätte der faschistischen Jugend. Das Foro Mussolini; ein neues Forum für ein neues Rom, in: Kunst und Diktatur, Bd. 2, hg. von Jan Tabor, Baden 1994, S. 628–631. Das Spektrum reicht von Einkaufszentren großen Maßstabs wie dem 2005 vollendeten Forum Wetzlar in Mittelhessen bis zum 2012 eröffneten Forum Kayseri in Zentralanatolien. Vgl. zu den genannten Projekten aus der Sicht jüngerer Entwicklungen u. a. Gabi Dolff-Bonekämper: Das Berliner Kulturforum. Architektur als Medium politischer

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allesamt kulturell und im Fall des gescheiterten Bürgerforums zugleich ‚basisdemokratisch‘ orientiert. Sie haben mit den Internetforen27 die Vision öffentlicher Zugänglichkeit, Partizipation und Kommunikation gemein und betonen daher auch architektonisch die Beziehung zwischen Innen und Außen.

Abb. 3: Das Forum von Pompeji. Aus: Camillo Sitte: Städtebau, 31901 (s. Anm. 20)

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Konflikte, in: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, hg. von Hans-Rudolf Meier und Marion Wohlleben, Zürich 2000, S. 133–143; David Clay Large: Berlin. Biographie einer Stadt, München 2000, S. 577–578 zum gescheiterten Projekt des Bürgerforums; Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss. Planungen, Prozesse, Perspektiven, hg. von Hermann Parzinger, München 2013. Vgl. zum Internetforum, das dem Bild des Marktplatzes folgt, auch Klaus Plake, Daniel Jansen und Birgit Schuhmacher: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit im Internet. Politische Potenziale der Medienentwicklung, Wiesbaden 2001, S. 28–30 zur Struktur des Forums.

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Es scheint, als habe sich das einst als städtischer Außenraum definierte Forum an seinen Grenzen aufgelöst, um in die Innenräume zu ‚fließen‘ wie überhaupt zur Metapher des Öffentlichen und zum Paradigma für jedwede Form der Beziehung zwischen Innenraum und Außenraum zu werden. So konsequent scheint dieser Auflösungsprozess zumindest dann vollzogen zu sein, wenn wir von der besagten, formal-typologischen Definition des Forums ausgehen. Zu fragen jedoch bleibt, ob das frühneuzeitliche Forum tatsächlich ‚nur‘ als queroblonge und durch Portiken eingefasste Platzanlage verstanden wurde, oder anders herum formuliert: ob die den heutigen Foren zugesprochene Kommunikation zwischen Innen und Außen ausschließlich ein Phänomen der Moderne ist. Hier lohnt der Blick in die frühe Neuzeit, wenngleich die Idee des fließenden Raumes sich nicht restlos auf die Vormoderne übertragen lässt: Soziale, juridische und zeremonielle Raumbildungen dieser Zeit folgen anderen Gesetzen, deren architektonische Entsprechung nicht immer leicht zu rekonstruieren ist. Interessant jedoch ist, dass das vormoderne Forum nicht nur als Platz vor dem Palast oder als ein von Gebäuden eingefasster Platz verstanden wurde, der an den Fassaden seine einzige Begrenzung findet – wie es selbst die Planzeichnungen in Sittes Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) suggerieren.28 Das Forum konnte sich ebenso gut als ein Gefüge von Platz und Bauaufgabe und folglich von Architektur- und Handlungsräumen konstituieren, in denen die Verwaltung der Stadt verortet war, die sich bewusst in eine antike Tradition zu stellen suchte.29 Hiervon zeugen Traktate wie die kommentierte Vitruvübersetzung aus dem Jahr 1536 von Giovan Battista Caporali, der das Rathaus am Forumsplatz visualisiert und zugleich auf die Analogie von Forum und Rathaus zielt, wenn er das Kapitel wie folgt tituliert: „Della constitvtione del foro, cioè il palazzo della ragion“ („Von der Beschaffenheit des Forums, das heißt: des Rathauses“).30 Davon zeugen aber auch Renaissancebauten wie Palladios Basilika in Vicenza (Abb. 4).

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So stellt dies zum Beispiel auch Sitte in seinen Zeichnungen dar. Vgl. Das Innen des Außen (wie Anm. 20), S. 52–54 und Brigitte Sölch: Modell Modul Metapher. Die italienische Piazza als Nach-Bild der Stadt, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 55 (2013) 1, S. 95–117, hier S. 105–107. Siehe zum Bild des Forums als geschlossener Platzanlage auch Die Piazza Ducale von Vigevano (wie Anm. 7) sowie L’idea della piazza rinascimentale (wie Anm. 22). Vgl. auch Il „Foro all’antica“ di Venezia (wie Anm. 21) zur Deutung der venezianischen Piazza di San Marco als Forum nicht primär der Dogen, sondern der Prokuratoren. Giovanni Battista Caporali: Architettvra con il svo cōmento et figvre Vetrvvio in volgar lingva raportato per M. Gianbatista Caporali di Pervgia , Perugia 1536 (Fowler collection of early architectural books, reel 64, no. 400), IV,1, S. 105. Vgl. dazu auch Werner Oechslin: Der Portikus – architektonischer Typus für Öffentlichkeit, in: Daidalos 24 (1987), S. 44–49, hier S. 47.

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Abb. 4: Andrea Palladio, Palazzo della Ragione in Vicenza

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts überformte Palladio den mittelalterlichen Kernbau des Palazzo della Ragione mit einer zweigeschossigen Gliederarchitektur, die aus dem Theatermotiv entwickelt wurde. Als Vorbild stand ihm die antike Forumsbasilika vor Augen, die er als Ort des Rechts und des Gerichts begriff und kongenial neu zu interpretieren verstand. Sein moderner Forumsbau zeichnet sich durch eine Fassadenlösung aus, die sich ebenso gut ‚aufklappen‘ und um den Platz spannen ließe.31 Zwischen Fassaden- und Platzarchitektur oszillierend, 31

Vgl. Der Portikus (wie Anm. 30), S. 49 sowie zur Eigenlogik der Fassade und ihrer Raumhaltigkeit die eindrückliche Studie von Peter Stephan: Der vergessene Raum. Die dritte Dimension in der Fassadenarchitektur der frühen Neuzeit, Regensburg 2009 (Eikonika 1), S. 109–110 zu Palladios Basilika in Vicenza.

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entfaltet die neue Außenhaut des mittelalterlichen Baukörpers ihre Wirkung auf den Stadtraum, der vice versa Eingang in das Innere des Gebäudes findet. Schließlich war das Erdgeschoß der Basilika mit den quer durch den Bau verlaufenden „Ladenstraßen“ einst ohne Hindernisse vom Platz aus zugänglich. Die Idee des Außen im Innen und des Innen im Außen blieb dabei keineswegs auf das Erdgeschoß beschränkt. Sie durchzieht auch Palladios Nachdenken über die Forumsbasilika. So gibt er in seinen I Quattro Libri dell’Architettura (Die vier Bücher zur Architektur, 1570) zu verstehen, dass die Portiken ursprünglich die Innenräume der antiken Basiliken schmückten, heute aber nach außen, „über“ den Platz, gerückt seien. Umgekehrt spricht er über einen Innenraum wie über einen Außenraum, wenn er den großen Sitzungs- und Versammlungssaal im Obergeschoss des Palazzo della Ragione in Vicenza wie auch dessen Vorbild in Padua als „Piazza coperta“ beschreibt – als „überdachte Piazza“ also.32 Es sind somit nicht erst die modernen Foren, die zwischen Innen und Außen oszillieren oder eine solche Verbindung sichtbar herzustellen suchen. Wie gestaltet sich folglich die Beziehung zwischen Rathaus und Rathausplatz, wenn die Fassade oder auch einfach die Außenmauern der Architektur nicht nur als Grenze aufgefasst werden, sondern wenn die Baukunst im Sinne des Architekten und Architekturtheoretikers Fritz Schumacher als ein Raumgefüge begriffen wird, in dem verschiedenartige Räume zusammenwirken?33 Und wenn andererseits davon ausgegangen wird, dass in diesem Gefüge mehr oder weniger sichtbare Verbindungen, Grenzen und Schwellen ausgebildet werden, wenngleich deren Erfassung – vor allem aus gattungsübergreifender Perspektive – eine methodische Herausforderung bleibt? Dass der Mensch immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann, mit diesen Worten definierte schon Georg Simmel die Schwelle, die ein Autor wie Bernd Krämer in den 1970er Jahren dann auch detailliert aus der Sicht des Architekten reflektierte.34 Wie Architektur und Bild 32

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Vgl. zur antiken Basilika und zur Basilika in Vicenza Andrea Palladio: I quattro libri dell’architettura. Ne’ quali, dopò vn breue trattato de’ cinque ordini, & di quelli auertimenti, che sono piu necessarij nel fabricare; Si Stratta Delle Case Private, delle Vie, de i Ponti, delle Piazze, de i Xisti, et de’ Tempij [1570], Venedig 1616 (Fowler collection of early architectural books, reel 35, no. 215), III,19–20, zur „Piazza coperta“ S. 41; Andrea Palladio: Die vier Bücher zur Architektur [1570], aus dem Italienischen übertragen und hg. von Andreas Beyer und Ulrich Schütte, Zürich 1983, III,19– 20, zur überdachten Piazza S. 259. Vgl. dazu vor allem Wolfgang Kemp: Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009, der auf S. 141 betont, dass dieses Gefügemodell „nicht nur Ausgrenzung, sondern auch Einbeziehung berücksichtigen kann, […] in Raumverhältnissen denkt und sie auch als Artikulation von Verhaltensräumen liest.“ Vgl. Georg Simmel: Brücke und Tür, in: Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 1–7, hier S. 6; Bernd Krämer: Der Raumbegriff in der Architektur. Eine Analyse räumlicher Begrifflichkeit und deren Veranschaulichung am Beispiel des Weges und der Schwelle, Hannover 1983 (TAP-Texte 17), S. 203–266 zur Schwelle.

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räumlich zusammenwirken und ein eigenes ‚Zwischen‘ erzeugen können, wird in beiden Fällen nicht thematisiert.35 Dennoch ist Krämers Definition für uns relevant, weil er die (architektonische) Schwelle als ein herausragendes Ereignis im „weg-raum“ begreift; sie veranschauliche „eine gestalterische Situation zwischen zwei räumlichen Zuständen: dem ‚drinnen‘ und dem ‚draußen‘, gleich, wo man sich jeweils befindet.“36 Auf dieses „gleich, wo man sich jeweils befindet“ kommt es im Folgenden an. 3 Das Bild des (Forums-)Platzes in frühneuzeitlichen Rathäusern Es mag so trivial wie selbstverständlich erscheinen und ist doch ein besonderes Phänomen, wenn die Bildausstattung mancher Rathäuser ausgerechnet auf den Platz alludiert, der vor dem Gebäude liegt. Anzunehmen ist, dass die Bezugnahme der dargestellten auf die gebaute Stadt von Bedeutung für deren Wahrnehmung sowie die Wahrnehmung ihrer Verfasstheit ist37 – und aufgrund der öffentlich-administrativen Funktion der Bauten nochmals anders zu befragen ist als vergleichbare Phänomene wie die eindrückliche Anspielung der 1483 bis 1485 entstandenen Fresken von Domenico Ghirlandaio in der Sassetti-Kapelle der Florentiner Kirche Santa Trinita auf die Piazza Santa Trinita sowie der dazugehörigen Lünette auf die Piazza della Signoria.38 Welche Rathäuser ein derart 35

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Vgl. zum Zusammenwirken von Architektur und Skulptur auch Brigitte Sölch: Architektur bewegt. Pugets Rathausportal in Toulon oder Schwellenräume als „sympathetische“ Interaktionsräume, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 56 (2014) 1, S. 70–93, sowie aus der Sicht der Mediävistik die eindrückliche Studie von Tina Bawden: Die Schwelle im Mittelalter. Bildmotiv und Bildort, Köln/Weimar/Wien 2014 (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 4), die auf S. 21–23 auch von der „Topographie des Zwischen“ spricht. Vgl. Der Raumbegriff in der Architektur (wie Anm. 34), S. 20. Vgl. zur Bedeutung von Plätzen – den gebauten, nicht den bildlich dargestellten – für die Wahrnehmung der Stadt und ihrer Verfasstheit Katrin Bek: Achse und Monument. Zur Semantik von Sicht- und Blickbeziehungen in fürstlichen Platzkonzeptionen der Frühen Neuzeit, Weimar 2005 (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 8), S. 86–87, sowie allgemein zu frühneuzeitlichen Rathausausstattungen Thomas Fröschl: Selbstdarstellung und Staatssymbolik in den europäischen Republiken der frühen Neuzeit an Beispielen der Architektur und bildenden Kunst, in: Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von Helmut Koenigsberger, München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs 11), S. 239–271; Susan Tipton: Res publica bene ordinata. Regentenspiegel und Bilder vom guten Regiment. Rathausdekorationen in der frühen Neuzeit, Hildesheim u. a.1996 (Studien zur Kunstgeschichte 104). Vgl. Andreas Tönnesmann: Idealstadt und Öffentlichkeit. Raumbild und Gesellschaft in Renaissance und Moderne, in: Stadtgestalt und Öffentlichkeit. Die Entstehung poli-

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direkt vorgetragenes Zitat des Platzes vor dem Palast beherbergten, wäre erst noch zu eruieren.39 Drei der bedeutendsten Neubauten des 16. und 17. Jahrhunderts, nämlich die Rathäuser von Augsburg, Rom und Amsterdam, gehören auf jeden Fall dazu, und dies in einer besonderen und bislang nicht eigens beachteten Konstellation: In allen drei Fällen treffen wir dieses Beziehungsgefüge in Verbindung mit der Repräsentation des Forums an, das für frühneuzeitliche Architektur- und Handlungsräume demnach von außerordentlicher Bedeutung gewesen sein muss. Für die genauere Betrachtung dieses Phänomens lohnt es zwei mögliche Kategorien eines ‚Zwischen‘ mit den auf den Weg zu nehmen, die für die Frage nach der Kommunikation zwischen Innen und Außen relevant sind, weil es sich bei Rathäusern um öffentlich zugängliche Bauten handelt, die Nähe und Distanz bis hin zum Arkanum sorgfältig orchestrieren.40 Eine Kategorie ist der Betrachter in Bewegung, der die Beziehung zwischen der dargestellten und der gebauten Stadt herzustellen vermag – zumal Architektur grundsätzlich nicht im Ganzen überschaubar ist und ihre Wahrnehmung stets von der Erinnerung an das Gesehene lebt.41 Die andere Kategorie sind Handlungsräume, in denen ‚Amtskörper‘ wie Richter und Beamte vor dargestellten Städten und Plätzen agieren, die auf

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tischer Räume in der Stadt der Vormoderne , hg. von Stephan Albrecht, Köln 2010 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 24), S. 311– 331, hier S. 311–314. Man denke über den Palazzo Pubblico in Siena hinaus nur an den Dogenpalastes in Venedig, dessen Sala del Maggior Consiglio unter anderem die Piazzetta di San Marco in Francesco Bassanos Ölbild Papst Alexander III. übergibt dem Dogen Sebastiano Ziani das heilige Schwert, 1585–1586, zeigt. Interessant ist darüber hinaus das Danziger Rathaus, dessen Ausstattung vor der Zerstörung des Baus im Zweiten Weltkrieg teilweise gerettet werden konnte. Zu erwähnen wäre hier vor allem Hans Vredeman de Vries’ Allegorie der Gerechtigkeit, 1594/1595, die den Blick durch eine offene Gerichtslaube auf einen Rathausplatz – wenn auch nicht konkret jenen von Danzig – richtet. Vgl. Res publica bene ordinata (wie Anm. 37), Abb. 87 und S. 239–292 zur urspr. Ausstattung des Danziger Rathauses. Vgl. zu Führern und Führungen durch frühneuzeitliche Rathäuser auch Res publica bene ordinata (wie Anm. 37), S. 74–82 sowie zur Orchestrierung des Öffentlichen Julian Jachmann: Die Kunst des Augsburger Rates 1588–1631. Kommunale Räume als Medium von Herrschaft und Erinnerung, München u. a. 2008 (Kunstwissenschaftliche Studien 147), S. 9, 24, 156–159. Siehe zuletzt auch aus historischer Perspektive Martin Scheutz: Die Multifunktionaliät der Rathäuser in langer Perspektive. Versuch eines Überblicks, in: Rathäuser als multifunktionale Räume der Repräsentation, der Parteiungen und des Geheimnisses, hg. von Susanne Pils u. a., Innsbruck 2012 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 55), S. 19–66. Vgl. zur Erinnerung an das Wahrgenommene auch Ulrich Schütte: Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Die Grenze. Begriff und Inszenierung, hg. von Markus Bauer und Thomas Rahn, Berlin 1997, S. 159–176, hier S. 169.

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die gebaute Stadt verweisen; die Gesetzesvertreter können hierbei einen Sitz einnehmen, der auch während ihrer Abwesenheit erfahrbar bleibt. Diese Zusammenhänge sind auch deshalb von Gewicht, weil das frühneuzeitliche Forum als Platz, aber auch als Regierungs- und Verwaltungssitz am Platz verstanden wurde, in dem, wie Cesarianos Vitruvkommentar zeigt, Senatoren, Richter und Beamte ihre Aufgaben wie in der Antike für den populo erfüllten.42 Dass und wie die Forumsidee dabei Gestalt gewann, wird vom Augsburger Rathaus ausgehend nicht in chronologischer, sondern in argumentativer Sequenz zu zeigen sein, die peu à peu näher an den Handlungsraum der Gesetzesvertreter führt. 3.1 Augsburg: Hierarchisierung des Raumes Die Bildserie von Johann König, um die es im Folgenden geht, steht in engem Bezug zum architektonischen Aufbau des neuen Augsburger Rathauses (Abb. 5), das von 1615 bis 1620 errichtet wurde. Für dessen Neubau zeichnete Elias Holl verantwortlich, der einen kubischen und im Inneren spiegelsymmetrisch aufgefächerten Monumentalbau entwarf. Die Mittelachse des Baukörpers bilden drei exakt übereinander liegende Saalräume, die die gesamte Tiefe des Baus durchmessen und weitere Nebenräume erschließen. Sie fungieren wie überdachte Plätze und bieten durch die großen Fensterflächen Blickhoheit, soweit das Auge reicht: auf das städtische Zentrum im Westen, auf die Unterstadt und das Umland im Osten. Dabei war die Untere Fletz, die dreischiffige und mit antiken Kaiserbüsten dekorierte Pfeilerhalle im Erdgeschoß, weitgehend für den Publikumsverkehr geöffnet.43 Sie ist daher bis zu einem gewissen Grad mit den offenen Erdgeschosshallen mittelalterlicher Rathäuser vergleichbar und nimmt den Charakter eines von Wachen kontrollierten Annex des Rathausplatzes an, der sich freilich anders als die Durchdringung von Stadtraum und Geschäftsstraße in Palladios Basilika in Vicenza, aber dennoch bis in das Innere des Gebäudes erstreckt.

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Vgl. Cesare Cesariano: Vitruvius/De architectura [Como 1521], Nachdruck der kommentierten ersten italienischen Ausgabe, hg. von Carol Herselle Krinsky, München 1969 (Bilddokumente, Quellenschriften und ausgewählte Texte zur europäischen Kunstgeschichte), V, LXXIIv.–V, LXXIIIr (zum Forum); Il „Foro all’antica“ di Venezia (wie Anm. 21), S. 28–30. Vgl. zum (Entwurfs-)Komplex des Rathaus mit weiterführender Literatur zuletzt Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 90–101.

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Abb. 5: Querschnitt des Augsburger Rathauses

Die Untere Fletz ist die entscheidende Vermittlungsinstanz zwischen Innen und Außen, doch besitzt auch die korinthische Säulenhalle im ersten Obergeschoß noch einen hohen Grad an Öffentlichkeit; zumindest bis zu den Türen des Rates und der Behörden, die hier ihren Sitz hatten: von der Ratsstube über die Gerichtsstube und das Steueramt bis hin zum Pflegeamt, auf deren Zuständigkeitsbereiche die vier großformatigen Leinwandbilder in der Säulenhalle allegorisch Bezug nehmen. Den repräsentativen Höhepunkt des gesamten Baus aber bildet der stützenlose Goldene Saal im zweiten Obergeschoss, von dem aus die so genannten Fürstenzimmer erschlossen werden.44 Sie sind hier von Interesse.

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Vgl. Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 101–113 sowie zu den Leinwandbildern in der Oberen Fletz und der Ausstattung insgesamt Res publica bene ordinata (wie Anm. 37), S. 201–218; Sergiusz Michalski: Das Ausstattungsprogramm des Augsburger Rathauses, in: Elias Holl und das Augsburger Rathaus, hg. von Wolfram Baer u. a., Regensburg 1985, S. 77–90.

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Abb. 6: Das südwestliche Fürstenzimmer des Augsburger Rathauses

Dass und wie der Außenraum im Innenraum des Augsburger Rathauses fortgesetzt und Öffentlichkeit abgestuft wird, hat Julian Jachmann bereits eindrücklich in seiner Studie zur Kunst des Augsburger Rates 1566–1631 herausgestellt.45 Daran anknüpfend soll nun auf einen weniger beleuchteten Zusammenhang des südwestlichen Fürstenzimmers fokussiert werden (Abb. 6), das als Eckraum vom Goldenen Saal aus zugänglich ist und sich mit den beiden Fensterseiten zum ehemaligen Perlach- und heutigen Rathausplatz im Westen sowie in Richtung der Maximilianstraße öffnet;46 sie war als ehemalige Reichsstraße die zeremonielle und merkantile Hauptschlagader der Stadt, durch die der Fernverkehr von Süden kommend gelenkt wurde. Und so gab es wie andernorts auch Besucher, die das Rathaus – möglicherweise mit dem 1657 gedruckten Rathausführer von Matthäus Sendel in den Händen – auf ihren Reisen aufsuchten und beim süd45

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Vgl. Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 90–113, 123–131, 156–168 sowie zum Verhältnis zwischen Innen und Außen aus einer anderen Perspektive Astrid Lang: Die Baumaßnahmen am Kölner Rathaus 1597–1617. Tür, Portal und Tor als Grenzorte und Kommunikationsräume, in: In situ 5 (2013) 2, S. 175–198. Die Maximilianstraße beziehungsweise ehemalige Reichsstraße wird im nordwestlichen Fürstenzimmer ins Bild gesetzt. So etwa in der Serie, die den Einzug Karls V. auf dem Weinmarkt 1548 zeigt. Vgl. Res publica bene ordinata (wie Anm. 37), S. 212.

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westlichen Fürstenzimmer nicht vor geschlossenen Türen gestanden haben dürften.47 Schließlich war dem Raum über seine zeremonielle Nutzungen hinaus keine permanente Funktion zugewiesen. Von Interesse für uns ist seine Ausstattung mit einer seltenen Bildserie, die oberhalb der Holzverkleidung angebracht und auf die Fensterseiten ausgerichtet ist. Die Serie zeigt in drei Leinwandgemälden die wichtigsten aristotelischen Staatsformen, wie sie in Anspielung auf Rom, Venedig und die katholische Kirche schon in den Deckengemälden der Villa Cataio bei Padua zur Verherrlichung der Familie Obizzi von Giambattista Zelotti in anderer Form dargestellt wurden,48 nämlich die Allegorie der Monarchie an der Nordwand sowie die Allegorie der Demokratie und die Allegorie der Aristokratie an der Ostwand. Ausgeführt wurde der Zyklus um 1622/1624 von dem Nürnberger Maler Johann König, der selbst in Venedig und Rom war.49 Aufschlussreich für unsere Fragestellung ist zunächst die Allegorie der Demokratie (Abb. 7), deren Devise „Die Herrschaft vieler ist eine schlechte Sache“ („RES MALA / MVLTOR. IMPERIVM“) kaum Zweifel an der tradierten Lesart des Sujets aufkommen lässt.50 Die gespannte Aufmerksamkeit richtet sich innerhalb des Bildes auf einen Redner, der inmitten einer gepflasterten Platzanlage auf einem altarähnlichen Podest steht und zur Volksversammlung spricht, was in diesem Fall heißt: zu den (wahlberechtigten) männlichen Bürgern. Noch bevor er seine Rede zum Abschluss bringen kann, die er offensichtlich ablesen muss, haben die großteils mit Schwertern auftretenden Bürger ihre Hand bereits zum Schwur erhoben. Die Unbesonnenheit ihres Handelns wird zur zentralen Bildaussage und Demokratiekritik.51 Bei genauerer Betrachtung sticht ferner die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ins Auge. Zwischen dem reliefierten Säulenmonument links und der Portikus toskanischer Ordnung rechts im Bildvordergrund tritt die Volksversammlung in antikischen wie zeitgenössischen Kostümen in Erscheinung. Auch die erwähnten Monumente sind antiken Stils und 47

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Vgl. zu Matthäuse Sendels Curia Augustanae Reipublicae (1657) auch Res publica bene ordinata (wie Anm. 37), S. 75f. Vgl. Irma B. Jaffe: Zelotti’s epic frescoes at Cataio. The Obizzi saga, New York 2008, S. 45–50. Die Deckengemälde aus den 1570er Jahren zeigen die drei Regierungsformen als thronende Personifikationen, die von Allegorien flankiert werden. Eine Einbindung der Regierungsformen in einen szenischen und architektonischen Rahmen wie im Augsburger Rathaus findet sich hier allerdings nicht. Peter Strieder: Zur Vita des Johann König, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1966, S. 88–90. Vgl. zu den bildlichen Interpretationen der Demokratie, die lange als eine „abartige“ Regierungsform galt, allg. auch Martin Warnke: Demokratie, in: Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1, München 2011, S. 226–234, Johann Königs Wandbild S. 228–229. Vgl. auch Dietrich Erben: Die Kunst des Barock, München 2008 (Geschichte der Kunst 8), S. 68–69; Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 127–128, 193–194 sowie S. 64–65 zum Augsburger Rathausplatz und dem tatsächlichen Akt des Schwurs.

