Mit Kochlöffel und Staubwedel: Erzählungen aus dem Dienstmädchenalltag 9783205791027, 9783205785811


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Mit Kochlöffel und Staubwedel: Erzählungen aus dem Dienstmädchenalltag
 9783205791027, 9783205785811

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Damit es nicht verlorengeht … 62

Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

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Andrea Althaus (Hg.)

Mit Kochlöffel und Staubwedel Erzählungen aus dem Dienstmädchenalltag

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

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Bildnachweis: Titelbild: Martha Teichmann, Dienstmädchen in Dresden um 1905. Atelierfotografie (Foto: Sammlung Frauennachlässe, Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 67) Bild auf Buchrückseite: Johanna Anthofer und ihre Kollegin Emilie – zwei Wiener Hausgehilfinnen um 1926 (Foto: Karl Kalisch)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78581-1 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­­Abbil­dungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur ­auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG., Wien . Köln . Weimar www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Széchenyi István Nyomda Kft, H-9027 Győr

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Inhalt

Einführung und editorische Hinweise . . . . . . . . . . . .

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Erzählungen von Dienstmädchen Helene Gasser (1834–1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Marie Konheisner (1875–1958) . . . . . . . . . . . . . . . 125 Johanna Gramlinger (1904–1998) . . . . . . . . . . . . . . 173

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Andrea Althaus Lebensverhältnisse von Dienstmädchen und Hausgehilfinnen im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . 275

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Einführung und editorische Hinweise

Zu Tausenden wanderten in der Habsburgermonarchie junge Frauen aus dem näheren oder weiteren Umfeld in die Städte, insbesondere nach Wien, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch wer waren diese Frauen, die wir heute nur noch von alten Fotografien her kennen? Der Begriff ‚Dienstmädchen‘ ruft bei den meisten von uns gewisse Assoziationen hervor. Das Bild, das wir von der größten weiblichen Berufsgruppe des 19. Jahrhunderts haben, bleibt aber häufig unscharf und stereotyp. Einige verbinden den Begriff möglicherweise mit Frauen in schwarzen Kleidern, weißen Schürzen und Häubchen, die – ohne Gesicht und stets im Hintergrund – als ‚gute Seele‘ und ‚Stütze der Hausfrau‘ treu ergeben ihrer Herrschaft dienen. Andere denken vielleicht an gestrandete Existenzen, die, physisch, psychisch und sexuell ausgebeutet, von ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern in die Prostitution oder gar den Selbstmord getrieben werden. Eine weit verbreitete Vorstellung ist auch das Bild des listigen und intriganten Dienstmädchens, das seiner ‚Gnädigen‘ den Goldschmuck und den Bürgersöhnen den Verstand raubt. Ziel des Buches ist es, die Lebenswelten dieser Berufsgruppe jenseits stereotyper Zuschreibungen in den Blick zu bekommen und die Vielfalt des städtischen Dienstbotendaseins auszuleuchten. Die Lebenswelt – das heißt, die von den Menschen 7

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„erfahrene“ Wirklichkeit – konstituiert die Biographie eines jeden Einzelnen.1 Der Zugang zu den Lebenswelten städtischer Dienstmädchen soll deshalb mit Hilfe der Lebensgeschichten von Helene Gasser, Marie Konheisner und Johanna Gramlinger gefunden werden, die ihre Erfahrungen als Dienstmädchen schriftlich festgehalten haben.

Porträt der Autorinnen Helene Gasser und die Familie Fleischl von Marxow Helene Gasser kam am 1. Januar 1834 in Obergaimberg in der Nähe von Lienz in Osttirol als Tochter des Schneidermeisters Joseph Gasser und seiner Frau Maria, geb. Oblasser, zur Welt. Sie wurde noch am selben Tag nach katholischem Ritus getauft.2 Kindheit und Jugend spart die Autorin in ihren Aufzeichnungen weitgehend aus. Aus einigen Andeutungen geht hervor, dass die Familie in ärmlichen Verhältnissen lebte: „Leider haben wir selbst auch Hunger gehabt, da der Familiensegen sehr groß war: zwölf an der Zahl – so ist es leicht erklärlich; und einen armen Schneider zum Vater und Ernährer.“3 Ihr Vater legte Wert darauf, dass seine Kinder eine gute Grundausbildung erhielten, was Helene Gasser ihm hoch anrechnet:

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Vierhaus, Rudolf: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Lehmann, Hartmut (Hg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Göttingen 1995, S. 7–28, hier: S. 14. 2 Taufbuch der Pfarre Grafendorf (Gaimberg), Bd. I, S. 66. 3 Gasser, Helene: Memoiren einer Köchin. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, S. 8 f.

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„In der Schule wollte uns der Seelenhirt nicht schreiben lehren, nur lesen und Religion – das hat mein Vater nicht zugegeben. Was hätte ich da im Hause Fleischl getan, wenn ich nicht halbwegs hätte schreiben können?“4 Das Haus Fleischl von Marxow wurde zu Helene Gassers zweitem Zuhause. Nachdem sie einige Jahre in Tirol und ab 1860 in Wien als Dienstmädchen in Stellung gewesen war, begann sie 1864 als Stubenmädchen bei der Familie Fleischl zu arbeiten und diente dort 35 Jahre lang. 1890, nach dem Tod der Köchin Katharina Brosch, übernahm Helene Gasser „die Kocherei“.5 Ihre Aufzeichnungen mit dem Titel „Memoiren einer Köchin“ konzentrieren sich weitgehend auf die Dienstjahre im Haushalt der Familie Fleischl von Marxow. Diese führte einen großbürgerlichen Lebensstil, bewohnte eine großzügige Wohnung im 1. Wiener Gemeindebezirk in der Nähe der Hofburg, verbrachte die Sommerfrische im Salzkammergut, in Mondsee, Gmunden und St. Gilgen, pflegte einen regen gesellschaftlichen Kontakt mit namhaften Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft und beschäftigte immer mehrere Dienstboten. Helene Gassers Dienstgeberin, Ida Fleischl, geborene Marx (1824–1899), stammte aus einer reichen und angesehenen jüdischen Familie in München. Bekannt geworden ist sie aufgrund der engen Freundschaft mit den Schriftstellerinnen Marie von Ebner-Eschenbach und Betty Paoli, zu deren wichtigsten Kritikerinnen und Beraterinnen sie zählte. Betty Paoli, die von Franz Grillparzer als „der erste Lyriker Österreichs“6 bezeichnet wurde, lebte von 1852 bis zu ihrem Tod, 1894, im Haus der Familie Fleischl. Carl Fleischl (1818–1893), der Ehemann von Ida Fleischl, war Präsident der Wiener Tramway-Gesellschaft, Börsenrat und Generalrat der Anglo-Österreichischen Bank. Im Juni 1875

4 Ebd. S. 9 f. 5 Ebd. S. 24. 6 Brinker-Gabler, Gisela (Hg.): Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1979, s. Paoli, Betty.

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wurde ihm der Adelstitel verliehen, für den er den Zusatz „von Marxow“ wählte.7 Der älteste Sohn der Familie, Ernst Fleischl von Marxow (1846–1891), war Professor für Physiologie und ab 1887 Mitglied in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.8 Er war ein guter Freund von Sigmund Freud, der ihn als einen „ausgezeichneten“, „mit dem Stempel des Genies“ ausgestatteten Menschen bezeichnete, „an dem Natur und Erziehung ihr Bestes getan haben“.9 Aufgrund einer Verletzung an der Hand, die er sich während seiner Assistenzzeit als Sektor im Pathologisch-anatomischen Institut der Universität Wien zugefügt hatte, litt Ernst Fleischl ein Leben lang unter starken Schmerzen. 1891 starb er im Alter von 45 Jahren. Otto Fleischl von Marxow (1849–1935), der zweitälteste Sohn der Familie, war Arzt und Pianist. Von 1873 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebte er in Rom. Er hatte in Zürich Medizin studiert und war mit der Schweizerin Nina Schwarzenbach aus Bendlikon verheiratet. Über die zwei jüngeren Kinder, Paul und Richard Fleischl von Marxow, ist wenig bekannt. Beide waren im Handel tätig; Paul lebte in London, war verheiratet und hatte drei Kinder. Richard wohnte in Berlin und starb bereits 1901 an einer Herzlähmung.10 Nach Ida Fleischls Tod im Jahr 1899 und der Auflösung des Haushaltes verließ Helene Gasser Wien und setzte sich in ­Lienz zur Ruhe, wo sie ihre Erinnerungen niederschrieb. Am 15. Juni 1908 starb sie im Alter von 74 Jahren.11

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Adelslexikon des österreichischen Kaisertums 1804–1918, hrsg. von Peter Frank-Döfering. Wien 1989, S. 298. 8 Deutsche Biographische Enzyklopädie, hrsg. von Rudolf Vierhaus. München 2006, hier: Bd. 3, S. 380. 9 Brief von Sigmund Freud an Martha Bernays. 27. 2. 1882, in: Katalog des Sigmund Freud Museums, Wien IX, Berggasse 19. Wien 2005. 10 Kober, Katharina: „Ein heit’rer Austausch von Gedanken...“. Zum Lebens- und Literaturzirkel von Marie Ebner-Eschenbach, Ida Fleischl von Marxow und Betty Paoli. Diplomarb. Univ. Wien 2007, S. 70. 11 Sterbebuch der Pfarre Grafendorf (Gaimberg), Band VI, S. 212.

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Marie Konheisner und die Familie Kövess von Kövessháza Marie Konheisner wurde am 5. September 1875 in Steyr, Oberösterreich, geboren. In ihrer Geburtsurkunde ist sie als „Maria Anna“, uneheliche Tochter von „Franz Josef Konheiser [sic], Visitirer in der Fabrick“, und der „Marie Ruecker, ehel. Tochter des Johann, Modellstecher in Steyr“ eingetragen.12 Ähnlich wie bei Helene Gasser sind auch Marie Konheisners Aufzeichnungen auf ihre Dienstzeit beschränkt und beginnen mit ihrem Arbeitsantritt als Köchin bei der Familie Kövess am 17. September 1898: „Genau an dem Tag, als man in Wien die ermordete Kaiserin Elisabeth zu Grabe trug, trat ich meinen Dienst im Hause des Obersten von Kövess an.“13 Von ihrer Kindheit und Jugend erfahren die Leser/innen nichts, und auch ihre Familie wird nur am Rande erwähnt. Ihre Mutter bezeichnet Konheisner als „fleißige Frau“, die sie „schon sehr früh zur Arbeit angehalten“14 habe. Es werden zudem ein Bruder und zwei Schwestern vorgestellt. Eine davon, Anna Konheisner, gelernte Schneiderin, arbeitete als Stubenmädchen ebenfalls eine Zeit lang bei der Familie Kövess. Ihr Dienstgeber, Baron Hermann Kövess von Kövessháza (1854–1924), war ein Angehöriger der k. u. k. Armee. Seine Militärkarriere prägte maßgeblich das Leben seiner Familie und Angestellten. Von 1898 bis 1929 zog die Familie Kövess acht Mal um. Marie Konheisner begleitete sie überallhin, wohin Hermann Kövess versetzt wurde. 1898 wurde er als Major nach Wien beordert, 1902 als Generalmajor nach Innsbruck, 1908 als Feldmarschallleutnant nach Bozen und 1911 als Korpskom-

12 Geburtenbuch der Pfarre Steyr-St. Michael 7/462/242. 13 Konheisner, Marie: Meine Dienstzeit im Hause Kövess. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, S. 1. 14 Ebd. S. 7.

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mandant und kommandierender General nach Hermannstadt (Sibiu/Nagyszeben) in Siebenbürgen berufen, zum General der Infanterie befördert und im gleichen Jahr zum Geheimen Rat ernannt. Eigentlich hätte er ihm Herbst 1914 in den Ruhestand treten sollen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde er jedoch mit seinem Korps an die Ostfront geschickt. Einige Tage vor Ende des Krieges im November 1918 wurde er in das höchste Amt der k. u. k. Armee befördert und zum Oberkommandanten ernannt.15 Seine Ehefrau, Baronin Eugenie Kövess von Kövessháza (1861–1941), geborene Hye, war Hausfrau und ab 1905 VizePräsidentin des österreichischen Roten Kreuzes.16 Entsprechend dem hohen militärischen Rang von Hermann Kövess sowie der Herkunft von Eugenie Kövess aus einer Familie der Hochbürokratie – ihr Vater, Anton Hye Freiherr von Glunek, war 1867 österreichischer Justiz- und Unterrichtsminister – führte die Familie Kövess ein großbürgerliches Leben. Neben Marie Konheisner als Köchin beschäftigten sie immer mehrere Stubenmädchen, einen Offiziersdiener für den Herrn des Hauses, ein Kindermädchen, einen Hofmeister und französische oder englische Gouvernanten für die drei Kinder Béla, Géza und Eugen sowie eine Wäscherin und eine Kleidermacherin. Alle drei Söhne durchliefen militärische Schulen und Akademien. Béla, geb. 1894, kam 1914 im Krieg ums Leben. Géza (1896–1977) studierte nach dem Krieg Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte und war Kustos im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Eugen (1898–1929) führte in den 1920er Jahren eine Tabakwarenhandlung in Budapest. Der Erste Weltkrieg stellte für die Familie Kövess wie auch für Marie Konheisner eine große Zäsur dar. Der Tod von Béla

15 Bührer, Helmut: Feldmarschall Hermann Kövess von Kövessháza – letzter Oberkommandant der k. u. k. Armee. Diplomarb. Univ. Wien 2000, S. 34 ff. 16 Eugenie Kövess: Aus meinem Leben. Österreichisches Staatsarchiv, KA NL B 1000: 301, S. 75.

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Kövess, der Zusammenbruch der Monarchie, der Verlust der Existenzgrundlage – das ganze Vermögen war in ungarischer Kriegsanleihe gezeichnet – stürzten die kaisertreu und groß­ österreichisch eingestellte Familie Kövess nicht nur in eine Sinn-, sondern auch in eine finanzielle Krise. Ausdruck davon ist unter anderem, dass sie sich nur noch ein ‚Alleinmädchen‘ leisten konnte. So musste Marie Konheisner 1921 neben ihrer Arbeit als Köchin auch die gesamte Hausarbeit und die persönliche Bedienung der Herrschaften übernehmen. In diese krisenhafte Zeit fällt zudem der Tod von Hermann Kövess (1924). Nur wenige Jahre später starb auch Eugen Kövess (1929) an einer Lungenentzündung.17 Mit seinem Tod enden die Aufzeichnungen Marie Konheisners ziemlich abrupt: „Nun war alles tot, was gut und lieb in diesem Hause war – der Rest ist Schweigen.“18 Marie Konheisner blieb bis zu ihrem Tod am 6. Oktober 1958 in der Familie Kövess – bis 1941 als Hausgehilfin bei Eugenie Kövess; nach deren Ableben wurde sie als Haushälterin von Géza Kövess übernommen. Marie Konheisner war unverheiratet und kinderlos. Sie hinterließ außer ihren Aufzeichnungen lediglich etwas Bargeld, das nicht einmal zur Deckung der Beerdigungskosten reichte.19

Johanna Gramlinger Johanna Gramlinger wurde am 10. Juli 1904 als jüngstes von fünf Kindern in Attnang, Oberösterreich, geboren. Ihr Vater, Jakob Wintereder, war „Condukteur bei der KK-Reichsbahn“20 und ihre Mutter, Johanna Wintereder, geb. Neudorfer, Hausfrau und Gelegenheitsarbeiterin bei benachbarten Bauern. 17 Géza Kövess: Aus meinem Leben. Österreichisches Staatsarchiv, KA NL B 1000: 181, S. 42. 18 Konheisner, Meine Dienstzeit, S. 109. 19 Verlassenschaftsakt Marie Konheisner, Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.3.1.1(I). A4/5 Konheiser Maria, † 6. 10. 58. 20 Geburtenbuch der Pfarre Attnang (1904).

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Gramlinger beschreibt ihre Eltern als „ehrliche, fleißige, bescheidene und gottesfürchtige Menschen“21. Die Autorin bedauert jedoch, dass ihr Vater wenig strebsam gewesen sei und sein Verdienst deshalb gering blieb, obwohl er bei der Bahn durchaus Aufstiegschancen gehabt hätte. Ihre Kindheit und Jugend schildert sie als entbehrungsreich, aber glücklich: „Nie mehr war ich so froh und glücklich als in dieser Zeit, obwohl wir so arm waren, denn wir wussten ja nicht, wie viel Schönes und Gutes es eigentlich gibt.“22 Mit 16 Jahren wurde Johanna Gramlinger von ihrer Mutter nach Wels zu einer Dienstvermittlerin gebracht, die ihr einen Posten als Mädchen für alles in einem kleinen Haushalt verschaffte, was für die Autorin das Ende ihrer schönen Kindheit bedeutete: „(...) an diesem Tage war es für immer vorbei mit der sorglosen Zeit, und mein Lebensschifflein musste viele Stürme und Klippen umfahren, von denen ich damals nichts ahnte.“23 Anders als Helene Gasser und Marie Konheisner blieb sie nicht viel länger als ein oder zwei Jahre an einer Stelle, manchmal auch nur einige Monate. Sie diente in ganz unterschiedlichen Haushalten und bekleidete die verschiedensten Positionen: als Mädchen für alles, Küchenmädchen oder Aushilfsköchin in kleineren, mittelständischen Haushalten in Oberösterreich, als feines Stubenmädchen auf Schlössern, Gutshöfen und in großbürgerlichen Haushalten in der Steiermark und in Wien oder als Buffetfräulein in einem Gasthaus in Deutschland. Wenn es ihr irgendwo nicht passte oder die Umstände es verlangten, zog sie weiter.

21 Gramlinger Johanna, Ohne Titel, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, S. 3. 22 Ebd. S. 40. 23 Ebd. S. 40.