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stehen damit in Kontrast zu den giebelständigen Gebäuden im Bildhintergrund, die einen zweiten, zurückversetzten Platz säumen und Erinnerungen an die Silhouette des Augsburger Rathausplatzes wecken; zumal sie wie dieser von einem Turm dominiert werden.52 Der von Holl errichtete Monumentalbau der Augsburger Stadtregierung säumt mit dem benachbarten Perlachturm ebenfalls einen kleinen zurückversetzten Platz, den so genannten Fischmarkt, der wie der Perlachplatz zeitweilig Richt- und Schandplatz war und im Winterbild der berühmten, unter anderem von Jörg Breu d. Ä. geschaffenen Augsburger Monatsbilder aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ‚porträtiert‘ ist.53

Abb. 7: Johann König, Allegorie der Demokratie, 1622/24 52

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Vgl. dazu auch das Ölgemälde des Augsburger Perlachplatzes, noch mit dem alten Rathaus, von Elias Schemel aus dem Jahr 1599, in: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock, hg. von Städtische Kunstsammlungen Augsburg, Bd. 1, Augsburg 1980, Kat. Nr. 275. Vgl. zum Perlachplatz sowie zum Fischmarkt als Richt- und Schandplatz Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 39–40, 147–151. Siehe zum Augsburger Monatszyklus auch Hienrich Dormeier: Kurzweil und Selbstdarstellung. Die „Wirklichkeit“ der Augsburger Monatsbilder, in: „Kurzweil viel ohn’ Maß und Ziel.“ Augsburger Patrizier und ihre Feste zwischen Mittelalter und Neuzeit, hg. von Pia Maria Grüber, München 1994, S. 148–221, hier S. 184–196.

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Es scheint, als setze Johann König auf das rhetorische Stilmittel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen,54 um das moderne Zentrum der Stadt mit der antiken Forumsidee zu verweben, oder anders herum ausgedrückt: um das Forum in einer freien Reichsstadt zu situieren, die nicht nur stolz auf ihre antik-römische Vergangenheit war, sondern vor der Folie der Antiken- und Italienrezeption auch ihren primär dem Kaiser verpflichteten Status zur Schau stellen konnte. Es sollte daher nicht übersehen werden, dass jene Position, die in Königs Demokratie den Ort der freien Rede und das Zentrum des Rathausplatzes bildet, dem symbolischen Mittelpunkt des gebauten Rathausplatzes entspricht. Dort stand seit 1594 der berühmte Brunnen mit der Bronzestatue des geharnischten Stadtgründers Augustus, der im Gestus der adlocutio gezeigt ist und zum Rathaus blickt.55 Dieses Standbild wird von Johann König spiegelbildlich zitiert und zwar in der antikisch geharnischten Figur, die unmittelbar vor dem Sockel der Trajanssäule neben dem bärtigen Philosophen steht und ihre linke Hand gerade nicht im Zeichen der Abstimmung nach oben, sondern wie zum einhaltenden Gruß nach vorn gestreckt hält. Der Geharnischte wendet sich damit in Richtung des Betrachters, der auf eine kongeniale Neuinterpretation des Forums blickt, das nun nicht allein als Platz, sondern als Gefüge von Platz und Bauaufgabe gezeigt ist und damit die Differenz zwischen Außenraum und Innenraum thematisiert. Nicht umsonst bildet das Demokratie-Bild den Auftakt für die Orchestrierung und Hierarchisierung des architektonischen Raumes innerhalb der Bildserie. Doch dazu später. Kompositorisch setzt die Demokratie zunächst die römische Antike, verkörpert durch die Monumente im Bildvordergrund. Ruft die Trajanssäule das Bild des Forum Trajanum wach, so erinnert die Portikus an die Öffentlichkeitsarchitektur der antiken Stadtplätze und die ‚Rednertribüne‘ an den republikanischen Ursprung des Forum Romanum, das – man denke nur an Cicero – als Ort der öffentlichen Rede überliefert ist.56 Künstlerisch schöpft König folglich aus einem ganzen Repertoire an Möglichkeiten, um den Platz in ein wahrhaftiges Forum zu 54

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Vgl. unter den Beiträgen zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit Bezug auf die Kunst der Frühen Neuzeit Andrea-Martina Reichel: Die Kleider der Passion. Für eine Ikonographie des Kostüms, 1998, letzter Zugriff 12.04.2015; Philipp Zitzlsperger: Kleiderbilder und die Gegenwart der Geschichte. Gattungsübergreifende Überlegungen zum Verhältnis von Personaldenkmal, Historienbild und der Kleidung in der Kunst, in: Kleider machen Bilder. Vormoderne Strategien vestimentärer Bildsprache, hg. von David Ganz und Marius Rimmele, Emsdetten u. a. 2012 (Textile Studies 4), S. 117–138. Vgl. zur Statue des Augustus Dorothea Diemer: Der Augustusbrunnen. Seine Bedeutung, sein Bildhauer Hubert Gerhard und seine künstlerische Entstehung, in: Der Augustusbrunnen in Augsburg, bearb. von Michael Kühlenthal, München 2003, S. 51– 90. Vgl. zu Ciceros Forumsbezug z. B. Franz-Hubert Robling: Redner und Rhetorik: Studie zur Begriffs-und Ideengeschichte des Rednerideals, Hamburg 2007 (Archiv für Begriffsgeschichte 5), S. 116–118.

Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee

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transformieren. Bemerkenswert ist daher, dass und wie sich der hell strahlende Monumentalbau im Bildhintergrund in diese Semantik einfügt. Wie der Zwerg, der gemäß der traditionsbewussten Fortschrittsrhetorik auf den Schultern des Riesen ruht,57 tritt er den antiken Monumenten als moderner Forumsbau gegenüber, der sich durch architravierte Säulen zwischen den hochrechteckigen Fenstern auszeichnet und damit dem Motiv der Kolonnade verpflichtet bleibt. Zu seiner giebelständigen Umgebung will der Bau nicht so recht passen. Spielt er nicht gerade deshalb auf das Augsburger Rathaus an – weniger stilistisch, als in seiner kubischen Form, monumentalen Größe und herausgehobenen Position? So wenige Rathausarchitekturen es dieser Art im frühen 17. Jahrhundert nördlich der Alpen gab, so einzigartig präsentiert sich der Monumentalbau auch in Königs Bild. Es scheint, als nutze der Maler die Rathausallusion, um diesen beherrschenden Bau am Platz wie eine antike Basilika am Forum zu situieren, und damit ein hybrides Bild zwischen Antike und Gegenwart zu schaffen. Was spricht jedoch für die Deutung dieser Monumentalarchitektur als Forumsbasilika? Entscheidend hierfür ist die bereits erwähnte Tatsache, dass die Basilika in frühneuzeitlichen Architekturtraktaten und Vitruvkommentaren vielfach in Relation zum Rathaus gesehen wurde. So schreibt Palladio zum Beispiel: „Auf dem Teil des [Forums-]Platzes, der der wärmsten Region des Himmels zugewandt ist, errichte man die Basilika, das heißt den Ort, wo Recht gesprochen wird und wo eine große Menge Volk und Händler einander treffen können.58 In Erinnerung zu rufen ist darüber hinaus, dass schon Cesariano die antike Basilika in seinem Vitruvkommentar 1521 nicht mehr nur schriftlich, sondern erstmals auch bildlich interpretiert hatte (Abb. 8) und zwar als kubischen Baukörper mit Dachkreuz. Seine Rekonstruktion fand der internationalen Rezeption des Traktats entsprechend große Verbreitung und es ist längst kontrovers diskutiert, ob und inwiefern die Dachkreuzlösung Elias Holls Rathausprojekt inspiriert haben mochte.59 Doch damit nicht genug: Cesariano situiert selbst Vitruvs eigenen Basilikabau auf dem römischen Forum statt in Fano, wo sie eigentlich errichtet wurde. Grund hierfür war schlicht ein Übersetzungsfehler.60 Cesariano ist es auf jeden Fall gelungen, erstmals „einen unmittelbaren Bezug zwischen den

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Die Metapher vom Zwerg, der auf den Schultern des Riesen ruht, geht bis auf Bernhard von Chartres um 1120 zurück. Vgl. dazu u. a. Albert Zimmermann: „Antiqui“ und „Moderni“. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, Berlin 1974 (Miscellanea mediaevalia 9). Vgl. Die vier Bücher zur Architektur [1570] (wie Anm. 32), III,16. Vgl. zu dieser Diskussion Erik Forssman: Architekturtheorie im Zeitalter Elias Holls, in: Elias Holl und das Augsburger Rathaus (wie Anm. 44), S. 7–20, hier S. 19 sowie zuletzt Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 96 und Anm. 589. Vgl. Architekturtheorie im Zeitalter Elias Holls (wie Anm. 59), S. 19.

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Bauaufgaben der Antike (Basilika) und denen der Gegenwart (Palazzo Communale)“ herzustellen.61

Abb. 8: Rekonstruktion von Vitruvs Basilika von Fano. Aus: Cesare Cesariano, Vitruvius/De architectura, 1521 61

Vgl. Monika Melters: Die Kolossalordnung. Zum Palastbau in Italien und Frankreich zwischen 1420 und 1670, Berlin 2008 (Kunstwissenschaftliche Studien 148), S. 83.

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Der Bezugsrahmen für den monochromen Baukörper in der Allegorie der Demokratie lässt sich jedoch kaum überzeugend abstecken, ohne nicht auch die frühneuzeitliche Architektur zu beachten. An Palladios Palazzo della Ragione in Vicenza kommt der vergleichende Blick kaum vorbei (vgl. Abb. 4), zumal auch dieser Bau eine moderne Interpretation der antiken Forumsbasilika für ein Rathaus bietet und darüber hinaus von einem Campanile bekrönt wird.62 Es sind erneut strukturelle Eigenschaften, die der Monumentalbau in der Allegorie der Demokratie mit Palladios Basilika gemein hat: die weitgehende Freistellung des Baukörpers und dessen Monochromie, die zweigeschossige Säulengliederung und den zurückgestuften Dachaufbau. Dieses gestalterische Konzept findet kaum eine Entsprechung in der Architektur des 16. und 17. Jahrhunderts – was insofern nicht verwunderlich ist, als der Bau, wie schon erwähnt, selbst wie eine Synthese aus Antike und Gegenwart anmutet. Und so gelingt dem Maler eine geschickte Verschränkung des römischen Forums mit dem lokalen Stadtplatz, der antiken Forumsbasilika mit dem modernen Rathaus, wobei er den Platz zugleich zum Sinnbild einer prekären politischen Öffentlichkeit macht. Die geregelte Administration der Stadt findet hier scheinbar keinen angemessenen Rahmen. Sie haben wir uns andernorts vorzustellen, nämlich im zentralen Sitz der Stadtregierung, was in diesem Fall heißt: in der Rathaus-Basilika, dem soeben besprochenen Prachtbau antiken beziehungsweise italienischen Stils, der den Platz dominiert, ihn aber auch benötigt, um als Öffentlichkeitsarchitektur ausgezeichnet zu sein und mit der städtischen Öffentlichkeit zu interagieren. Architektur im Bild kann somit über die Verweisfunktion des Einzelmonuments hinaus an einer Ikonologie des Raumes mitwirken und ganze Schau- und Handlungsräume semantisieren: als ein Forum all’antica zum Beispiel, wie der Vergleich mit frühneuzeitlichen Bild- und Textquellen deutlich macht, die Rathaus und Basilika nicht nur als zentrale Regierungs- und Verwaltungsinstanzen, sondern auch als öffentliche Bauaufgaben am und in Beziehung zum Platz interpretieren. Dass bedachtes Regieren dort nicht möglich ist, steht als zentrale Bildaussage von Königs Allegorie der Demokratie konträr zu allen heutigen demokratischen und partizipativen Vorstellungen des Forums. Zu fragen bleibt daher, wie die drei Regierungsformen innerhalb der Bildserie räumlich orchestriert und hierarchisiert werden. Das ist auch deshalb von Belang, weil sie nicht nur der politischen Ideengeschichte entstammen, sondern auch dem Selbstverständnis der Regierung der freien Reichsstadt entsprechen, die der Aristokratie (in Sinne

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Vgl. zu Palladios Interpretation des Palazzo della Ragione als Basilica Die vier Bücher zur Architektur [1570] (wie Anm. 32), III,20. Siehe dazu auch allg. Sabine Weyrauch: Die Basilika des Vitruv. Studien zu illustrierten Vitruvausgaben seit der Renaissance mit besonderer Berücksichtigung der Rekonstruktion der Basilika von Fano,Tübingen 1976.

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der Oligarchie) den Vorzug gab, aufgrund ihrer Nähe zum Kaiser aber auch die Monarchie neutral bewertete.63

Abb. 9: Johann König, Allegorie der Monarchie, 1622/24

Ob der Betrachter sich selbst in jenem Bau verortet, der den Platz im Demokratie-Bild beherrscht, sei dahingestellt. Dass Schwellen und Abstufungen die Bildarchitektur insgesamt prägen, dürfte ihm jedoch nicht entgangen sein. Im höherrangigen Bild der Monarchie, die durch die zugehörige Devise mit den Worten „Ein einziger sei König“ („REX VNICVS / ESTO“) charakterisiert wird, hat eine auserwählte Gruppe reich gekleideter Figuren den Stadtraum längst verlassen (Abb. 9). Ort der zeremoniellen Handlung ist ein bewachter Innenraum, der durch einen offenen Torbogen erschlossen wird und ebenerdig liegt. Gezeigt ist die Audienz des Kaisers, vermutlich Ferdinands II, der verschiedene Machthaber in prachtvollen Kostümen – vom Dogen von Venedig bis zum türkischen Sultan – empfängt. So wie die Demokratie am Platz und die Monarchie im Erdgeschoß eines Gebäudes lokalisiert ist, geht mit der Annäherung an die ideale Regierungsform ein sukzessives Eindringen in das Innere der Architektur einher. Die für den Augsburger Rat vorbildliche Allegorie der Aristokratie oder auch Oligarchie (Abb. 10) lässt den Blick daher nur mehr unter dem Motto „Weder einer, noch alle“ („NEC VNVS / NEC OMNES“) durch die bewachte Öffnung eines Saals, der mit Halbsäulen und Nischen reich dekoriert und nun auch mit der 63

Vgl. zur Bewertung der drei Regierungsformen auch Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 193–197.

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Figur der Justitia ausgestattet ist, in das Innerste des Rathauses zu, das zugleich von größter Distanz zum Öffentlichen geprägt ist: in einen holzvertäfelten, mit Wandteppichen sowie einer gemalten Flusslandschaft ausgekleideten Raum. An der dortigen Stirnwand haben die Regierungsvertreter ihren Platz eingenommen, um zu diskutieren und sorgsam zu argumentieren, wie ihre Gesten deutlich machen.64

Abb. 10: Johann König, Allegorie der Aristokratie, 1622/24

Das Besondere an der Bildserie ist, dass sich die Hierarchisierung der drei Regierungsformen auch auf der Ebene der Bildarchitektur manifestiert und dass deren Betrachtung zugleich als körperliche (Seh-)Erfahrung begriffen werden kann. Denn das sukzessive Öffnen neuer Schau- und Handlungsräume65 korreliert mit der Wahrnehmung des Augsburger Rathauses. Besucher, die vor dem Bildzyklus 64

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Vgl. zur Ikonographie der Monarchie und der Aristokratie/Oligarchie auch Die Kunst des Augsburger Rates (wie Anm. 40), S. 193–195. Vgl. zu Schau- und Handlungsräumen v.a. die fruchtbare Anwendung der Begriffe für die Bildanalyse gemalter Räume durch Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996.

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im südwestlichen Fürstenzimmer stehen, haben selbst, um zu den Bildern zu gelangen, eine aufsteigende Raumsequenz vom Platz über die Treppenhäuser und Saalräume bis zum Fürstenzimmer durchschritten. Von dort aus können sie ihren Blick sowohl auf die Bilderserie als auch zurück auf den gebauten Rathausplatz richten – auf einen Stadtraum also, dem in der Demokratie kein politisches Vertrauen zugesprochen wird. Interessanterweise zeigt die Bildserie die hierarchische Sequenz von Räumen und Regierungsformen in einem Fürstenzimmer, das selbst keine dieser Funktionen permanent innehatte66 – im Gegensatz zu den beiden Rathäusern von Rom und Amsterdam, deren in ihrer Bildstrategie vergleichbare Ausstattung in Räumen zu finden ist, die tatsächliche Gerichtsfunktionen übernahmen und den Rechtsbeamten feste Plätze zuwiesen. 3.2

Rom: Simultaneität als argumentative Struktur

Im römischen Konservatorenpalast, dessen neue Fassade Giacomo della Porta 1563 bis 1575 nach den Plänen Michelangelos errichtete, ist die Sala dei Capitani für uns von besonderem Interesse, die im ersten Obergeschoß zum Platz hin orientiert ist. Noch heute lässt sich vom großen Treppenhaus kommend die Erfahrung des Sehens beim Gehen im Sinn der sukzessiven Annäherung an das Bildprogramm dieser Sala nachvollziehen (Abb. 11).

Abb. 11: Fotografische Annäherung an das Fresko Gerechtigkeit des Brutus in der Sala dei Capitani des Konservatorenpalastes in Rom

Denn zwei seitliche Türen in der Schmalwand verbinden den große Salone dei Conservatori – ursprünglich Tagungsort des „Consiglio privato“ und des „Con-

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Die Gerichtstube des Augsburger Rathauses zeigte hingegen ganz klassisch das Jüngste Gericht, für das Johann König verantwortlich zeichnete. Vgl. Res publica bene ordinata (wie Anm. 37), S. 217.

Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee

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siglio generale“,67 der später mit Gian Lorenzo Berninis und Alessandro Algardis päpstlichen Sitzstatuen ausgestattet wurde – mit der angrenzenden Sala dei Capitani. Die beiden Türen sind somit Auftakt einer Enfilade und gestatten im geöffneten Zustand schon aus weiter Entfernung den Blick auf die östliche Stirnwand der Sala dei Capitani, die dem Sujet ihrer öffentlichen Statuenstiftungen entsprechend auch als „Salotto degli Imperatori“ bezeichnet wurde.68 Gleichgültig, ob man rechts oder links in die Sala tritt, werden auf dem Weg dorthin zuerst die unteren Ecken des Wandfreskos sichtbar, die auf beiden Seiten das gleiche Thema zeigen, nämlich männliche Gefangenenfiguren mit gefesselten Händen in antikischer Kleidung. Die muskulös dargestellten Gefangenen sind dem Betrachter zugewandt und lenken die Aufmerksamkeit im selben Atemzug auf das Geschehen im Zentrum des Bildes, das die Gerechtigkeit des Brutus in einer der imposantesten Darstellungen dieses Sujets zeigt (Abb. 12).

Abb. 12: Tommaso Laureti, Gerechtigkeit des Brutus, 1587–1594

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Vgl. Sybille Ebert-Schifferer: Ripandas kapitolinischer Freskenzyklus und die Selbstdarstellung der Konservatoren um 1500, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 23/24 (1988), S. 75–218, hier S. 101. Vgl. zur Sala dei Capitani vor allem Roger Cushing Aikin: Christian soldiers in the Sala dei Capitani, in: The sixteenth century journal 16 (1985) 2, S. 206–227 sowie Carlo Pietrangeli: La Sala dei Capitani, in: Capitolivm 37 (1962), S. 641–648.

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Dieses bedeutsame Thema der Rechtsikonographie zeichnete bereits die ältere und zerstörte Wanddekoration von Jacopo Ripanda aus und wurde von Tommaso Laureti zwischen 1587 und 1594 als wandfüllendes Architekturpanorama neu gestaltet, das von der offensichtlichen Auseinandersetzung mit römischen Fresken wie Raffaels Schule von Athen zeugt und von den Konservatoren selbst in Auftrag gegeben worden war.69 Die Brutus-Geschichte fungiert als Exemplum republikanischer Gesinnung sowie unparteiischen Urteilens und Richtens. Familienmitglieder erfahren keine Bevorzugung. Vielmehr demonstriert Brutus, dass das „Recht allen anderen Bindungen vorgeht“.70 Die dramatische Positionierung seines enthaupteten Sohnes neben dessen ebenso zum Tod verurteiltem Bruder im Bildvordergrund des kapitolinischen Freskos setzt daher auch entschieden auf den Vollzug der Strafe. An welchem Ort wird die Handlung jedoch vollzogen, oder anders herum gefragt: Wie gestaltet sich der Schauplatz des Tribunals? Beherrscht wird das Bild von den beiden römischen Konsuln, Brutus und Collatinus. Sie treten auf einem erhöhten Postament vor dem mittleren Bogendurchgang eines dreiachsigen Triumphbogens in Aktion, der als freistehendes Monument inmitten einer gepflasterten Platzanlage errichtet ist. Diese erstreckt sich weit in die Tiefe und wird im Bildhintergrund von vier Monumentalbauten spiegelbildlich eingefasst. Ähnlich wie im Ausgburger Rathaus ist die Bildarchitektur Ausdruck der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Zwei antike Tempelbauten im Bildmittelgrund, deren Säulenportiken ionischer Ordnung auf einem Treppenpostament ruhen und von einem Dreiecksgiebel bekrönt werden, kontrastieren mit den Palastfassaden der kubischen Monumentalbauten im Bildhintergrund, die im modernen Stil einer zweigeschossigen Kolossalordnung mit korinthischen Kapitellen in die Höhe ragen. Der rechte Palast scheint auf der Ebene des Dachgeschosses sogar noch in der Fertigstellung begriffen und zeichnet sich wie sein Pendant durch einen ho-

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Vgl. aus der insgesamt überschaubaren Literaturlage zum Brutus-Fresko von Laureti v.a. die Beiträge von Isabella Colucci: Sala dei Capitani, in: Gli affreschi del Palazzo dei Conservatori, hg. von Sergio Guarino und Patrizia Masini, Mailand 2008 (Quaderni capitolini 3), S. 32–43; Isabella Colucci: Tommaso Laureti negli affreschi della Sala dei Capitani in Campidoglio, in: Ricerche di storia dell’arte 91/92 (2007), S. 106–114 sowie Maria Elisa Tittoni: Gli affreschi di Tommaso Laureti in Campidoglio, in: Roma e l’antico nell’arte e nella cultura del Cinquecento, hg. von Marcello Fagiolo, Rom 1985 (Biblioteca internazionale di cultura 17), S. 211–234. Siehe zur älteren Ausstattung Ripandas kapitolinischer Freskenzyklus (wie Anm. 67). Vgl. auch den instruktiven Beitrag von Hubertus Günther, der das Brutus-Bild von Jean-Jacques David aus dem Jahr 1787/1788 aus der Tradition dieses Bildsujets heraus deutet und das Brutus-Fresko im Konservatorenpalast entsprechend einbezieht: Hubertus Günther: Das Urteil des Brutus. Vom Paradigma der Gerechtigkeit zur aufrührenden Tragödie, Heidelberg 2004, S. 9 sowie S. 91–93 zur Brutus-Geschichte und S. 106–107 zum Fresko im Konservatorenpalast, dessen architektonischer Schauplatz hier nicht näher thematisiert wird.

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hen Sockel unterhalb der Kolossalpilaster aus. Diese bilden schmale Traveen mit hochrechteckigen Fenstern, deren Giebel wie am Palazzo Farnese abwechselnd halbrund und dreieckig gestaltet sind. Ein weiteres Mal stellt sich die Frage, wie die Kommunikation zwischen dargestellter und gebauter Architektur hier zu verstehen ist, das heißt: inwiefern über den Zitat- und Zeichencharakter der Einzelbauten hinaus auch eine Ikonologie des Raumes entwickelt wird, die nicht nur allgemein auf die antike Größe Roms verweist,71 sondern dezidiert Innen und Außen in Beziehung setzt? Wie also verschränken sich Architektur-, Bild- und Handlungsraum und erzeugen eine Simultanität, die weniger als narrative, denn als „argumentative Struktur“ zu verstehen ist? Nämlich als argumentatio, wie sie Frank Büttner in einem anderen Zusammenhang reflektiert und die in der antiken Rhetorik bereits dazu diente, „Beweise für die eigene Sache schlüssig und glaubwürdig auszubreiten, um die Zuhörer zu überzeugen.“72 Offensichtlich wurde das Exemplum republikanischer Gesinnung und unparteiischen Handelns im Konservatorenpalast nicht allein figurativ, sondern auch bildräumlich verkörpert – und dies ebenfalls unter Bezugnahme auf die Forumsidee, was umso bemerkenswerter ist, als das Tribunal tatsächlich vor dem Brutus-Fresko tagte. Schließlich fungierte die zum Kapitolsplatz ausgerichtete Sala vornehmlich als Sitz des Zivilgerichts der Konservatoren. Davon zeugt noch die Rückwand des Tribunals unterhalb des Freskos, die aus polychromem Marmor gestaltet ist und die Devise „Diligite Iustitiam“ über der Inschriftentafel mit der Lupa zeigt. Die Marmorwand wurde zwar später als das Brutusfresko, nämlich 1628 errichtet, sie ersetzte jedoch ein schon 1595 an dieser Stelle bezeugtes Holztribunal.73 Ausschlaggebend für Lauretis bildliche Aktivierung der Forumsidee ist allem Anschein nach erneut die Tradition des römischen Forums als Ort des Rechts und des Gerichts, die zur bereits erwähnten Auseinandersetzung mit der Forumsbasilika im Cinquecento und darüber hinaus führte. Selbst die neue Fassade des Konservatorenpalastes spielt auf diese an, wie Monika Melters feststellt, die in der Verbindung von öffentlicher Portikus und Kolossalordnung eine Beziehung zu Cesarianos Rekonstruktion von Vitruvs Basilika erkennt.74 Und es sollte nicht vergessen werden, dass sich schon der Vorgängerbau von Michelangelos Konservatorenpalast als neuer Rechtsort und als legitimer Nachfolger des antiken Forums verstand. Sybille Ebert-Schiffer zufolge erfuhr das so genannte ‚lovium‘, die äußere Portikus im Erdgeschoss des älteren Konservatorenpalastes, bereits 71

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Vgl. zu den Architekturen des Brutus-Freskos als Referenz an die antike Größe Roms Das Urteil des Brutus (wie Anm. 70), S. 106. Vgl. Frank Büttner: ‚Argumentatio‘ in Bildern der Reformationszeit. Ein Beitrag zur Bestimmung argumentativer Strukturen in der Bildkunst, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994) 1, S. 23–44, hier S. 23. Vgl. zur älteren Tribunalswand Ripandas kapitolinischer Freskenzyklus (wie Anm. 67), S. 101. Vgl. Die Kolossalordnung (wie Anm. 61), S. 67–71, 83f.