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Der Wunsch, Neues zu entdecken und sich weiterzuent­ wickeln, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Autobiographie. So entschied sie sich im Jahr 1929, einen kaufmännischen Kurs in einer Handelsschule in München zu besuchen, um als Sekretärin arbeiten zu können. Mitten in der Weltwirtschaftskrise war es ihr jedoch nicht möglich, eine Stelle zu finden. Sie resümiert: „(...) und so musste ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, wieder zu meinem alten Handwerk – zu Besen und Staubtuch – zu greifen.“24 Auch war Johanna Gramlinger immer wieder von kürzeren und längeren Perioden der Arbeitslosigkeit betroffen, die sie zu Hause bei ihren Eltern verbrachte und meistens mit Heimarbeiten überbrückte. 1930 lernte sie ihren späteren Ehemann, den Bahnangestellten und Musiker Anton Gramlinger, kennen. Um endlich einen selbständigen Wirkungskreis als Hausfrau zu haben, entschloss sie sich, mit ihrem Partner in „wilder Ehe“25 zu leben. Eine Heirat blieb ausgeschlossen, da Anton Gramlinger bereits verheiratet war. Dieser Lebensabschnitt war für Johanna Gramlinger mit viel Unglück und Leid verbunden: finanzielle Unsicherheit, zwei Schwangerschaftsabbrüche, die zeitweilige Trennung von ihrem Lebensgefährten, das schmachvolle Zurückkommen ins elterliche Heim und der Abstieg von der eigenständigen Hausfrau zum Mädchen für alles in einem fremden Haushalt. Erst die Versöhnung mit ihrem Lebenspartner, die Möglichkeit der Eheschließung im Jahr 1938 und der Umzug nach Wien im selben Jahr brachten den erhofften sozialen Aufstieg. Johanna Gramlinger fand eine Stelle als Schneiderin, und ihr Mann erhielt als Frühpensionist eine Rente. Sie kauften sich ein Häuschen in einer Gartensiedlung in Wien und bewirtschafteten einen großen Garten. 24 Ebd. S. 60. 25 Ebd. S. 65.

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Nach dem Tod ihres Ehemannes und einer Hüftgelenksoperation musste Johanna Gramlinger das Haus verkaufen. Sie lebte eine Zeit lang in einem Pensionistenheim, wo sie 1977 ihre Erinnerungen niederschrieb. Obwohl ihr Umfeld es nicht verstehen konnte, gab sie als 73-jährige Frau den Heimplatz wieder auf und kaufte sich eine eigene Wohnung in einer neu erbauten Wohnhausanlage. 1998 starb Johanna Gramlinger im Pensionistenheim Haus Atzgersdorf im 23. Wiener Gemeindebezirk.26

Quellenkritische Anmerkungen und Überlieferungsgeschichte Die hier erstmals veröffentlichten Lebensgeschichten von ­Helene Gasser, Marie Konheisner und Johanna Gramlinger stammen aus der in den 1980er Jahren am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien gegründeten Sammlung „Dokumentation lebensgeschichtlicher Auf­zeichnungen“. In diesem Text- und Bildarchiv werden schriftliche, vorwiegend unveröffentlichte Lebenserinnerungen sowie andere persönliche Aufzeichnungen gesammelt. Der ­Fokus wird dabei nicht auf Autobiographien berühmter Persönlichkeiten gelegt, sondern auf Aufzeichnungen von Menschen aus sozial benachteiligten, von der Öffentlichkeit weniger beachteten oder sogar ausgegrenzten gesellschaftlichen Gruppen und Schichten. Neben der Bereitstellung der Lebensgeschichten für die ­historisch-kulturwissenschaftliche Forschung sowie für Bildungs- und Kulturprojekte ist eines der zentralen Ziele der Do­ku­mentationsstelle die Veröffentlichung des gesammelten Materials. In der Buchreihe „Damit es nicht verlorengeht  ...“, in der auch der vorliegende Band erscheint, und auf der Internetseite http://www.MenschenSchreibenGeschichte.at werden ausgewähl­te Texte einem breiten Publikum zugänglich gemacht. 26 Verlassenschaftsakt Johanna Gramlinger, Bezirksgericht Liesing, 1A16/98V.

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Helene Gassers Aufzeichnungen mit dem Titel „Memoiren einer Köchin“ und einem Umfang von 429 Seiten in drei Heften wurden im Nachlass von Otto Fleischl von Marxow, dem Sohn der Dienstgeberfamilie, überliefert. Sein Neffe, Rudolf Schwarzenbach, war im Besitz der Aufzeichnungen gewesen und hatte sie im Jahr 1955 von Zürich nach Wien geschickt, an Eugenie Palitschek-Palmforst, eine Freundin der Familie Fleischl.27 Eugenie Palitschek-Palmforst ließ diese dem Archivar des Wiener Stadt- und Landesarchivs Hanns Jäger-Sunstenau zukommen, der 1986 eine Kopie der „Memoiren“ an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen weitergab. Das Original hinterlegte er in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, der heutigen Wienbibliothek im Rathaus.28 Helene Gasser schrieb ihre Erinnerungen im Zeitraum von 1901 bis 1903 in Lienz in Osttirol nieder – nach dem Tod ihrer Arbeitgeberin Ida Fleischl im Jahr 1899 und auf Anregung der Söhne der Dienstgeberfamilie. Ein Vergleich der Aufzeichnungen mit Briefen der Verfasserin an Marie Ebner-Eschenbach29 macht klar, dass es sich bei der überlieferten Fassung ihrer Aufzeichnungen um eine Abschrift von der deutschen Kurrentschrift in die lateinische Schrift handelt. Wer diese verfasst hat, ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Eine Kopie der Aufzeichnungen Marie Konheisners mit dem Titel „Meine Dienstzeit im Hause Kövess“ überließ Eva-Maria Csáky, eine Großnichte von Géza Kövess, 1986 der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen.30 Das Original ist im Besitz der Erben von Géza Kövess. Die Aufzeichnungen in deutscher Kurrentschrift umfassen 111 Seiten in einem Heft und er27 Brief von Rudolf Schwarzenbach an Eugenie Palitschek-Palmforst. Zürich 1955. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Gasser, geb. 1834. 28 Brief von Hanns Jäger-Sunstenau an Michael Mitterauer. Wien 1986. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Gasser, geb. 1834. 29 Zwischen 1899 und 1906 schrieb Helene Gasser mehrere Briefe und Postkarten an Marie Ebner-Eschenbach, die in der Wienbibliothek im Rathaus archiviert sind: I.N. 58815/ 1-9. 30 Brief von Eva-Maria Csáky an Michael Mitterauer. Wien 1986. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Konheisner, geb. 1875.

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strecken sich über den Zeitraum von 1898 (Arbeitsbeginn bei der Familie Kövess) bis zum Tod von Eugen Kövess, dem jüngsten Sohn der Familie, im Jahr 1929. Ob Marie Konheisner in einem anderen Heft oder zu einem späteren Zeitpunkt weitere Erinnerungen niedergeschrieben hat, konnte nicht geklärt werden. Johanna Gramlinger ist die einzige der drei Autorinnen dieses Bandes, die persönlich eine Kopie ihrer Lebensgeschichte der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen vermachte. In einem Brief vom 2. Mai 1987 schreibt Johanna Gramlinger an Michael Mitterauer, den Gründer der Dokumentationsstelle: „Ich selbst habe meinen Lebensweg vor zehn Jahren niedergeschrieben (damals 72 Jahre), ohne dass mich irgendjemand dazu animiert hätte. Ich habe es nur für mich selbst geschrieben und dachte nicht im Entferntesten daran, dass es jemand anderer einmal lesen könnte. Aber nachdem meine Wege, die ich gegangen bin, nicht alltäglich sind, wären sicher auch Geschehnisse drin, die Ihnen selbst noch nicht unterkamen und die für Ihre Forschungen interessant wären.“31 Das Original der Aufzeichnungen wurde fotokopiert und an die Autorin zurückgesendet. Die Autobiographie, die im Gegensatz zu den Texten Helene Gassers und Marie Konheisners den Großteil des Lebens der Autorin umspannt, umfasst 131 Seiten. Datiert werden kann das Manuskript, das in deutscher Kurrentschrift verfasst ist, auf das Jahr 1977. Das regelmäßige Schriftbild und einige Wiederholungen lassen darauf schließen, dass es sich – wie das bei lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen häufig der Fall ist – um eine Reinschrift handelt. Johanna Gramlinger weist zu Beginn ihrer Autobiographie explizit darauf hin, dass sie Tagebücher geführt hat, die sicherlich als Erinnerungshilfe und Vorlage gedient haben: 31 Brief von Johanna Gramlinger an Michael Mitterauer. Wien 1987. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Gramlinger, geb. 1904.

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„Ja, nun habe ich wieder einmal das kleine, versperrbare Büchlein gelesen mit dem festen Vorsatz, dass es diesmal das letzte Mal sei. Immer hatte ich eine Ausrede, es gäbe keinen Ofen, um dieses Geschreibsel endlich zu verheizen. Aber ich komme so oft zur Donau, wo ich es hineinschmeißen könnte, also ist es nur eine faule Ausrede. Ich will mich ganz einfach nicht davon trennen.“32 Die Suche nach diesem Tagebuch war leider nicht erfolgreich. Die Autorin hatte keine Erben und im Verlassenschaftsakt werden nur das Vermögen und Wertgegenstände aufgeführt. Persönliche Dokumente konnten auch an ihrer letzten Wohn­ adresse, im Pensionistenheim Haus Atzgersdorf, nicht ausfindig gemacht werden.

Editorische Eingriffe, Glossar und Personenverzeichnis Die vorliegende Publikation richtet sich nicht ausschließlich an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern will einen breiteren Kreis an interessierten Leserinnen und Lesern erreichen. Deshalb wurde bei der editorischen Bearbeitung der Texte die Lesbarkeit und Verständlichkeit über die streng orginalgetreue Transkription gestellt. Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden – ohne dies im Einzelnen zu kennzeichnen – den heutigen orthographischen Standards angepasst. Um das Textverständnis zu gewährleisten, waren gelegentlich auch grammatikalische Eingriffe notwendig. Gleichzeitig wurde darauf geachtet, so wenig wie möglich in Stil und Erzählduktus zu verändern und sprachliche Eigenheiten der Autorinnen beizubehalten. Solange die Verständlichkeit gewährleistet schien, wurde auf ‚Verbesserungen‘ verzichtet. Der inkonsequente Einsatz des Konjunktivs oder die spärliche Verwendung des Plusquamperfekts wirken mancherorts vielleicht etwas irritierend, sollen aber genau wie die beibehaltenen dialektalen 32 Gramlinger, Ohne Titel, S. 1.

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­Eigenheiten – beispielsweise in Bezug auf Präpositionen oder in der direkten Rede – den spezifischen Sprachgebrauch der Autorinnen dokumentieren. Obwohl grundsätzlich versucht wurde, so behutsam und so wenig wie möglich einzugreifen, möchte ich darauf hinweisen, dass für eine eingehendere textanalytische Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten die Einsicht in die Originalmanuskripte in der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen zu empfehlen ist.33 Veraltete, umgangssprachliche oder aus anderen Gründen nicht allgemein verständliche bzw. erklärungsbedürftige Ausdrücke sind mit einem Asterisk* gekennzeichnet und werden am Ende des Buches in einem alphabetisch geordneten Glossar erläutert. Ein Personenverzeichnis gibt zudem Aufschluss über die vielen mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten, die insbesondere von den Autorinnen Gasser und Konheisner vielfach ohne weitere Erklärungen namentlich genannt werden. Die sehr umfangreichen Aufzeichnungen von Helene Gasser und Johanna Gramlinger mussten für die Wiedergabe im Rahmen dieses Bandes gekürzt werden. Kürzungen sind mit drei Punkten in Klammern (...) angezeigt. Bei Wegfall längerer, für das Textverständnis wichtiger Stellen wird die ausgelassene Handlung in einer kurzen Zusammenfassung in Kursivdruck wiedergegeben. Ausgeklammert wurden vorwiegend Passagen, die inhaltlich geringe Relevanz für das Thema des vorliegenden Bandes aufweisen – so beispielsweise zahlreiche Anekdoten und Krankengeschichten von Personen im Lebensbzw. Arbeitsumfeld der Helene Gasser oder die umfangreichen Kindheitserinnerungen der Johanna Gramlinger. Grundsätzlich wurde jedoch auf die Ganzheitlichkeit der Wiedergabe der lebensgeschichtlichen Manuskripte und eine in diesem Sinne runde Erzählgestalt geachtet. Nur an einer

33 Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für ­Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Dr.-Karl-LuegerRing 1, 1010 Wien. Tel: +43/(0)1/4277-41306; [email protected]; http://lebensgeschichten.univie.ac.at

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(ausgewiesenen) Stelle im Beitrag Helene Gassers wurde die Chronologie der Erzählung zugunsten inhaltlicher Zusammenhänge durchbrochen. Allerdings wurden die im Original fast gänzlich ungegliederten Erzähltexte in Absätze und Abschnitte unterteilt und Letztere zur besseren Orientierung für die ­Leserinnen und Leser auch mit Zwischentiteln versehen; dafür wurden kurze, charakteristische Zitate aus den jeweils nachfolgenden Textabschnitten herangezogen. Autobiographische Selbstpräsentationen entstehen nie im ‚luftleeren‘ Raum. Verfasser/innen lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen nehmen immer bewusst oder unbewusst Bezug auf ihre Umwelt, verweisen auf überindividuelle Ereignisse und Entwicklungsprozesse und ihre Erzählungen sind geprägt von zeitgenössischen Diskursen. Daher werden allgemeine Rahmenbedingungen einer Existenz als Dienstmädchen in Österreich im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Nachwort skizziert. Bewusst wurden für diesen Sammelband Vertreterinnen verschiedener Dienstmädchen- bzw. Hausgehilfinnen-Gene­ rationen ausgewählt. Auch bezüglich der Positionen und Funktionen, die sie innerhalb der Haushalte innehatten, oder der sozialen Stellung der Familien, in denen sie dienten, bestehen deutliche Unterschiede. Gerade in der individuellen Vielschichtigkeit und teilweise auch Widersprüchlichkeit der Darstellung liegt die besondere Aussagekraft lebensgeschichtlicher Selbstzeugnisse. Ungeachtet aller möglichen Parallelen und Differenzen, aller historischen Kontinuitäten, Brüche und Veränderungen, die sich darin aufspüren lassen, sollen die Lebenserzählungen vor allem als das gelesen werden, was sie mit Sicherheit sind: als – ausgesprochen seltene – Zeugnisse von einer vergangenen Arbeits- und Lebenswelt, die durch andere Quellen oder analytische Zugangsweisen nicht annähernd so gehaltvoll vergegenwärtigt werden kann.

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Helene Gasser

„So nach und nach lernte ich viele und vieles kennen ...“ Ich kam in das geehrte Haus der Frau von Fleischl im Jahre 1864, den 5. Oktober. Ich wurde aus einem Büro in der Stadt hingeschickt. Ich war vorher vier Jahre am Neubau* bei einer Hausfrau. Damals kam ich noch ganz frisch gebacken aus meiner Heimat Tirol nach Wien. Es ging mir dort nicht schlecht, aber ich dachte mir: „Ich muss noch was anderes probieren!“ Was in diesem Hause zu sehen und zu lernen war, das konnte ich schon alles, da ich bereits das fünfte Jahr begonnen hatte; und doch war ich noch ein rechter Backfisch. Ich hatte in dieser Zeit nichts Neues probiert, bin mit wenigen Menschen in Verkehr gekommen, habe kaum gewusst, wo man zur Stadt geht. Es hat mich damals auch nichts interessiert. Eine Zeitung zu lesen war mir nicht eingefallen. Ich kümmerte mich nicht um alles Schöne und Künstlerische, ging niemals ins Theater, verstand nichts und war froh, dass es zu Ende ging. So ist die Zeit vergangen. Darum hatte ich dann das Bedürfnis, woanders wieder was zu sehen und zu lernen. Nun ging ich in das obengenannte Büro, welches mir empfohlen wurde, weil man in dieser Anstalt nur solche Mädchen genommen hat, die von mehreren Jahren Zeugnisse hatten. Wie ein Büro ist und aussieht, davon hatte ich keine Ahnung. Ich hab mir vorgestellt, ich würde allein, ganz ungeniert* mein Anliegen vorbringen können. Doch war das eine Täuschung. Als ich hineinkam (das Büro war in der Klostergasse), war das Lokal so voll, dass manche noch auf der Straße standen. Wie mir da zu Mute war, das habe ich nie vergessen. Zagend ging 23

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ich hinein mit dem Gefühl, als würde ich zum Kaufe angeboten, denn ich hatte so was noch nie gesehen. Als ich sechs Jahre in meiner Heimat in zwei Plätzen gedient habe, da war es anders; da suchten die Frauen ihre Mädchen selbst und forschten nach, ob sie die oder jene bekommen könnten. In dem Lokal waren auch mehrere Frauen, die die Mädchen selbst herausgesucht hatten; auch mich hatten einige haben wollen, aber diese Damen sind mir absolut nicht sympathisch gewesen. Ich dachte mir: „Ich mag nun einmal nicht!“ Dann bekam ich eine Adresse: Frau von Fleischl, Wieden*, Taubstummengasse 10, erster Stock. Ja, wo wird denn Wieden sein? Zwei Mädchen aus dem Büro gingen mit mir in der Meinung, wenn es für mich nichts wäre, könnte es vielleicht für sie was sein. Nun versuchte ich zuerst das Glück, ging hinauf und hinein. Die gnädige Frau wurde gerufen, ich stellte mich vor. Ich bekam durch das freundliche Entgegenkommen der gnädigen Frau Mut. Die erste Frage war: „Können Sie Herrenhemden nähen?“ Ich sagte: „Ja.“ – „Können Sie auch mit der Maschine nähen?“ Ich sagte, dass ich noch nie eine gesehen habe; auch die gnädige Frau hat damals noch keine gehabt, es wurde erst eine gekauft. Dann wurde ich gefragt: „Können Sie servieren?“ Da habe ich mir gedacht: „Was soll denn das sein?“ Ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte, und gab nur zur Antwort: „Ja, wenn man es mir zeigt, werde ich schon dreinkommen.“ Nun waren wir fertig, und nach ein paar Tagen bin ich schon eingestanden. Dann habe ich wohl gleich gesehen, dass man das Herrenhemdennähen brauchen kann – es waren nicht weniger als sechs Herren da. Als ich schon einige Tage im Hause war, erfuhr ich erst, dass die gnädige Frau vor mir nicht weniger als 22 Mädchen aus dem genannten Büro hat kommen lassen; es hat ihr keines recht behagt, und wenn ihr eine gefallen hat, dann konnte die wieder nicht Herrenhemden nähen. Es kamen dann noch einige, um ihre Zeugnisse abzuholen, da sich die gnädige Frau Bedenkzeit vorbehalten hatte. Nun bekam ich nochmal Angst und wurde ganz verzagt, weil ich mir gleich gedacht habe: „Ich 24