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um 1500 „als Ort rechtsverbindlicher Gesetzesverkündigung […] eine Aufwertung durch die Gegenwart antiker Tafeln, die eine bereits in der Antike auf dem Kapitol angesiedelte hoheitliche Funktion dem neuen Kommunalpalast zuwiesen und den Platz zum neuen ‚Forum Romanum‘ erhoben“.75 Lauretis Wandfresko, das im 16. Jahrhundert bereits zur Neuausstattung des Palastes gehörte, stellte sich somit in eine lange Tradition. Dabei setzte auch er die Forumsidee als Synthese unterschiedlicher Zeit- und Raumbezüge ins Bild, die auf die Wahrnehmung des gebauten Raumes zurückwirken mochte. Immerhin stellt das Fresko genauso den Bezug zum römischen Forum auf der Rückseite des Kapitols her wie zum Kapitolsplatz zu Füßen des Konservatorenpalastes. Damit wurden Antike und Gegenwart zu einem Zeitpunkt ‚simultanisiert‘, als Michelangelos Konservatorenpalast und Kapitolsplatz zwar vollendet waren, der zugehörige Palazzo Nuovo aber noch Baustelle war und dies von der Grundsteinlegung 1571 bis zu seiner Vollendung Mitte des 17. Jahrhunderts auch blieb – worauf nicht zuletzt die Arbeiten an einem der beiden Paläste im Bildhintergrund des Freskos anspielen könnten. Dass dieses sowohl den Kapitols- als auch den Forumsplatz thematisiert, dafür sprechen die platzflankierenden Tempelbauten all’antica sowie die moderne zweigeschossige Palastarchitektur mit Pilastern kolossaler Ordnung im korinthischen Stil. Gestützt werden kann die These durch den Vergleich mit zwei Bildquellen, die wenige Jahre vor Lauretis Fresko entstanden sind (Abb. 13 und Abb. 14). Dies wäre zum einen Etienne Dupéracs berühmter Kupferstich, der Michelangelos Kapitolsentwurf 1568 als kohärentes Platz- und Bauensemble zu einer Zeit zeigt, als daran noch geplant und gearbeitet wurde.76 Zum anderen stellt derselbe Künstler 1574 in einer druckgraphischen Serie das antike und moderne Rom gegenüber, vergleichbar mit den noch heute reihenweise verkauften touristischen Fotobüchern, und konfrontiert so auch die Ansicht der Ruinen des Forum Romanum mit der Rekonstruktion desselben als intaktes und belebtes Zentrum des antiken Rom.77 Motivische Nähe zum architektonischen Schauplatz des Brutus-Freskos bezeugen im ersten Fall die aufgesockelte Kolossalordnung der zweigeschossigen Zwillingspaläste des Kapitolsplatzes, und im zweiten Beispiel die seitliche Einfassung des Forum Romanum mit Tempelbauten, die ebenfalls einen dreiachsigen Triumphbogen (den Septimius-Severus-Bogen) im Mittelgrund flankieren. 75

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Ripandas kapitolinischer Freskenzyklus (wie Anm. 67), S. 115. Vgl. auch zur Deutung des Kapitols als Festung und Bollwerk, dessen rechtliche Stellung von Seiten der Päpste sowohl zurückgedrängt als auch streitig gemacht wurde, Stanislaus von Moos: Der Palast als Festung. Rom und Bologna unter Papst Julius II., in: Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute. Repräsentation und Gemeinschaft, hg. von Martin Warnke, Köln 1984 (DuMont Taschenbüher 143), S. 106–156. Vgl. u. a. James Gill Cooper: The genesis and design of Michelangelo’s Campidoglio, Virginia 2002, S. 20–41; Die Kolossalordnung (wie Anm. 61), S. 59–61. Vgl. dazu auch Rudolf Wittkower: Le antiche rovine di Roma nei disegni di Du Pérac, Cinisello Balsamo 1990.

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Abb. 13: Etienne Dupérac, Michelangelos Kapitolsentwurf, 1568

Abb. 14: Etienne Dupérac, Rekonstruktion des antiken Forum Romanum, 1574

Ob realiter oder im Bild, das Kapitol wirkt wie ein Scharnier, wie ein Dreh- und Angelpunkt zwischen dem antiken und dem modernen Zentrum Roms. Dabei beanspruchte es den Status eines neuen Forums nicht nur architektonisch, durch Michelangelos neue Platzanlage, sondern auch ‚funktional‘. Davon zeugt die Reaktivierung der Forumsidee in einem Raum juridischer Funktion innerhalb der Administrationsarchitektur. Wie im Augsburger Rathausbild ist hierbei nicht entscheidend, dass das Forum als vollständig von Portiken eingefasster Platz in

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Erscheinung tritt. Es konstituiert sich vielmehr als ein von Tempel- und Palastbauten gesäumter Raum, der dadurch in seinem öffentlichen und administrativen Charakter zur Schau gestellt ist. Und es wirkt auf die Sala dei Capitani zurück, dass mit dem Bild des Forums zugleich das Bild eines Rechts- und Gerichtsortes wachgerufen wird. Dem hinter den Mauern tagenden Tribunal wird der Anschein städtischer Öffentlichkeit gegeben, die durch die Brutus-Legende zugleich republikanisch konnotiert wird; ein Bedeutungshorizont, der sich auf den Handlungs- und Verantwortungsbereich der Konservatoren erstreckt, diesen aber auch historisch ‚begründet‘. Laureti schuf mit seiner Bildarchitektur eine Synthese von Antike und Gegenwart, die argumentativ angelegt ist und das Forum als zeitübergreifendes und zugleich topographisch verankertes Exemplum eines architektonisch gefassten Raumes demonstriert, in dem gerichtet und geurteilt wird. Wie in Aristoteles Dramatheorie werden das moderne Forum (Kapitol) und das antike Forum deshalb zu einem gemeinsamen Schauplatz vereint, der sich durch einen einzigen Blick konstituiert.78 Denken wir nur an Palladios Bühnenkonzept in Vicenza, das den Innenraum zur Piazza vor einer städtischen Perspektivkulisse macht, so können wir uns auch das Tribunal vorstellen, das vor dem Forumsplatz des Brutus-Freskos wie vor einer ‚Bühnenwand‘ agiert, was umso deutlicher macht, dass und inwieweit theatrale Mittel Bestandteil der Kunst, aber auch der Performativität des Rechts sind.79 Letztlich handelt es sich bei Lauretis Fresko um einen Bild- und Imaginationsraum, der ein eigenes „Zwischen“ markiert, das den eingangs zitierten Definitionen von Grenze und Schwelle partiell entspricht, veranschaulicht es doch ebenfalls „eine gestalterische Situation zwischen zwei räumlichen Zuständen: dem drinnen‘ und dem ‚draußen‘“,80 deren zentrale Eigenschaft nun darin besteht, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Innen (dem Handlungsraum der Rechtsbeamten) und Außen (der gebauten Stadt) zu kommunizieren und das eine jeweils als Argument für das andere zu begreifen. Dass Architektur im Bild mehr leisten kann, als antike Größe oder bestimmte antike Monumente porträt-, zeichen- oder symbolhaft ins Bild zu setzen, wurde schon erwähnt. Sie vermag auch einen architektonischen Raum zu semantisieren 78

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Eine solche Vereinheitlichung zeichnet in anderer Weise auch Dieric Bouts Rathausbilder aus. Vgl. Claudia Blümle: Augenblick oder Gleichzeitigkeit. Zur Simultaneität im Bild, in: Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, hg. von Philipp Hubmann und Till Julian Huss, Bielefeld 2013, S. 37–56, hier S. 43. Vgl. unter anderen Gesichtspunkten die grundlegenden Studien von Claudia Blümle: Der Zeuge ist im Bild. Dieric Bouts und die Konstitution des modernen Rechtsraumes, München 2011 sowie Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, hg. von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, Frankfurt a. M. 2011. Siehe auch das von Carolin Behrmann geleitetete Projekt Nomos der Bilder. Manifestation und Ikonologie des Rechts am Kunsthistorischen Institut in Florenz, letzter Zugriff 14.04.2015. Vgl. oben S. 284.

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und an der translatio antiker Bedeutungszusammenhänge über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg mitzuwirken81 – in diesem Fall an der translatio des Forums und seiner administrativen und juridischen Funktion. So wie der gebaute Platz auf die Stadt und deren Verfasstheit verweist, spielt die Bildarchitektur auf dieses Gefüge an und hinterfängt damit zugleich den Sitz der Repräsentanten der römischen Bürger: Indem die Ostwand der Sala dei Capitani illusionistisch geöffnet und die Ansicht eines architektonischen Raumes geboten wird, der die Plätze vor und hinter der kapitolinischen Administrationsarchitektur zu einem einzigen öffentlichen Schauplatz vereint. Das Brutus-Fresko erweitert so gesehen den Handlungsraum der Konservatoren und damit der Vertreter des städtischen Zivilgerichts um eine zweite Rauminstanz, in der die antike Tradition lebendig bleibt und mit der Gegenwart verschränkt wird. Und es sei hier nur ergänzend hinzugefügt und ist in Bezug auf die Forumsidee noch eigens zu vertiefen, dass Wolfgang Liebenweins überzeugende Interpretation von Michelangelos Kapitolsplatz als Asylum die juridische Dimension des Raumes auf eine noch komplexere Ebene hebt. Schließlich ging es im 16. Jahrhundert nicht nur symbolisch um die Aktualisierung des antiken Bildrechts auf dem Kapitol, das einst den antiken Kaiserstatuen – so auch jenen auf dem Forum – zugestanden wurde. Schon Clemens VII. verfügte 1534 in dem von Paul III. bestätigten Motu proprio, dass alle getauften türkischen Sklaven, denen die Flucht auf das Kapitol gelang, frei sein und das römische Bürgerrecht erlangen sollten82 – worin nicht nur zufällige Parallelen zum Kirchenasyl und den jüngsten, darauf Bezug nehmenden Debatten zum rechtlichen Umgang mit Flüchtlingen zu erkennen sind,83 handelt es sich doch um eine der vielen historischen Vorstufen. Auf dem Kapitol nahmen die Konservatoren einen Platz ein, der zwischen dargestellter und gebauter Architektur angesiedelt ist und als solcher auch bei ihrer Abwesenheit erfahrbar blieb. Ergänzend zu Studien, die Architekturräume in frühneuzeitlichen Bildern aus rezeptionsästhetischer Sicht befragen,84 bleibt festzuhalten, dass die dargestellte Architektur Bestandteil einer argumentativen Bildstruktur sein und den realen Handlungsraum, wie im Fall des Brutus81

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Vgl. zur Rezeption antiker Bedeutungszusammenhänge des Raumes auch die Deutung von Michelangelos Kapitolsplatz als Asylum von Wolfgang Liebenwein: Marc Aurel, Area Capitolina und das Asyl, in: Skulptur und Platz. Raumbesetzung, Raumüberwindung, Interaktion, hg. von Alessandro Nova und Stephanie Hanke, Berlin u. a. 2014 (I Mandorli 20), S. 29–62. Vgl. Marc Aurel, Area Capitolina und das Asyl (wie Anm. 81), S. 52, 54; Ripandas kapitolinischer Freskenzyklus (wie Anm. 67), S. 115, Anm. 162. Vgl. dazu etwa http://www.kirchenasyl.de/, letzter Zugriff 14.04.2015. Vgl. dazu u. a. Die Räume der Maler (wie Anm. 65), Oskar Bätschmann: Diskurs der Architektur im Bild. Architekturdarstellung im Werk von Poussin, in: Architektur und Sprache. Gedenkschrift für Richard Zürcher, hg. von Carlpeter Braegger, München 1982, S. 11–48; Der Zeuge ist im Bild (wie Anm. 79) oder Johannes Grave: Architekturen des Sehens. Bauten in Bildern des Quattrocento, Paderborn 2015.

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Freskos, illusionistisch erweitern und mit (juridischer) Bedeutung anreichern, ihn also semantisieren kann. Dass diese Form der Kommunikation zwischen der dargestellten und der gebauten Architektur ein übergeordnetes Problem berührt, nämlich die Frage, wie Politisches entstehen oder zumindest erfahrbar gemacht werden kann, wurde eingangs bereits erwähnt. Aus der Sicht einer einzigen Fachdisziplin ist dies sicherlich nicht zu beantworten, deutlich aber wird, dass die von Hannah Arendt reflektierte Voraussetzung für das „Zwischen den Menschen“, in dem Politisches entstehen kann, das heißt: der gebaute Stadtplatz im Sinn der Agora, sich zugunsten historischer Perspektivierungen differenzieren und erweitern ließe; und zwar sowohl hinsichtlich der Vielschichtigkeit der Begegnungsmomente und -orte (zwischen institutioneller und nicht-institutioneller Öffentlichkeit) als auch um die Beziehung zwischen dargestelltem und gebautem Platz. Beide sind Bestandteil des ‚fiktiven‘ Staates, der besagt, dass das Imaginäre auch konstitutiver Bestandteil des Realen ist.85

Abb. 15: Gerrit Adriaensz Berckheyde, Ansicht des Dam mit dem neuen Rathaus von Amsterdam

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Vgl. dazu allg. Albrecht Koschorke u. a.: Der fiktive Staat: Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. 2007 (FischerTaschenbücher 17147).

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3.3 Amsterdam: Von der Simultaneität zur Synchronizität Einleitend wurden als mögliches „Zwischen“ sowohl der Betrachter in Bewegung genannt, der die Verknüpfung zwischen der dargestellten und der gebauten Stadt herzustellen vermag, als auch die Kategorie des Handlungsraums zwischen dargestelltem und gebautem Platz. Im Fall der Allegorie der Demokratie des Augsburger Rathauses entsprach der Weg des Betrachters zur Bildserie in etwa auch der dargestellten Architektur und der ihr zugeordneten Regierungsformen, wohingegen die Rechtsbeamten in der römischen Sala dei Capitani einen festen Platz vor der Bildarchitektur einnahmen. Es ist dieser Zusammenhang von Bildund Handlungsraum, der im letzten unserer Beispiele, dem Amsterdamer Rathaus (Abb. 15), eine weitere Intensivierung findet. Dort wurden der antike Forums- und der moderne Rathausplatz (Dam) derart direkt aufeinander bezogen, dass über die Simultaneität hinaus bereits von einer Synchronizität der Raumerfahrung gesprochen werden kann. Schließlich wurde der Platz vor dem Rathaus nicht mehr ins Bild gesetzt, sondern durch ausgeklügelte architektonische Mittel leibhaftig vergegenwärtigt: in einem Raum, der mit seiner reliefgeschmückten und einen antiken (Forums-)Platz thematisieren Rückwand zum Rathausplatz ausgerichtet ist. Der Raum, von dem hier die Rede ist, die so genannte vierschaar (Abb. 16), liegt im Erdgeschoss und dort nur leicht hinter der niedrigen, siebenachsigen Portikus zurückversetzt, die den prachtvollen Neubau der Handelsstadt vom Dam aus zugänglich macht.86 Nicht anders als beim Konservatorenpalast, der ohnehin ein wichtiges Vorbild war, wurden spezifische Traditionen von Forums-, Rechts- und Administrationsarchitekturen im Amsterdamer Rathaus neu interpretiert. So nahmen zum Beispiel die Proportionen des großen öffentlichen Bürgersaals, der im ersten Obergeschoß vor dem Gerichtssaal lag, wie auch die siebenachsige Eingangsportikus mit ebenso vielen Rundbogenportalen auf die vitruvianische Forumsbasili-

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Vgl. zum Amsterdamer Rathaus und dessen vierschaar die noch immer grundlegende Deutung von Kathrine Freemantle: The open vierschaar of Amsterdam’s seventeenthcentury Town Hall as a setting for the city’s justice, in: Oud-Holland 77 (1962) 3/4, S. 206–234; Kathrine Fremantle: The baroque town hall of Amsterdam, Utrecht 1959. Siehe zuletzt auch Judith Resnik und Dennis Curtis: Representing Justice. Invention, Controversy, and Rights in City-States and Democratic Courtrooms, Yale 2011 (Yale law library series in legal history and reference), S. 55–61; Pieter Vlaardingerbroek: Dutch town halls and the setting of the “Vierschaar”, in: Public buildings in early modern Europe, ed. by Konrad Ottenheym, Monique Chatenet und Krista de Jonge, Turnhout 2010 (Architectura moderna 9), S. 105–118 sowie zum Amsterdamer Rathaus allgemein Pieter Vlaardingerbroek: Het paleis van de Republiek. Ggeschiedenis van het stadhuis van Amsterdam, Zwolle 2011.

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ka Bezug.87 Aus der erwähnten Vielzahl an Eingängen resultiert zugleich der Membrancharakter der Rathausfassade, der das Verhältnis zwischen Innen und Außen sowie der darin eingebundenen vierschaar maßgeblich prägt, die ausschließlich dem Sprechen von Todesurteilen vorbehalten war. Da sie den Blick durch ihre drei großen, stets offenen Fenster über die Eingangshalle und die Eingangsportale hinweg auf den Rathausplatz gestattete, der mithin als Richtplatz fungierte, öffnete sich die vierschaar zum Stadtraum und gab damit dem traditionellen Primat der Sicht- und Hörbarkeit des Gerichts einen neuen formalen Ausdruck. Umgekehrt war sie selbst von außen einsehbar und konfrontierte die Betrachter mit dem Anblick der um 1650/1652 datierten Reliefwand von Artus Quellinus d. Ä., die architektonisch durch vier halbnackte Karyatiden im Trauer- und Schamgestus untergliedert wird.88

Abb. 16: Die vierschaar im Rathaus von Amsterdam

Zu Füßen der Karyatiden nahmen die Richter ihren festen Platz auf den Marmorbänken ein, und damit auch unterhalb der drei Reliefs, die von den Stützfiguren flankiert werden und bedeutende Gerechtigkeitsszenen zeigen. Dazu zählt die schon im Konservatorenpalast thematisierte Gerechtigkeit des Brutus, die Hubertus Günther zufolge „sonderbar konzipiert“ ist. Denn Brutus ist hier als Richter nicht erhöht sitzend oder stehend im Zentrum dargestellt, sondern im linken Bildvordergrund und somit auf Augenhöhe mit dem Henker. Das Zentrum des Reliefs bleibt stattdessen einem Pfeilermonument vorbehalten, das von der römischen Wölfin bekrönt wird und die Figur des thronenden Jupiter hinter87

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Vgl. T. van den Osten: Gerrit Berckeheyde, Das Rathaus in Amsterdam, 1680, in: Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts, hg. von Dario Gamboni u. a., Bern 1991, Kat. Nr. 94, S. 243–245, hier S. 245. Vgl. dazu v. a. The open vierschaar of Amsterdam’s seventeenth-century Town Hall (wie Anm. 86) sowie zuletzt Architektur bewegt (wie Anm. 35), S. 19–20.

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fängt.89 Architektonisch bemerkenswert ist nun, dass die am rechten Bildrand perspektivisch nach hinten verlaufende Kolonnade auf eine Platzarchitektur anspielt und das Rechtsgeschehen sprichwörtlich auf einem antiken Forumsplatz lokalisiert. Die Säulenreihe findet ihr Pendant am entgegengesetzten Bildrand des Reliefs links außen an der Wand, in dem das Augenopfer des Seleukos thematisiert ist. Über die Bildgrenzen hinweg wird somit ein weiter Platzraum suggeriert, der die halbrunde Nische oder Apsis des mittleren Reliefs mit der Darstellung des Salomonischen Urteils umgibt und selbige wie einen Innenraum im Außenraum erscheinen lässt – sofern er mit der Nische oder Apsis nicht auf den Sitz der Richter im Innenraum der antiken Basiliken anspielt, die unter anderem Palladio beschreibt.90 Der Forumsplatz ist aber nicht nur innerbildlich Handlungsort des Tribunals. Gefüllt mit Szenen der Gerechtigkeit tritt er zugleich dem leibhaftigen Platz vor dem Rathaus als Exemplum gegenüber. In diesem ‚Zwischen‘ – der dargestellten und der gebauten Stadt – agierten die Rechtsbeamten, denen das Forum externum obliegt.91 Sie waren für den zeremoniellen Vollzug des Todesurteils zuständig, das dem Delinquenten obendrein wechselnde Blickbeziehungen im Raum zuwies und im dunkelsten Bereich desselben einsetzte.92 Doch nicht nur während, auch außerhalb des theatralen Rechtsvollzugs blieb das Prinzip der simultanen Blick- und Sichtbeziehung zwischen dem leibhaftigen Geschehen auf dem Rathausplatz und dem dargestellten Geschehen auf dem antiken Platz gewahrt, wodurch ein Moment der Synchronizität in das Gefüge zwischen Innenraum und Außenraum einzieht, das heutigen Praktiken der „LiveÜbertragung“ in analoger Form vorausgeht. 4 Resümee – mit einem Ausblick auf das Humboldt-Forum in Berlin Der Beitrag fokussierte auf die Bedeutungsvariante des Forums als Ort der Regierung, des Rechts und des Gerichts. Im Zentrum stand die Frage nach der Kommunikation zwischen Innen und Außen sowie der Entstehung eines scheinbaren ‚Zwischen‘, das Arendts Nachdenken über das Politische berührt. Antike Architektur im Bild wird oftmals dahingehend beachtet, dass durch sie antike Größe zum Ausdruck gebracht oder ein antiker Schauplatz rekonstruiert beziehungsweise imaginiert werde. Es geht daher vielfach um die Frage der Antikenrezeption, die eher von der Suche nach konkreten Vorbildern begleitet wird als 89 90 91

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Vgl. Das Urteil des Brutus (wie Anm. 70), S. 109–110. Vgl. Die vier Bücher zur Architektur [1570] (wie Anm. 32), III,19. Vgl. zum „Forum externum“ im Gegensatz zum „Forum internum“ auch die darauf aufbauende Studie von Paolo Prodi: Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003. Vgl. dazu v. a. The open vierschaar of Amsterdam’s seventeenth-century Town Hall (wie Anm. 86), S. 215–216, 229–230.

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von strukturellen Fragen wie jener nach den Rezeptionsmodi räumlicher Konstellationen.93 Dabei kann Architektur ganze Bildräume semantisieren und wie in den gezeigten Rathausbildern als ‚wahrhaftiges‘ Forum, nämlich als Schauplatz des Rechts und des Gerichts, auszeichnen, und dabei zugleich über eine individuelle Ikonik verfügen.94 Es sei in diesem Zusammenhang nur an Horst Bredekamps Deutung von Piranesis Carceri erinnert, die teilweise auf die Gefängnisse am antiken Forum und zugleich auf das Verhältnis von Staat und Recht(sreform) im 18. Jahrhundert Bezug nehmen.95 In unserem Fall, der von Rathausausstattungen ausging, entstand durch den unmittelbaren Ortsbezug der Bilder ein eigenes ‚Zwischen‘, das dem Handeln sowie dem Autoritäts- und Souveränitätsanspruch der gesetzlichen Vertreter und Verwalter der Stadt Evidenz verlieh. Die Frage, wie die Kommunikation zwischen dem Rathaus und dem städtischen Außenraum hergestellt werden kann, ist nun keineswegs an ihr Ende gelangt. Dies zeigt auch der im Jahr 2009 erstprämierte Wettbewerbsentwurf des Rem Koolhaas-Schülers Bjarke Ingels und der Architektengruppe BIG für ein Rathaus im estnischen Tallinn, das in ganz anderer Weise von der Idee synchroner Bildübertragung ausgeht.96 Das Rathaus selbst ist als verzweigte Zellenstruktur konzipiert, die die verschiedenen Funktionen und Zuständigkeiten spiegelt und diese möglichst eng mit dem städtischen Außenraum verwebt, wobei die Idee simultaner Bildübertragung nur auf das Herz des Rathauses, nämlich den Ratssaal bezogen ist. Sie soll dem Entwurf entsprechend die Grenzen überwinden und dem Bürger Einblick in den Alltag des Politischen geben, aber auch Verantwortungsbewusstsein bei den Regierungsvertretern bewirken – durch gegenseitige Sichtbarkeit. Diese Idee konkretisiert sich in einer großen Spiegelfläche im Ratssaal, die zwischen Innen und Außen vermittelt, indem sie das Bild 93

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Methodisch interessant ist deshalb auch Oskar Bätschmanns Auseinandersetzung mit der „visuellen Metaphorik“ am Beispiel von Poussin – in diesem Fall bezogen auf die Frage nach der Darstellung von Hierarchie und von Geschichte –, die der hier vorgeschlagenen Deutung des Bildraumes am nächsten kommt und Bätschmann zufolge noch kaum systematisch ausgelotet wurde. „Visuelle Metaphorik“ ist, so Bätschmann, „ein semantischer Prozeß, insofern durch die genannten Vorgänge auf der Basis eines ersten Sinnes ein zweiter mittelbarer Sinn anschaulich hervorgebracht wird. Die visuelle Metaphorik ist als eigener Bereich der Malerei praktisch nicht erforscht […].“ Vgl. Diskurs der Architektur im Bild (wie Anm. 84), S. 22. Vgl. zur Ikonik die methodischen Überlegungen von Max Otto Imdahl, der damit das Konzept der Ikonographie und Ikonologie um die Sinnerfahrung zu erweitern suchte: Max Imdahl: Giotto, Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1996. Siehe auch Peter Schmidt: Aby M. Warburg und die Ikonologie, Wiesbaden 1993 (Gratia 20). Horst Bredekamp: Piranesis Foltern als Zwangsmittel der Freiheit, in: Kunst um 1800 und die Folgen. Werner Hofmann zu Ehren, hg. von Christian Beutler u. a., München 1988, S. 31–46. Vgl. dazu u. a. Sebastian Jordana: BIG wins International Competition to design Tallinn’s new City Hall, 24.06.2009, letzter Zugriff 05.04.2015.

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der Stadt und des Rathausplatzes wie ein „live portrait“ in den Ratssaal sowie die dort stattfindenden Handlungen auf den Platz ‚überträgt‘.97 Partizipative Demokratie architektonisch und bildlich zu denken, bleibt ein ebenso schwieriges wie faszinierendes Unternehmen, das weder das Wort noch die Debatte ersetzt, Realpolitik aber zumindest begleitet. Auf das Problem, dass ein zu hohes Maß an architektonischer Transparenz und Öffentlichkeit auch den Verlust derselben bedeuten kann, hatte Richard Sennet schon in den 1970er Jahren verwiesen.98 Zudem ist jedes noch so große Zugeständnis an Öffentlichkeit und Transparenz – das selbst ideologisch instrumentalisierbar ist99 – von Grenzen und Schwellen geprägt, die es auszumachen gilt; nicht zuletzt im Sinne eines ‚Zwischen‘, in dem Politisches entstehen oder erfahrbar gemacht werden kann. Während die Überwindung von Grenzen zwischen Innen und Außen noch in jüngsten Rathausprojekten versucht wird, ist auch die Forumsidee noch aktuell, die im Zeichen optimistischer Visionen von Öffentlichkeit, Partizipation und Kommunikation in Erscheinung tritt. Das jüngste Beispiel hierfür ist das eingangs bereits angesprochene Schloß-Humboldt-Forum in Berlin (Abb. 17 und Abb. 18), das eine neue Etappe in der Ideengeschichte des Forums markiert und daher in Form eines Ausblicks am Ende der Betrachtung steht. Das Projekt ist erst sukzessive aus dem Willen zur Rekonstruktion des Alten Schlosses hervorgegangen und zugleich eng mit dem Abriss des ehemaligen Palastes der Republik an diesem Ort verbunden. Anders als bei den bisher genannten Bauten und Projekten, die tatsächliche Regierungs- und Administrationsaufgaben erfüllten, sind wir nun mit dem Phänomen einer Schlossrekonstruktion konfrontiert, die zur Hülle für ein Forum wird: das so genannte Humboldt-Forum, das einen teilweisen Zusammenschluss der Humboldt-Universität sowie neuerdings einer möglichen Ausstellung zu „Welt.Stadt.Berlin“ anstelle der Berliner Zentral- und Landesbibliothek bedeutet.100 Im Zentrum des Projekts aber steht die Neupräsentation der so genannten „außereuropäischen“ Sammlungen; inwieweit diese damit erneut als fremd und anders konnotiert werden, ist eine aus dekolonialer Perspektive intensiv geführte Debatte, auf die hier nicht näher eingegangen wer-

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Vgl. dazu auch die Projektvorstellung der Architektengruppe BIG auf ihrer Hompage, letzter Zugriff 19.02.2015, sowie Tom Cheshire: Two-way town hall. Transparent building lets you see democracy at work, 17.01.2012, letzter Zugriff 19.02.2015. Vgl. Richard Sennett: The Fall of Public Man, New York 1977. Vgl. z. B. auch die Beiträge von Elmar Kossel: Das ‚Haus aus Glas‘ und sein langer Schatten. Moderne und Staatsrepräsentation während des Faschismus in Italien und im NS-Deutschland sowie von Susanne von Falkenhausen: Der Fall Terragni. Ethik der (faschistischen) Form. Zevi, de Seta, Eisenman, Tafuri, in: Ethik und Architektur, hg. von Hana Gründler und Brigitte Sölch (im Druck). Vgl. u. a. Kerstin Krupp: Neues Konzept für das Humboldt-Forum Berlin. Michael Müllers „Welt.Stadt.Berlin“ kommt an, 16.03.2015, letzter Zugriff 14.04.2015.