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werde in das Haus wohl nicht passen und viel zu dumm sein!“ Doch es ist gegangen. Ich hab mir alle mögliche Mühe gegeben, um die Herrschaften zu befriedigen, und sie sind auch so nach und nach mit mir zufrieden geworden. Nun habe ich geschworen: „Büro, du siehst mich nimmer wieder; war nur das eine Mal da, um auf diesem Weg Arbeit und Brot zu suchen!“ Es ist mir auch gelungen, hab nie mehr ein Büro gebraucht. Die Herren waren fast noch Kinder: Der Herr Richard, der jüngste, war erst zehn Jahre alt, ist noch in keine Schule gegangen. Es war auch ein Hofmeister* da. Aber Professor Ernst, Dr. Otto und Paul, die waren mit ihrem Studium schon sehr fleißig. Der gnädige Herr war wenig zu Hause, da das Comptoir* in der Leopoldstadt* war. Zur gnädigen Frau kamen viele Besuche, lauter berühmte Menschen. (...) So nach und nach lernte ich viele und vieles kennen. Das Frl. Betty Paoli habe ich erst später kennengelernt, denn sie war, als ich in das Haus kam, noch bei der Fürstin Bretzenheim in Sárospatak*, wo sie jeden Herbst bis zu deren Tod hat sein müssen. Was das Frl. Betty Paoli war, das habe ich lange nicht verstanden – eine Schriftstellerin. Da habe ich mir vorgestellt, es wird halt jemand die Bücher und Schriften aufeinanderstellen, dass sie nicht so herumliegen, so eine Art Einräumen. Ja, mein Gott! Wo hätte ich denn in meinen jungen Jahren etwas hören sollen? Dr. Otto von Fleischl samt Frau haben sich die Mühe gemacht und mir die große Ehre gegeben, mich im Jahr 1900, den 13. Juli, in meiner Heimat Lienz in Tirol zu besuchen. Da habe ich ihnen bei einem Spaziergang mein Geburtshäuschen gezeigt. Es ist unter einem Walde, nicht ein Haus in der Nähe, kein Verkehr mit Menschen, kann man sagen, nur mit Waldbewohnern. Das sind: Zeiseln*, Stieglitze, Krummschnäbel, Amseln, Lerchen, Berggimpel (wie man hier sagt). Im Winter, wenn viel Schnee lag, sah man auch manchmal Vierfüßler: Gämsen und Hasen, die der Hunger heruntergetrieben hat. Leider haben wir selbst auch Hunger gehabt, da der Familiensegen sehr groß war: zwölf an der Zahl – so ist es leicht erklärlich; und einen armen Schneider zum Vater und Ernährer. 25

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Von der obgenannten Nachbarschaft haben wir nichts Schriftstellerisches erfahren können, wenn schon, eher etwas Musikalisches. Erst so nach und nach habe ich das Frl. Betty Paoli von innen und außen kennen und selbstverständlich auch schätzen gelernt. Ganz merkwürdig kamen mir im Hause Fleischl die vielen Bücher vor. Das konnte ich mir lange nicht enträtseln. In meinem Elternhaus waren außer den Schul- und Gebetbüchern nur zwei von immenser Größe: Das eine war das Leben Christi, das andere seine Leiden. Das waren unsere „Romane“. Wenn wir die zu Ende gelesen hatten, dann ist wieder von vorne angefangen worden, und an den Feierabenden oder an einem Sonntag hat uns der Vater vorgelesen. Erst in Wien ist es mir klar geworden, dass mein Vater einen schönen Vortrag gehabt hat. In der Schule wollte uns der Seelenhirt nicht schreiben lehren, nur lesen und Religion – das hat mein Vater nicht zugegeben*. Was hätte ich da im Hause Fleischl getan, wenn ich nicht halbwegs hätte schreiben können? Ich habe mir erlaubt, allen Herrschaften im Haus zu ­schreiben, habe mir auch so manchen Jux erlaubt. Da die gnädige Frau den Herrn Richard immer den „Kleinen“ geheißen hat, schrieb ich ihm einfach: „Lieber Kleiner.“ Die Großmutter hieß den Dr. Otto immer Buberl, ich schrieb ihm ganz natürlich: „Liebes Buberl.“ Der Herr Paul wurde Papus genannt, ich schrieb ihm: „Lieber Papus.“ Ja, warum nicht? Mein Gott! Der gnädigen Frau muss man ja folgen. Ja, ja! Hätte ich nur alles nachmachen können, was wäre aus mir geworden? Könnte es kaum zusammenzählen, wie viel Güte, Weisheit, Ruhm, Ehre und Verehrungen mir wären. Ich habe wirklich in diesem Hause viel zu schreiben gehabt, viel zu kaufen und zu verrechnen; am Abend habe ich manches Mal – beim Einschreiben faul geworden – schlecht geschrieben. Wenn dann die gnädige Frau wie in der Regel in die Küche kam und sagte: „Du, Helene, komm her, was hast du denn da für eine Figur gemacht? Das kann kein Mensch lesen“, sagte ich: „Dann brauch’ ich wohl gar nicht hineinzuschauen, wenn es kein Mensch lesen kann und ich doch auch ein Mensch bin.“ 26

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– „Ja“, meinte die Gnädige, „bist ein nichtsnutziger Kerl“, und hat so von Herzen gelacht; so leicht war es eben, die gnädige Frau aufzuheitern. (...) Am Abend hat das Paperl*, der Jako*, die Gnädige sehr unterhalten. Ich habe ihn gewöhnlich nach neun Uhr abends gefüttert und geputzt. Die Gnädige hat gemeint, wenn er zeitig wach wird, dass er ja nicht hungert. Da hab ich ihn hinauf auf sein Spangerl gegeben, und er hat aufmerksam zugesehen, was ich mit seiner Wohnung mache, und dabei immer gesagt: „Du, du, na wart …“ Das hat der gnädigen Frau so viel Freude gemacht. Sie ist während der ganzen Produktion bei seinem Häuschen gesessen und hat mit größtem Vergnügen zugehört, gelacht und gemeint, sie würde den Vogel nicht um tausend Gulden hergeben. So viel war er ihr wert und noch mehr, außer sie würde das Geld für die Armen verwenden. Ja, solche Abende waren ihr trotz der Freuden doch wieder zu einsam und zu ruhig. Wenn die gnädige Frau auch oft und gerne mehr Zeit gehabt hätte, aber nach so einem bewegten Leben, wie es bei uns immer war, war diese Ruhe gewiss auch nicht angenehm. Es verging kein Abend, an dem nicht etwas los war. Den einen Abend waren bei uns Gäste oder eine Vorlesung, den anderen Abend habe ich die gnädige Frau abgeholt, und zwar in verschiedenen Häusern. Wir kamen oft erst um zwölf Uhr in der Nacht nach Hause. Öfters hat sich die Gelegenheit geschickt, dass die Frau von Wiener mit der gnädigen Frau bis zum Tor gefahren ist und der Bediente* mit war, so war für mich kein Platz mehr. Wenn dann die Hausmeisterin das Tor aufgesperrt hatte, ist sie gefragt worden: „Ist meine Helene schon da?“ – Ich hätte sollen vor dem Wagen hineinkommen, dabei habe ich noch die berühmte Lydi* mitnehmen müssen. Die Lydi hat sonst niemand wollen, außer der Gnädigen und dem Frl. Betty selbstverständlich. Wenn dann die Gnädige gefahren ist, hab ich das Tier aus der Stadt bis in die Wieden getragen vor Angst, dass es mir davonläuft. Da wäre das Frl. Betty in Ohnmacht gefallen, denn das Vieh, oh pardon, die Prinzessin – sie wurde vom Fräulein nie anders geheißen – hatte einen großen Wert, der gar nicht zu bemessen war. (...) 27

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Oh, pardon! Ich hätte eigentlich zuerst von den jungen Herren schreiben sollen und nicht über Hunde, aber ich dachte mir, das Gute kommt oft auch zuletzt. Von diesen weiß ich nicht, sollte ich sagen junge Herren oder Kinder? Fangen wir halt beim Erstgeborenen an: Das ist der Herr Ernst, der mochte 17 Jahre alt gewesen sein, war aber schon ein ganzer Mann. Er hatte den Namen Ernst nicht umsonst, es war auch sein Charakter darnach. Er war schon damals ganz übertrieben fleißig im Studieren. Sein Zimmer war ein kleines Laboratorium. Was da alles war, das mich ganz entsetzt hat: Lebende Frösche hat er beobachtet, und wenn sie dann bald ausgelebt hatten, so war erst recht große Beobachtung: wie lange das Herz noch schlägt etc. Dann hatte er Salamander und dergleichen; einmal einen jungen Hund, der zum Glück schon tot war. Ein andermal brachte er aus dem Spital frische Kinderaugen, ganz schöne, blaue Augen – die sind auch längere Zeit in einer Schale geblieben –, oder frische Kinderarme, zarte Nägelchen an den Fingerln, fast blau. Wenn er mit seinen Untersuchungen fertig war, musste ich diese „Corpus Delicti“* zum Friedhof tragen. Hinauf kam wieder irgendein Teil des menschlichen Körpers, den ich oft nicht erkannte, war mehr froh als neugierig. Totenköpfe waren auch da, auf dem Kasten aufgestellt, da hat ein Kollege einmal einen Spaß gemacht und einem eine Zigarre zwischen die Zähne gesteckt. Es waren schöne Zähne drinnen, und ein Zylinder wurde ihm aufgesetzt. Ich bin furchtbar erschrocken, wie ich am Abend in das Zimmer kam, um abzuräumen, und diese Ausstellung gesehen habe. Alles Mögliche hat er beobachtet, bei Tisch sogar jedes Beinchen vom Geflügel, jedes Ei – alles hat ihn interessiert; aber leider hat er sich durch Überanstrengung sehr geschadet. Die Nerven hat er zu viel aufgeregt, sodass er sehr nervenkrank wurde, das heißt, er hat solche nervöse Anfälle bekommen, dass es schrecklich war. Wenn es wieder vorüber war, meinte er, es fehlte ihm nichts. Leider kamen diese Anfälle oft, und jede Kleinigkeit hat ihn aufgeregt. Wenn jemand bei Tisch auf dem Teller gekratzt hat, das war schon genug. Da ist er dem 28

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Herrn Otto, der immer neben ihm gesessen ist, auf seine Schultern gefallen. Ich habe immer Angst gehabt, wenn ich mit den Speisen zur Tür kam und es war alles so ruhig. Da bin ich nie hineingegangen, bis man geläutet hat. Nun hat der Arme aussetzen müssen vom Studium, und zwar ein ganzes Jahr. Er ist nach Leipzig und im Sommer nach Gastein gegangen, hat malen gelernt, und glücklicherweise hat er diese Anfälle verloren. Herr Otto war ein ganz merkwürdiger* junger Herr. Er war musikalisch sehr begabt; ist auch kein Wunder, denn er war geboren worden in einem Hause am Stephansplatz, wo gerade ein großartiges Musikstück aufgeführt wurde. Was es war, habe ich vergessen. Die gnädige Frau hat es mir oft erzählt. Er ist fast noch, wie er war – so geduldig in allem; man hat ihn nie zornig gesehen. Ich habe oft zu ihm gesagt: „Herr Otto, Sie haben gewiss keine Galle, weil Sie sich nie und über gar nichts ärgern.“ Seine Lehrer waren manchmal ein wenig massiv, hauptsächlich sein Klavierlehrer, wie gewöhnlich alle solchen aufgeregt sind. Das hat ihm alles nichts gemacht. (...) Was ist denn aus Herrn Otto geworden? Ein Medizindoktor und ein Klaviervirtuose. Nun kommt der Herr Paul. Er war ungefähr elf Jahre alt, ist in die Schule gegangen, ein merkwürdig aufgeweckter Junge. Es ist ihm nichts ausgekommen. Hat man ihn früh wecken wollen, kamen wir immer zu spät. Die Falkenaugen, die alles gesehen haben, haben schon aus dem Bett herausgeglänzt. War bei Nacht was los, ist ihm auch nichts ausgekommen. War jemand unwohl, war er der Krankenwärter. Bei Tisch war er dann nie; er hat seine Portion genommen und ist am Bett des Kranken gesessen. Einmal war die alte Kathi krank, lange krank – sie hat eine Gelenksentzündung gehabt –, und da Herr Paul nebenan geschlafen hat, ist er jede Nacht aufgestanden, um zu sehen, wie es der Kathi geht. Wir waren noch auf der Wieden, und ich habe beim Frl. Betty Paoli im zweiten Stock schlafen müssen, war aber wohl auch manche Nacht bei der Kathi herunten. Einmal war eine sehr heiße Zeit, da war ich in der Nacht bei ihr, um ihr Eisumschläge zu machen, und weil es so heiß war, habe 29

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ich Eis gegessen. Ich bekam dann furchtbare Leibesschmerzen – fast einen Cholera*-Anfall. Ich ging in die Küche und wollte mir einen Kamillentee machen. Das war mir nicht möglich, da ich solches Fieber hatte, dass ich nicht im Stande war, ein Feuer zu machen. Wie gewöhnlich kam Herr Paul wieder in jener Nacht zur Kathi: „Nun, Kathi, wie geht es Ihnen?“ – „Ja“, meinte sie, „mir geht gut, aber Helene wird sterben!“ – „Ja, wo ist sie?“ – „Weiß ich nicht, glaub, in der Kuchel“, wie sie auf böhmische Art geredet hat. Nun ging Herr Paul mich suchen. Er hat wohl gesehen, in welchem Zustand ich war, dann hat er Feuer gemacht, mir einen Kamillentee gekocht und ist bei mir geblieben, bis die Krämpfe etwas nachgelassen hatten. Inzwischen hat wieder die Kathi zu jammern angefangen, da ist er wieder zu ihr gegangen, hat ihr Umschläge gemacht, denn die Arme hat sich nicht bewegen können, es war so eine schmerzhafte Krankheit. So hat der junge, kaum 15 Jahre alte Herr die halbe Nacht für uns geopfert. Er hat sich nicht niedergelegt, bis er nicht gesehen hat, dass es uns besser geht. Oft haben wir, die Kathi und ich, von jener Nacht gesprochen. Das haben wir nie vergessen. Aber er war auch schlimm. Ja, mein Gott! Die Jugend, die goldene Jugend! Wir haben manches Mal auch gerauft – ganz anständig gerauft wie im Wirtshaus, nur sind keine Bierkrügel herumgeflogen, weil wir keine hatten. Dafür hat er mir ein Zuckerhutpapier voll Wasser aufgesetzt; das war ein anständiges Bad, da konnte ich ihm nicht einmal nachlaufen. Ich war wie aus dem Wasser gezogen. Dann hat er wieder aus den Küchenkästen alle Türen ausgehängt, aber die alte Kathi, die war so schnell, ist ihm nachgelaufen. Da ist gerauft worden; das war der Kathi sogar ganz recht, es war ihre Passion. Manchmal haben sie uns doch bei der Mama verklagt, haben aber nichts ausgerichtet. Die gnädige Frau hat dann gesagt: „Ihr habt nichts zu tun in der Küche, warum geht ihr denn hinein?“ Ja, ja, es war halt eine gescheite Frau, die nicht gleich auf die Dienstleute drauflos gedroschen hat – darum sind sie auch alle bei ihr alt geworden. 30

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Kathi und ich waren die letzten Köchinnen. Kathi war 30 Jahre und ich mit ihr 27 Jahre, dann habe ich sie abgelöst und die Kocherei übernommen. Kathi ist im Hause geblieben und hat nur nach ihrem Vergnügen arbeiten können, was sie gerne getan hat. Wie gut sie es gehabt hat! Manche Eltern haben es bei braven Kindern nicht so schön. Den letzten Winter, im Jahre 1890, da war sie wohl lange krank, aber doch immer außer Bett. Wenn früh der gnädige Herr und die gnädige Frau heraus­kamen und fragten: „Kathi, wie geht es denn?“, hat sie gemeint, „Geht mir gut. Heute werde ich in Prater fahren. Es ist der 1. Mai, ist Standrecht!“ Es war damals mit den Sozial­ demokraten eine ängstliche Aufregung; es war im Jahre 90*. Die Politik hat sie immer so interessiert. Mit Begeisterung sprach sie vom Jahr 48*, was sie da für Courage gehabt hatte. Sie war damals bedienstet in der Krugerstraße in der Stadt*. Wie sie erzählt hat, war es augenscheinlich wahr, dass sie Courage gehabt hat; wenn schon die Kugeln bei den Fenstern in ihre Wohnung hereingeflogen sind und alle in den Keller geflüchtet waren. Ja, sie war mutig, das hat man bei ihrer Krankheit gesehen. Wenn eine 80-jährige Greisin, man kann sagen, sechs Monate nichts essen kann als nur Flüssiges und auch das nicht immer, weil sie in der Speiseröhre ein Neugebilde hat; da kann man sich wohl denken, was für eine Schwäche und Magerkeit das war. Ich habe sie allein gepflegt, Tag und Nacht, sie hat auch sonst niemand mögen. Wie gerne hab ich ihr alles getan! Aber manches Mal glaubte ich, es drückt mir das Herz ab, wenn ich sie anschaute und denken musste: „So alt und so schwach, und nichts kann man tun!“ Aber der gute Humor und das Interesse für alles, besonders das Zeitunglesen, das hat mir noch Mut gemacht, sonst hätte ich es nicht mehr ertragen. Auch hat ihr der Herr Professor, weil sie so eine Tierfreundin war, den Papagei gelassen, die Lora, das war dann ihr Hauptvergnügen. Den hat sie noch immer gefüttert und geputzt. Die Lora hat immer ein Spektakel losgelassen, wenn man sie gestört hat, und da hat die Kathi dann gesagt: „Jetzt hat sie mir wohl Maul* ang’hängt.“ Das war immer ein Gelächter. 31