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den kann.101 In unserem Zusammenhang geht es vielmehr um einen bislang weniger thematisierten Aspekt, der das Nachleben des Forums betrifft.

Abb. 17: Museumsinsel mit Blick auf das zukünftige Humboldt-Forum in Berlin, Fotomontage

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Vgl. z. B. die Initiativen „No Humboldt 21“ sowie die „Dekoloniale[n] Einwände gegen das Humboldt-Forum“ von AfricaVenir, die zum Aussetzen der Arbeit am Humboldt-Forum und zu öffentlichen Debatten anregen, letzter Zugriff 19.02.2015.

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Abb. 18: Franco Stella, Simulation der Eingangshalle des Berliner Stadtschlosses mit dem sog. Eosanderportal

Die Ansprüche an das Schloss-Humboldt-Forum, das die Museumsinsel komplementiert und gegenüber von Schinkels Neuem Museum und dem Berliner Dom am Schlossplatz liegt, sind hoch. Das neue Zentrum, heißt es in der jüngs-

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ten Publikation, werde Berlin zu einer international führenden Kulturmetropole machen, denn nichts präge das Bild eines Landes stärker als seine kulturellen Mittelpunkte. So werde das Schloss zu einem Ort der Weltkunst und Weltkultur. Das Humboldt-Forum stehe für Weltoffenheit, Gleichberechtigung, Toleranz und Demokratie. Entsprechend erläutert auch der Architekt Franco Stella seinen Entwurf dahingehend, dass die drei Innenhöfe des Baukomplexes – nämlich der Schlüterhof, das neu erfundene Schlossforum und die Agorahalle –, als öffentliche Stadtplätze in der Mitte Berlins gedacht seien.102 Wir sind einmal mehr mit der Idee der Durchdringung von Innen- und Außenräumen im Zentrum der Stadt konfrontiert, und man könnte das Sprechen über Forum und Agora als bloße Metaphorik zur Seite schieben. Dies wäre aber nicht nur deshalb verfrüht, weil sich selbst Erfindungen (der Antike) in „eine Geschichte der Ideen und ihrer Rezeptionsmedien einschreiben“,103 sondern auch, weil der Forumsgedanke traditionell eng mit politischen Raumbildungsprozessen verbunden ist. Was dies für das Humboldt-Forum bedeutet, bleibt daher fraglich, zumal das Projekt auf höchster kulturpolitischer Ebene angesiedelt ist, aber weder als Bestandteil von Rezeption und Nachleben der antiken Forumsidee, noch als Bedeutungshorizont des städtebaulichen Umfelds wahrgenommen wird, mit dem die Innenhöfe oder Plätze des Humboldt-Forums immerhin eine enge Beziehung aufnehmen sollen. Diese lohnt es eigens in den Blick zu nehmen, weil sie das Problem politischer Raumbilder berühren und damit auch das Problem der Erinnerungshaltigkeit urbaner Raumtypologien und -strukturen.104 Tatsächlich ist das Humboldt-Forum nur das vorläufig letzte Glied einer ganzen Kette staatlicher Forums- und Agoraplanungen, die in Berlins historischer Mitte Gestalt annahmen. Da wäre zum einen der Auftakt der Forumsplanung unter Friedrich II. (Abb. 19) zu nennen, das heißt: das Projekt eines Forum Fridericianum aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, das in kleineren Ausmaßen verwirklicht wurde. Unter Einbezug des Opernhauses und der Hedwigskirche war dieses Forum als königliche Stadtmitte vorgesehen und auf das neugeplante Residenzschloss mit der Exedra ausgerichtet.105

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Franco Stella: Das neue Berliner Schloss. Die Architektur, in: Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss. Planungen, Prozesse, Perspektiven, hg. von Hermann Parzinger, München 2013, S. 34–39. Vgl. Antike als Konzept (wie Anm. 8), S. 15. Diese Frage hat Ernst Seidl als Forschungsdesiderat bereits thematisiert. Vgl. Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Raumstrukturen im 20. Jahrhundert, hg. von Ernst Seidl, Göttingen 2009 (Kunst und Politik 11). Vgl. Martin Engel: Das „Forum Fridericianum“ in Berlin. Ein kultureller und politischer Brennpunkt im 20. Jahrhundert, in: Kunst und Politik 11 (2009), S. 35–46; Martin Engel: Das Forum Fridericianum und die monumentalen Residenzplätze des 18. Jahrhunderts, 2004, letzter Zugriff 05.04.2015.

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Abb. 19: Berlin, Blick auf das Forum Fridericianum

Abb. 20: Kollektiv F. Gebhardt, VEB Hochbauprojektierung Leipzig, Entwurf zum Marx-Engels-Platz in Berlin als „Forum der deutschen Arbeiterbewegung“, 1958/59

Blicken wir vice versa auf die nordöstliche Spreeseite hinter der Schlossbaustelle, so kann dort noch heute das Marx-Engels-Forum besichtigt werden: eine Grünanlage beziehungsweise ein Denkmalsplatz mit den Standbildern der beiden politischen Symbolfiguren der DDR-Zeit – die man inzwischen am liebsten aus der Nähe des Stadtschlosses entfernen würde. Auch dieses Forum war ursprüng-

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lich monumentaler geplant (Abb. 20) und sah ein zentrales Regierungshochhaus nach dem Vorbild Moskaus sowie ein 25 Meter hohes Marx Engels Denkmal vor.106

Abb. 21: Blick vom Stadtschloss auf das Alte Museum und den Lustgarten, um 1910

Topographisch, aber auch chronologisch dazwischen liegt der Lustgarten, den Karl Friedrich Schinkel im Zuge seines Museumsneubaus im frühen 19. Jahrhundert angelegt hatte. In seinen wie in den Planungen König Friedrich Wilhelms IV. (Abb. 21 und Abb. 22), die das Forum Romanum sogar direkt thematisierten, durchdrangen sich städtebauliche und Denkmalsvorstellungen, die dem antiken Forumsgedanken verpflichtet blieben.107 Dazu zählte auch das räumliche In-Beziehung-Setzen öffentlicher Kultur- und Institutionenbauten, die der Ver106

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Vgl. zur Debatte um die Entfernung der beiden Standbilder u. a. Thomas Fülling: Marx und Engels sollen aus Berlin-Mitte verschwinden, in: Die Welt Digital, 18.01.2012, letzter Zugriff 12.04.2015, sowie zum Marx-Engels-Forum Dietmar Keller: Denkmal Macht Spiele in Ostberlin, in: Stadtentwicklung im doppelten Berlin. Zeitgenossenschaften und Erinnerungsorte, hg. von Günter Schlusche u. a., Berlin 2014, S. 148–155; Fritz Rothstein: Vom Berliner Forum zum Marx-Engels-Platz, in: Natur und Heimat 2 (1953) 6, S. 163–166. Karl-Heinz Klingenburg: Die Pläne Friedrich Wilhelms IV. für eine Bebauung des Lustgartens, in: Studien zur Berliner Kunstgeschichte, hg. von Karl-Heinz Klingenburg, Leipzig 1986, S. 143–160.

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fasstheit des Staates sichtbaren Ausdruck verliehen, nämlich der Dom, Schinkels Museum und das gegenüberliegende Schloss, von dessen Dach aus Schinkel den Blick um 1820 auch bildlich auf den Lustgarten entfaltete.108 Das militärisch konnotierte Zeughaus bezieht Schinkel selbstverständlich in die Gesamtschau ein, handelt es sich doch um einen für den neuzeitlichen Forumsgedanken und Berlins Mitte zentralen Bau, in dem heute das Deutsche Historische Museum untergebracht ist. Umso verwunderlicher ist, dass genau dieser Bau aus den Visualisierungen des zukünftigen Humboldt-Forums ausgespart bleibt, das sich ganz auf den Inselcharakter der Museumsinsel konzentriert.109

Abb. 22: Friedrich Wilhelm IV., Vogelschau auf das von zwei Ehrensäulen geschmückte Lustgartenforum mit der geplanten Dombasilika, um 1835 108

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Die Fotografie des um 1820 datierten Kupferstichs, der Friedrich Schinkels Blick vom Dach des Stadtschlosses auf den Lustgarten zeigt, gehört zum Altbestand des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin und ist in der Datenbank „prometheus“ abgelegt. Letzter Zugriff 06.03.2015. Auch Schinkels Entwurf zum Museum am Lustgarten, 1823, bezieht das Zeughaus im Bildvordergrund in die Ansicht von Museum, Dom und Stadtschloss am Lustgarten ein. Vgl. Hermann G. Pundt: Schinkels Berlin, übers. und bearb. von Georg G. Meerwein, Frechen 2002, Abb. 77. Vgl. die Übersicht zum Umbau der Museumsinsel in Rainer Haubrich: Das Neue Berliner Schloss. Von der Hohenzollerresidenz zum Humboldt-Forum, Berlin 2012, S. 94–95.

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Es scheint, als hätten wir es beim Humboldt-Forum mit einer jener ‚Phantomzeiten‘ zu tun, in denen Bilder – nämlich Forum und Agora – wie zufällig auftauchen, ohne in ihrer konkreten Beziehung zur Antike oder den semantischen Schichten des umliegenden Stadtraumes gesehen zu werden. Es ist dieses phantomhafte Erscheinen und wie zufällige Überlagern von Forums- und Agoraplanungen, das den Bogen zum Nachleben der Antike spannt, das mehr noch als die Antikenrezeption dazu geeignet ist, den ‚Eigensinn‘ der Forumsidee zu erfassen. Georges Didi-Huberman hat sich mit dem Nachleben eingehend aus einer anderen Perspektive, nämlich dem Nachleben der Bilder auseinandergesetzt. Von Johann Joachim Winckelmanns entwicklungsgeschichtlichem Konzept der einen Geschichte der Kunst ausgehend nähert er sich einem anderen Phänomen, und zwar der „Unreinheit“ der Zeit, wenn er fragt, ob es nicht auch „eine Phantomzeit, eine Wiederkehr der Bilder, ein Nachleben gibt, das nicht dem Übertragungsmodell einer Nachahmung der antiken Werke durch jüngere unterworfen wäre? Gibt es nicht vielleicht auch eine Zeit für die Erinnerung an Bilder, ein dunkles Spiel des Verdrängten und seiner ewigen Wiederkehr, eine andere Zeit als die von dieser Kunstgeschichte, dieser Darstellung vorgeschlagene?“110 Für das Erfassen der Dynamik der Forumsidee, aber auch für das reflektierte Begleiten eines so anspruchsvollen und vielschichtigen Projekts wie des Humboldt-Forums scheinen mir diese Überlegungen zum Nachleben grundlegend relevant, da sie vielfach unsichtbare Zusammenhänge – auch der Architektur-, Stadt- und Ideengeschichte – aus einer anderen Perspektive erkennen lassen. Diese wahrzunehmen, ist für eine differenzierte Debatte über das Projekt lohnenswert. Und dies umso mehr, wenn wir an Jakob Burckhardt denken, der im 19. Jahrhundert treffend davon ausgeht, dass eine „Kultur, die ihre Erinnerung – ihr eigenes Nachleben – verdrängt, […] ebenso zur Ohnmacht verdammt [ist], wie eine Kultur, die in der unablässigen Erinnerung an ihre Vergangenheit erstarrt“.111 Dabei sollte auch nicht vergessen werden, dass Forum und Agora seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, vor allem aber seit den 1980er Jahren in einer Vielzahl von Stadt- und Platzpublikationen an den Ursprung ‚„der europäischen Stadt und ihrer öffentlich-demokratischen Raumbildung gesetzt werden“.112 Auch im Vorwort des Kasseler Kataloges heißt es: „Wann und wie immer in den vergangenen Jahrhunderten Rom als Wiege der abendländischen Kultur und als Keimzelle der europäischen Zivilisation gefeiert wurde, Ursprung und historisches Herzstück der Heiligen Stadt bleibt das Forum Romanum. […] Die Rezeption der auf dem Forum baulich verdichteten Antike hat bis auf den heutigen Tag europäische Kulturgeschichte geprägt.“113 Dass Forum und Agora nun als semantische Bezugsebenen eines der größten Bauvorhaben der Gegenwart fungie110 111 112 113

Vgl. Das Nachleben der Bilder (wie Anm. 10), S. 29. Vgl. Das Nachleben der Bilder (wie Anm. 10), S. 87–88. Vgl. auch Modell Modul Metapher (wie Anm. 28), S. 13, 19. Vgl. forum romanum (wie Anm. 2), S. 9.

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ren, in dem die so genannten „außereuropäischen“ Sammlungen gezeigt werden sollen, mangelt nicht einer gewissen Ironie – so zufällig diese auch sein mag – und könnte einer historisch-kritischen Reflexion wert sein. Denn das Forum und die Forumsidee sind nicht nur Bestandteil einer Sehnsuchts- und Wissensgeschichte, wie sie in der Kasseler Ausstellung wunderbar zu entdecken war, sondern auch einer Bild- und Architekturgeschichte, die mit dem Politischen auf das Engste verwoben ist.

Ernst Baltrusch

Thukydides und die moderne Politik 1

Einleitung

Dass Thukydides der bedeutendste Geschichtsschreiber der Antike war, ist wohl Communis Opinio in den Altertumswissenschaften. Zu nahe ist seine Methodologie, über die er dem Leser im ersten Buch seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges Rechenschaft gibt, an der heutigen Geschichtswissenschaft. Wie ein moderner Historiker erläutert er ausführlich in einem Methodenkapitel1 explizit seine Vorgehensweise, wenn er Ereignisse referiert und wenn er wörtliche Zitate und Reden einstreut: Man dürfe nicht erwarten, so sagt er, dass die Reden auch so gehalten wurden, wie er sie niederschreibt, sondern nur so, wie sie in dem Zusammenhang hätten gehalten werden müssen.2 Geradezu modern mutet es auch an, wenn er ausführt, dass man als Historiker archäologischen Funden gegenüber skeptisch sein müsse, und wie man überhaupt archäologische Funde als historische Quellen nutzen kann.3 Denn Spartas Bedeutung als Großmacht z.B. würde „nach Verlauf einer langen Zeit“ von den Archäologen jedenfalls nicht bestätigt werden können – die übriggebliebenen Ruinen könnten in Anbetracht ihrer „spartanischen“ Ausmaße keinen Hinweis auf die tatsächliche einstige Macht geben. Ähnlich verhält es sich mit Thukydides’ äußerst kritischem Umgang mit Mythen, wie der athenische Autor generell zu einem kritischen Umgang mit der Überlieferung rät.4 Hier handelt es sich also um regelrechte moderne Quellenkritik, wie wir sie von keinem der antiken Historiker sonst kennen. Und noch ein Beispiel für die überragende Bedeutung des Thukydides als Historiker: In seinem Methodenkapitel formuliert er erstmalig ein Verfahren, 1 2

3 4

Thuk. 1,20–23. Wörtlich Thuk. 1,22: „Was nun in Reden beide Gegner vorgebracht haben, teils während der Vorbereitungen zum Krieg, teils im Krieg selber, davon den genauen Wortlaut im Gedächtnis zu behalten war schwierig, sowohl für mich, was ich selber anhörte, als auch für meine Zeugen, die mir von anderswo solche berichteten. Wie aber meiner Meinung nach jeder einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen musste, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten.“ Thuk. 1,10. Thuk. 1,20.

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Ernst Baltrusch

das bis heute jede historische Analyse von Kriegen beherrscht, die Unterscheidung nämlich von „Anlässen“ und „Ursachen“ von Kriegsausbrüchen:5 Den letzten und wahrsten Grund (πρóφασιν), von dem man freilich am wenigsten sprach, sehe ich im Machtzuwachs der Athener, der den Spartanern Furcht einflößte und sie zum Krieg zwang; aber die öffentlich von beiden Seiten vorgebrachten Anschuldigungen (αἰτίαι), derentwegen sie den Vertrag lösten und den Krieg begannen, waren folgende.

Meines Wissens hat diese Unterscheidung nach Thukydides erstmalig Polybios im 2. Jh. v. Chr. zur Analyse der römischen Kriege aufgegriffen, danach wurde sie in der antiken Geschichtsschreibung, ob bei Sallust oder bei Flavius Josephus, zumindest latent immer mitgedacht, und so ist es bis heute geblieben. Jeder kann nachlesen, wie auch die hervorragenden neuen Analysen von Oliver Janz 6 („Verflechtungsgeschichte“) oder Christopher Clark7 zum Ersten Weltkrieg etwa darauf zurückgreifen, auch wenn sie sich nicht explizit auf Thukydides berufen. Thukydides hat mit diesem methodischen Verfahren ein aus der Geschichtswissenschaft nicht mehr wegzudenkendes Gesetz formuliert, das Historiker gleichsam mit der Muttermilch, sprich: in jeder Lehrveranstaltung über einen Krieg oder eine Krise, einsaugen. Hieße mein Beitrag also „Thukydides in der modernen Geschichtswissenschaft“, so käme einiges zusammen, das den Vorbildcharakter des athenischen Historikers erweisen könnte. Und ich könnte mich dabei auf ein Buch von Klaus Meister stützen, das explizit den Titel Thukydides als Vorbild der Historiker. Von der Antike bis zur Gegenwart trägt8 und die große Bedeutung für unser Fach, die Geschichte, nachzeichnet. Aber mein Beitrag bezieht sich ja auf den Gebrauch des thukydideischen Werkes „in der modernen Politik“. Was kann denn ein Werk nun bieten, das einen Krieg beschreibt, der selbst bei allergrößter Sympathie für seinen Historiker heute gewiss nicht mehr der „denkwürdigste (ἀξιολογώτατον)“ aller Kriege genannt werden kann und heute vor genau 2418 Jahren (gerechnet vom Ende des Krieges 404 v. Chr. bis 2015 n. Chr.) beendet wurde, also kaum mehr direkte Nachwirkungen haben dürfte. In der modernen Geschichtswissenschaft kann der Krieg allein durch seine Aufbereitung lange nachwirken, aber „in der modernen Politik“? Und doch: Er tut es in der Tat auch dort, wie ich an einigen Beispielen erweisen möchte. Aber für die Erklärung ist es wichtig, noch auf einen anderen

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Thuk. 1,23,6. Oliver Janz: 14 – Der Große Krieg, Frankfurt a.M. 2013. Christopher Murno Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013; im Original: The Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914, London 2012. Klaus Meister: Thukydides als Vorbild der Historiker. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2013.

Thukydides und die moderne Politik

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Aspekt von Geschichtsschreibung hinzuweisen, der uns auf die richtige Bahn bringt, warum Thukydides selbst heute noch zu Rate gezogen wird. Nach Ciceros wunderschönen Attributen an unser Fach „Geschichte“9 – testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis („Zeugin der Zeiten, Licht der Wahrheit, lebendige Erinnerung, Lehrmeisterin des Lebens und Künderin alter Zeiten“) – ist die Historia neben anderem auch magistra vitae; für moderne Politiker, aber auch manche Historiker scheint die „Vergangenheit als Lehrmeisterin der Gegenwart in Verruf“10 geraten zu sein. Sie stellt ein unerschöpfliches Reservoir von Lehrmaterial für die Gegenwart bereit, von nachahmenswerten oder zu verabscheuenden Taten, wenn man sie nur kennt. Cicero könnte diesen Aspekt von Geschichte, dass man aus ihr lernen soll, von Thukydides aus dem Methodenkapitel selbst genommen haben:11 Zum bloßen Anhören wird vielleicht durch das Fehlen des erzählerischen Elements meine Darstellung weniger erfreulich scheinen. Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer (κτῆµά τε ἐς αἰεί), nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.

Dies ist eine der relativ wenigen Äußerungen unseres Autors in eigener Sache, und mit dieser Qualifizierung seines Werkes als ein auch für die Zukunft nützliches Werk, aus dem man lernen soll, macht er das Buch nicht nur zur testis veritatis, sondern zur magistra vitae. Der philologischen und geschichtswissenschaftlichen Forschung hat das keine Probleme bereitet – für sie blieb Thukydides Geschichtsschreiber, aber sie nahm lange Zeit überhaupt nicht zur Kenntnis, was andere Disziplinen mit Thukydides machten. Irgendwann entdeckte man es, und so vertrat jüngst, 2006, Josiah Ober, ein bedeutender amerikanischer Althistoriker, die vermeintlich originelle, aber für andere Disziplinen kaum überraschende Ansicht, dass Thukydides die Politische Wissenschaft erfunden habe.12 Darin spricht der Amerikaner von einer „soziopolitischen Theorie“, die Thukydides entworfen habe, von einem „system of social and political structures“13. Wie weit diese Sicht insbesondere in den USA verbreitet ist, zeigt sich auch 9 10

11 12

13

Cic. orat. 2,9,36. Ute Frevert: Weltkriegs-Gedenken und Ukraine-Krise. „Hohes Risiko, Geschichte falsch zu deuten“, in: SZ online (2014) vom 6. September. Thuk. 1,22,4. Josiah Ober: Thucydides and the invention of political science, in: Brill’s Companion to Thucydides, hg. von Antonios Rengakos und Antonis Tsakmakis, Leiden 2006, S. 131–159. Peter Spahn: Thukydides – Politische Theorie oder Politische Geschichte?, in: Ein Besitz für immer? Geschichte, Polis und Völkerrecht bei Thukydides, hg. von Ernst Baltrusch und Christian Wendt, Baden-Baden 2011, S. 21–42.

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daran, dass der Peloponnesische Krieg fester Bestandteil des Lehrplans an Militärakademien und an der Kennedy School of Government in Harvard ist:14 Wenn Offiziersanwärtern mitgeteilt wird, daß sie den begehrten Studienplatz in Newport [i.e. Naval War College] bekommen und damit eine entscheidende Hürde in ihrer Laufbahn als Flaggoffiziere überwinden, erhalten sie ein Exemplar des Thukydides, der im Unterrichtskurs über ‚Strategie und Politik‘ als erster behandelt wird.

Aber wie zeigt sich diese Politische Wissenschaft, die gerade nicht Historie ist, nicht ein Ereignis für sich untersucht, sondern über den Einzelfall des Peloponnesischen Krieges hinausgehen will?15 2

Beispiele der Modernität

Die Bedeutung des Thukydides für die moderne Politik hat jüngst Neville Morley im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Bristol hervorgehoben, auf dessen Ergebnisse16 ich mich genauso beziehe wie auf die Arbeiten meines Kollegen an der FU Christian Wendt, der ein Thukydides-Zentrum in Berlin initiiert hat, das sich diesen Fragen insbesondere widmet: Eine erste Bestandsaufnahme ist beeindruckend. Es finden sich in der Tat Beispiele in überraschender Häufigkeit, die das Nachwirken des Thukydides bei Philosophen, Politikwissenschaftlern und sogar neuzeitlichen Politikern bezeugen und die ich als Beleg für meine These von der immer noch (oder wieder) überragenden Bedeutung des athenischen Historikers nebeneinanderstelle. Aus den Forschungen Morleys geht hervor, dass Thukydides insbesondere in der amerikanischen Politik gerne und oft herangezogen wird, wenn es politische Grundsatzentscheidungen zu rechtfertigen gilt. Diese erstaunliche Wertschätzung verlangt nach einer Erklärung. Sie könnte wohl darauf zurückzuführen sein, dass Thukydides und seine Weltsicht zu der Mächtekonstellation in der Welt und besonders in Europa vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg gut zu passen schienen und deshalb einen wesentlichen Einfluss in der Formierungsphase der „Internationalen Beziehungen“ als wissenschaftlicher Teildisziplin der Politikwissenschaft hatten. 14 15

16

Meister: Thukydides als Vorbild der Historiker (wie Anm. 8), S. 236. Den Versuch einer (nicht sehr häufigen) Verbindung von Politikwissenschaft und Alter Geschichte machen Baltrusch/Wendt (Hgg.): Ein Besitz für immer? (wie Anm. 13). Vergleiche ferner die Arbeiten von Richard Ned Lebow, besonders: The Tragic Vision of Politics. Ethics, Interests and Orders, Cambridge u.a. 2003. Thucydides and the modern world. Reception, Reinterpretation and Influence from the Renaissance to the Present, hg. von Katherine Harloe und Neville Morley, Cambridge 2012 und Neville Morley: Thucydides Quote Unquote, in: Arion 20,3 (2013), S. 9–36.