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Vier Wochen vor ihrem Tode hat sie noch vom Wiener Hausfrauenverein* eine Prämie bekommen, schon die zweite, auch ich bekam die zweite. Ich bin allein gegangen, da die Kathi nur mehr ein Schatten war. Diese Verteilung war in der Eschenbachgasse im Architektensaal. Die Präsidentin hat eine schöne Rede gehalten für eine Köchin, die schon im achtzigsten Jahr stehe. Diese diene schon nahe an dreißig Jahre in einem sehr werten Hause. Das Stubenmädchen habe es ermöglicht, und besonders die gnädige Frau, dass diese betagte Köchin noch bis in ihr hohes Alter im Dienst habe sein können. Dann hat mich die Präsidentin den Dienstmädchen als mustergültig vorgestellt, wie man gegen seine Nebendienerinnen sein soll: „Jetzt pflegt sie sie Tag und Nacht trotz ihrer Dienstarbeiten in der letzten Krankheit.“ Es mochten gegen 200 Menschen anwesend gewesen sein. Alles hat dann „Bravo!“ geschrien. Ich habe damals sehr geweint und wollte unmöglich glauben, dass der Kathi ihr letztes Stündchen so nahe war. Man hat mich später hinaufgerufen auf die Tribüne und mir beide Prämien gegeben. Nun lasse ich die Kathi und fange das 65er-Jahr an. Ich hoffe, dass ich mich so ziemlich an alles, was ich von Jahr zu Jahr erlebt habe, erinnere, und das will ich wahrheitsgetreu niederschreiben. Wie leid es mir tut, dass ich gar so viel Trauriges auch zu schreiben habe, aber um der Wahrheit treu zu bleiben, muss und will ich alles berichten. Im Jahre 1865 und 1866 habe ich die Eltern der gnädigen Frau in Ischl kennengelernt. Sie sind zweimal aus München auf mehrere Wochen nach Ischl gekommen. Einmal war auch die Baronin Stein bei uns, die hat dann die Großeltern gemalt. Der Großvater war schon kränklich – er hatte kurz vorher einen kleinen Schlaganfall gehabt, hatte sich aber wieder ziemlich erholt. Bekanntlich war die Baronin Stein eine Malerin und hat die beiden Eltern damals gemalt. Es dauerte lange, bis beide wenigstens mit dem Sitzen fertig waren. Mit der Großmutter war es leicht, die ist sehr ruhig sitzen geblieben, ganz anders hat sich der Großpapa benommen. Es hat ihm einen großen Spaß gemacht, sein Gesicht in alle Formen zu ziehen, sodass es der Baronin fast unmöglich war zu malen. Dann kam die gnä32

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dige Frau herein und hat gebeten: „Ach, lieber Vater, wenn du solche Gesichter machst, kannst du unmöglich schön werden.“ Das hat ihm noch mehr Spaß gemacht. Es ist mit der Zeit doch alles fertig geworden und gut ausgefallen. Die Großeltern waren schon nahe zur goldenen Hochzeit, aber diese gegenseitige, fast kindliche Liebe, die hätte man sehen sollen. Wenn man nicht die Silberhaare und den Lebensabend gesehen hätte, würde man geglaubt haben, sie seien erst getraut worden; man war oft darüber gerührt. Dass sie auch sonst gute Menschen waren und große Wohltäter, brauche ich wohl gar nicht zu sagen. (…)

„Wir sind bis Ende September geblieben ...“ Wir sind nach Mondsee gekommen, weil der Herr Professor mit dem Herrn Exner schon einmal dort gewesen war. Damals gab es noch keine Villa, kein Dampfschiff. Es ist ein kleiner Markt, ich glaube, 30 Häuser und 24 Gasthöfe. Auch wir mussten im Gasthof wohnen, haben aber doch selbst Menage* geführt. Wir wohnten im zweiten Stock, und zur Bequemlichkeit war die Küche im ersten. In diesem Gasthause war jeden Sonntag Tanz. Es wurden Schuhplattler, Landler und weiß Gott, wie diese Spektakelmacher-Tänze alle heißen, getanzt. Das hat manches Mal weit über Mitternacht gedauert. Der Schluss war dann ein Rauftänzchen. Das Fräulein Betty Paoli hat gegenüber gewohnt beim Bürgermeister, selbstverständlich auch ein Gasthaus. Wenn sie am Abend nach dem Souper hinüberging, musste sie durch die Tanzenden durchgehen, um in ihr Zimmer zu gelangen. Einmal hat sie einer zum Tanz aufgefordert, das hat sie bei Tisch so komisch erzählt, dass alle sich unterhalten haben. Da muss ich eine kleine Anekdote erzählen: Es war ein furchtbares Gewitter und so viel Wasser im Bach, dass man Laden legen musste, um auf die andere Seite hinüberzukommen. Es war am Abend stockfinster, da sagte die gnädige Frau: „Du, Helene, du musst das Fräulein hinüberführen.“ Ich zündete eine Laterne an, in der einen Hand führ33

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te ich das Fräulein, in der anderen die Laterne – die Lidy in der Schürze. Dann ging der Transport los. Ich leuchtete dem Fräulein bis an die Füße und sagte: „Fräulein, gehn Sie nur mir nach, und nicht weiter schauen als auf den Laden.“ Zwei, drei Schritt’ – ist das Fräulein schon im Wasser – ein Schrei des Entsetzens! Zum Glück war das Wasser nicht tief, sodass es nur über die Stiefel gekommen ist. Sie hat dies so humoristisch erzählen können, dass alle herzlich darüber gelacht haben. Oft gab sie dieses Erlebnis zum Besten. Die Baronin Stein war auch damals bei uns, hat mitgewohnt im zweiten Stock. Es war ein furchtbar heißer Sommer, und unsere Wohnung war nicht danach; wir hatten nicht einmal Jalousien. Den ganzen Tag die Sonne, und die Häuser waren alle blendend weiß geputzt, sodass man, wenn man hinausging, gleich zum Niesen anfing, als wenn man den größten Schnupfen hätte. Zu allem Schönen war der Hausherr nicht nur Wirt, sondern Fleischhacker; zu allem Unglück die Schlagbank beim rückwärtigen Tor, das war entsetzlich. Um vier Uhr früh habe ich schon meine Ohren zugehalten, dass ich ja nichts hörte, und doch bin ich einmal schön angekommen. Da ich glaubte, dass alles schon vorüber sei, wollte ich halt meine gewohnten Wege gehen. Zu meinem Entsetzen brachten sie erst die Kuh daher, einen Sack auf dem Kopf. Das hat nicht einmal die resolute Baronin Stein ausgehalten und hat gesagt: „Der Teufel soll es holen! Ich habe sogar selbst mein Reitpferd erschossen, aber das Schlachten kann ich nicht aushalten.“ Wir sind dann wirklich um drei Wochen früher abgereist. (...) In Mondsee hat die Baronin Stein das letzte Mal bei uns gewohnt. Am Anfang hat es ihr gut gefallen. Einmal war eine mondhelle Nacht, und die Baronin war schon zwei Tage im Bett, sie war etwas unwohl. Auf einmal werden Kathi und ich in der Nacht um zwölf Uhr aufgeweckt, es war die Baronin. Wir haben geglaubt, sie will vielleicht den Doktor haben, weil er auch tags zuvor geholt wurde – Dr. Lechner, der auch noch lebt. Das war aber nicht der Fall, sondern wir mussten uns schnell anziehen und mit ihr auf den See fahren. Das war für mich kein kleiner Schrecken, ich hatte vorher nie so einen 34

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großen See gesehen, noch weniger befahren. Ja, mein Gott, wir hatten nicht den Mut, Nein zu sagen, so gingen wir halt. Vom Markt war es noch eine Strecke bis zum See, und als wir bei der ersten Schifferhütte anklopften, rührte sich niemand. Nun wurde angepumpert – kein Lebenszeichen. Da war also nichts zu machen, und wir gingen zu der zweiten; wieder alles im tiefen Schlafe, wie die Murmeltiere. Da hörten wir wohl eine menschliche Stimme, der hatte aber kein Schinakel*, nur für zwei, einen kleinen Seelentränker*. Ach, wie war ich froh – wenn nur nichts daraus würde! Nun kamen wir zu der dritten Hütte – pump, pump! „Was gibt es?“ – „Möchten Sie uns nicht auf den See fahren, es wird gut bezahlt?“ Der Kerl sagte in seinem Salzburger Dialekt: „Ja, ja. Glei kim i, nur a wengal warten!“ Richtig, kommt der Kerl mit seiner Mordsplätten*, dass eine Kompanie Soldaten genug Platz gehabt hätte. Nun ist die Fahrt losgegangen. Es war schon wunderschön – wenn ich mich nur nicht so gefürchtet hätte! Der helle Mond hat seinen Namenskollegen Mondsee ordentlich beleuchtet; es war ganz feenhaft. Etwas vor drei Uhr morgens kamen wir glücklich heim. Beim Frühstück sagte dann die Frau Baronin: „Du, Ida! Sehr schön war es heute Nacht bei diesem herrlichen Mondschein auf dem See!“ – „Hat dir geträumt, Mina?“ – „Nein, in Wirklichkeit!“ Es ist nicht geglaubt worden, Kathi und ich wurden als Zeugen gerufen. Nun hat die gnädige Frau geschrien: „Es ist nicht zu glauben, du warst doch unwohl!“ (...) Dann sind wir alle in Mondsee auseinander, die Frau Baronin nach Rom, die gnädige Frau ist mit dem Herrn auf drei Wochen nach Reichenhall. Das Frl. Betty ist auch noch wohin auf Besuch, wo, weiß ich nicht mehr. Kathi und ich sind noch einige Tage geblieben, sind dann zu Fuß auf den Schafberg gegangen. Die Kathi war damals schon über 60 Jahre und sehr korpulent. Man hat uns ausgelacht, wenn wir Touristen begegnet sind: „Ja“, haben die gemeint, „wollen Sie mit der Frau auf den Schafberg kommen?“ – „Ja, warum denn nicht?“, gab ich ihnen zur Antwort. Anstatt um fünf Uhr Abend sind wir halt um neun Uhr hinaufgekommen, über Nacht oben geblieben, haben einen Führer mitgenommen, war sehr schön! 35

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Im Jahre 69 waren wir in Gmunden; es war eine gute Stunde außer der Stadt, auf dem sogenannten Grünberger Gut. Die Frau von La Roche hat uns diese Wohnung besorgt. Die haben selbst auf der Esplanade* eine Villa gehabt. Man hätte auch Vogelhaus sagen können, weil sie gar so klein war, dass man sich gewundert hat, dass die Hausfrau darin Platz hatte, denn Frau von La Roche war eine auffallend große und korpulente Frau. Obendrein war es das Heim für Schauspieler, namentlich für die Burgschauspieler, wo bekanntlich Herr von La Roche der Altmeister war – beides ganz richtig geurteilt: Er war ein großer, unersetzlicher Meister, und alt war er auch. Man hat seine Biographie nie recht erfahren, aber er soll schon über 80 Jahre gewesen sein, wo er noch meisterhaft gespielt hat. Er soll auch älter gewesen sein als nach seiner Angabe. In seinem Lebensabend war er bekanntlich Witwer, und da hat er manches Mal eine Kollegin, die auch in seinem hohen Alter war, zu sich als Gast geladen – also, beide über achtzig, beide verwitwet. Da hat sich aber das Frl. Betty darüber lustig gemacht. Sie ist herübergekommen, ich habe gerade die gnädige Frau frisiert. Sie war weder ernst noch hat sie gelacht, aber wenn sie so geschmunzelt hat, da ist gewöhnlich ein Witz losgegangen. Nun meinte die gnädige Frau: „Betty, was ist los?“ – „Du, denke dir nur, soll man das erlauben, der La Roche und die Haizinger wohnen mitsammen unter einem Dach!“ Das war ein Lachen! Von der gnädigen Frau hab ich nicht gewusst, soll ich mehr über den Witz lachen oder über ihr herzliches, vergnügtes Lachen. Es war wirklich unterhaltend, aber das Fräulein hat nur geschmunzelt. Ich glaube, dass man die beiden jungen Leute doch unter einem Dach gelassen hat. Wir waren mit unserer Wohnung nicht sehr zufrieden, hauptsächlich die gnädige Frau mit ihrer Korrespondenz. Die Gnädige war gewohnt, alles gleich zu befördern, das war nicht möglich. Es waren außer unserer Villa nur noch ein paar Häuser, auch nichts in der Nähe, um jemanden zu schicken. Dr. Otto, bekanntlich Klaviervirtuose, hat einmal mitwirken müssen in einem großen Konzert; bald nachdem er fort war, ist ein Gewitter gekommen. Die gnädige Frau hat geglaubt, dass 36

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er in das Gewitter gekommen ist, und wenn er gar durchnässt wäre, würde ihm das sehr schaden. Er war damals 20 Jahre und ist gehütet worden wie eine zarte Glashauspflanze. Man hat für seine Lunge gezittert und in allem Acht gegeben. Es war finster, die Leute in den paar Häusern haben schon geschlafen. Mich hat die gnädige Frau nicht schicken wollen bei diesem Wetter, aber ich bin doch gegangen mit frischen Strümpfen und Stiefeln und weiß Gott was noch allem. Als ich hineinkam, hat nicht viel gefehlt, dass das Konzert begonnen hätte. Die Türe hat man nicht leicht öffnen können; man hat sich gefürchtet, es könnte an der Harfe die Saite springen. Diese Harfe soll 3000 Gulden gekostet haben. Endlich ist der Herr Dr. Otto doch ganz unversehrt herausgekommen. Nun bin ich wohl gerne mit meiner Sendung heimgegangen, um die gnädige Frau zu beruhigen, aber ich habe ausgesehen, als wenn man mich aus dem See gezogen hätte. Dann hat die gnädige Frau wegen mir nochmal zu lamentieren angefangen: „Geh nur gleich ins Bett“, hat sie gemeint, „dass du dich nicht erkältest!“ – „Ach Gott, so was schadet mir nicht, gnädige Frau, da bin ich schon abgehärtet, bin ja schon mit der Kneippkur* auf die Welt gekommen.“ Sonst war damals in Gmunden alles gesund bis auf den Kleinen mit seiner Husterei – es ist ihm sehr schlecht gegangen. Der Arme ist nicht einmal mehr in sein Bett gegangen, er hat sich nur so mit den Kleidern auf ein Sofa gelegt, da hat er besser geschlafen. Ist wohl kein Wunder gewesen, wenn er übel gelaunt war, und ich war seine Gesellschafterin, Vorleserin und Kartenspielerin. Aber einmal habe ich es nicht mehr aushalten können und bin herausgegangen. „Warum bist du nicht bei Richard?“, hat die gnädige Frau gemeint. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten!“, sagte ich. „Ja, ja“, hat dann die gnädige Frau gesagt, „er ist von einer Grantigkeit, dass man es fast nicht aushält.“ Wenn er dann allein war, hat er sich im Bett aufgesetzt und mit einer Passion mit der Faust gegen die Mauer geschlagen. Die Mauer hat sich das schon gefallen lassen. Nach einer Weile bin ich wieder hineingegangen, dann haben wir uns die Hände gereicht und gesagt: „Seien wir wieder die Alten!“ Getrotzt hat er nie, aber zähe war er ordentlich. 37

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Wir sind bis Ende September geblieben, sind an einem sehr kalten und stürmischen Tag abgereist, sodass die gnädige Frau den Herrn Richard und den Herrn Dr. Otto hat in der Portechaise* tragen lassen bis in die Stadt. In derselben Zeit ist der Frau Baronin Ebner ihre Mutter gestorben; ich habe nicht die Ehre gehabt, die Frau Gräfin Dubsky persönlich zu kennen, aber Exzellenz* Ebner-Eschenbach habe ich schon gekannt. Ich habe sie einmal am Abend bei der Frau von Littrow, als sie noch in der Stadt auf dem Universitätsplatz gewohnt hat, gesehen, weil ich die gnädige Frau abgeholt habe. Damals war sie noch nicht die große Freundin von der gnädigen Frau, aber ich vermute, die beiden Damen haben sich dort näher kennengelernt. Es sind ziemlich viele Gäste gewesen, aber die Frau Gräfin, wie wir sie immer nannten, war auffallend. Ich wusste nicht, wer diese Dame war, ich betrachtete sie genau vom Kopf bis zu den Füßen, weiß noch genau ihre Toilette. Sie trug ein himmelblaues Seidenkleid ohne Tresse*, wie es damals Mode war, ganz glatt. Sie hatte schönes, blondes Haar, ein blasses Gesicht und hellblaue Augen. Sie mochte damals Anfang der dreißig gewesen sein – aber so eine jugendliche Gestalt, ganz mädchenhaft. Der Gesichtsausdruck war voll Güte und Gemüt, heiter und lebensfroh. Es kamen noch andere Damen aus dem Salon, um fortzugehen, die ich nicht gekannt habe. Ja, warum habe ich die nicht so aufmerksam beachtet? Von den anderen Damen weiß ich gar nichts mehr, während ich die Frau Gräfin heute noch ganz wie damals vor mir sehe. Lange habe ich nicht gewusst, wer diese Dame gewesen ist, nach einiger Zeit ist sie dann zu der gnädigen Frau auf Besuch gekommen, und da sah ich auf der Visitkarte: „Baronin Ebner von Eschenbach, geb. Gräfin Dubsky“. Nun frage ich, warum ist mir zu selber Zeit die Frau Gräfin so aufgefallen, und warum habe ich sie denn so genau beachtet, dass sie mir so im Gedächtnis geblieben ist? Besitze ich denn wirklich Menschenkenntnis; habe ich es schon damals geahnt, dass aus der Gräfin etwas Großes werden muss. Oder ist es so ein Instinkt? Was die Frau Gräfin der gnädigen Frau alles war, auch für das verehrte Haus Fleischl – die beste und 38

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treueste Freundin, durch 33 Jahre bis zum Tode, unzertrennlich und treu – der gnädigen Frau ihre Lebensfreude. Oft hat sie zu mir gesagt: „Weißt du, wenn die Gräfin hereinkommt, heitert’s mich immer auf, denn sie kommt stets mit heiterster Miene.“ Und was war sie für eine Stütze in ihrem Lebensabend – davon werde ich noch später berichten.