Thukydides und die moderne Politik

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Manche Passagen in seinem Werk sind bewusst überzeitlich angelegt, um die Entwicklungen im Peloponnesischen Krieg in einer allgemeineren Weise erklären zu können. Dazu gehören außer dem schon genannten Methodenkapitel der Melier-Dialog,17 der in einer (salopp gesprochen) „brutalstmöglichen“ Weise das Recht des Stärkeren formulierte, dazu gehört ferner die Leichenrede des Perikles,18 die die neue demokratische Ordnung Athens glorifizierte, und dazu gehört schließlich ebenso die Pathologie des Krieges,19 die die immer gleichen Auswirkungen von Kriegen auf die Menschen thematisiert und auf die weiter unten genauer einzugehen sein wird. Zunächst also möchte ich einige Beispiele für die Rezeption des Thukydides in der modernen Politik anführen. Sie bestätigen das Dictum des französischen Philosophen Raymond Aron (1905–1983), der bekanntlich in seiner Analyse der Internationalen Beziehungen für die Zeit von 1914–1945 vom „zweiten dreißigjährigen Krieg“ spricht: „Thukydides, der Zeuge eines tragischen Krieges, bleibt immer unser Zeitgenosse.“ In diesem Sinne möchte ich nur die von Neville Morley in seinem oben zitierten Aufsatz Thucydides Quote Unquote präsentierten Beispiele aufgreifen.20 Bei einem Hearing vor einer Kommission des amerikanischen Senats am 11. September (sic!) 1990, bei dem es um die damalige Krise am Persischen Golf ging, äußerte der republikanische Senator William Cohen, später unter Präsident Clinton Verteidigungsminister, Bedenken über den Grad an Unterstützung der USA durch ihre Verbündeten:21 Heute Morgen las ich die Schlagzeilen und Artikel in den Zeitungen, und ich muss Ihnen sagen, dass ich ähnlich verwirrt war wie Senator Kennedy. Ich ging in Gedanken zurück zu einem Autor, der über einen Krieg schrieb, der 2500 Jahre zurückliegt und ich erinnere mich, dass ich ein Statement von Thukydides gelesen habe. Er sagte nämlich, dass für die Unterdrückung eines Volkes weniger der eigentlich Handelnde verantwortlich ist als vielmehr derjenige, der nichts tut, obwohl er es verhindern könnte. Und dann gibt es noch einen Satz, an den ich mich 17 18 19 20 21

Thuk. 5,84–116. Thuk. 2,34–46. Thuk. 3,82f. Morley: Thucydides Quote Unquote (wie Anm. 16), S. 9. „I was looking at this morning’s headlines and stories, and I must tell you I was equally disturbed as Senator Kennedy. I went back to a writer who wrote about a war that took place some 2500 years ago, and I remember reading a statement by Thucydides. And he said that, ‚For the true author of the subjugation of a people is not so much the immediate agent, as the power which permits it having the means to prevent it.‘ And then there was this one phrase that I had remembered. He said, ‚Meanwhile, each fancies that no harm will come of his neglect, that it is of the business of someone else to look after this or that for him; and so, by the same notion being entertained by all separately, the common cause imperceptibly decays.‘ And, ‚To you who would call yourselves men of peace, I say: you are nothing without men of action by your side.‘“

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Ernst Baltrusch erinnere: Er sagte nämlich, dass jeder meint, das könne er ungestraft tun, und dass es jemandes anderen Sache wäre, sich darum zu kümmern. Und so ist es bei allen, die sich heraushalten, und darüber geht die gemeinsame Sache verloren […] Daher sage ich euch, die ihr euch Männer des Friedens nennt: Ihr seid nichts ohne Männer der Tat an eurer Seite.

Senator Cohen schloss seine Auslassungen mit einer Warnung vor der Vorstellung, dass die irakischen Streitkräfte in wenigen Tagen allein durch Luftangriffe ausgelöscht werden könnten. Daraufhin sagte der Verteidigungsminister Dick Cheney: „Thank you, Senator. General“, worauf Cohen, leicht ironisch, antwortete: „Ich bin geneigt zu sagen, dass Ihr Schweigen als Zustimmung ausgelegt werden kann“ (Gelächter). Darauf Colin Powell, damals Chef des Vereinigten Generalstabs (Joint Chiefs of Staff): „Wie Herr Senator weiß, sagte Thukydides auch einmal: Von allen Bestandteilen von Macht beeindruckt Zurückhaltung die Menschen am meisten“ („of all elements of power, restraint impresses men most“). Wiederum Senator Cohen: „Darf ich das so auffassen, dass Sie mit meiner letzten Äußerung einverstanden sind? Sie und Thukydides?“ („I take it, then, that you too agree with my last statement? You and Thucydides?“). Darauf wieder General Powell: „Ich stimme zu, dass eine mächtige Nation ihre Macht sorgfältig einsetzen muss“ („I agree that a powerful nation has to wield its power with care“).22 Zumindest Senator Cohen wusste genau, was er sagte. Denn als er 20 Jahre später befragt wurde, was große Führer heute noch von der Antike lernen könnten, nannte er erneut Thukydides als seine wichtigste Inspiration, und zwar weil er erkannt habe, dass die menschliche Natur an sich doch immer gleich bleibe, und das gelte gerade für die Internationalen Beziehungen und die Frage von Krieg und Frieden. Aber auch praktisch habe Thukydides ihm die Arbeit erleichtert, denn die Leichenrede des Perikles im zweiten Buch des Thukydides, dort wo Perikles den Familienangehörigen Trost spendete für den Verlust ihrer Männer,23 habe auch ihm als Verteidigungsminister die Möglichkeit eröffnet, unter die Augen der Hinterbliebenen von Terroranschlägen zu treten (wie es ebenso bereits Abraham Lincoln nach der Schlacht von Gettysburg 1863 gemacht hatte).24 Übrigens – die Stellen, die William Cohen zitierte, sind leicht auffindbar; dagegen ist es nicht gelungen, das Lieblingszitat aus Thukydides von Colin Powell zu finden –ist es wahrscheinlich eine Kontamination zweier Textstellen, wie Neville Morley herausgefunden hat. Wahrscheinlich also hat zumindest Colin Powell Thukydides nicht wirklich selbst gelesen, während Cohen sich offenkundig mit ihm auseinandergesetzt hat. Und noch zwei weitere Beispiele, die die Bedeutung des athenischen Autors für die amerikanische Politik erweisen: Das erste Beispiel ist vom amerikani-

22 23 24

Ebd., S. 9f. Thuk. 2,44. Meister: Thukydides als Vorbild der Historiker (wie Anm. 8), S. 237.

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schen Präsidenten Lyndon B. Johnson (1963–1968) und stammt aus einer Rede vom Juni 1964, in der es um die Frage ‚militärischer Einsätze in der Welt‘ geht:25 With these qualities as our foundation, we follow several goals to the single goal of peace. And what are these goals? First is restraint in the use of power […] But it was a great historian who reminded us that: ‚No aspect of power more impresses men than its exercise with restraint.‘

Und schließlich sagte ein weiterer wichtiger US-Politiker, nämlich General Martin Dempsey, Chairman of the Joint Chiefs of Staff, im Februar 2012, als die politische Zuverlässigkeit des Iran ausgiebig diskutiert wurde:26 I stand by [that remark] because the alternative is almost unimaginable. The alternative is that we attribute to them that their actions are so irrational that they have no basis of planning. You know, not to sound too academic about it but Thucydides in the fifth century B.C. said that all strategy is some combination of reaction to fear, honor and interests. And I think all nations act in response to one of those three things, even Iran. The key is to understand how they act and not trivialize their actions by attributing to them some irrationality. I think that’s a very dangerous thing for us to do.

Unabhängig davon, ob diese Politiker und Militärs richtig, ungenau oder falsch zitieren – sie zitieren Thukydides, um ihre jeweilige Ansicht zu legitimieren, einen antiken Historiker also, dessen Werk, anders als dasjenige anderer antiker Historiker, als Kronzeuge für moderne, 2500 Jahre spätere politische Entscheidungen herhalten muss. In europäischen Debatten kommt Thukydides seltener vor, doch auch da gibt es gewichtige Beispiele für die Attraktivität des athenischen Historikers. Giscard d’Estaing, von 1974 bis 1981 französischer Staatspräsident, fiel als Präambel zum EU-Vertrag 2003 ein Zitat von Thukydides, genauer: von Perikles bei Thukydides ein: Χρώµεθα γὰρ πολιτείᾳ […] καὶ ὄνοµα µὲν διὰ τὸ µὴ ἐς ὀλίγους, ἀλλ’ ἐς πλέιονας οἰκεῖν δηµοκρατία κέκληται („Die Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist“).27

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26

27

Morley: Thucydides Quote Unquote (wie Anm. 16), S. 11. Vgl. Speech delivered at the Annual Swedish Day Picnic in Minneapolis. Morley: Thucydides Quote Unquote (Anm. 16), S. 32. Der Bezug der Dreiheit „fear, honor and interests“ zu Thuk. 1,75,3 ist evident: „Gerade deshalb sahen wir uns gezwungen, unsere Herrschaft auf ihren jetzigen Stand zu bringen, vor allem aus Furcht, dann auch wegen der Ehre und endlich wegen des Nutzens.“ Thuk. 2,37 im Entwurf Vertrag über eine Verfassung für Europa von 2003, Präambel. Dieser Satz wurde jedoch wegen eines angeblich mehrdeutigen Inhalts des thukydideischen Kontextes von der Regierungskonferenz (d.h. der Konferenz der Vertreter der nationalen Regierungen der EU) gestrichen.

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Wie ist nun das alles zu bewerten? Dazu wenden wir uns nun dem Mann aus Athen und seinem Werk zu. Die nächsten Schritte gehen wie folgt vor: Zunächst ist es sinnvoll, sich Thukydides und sein Werk noch einmal in aller Kürze in Erinnerung zu rufen und dann kurz die vier Gebiete zu benennen, die Thukydides für die moderne Politik interessant machen. Vor allem aber möchte ich mich einem Text seines Werkes zuwenden, der das Rezeptionspotential in besonderer Weise deutlich macht: der thukydideischen Analyse der Stasis auf der westgriechischen Insel Korkyra,28 der sich jene bereits genannte „Pathologie des Krieges“ anschließt. Diesen Text habe ich, um die in ihm verborgenen Möglichkeiten zu verdeutlichen, auch mit Blick auf einen aktuellen Krisenfall ausgewählt. 3

Thukydides und sein Werk

Es sind nur spärliche Lebensdaten des Thukydides überliefert, wobei er selbst dafür in seinem Werk die Quelle ist. Von diesen Daten ausgehend können freilich viele Besonderheiten des Werkes erklärt werden. Er wurde vor 454 v. Chr. als Sohn des Oloros in Athen geboren, kam aus adligem Hause und schlug eine politische Laufbahn ein. Man weiß, dass er im Jahre 429 v. Chr. an der Pest erkrankte, die Athen in den Anfangsjahren des Peloponnesischen Krieges (431– 404 v. Chr.) heimsuchte. Von seiner öffentlichen Arbeit wissen wir immerhin, dass er im Jahre 424 das Strategenamt bekleidete und in dieser Funktion eine Niederlage bei Amphipolis in der nördlichen Ägäis erlitt; sein Gegenspieler, der spartanische Feldherr Brasidas, war schneller als er. Dieses Scheitern führte zu einer langjährigen Verbannung aus Athen – die Demokratie ging bereits damals sehr rüde mit nicht erfolgreichen Politikern um –, die wohl die Zeit von 424 bis 404 umfasst haben mag. Wann Thukydides genau an seinem Werk gearbeitet hat, ist umstritten. In der vorliegenden Form ist das Werk über den Peloponnesischen Krieg unvollendet geblieben; es endet im letzten Buch mit Ereignissen des Jahres 411 (nicht 404). Sein Tod, vielleicht um 395, hat ihm den Griffel aus der Hand genommen. Diese Skizze liefert wichtige Informationen, die für die Interpretation des Werkes wichtig sind. Dazu kommt sicher noch, dass Thukydides eine zu seiner Zeit geläufige Erziehung und Bildung genossen hat und also mit sophistischen Einflüssen konfrontiert war; er wird sie in seinem Werk nicht verheimlichen.29 Gewiss haben ihn die Wechselfälle in seinem Leben, die aktive Kriegsbeteiligung, das sophistische Umfeld (die bedeutendsten Sophisten waren Protagoras, Gorgias, Thrasybul und gewiss auch Sokrates) zu einem grundsätzlichen Nach28 29

Thuk. 3,69–85; die sog. „Pathologie des Krieges“ darin 82f. Zur Sophistik Klaus Meister: „Aller Dinge Maß ist der Mensch“. Die Lehren der Sophisten, München 2010.

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denken über den Krieg an sich geführt, und zwar Krieg in einer Polis, die ihn selbst entehrt hatte, in der er zwar geboren war, der er sich aber vielleicht wegen seines persönlichen Schicksals weniger verbunden fühlen konnte, in einem „internationalen“ Umfeld, das eine Vielzahl von einzelnen Staaten kannte, aber auch große Bündnissysteme und nicht zu diesen gehörende neutrale Staaten, kurz: ein von vornherein krisenanfälliges System von Internationalen Beziehungen. In einem solchen komplexen Umfeld entwickelte nun Thukydides an dem von ihm miterlebten und mitgestalteten gewaltigen Krieg zwischen Athen und Sparta, der für ihn gleichsam zwangsläufig entstanden war, seine Gedanken über die drängenden Fragen, etwa wie und warum es zu Kriegen kommen kann, wovon Sieg und Niederlage im Krieg abhängen, was man daraus lernen und wie man so etwas verhindern kann. Dementsprechend hat Thukydides sein Werk strukturiert; hier zunächst die Gliederung des Buches in tabellarischer Form: Buch I Bücher II–IV Buch V Buch VI–VII Buch VIII Bücher IX–X

Anlässe und Ursache des Krieges Der sog. „Archidamische Krieg“ (431–421)30 Der Nikias-Frieden (421–416)31 Das Desaster der „sizilischen Expedition“ Athens Der sog. „Dekeleische Krieg“ (413–411)32 fehlen

Aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive besteht kein Zweifel: Thukydides analysiert einen Krieg, erklärt den Lesern, warum er begann und warum er so endete, wie er endete. An den Brennpunkten des Werkes sind exemplarische Episoden eingeflochten, die für den Krieg an sich kein Gewicht hatten, aber als Erklärung dienen. Das Werk blieb, wie schon erwähnt, unvollendet und war ursprünglich wohl auf 10 Bücher angelegt. So steht in der Mitte jener schon erwähnte Melier-Dialog. Bei diesem handelt es sich um eine auch heute noch entlarvende Debatte, in der der Aggressor, das mächtige Athen, den Angegriffenen, das kleine und neutrale Melos, mit dem Recht des Stärkeren konfrontiert.33 Dieser Konflikt war nicht kriegsentscheidend, aber er entlarvte in einer bisher nie gekannten Deutlichkeit die Hybris der Athener, die Melos schließlich zerstörten und sich anschließend in das desaströse sizilische Abenteuer warfen. Thukydi30 31

32

33

Benannt nach dem spartanischen König Archidamos. Benannt nach dem für das Zustandekommen des Vertrages wichtigen athenischen Politiker. Benannt nach einer Ortschaft im Norden Attikas, die von Sparta zu einer Festung angelegt wurde, um Athen bedrohen zu können. Die Athener sagen, bis an die Zähne gerüstet, zu den Meliern in dem Dialog (Thuk. 5,89): „Nein, im Rahmen des von uns als wahr Erkannten sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.“

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des, der diese Analyse nicht in eigener Person vornimmt, sondern der Debatte Authentizität verleiht, indem er sie gleichsam protokolliert, hat bestimmt nicht von ungefähr diesen Dialog an dieser Stelle mitten in seinem Werk referiert. Ich will mich aber im Folgenden nicht mit dem Melier-Dialog befassen, sondern ein anderes, ebenfalls viel diskutiertes Kapitel untersuchen, das das Rezeptionspotential des Historikers ebenso verdeutlicht. Bevor aber das konkrete Beispiel, der Korkyra-Konflikt, in den Blick genommen wird, sollen die meiner Meinung nach zentralen vier Punkte benannt werden, die das Rezeptionspotential des Thukydides für die moderne Politik besonders deutlich werden lassen. 4

Das Rezeptionspotential

Bereits 1925 beschrieb der britische Kriegsjournalist George Frederick Abbott in einem Buch über Thukydides dessen Leistungen so:34 Kaum ein Thema, das für Staatsmänner relevant ist, wird ausgelassen. Denn hier werden die Vorteile und Gefahren für komplette Isolation behandelt (Korkyra I 32), das Prinzip „Teile und Herrsche“ angesprochen (VI 77; 79), die Vorzüge von Seeherrschaft (I 142f.; II 62) und die Schwächen von Bündnissen (I 141), wie man mit rebellischen Verbündeten umgehen kann – ob mit Strenge oder lieber mit Großmut (III 39f.; 44–48) –, und viele weitere Fragen von immerwährendem Interesse werden mit einer Klarheit diskutiert, die nie wieder erreicht wurde.

Und Abbott hatte Recht: Das Rezeptionspotential bei Thukydides ist gewaltig. Ich nenne vier Bereiche, die nicht der Geschichtswissenschaft zuzurechnen sind, sondern seine Rolle auf ganz unterschiedlichen Feldern erhellen. Es soll bei dieser Nennung bleiben, während im Folgenden dann auf das konkrete Beispiel einzugehen ist, mit dem das Potential ausgefüllt werden kann. 1. Thukydides als Urvater der politischen Theorie, oder wie es Josiah Ober ausdrückte: „his approach amounted to nothing less than the invention of a new discipline, political and social science“.35 Der Zusammenhang von allgemeinen

34

35

George Frederick Abbott: Thucydides. A Study in Historical Reality, London 1925, S. 42: „Hardly a problem of statesmanship is left untouched. Here is shown an island state whose constant policy had been to keep out of entangling alliances suddenly waking to the perils of isolation (I. 32); there the aim of another state’s diplomacy as being, under specious pretences, to subdue by dividing (VI. 77, 79). The advantages of sea-power (I. 142, f.; II.62), the weaknesses inherent in the nature of a coalition (I. 141), the respective merits of severity and magnanimity towards rebellious subjects (III. 39–40; 44–48), and many other questions of perennial interest are discussed with a perspicacity which has never been excelled.“ Ober: Thucydides and the invention of political science (wie Anm. 12), S. 132.

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Wahrheiten, von gesellschaftlichen Ordnungen und der Kunst des politischen Handelns bei Thukydides bietet für Politologen und Soziologen eine Fülle von Anknüpfungspunkten, wie etwa die von Ober diskutierte Polarisierung von Modernität und Traditionalismus in der athenischen Demokratie. Die Einflüsse des Werkes auf Max Weber, Leo Strauss, Hannah Arendt, Eric Voegelin, sogar Ernst Jünger u.a. sind Legion und auch schon viel behandelt worden.36 2. Thukydides als Theoretiker der Demokratie: Die Leichenrede des Perikles kennzeichnet einerseits die Demokratie als eine von Institutionen abstrahierte Form von Verfassung, die auf den Pfeilern Gleichheit und Freiheit beruht (so können bei allen Unterschieden die antiken Ideale auch als Vorbilder für die Moderne genommen werden); aber andererseits kann Thukydides auch als extremer Kritiker der Demokratie und Anhänger des „Führerstaates“ gedeutet werden. 3. Thukydides als Urvater der Disziplin der Internationalen Beziehungen: Insbesondere die Richtung des Realismus, der sich gegen den zwischenstaatlichen Idealismus wendet, dass sich nämlich Außenpolitik an universell gültigen Normen orientieren sollte, beruft sich u.a. auf den Melier-Dialog und auf den „wahrsten Grund“ des Peloponnesischen Krieges. Aber genauso lässt sich Thukydides für konstruktivistische und idealistische Theorien vereinnahmen, wie Christian Thauer nachgewiesen hat.37 Hier hat er eine solche Bedeutung erlangt, dass sich David A. Welch (Centre for International Governance Innovation in Waterloo, Canada) gar bemüßigt fühlte, vor wenigen Jahren demonstrativ zu fordern: „Why International Relations theorists should stop reading Thucydides.“38 4. Thukydides Beitrag zum modernen Völkerrecht: Hugo Grotius, einer der Väter des modernen Völkerrechts, zitiert Thukydides ganz am Anfang in den Prolegomena seines epochemachenden Werkes, das 1625 unter dem Titel De iure belli ac pacis ans Licht der Öffentlichkeit trat und erstmalig umfassend und weitgehend aus antiken Texten geschöpft das zwischenstaatliche Recht über 36

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Der Einfluss auf Ernst Jünger etwa wurde jüngst in einem Vortrag von Christian Wendt herausgearbeitet, der demnächst publiziert wird; ferner verweise ich auf die Publikation einer internationalen Tagung über Between Anarchy and Order. Herrschaftskonzeptionen bei Thukydides, die 2012 an der FU Berlin stattfand. Diese Tagung hatte das Ziel, Politikwissenschaft und Alte Geschichte in Thukydides zu verbinden. Die Beiträge sind erschienen in: Thucydides and Political Order, Bd. 1: Concepts of order and the history of the Peloponnesian war, Bd. 2: Lessons of governance and the "History of the Peloponnesian war, hg. von Christian R. Thauer und Christian Wendt, Basingstoke/New York 2016. Christian R. Thauer: Thukydides und antikes Völkerrecht aus Sicht der Internationalen Beziehungen. Ein Perspektivwechsel, in: Baltrusch/Wendt (Hgg.): Ein Besitz für immer? (wie Anm. 13), S. 195–214. Näheres dazu am Ende dieses Beitrages. David Welch: Why International Relations theorists should stop reading Thucydides, in: Review of International Studies 29,3 (2003), S. 301–320.

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Krieg und Frieden darstellte. Allerdings zitiert Grotius Thukydides nicht als Beleg für die Existenz von Völkerrecht, sondern im Gegenteil als Kronzeugen ausgerechnet jener Kollegen, die ein ius inter populos (so bezeichnet der Niederländer „Völkerrecht“) leugnen, denn, so lautet das thukydideische Zitat, „einem König oder einer imperialen Macht sei nichts ungerecht, was nützlich sei“.39 5

Thukydides über den Bürgerkrieg auf Korkyra (3,69–95)

Nach diesem allgemeinen Blick auf die vielfältigen Perspektiven, die das Werk des Thukydides eröffnet, möchte ich mich nun einem ganz konkreten Fall zuwenden, um daran deutlich zu machen, dass und wie in Thukydides mehr als nur ein Historiker gesehen werden konnte. Diesen Fall möchte ich in mehreren Stufen diskutieren: 1. Zunächst zum allgemeinen „internationalen“ Umfeld, in dem sich dieser Konflikt abspielte: Den zeitlichen Rahmen, in dem auf Korkyra das Licht der Geschichte fällt, bilden die acht Jahre zwischen 435 und 427. Die griechische Welt war zu dieser Zeit dreigeteilt in den Attischen Seebund mit der Vormacht Athen, den Peloponnesischen Bund mit Sparta als Hegemonialmacht und den Neutralen (in der Sprache der Zeit die ἄγραφοι πόλεις). Dafür verantwortlich war ein Vertrag von 446/445 zwischen Athen und Sparta,40 der einen ersten gewaltsamen Konflikt zwischen den beiden Mächten unter Einschluss ihrer Verbündeten beenden sollte (den „Ersten Peloponnesischen Krieg“). Dieser Vertrag stellte demnach eine völkerrechtliche Festschreibung des Status quo dar, d.h. die Dreiteilung der griechischen Welt war verbindlich: Gewalt wurde ausgeschlossen, Einmischung in die jeweils andere Gruppe war verboten, der Ein- oder Austritt aus einem der Bündnisse war nicht freigestellt, sondern musste nach klaren Regeln erfolgen, eine Ausweitung der Bündnisse war also nur mit Zustimmung aller Parteien erlaubt. Krisen sollten friedlich durch Schiedsverfahren beigelegt werden. Die politische Autonomie der Poleis, sofern sie den Bündnissen angehörten, war damit juristisch aufgehoben, Gewalt war bei den Hauptstädten der Bünde monopolisiert, und folglich war, auch wenn das nicht intendiert war, die Reichsbildung der Athener und Spartaner bekräftigt. Das war eine Reglementierung bisher nicht gekannten Ausmaßes, die zur Friedenswahrung zwischen den Großmächten als Ziel in die inneren Angelegenheiten einzelner Städte eingriff und (politische, wirtschaftliche, kultische) Beziehungen zwischen Städten, die

39 40

Thuk. 6,85,1. Zu diesem Vertrag und dem folgenden, vgl. Ernst Baltrusch: Symmachie und Spondai. Untersuchungen zum griechischen Völkerrecht der archaischen und klassischen Zeit (8.–5. Jahrhundert v. Chr.), Berlin/New York 1994 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 43), S. 158–169.

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verschiedenen Bündnissen angehörten, kappte (und das für rechtmäßig erklärte). Daraus erwuchsen gerade jene Konflikte, die in den großen Peloponnesischen Krieg 431 mündeten. Diese Konflikte, die ohne den Vertrag von 446/5 gar nicht aufgetreten wären, bildeten nun für Thukydides die Anlässe, während er als Ursache des Krieges die Beziehungen zwischen Athen und Sparta, letzten Endes also den Friedensvertrag von 446/5 einschätzt. 2. In diesem Szenario spielt die Inselpolis Korkyra (heute Korfu) seit 435 eine zentrale Rolle.41 In ihrem Schicksal spiegelt sich die verworrene und überregulierte internationale Lage, denn Korkyra konnte wie alle anderen Poleis außer den Großmächten nicht wirklich frei über ihre Außenpolitik entscheiden. Die Situation der Inselpolis war auch wirklich verwickelt: Ursprünglich als Tochterstadt an Korinth gebunden, damals eine der wichtigsten Mächte im Peloponnesischen Bund, hatte sich Korkyra von der Mutterstadt emanzipiert und war nun neutral, gehörte auch nicht zum Peloponnesischen Bund und war unabhängig und besaß eine große Flotte, während Korinth weiterhin versuchte, in Korkyra hineinzuregieren. Als sich beide Städte über Epidamnos, eine gemeinsam gegründete Tochterstadt, überwarfen, übertrugen sich, wie das zu gehen pflegt, die äußeren Spannungen ins Innere, d.h. eine starke Partei in Korkyra, die Demokraten, suchte den Anschluss an Athen. Damit war aber, wie man sich denken kann, ein völkerrechtliches Problem verbunden, denn die Korinther wehrten sich gegen eine korkyräisch-athenische Verbindung; sie zählten Korkyra vielmehr zum eigenen Rechtsbereich. Die Athener, die gerne auf Korkyra aus strategischen Gründen (Lage, Flotte) zugegriffen hätten, waren indes unschlüssig, hielten aber letzten Endes die Position Korkyras für „nützlicher“, daher gingen sie z.T. darauf ein und bogen sich die völkerrechtliche Argumentation so zurecht, wie sie sie brauchten. Dass Athen aber andererseits keinen großen Krieg wegen eines Vertragsbruches riskieren wollte, sieht man daran, dass sie Korkyra nicht in das eigene Bündnis aufnahmen, sondern nur eine „Epimachie“, d.h. einen Symmachie-Vertrag zum Schutz vor Angriffen abschlossen.42 Verkompliziert wurde die Lage noch dadurch, dass auch die politische Lage in Korkyra in sich gespalten war – denn ein Teil, nämlich das Volk und die Demokraten, wollte die Beziehungen zu Athen intensivieren, die Oberschicht und die Oligarchen wollten dagegen mit Korinth und dem Peloponnesischen Bund zusammengehen, denn sie hatten als Handelsmacht Angst um ihre Pfründe und befürchteten eine Demokratisierung des Staates durch die Athener. Die Diskussionen, die Thukydides43 uns überliefert hat, drehten sich primär um völkerrechtliche Fragen: Wer steht mit 41

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Unter anderem Blickwinkel, aber instruktiv dazu vgl. Edith Foster: Thucydides, Pericles, and Periclean Imperialism, Cambridge u.a. 2010, S. 44–79. Thuk. 1,44. Sie stellten sich dagegen, eine Symmachie mit der Freund-Feind-Klausel abzuschließen, sondern sie vereinbarten eine „reduzierte Symmachie“ mit gegenseitiger Hilfeleistung bei Angriffen von außen („Schutzklausel”). Dazu: Baltrusch: Symmachie und Spondai (wie Anm. 40), S. 71. Thuk. 1,24–55.