„Sie war eigentlich in diesem Sinne nie Hausfrau ...“ Im Frühling 1870 erkrankte Ida Fleischl an einer Lungenentzündung, und ihr Vater starb nach einem Schlaganfall. Die Familie Fleischl konnte deshalb erst Ende Juli „aufs Land“ fahren. Die gnädige Frau ist noch lange im Bett gelegen, wir hatten schon keine Hoffnung mehr, auf das Land zu kommen. Die Frau von Ladenburg hat die gnädige Frau so oft eingeladen, auf ihr Schloss nach Pötzleinsdorf* zu kommen: „Geh, Ida, komm zu mir mit der Helene, da erholst du dich doch besser. Du hast die frische Luft, und alles kannst du haben!“ Nein, so gastfreundlich die gnädige Frau war – ihr Hauptvergnügen war, wenn nur alles bei ihr eingekehrt ist. Aber sie selbst als Gast wo sein, das hat sie nie mögen, ungeniert hat sie sein wollen. Da ist dann das Schloss im Emilienhof, eine halbe Stunde von Klosterneuburg, gemietet worden, und wir – die gnädige Frau und die Großmutter, Herr Otto und Richard – sind hinauf. Man wollte anfangs nicht Menage führen, weil auch ein Wirt in dem Schloss war, aber es ist nicht gut gegangen. Es ist dann die Kathi gekommen, und wir haben wieder selbst gekocht. Es war keine angenehme Wohnung: ein ungeheurer Salon mit zwei Reihen Fenster, fast keine Möbel drin. Wir hatten wohl allerlei mitgebracht, aber doch viel zu wenig. In einem Zimmer waren eiserne Betten mit Pferdedecken und Strohsäcken, da muss Militär einquartiert gewesen sein, da haben Kathi und ich geschlafen. Die gnädige Frau nebenan, damit man sie rufen hörte, wenn sie etwas wollte, denn eine Glocke gab es auch nir39

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gends. Der Bau war einstöckig, aber wenn man ausgehen wollte, musste man die Stiege herunter und um das Schloss herum, um auf die Strasse zu kommen. Das war uns zu langsam. Der rückwärtige Teil war ganz niedrig, und da hat man es sich lustig gemacht und ist einfach beim Küchenfenster ausund eingestiegen. Sogar unsere jungen Herren und auch andere Herren haben diesen Aus- und Eingang benutzt. Da kam unter anderen auch Herr Arthur von Littrow hinaus, mit einem halben Laib Brot und Butter in der Hand. Der hat immer Appetit gehabt, er hatte aber auch Kraft wie ein Athlet. Einmal ging ich gerade des Weges heimzu, da sah ich von Weitem schon einen Fuß beim Küchenfenster heraus. „Das ist aber ein langsamer Gymnastiker“, denke ich mir – wer war’s? Die Kathi! Ja, sie ist auch herausgekommen! Trotzdem wir viel entbehren mussten, haben wir uns doch sehr behaglich gefühlt. Es war ein sehr schöner und großer Garten da und ein langer, gedeckter Gang. Wenn schlechtes Wetter war, hat man können spazieren gehen. Aber mit etwas waren wir gut versehen, nämlich mit Mäusen. Das war schrecklich! Die haben rumort, man konnte nicht schlafen. Oft waren in der Früh sechs bis acht Mäuschen in der Falle! Wenn die gnädige Frau sie gesehen hat, haben sie ihr noch gefallen. Wenn ich sagte: „Jetzt schütte ich heißes Wasser drauf, wegen der Mäuse habe ich die ganze Nacht nichts geschlafen.“ – „Unterstehe dich“, meinte dann die gnädige Frau, „das ist das feinste Säugetier! In meinem Zimmer war heute Nacht auch eine, die hat gar Bergstiefel angehabt.“ Mit dem Zwicker hat sie die Mäuse genau beobachtet; ich hab schon geglaubt, wir müssen ihnen noch ein Frühstück geben! (...) Auf dem Lande hat man wohl sagen können, dass die gnädige Frau ganz hergestellt war, aber aus Vorsicht ist sie doch den Winter nicht in Wien geblieben, sondern ist nach der Schweiz, nach Montreux*. Es war für sie umso angenehmer, da Dr. Otto in Zürich studierte. Wenn man an der Lungenentzündung wochenlang getragen hat, ist man halt ängstlich vor Erkältung, und darum ist die gnädige Frau in ein wärmeres Klima. (...) 40

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So vergingen zwei Tage weniger als ein Jahr, dass die Kathi und ich die gnädige Frau nicht sahen. Bei ihrer Heimkehr ist ihr der gnädige Herr bis Linz entgegengefahren und wir – ­Kathi, der Diener Ignaz und ich – haben alles dekoriert. An der Eingangstüre beim Speisezimmer haben wir einen Triumphbogen gemacht, darüber ein Transparent, und das Frl. Betty hat uns das Gedicht dazu gemacht. Das hat geheißen:

Oh, finde selber hier das Glück, Das uns Dein Kommen bringt zurück!

Das wurde von innen beleuchtet. Es waren auch mehrere Farben, und da die gnädige Frau spätabends, nachdem es schon finster war, angekommen ist, hat es sehr schön ausgesehen. Alles hat sich darüber gefreut. Fast acht Tage hat man es gelassen, dass auch mehrere andere gesehen haben, wie wir die gnädige Frau schon damals hoch verehrt haben. Damals hatte ich erst sechs Jahre die Ehre, sie zu kennen. Als die gnädige Frau gesehen hat, dass wir ihren Haushalt ein Jahr ohne Oberaufsicht in Ordnung geführt haben, hat sie sich dann nur mehr wenig um ihre Wirtschaft gekümmert. Sie war eigentlich in diesem Sinne nie Hausfrau, und fortan war es ganz aus. Sie schenkte uns volles Vertrauen, und wir haben es auch nicht missbraucht. Es war uns auch manchmal angenehmer, wenn man sich die Arbeit einteilen konnte, wie man wollte, aber Sorgen waren dann mehr. Die gnädige Frau war froh, wenn man ihr Ruhe ließ, sie hatte ohnedies genug zu tun mit ihrer Korrespondenz, wovon ein großer Teil war, Bettelbriefe zu beantworten und zu befriedigen. Die sind meistens auch gleich befördert worden. Manchmal sind am Vormittag vier bis fünf herausgekommen, alle rekommandiert*, und dazu: „Geh nur schnell zur Post damit!“ Wie viel und oft die Bettelbriefe die gnädige Frau angelogen haben, das weiß ich am besten. Ich gab oft einen nicht zur Post und bin erst kontrollieren gegangen. Den Geldbrief im Sack ging ich nach der Adresse und sagte nicht, wer und von wo ich bin. Frug erst bei der Hausmeisterin, wer denn diese Leute 41

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seien. Da hörte ich, alles in Ordnung, zahlen pünktlich ihren Zins*. Nun ging ich selbst in ihre Wohnung und in die Küche, sah eine korpulente, böhmische Marianka* eine Masse Geschirr abwaschen und die Wand voll Formen angehängt. „Bitte“, sage ich, „sind sie die Frau?“ – „Nein“, meint sie, „ich bin die Köchin, werde aber die Gnädige gleich rufen.“ So, da kam wirklich eine Gnädige – aufgeputzt, da war die Frau von Fleischl nichts dagegen. „Was wünschen Sie?“, war die Anrede. „Ich wünsche nichts“, sagte ich, „wollte mich nur umsehn und habe jetzt genug gesehn!“ Bin mit dem Geldbrief heim, habe der gnädigen Frau meine Vorlesung gehalten, dass sie doch nicht alles glauben soll. „Ja“, hat sie dann gemeint, „da hast du recht gehabt, sehr gescheit warst du, die hatten mich angeschmiert*!“ Da hätte man noch gleich auf die Post auch laufen sollen. Das ist nur ein Beispiel, wie viele könnte ich noch ausführen. Dann war die Literatur ihr Heim und ihre Beschäftigung. Da ist sie nie müde geworden, alles von ihren Bekannten zu lesen, auch viel zu korrigieren. Sie hatte gewiss viel zu arbeiten; wer nicht um sie herum war, hätte es nicht geglaubt. Manches Mal war es auch wirklich ein Kreuz*: Wenn man was fragen musste, war man doch oft gezwungen, sie herauszurufen. Das war dann eine Schnelligkeit, sie hatte kaum Zeit zum Anhören. Dann erst die vielen Visiten, manche langweilig, nie fortgegangen … Ich muss schon sagen, das war eine Arbeit, und sogar eine anstrengende! Aber damals war die gnädige Frau noch in vollster Rüstigkeit, erst 47 Jahre alt, gesund und auch kräftig, voll Lebensfreude, sodass sie das alles mit Vergnügen getan hat.

„Es waren immer mehrere Herren da zum Untersuchen“ Dann kam das Unglücksjahr 1872, das ist aber auch niemand im Stand zu beschreiben, wie groß das Unglück war, nicht nur für den Betreffenden, sondern für die ganze Familie, auch für viele, viele Freunde, für alle, die ihn kannten – der arme Herr Professor Ernst! Es war im April, an einem Sonntag zu Mittag. 42

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Die Hand hat ihm schon beim Essen wehgetan, und sein Papa hat ihm das Fleisch schneiden müssen, trotzdem hat man dem Finger nichts angesehen. Nachmittags ging er doch spazieren, ich war auch aus. Es mochte ungefähr drei Uhr gewesen sein, da begegnete ich ihm in der Spiegelgasse. Er ging mir zu und sagte: „Helene, holen Sie mir schnell Dr. Breuer und auch Eis!“ Ich war erstaunt, was das bedeutete, ging aber rasch den Befehl ausführen. Da begegnete mir auch der gnädige Herr, ich erzählte es ihm. Er musste schon etwas vermutet haben, weil er schnell heimging. Auch die gnädige Frau wurde geholt, sie war gerade bei Dr. Laube in der Operngasse. Damals war das berühmte Haus noch vollkommen, auch sie kam, so schnell sie nur konnte. In einer Stunde waren schon alle in seinem Zimmer beisammen, die armen Eltern, Dr. Breuer, Baron Pitha – damals an Stelle des Prof. Billroth – auch mehrere seiner Kollegen, im Ganzen acht Personen. Es war ein solches Durcheinander, das Bett mitten im Zimmer, die Herren um ihn herum und die ganze Nacht diese Angst, diese Sorgen! Die gnädige Frau war von einer Tapferkeit, dass die Herren sie bewunderten. Sie war überall selbst dabei, alles hat sie mit angesehen und gefragt und dabei eine solche Ruhe und Fassung bewahrt. Aber der gnädige Herr hat sich ganz anders benommen. Er ging herum wie ein Wahnsinniger, den Kopf in beide Hände vergraben und hat dabei furchtbar geweint. Das Gute war, dass der arme Professor Ernst besinnungslos war. In dieser Nacht ist es den Ärzten wohl gelungen, sein Leben, das nur noch an einem Faden gehangen, zu retten, und er hat als Martyrer* fortgelebt bis zum Jahre 91, das sind 18 Jahre. Es vergingen noch viele solcher aufregenden Tage und Nächte, bis man wieder Hoffnung hatte, ihn am Leben zu erhalten. Trotzdem von der chirurgischen Klinik eine Wärterin da war, hatte doch auch ich allerlei Verrichtungen in seinem Zimmer. Da sah ich einmal aus dem Verband so etwas Schwarzes herausschauen – er hatte geschlafen –, und ich frug ganz leise die Wärterin, was das sei. Sie meinte ganz ruhig: „Das ist der kranke Daumen!“ Dies war für mich schrecklich. Das 43

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habe ich doch verstanden, dass derselbe nicht mehr ausheilen kann. Ich fing zum Weinen an, mir kam das so traurig vor, dass der junge Mann ein so notwendiges Glied verlieren sollte. Ich vermochte es nicht mehr aus dem Kopf zu bringen und wurde selbst ganz krank. Die gnädige Frau hat mich noch getröstet und gesagt: „Ja, hast du es denn nicht gewusst?“ Der gnädige Herr ist auch zu mir gekommen und hat gesagt, wie ihm meine Teilnahme wohltue, aber es sei ja wieder Hoffnung und ich solle mich fassen. Vielleicht hat niemand sonst geahnt wie ich, was für Folgen noch nachkommen werden. Es hat nicht gar lange gedauert, ist dann das schwarze, erste Glied abgefallen. Es waren immer mehrere Herren da zum Untersuchen. Wie der Arme immer geschrien hat, man musste alles zumachen, sonst hätte man ihn im ganzen Hause gehört, trotzdem er narkotisiert wurde. (...) Im Frühjahr 74 musste er schon wieder operiert werden. Er selbst hat gemeint, es sei nichts von Bedeutung, es sei nur bei der Heilung eine Sehne nicht ausgeheilt. Die Operation war auch nicht so arg wie das erste Mal. Damals war er noch im Elternhaus in der Bräunerstraße. Im Jahr 74, im Herbst, ist er dann in die Schwarzspanierstraße gezogen und war Assistent bei Hofrat Prof. von Brücke im Physiologischen Institut. Es ging ihm wieder gut, er war so gerne lustig und unterhaltend, voll von witzigen Einfällen. Wenn er wo geladen war, und das war oft, da hat sich sogar die Dienerschaft gefreut, weil er dann mit seiner witzigen Laune alle unterhalten hat und die Hausfrau nicht Zeit hatte, auf die Bedienten zu sehen. Wenn einem beim Servieren so manches passierte – Löffel oder Gabel fallen lassen, Brühe ausschütten und dergleichen –, mir selbst ist es auch passiert, hat unsere gnädige Frau gleich gesagt: „Aber, Helene, was machst du für schreckliche Sachen!“ Ich habe mich dann wohl getraut zu sagen, das Besteck wäre schlecht draufgelegt gewesen. Die Herrschaften haben es auch oft nur auf den äußersten Rand zurückgelegt, und da man keine dritte Hand hat, kann es einem wohl passieren. Im Jahre 76 sind wir dann im Mai in die Habsburgergasse gezogen, und der Herr Professor ist nach Amerika. In Philadel44

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phia war damals die Weltausstellung. Er wurde mit dem Kaiser von Brasilien, Dom Pedro, bekannt, den ich auch später bei ihm gesehen habe, weil er ihn in seiner Wohnung besucht hat und ich gerade dort war. Dr. Otto war schon in Rom als praktischer Arzt. Im Herbst hat ihn die gnädige Frau dort besucht, und weil es ihr so gefallen hat, ist sie bis Ostern geblieben. Das Frl. Betty Paoli war darüber höchst unglücklich. Dieser Winter war auch gar nicht schön. Wenn die gnädige Frau nicht hier war, war es immer wie ausgestorben. Der gnädige Herr war immer bei der Tramway* beschäftigt und nie da, er hat sich kaum die Zeit genommen, zu Tisch zu gehen. Die gnädige Frau hat wohl oft ausgerufen: „Nein, diese Tramway kann mir gestohlen bleiben!“ Darauf antwortete Frl. Betty so komisch: „Ich mache keine Schritte zur Polizei!“ (...) Ende der siebziger Jahre hat sich das Leiden des Herrn Professor wieder fühlbar gemacht; er wurde operiert, da war Herr Hofrat Billroth dabei. Es wurde ihm ein Stück kranker Nerv herausgenommen, und es hat eine geraume Weile gedauert, bis er wieder vollständig gut war. Im Jahr 1879 waren wir dann in Gmunden und Herr Professor kam aus Paris zu uns, wo er in der Weltausstellung angestellt war. Wie lustig war er damals noch! (...) Wenn er verreisen wollte, und es hat ihm niemand eingepackt, so hat er auch nur wenig mitgenommen. Gewöhnlich musste ich ihm alles besorgen; den Diener Johann hatte er nur die letzten sieben Jahre. Als er nach Paris ging, waren wir schon in Gmunden, und er musste selbst packen. Als er wieder von dort zurück nach Gmunden kam, hatte er keine reine Wäsche mehr. Da ging’s über mich her. „Ja, mein Gott, Herr Professor, so schnell geht es nicht mit dem Reinmachen, Sie müssen halt derweil im Bett bleiben!“ – „Nein“, hat er gerufen, „ich kann weder aufstehen noch mich niederlegen, denn ich habe auch kein Nachthemd mehr!“ Auch in Wien in seiner Wohnung machte er es so. Öfter kam eine Karte an die gnädige Frau, worauf stand: „Liebe Mama, ich kann weder aufstehen noch mich hinlegen, weil ich keine Wäsche zum Anziehen habe!“ Die gnädige Frau kam gleich 45

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mit der Weisung: „Du, Helene, geh nur schnell zum Ernst, der Arme hat nichts mehr zum Anziehn.“ – „Aber gnädige Frau wissen doch“, erwiderte ich, „dass der Herr Professor alles übertreibt.“ Wie ich dann in seine Wohnung kam, war von allem genug da. Ich habe ihn dann gerufen: „Herr Professor, wem gehören diese Hemden in Ihrem Kasten und die zwölf Paar Strümpfe, da Sie der Mama geschrieben haben, Strümpfe hätten Sie auch keine?“ Da hat er doch auch lachen müssen, vor lauter Unordnung war nichts zu finden. Er hatte schon eine bejahrte Bedienerin, und die war außer Stande, pünktliche Ordnung zu halten, und ließ vieles in Schmutz und Staub. Manchmal machte er sich darüber lustig: „Sehen Sie, Helene, da hat sie schon wieder einen Schmutzwinkel ansiedeln lassen, meine Hedwig. Sie ist krank, sie hat die sogenannte Mistkrankheit!“ (...) Anfang der achtziger Jahre ging der Herr Professor schon das erste Mal nach St. Gilgen, da waren auch seine besten Freunde, die Herren Exner. Weil er ein sehr tüchtiger Schütze war und gerne auf die Jagd ging, bot sich ihm Gelegenheit, mit Fürst Liechtenstein auf dessen Revier zu jagen. Im Jahre 82 hat er auch seine Mama hingezogen, damals war aber noch keine Villa. Wir mussten in zwei Häusern wohnen; auch die Großmutter hat sich bereden lassen, zu uns zu kommen, und ist von dort nach München zurück. Herr Professor fing wieder an, leidend zu werden, und wurde wieder operiert. Es hatte sich an dem kranken Nerv eine Geschwulst gebildet, und die musste herausgeschnitten werden. Die Operationen wurden immer schwieriger. Wie unglücklich waren alle, wenn es geheißen hat: „Helene, richte alles zu, der Ernst wird wieder operiert!“ Es war so aufregend, wenn die Herren sich alle versammelt haben. Zuerst Prof. Ernst, dann Dr. Breuer, Prof. Exner, Hofrat Billroth, Primarius Gersuny, der Narkotiseur Barbieri, Hofrat Prof. Frisch – es war zum Erschrecken. Der arme Prof. Ernst war immer der Erste, um nachzusehen, ob alles da sei. Zwölf Handtücher, das war ihm immer zu wenig, da hat er gesagt: „Nochmal so viele!“ Da kann man sich denken, was diese Herren für eine Wirtschaft* gemacht haben. 46