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seinem Tun im Einklang mit dem Vertrag von 446/5 und wer nicht? Einen „Weltkrieg“ (einen Krieg also, der in Europa, Asien und Afrika geführt werden würde) riskieren wollte keine Seite, aber zurückstecken auch nicht. Man verhandelte auch, aber ohne Ergebnisse, und stellte immer neue Vorbedingungen für die Gespräche.44 Am nächsten an einen Krieg kam man, als die Korinther militärisch rüsteten und an den Grenzen von Korkyra Schiffe positionierten. Jetzt appellierte die bedrohte demokratische Partei der Korkyräer an die Athener und an die „Ehre“ in der Politik, einen Begriff, der bei Thukydides so etwas wie das Gewissen einer imaginären Weltöffentlichkeit repräsentiert.45 Schließlich kam es tatsächlich zu Kämpfen, aber die blieben regional begrenzt: Eine Eskalation wollte man auf allen Seiten verhindern, weil keine Partei die Schuldige an einer Vertragsverletzung sein wollte. Die Korinther schienen einzulenken, pfiffen zunächst die Oligarchen auf Korkyra zurück und zogen ihre Truppen von den Grenzen ab. Thukydides kommentiert das Geschehen nicht, sondern referiert es einfach, mit einer Konzentration auf die wesentlichen Streitpunkte, die er aber nicht selbst vorbringt, sondern in Redekompositionen von Korkyräern, Korinthern und Athenern gleichsam authentisch vorbringen lässt. Der Leser hat den Eindruck, eine umfassende Analyse, aber ohne Wertung des Autors erhalten zu haben, sodass er nun selbst gefordert ist und die Lehren aus den Geschehnissen und den von Thukydides berichteten Positionen ziehen muss. Die Beteiligten haben alle nachvollziehbaren Argumente, die sich im Kern um das Völkerrecht drehen; sie wissen, dass ein Krieg angesichts der Kräfteverhältnisse zu riskant ist.46 Der eigene Nutzen, den sie erwarten können, wird übrigens immer von der Gegenseite formuliert, sodass die Aspekte Ehre (Weltöffentlichkeit, Völkerrecht), Furcht (vor Nachteilen entweder des Krieges oder einer Übervorteilung) und Nutzen (Verstärkung der eigenen Macht) zur Sprache kommen, ohne dass Thukydides seine eigene Einschätzung von der Gewichtung mitteilt.47 3. Damit hat die erste Phase des Konfliktes ein Ende gefunden, und die Lehre daraus ist: Solange sich die beteiligten Mächte zurückhalten und keinen Krieg riskieren wollen, sind auch den Korkyräern die Hände gebunden. Die Korinther ziehen ab, die Streitigkeiten innerhalb der Parteien gehen zwar verbal weiter, aber die Eskalation ist vorerst verhindert. Doch dabei bleibt es bekanntlich nicht. Es häufen sich in der folgenden Zeit die Streitigkeiten auch in anderen Weltgegenden zwischen den Bünden, und so kommt es 431 zum großen Krieg zwischen Athen und Sparta. Die Dinge haben sich auch für die Verhältnisse in Korkyra fundamental verändert: Jetzt ist „Weltkrieg“, und so flammt der Konflikt auch in Korkyra erneut auf. Wieder nimmt er seinen Ausgang von Korkyra selbst und 44 45 46

47

Thuk. 1,39. Thuk. 1,33,1. D.h. es herrscht die Lage eines „gleichen Kräfteverhältnisses“, bei dem das Recht gelten muss: Thuk. 5,89: „[…] ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt […].“ Thuk. 1,75,3.

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der Spaltung der Parteien. Im Folgenden gehe ich zunächst kurz auf die konkreten Entwicklungen des Konfliktes ein, um mich dann der „Pathologie des Krieges“ zuzuwenden. a)

Die konkreten Entwicklungen (Thuk. 3,69–81)

Die Entwicklung im Einzelnen, wie sie bei Thukydides geschildert wird, kann an dieser Stelle nicht rekapituliert werden; ich werde mich auf die zentralen Aspekte beschränken. Es gibt, wie in der ersten Phase, sechs Parteien, zwei auf Korkyra und vier äußere Parteien. Die innenpolitischen Parteiungen sind 1. die zu Athen neigenden Demokraten, die Mehrheit der Bürger; ihr Anführer heißt Peithias;48 2. die zu Sparta und dem Peloponnesischen Bund neigenden Oligarchen; ca. 250 von ihnen waren in Korinth nach der Schlacht bei Sybota verblieben. Sie kehrten zurück und agierten nun für einen Anschluss an die Peloponnesier. Dazu kommen die außenpolitischen Akteure, nämlich (fortlaufend nummeriert) 3. eine spartanische Flotte von 40 Schiffen, die nach einer gescheiterten Expedition nach Lesbos unter Brasidas und Alkidas einen Erfolg suchte, den sie auf dem gespaltenen Korkyra zu erreichen hoffte; 4. eine zwölf Schiffe starke Flotte der Athener, die bei Naupaktos lauerte und abwartete, immer bereit sofort Verstärkung aus der Heimat anzufordern; 5. die Korinther, die korkyräische Geiseln, die auf ihrer Seite waren, zur weiteren Destabilisierung nach Korkyra entsandten; und schließlich 6. die Athener zuhause, die korkyräische Gesandte festsetzten (Thukydides sagt nicht, warum49) und entschlossen waren, Korkyra nicht an die Peloponnesier zu verlieren. In Korkyra selbst spielten sich die Konflikte und Streitereien im Rat und in der Volksversammlung, schließlich auf den Straßen ab. Diplomatische Aktivitäten umrahmten das Konfliktgeschehen, aber sie dienten nicht der Deeskalation – wie noch zu Anfang –, sondern der möglichst umfassenden Einbeziehung von ausländischem Militär zur eigenen Stärkung, und die fremden Flotten hatten vornehmlich das Ziel, möglichst verlustfrei möglichst viel Nutzen für das eigene Gemeinwesen einzubringen. Die Entwicklung eskaliert in einer sich immer weiter hochschaukelnden Klimax bei Thukydides. Dabei kann man bei seiner Gestaltung des Geschehens keinen sofort greifbaren Hauptverantwortlichen ausfindig machen, sondern es wird ein Szenario entworfen, bei dem alle Beteiligten zunehmend selbstherrlich agieren und schließlich jedes Maß verlieren: Die auswärtigen Mächte, weil sie ohnehin im Krieg gegeneinander und ohne Hemmungen auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, die Korkyräer, weil sie auf die Stärke ihrer jeweiligen äußeren Verbündeten vertrauen. Zuerst sind die Oligarchen mit peloponnesischer Unterstützung überlegen, dann wieder das Volk mithilfe der Athener. In der öffentli48 49

Thuk. 3,70,3. Thuk. 3,70f.

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chen Wahrnehmung möchte jede Partei immer als Opfer dastehen, der Gegner soll durch die Vorwürfe ausgegrenzt werden: Zuerst habe er, der Gegner, das Völkerrecht verletzt und dann die Götter;50 schließlich eskaliert alles in Gewalt und Bürgerkrieg. Das Geschehen verlagert sich von nun an auf die Straße. Zuerst waren es noch Gerichtsverfahren, die den Gegnern angedroht wurden, dann verstieg man sich zu Schreiereien auf den Straßen, zu Gewaltausbrüchen unter Männern, schließlich mischten auch Frauen und Kinder mit Steinen und Wurfgeschossen mit. Bürgerkrieg beherrscht jetzt die Stadt.51 Worum es eigentlich ging, ob um die Verfassung oder um die Unabhängigkeit oder um den Anschluss an Bündnisse, das lässt Thukydides im Unklaren – eine irrationale Spirale von sinnloser Gewalt, von Betrug, Mord und Missachtung aller Autoritäten (selbst der Götter) im Innern Korkyras hat alles im Griff und verdrängt überhaupt jede Vernunft. Und draußen vor den Toren der Stadt lauern die Großmächte, um sich einzumischen und ihren „Nutzen“ aus der Stasis zu ziehen oder um Prestigeverluste zu vermeiden. Eine Steigerung scheint kaum mehr möglich. Dieses konkret in Korkyra sich bietende Schauspiel bildet nun den Hintergrund für allgemeine Reflexionen des Historikers über den Menschen an sich und sein Handeln in Kriegszeiten. Heute tragen diese Reflexionen die Bezeichnung „Pathologie des Krieges“. b) Die „Pathologie des Krieges“ (Thuk. 3,82f.) Zunächst zu diesem einzigartigen Abschnitt und seinem Aufbau: I. Den Anfang des Schreckens (§1) machen die Ereignisse auf Korkyra: Der Peloponnesische Krieg hatte dort notwendigerweise eine solche brutalisierende Wirkung, die die Friedenszeit noch unterdrückt hatte. II. Die Verallgemeinerung für die Welt (§2): Menschen verhalten sich immer so, im Krieg und im Frieden: ὁ δὲ πόλεµος ὑφελὼν τὴν εὐπορίαν τοῦ καθ᾽ ἡµέραν βίαιος διδάσκαλος καὶ πρὸς τὰ παρόντα τὰς ὀργὰς τῶν πολλῶν ὁµοιοῖ („Der Krieg aber, der die Annehmlichkeit des täglichen Lebens raubt, ist ein harter [‚gewalttätiger‘] Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menge den Gegebenheiten des Augenblicks an“). III. Die Erscheinungsformen der Stasis an sich (§3–7): 1. Allein die Nachricht stimuliert (§3); 2. Verkehrung aller Namen und Sitten (§4); Begriffe, TugendLaster, Verwandtschaft tritt hinter Parteizugehörigkeit zurück (§6); traditionelle

50 51

Thuk. 3,70. Thuk. 3,72–74.

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Bindungen heben sich auf, Treue, Zuverlässigkeit nur noch Ausdruck von Falschheit (§7). IV. Die Analyse (§8): Ursache dafür ist, dass Herrschsucht und der Ehrgeiz der Anführer die Sache (Isonomie, Aristokratie) instrumentalisieren und die Unbeteiligten vernichten. V. Folge (83): Sittenverderbnis, Misstrauen, Gewalt bei den „geistig Schwächeren“ – kurz Gewalt als Kampfmittel. Dieser Text, als Kommentar zu den zuvor nüchtern berichteten Ereignissen gedacht, resümiert, und zwar nicht konkret-politisch, sondern allgemein-anthropologisch. Arnold Wycombe Gomme, der nach wie vor unübertroffene Kommentator des Thukydides schreibt dazu: „Er (Thukydides) behaftet niemanden ausdrücklich mit Schuld, weder eine Partei noch einen Staat […] Es passierte einfach, und es wird wieder passieren, im Krieg oder einer bestimmten politischen Situation.“ 52 Für Josiah Ober ist dieser Abschnitt Politikwissenschaft pur, weil er die Verflechtung globaler und regionaler Konflikte beschreibt, die verheerenden Folgen des Konflikts zwischen Modernität (Demokratie) und Traditionalismus (Oligarchie) in den Blick nimmt mit all ihren gesellschaftlich destabilisierenden Begleiterscheinungen. Im Grunde präsentiere Thukydides hier nicht bloß einen auf globaler und regionaler Ebene ausgetragenen konkreten Konflikt, sondern er stelle Gesetzmäßigkeiten fest, wenn interdependente Gesellschaften vor neue Herausforderungen gestellt werden. Altehrwürdige Werte und Bindungen würden immer dann in Frage gestellt, wenn sie keine Antwort mehr auf die Probleme der Zeit geben können. Thukydides impliziert, dass diese Entwicklung generell und früher oder später überall passiere:53 Die „Einfachheit“ (εὔηθες) ist dahin. Das alles passiert regelhaft, jederzeit erwartbar, weil Menschen so sind, wie sie nun mal sind, und von dieser Gewissheit ausgehend – und nur von daher – kann jeder Leser Lehren daraus ziehen, nicht mehr, nicht weniger. Eine Handlungsanweisung freilich, d.h. wie man mit solchen Konflikten am besten umgeht, gibt Thukydides hier wie sonst nicht. Damit wird von vornherein klar, dass die Lehren, die die modernen Internationalen Beziehungen daraus ziehen, nicht die sein können, die Thukydides meint. 4. Der „Besitz für immer“ (κτῆµά τε ἐς αἰεί). Die Analyse des KorkyraKonfliktes hat für Thukydides also Allgemeingültigkeit. Wir können sie, wenn 52

53

Arnold W. Gomme: A Historical Commentary on Thucydides. The Ten Years War, Books II–III, Bd. II, Oxford 1956, S. 385: „[…] but here, too, he will not expressly attach blame to anyone, not to one party or state [rather than another, nor to any individual – not, for example, to Eurymedon by contrast with Nikostratos]. It was something which happened, and which, given war and certain political conditions, we must expect to happen.“ Thuk. 3,82,3.

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denn einmal wieder vergleichbare Verhältnisse eintreten, wieder erwarten. Was aber ist nun der „Besitz für immer“? Was intendierte Thukydides? Er liefert keinen Ratschlag, wie man den Bürgerkrieg verhindert, einhegt oder einschränkt. Er gibt selbst überhaupt kein Urteil ab. Die Geschichte spricht geradezu für sich selbst, so scheint es. Der Autor beschreibt einfach den Gang der Ereignisse in einem konkreten, individuellen Kontext, um sich dann vom Konkreten ins Allgemeine zu begeben, wörtlich zu „abstrahieren“, und unter der Prämisse, dass das „Wesen der Menschen immer gleichbleibt“54, zu konstatieren, was notwendigerweise passieren muss – immer und überall, früher oder später. Damit kann der Leser, nach dem Methodenkapitel, das Vergangene in seinem Kern erkennen (σαφὲς σκοπεῖν), und mit dieser (Er-)Kenntnis auch Zukunftsforschung betreiben. Man erhält bei Thukydides also gerade nicht eine Handlungsanleitung, sein Werk ist in diesem Sinne kein Lehrbuch für Politiker, wie Christian Wendt zu Recht hervorhebt.55 Thukydides gibt keinen Rat, wie man Staseis vermeidet oder wie man den Frieden in der Welt erhält oder wie man seine Rolle als Weltmacht ausüben soll. Das meinte er nicht mit „Besitz für immer“. Aber wie menschliches Handeln, damit auch staatliches Handeln regelhaft abläuft, wie und warum Konflikte eskalieren, welche Faktoren Staaten und Menschen an Regeln binden und wann diese Bindungen sich auflösen, das kann an einem konkreten Krieg wie dem Peloponnesischen Krieg exemplarisch analysiert werden. Welche konkreten Lehren dann Politiker von Großmächten und von politischen Parteien in Kleinstaaten, welche die militärischen Führer daraus ziehen, das liegt in der Verantwortung der Leser. Und solche Leser des Thukydides gibt es – das passiert nicht allen antiken Autoren – auch heute noch (wenn man von den Fachkollegen einmal absieht), wie das folgende aktuelle Beispiel zeigt. In der britischen Zeitschrift für Politik und Kultur „The Spectator“ schrieb nämlich der Journalist Peter Jones am 10. Mai 2014 unter der Überschrift: Ukraine vs. Sparta. Lessons from Thucydides on the present crisis:56 Revenge was more important even than self-preservation, while pacts were made merely to overcome temporary difficulties. Neither justice nor the interests of the people prevented men doing anything to win power by any means, and those who relied on policy rather than brute force were easily destroyed. Conscience was ignored: more attention was given to the man who could justify outrages attractively. Those who remained neutral fell victims to both sides. From the IRA to Syria and now Ukraine – as Thucydides concluded: ‚so it will always be, while human nature remains the same.‘

54 55

56

Thuk. 3,82,2. Christian Wendt: Thucydides as a statesmen’s manual?, in: Thauer/Wendt (Hgg.): Thucydides and Political Order (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 151–167. Peter Jones: Ukraine vs. Sparta. Lessons from Thucydides on the present crisis, in: The Spectator, letzter Zugriff: 10.05.2014.

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Die Parallelen zwischen der Ukraine des Jahres 2014 n. Chr. und der Stasis auf Korkyra des Jahres 427 v. Chr. fällt also nicht nur Althistorikern auf. Denn in der Tat, eine vergleichbare Situation treffen wir aktuell in der Ukraine an. Die Ukraine57 ist heute ein gespaltenes Land, dessen Ostteil russisch und dessen Westteil westlich orientiert ist, oder vielleicht auch, wie Josiah Ober sagen würde, verfangen ist in einem Spannungsverhältnis zwischen Traditionalismus und Modernität (wenn man diese Wertung einfügen darf). Die Akteure sind im Wesentlichen fünf Gruppen: Zwei Parteien in der Ukraine, nämlich die ukrainische Regierung und die Separatisten im Osten des Landes, sowie Russland (gewissermaßen das „Sparta“ im Konflikt), die USA und die EU (wenn man diese überhaupt einheitlich sehen sollte). In dem Handeln und Reden dieser politischen Gruppierungen spiegeln sich die thukydideischen Aspekte Ehre, Furcht und Nutzen wider. Den Anfang nahm die Krise in der Ukraine selbst (wie in Korkyra), die Eskalation läuft aber über die Großmächte. Denn die ukrainischen Parteien radikalisieren sich, weil sie jeweils von ihrer jeweiligen Mächtekonstellation unterstützt und nicht gezügelt werden. Denn wie in den antiken Bündnissen gibt es ebenso heute – aus welchen Gründen auch immer – radikalisierende Gruppierungen, sowohl in den USA, der EU (hier sind es in erster Linie die osteuropäischen Staaten, die sich vor russischem Ausgreifen fürchten) als auch in Russland. Wir sind im Moment noch nicht in der Situation der thukydideischen „Pathologie des Krieges“, weil auch die äußeren Mächte – hier der Westen, dort Russland – (noch) nicht Krieg gegeneinander führen, aber die Nachrichten in den letzten Wochen sind beunruhigend. Wenn Putin, Obama und die europäischen Politiker Thukydides gelesen haben sollten (was eher unwahrscheinlich ist), was könnten sie gelernt haben (denn diese sind die wahrhaft Verantwortlichen, nicht die „korkyräischen Ukrainer“)? Es gibt zwei mögliche Lehren, eine machtpolitische und eine friedenssichernde: Entweder also würden sie, jede Seite für sich, Wege suchen, um den eigenen Einfluss, den Nutzen also, gegen den Anderen zu steigern (auch dies steckt ja in der Analyse des Thukydides). Das Risiko eines Krieges müssten sie in diesem Fall in Kauf nehmen, ja, er wäre, wenn beide Seiten so verfahren, unvermeidlich; das ist die eine Lehre aus Thukydides. Oder aber sie könnten, da sie ja in der „Pathologie“ lesen, wie schlimm alles werden wird, mäßigend auf jeweils „ihre“ ukrainische Partei einwirken. Das tun sie jetzt nicht, wodurch sich die Lage verschlimmert, denn durch den jeweils bedingungslosen Rückhalt für die ukrainischen Parteien fühlen sich diese ermutigt. Dabei lehrt doch Thukydides: Wenn es zum Krieg kommt, wenn die „Pathologie“ Realität wird, dann leiden alle, aber zunächst würde es die Ukraine selbst treffen, die in Flammen aufgehen würde (also sollte man Thukydides auch in der Ukraine lesen), dann aber auch die ganze Welt (wie die griechische Welt in den Jahren 431–404 v. Chr.). Aber zur „Pathologie“ gehört gerade auch, dass die Vernunft 57

Ebenfalls übrigens ein Land, das sich wie Korkyra von der Vormacht „emanzipiert“ und auf der Suche nach dem eigenen Weg sich nach Westen orientiert hat.

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auf der Strecke bleibt. Und dann ist alles zu spät – wie auf Korkyra. Wer also Thukydides liest, könnte das lernen – und als Konsequenz jetzt auf Vernunft setzen, denn ab einem bestimmten Zeitpunkt ist es dafür zu spät. Wir nähern uns, geht man nach der Rhetorik westlicher und russischer Politiker, bedenklich diesem Zeitpunkt. Die „Danziger Rede“ des Bundespräsidenten Joachim Gauck enthält mehrmals ein programmatisches „Die Geschichte lehrt uns, dass […]“, aber gewiss ist der Inhalt der Rede von Thukydides nur teilweise gedeckt. Sie gehört mit ihrer „Eskalation der Worte“ (Ulrich Herbert) zur „Nutzen“Perspektive einer einzigen Seite und ist kein Beitrag zur Lösung des Konflikts,58 weil sie einseitig ist und „Prinzipienfestigkeit“ des Westens mit „Deeskalation“ verbindet, was schon eine Verkehrung der Begriffe ist. Mit anderen Worten: Für Thukydides wäre die Rede eine selbstbezogene, egoistische, „einseitige“ Rede, die zu den Konsequenzen, welche in der „Pathologie des Krieges“ ausgemalt werden, führen muss. Man müsste aber vielmehr auf allen Seiten, entscheidend aber auf der Seite der Mächte, daran arbeiten, das Unregelhafte wieder zu ordnen und eine verbindliche Rechtsordnung zu schaffen, die wieder an den Anfang von Kapitel 82 führt: Eine völkerrechtlich verbindliche Friedensordnung zu installieren, die zwar nicht den Menschen ändert, ihn aber einhegt und hindert, sich auszutoben. Die Stasis von Korkyra hätte nicht eskalieren können, wenn sich Sparta und Athen geeinigt hätten. 6

Thukydides in den Internationalen Beziehungen

Doch der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die sich mit Thukydides auseinandergesetzt hat, geht diese Art „Lernen aus der Geschichte“, wenn er von „Besitz für immer“ spricht, nicht weit genug; sie will sich vielmehr für die Welterklärung auf ihn berufen. So entwickelte Robert Gilpin, amerikanischer Politikwissenschaftler in Princeton, folgendes Lehrszenario aus Thukydides: 1. Große und hegemoniale Kriege entstehen wie Krankheiten immer gleich; 2. an ihrem Anfang stehe ein stabiles internationales System, dessen Kennzeichen eine hierarchische Ordnung der Staaten mit einer hegemonialen Macht an der Spitze sei; 3. im Laufe der Zeit setze dann ein unverhältnismäßiges Machtwachstum einer bislang zweitrangigen Macht an, es komme zu Konflikten mit der bisherigen alleinigen hegemonialen Macht; 4. die Folge sei, dass das System bipolar werde, denn beide Konfliktparteien sammelten zunehmend neue Verbündete um sich; aber letzten Endes sei das nicht mehr als ein Nullsummenspiel, denn notwendigerweise sei der Zuwachs der einen Macht der Verlust der anderen; 5. schließlich 58

Die Rede selbst sowie die Kommentare von Historikern zu ihr finden sich in der Süddeutschen Zeitung vom 6./7. September 2014 („Wochenende“) und im Internet. Den thukydideischsten Kommentar bietet Ulrich Herbert.

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reiche ein Funke, ein kleiner Anlass, um einen großen Krieg herbeizuführen, der dann 6. ein neues internationales Staatensystem kreiere.59 Soweit die Schlussfolgerungen für das internationale Staatensystem, die Robert Gilpin aus Thukydides zieht. So nutzen die Internationalen Beziehungen, also jene Fachrichtung der Politikwissenschaften, die sich am Anfang des 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, konstituiert hat, Thukydides. Bei diesem Verfahren besteht die Gefahr, dass die Positionen einzelner Akteure bei Thukydides für die Position des Autors genommen und auf diese Weise aus dem historischen Kontext gelöst werden. Thukydides wird somit zu einem Autor „transhistorischer Wahrheiten“ (Robert Gilpin). Ich will dieses anhand der Theorietradition des Realismus verdeutlichen, der ja auch Robert Gilpin angehört. Der Realismus innerhalb der Internationalen Beziehungen hat viele Formen, aber in all seinen Varianten geht er von zwei Grundkonstanten politischen Lebens aus, nämlich dass die Beziehungen der Staaten untereinander geradezu essentiell von Konflikten bestimmt sind und dass Machtstreben und Sicherheit das Primat politischer Aktionen darstellen.60 Die Bedeutung des Thukydides in diesem System ist fast unverhältnismäßig groß: 1996 erschien z.B. ein Buch über „Roots of Realism“, in dem Thukydides die Hälfte der 400 Seiten zugewiesen wurde, während andere bedeutende Größen wie der Florentiner Denker Niccolò Macchiavelli (1469–1527), der Coburger Politikwissenschaftler Hans Morgenthau (1904–1980) und andere sich den Rest teilen mussten.61 Der Berliner Politikwissenschaftler Christian Thauer hat jüngst den Zusammenhang von Realismus und Thukydides analysiert.62 Danach sehen die Realisten das Machtstreben als Konstante in einer anarchisch strukturierten Welt der Staaten an. Staaten 59

60

61 62

Robert G. Gilpin: The Theory of Hegemonic War, in: Journal of Interdisciplinary History 18,4 (1988), S. 591–613, hier S. 596f.: „In summary, according to Thucydides, a great or hegemonic war, like a disease, follows a discernible and recurrent course. The initial phase is a relatively stable international system characterized by a hierarchical ordering of states with a dominant or hegemonic power. Over time, the power of one subordinate state begins to grow disproportionately; as this development occurs, it comes into conflict with the hegemonic state. The struggle between these contenders for preeminence and their accumulating alliances leads to a bipolarization of the system. In the parlance of game theory, the system becomes a zerosum situation in which one side’s gain is by necessity the other side’s loss. As this bipolarization occurs the system becomes increasingly unstable, and a small event can trigger a crisis and precipitate a major conflict; the resolution of that conflict will determine the new hegemon and the hierarchy of power in the system.“ „‚The essentially conflictual nature of international affairs‘ and ‚the primacy in all political life of power and security in human motivation‘“, in: Robert G. Gilpin: The Richness of the Tradition of Political Realism, in: Neorealism and Its Critics, hg. von Robert O. Keohane, New York 1986, S. 301–321, hier S. 304f. Roots of Realism, hg. von Benjamin Frankel, London u.a. 1996 (Security Studies 5,2) Vgl. Thauer: Between Anarchy and Order (wie Anm. 36).

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rüsten auf, versuchen sich Vorteile zu verschaffen und betrachten die konkurrierenden Staaten als Gegner, die es in einem Gleichgewicht zu halten gelte. Der Realismus betrachtet sich vor diesem Hintergrund als eine Wissenschaft, die den Staaten helfen soll, eine „realistische“, d.h. die Gesetze der Internationalen Beziehungen berücksichtigende Außenpolitik zu betreiben. In diesem Sinne deuten sie etwa den Melier-Dialog bei Thukydides: Das machtvolle, auf das Recht des Stärkeren pochende Athen repräsentiere die „Realität“, das schwache Melos, das sich nur ideell, aber nicht realiter auf Rechtsprinzipien und prinzipielle Gleichberechtigung berufen könne, repräsentiere den „Idealismus“, den Widerpart des Realismus. So zitiert der Urvater des Realismus, Hans Morgenthau, als Leitmotiv des Realismus Thukydides:63 „Of the gods we know, to quote Thucydides, and of men we believe, that it is a necessary law of their nature that they rule wherever they can.“64 Aber auch Kritiker des traditionellen Realismus, „Neo-Realisten“ wie Kenneth Waltz, berufen sich auf Thukydides, nämlich auf das Wort vom „wahrsten Grund“ des Peloponnesischen Krieges.65 Sie leiten die Beschaffenheit des internationalen Systems nicht – wie die Realisten – von einer Natur des Menschen ab, sondern erklären sie aus der Struktur des Systems selbst: Jeder Machtzuwachs eines Staates geht auf Kosten der anderen, so dass alle einen Zustand des Balance of Power erstreben. Es komme dann zum Konflikt, wenn ein Staat diesen Konsens aufgebe – wie Athen vor dem Peloponnesischen Krieg. Kenneth Waltz schreibt: „Thucydides implied it (i.e. the new idea) when he wrote that it was the growth of the Athenian power, which terrified the Lacedaemonians and forced them into war.“66 Diese kurze Beschreibung mag genügen, und die Grundannahmen dieser Theorien sollen auch gar nicht erörtert werden. Sie stimmen schon deshalb nicht, weil sie Wesentliches außer Acht lassen, nämlich die Durchdringung des interna63 64

65

66

Thuk. 5,105,2. Hans Joachim Morgenthau: Politics among nations. The Struggle for Power and Peace, New York 41967, S. 32. Die Morgenthau-Übersetzung ist nicht ganz korrekt, denn bei Thukydides sprechen diese Regel die Athener in dem Dialog aus (nicht Thukydides selbst) und die richtige Übersetzung lautet: „Wir glauben nämlich, dass die Gottheit wahrscheinlich, die menschliche Natur aber gewiss allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo sie die Macht haben, herrschen. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch als bestehendes zuerst befolgt, als gegeben haben wir es übernommen und werden es als ewig gültiges hinterlassen.“ Thuk. 1,23,6: „Den letzten und wahrsten Grund (prophasis), von dem man freilich am wenigsten sprach, sehe ich im Machtzuwachs der Athener, der den Spartanern Furcht einflößte und sie zum Krieg zwang; aber die öffentlich von beiden Seiten vorgebrachten Anschuldigungen (aitiai), derentwegen sie den Vertrag lösten und den Krieg begannen, waren folgende.“ Kenneth Neal Waltz: Man, the state and war. A theoretical analysis, New York 1959, S. 159.

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tionalen Systems, auch desjenigen der antiken Griechen, das von Regeln und festen Strukturen, nicht von Anarchie geprägt war. Das hätten Realisten wie Neorealisten auch aus Thukydides lernen können. Gerade die griechische Welt war durch eine vielfach greifbare völkerrechtliche Ordnung geprägt, die es keinesfalls zuließ, von einer anarchischen Ordnung zu sprechen. Auch den MelierDialog nutzt der Realismus falsch, denn in diesem zentralen Text werden Hybris und Abweichung, nicht Normalität und Regelhaftigkeit beschrieben. Der Realismus zieht also keine wirkliche Lehre aus dem Studium des Thukydides, sondern macht sich z.B. die Sicht einer bestimmten Partei, in diesem Fall Athens, zu eigen, oder er greift einen Satz des Thukydides heraus, um den herum ein ganz anderes Gebäude errichtet wird, als es die thukydideische Analyse beabsichtigt hat. Das aber ist stark verkürzend. Als Fazit lässt sich festhalten: Die Bedeutung des Thukydides als Historiker war und ist unbestritten. Sie liegt in seinem historiographischen Ansatz begründet, der sich wiederum aus den sophistischen Diskursen seiner Zeit speist. Soll man ihn aber auch als Politikwissenschaftler einschätzen? Die vorstehenden Seiten erwecken diesen Eindruck. Ganz gewiss aber ist der ganze Text des Thukydides ein einziges Plädoyer, ihn interdisziplinär zu untersuchen. Dass man aus ihm lernen soll, war seine Absicht von Anfang an; doch die Lehren, die man bis jetzt aus ihm gezogen hat, greifen zu kurz. Seit dem Ende des 19. Jh. wird er zunehmend auch als Politikwissenschaftler wahrgenommen. Dieses aufzudecken und die Gründe dafür zu suchen, ist bisher noch nicht systematisch geschehen. Deshalb wird Christian Wendt, der ein Thukydides-Zentrum in Berlin gegründet hat und genau diese Seite des thukydideischen Werkes untersuchen möchte, noch einiges zu tun haben – aber das ist ja auch der Sinn unseres Tuns.

III

Anhang

Orts- und Namenregister Abaelard 193, 203 Achaia 29, 48 Achaios 127 Actium 118 Aelius Tubero, L. 119 Aelius Tubero, Q. 119 Aeneas 115, 119, 132f., 135, 147, 233 Aemilius Paullus, L. 42, 56 Agrippa, M. Vipsanius 56 Ägypten 74, 257 Aigestos 136 Aischines 62 Aischylos 61, 123 Aizeios 130 Ajax 164 Akropolis 30‒36, 38f., 41f., 45‒47, 52‒54, 56‒60, 65, 166 Aktaion 206 Alberti, Leon Battista 19, 218, 220– 224, 226 Alexander der Große 42, 46, 65 Alexandria 258 Algardis, Alessandro 297 Alighieri, Dante 208, 230 Alkidas 333 Alkmene 191 Almena 18, 192f., 196, 198, 206–212 Amor 17, 143–145, 148f., 159, 188, 190, 208f., 211, 229, 242f., 246 Amphipolis 326 Amphitryon 18, 24, 179, 184, 191–193, 196, 198, 203–210, 212 Amsterdam 284, 296, 304–306 Amulius 133, 136 Anchises 144, 147 Andronikos II. 250 Angelus, Jacobus (Jacopo Angeli daScarperia) 250, 262 Antenor 36

Antigonos von Karystos 114 Antigonos Monophthalmos 46 Antikythera 51 Antiochos I. 46 Antiochos III. 42f. Antiochos IV. 42f. Antiochos von Syrakus 130 Antonius, M. 125 Aphrodite 78 Apollo(n) (Phoibos) 95, 229, 233 Apollonius v. Tyana 164 Appius Claudius Caecus 122 Apuleius 206 Arachne 169 Araneola 17, 22, 161‒164, 166‒171, 176 Arcade 191f., 201f., 209 Arcas 209 Archidamos 327 Arendt, Hannah 276, 304, 307, 329 Ares 136 Arethas von Caesarea 175 Argos 123, 132 Ariadne 148 Ariosto, Ludovico 187, 189 Aristarch v. Samos 20, 264–267 Aristion 50 Aristogeiton 36, 47, 50 Aristophanes 238 Aristoteles 110, 194, 302 Arkadien 116, 121, 127, 128 Arno 226, 242 Artemis 33 Ascanius 135 Assisi 232 Athen 15, 17, 21f., 29‒32, 35f., 38‒46, 48, 50‒59, 61f., 64‒66, 163‒168, 172‒175, 192–194, 204, 323, 326f., 30–333, 338, 340f.

346

Orts- und Namenregister

Athena 17f., 31, 38f., 42, 59, 65, 135, 166, 172‒175 Athenion 50 Attalos II. 15, 45 Attika 164 Augsburg 284f., 287–289, 291, 294– 296, 301, 305 Augusta Praetoria 124 Augustinus von Hippo 163, 171 Augustus (Octavianus) 13, 16, 51f., 56, 65, 114, 124f., 138 Ausonius, Decimius Magnus 17, 23, 143–151, 152, 154–156, 158–160 Auvergne 18, 161, 175 Aventin 120, 128f., 134 Barthes, Roland 141 Beccadelli, Antonio (Panormita) 219, 227f. Bembo, Bernardo 19f., 215, 218, 237– 245 Bembo, Pietro 215, 237 Berlin 21, 77, 80f., 83f., 90, 106, 274f., 278, 309, 311f., 315, 322, 329, 341 Bernini, Gian Lorenzo 297 Bessel, Friedrich Wilhelm 20, 269 Birria 188, 190–192, 197–202, 204– 206, 209f. Boccaccio, Giovanni 194, 200, 211 Boethius, Anicius Manlius Severinus 168 Boiardo, Matteo Maria 20, 189, 218, 246–248 Bologna 252 Boscotrecase 80f., 101, 103 Boston 79 Brasidas 326, 333 Breu d. Ä., Jörg 289 Bristol 322 Brunelleschi, Ghigo 18, 179, 181, 187, 205f., 209, 211 Brutus, M. Iunius 50, 298–300, 302f., 306 Caesar, C. Iulius 50, 125 Calpurnius Piso (Censorius) Frugi, L. 119

Caporali, Giovan Battista 280 Cassius Longinus, C. 50 Cato, M. Porcius 116, 118 Catullus, C. Valerius 19, 154, 220–222 Ceres 129 Cesariano, Cesare 285, 291, 299 Chairedemos 32f. Chariten 155 Cheney, Richard Bruce 324 China 249, 254, 258 Chrysippos von Soloi 155 Chrysoloras, Manuel 249–250, 255 Cicero, M. Tullius 50f., 55, 128, 156, 290, 321 Cincius Alimentus, L. 115f. Claudianus, Claudius 23, 143, 162 Claudianus Mamertus 17, 22, 163f., 168, 171 Clemens VII. 303 Clinton, William Jeffersen 323 Cohen, William 323f. Collatinus, L. Tarquinius 298 Consentius von Narbonne 163f. Consus 129 Cupido 143, 145f., 148, 151–153 Cynthia 232 Damaskus 258 Danaë 169f. da Monte Feltro, Federigo 251 da Prato, Domenico 18, 179, 181f., 184, 209 da Vinci, Leonardo 239 de’ Benci, Amerigo 239 de’ Benci, Ginevra 239–242, 244 Deianeira 130 della Porta, Giacomo 296 de’ Medici, Cosimo 214, 227f., 238f. de’ Medici, Lorenzo 238, 242, 248 de’ Medici, Piero 19, 218, 224–227, 229, 233f. Demeter 129 Demetrios Poliorketes 46 Dempsey, Martin 325 di Francesco degli Alberti, Alessandra 214 Dikaiarchus 110f.

Orts- und Namenregister Diogenes 170 Diokles von Peparethos 116 Diomedes 131f. Dion Chrysostomos 55 Dionysios von Halikarnassos 16, 21, 110–122, 125–137, 140 Dionysos 39‒42, 59, 61 Dodona 127 Drusus, Nero Claudius 124 Dupérac, Etienne 300 Eleusis 57 Elis 129 Epidamnos 331 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 262 Etrurien 257 Euander 115f., 121, 123, 127f., 132, 139, 233 Euhemeros 138 Eumenes II. 44 Europa 170, 240 Fabius Pictor, Q. 115f. Fano 291 Faunus 124, 127 Faustulus 135 Faustus von Riez 163 Ferdinand II. 294 Ficino, Marsilio 19, 215f., 237f., 240f., 245, 247 Fiesole 233 Fillastre von Reims, Guillaume (Philastrius) 255 Florenz 19, 181, 187, 213, 217, 224, 232–234, 237, 239, 249f., 258 Frankfurt a.M. 97 Friedrich Wilhelm IV. 314 Frobenius, Hieronymus 262 Fronto, M. Cornelius 156 Gadamer, Hans-Georg 109f. Galilei, Galileo 20, 196, 264, 268f. Gallien 16, 22, 124, 162, 165, 174, 257 da Gama, Vasco 258 Ganymed 152 Gellius, Cn. 116, 119

347

Gennadius 164 Germanicus, Nero Claudius 35, 56‒58, 65 Germanus, Nicolaus 255 Geryoneus 119f. Geta 188–204, 206f., 209f. Ghirlandaio, Domenico 283 Giotto di Bondone 194 Giscard d’Estaing, Valéry 325 Glaucus 169 Gnathios 56 Gnognia 219 Goethe, Johann W. von 271 Gorgias 326 Gorgo 173 Griechenland 12, 14, 17, 29, 42, 50, 66, 87, 97, 110f., 115, 119f., 130f., 138, 164, 242 Grotius, Hugo 329f. Hadrian (Kaiser) 51, 53, 59 Hannibal 114 Hannover 78 Hekataios von Milet 126 Hektor 135 Hellanikos 115, 120, 127, 132 Harmodios 36, 47, 50 Herakleides Kritikos 41 Herakles 16, 110, 115, 119–126, 128– 131, 138f. Hera 78 Herculaneum 125 Hercules 115, 119, 121, 125, 127, 169, 196 Hermes 120, 127 Herodes I. 54 Hieronymus v. Cardia 114f. Holl, Elias 285, 289, 291 Homer 57, 60, 65, 165, 241f. Horatius Flaccus, Q. 156 Hymettus 173f. Hypermestra 169 Indien 257 Ingels, Bjarke 308 Iphikrates 39, 59

348

Orts- und Namenregister

Italien 20‒22, 51, 78f., 112, 114f., 119f., 122–133, 138, 247, 250f., 257 Italos 130 Iulia Domna 53, 59 Jerusalem 251, 258 Johnson, Lyndon B. 325 Josephus, Flavius 320 Jünger, Ernst 329 Jupiter 120f., 165, 169f., 188, 192f., 196f., 209–211, 222, 240, 306 Kairo 258 Kakos 120, 123, 131, 139 Kallimachos 232 Kampanien 77, 103, 125 Kassandra 164, 173f. Kassel 271, 273, 316f. Kaukasus 123 Kerkyra s. Korkyra Kirke 74, 206 Kleon 34 Kolumbus, Christoph 20, 249, 257f. Konon 38f., 61 Konstantin (Kaiser) 174 Konstantinopel 17, 174f. Kopernikus, Nikolaus 20, 196, 264, 266–269 Korinth 166, 331, 333 Korkyra (Kerkyra, Korfu) 38, 326, 328, 330–334, 336–338 König, Johann 285, 288, 290f., 293, 296 Königsberg 269 Kreta 257 Kritios 36f. Kronios 129 Kronos 110, 129f. Laïs 170 Landino, Cristoforo 23, 213–218, 220– 224, 226–228, 230–234, 236–243, 245–248 Larissa 127 Latium 51, 123, 131, 242 Launa 128

Laura 230, 232, 240f. Laureti, Tommaso 298–300, 302 Leda 170 Lesbos 333 Licinius Macer, C. 118 Liguria 121f. Limoges 162 Lincoln, Abraham 324 Livius, T. 116–119, 127 London 275 Lorenzetti, Ambrogio 275 Lukian 223 Lykaon 130 Lykaon II. 130 Lykien 110 Lykios 56f. Lykurg 40f., 61 Machiavelli, Niccolò 190, 329 Magellan, Ferdinand 249, 258 Mahdia 51 Mailand (Mediolanum) 258 Mainz 90, 92 Manetti, Antonio 206 Marathon 32, 46 Marinus 174 Marpingen 91f. Marrasio, Giovanni 240 Mars 143, 240 Marsuppini, Carlo 213 Martialis, M. Valerius 150 Maximus, Fabius 118 Melier 323, 327-329, 340f. Melos 327, 340 Menestheus 34 Menu von Minutoli, Heinrich 84 Mercator, Gerhard 262 Merkur 191f., 201 Metrodor von Skepsis 111 Michelangelo Buonarroti 273, 296, 299–301, 303 Miltiades 59, 61 Minerva 163, 165, 168f., 172, 240 Mithridates IV. von Pontos 50 Molière 184, 190, 202 Morgenthau, Hans 329, 340 Münster, Sebastian 262

Orts- und Namenregister Narbonne 161‒164pl, 175 Naupaktos 333 Nemetor 133f., 136 Nepos, Cornelius 19, 221f. Nero (Kaiser) 43, 52f., 65 Nesiotes 36f. Nikanor, Iulius 57, 60, 65 Nike 34f., 65, 128 Niketas Choniates 174f. Niobe 126, 130 Nymphidius 163 Ockham, Wilhelm v. 194 Obama, Barack 337 Octavian s. Augustus Odysseus 74, 105, 132, 147, 206 Oeta 169 Oloros 326 Oropos 55 Orpheus 169 Ovidius Naso, P. 17, 146, 153, 156– 159, 169, 206, 246 Padua 282, 288 Palatin 95, 120f., 127, 129, 133f. Palladio, Andrea 275, 280–282, 285, 291, 293, 302, 307 Pallantion 120f., 127f. Pallas Athena 17, 127f., 161, 163f., 167, 170‒175 Pan Lykeios 128 Paris 86f., 94 Parthenon 36–39, 42, 44f., 53, 56, 59, 65 Paul III. 303 Pausanias 33, 39, 57 Peithias 333 Pelasgos 126f., 130 Peloponnes 127, 130, 257 Penelope 147, 169 Perachora 78f. Pergamon 44 Perikles 36, 45, 61, 66, 323–325, 329 Petrarca, Francesco 19, 23, 187, 216, 220, 230–233, 236, 240f., 245–248 Phaleron 50 Pheidias (Phidias) 59, 174

349

Philostrat 164 Phoibos s. Apollo(n) Phoroneus 130 Pico della Mirandola, Giovanni 196, 199, 238 Pirandello, Luigi 189 Piranesi, Giovanni Battista 271, 308 Piräus 57 Pirckheimer, Willibald 262 Pisa 242 Pius II. 257 Planudes, Maximos 249f. Platon 62f., 122, 167f., 175, 204, 216, 237f., 240f., 243 Plautus, T. Maccius 18, 152, 179f., 184, 186f., 190–192, 197 Plinius Secundus d. J., C. 29, 31, 50, 119, 154 Plutarch 36, 113, 116, 118, 264 Po 127 Polemius 17, 22, 161‒171, 175f. Polen 92 Polybios 114, 128, 320 Pompeius Magnus, Cn. 125 Pompeius Trogus 111 Pompeji 81, 101, 104, 277 Porphyrios 168 Poseidon 127, 129 Powell, Colin 324 Pratovecchio 213 Proclus 174 Proculus, Gregorius 145, 150 Prometheus 123 Propertius, P. Sextus 19, 218, 232–234, 236, 240f., 246f. Protagoras 326 Ptolemaios, Klaudios 20, 24, 249–251, 254f., 257f., 262, 264f., 267–269 Pulci, Luigi 189 Putin, Wladimir 337 Pyrrhos 114 Quellinus d. Ä., Artus 306 Quintilianus, M. Fabius 158 Raffael 298 Remus 114, 116, 119, 132–136

350

Orts- und Namenregister

Reposian 143 Rhaskuporis I. von Thrakien 54 Ringmann, Matthias 258 Ripanda, Jacopo 298 Rom 12, 14, 16, 22, 37, 41, 50f., 53f., 65, 109–119, 121, 126–128, 130, 132–140, 161, 165, 175, 221, 233, 247, 252, 258, 271, 273, 284, 288, 296, 299–301, 316 Roma (Göttin) 52, 65 Romulus 116, 119, 131–135 Ruricius von Limoges 162 Ruysch, Johannes 258 Saarland 92 Sallustius Crispus, C. 117, 320 Satornia 130 Saturn 129f., 209 Scafati 80f., 101, 103 Schedel, Hartmann 258 Schinkel, Karl Friedrich 311, 314f. Schlegel, Friedrich 139 Schweiz 87f. Selenus von Kale Akte 114 Seleukos I.46Semele 148, 170 Sendel, Matthäus 287 Seneca, L. Annaeus d. Ä. 156 Seneca, L. Annaeus d. J. 154, 157, 168 Servius 147 Sibylle 144, 147 Sidonius Apollinaris, C. Sollius 17f., 22f., 161‒169, 172‒175 Siena 275, 284 Silvia 136 Sizilien 114f., 125 Sokrates 167, 170f., 241, 326 Sophokles 41 Sosia 180, 191f., 202 Spanien 120, 123, 125, 169, 257 Sparta 319, 327, 330–333, 337f. Spina 127 Speyer 82f., 94 Spongano 79 Statius, P. Papinius 143, 146, 150 Stella, Franco 312 Stendal 105 St. Bernhard, Großer 124

St. Bernhard, Kleiner 124 St. Johann im Pongau 98 Strabo 123 Strauss, Leo 329 Straßburg 262 Strongylion 32 Strozzi, Ercole 240 St. Wendel 92 Sulla, L. Cornelius 233 Susa 36 Sybota 333 Südafrika 249 Tallinn 308 Tantalus 209 Tarpeia 114 Tasso, Torquato 217 Tempesta, Antonio 271f. Teufel, Erwin 109 Teukros 34 Thalia 222, 242 Themis 121, 127, 129 Themistokles 39, 57, 59‒61, 65 Theopompos 111 Theseus 29, 34, 36, 38, 47, 49, 59 Thespis 61 Thessalien 127 Thrasybulos 326 Thrasyllos 56 Thukydides 21, 24, 112, 126, 131, 319–341 Thule 254 Tiber 120, 130 Tiberius 124 Timaios von Tauromenion 114f., 120 Timotheos 38f. Tirol 124 Tivoli 51 Toskana 233 Trier 17, 144, 152f. Troja 34, 133, 138, 163f. Tunesien 51 Türkei 109 Ukraine 337f. Ulm 252 Urbino 251

Orts- und Namenregister USA 321, 323, 337 Valerius Antias 118 Varro, M. Terentius 110f., 114, 119, 128, 137 Vasto 79 Vatikan 250 Venantius Fortunatus 165 Venedig 258, 275, 284, 288, 294 Venus 125, 143, 145f., 149, 162, 190, 211, 239–241 Vergilius Maro, P. 129, 143–149, 152– 154, 241f. Verino, Ugolino 232 Vespucci, Amerigo 258 Vesuv 81, 101 Vettori, Francesco 190 Vicenza 275, 280–282, 285, 293, 202 Victoria 128 Vienne 163 Vitalis von Blois 18, 24, 181, 184–187, 191f., 195–198, 200, 203, 208 Vitruv 278, 280, 285, 291f., 299 Vitulia 130 Voegelin, Eric 329 Volaterra (Volterra) 258 Waldseemüller, Martin 258, 262 Weber, Max 329 Wien 73 Winckelmann, Johann Joachim 67, 103 Xandra 19f., 214, 219, 228f., 231, 233f., 236, 239, 242–245 Xanthippe 171 Xanthus 173 Xenokrates 171 Xenophon 57, 62 Xerxes 36, 46 Zeus 39, 123, 126, 129f. Zoilos 144, 152

351

Index locorum ACHILLEUS TATIOS 1,1f.

153

ARCHIMEDES aren. 1,4f.

264

ARISTOTELES cael. 2,14,298a 9ff.

257

ARRIAN an. 1,16,7

42

AUGUSTINUS conf. 1,16,26

152

AUSONIUS carm. 1,5 2,8,22–31 10 praef. (A), Z. 2–5 17,2,9f. 19 praef. Z. 2f. 19 praef. Z. 3–6 19 praef. Z. 4f. 19 praef. Z. 5f. 19 praef. Z. 6 19 praef. Z. 6f. 19 praef. Z. 7 19 praef. Z. 9–12 19 praef. Z. 12 19,1 19,1–12 19,5 19,7

150 148 155 160 144 145, 153 151 151 153 144f. 153 151 154 143, 145, 146 145 148 148

19,8 19,9–12 19,13–44 19,18 19,33 19,45 19,45–64 19,48f. 19,49f. 19,51 19,63f. 19,65–78 19,68 19,68–71 19,70 19,72 19,76f. 19,79 19,79–98 19,95f. 19,99f. 19,99–103 19,103 79,95f.

148 148 145 148 148 148 145 148 148 148 149, 151 145 148 148 148 148 148 149, 151 145 149 147 145, 146 143 151

BECCADELLI, ANTONIO Hermaphroditus 1,1,1f.

227

BOIARDO, MATTEO MARIA Amorum libri tres 1,1 246 1,1–4 247 1,13–16 247

BRUNELLESCHI, GHIGO/ DA PRATO, DOMENICO Geta e Birria 3,8

188

354 5,1–4 6,8 7,5–8 9,1f. 10,4 11,6 11,8 13,5 15,5–8 18,3–5 18,6 41,8 43,1-8 44,7f. 47,2–5 51–56 56,8 59,7f. 60,7 60,7f. 61,8 63,1 63,1–6 64–66 65,2 65,3f. 69,5–8 74,2 77–79 77, 3f. 77,5–7 79,7–81,4 82,1–3 87,7–89,8 87,7f. 88,3f. 88,5–7 88,7f. 89,1f. 89,2 89,3 89,8–90,8 92,5–8 92,6 94,4–5 95 96

Index locorum 193 188 193 193 193 188 188 194 188 188 189 208 209 209 196 198 196 210 210 210 211 210 188, 210 198 198 198 199 198 199 199 199 197 202 200 201 200 201 201 201 201 201 200 202 202 199 210 210

102,2 103,3 105 107 107,1 108,3 108,8 109,1f. 110 110,1f. 111,4 114,6 120,8 122 124,6 125–133 134,5f. 136 136,5–8 136,5–138,8 136,8 136,8–137,1 138,1–8 139 139,1 139,5 139,8 140,1–8 141 141,5 142,1–4 142,4 143,7 144,1–4 144,8 146,1f. 156–158 156,5–6 156,6–8 157,2 157,4 158,1–8 159,5–7 160 160,5 161 162

202 194 194 204 195 180 180 180 204 195 180 202 180 194 180 194 201 204 204 203 180 179 204 195 205 205 205 195 205 205 202 180 203 203 180 189, 190 205 205 205 205 205 205 206 206 206 181 181

355

Index locorum 168 168f. 169 169,6 169,7 170,7 170,8 171 172,3 172,8 173 173,1–3 173,2 173,5 174,1–6 174,1–175,2 174,2 174,3 174,4 174,7f. 175f. 175,1f. 176,6–8 177,4–6 177,6 178,1–8 180,8 181 181,1 181,7f. 181,8 182,1 182,1f. 182,5f. 182,7f. 183,2 185,7f. 186,1–8

196, 211 192 211 211 211 211 211 211 211 211 211 179 184 211 211 208 192 206 192 207 192 207 207 207 206 207 192, 208 181 208 192 208 184 179 208 208 208 210 209

154, 222 154

CASSIUS DIO 47,20,4

50

CENSORINUS 21,1

SVF 2, F1105

137

137

CICERO ac. 1,3,9

128

Att. 1,17 1,4,2 1,6,3 1,8,2 1,9,3 6,1,26

51 51 51 51 51 55

div. 1,55

119

fam. 7,23,1‒3

51

fin. 5,1‒8

50

Leg. 1,7

119

nat. 1,79

156

orat. 2,9,36

321

CLAUDIAN carm. 17,93f.