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Eine Operation in den achtziger Jahren, die war die entsetzlichste. Zuerst kamen zwei Diener und richteten im Vorzimmer auf einem Tisch mehrere Batterien auf und dazu noch allerlei. „Ja, um Gottes willen“, habe ich gesagt, „sie machen ja eine Vorrichtung, als wenn bei uns geschlachtet würde.“ – „Ja, es geht auf Leben und Tod, wissen Sie das nicht?“ – „Wissen denn das seine Eltern?“, rief ich außer mir. – „Sind Sie nur ruhig, die Herren werden schon alles in Ordnung gebracht haben.“ Ja, es hätte wohl nicht schrecklicher sein können. Er wurde mit glühenden Nadeln elektrisiert, die Hand wurde auf ein festes Kissen geschnallt. Alle Fenster und Türen hatten müssen offen sein, und er hat so jämmerlich geschrien, dass die Leute im Hause geweint haben. Obwohl er betäubt war, ist einem sein Jammer doch durch und durch gegangen. Nach der Operation hat ihn Primarius Gersuny drei Stunden in der Betäubung gehalten, sonst hätte er den Schmerz nicht aushalten können. Durch das lange Chloroformieren* hat es auch mehrere Tage gedauert, bis er was zu sich nehmen konnte und die Speisen vertragen hat. Gehört habe ich dann auch, dass er zu viel gemartert wurde. Die achtziger Jahre waren wohl die Operationsjahre. Anfangs kam Herr Professor noch zu Fuß hinein in das Elternhaus zur Operation, dann mit einem Fiaker, nachher ließ er sich in einer Portechaise tragen und zuletzt auf der Tragbahre. Einmal brachte ein Diener Kaninchen mit. Die Tierchen mussten mit demselben warten im Vorzimmer, bis Herr Professor betäubt und der Arm aufgeschlitzt war. Dann wurden sie schnell umgebracht, ein Nerv weggenommen und im Arm eingenäht. Alles war wieder voll Hoffnung, auch Herr Professor hatte wieder Mut und meinte, jetzt wolle er ein neues Leben beginnen. Oft hatte er noch witzige Einfälle. Wenn er im Bett sein Mittagessen verzehrte, sagte er: „So, ich habe jetzt gespeist. Jetzt bringen sie auch den Kaninchen etwas.“ Es hat ihm noch Spaß gemacht, dass er von den Tierchen einen Nerv in sich hatte. (...)

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„Ich bekleide drei Stellen ...“ Nun muss ich indessen aufhören von dem armen Martyrer zu erzählen und auf die hochverehrte Großmutter zurückkommen. Das war eine ganz eigene Frau, man könnte sie merkwürdig nennen. Lange wollte sie sich nicht entschließen, von München fortzugehen. Wie hat sich die gnädige Frau gekränkt, die alte Frau Mutter so allein in der großen Wohnung zu wissen; eine Gesellschafterin hat sie auch nicht wollen. (...) Einmal ist es der gnädigen Frau doch gelungen, die Mutter zu überreden und zu bewegen, nach Wien mitzugehen. Vorher kam noch ein Brief: „Die Mutter will nicht mitkommen, und mir graut vor dem Abschied.“ Auch der Großmutter muss davor gegraut haben, schnell soll sie sich dann entschlossen haben. Nun schrieb die gnädige Frau natürlich ganz erfreut: „Ich bring die Mutter mit, die Wohnung wird aufgelöst!“ Auch mir hat sie geschrieben: „Liebe Helene, denke, ich bringe Mutterl wirklich ganz mit. Du zählst zu den wenigen, die Mutter mag, ich hoffe, dass du sie so gut unterhaltest wie die drei Sommer in Gilgen.“ Ich habe mich auch gefreut darauf. Heute begreife ich erst, wie schwer es für die alte Dame gewesen sein muss, diese gänzliche Übersiedelung nach 60-jährigem Aufenthalt in München. Jetzt, wo auch ich es empfunden habe, nach 40-jährigem Aufenthalt in Wien und 35-jährigem im hochverehrten Hause Fleischl, wo alle mit mir lieb und gut waren – was man da fühlt! Von allen Abschied nehmen – die Mehrzahl musste ich unter stillen Tränen nach dem Zentralfriedhof ausführen lassen. Wie oft hat die Großmutter über den Aufenthaltswechsel gejammert, aber es war doch höchste Zeit, dass sie gekommen ist. Vier Jahre hat sie noch bei uns gelebt. Jeden Sommer sind wir nach St. Gilgen, aber den letzten ist sie schon recht wunderlich geworden, ist nur mehr kleine Strecken spazieren gegangen. Herr Dr. Otto hat sie gegen fünf oder sechs Uhr heimgebracht und immer unten auf dem Treppenansatz gerufen: „Helene, da bringe ich Ihnen die Großmama!“ Dann habe ich sie unterhalten müssen, bis die gnädige Frau heimkam. Ich habe mir alle 48

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Mühe gegeben, um ihr allerlei zu erzählen. Das hat sie sich alles gemerkt, und wenn dann die gnädige Frau heimkam, hat sie sich beeilt, alles wieder zu erzählen. „Ja, liebe Mutter, woher weißt du denn das?“, frug die gnädige Frau. „Von der Helene.“ Wenn die gnädige Frau lange nicht heimkam, hat sie sich geärgert: „Ja, wo bleibt denn heute meine Tochter so lange?“ – „Ja, Frau Großmutter, es ist ja noch nicht so spät.“ Ich habe gemeint, dass sie es nicht merkt, aber da hat sie so lange auf die Uhr geschaut, bis sie es doch herausgefunden hat, dann war es aus. Oft ist es auch spät – gegen neun Uhr – geworden, und ich konnte sie dann nicht mehr beruhigen, wusste oft nicht, was anfangen. Einmal schaute ich nach der gnädigen Frau aus und sah sie bei Windhager bei der Fürstin Liechtenstein stehen. „Großmutter, jetzt kommt sie!“, rief ich aus. Gleich fing sie auch zu rufen an: „Ida, Ida, so komm doch!“ – „Ja, Großmutter, es steht die Fürstin Liechtenstein bei ihr; die gnädige Frau möchte schon gehn, aber die Durchlaucht lässt sie noch nicht los.“ – „Ja“, hat sie dann gemeint, „wenn es die Kaiserin ist – die Mutter ist doch die Erste!“ So haben wir sechs Sommer mit der Großmutter in St. Gilgen zugebracht. Ich musste ihre Gesellschafterin, Köchin und Stubenmädchen sein. „Ich bekleide drei Stellen“, sagte ich zu den Herren. „Ja“, erwiderte Herr Paul, „und alle schlecht!“ Die gnädige Frau hat gelacht, aber oft zugegeben: „Ich bewundere dich, Helene, dass du so viele Stunden bei der Mutter aushalten kannst, weil man mit ihr so schreien muss. Ich habe meine Mutter sehr lieb, aber so lange könnte ich es nicht aushalten!“ Die Großmutter war sehr gütig mit mir und schenkte mir viel, sodass ich ihr noch lange nicht genug getan habe. Ein paarmal ist sie bei ihrem Bett gefallen. Wie dankte ich Gott, dass es nicht zu der Zeit passiert ist, wo ich dabei sein musste. Einmal ist es in der Früh geschehen, die gnädige Frau hat neben ihr geschlafen. Es war ein arger Fall, sodass sie nach langer Zeit noch ganz blau war. Ein andermal war es noch ärger. Es war abends um neun Uhr, sie hatte schon gute Nacht gesagt und wollte zu Bett gehen. Da hörte die gnädige Frau den Fall. Wie sie zu ihr eilte, lag die arme, alte Dame mit einer klaffen49

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den Wunde am Hinterhaupt auf dem Boden. Es wurde gleich zu Gersuny gefahren, bis man aber den gefunden hatte, war es fast elf Uhr. Sie war auf die Bettkante gefallen, und Gersuny musste den langen Riss zunähen. Es dauerte bis Mitternacht. Nachher mussten wir das ganze Bett abziehen und sogar die Federn umleeren, so war das Blut durchgedrungen. Man wunderte sich, dass die alte Frau so viel Blut hatte, aber sie wurde wohl sehr schwach hernach. (...) Nachher wurde sie nicht mehr allein gelassen bei Nacht, aber sie wollte es nicht haben und durfte es deshalb nicht wissen. Man musste sehr vorsichtig sein. Wenn sie auch wenig Gehör hatte, so vernahm sie doch jedes Geräusch. Ich musste mich sehr leise auf das Sofa in ihrem Zimmer legen. Das Zimmer war beleuchtet, und ich konnte sie ganz gut beobachten. Eine Nacht ruhig im Bett bleiben konnte sie nicht. Des Öfteren ist sie vier- bis fünfmal aufgestanden, im Zimmer herumgegangen, nach etwas suchen oder Bäckerei essen, aber dann hat sie das Bett nicht mehr gefunden. Ich wusste mir oft keinen Rat. Dann bin ich zu ihr gekommen, habe getan, als wenn ich nur so von ungefähr Gehen gehört hätte und nachschauen gekommen wäre. Da war sie dann wohl froh, dass ich sie wieder ins Bett gebracht habe. Eine Zeit lang ging es ganz gut, aber da musste ich einmal heftig niesen, infolge eines Schnupfens. Da war sie außer sich. „Wer ist da?“, rief sie. Ich rührte mich nicht und dachte nur, was sie jetzt wohl machen würde. Da war sie schnell aus dem Bett und fing an, jeden Gegenstand zu untersuchen. Ich schnell vom Sofa auf und flüchtete mich hinter eine Tapetentüre. Da sie alles abgegriffen hat, ist sie auch dahin gekommen. Ich bin dann voll Angst hinein in die Doppeltüre und habe fest zugehalten. Nach einer Weile vergeblicher Mühe dieselbe aufzubringen, denn ich war doch stärker als sie, ging sie auf die andere Seite und untersuchte die Kästen. Erst nach langer Zeit begab sie sich wieder zur Ruhe. Ich war froh und machte mein Lager auf einem sicheren Platz. Einmal war ich fest eingeschlafen. Da hörte ich auf einmal fragen: „Wie viel Uhr ist es denn?“ Ich fuhr auf und sah die 50

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Großmutter ganz angezogen, sogar das Häubchen auf und das Halsbändel, wo eine Seite nie hat länger sein dürfen – alles auf das Genaueste fertig gemacht. Ich sah nach der Uhr, es war zwei in der Nacht. „Ist meine Tochter schon zu Hause?“, frug sie. Aber Frau Großmutter, es ist ja mitten in der Nacht, und alles schläft, gehen Sie nur auch wieder zu Bett.“ – „O nein, ich will auf meine Tochter warten!“ Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihr zu plaudern bis in der Früh. Ich habe eine Stickerei genommen, und sie hat mir von ihrer Jugendzeit erzählt, wie sie mit dem Bayernkönig auf den Bällen in München gesprochen hatte; ihr Mann war Hoflieferant gewesen und mit dem König wohlbekannt. Auch von den Eltern erzählte sie, was für ein großes Haus sie in Prag geführt hatten. Vierzehn Dörfer hatte ihr Vater, und oft war er Gast beim Kaiser Franz. Das alles hat sie mit Begeisterung erzählt und mich hat es auch sehr interessiert. Auf einmal ging die Türe auf, und die gnädige Frau schaute ganz wehmütig auf die nächtliche Gesellschaft. Nach einer Zeit hat es die Großmutter doch erlaubt, dass ich in der Nacht bei ihr bleiben durfte. Dann ging es wohl leichter, aber ihre Nachtwanderungen setzte sie fort. (...) Sie war auch sehr fromm und gottesfürchtig. Jeden Abend betete sie lange; zuerst für ihre Tochter, dass Gott sie schützen soll – ihr liebes, gutes, einziges, braves Kind –, dann für den Schwiegersohn. Dann kamen der Reihe und Namen nach ihre Enkel. Gott schütze und segne den Ernst, Otto, Paul, Richard und alle guten Menschen – da hat sie dann gemeint, gehöre ich auch dazu. Dann sind die lieben Verstorbenen gekommen, auch der Reihe nach. Einmal frug ich: „Großmutter gibt es wohl ein Wiedersehen und ein Weiterleben im Jenseits?“ – „Ja freilich“, versicherte sie mich. Auch in allem anderen hielt sie große Ordnung. Trotz ihres hohen Alters war sie ziemlich sauber und nett; alles hat sie selbst getan und schön zusammengelegt. Manchmal ist sie über den Schreibtisch der gnädigen Frau gekommen und hat alles zusammengeräumt. Das war dann ein Jammer, weil die gnädige Frau nichts mehr gefunden hat. Den letzten Winter 51

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ging es wohl schlecht. Ich habe heimmüssen zu einer kranken Schwester, weil sie mich noch sehen wollte, und bin drei Wochen bis zu ihrem Tode geblieben. Bei Helene Gassers Rückkehr nach Wien litt die Großmutter bereits unter starker Demenz. Bald darauf erkrankte sie an einer Lungenentzündung und starb am 9. Jänner 1888 im Alter von 87 Jahren.

„Der und die waren auch unsere Gäste ...“ Durch das Frl. Betty Paoli haben mich die Dichter angefangen zu interessieren; habe auch sehr viele kennengelernt. Ich bin heute noch stolz darauf, dass ich – ich glaube, es war im Jänner 72 – einen Kranz zu dem Berühmtesten, Grillparzer, hintragen und selbst auf die Bahre legen musste. Seine ewige Braut, Frl. Fröhlich, hat es so haben wollen. Damals habe ich es noch zu wenig verstanden, dass das kleine, alte Männchen so ein großer Mann war. Dass alles in dem fast ärmlichen Zimmer wunderbar war, habe ich wohl gesehen, weil alles auf des Kaisers Rechnung war bis auf die herrlichen Kränze. Da ich schon über die Dichter schreibe, so werde ich noch mehr schreiben. Außer dem Grillparzer mit den wunderbaren Dramen war das Frl. Betty Paoli die beste und vielleicht letzte hervorragende Lyrikerin. (...) Hieronymus Lorm, den kenne ich ebenso lange wie meine Herrschaften. Die ersten Jahre war er nur taub. Wenn er gesprochen hat, hat die Stimme immer ein und denselben Ton gehabt. Er hat einmal für das Burgtheater* ein Theaterstück geschrieben, und es ist bei uns durch Herrn Lewinsky vorgelesen worden. Es war Ende der sechziger Jahre. Das war für die Gnädige ein harter Abend, es sind über zwanzig Personen geladen worden. Die Frau von Ladenburg hat ihren Bedienten geschickt, mir zu helfen. Auch die Frau von Landesmann war dabei. Wie das Stück geheißen hat, weiß ich nicht mehr, aber dass es ganz missfallen hat, das weiß ich. Mehrere sind vor Ende ganz leise verschwunden, sodass es bei Tisch dann 52

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auffallend war – mehrere Gedecke waren unbesetzt. Seine Frau hat einen peinlichen Abend gehabt. Wie er sich dann bei der Gnädigen entschuldigt hat, dass sie ihm das große Opfer gebracht und er ihr so einen unangenehmen Abend bereitet habe. Der Arme ist schon lange ganz blind. Lange hat er noch selbst der Gnädigen geschrieben. Wenn schon die erste Zeile ganz schief war – oben angefangen kam er herunter ans Ende. Er hat die Gnädige so hoch verehrt, hat auch Grund genug dazu gehabt: Wenn die Gnädige nur etwas für ihn hat tun können, so hat sie es getan. Waren seine Söhne in Wien, so wurden sie gleich geladen, war sonst etwas los, hat die Gnädige nie darauf vergessen. Wie oft sind Zigarren geschickt worden, die er gerne rauchte, und zu seinem siebzigsten Geburtstag – wie viel ist da geschehen, meistens durch die gnädige Frau. Heuer ist der achtzigste gefeiert worden, ich habe nicht mehr so viel gehört. (...) Der norwegische Dichter Björnson samt Frau und Sohn waren auch einmal in Wien und selbstverständlich bei uns zu Tisch geladen. Das war ein Ereignis! Ich habe geglaubt, es kommt Gottvater aus dem Himmelreich herunter. Damals war das Stadttheater*, und dort ist sein Stück „Ein Fallissement“* aufgeführt worden. Diese Gesellschaft war sehr interessant, sie haben bei Tisch viel erzählt von ihrer Gegend, wo manchmal kein Tag und manchmal auch wieder keine Nacht ist. Wenn keine Nacht wird, soll die Sonne ungeheuer groß sein. (...) ­Einen Dichter habe ich gut im Gedächtnis, das ist Levin Schücking. Es war im Jahr 78/79, da war der Krieg mit Bosnien*; sein Sohn, ein Arzt, ist verlorengegangen; ich glaube, die Türken haben ihn gefangen gehalten. Die gnädige Frau hat diesen Levin Schücking in Rom kennengelernt, auch seine Tochter, Frl. Theo. Sie kamen nach Wien, um den Sohn auszuforschen, es war im Oktober 78. Jeden Sonn- und Feiertag bis Mai 79 waren sie bei uns. Dann ist sein Sohn gekommen, und sie sind nach ihrer Heimat Münster zurück. Der junge Doktor soll sich mit der ersten Patientin, die ihm gefallen hat, verlobt haben. Wie hat sich das Frl. Betty darüber lustig gemacht: „Die erste Patientin wird wohl auch die letzte sein!“ Da hat ihn die Gnädige 53