163

CLAUDIANUS MAMERTUS anim. 2,9

CATULL 1 14,b

CHRYSIPP

171

COPERNICUS, NICOLAUS de rev. 1,8 1,11

267 267

356

Index locorum

DIODORUS SICULUS 4,19f. 20,46,1f.

123 47

DIOGENES LAERTIOS 3,25 4,6

62 171

DION CHRYSOSTOMOS 31 31,116

55 60

DIONYSIOS V. HALIKARNASSOS ant. 1,4 1,5,4 1,6,2 1,6,5 1,7,1–2 1,7,2 1,10,3 1,11 1,13,4 1,16 1,17–20 1,22,2–5 1,28 1,28,3 1,31 1,31,3f. 1,32,3 1,32,4 1,33,4 1,34-44 1,35,2f. 1,36 1,36,2 1,37 1,39 1,39,1 1,39,2 1,40,3 1,40,6 1,41 1,41,1 1,42,2 1,42,3f.

111 115 115 116 117 114 121 130 121 127 126 121 127 115, 127 127 128 128 128 128 119 120 129 129 129 120 120, 126 120 121 122 122 123, 126 123 124

1,44,1 1,47 1,48,1 1,56,2–5 1,72 1,76,1–3 1,77,1 1,77,2 1,77,3 1,79 1,79,8 1,79,12–14 1,85–87 1,86,3 1,86,4 2,5,3f. 2,5,5 2,15,3f. 3,47,2

125 115 115 118 115 136 136 136 136 116 128 136 119 134 134 135 135 131 131

FGRHIST 1 F1 4 F4 4 F31 4 F84 4 F84 4 F111 154 F13 175 F8 175 T4 555 F5 566 F42a 809 809 F1 809 F2 809 F3 809 F4a 810 810 F6 810 F7 816 F1 816 F2 816 T1

126 127 115 115 132 120 114 115 115 130 114, 120 115 116 116 116 116 115 116 116 114 114 114

FRONTO p. 89,14ff. van den Hout 156

357

Index locorum

GELLIUS 11,1 11,1,1

120 114

I S. 117f. I S. 120–138 II F3 S. 10

118 119 137

GENNADIUS

INSCRIPTIONES GRAECAE

vir. ill. 83

I3 511 57 I3 895 34 38 II/III2 3774 II/III2 450 Z. b 7‒12 46 II/III2 646, Z. 37‒40 46 II/III2 1076, Z. 15f.; Z. 27f. 59 52 II/III2 3173 57 II/III2 3260 53 II/III2 3277 II/III2 3786‒3789 57 II/III2 3787 57 57 II/III2 3789 56 II/III2 4122 61 II/III2 4259 61 II/III2 4264 61 II/III2 4265

164

HERAKLEIDES KRITIKOS 1,1‒5

41

HERODOT 1,68,3 1,183,3 2,44 2,73 3,12 7,152

128 128 128 128 128 126

HESIOD theog. 26–28 287–294

126 119

HOMER h.

IUSTINUS

18,75–86

120

28,2,8–10 38,6,7

Il. 22,214–366 22,304–305

135 135

LANDINO, CRISTOFORO

Od. 19,535–569

147

HORAZ epod. 7,17–20 sat. 1,3,38–40 1,6,66f.

136 156 156

HRR I F23 S. 36 I F56 S. 71 I S. 5–39 I S. 40–43

115 116 115 115

111 111

carm. ad Bernardum Bembum 2,21–24 237 3,31–38 240 3,25–32 239 4,8 241 4,15 241 4,53 241 5,1–10 240 5,5 239 5,11–14 240 5,30–32 241 6,1–8 242 6,1–4 242 6,5–8 243 6,9–12 243 6,15–16 244 6,19 245

358 6,19–28 6,28 6,29 6,29f. 6,35–46 6,42 6,45–46 7 8,57–60 8,75–82

Index locorum 243 243 245 243 241 241 241 239 241 243

epistula dedicatoria ad Bernardum Bembum S. 191,10–13 239 Xandra A 1,1,1–20 A 1,1,3f. A 1,1,5–8 A 1,1,13f. A 1,2 A 1,2,1–14 A 1,2,3–6 A 1,2,7–12 A 1,2,13f. A 1,3 A 1,16 A 1,17 A 1,33 A 2,1,1–14 A 2,1,5 A 2,1,6 A 2,1,7 A 2,1,8 A 2,4 A 2,4,1–10 A 2,4,3f. A 2,4,25–28 A 2,4,37–38 A 2,5,1f. A 2,7,1f. A 2,23 A 2,23,1–4 A 2,29 A 2,30 A 3,1,1–6 A 3,2

A 3,2,3–6 A 3,2,7–10 A 3,3,1–8 A 3,4 A 3,7 A 3,18 B 1,1–5 B 1,7–20a B 1,25 B 1,25–36 B 1,27 B3 B4 B 52

236 236 233 233 233 233 222 221 222 223 222 219, 244 228, 230 219

LIVIUS 224 225 225 225 224 229 229 230 229 230 233 233 224 226 227 227 227 227 232, 236, 245 232 232 245 245 234 234 233 234 232 232 234 235

1,7,1 1,7,3 1,7,8 1,7,11 9,29,9 45,27,11‒45,28,1

134 122 127 121 122 42

LONGOS praef. 3

153

LUCAN 1,95

136

MARINUS V. NEAPOLIS v. Proc. 10,12 30,1 30,5‒11

174 174 174

MARTIAL 4,49,8

173

NIKETAS CHONIATES Hist. 558,47‒559,73

175

OVID am. 3,1,10

158

359

Index locorum

PIUS II. PONTIFEX MAXIMUS

ars. 3,295

158

Historia rerum ubique gestarum 4 257

fast. 1,235 1,581 4,393–620 4,817

129 121 129 134

PLANUDES

met. 6,53‒128

158

trist. 1,1

221

PAUSANIAS 39 46 32 40 42 57 34 38 39, 59 45 42

PETRARCA, FRANCESCO RVF 1,1–8 1,9–14 3 9 23 90,9–13 213,1–4 220,7–8 335,1–6

250

PLATON Phaid. 99d ff.

122

symp. 202e ff. 180d–e 204b

137 240 240

epin. 984e

137

Tim. 24 D1

174

169

Pont. 4,13,13f.

1,1,2 1,8,5 1,15,3 1,21,1f. 1,21,3 1,22,4 1,23,8 1,24,3 1,24,7 1,25,2 5,12,4

epist. 119

230 216 230 230 230 241 241 241 241

PLAUTUS Amph. 50–64

191

Men. 143

152

PLINIUS D. J. epist. 4,14,4 4,14,8 4,14,9 8,24

154 154 154 29, 50

PLUTARCH De def. Or. 12 13

137 137

de fac. 6,923a

264

Per. 13,3

36

PETRON 83

153

360

Index locorum

RES GESTAE DIVI AUGUSTI

mor. 841f.

40

24 26

Alex. 16,17‒18

42

SALLUST

Rom. 9,4 9,5 17,5

hist. frg. 4,69,17 134 314 114 49

POLYBIOS 1,63,9 6,11a 9,1,3f. 9,2,1–6 10,21 10,21,3

112 128 116 116 113 116

PROPERZ 1,1,1f. 2,10,7 3,5,23–46 4,1,1–4

228,232 234 234 233

111

SCHOLIA IN AELII ARISTEIDIS ORATIONES 3,154

Sull. 13,5

125 124

61

SENECA D.Ä. contr. 2,2,8–12 9,6,11 9,6,12

17, 156 156 156

SENECA D.J. benef. 1,4,5

155

dial. 7,26,6

154

epist. 58 116,8

168 155

Herc. f. 475

173

nat. 1 praef. 13 3,27,13f. 3,27,13–3,28,3

257 157 157

Oed. 423

173

PS.-APOLLODOR bibl. 2,106–109

120

PTOLEMAIOS synt. 1,2 1,5 1,7 7,1 geogr. 1,11,2 1,14,10

264 265 264 265

257 257

QUINTILIAN inst. 10,1,88 10,1,98

SERVIUS Aen. 6,893

147

SIDONIUS APOLLINARIS 158 158

carm. 9,277‒301

165

361

Index locorum 9,330 11 15 15,1‒32 15,1‒35 15,3 15,36 15,36f. 15,36‒38 15,36‒125 15,102‒117 15,124f. 15,126 15,126f. 15,126‒184 15,145‒147 15,148 15,150‒158 15,174‒184 15,185‒195 15,186f. 15,188‒191 15,196‒201 15,198‒201 15,200 23 23,101‒119 23,233‒240

162 162 17, 161 173 161 174 166 166 164 163 168 167 163 165 163 166 163 163 170 163 171 175 163 172 163 164 164 164

epist. 3,6 4,3 4,3,6 4,11,6, vv. 4‒5 5,2 5,2,1 8,3 8,11 14 14,1 14,1‒2 14,4,2

164 163 164 164 163 164 164 173 161f. 162 161 162

STRABON 1,4,6 4,1,7 4,6,2

257 123 122

5,1,7 5,2,1 6,4,1

127 122 129

SUPPLEMENTUM EPIGRAPHICUM GRAECUM (SEG) 17, 1960, 75 50 36, 1986, 246 38 TACITUS ann. 13,17,1

136

TERENZ Eun. 538–591

152

THUKYDIDES 1,10 1,20 1,20–23 1,22 1,22,2 1,22,4 1,23,6 1,24–55 1,32 1,33,1 1,39 1,44 1,75,3 1,142f. 2,34–46 2,37 2,44 2,62 3,39–40 3,44–48 3,69–81 3,69–85 3,69‒95 3,70 3,70f. 3,70,3 3,72–74 3,82f. 3,82,2

319 319 319 319 126 321 320, 340 331 328 332 332 331 325, 332 328 323 325 324 328 328 328 333 326 21 334 333 333 334 323, 334 336

362 3,82,3 5,84–116 5,89 5,105,2 6,77 6,79 6,85,1

Index locorum 335 323 112, 327, 332 340 328 328 330

TRGF III S. 315–317 Nr. 199 Radt

123

VARRO 1.1. 6,54

122

VENANTIUS FORTUNATUS carm. 7,8,25f.

165

VERGIL Aen. 6,282–284 6,440–476 6,441 6,887 6,893–899 6,897f. 8,319–327

148 144 146 146 147 143 129, 130

georg. 2,136–176

129

VITALIS VON BLOIS Geta 23 31–34 130 172 207f. 209 393 400–403 409 409f.

209 193 199 197 200 200 203 203 193, 203 195

XENOKRATES Fr. 23–25 Heinze 137

Bildnachweis Ralf Krumeich: Ein Zentrum des „wahren und unverfälschten Griechenland“. Zur Aktualisierung vergangener Größe in Athen von den Perserkriegen bis zur römischen Kaiserzeit, S. 29‒66. Abb. 1:

Athen, Nordmauer der Akropolis mit unfertigen Säulentrommeln des Vorparthenon, aus: Maria Brouskari: The Monuments of the Acropolis, Athen 1997, S. 220, Abb. 154. Abb. 2: Basis des von Chairedemos gestifteten und von Strongylion verfertigten bronzenen Trojanischen Pferdes (um 420 v. Chr.). Athen, Akropolis, Foto vom Autor. Abb. 3: Wie Abb. 2. Rekonstruktion des Trojanischen Pferdes, aus: Gorham Phillips Stevens: The Periclean Entrance Court of the Acropolis of Athens, in: Hesperia 5 (1936), S. 460, Abb. 14. Abb. 4: Tempel der Athena Nike. Blick von den Propyläen auf die Nordseite des Tempels und die Nike-Bastion mit polygonaler Aussparung, Foto vom Autor. Abb. 5: Tyrannenmördergruppe des Kritios und des Nesiotes (477/476 v. Chr.), Rekonstruktion. Rom, Museo dei Gessi, aus: D-DAI-ROM-84.3301 (H. Schwanke). Abb. 6: Sophokles (Typus Lateran). Römische Kopie nach der Statue des Dichters in der ‚lykurgischen‘ Tragikerweihung (338–326/325 v. Chr.). Rom, Vatikanische Museen, aus: Fotothek, Abteilung Klassische Archäologie der Universität Bonn. Abb. 7: Athen, Parthenon. Architrav der Ostseite mit Dübellöchern von Schildweihungen und Bronzelettern der neronischen Ehreninschrift, aus: D-DAI-ATHAkropolis-0610. Abb. 8: Athen, Parthenon. Rekonstruktion der Ostseite und des Pfeilermonuments an der Nordostecke des Tempels, aus: Manolis Korres: The Parthenon from Antiquity to the 19th Century, in: The Parthenon and Its Impact in Modern Times, hg. von Panayotis Tournikiotis, Athen 1994, S. 139, Abb. 1. (Rekonstruktion Manolis Korres). Abb. 9: Athenischer Marmorsessel (‚Elgin-Throne‘). Malibu, The J. Paul Getty Museum, aus: The J. Paul Getty Museum. Handbook of the Antiquities Collection, hg. von Kenneth Lapatin und Karol Wight, Los Angeles 2010, S. 23. Abb. 10: Repräsentation der Tyrannenmörder im Schema der jüngeren Statuengruppe (Abb. 5) an der rechten Außenseite des ‚Elgin-Thrones‘, aus: Jiri Frel: Some Notes on the Elgin Throne, in: AM 91 (1976), Taf. 66, 1. Abb. 11: Wie Abb. 12. Zeichnung von Ober- und Vorderseite der Basis, Zeichnung: Antonia Brauchle / Zoe Spyranti.

364

Bildnachweis

Abb. 12: Basis eines Anathems der Athener Thrasyllos und Gnathios (480–460 v. Chr.), wiederverwendet für L. Aemilius Paullus (Konsul 1 n. Chr.). Athen, Akropolis, Foto: Jan M. Müller. Abb. 13: Athen, Akropolis. Reiterstatue des Germanicus vor den Propyläen (18 n. Chr.). Rekonstruktion, Zeichnung: Julia B. Krug-Ochmann. Abb. 14: Themistokles als siegreicher Feldherr. Athenische Bronzemünze des 2. Jhs. n. Chr. Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen, Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 18251128 (Foto: R. Saczewski). Abb. 15: Platon (Typus Boehringer). Römische Kopie nach einem Original der Zeit um 350/340 v. Chr.). München, Glyptothek, Foto: H. Koppermann. Abb. 16: Kopf eines athenischen Kosmeten severischer Zeit. Athen, Nationalmuseum, Foto: National Archaeological Museum, Athens. © Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Receipts Fund.

Andreas Hillert: Frühklassisch-griechische Sirenen auf römischen Kannenhenkeln? Kaiserzeitliches Kunsthandwerk zwischen Virtuosität, Eklektizismus, Dekadenz und Frömmigkeit, S. 67‒107. Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:

Kannenhenkel mit Sirenenattasche, Foto vom Autor. Sirenenattasche (Ausschnitt Abb. 1), Foto vom Autor. Kannenhenkel (Abb. 1), Seitenansicht, Foto vom Autor. Sirenenhenkel von Hydrien, 5. Jhdt. v. Chr., aus: Erika Zwierlein-Diehl: Die Hydria. Formgeschichte und Verwendung im Kult des Altertums, Mainz 1964, Taf. 16. Abb. 5: Henkel einer Bronzekanne aus Perachora, aus: Humfry Payne: Perachora. The Sanctuaries of Hera Akraia and Limnia, Bd. 1: Architecture, bronzes, terracottas, Oxford 1940, Abb. 6. Abb. 6: Trifoliarkanne aus Boscotrecase oder Scafati, Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung Misc. 8878, Foto: Norbert Franken. Abb. 7: Trifoliarkanne aus Speyer, Historisches Museum der Pfalz, Speyer, Inv. 12a, Abb. H. Menzel. Abb. 8: Kanne mit Sirenenhenkel, Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung Inv. 663, Foto: Norbert Franken. Abb. 9: Sirenenhenkel, Louvre, Paris E.D. 3827, N 6199. Abb. 10a: Kanne mit Sirenenhenkel, ehem. Schweizer Kunsthandel, Katalog der Baseler Kunsthandlung Palladion. Abb. 10b: Kanne im französischen Kunsthandel, Foto: Antonia Eberwein. Abb. 11: Sirenenhenkel aus dem Mainzer Legionskastell, Mittelrheinisches Landesmuseum Mainz, © GDKE Ursula Rudischer (Landesmuseum Mainz). Abb. 12: Sirenenhenkel aus Marpingen, aus: Alfons Kolling: Die römischen Brandgräber von Marpingen, Kreis St. Wendel, 14. Bericht der staatlichen Denkmalpflege im Saarland 1967, Saarbrücken 1967, Taf. 42,1 (Grab 1). Abb. 13: Schalengriff mit Widderkopf, aus: Auktion 119 am 16.10.2002. Kunstobjekte der Antike, hg. von Gorny & Mosch, München 2002. S. 76, Nr. 3397. Abb. 14: Querhenkel eines Bronzebeckens mit Seeungeheuer-Attaschen, Foto vom Autor.

Bildnachweis Abb. 15: Abb. 16:

365

Seeungeheuer-Attasche (Ausschnitt Abb. 14), Foto vom Autor. Salb- bzw. Parfümgefäß in Form einer Sirene, islamisch, 12.–13. Jhdt., Foto vom Autor.

Alfred Stückelberger: Klaudios Ptolemaios: Innovation und Tradition, S. 249‒ 269. Abb. 1:

Abb. 2: Abb. 3:

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Ebstorfer Weltkarte (um 1250, Nachbildung des 1943 zerstörten Originals) als Beispiel eines mittelalterlichen Weltbildes, Bildarchiv der PtolemaiosForschungsstelle in Bern. Weltkarte aus dem Ptolemaios-Codex Seragliensis GI 57 fol. 73v/74r (Ende 13. Jh.), Bildarchiv der Ptolemaios-Forschungsstelle in Bern. Trapezförmige Länderkarte (Gallien) nach dem Entwurf des Nicolaus Germanus, Cod. Neapolitanus Farnese VF 32 (1466), fol. 77v/78r, nach der Faksimile-Ausgabe Lelio Pagani: Ptolemäus. Cosmographia. Das Weltbild der Antike, Stuttgart 1990. Weltkarte im Stil des Ptolemaios im Mela-Codex Vaticanus, Arch. San Pietro H 31 fol. 8v (kurz nach 1417), aus: Anna-Dorothee von den Brincken: Die Rahmung der ‚Welt‘ auf mittelalterlichen Karten, in: KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, hg. von Stephan Günzel und Lars Nowak, Wiesbaden 2012, S. 116. Weltkarte in der Weltchronik des Hartmann Schedel (Nürnberg 1493), Bildarchiv der Ptolemaios-Forschungsstelle in Bern. Weltkarte von Johannes Ruysch in der Römer Ptolemaios-Ausgabe von 1507, Bildarchiv der Ptolemaios-Forschungsstelle in Bern. Weltkarte von Martin Waldseemüller in 12 Blättern (132x236 cm) von 1507, Bildarchiv der Ptolemaios-Forschungsstelle in Bern. Moderne Weltkarte von Sebastian Münster in seiner Geographie-Ausgabe (Basel 1540), vor dem ptolemäischen Kartensatz, Bildarchiv der PtolemaiosForschungsstelle in Bern. Parallaxen der Fixsterne; links: ein Fixstern in der Polarregion wird je nach Jahreszeit unter einem anderen Winkel gesehen; rechts: zwei horizontnahe Fixsterne haben je nach Jahreszeit einen größeren oder kleineren Winkelabstand, Bildarchiv der Ptolemaios-Forschungsstelle in Bern. Autograph des Kopernikus De revolutionibus orbium caelestium fol. 11v mit der Stelle, an welcher er auf Aristarch von Samos verweist (Pfeil), aus: Nikolaus Kopernicus: Gesamtausgabe, Bd. 1: Opus de revolutionibus caelestibus manu propria, im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von Fritz Kubach, München 1944.

Brigitte Sölch: Das Rathaus, der Stadtplatz und die Revitalisierung der Forumsidee – mit einem Ausblick auf das ‚Humboldt-Forum‘ in Berlin, S. 271‒317. Abb. 1:

Das Forum Romanum. Detail aus Antonio Tempestas Recens prout hodic iacet almae Urbis Roma […], 1593, aus: Forum romanum – Zeitreise durch

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Bildnachweis 3000 Jahre Geschichte, hg. von Bernd Küster, Ausst.-Kat. Petersberg 2014, S. 4. Die scaenae frons des Teatro Olimpico von Andrea Palladio in Vicenza, aus: Manfred Wundram und Thomas Pape: Andrea Palladio 1508‒1580. Architekt zwischen Renaissance und Barock, Köln 1988, S. 231. Das Forum von Pompeji, aus: Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, Wien 31901, S. 3. Andrea Palladio, Palazzo della Ragione in Vicenza, aus: Bruce Boucher: Palladio. Der Architekt in seiner Zeit, München 1994, Abb. 108. Querschnitt des Augsburger Rathauses, aus: Elias Holl und das Augsburger Rathaus, hg. von Wolfram Baer et al., Regensburg 1985, S. 352. Das südwestliche Fürstenzimmer des Augsburger Rathauses, Foto von der Autorin. Johann König, Allegorie der Demokratie, 1622/24, aus: Julian Jachmann: Die Kunst des Augsburger Rates 1588 – 1631. Kommunale Räume als Medium von Herrschaft und Erinnerung, München u. a. 2008, Abb. 67. Rekonstruktion von Vitruvs Basilika von Fano. Aus: Cesare Cesarino, Vitruvius/De architectura, 1521, aus: Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, München 1985, Abb. 32. Johann König, Allegorie der Monarchie, 1622/24, aus: Julian Jachmann: Die Kunst des Augsburger Rates 1588–1631. Kommunale Räume als Medium von Herrschaft und Erinnerung, München u. a. 2008, Abb. 69. Johann König, Allegorie der Monarchie, 1622/24, aus: Julian Jachmann: Die Kunst des Augsburger Rates 1588–1631. Kommunale Räume als Medium von Herrschaft und Erinnerung, München u. a. 2008, Abb. 68. Fotografische Annäherung an das Fresko Gerechtigkeit des Brutus in der Sala dei Capitani des Konservatorenpalastes in Rom, Fotos von der Autorin. Tommaso Laureti, Gerechtigkeit des Brutus, 1587‒1594, aus: Gli affreschi del Palazzo dei Conservatori, hg. von Sergio Guarino und Patrizia Masin, Mailand 2008, Abb. 26. Etienne Dupérac, Michelangelos Kapitolsentwurf. 1568, aus: Harmen Thiess: Michelangelo. Das Kapitol, München 1982, Tafelteil Abb. 4. Etienne Dupérac, Rekonstruktion des antiken Forum Romanum. 1574, aus: Le antiche rovine di Roma nei disegni di Du Pérac, hg. von Amilcare Pizzi, Mailand 1990, Abb. 25. Gerrit Adriaensz Berckheyde, Ansicht des Dam mit dem neuen Rathaus von Amsterdam, aus: Malerische Winkel ‒ weite Horizonte. Holländische Stadtansichten des Goldenen Zeitalters von Vermeer bis Jan Steen, hg. von Adriane van Suchtelen und Arthur K. Wheelock Jr., Zwolle 2008, S. 83. Die vierschaar im Rathaus von Amsterdam, aus: Niek Ravensbergen, Het Paleis op de Dam: republikeinse grootsheid, aus: niekbravensbergen.wordpress.com, 11.01.2012 (letzter Zugriff 13.04.2016). Museumsinsel mit Blick auf das zukünftige Humboldt-Forum in Berlin, Fotomontage, aus: Museumsinsel Berlin, hg. von Michael Eissenhauer, München 2012, S. 22.

Bildnachweis Abb. 18:

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Franco Stella, Simulation der Eingangshalle des Berliner Stadtschlosses mit dem sog. Eosanderportal, aus: Rainer Haubrich: Das Neue Berliner Schloss. Von der Hohenzollerresidenz zum Humboldt-Forum, Berlin 2012, S. 66. Berlin, Blick auf das Forum Fridericianum, aus: Klaus-Dietrich Gandert: Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität, Berlin 1992, Abb. 93. Kollektiv F. Gebhardt, VEB Hochbauprojektierung Leipzig, Entwurf zum Marx-Engels-Platz in Berlin als „Forum der deutschen Arbeiterbewegung“, 1958/59, aus: Neue Städte aus Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit, hg. von Klaus von Beyme et al., München 1992, S. 54. Blick vom Stadtschloss auf das Alte Museum und den Lustgarten, um 1910, aus: Hans-Werner Klünner: Berliner Plätze, Berlin 1992, S. 47. Friedrich Wilhelm IV., Vogelschau auf das von zwei Ehrensäulen geschmückte Lustgartenforum mit der geplanten Dombasilika, um 1835, aus: Andreas Meinecke: Zur Entwurfsgeschichte der Berliner Dombasilika und des Lustgartenforums 1820‒1840, in: zeitenblicke.de, 2010, Abb. 11 (letzter Zugriff 13.04.2016).

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gauly müller rathmann

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(Hg. )

Dialoge mit dem Altertum Sinnstiftungen aus der Vergangenheit in Antike, Früher Neuzeit und Moderne

Dialoge mit dem Altertum

ie produktive Auseinandersetzung mit dem Altertum gehört zu den Konstanten der europäischen Kulturgeschichte, und dies nicht nur in jenen Epochen, in denen diese eine explizite Programmatik begründet hat wie in Renaissance oder Klassizismus. Allerdings lassen sich bereits in der Antike vielfältige Strategien der Sinnstiftung aus der Vergangenheit greifen, in denen ihre modellbildende Rolle für die nachantiken Epochen vorgeprägt ist. Dabei begegnen sich antike und nachantike Fälle darin, dass sie den Blick zurück als einen Prozess kreativer Aneignung begreifen, der Züge eines epochenübergreifenden Dialogs trägt. Die zehn Beiträge des Sammelbands, die aus einer Vortragsreihe an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt hervorgegangen sind, deuten in exemplarischen Studien aus Antike, Spätantike, Früher Neuzeit und Moderne das gestalterische Potenzial an, das dem Rückgriff auf die Vergangenheit zu eigen ist, und weisen in ihrer Gesamtschau auf die transhistorische Dimension des Phänomens hin.

(Hg.)

gauly . müller . rathmann Dialoge mit dem Altertum

bardo maria gauly gernot michael müller michael rathmann ( Hg.)

Universitätsverlag

isbn 978-3-8253-6928-6

win t e r

Heidelberg