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immer verteidigt; über ihre guten Bekannten hat man nichts sagen dürfen. Es ist auch die Verlobung rückgängig gemacht worden, warum, weiß ich nicht. Das Fräulein Theo dichtete nach dem Tod ihres Vaters auch, nachdem sie vorher bei ihrem Onkel in Amerika war, dann eine Zeit bei Frl. Hager als Gesellschafterin. Eine darf ich nicht vergessen, das war Frl. Adele Wesemael­ – das war eine Plage für die Gnädige! Ich kam in das Haus Fleischl im Jahr 64, da war sie schon längere Zeit befreundet mit der gnädigen Frau, und gestorben ist sie im Jahr 93 – das war eine lange Plage. Anfangs hat sie nicht in Wien gelebt, sondern in Baden und St. Pölten, da hat sie auch den Buben mit acht Jahren angenommen. Wenn sie nach Wien kam, war sie immer bei uns einquartiert auf mehrere Tage – und wie sie sich benommen hat! Nie zur rechten Zeit zu Tisch gekommen, alle Türen offen gelassen. Einmal, es waren gerade neue Möbel im Salon, ist sie heimgekommen – es hat in Strömen geregnet, sie ohne Schirm, getrieft vor Nässe –, ging in diesem Zustand, ohne im Vorzimmer was abzunehmen, in den Salon und warf den nassen Mantel auf das neue Sofa. Da ist aber der gnädige Herr auf und trug den Mantel ins Vorzimmer – mit welchem Ärger, das kann man sich denken! Das hat auch das Frl. Betty empört, und sie hat es der Frau Gräfin erzählt. Wie sie sagte: „Da kommt sie daher, den Regen des Himmels auf ihren Schultern, und Fleischl außer sich, und die neuen Möbel!“ Das hat der Frau Gräfin so gefallen, dass sie es oft kopierte, und wie da die gnädige Frau gelacht hat, wenn die Frau Gräfin angefangen hat: „Da kommt sie daher, den Regen des Himmels auf ihren Schultern ...“ Im Jahre 76 sind wir von der Bräunerstraße in die Habsburgergasse gezogen – da war doch alles so rein wie möglich tapeziert und geputzt. Nach einiger Zeit kam sie wieder von St. Pölten herunter, um natürlich bei uns zu wohnen. Trotz der großen Wohnung ging es nicht leicht, diesen Gast zu beherbergen. Da meinte die gnädige Frau, ich soll für sie im Salon ein Bett herrichten. „Um Gottes willen, tun gnädige Frau das nicht, der gnädige Herr wird sich zu viel ärgern. Ich lasse sie gerne 54

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in mein Zimmer, dass Ruhe ist!“ – „Ja, aber wo wirst du schlafen?“ – „Ich lege mich in das rote Durchgangszimmer. Ich gehe spät schlafen und stehe früh auf, das geniert dann niemand!“ – „Ja, tue das und mache nur alles schön.“ – „Es ist schön, wie schön es das Frl. Adele dann machen wird, das werden wir sehn!“ Als sie kam, hat sie gejammert, dass ihr die Füße wehtun. In der Früh ist sie schon nicht mehr aufgestanden, sie hat Rheumatismus bekommen – das war eine heillose Wirtschaft. Dr. Breuer hat Pulver verschrieben, die haben täglich über einen Gulden gekostet. Das war dem Breuer doch zu viel; so hat er die Pulver beim „Schwarzen Hund“* kaufen lassen, und die gnädige Frau hat sie dann abgewogen, ganz schön, wie in der Apotheke, noch mit Angst, ob sie es ja nicht merkt. Dann hat sie täglich ein Viertelkilo Schweinefett haben müssen, um sich einzureiben; sie hat sich eingebildet, das müsse helfen, und Dr. Breuer hat gesagt: „Geben Sie es ihr, schaden tut es ja nicht.“ Bei Tag hat sie geschlafen und bei Nacht ist sie herumgewandert, auch in die Küche heraus. Die alte Kathi hat dann keine Ruh’ gehabt. Wenn ich früh herauskam, hat die Arme geweint. „Heute sperren wir ihre Türe zu, sie hat alles in ihrem Zimmer, in der Küche hat sie nichts zu tun!“ Kommende Nacht wollte sie halt wieder heraus, doch es war zugesperrt. Sie wollte mit Gewalt öffnen – es ging nicht –, sie schlug an die Türe, sodass die Kathi aufstehen musste, um sie herauszulassen, und sie der Kathi einen Skandal machen konnte. Als die gnädige Frau herauskam und gesehen hat, dass die alte Kathi die Nacht keine Ruh’ hatte, war ihr so leid um die Kathi, die damals schon siebzig Jahre alt war. „Das geht nicht“, hat sie dann zur Adele gesagt, und als diese hat wollen die Kathi verklagen, gab die Gnädige zur Antwort: „Liebe Adele, die alte Kathi muss doch schlafen können, der arme Kerl hat ja sonst nie die Ruhe, bei Tag muss sie arbeiten!“ Gleich hat sie das Hörrohr* weggelegt und der Gnädigen nicht mehr zugehört. „Was soll ich machen“, meinte dann die Gnädige, „wart, ich werde es ihr schreiben.“ Den Brief habe ich ihr gegeben, sie hat ihn nicht gelesen, aber Ruhe hat sie gegeben, vielleicht hat sie ihn heimlich gelesen. 55

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So sind drei Wochen vergangen, es wurde nicht besser. Dann bin ich auch etwas marode* geworden. Bei Tag konnte ich im Durchgangszimmer nicht liegen, habe mich dann in einen großen Garderobenkasten gelegt, da war Platz – nur zu kurz. Da kam die gnädige Frau: „Wo bist du denn? Ich sehe gar nichts“, hat sie gemeint. Ja, wenn man hineingekommen ist, hat man freilich nichts gesehen, dann ist auch der gnädige Herr gekommen, hat mich auch nicht gefunden und hat sich sehr geärgert. Er sagte zum Michael: „Machen Sie der Helene ein Bett in der Kanzlei. Das kann ich nicht sehn, dass sie kein Bett hat und dabei noch unwohl ist!“ Ich habe aber gebeten, sie sollen mich nur so lassen und nicht Breuer holen, es werde gewiss morgen gut sein. Bin den andern Tag wohl gerne aufgestanden, aber leicht ging es nicht. Mit der Patientin ging es anstatt besser immer schlechter, sodass ich schon die Nacht bei ihr aufbleiben musste. Dann hat Dr. Breuer Anstalt gemacht und sie in das Spital führen lassen, wo sie noch vier Wochen gelegen ist. Wie aber mein Zimmer ausgesehen hat, das muss ich erzählen: Mit fetten Händen – durch das Fett, das sie sich eingeschmiert hat – ist sie beim Bett auf der Tapete herumgefahren, sodass die zehn Finger mehrere Male fotografiert waren; desgleichen war der Fußboden. Diese Arbeit, bis ich das Fett aus dem harten Parkett herausgebracht habe! Die Matratze hat müssen aufgemacht werden, das Rosshaar und alles gewaschen werden. Da haben sich dann die Domestiken darüber lustig gemacht. Ihre Tasche, Wäsche, Kämme hätte man sehen sollen: Die Strümpfe hat sie im Bett anbehalten, alle zehn Zehen haben herausgeschaut, vielleicht haben sie Luft haben müssen; die Zähne von den Kämmen – beinah’ die Hälfte heraus. Da kamen auch die Frau Gräfin und das Frl. Betty hinzu. Wir haben dann die „Corpus Delicti“ gezeigt, da brach ein Lachen aus. Das Frl. Betty voll Entsetzen: „Nein“, hat sie geschrien, „das ist ja ein Rastelbinder*!“ Dann kam auch die gnädige Frau. „Da sehn gnädige Frau, und da haben gnädige Frau noch gemeint, ich soll ja mein Zimmer schön herrichten, nun ist’s aber ganz wunderschön!“ Aber das half nichts, trotzdem dass 56

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Frau Gräfin und Frl. Betty mir sekundiert* haben. „Gib du nur alles schön in die Tasche, auch die Strümpfe, sonst glaubt sie, sie ist bei mir um gute Strümpfe gekommen.“ (...) Nun werde ich den Poeten Ruhe lassen, obwohl ich noch vieles wüsste, und komme auf andere Besuche, die im Hause Fleischl aus und ein gegangen sind. Fange erst bei den Aristokraten an. Durch das Frl. Betty sind die meisten hergekommen. Bekanntlich war das Frl. Betty Gesellschafterin bei Fürst Karl von und zu Schwarzenberg, dem großen Feldherrn und Sieger bei Leipzig, der dann auf dem Schwarzenbergplatz das Denkmal bekam. Das Frl. Betty hat zu der feierlichen Enthüllung den Prolog geschrieben. Es war Ende der sechziger Jahre. (...) Eine Gräfin darf ich nicht vergessen, die hat uns viel zu schaffen gemacht, das ist die Gräfin Chambrun, das war eine hervorragende Persönlichkeit in Paris. Dr. Otto hat sie in Rom kennengelernt, und weil sie viel herumreiste, nie ohne Arzt, hat sie auch Dr. Otto einmal engagiert. Aus dem einen Mal sind mehrere Male geworden. Da ist in Bayreuth auch das WagnerFestspiel in die Mode gekommen, da hat sie das Schloss Fan­ taisie* gemietet, hat eine Begleitung von sechs Personen gehabt, auch einen Koch, der Kunstsachen gemacht hat. Zu all dem Schönen und Guten hat Dr. Otto geschrieben: „Liebe Mama, ich würde viel lieber in Gilgen Nockerln mit Gulasch essen!“, und doch ist er einige Male, während wir in Gilgen waren, mit ihr auf drei bis vier Wochen gereist. Dann ist ihr eingefallen, Dr. Ottos Eltern kennenzulernen, sie wollte nach Gilgen. Damals war noch keine Bahn, von Salzburg aus musste man mit Wagen fahren. Das war kein kleiner Schrecken für uns. Obwohl Dr. Otto alles Mögliche arrangiert hat, dass wir uns leichter tun, war bei der Gräfin doch wieder alles anders. Nun wurde die Zeit festgesetzt; wir ließen die Alarmglocke läuten. Im ganzen Dorf wurde das Geschirr, Sessel, Tische zusammengetrommelt, denn es war eine Truppe, sechs Mann hoch. Da kam wieder ein Telegramm: „Wird erst einen Tag später kommen!“ Sie ist von Erzherzog Ludwig Viktor eingeladen worden. Den andern Tag war die Speisestunde für halb zwei Uhr angesagt; die Frau Großmutter war auch bei uns, und Herrn Professor 57

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ging es gar nicht gut. Wir haben noch im Schmied- und im Helmbergerhaus gewohnt, da sind noch keine Villen gewesen. Im Schmiedhaus hatten wir nur drei Zimmer, da waren die Großmutter, die gnädige Frau, Dr. Otto, und meine Wenigkeit in der Küche, die andern waren alle bei Helmberger. Nun hatten wir doch alles, so gut es ging, beisammen. Auch den Johann haben wir gehabt, dass ein Bedienter zum Servieren war. Zwei Tische sind gedeckt worden – alles zum Empfang bereit. Der gnädige Herr war so fein herausgeputzt, sogar weiße Handschuhe an, und die gnädige Frau hat eine französische Anrede* komponiert. Herr Professor konnte nichts tun, weil er große Schmerzen in seiner Hand hatte. Es wurde ein Uhr, nirgends eine Spur vom Kommen, es wurde zwei, noch nichts zu sehen. Wir kontrollierten mit dem Fernrohr die ganze Salzburgerstraße – nichts zu sehen von einem Wagen. Nun meinte die Gnädige: „Wir halten es nicht aus, du musst uns was zu essen geben!“ – „Um Gottes willen, gnädige Frau, es ist fast unmöglich, ich kann das nicht auseinanderreißen!“ Dann hab ich der Großmutter und dem Herrn Professor etwas hinübergetragen, dem gnädigen Herrn und der gnädigen Frau allerlei zusammengebracht und halt wieder gewartet. Lange war ich geduldig und ruhig, aber dann hat mich die Angst angepackt: „Wie wird das alles aussehen, gnädige Frau, ich verzweifle!“ Die gnädige Frau hat mir dann zugeredet und gesagt: „Sei nur geduldig, es wird schon alles gut sein, weißt du, wir sind keine Herzoge.“ Nun war es vier Uhr, als die Wagen kamen. Meine Herrschaften waren beim Tor. Als die Frau Gräfin ausgestiegen ist, hat sie in der Hand eine silberne Büchse gehabt, wo mehrere Frauenkäferln* drin waren, und die sind ihr ausgekommen. Da hat sie sich niedergekniet, auch die andern, bis sie alle wieder beisammen gehabt hat. Dann ist erst die Begrüßung losgegangen. Es war bald vier Uhr, bis sie zu Tisch gekommen sind. Nach Tisch sind alle spazieren gegangen. Die Gnädige sagte dann: „Du, schau mir, dass du was Ordentliches zusammenbringst, sie kommen alle am Abend wieder. Und geh zur Mutter, damit sie nicht allein ist!“ 58

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Ich ging erst aus, um allerlei zu kaufen. Wie ich vom Dorf heraufging – es kann gegen sechs Uhr gewesen sein –, setzte die Großmutter beim Fenster die Schlafhaube auf und wollte gerade ins Bett gehen. Sie wusste gar nicht, wie sie in der Zeit ist. Die Arme ist ganz vernachlässigt worden. Dann bin ich wohl gleich zu ihr gegangen, habe bei ihr Sardellen geputzt und Brötchen gemacht. Sie hat sich im Schlafrock aufs Sofa gelegt, und ich habe ihr die ganze Remasuri* erzählt. Auf einmal sagte sie: „Ich riech’ alleweil Sardellen!“ Sie hat es nicht gewusst, dass ich bei ihr zu kochen anfing. (...) Nun habe ich so manches von den Aristokraten geschrieben, ich wüsste wohl noch sehr viel, aber es würde zu lang. Da kämen erst eine Legion Barone und Ritter. Von allen diesen nenn’ ich nur einen, das ist Exzellenz Baron von Ebner-Eschenbach, der Gemahl der berühmten Schriftstellerin Marie von EbnerEschenbach. Das war ein ganz merkwürdiger Herr. Ich kenne ihn auch so lange wie seine Frau Gemahlin. Anfangs kam er immer in einer Generalsuniform – aber sein liebes, sanftes Benehmen, man konnte es kaum glauben, dass dieser Herr beim Militär ist. Er kam viel zu uns, hat auch geschrieben, und bei der Gnädigen ist es vorgelesen worden. Was er geschrieben hat, weiß ich nicht. Er hat sich nach 40-jähriger Dienstzeit wegen seines Augenleidens pensionieren lassen, sonst war er ein ganz rüstiger und gutaussehender Herr, hat dann viele Reisen gemacht, war auch in Teheran. Mit allen Menschen war er gleich liebenswürdig, ob hoch oder niedrig, so auch mit meiner Wenigkeit. Wenn ich ihm aufgemacht habe, dann sagte er immer: „Wie geht es Ihnen, liebe, gute Helene?“ Hat ihm jemand anders aufgemacht, dann ist er in die Küche zu mir gekommen und hat gefragt, wie es mir geht. Ist das nicht eine merkwürdige Liebenswürdigkeit? (...) Nun komme ich über die Gelehrten; da kamen auch die berühmtesten zu uns, Professoren und Hofräte. Da muss ich wohl weit zurückfahren in die sechziger Jahre, es kamen die berühmten Oppolzer, Škoda, Türck, Rokitansky. Wie der Hofrat zum ersten Mal kam, habe ich ihn nicht gekannt, weil ich 59

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ihn noch nie gesehen hatte. Ich bat um den werten Namen, da ließ er aber einen Ton los: „Ich bin der Hofrat Rokitansky!“ Hofrat Prof. von Brücke, Hofrat Prof. Bamberger, Prof. Kahler und noch mehrere, die mir durch die vielen Jahre aus dem Gedächtnis gekommen sind. Von der Neuzeit nenne ich vor allem Prof. Billroth, Nothnagel, die vier Herren Brüder Professoren und Hofräte Exner, Prof. von Frisch, dann Prof. Bühler und Hofrat Exzellenz Miklosich, der berühmte Sprachforscher; wie oft war er beim Kaiser geladen? Alle vierzehn Tage kam er am Montag, regelmäßig am Abend, sieben Uhr, zu uns und blieb bis zehn Uhr. Da waren nur er, die gnädige Frau, das Frl. Betty und der gnädige Herr. Als er gestorben ist, habe ich müssen zwei Kränze hintragen, einen von der gnädigen Frau, einen von Frl. Betty. Als ich heimkam, sagte ich zu der gnädigen Frau: „Es war wirklich eine Ehre, dass der Herr“ – er war schon mehr als siebzig – „so lange und im Winter bei schlechtem Wetter zu uns gekommen ist.“ – „Nicht wahr?“, meinte dann die Gnädige. Wie leid es ihr war um ihn. Es sind noch genug, aber alle kann ich nicht aufzählen, viele habe ich auch vergessen. Auch über Künstler muss ich berichten – nur die hervorragendsten: Zuerst kommen die Schauspieler, vor allem der Altmeister La Roche und die Altmeisterin Haizinger; Letztere war oft bei uns zur Jause wie auch ihre Tochter, die Gräfin Schönfeld, die auch eine berühmte Burgschauspielerin war und heute noch lebt. Sie hat im Jahr 98 ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Dann das Ehepaar Gabillon, schon befreundet, bevor ich in das Haus kam. Sie waren mit allen auf das Intimste. Herr von Gabillon war ein Freund der Jagd und Prof. Ernst auch. Wenn die zusammenkamen, wie es dann unterhaltsam war! Bekanntlich war Herr von Gabillon auch ein Hundefreund. Wenn er zu uns kam, hatte er jedes Mal zwei mit, einen römischen Spitz und einen Jagdhund, und die hat er dann in der Küche deponiert mit dem Auftrag: „Wenn du ihnen was zu essen gibst, schlage ich dich tot!“, denn er war immer mit uns per Du. Wenn er kam, war sein Gruß nie anders als „Grüß euch Gott, liebe Kinder!“ (...) 60

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Herr von Lewinsky ist auch schon, bevor ich ins Haus kam, befreundet gewesen, und viele Jahre ist es so geblieben. Wie oft war eine größere Gesellschaft, wo er seine meisterhaften Vorlesungen gehalten hat; was war das für die Gäste für ein Vergnügen! So etwas kommt in wenigen Häusern vor, bei uns war es nichts Seltenes. Auch Herr von Gabillon war in diesem Fach ein Meister, ich habe ihn öfter bei uns gehört. Einmal hat er einen plattdeutschen Vortrag gehalten, den haben wenige verstanden, die gnädige Frau schon. (...) Dann kamen auch noch andere Künstler in Menge zu uns, teils berühmte und auch unbedeutende. Maler – Amerling, Decker, Hans Fischer, Berger, Feuerstein, Fuchs, Makart – waren mit Prof. Ernst sehr befreundet. Eine ganze Kompanie ist aus Rom bei uns einmarschiert auf das Kommando des Dr. Otto und wurde natürlich bei uns zu Tisch eingeladen. Das hat uns wenig Freude gemacht, wenn wir jeden Sonntag Gäste hatten. Da hat die Kathi durchaus haben wollen, ich solle dem Dr. Otto schreiben, er soll uns nicht alle schicken; die gnädige Frau musste nur darüber lachen. Wenn ich abends den Speisezettel gemacht habe und es geheißen hat: „Morgen haben wir Gäste“, dann habe ich ganz unwillkürlich einen Schrei ausgestoßen, und die gnädige Frau hat immer von Herzen gelacht. Ich hätte viel lieber geweint. Die Kathi war schon alt, es ist schon schwer mit ihr gegangen, und ich hatte wohl meine Arbeit, die musste ich doch auch machen. Lange bin ich auf den Markt gelaufen, um ihr den Korb heimzutragen, und habe den ganzen Vormittag mit ihr gekocht, dann schnell den Tisch gedeckt. Fast dreißig Mal bin ich zum Tisch gelaufen, bis alles wieder abgeräumt und aufgehoben war. Weil in der ganzen Wohnung alles so weitläufig war, ist man so müde geworden. Nun ist alles vorüber. Mir wäre es recht, wenn es wieder von vorne anfangen würde, es war doch so schön. Nun habe ich so halb und halb die Visiten, Gäste jeder Art, die zu uns kamen, wieder in Erinnerung gebracht und füge noch bei, dass alle bis zum Tode dem Haus treu geblieben sind. Wenn ich auf den Zentralfriedhof gegangen bin und so Umschau gehalten habe, da war ich fast stolz und habe meiner 61

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Begleitung gesagt bei den Ehrengräbern und Arkaden: „Der und die waren auch unsere Gäste, die habe ich auch serviert bei Tische.“

„So manche Anekdote wäre zu erzählen von dem Fräulein Betty ...“ Die 80er-Jahre hat das Frl. Betty mit ihrem Fußleiden angefangen, da hätte ich viel zu erzählen; fast zehn Jahre sind vergangen. Überhaupt war das Unwohlsein bei dem Frl. Betty manches Mal ganz unterhaltend. (...) Einmal war sie ein wenig unwohl, ganz unbedeutend. Dr. Breuer war wohl bei ihr, kam dann ein paar Mal zum gnädigen Herrn und hat gewiss wenig Zeit gehabt, zum Fräulein zu gehen, er hat immer so viele Patienten gehabt. Dann ist sie aufgestanden und hat bei ihrem Schreibtisch drauflos geschrieben und ist um elf Uhr noch nicht ins Bett gegangen. Ihre Marie meinte: „Ja, was hat denn heute das Fräulein für eine Schreiberei, dass sie um diese Zeit noch auf ist?“ Wir haben es dann schon erfahren; sie hat dem Dr. Breuer ein sehr witziges Gedicht gemacht. Ich glaube, dass ich noch so ziemlich alles zusammenbringen werde, wie es geht. Es hat geheißen wie folgt: Wie so wert, lieb und teuer War stets mir Dr. Breuer. Jedes Wort aus seinem Munde war mir eine Himmelskunde, Jeder Blick ein Herzensfeuer, Sah ich ihn lenken mir das Steuer. Schnöde hat er mich vergessen, Ohne dass ich’s je ermessen. Wenn ich so in bitt’rer Qual Unzugänglich und gelinde dann verstumme ich und finde Auf den Namen Doktor Breuer Nur noch den Reim „das Ungeheuer“. 62

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Das Gedicht wurde ihm per Post zugeschickt. Dr. Breuer und seine Frau haben sehr gelacht. Den andern Tag ist er gekommen, es war gerade Tarockpartie. Wie Dr. Breuer bei der Tür hineingeht, sagt er: „Erschrecken Sie nicht, meine Damen, es kommt ein Ungeheuer!“ Dieser Dr. Breuer, der hat sich auskennt*! Wenn das Fräulein im Herbst von einer Kur oder einem Landaufenthalt heimkam, dann hat sie schon wieder angefangen: „Herr Doktor, was glauben Sie, wo soll ich den kommenden Sommer hingehen?“ Die heurige Kur war für gar nichts, nur das Geld zum Fenster hinausgeworfen!“ Dann sagte Dr. Breuer zu ihr: „Fräulein, jedes Tier hat seine Schonzeit. Ich will auch eine haben, vor dem Monat Februar dürfen Sie nicht fragen.“ Das war dann ein Schrei: „Aber Herr Doktor, so etwas muss man doch vorher bedenken und besprechen.“ – „Ja, im Februar oder im März.“ Dieser Dr. Breuer hätte schon bei uns allein alle Orden, die es nur gibt, verdient, auch die ledernen* Medaillen, die mir die gnädige Frau immer verliehen hat. Aber Frl. Betty hat ihn auch verehrt. Wenn sie von ihm gesprochen hat, sagte sie nie andres als: „Breuer, ein Engel, wie er ist!“ Einmal war sie wirklich sehr krank. Wir glaubten, dass sie den Kopftyphus* hatte, weil sie oft besinnungslos war. Lange, ja Wochen, hat es gedauert, bis man sie wieder zum Gehen gebracht hat. Indessen war es die Chloralkrankheit*. Diese Wirtschaft, wie sie sich da benommen hat, man hat sich gar nicht auskennt mit ihr! Wenn sie den ganzen Tag geschlafen hat und sich nicht bewegen hat können, dann ist sie in der Nacht auf dem Boden gesessen, aber nicht etwa herausgefallen. Wie sie das angestellt hat, weiß ich nicht. Da kam die Marie heraus mitten in der Nacht: „Helene, helfen Sie mir das Fräulein ins Bett heben?“ Ich bin nicht wenig erschrocken, lief hinein. Sie saß ganz nah beim Bett, hat weder geredet noch gedeutet und ließ sich halt aufheben; das war keine kleine Arbeit, sie war groß und unbeholfen. Sonst hat sie nichts gebraucht. Ihre Marie war nebenan, hat die Tür offen gehabt, ich bin wieder in mein Bett. Es dauer63

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te nicht lange, hieß es wieder: „Helene, helfen Sie mir das Fräulein ins Bett heben.“ Dieses Mal war die Hälfte vom Fräulein unterm Bett. Wir brachten sie hinein, ich ging wieder schlafen, es ging zum dritten Mal los. Da lag sie beim Tisch, das haben wir zwei nicht mehr zusammengebracht, wir waren schon sehr ermüdet. Wir haben auch noch die Mali wecken müssen und haben sie ordentlich hineingeschupft. Die Marie und ich haben uns nicht enthalten können und haben ganz heimlich so lachen müssen. Ich habe es gar nicht mehr verheimlichen können und bin in das rote Zimmer hinaus, dass es das Fräulein nicht merkt. Von da an ist man die Nächte bei ihr geblieben. Die Marie hat eine kranke Hand gehabt, allein hat sie nichts ausgerichtet, und da habe ich längere Zeit bei ihr geschlafen. Dann sagte die gnädige Frau zu Dr. Breuer: „Schauen Sie, Herr Doktor, dass eine Wärterin kommt. Die Helene hat schon bei mir genug durchgemacht, das erlaube ich nicht mehr.“ Dann ist eine Wärterin gekommen, die hat allein auch nichts ausgerichtet. So langsam hat sie sich wieder auf die Füße gemacht, aber mit dem Gehen war es lange schlecht. Man hat sie führen müssen – wie ein kleines Kind. Dann hat es geheißen: „Die Helene ist die Stärkste!“ Ich musste kommen und das Fräulein jeden Tag zu Tisch führen. Das hab ich einige Zeit getan, aber einmal wären wir beinah beide umgefallen. Wie wir durch das rote Zimmer gingen, ließ sie die ganze Schwere auf mich fallen, ich hielt nicht mehr Stand. Zum Glück ging gerade Herr Onkel August durch das Zimmer. Ich schrie aus Leibeskräften: „Herr Onkel, bitte nur schnell um den Schaukelstuhl!“, und da habe ich das Fräulein draufgesetzt und per Schlitten in das Speisezimmer gefahren. Das war meine Erfindung in der Todesangst. Wochenlang sind wir so gefahren. Auf diesen Einfall muss ich mir doch was einbilden, in der Not wird man erfinderisch. Damals hat sie sich wieder ganz erholt. So manche Anekdote wäre zu erzählen von dem Fräulein Betty, hauptsächlich über ihre Einpackerei und Abreisen. Lange habe ich dieses Geschäft gemacht, ich war schon neun Jahre im Hause, bevor sie ein Mädchen genommen hat. Drei Tage ist eingepackt worden, 64

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das hätte man nur sehen sollen. Jeder Hut ist in drei Sacktücher eingewickelt worden, ebenso die Coiffuren* und Hauben, auch die unzähligen Hafteln* haben alle gut verwahrt werden müssen, damit sie nichts anstellen. Von allen Gattungen Kleider, Röcke usw. mussten die gleichen Reste mit – wenn etwa was passiert, dass man es hat. Zwei bis drei Kleider wurden neu angeschafft auf die knappeste Zeit, und da war es ihr insgeheim ganz recht, wenn sie nicht fertig wurden, nur damit sie noch dableiben konnte. Wenn sich dann jemand gewundert hat: „Ja, Fräulein sind noch da?“ – „Ja, die Stasi lässt mich sitzen“ – war aber nicht der Fall. Den dritten Tag war die Packerei wohl fertig, dann war ein Tag zum Ausruhen bestimmt. Auf einmal ist es wieder losgegangen: „Helene, haben Sie das Mieder eingepackt?“ – „Ja, Fräulein, es ist ganz unten.“ – „Wissen Sie es sicher?“ – „Ja, ganz gewiss.“ – „Es wird doch besser sein, dass man sicher ist, wir packen noch mal aus!“ – wieder alles heraus. Endlich kam der letzte Tag, die Möbel waren schon alle gekampfert* und gepfeffert, dass man in einem fort niesen musste. „Heute kann ich nicht reisen, es könnte ein Gewitter kommen“ – wieder nichts. Den andern Tag war Kopfweh. Zum Glück kam Herr von Lewinsky daher, der ist angejammert worden. Das hat ihr nichts genützt: „Nein, nein, liebes Fräulein“, hat er gemeint, „das Reisefieber kennt man schon“, und nahm das Fräulein beim Arm. Wir holten schnell einen Wagen, und Herr von Lewinsky fuhr mit ihr auf die Bahn, dann ist es gegangen. Gewöhnlich, wenn ich sie begleitet habe, haben wir fast eine Stunde früher auf der Bahn sein müssen. Die neuen Kleider hat sie das erste Jahr nie angezogen, immer erst den kommenden Sommer, die haben zuerst den Hausbrauch lernen müssen. Auch über ihre Krankheiten, die Kuren, die sie gebraucht hat, wäre viel zu schreiben. Man hat da sogar was gelernt. Anfangs hat sie im Arm längere Zeit Schmerzen gehabt, dann ist sie in das Tobelbad* gegangen, hat es nicht lange dort ausgehalten und kam schon Anfang August wieder nach Wien. Die Wohnung war nicht leer; es waren der gnädige Herr, Kathi 65

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und ich zu Hause. Da hat Dr. Breuer das Massieren verordnet. Anfangs kam täglich eine Frau, pro Tag zwei Gulden, das war dem Fräulein und auch Dr. Breuer zu viel. Da sagte er: „Das werde ich der Helene zeigen.“ Nun habe ich neun Wochen massiert. Das Fräulein hat geschrien, und ich habe dabei geschwitzt; blaue Flecken habe ich ihr auch gemacht. Ob es geholfen hat, das weiß ich nicht mehr. Dann kamen die Gräfenberger* Bandagen, täglich am Abend ist bandagiert worden, und auch alle Tage Klistier*. Einmal frägt mich die gnädige Frau: „Du, was soll ich dem Fräulein zu ihrem Geburtstag kaufen?“, und ich sagte: „Na, eine Elektrisiermaschine*.“ – „Was fällt dir denn ein?“, hat die Gnädige gemeint. Es hat nicht lange gedauert, war eine da. Anfangs hat Dr. Breuer seine geliehen, dann war eine im Hause. Zu allen diesen Kuren war schon die Rosa im Hause. So ein Stubenmädchen wird es in Wien kaum geben, die täglich solche Arbeiten zu verrichten hat: erstens massieren, dann bandagieren, elektrisieren, klistieren und in Gottes Namen auch frisieren und Zigaretten machen, wenigstens 20 bis 30 Stück. Wenn sie nur mehr sechs Stück gehabt hat, dann hat sie aus Leibeskräften über den Gang hinübergeschrien: „Rosa, bedenke, dass ich nur noch sechs Stück Zigaretten habe!“ Die Leute im Haus haben immer gelacht. Die ersten Jahre waren die Krankheiten vom Fräulein fast unterhaltend. Öfter hat sie bei Tische Hexenschuss bekommen, dann haben sie der gnädige Herr und Herr Richard in ihr Zimmer geführt – den Transport hätte man sehen sollen! Diese Länge und bei jedem Schritt „A-a-au!“ geschrien. Dann kam Breuer elektrisieren: „Helene, ein warmes Wasser zum Fräulein.“ Dann habe ich dableiben müssen und helfen, da habe ich was ausgestanden. Das Schreien vom Fräulein: „A-a-au, Herr Doktor, dass Sie so ein grausamer Mensch sind, habe ich nicht gewusst, man sieht es Ihnen gar nicht an!“ Dann ist das Lachen bei Dr. Breuer losgebrochen. Ach, war ich froh, dass ich endlich habe lachen können; wir haben uns köstlich unterhalten. Aber die letzten Jahre, da gab es gar nichts mehr zum Lachen. 66

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Nach längerer Krankheit starb Betty Paoli am 5. Juli 1894, in ihrem 80. Lebensjahr, in Baden bei Wien, während die Familie Fleischl auf Sommerfrische in St. Gilgen war. Man kann sich denken, was das für die Gnädige für ein Schlag gewesen ist! Lange, ja lange ist sie nur dagesessen, mit beiden Händen das Gesicht verdeckt, weinen konnte sie nicht. Vergebens hat die Frau Gräfin ihr zugeredet. Ich sagte auch: „Gnädige Frau haben vom Fräulein ja nur mehr Jammer gehabt!“ – „Oh, ich habe doch noch was von ihr gehabt, es hat sich alles um sie gedreht, man hat ihr alles mitteilen können.“ Das war auch wahr, da hat man es erst gesehen, wie sie nicht mehr war – und die Gnädige so ganz allein in dieser großen Wohnung. Und wir so ungebildeten, dienstbaren Geister, mit was sollten wir die gnädige Frau unterhalten? Was verstehen wir von der Literatur? Gewusst hätte ich wohl, was die gnädige Frau unterhalten hätte, aber woher hätte ich es nehmen sollen? So ein armer Teufel, so ohne Schule, ohne Tradition – und doch traue ich mich, die Erlebnisse im werten Hause Fleischl niederzuschreiben. Warum traue ich mich? Weil die selige Gnädige mit meinen Briefen, die ich an sie geschrieben habe, immer zufrieden war. Wie sie öfter in Rom gewesen ist, hat sie mir auch unter anderem geschrieben: „Helene, wenn du mir eine Freude machen willst, so schreibe mir recht oft, deine Briefe unterhalten mich sehr!“ Es ist für mich nicht leicht, an solche, auf das Äußerste gebildete Persönlichkeiten zu schreiben. Auf die orthographischen Fehler gebe ich nicht Acht; ich sehe sie auch, aber ich trachte nur, einen Sinn hineinzubringen und wahrheitsgetreu zu schreiben. Es würde für mich wohl eine große Freude sein, wenn ich dann von Dr. Otto und Herrn Paul hören würde, dass ich ihnen eine Freude gemacht habe. Von der ganzen Familie habe ich nur noch die zwei Herren, die von einst geblieben sind. (...)

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„Wie es damals in Gilgen war ...“ Ich fange wieder an, über den Aufenthalt in Gilgen zu schreiben. Wie gesagt, im Jahr 82 kamen wir das erste Mal hinauf. (...) Anfangs hat die Gnädige die Absicht gehabt, nicht Menage zu führen, sondern in der Post* zu speisen. Da war noch Baron Walterskirchen ein paar Wochen Pächter, dann kam ein anderer, war auch nicht besser. Drei Wochen ist es so gegangen, dann hat die Großmutter angefangen zu jammern: „Du, Ida“, hat sie gemeint, „was war denn das für ein Strudel? Das war ein kurioser Strudel, ich habe ihn nicht essen können.“ Das war für die Gnädige traurig, und sie meinte: „Du musst kochen, die Mutter muss was haben, was sie essen kann, am Abend hat sie auch nur Suppe.“ Dann habe ich gekocht, obwohl ich allein war, aber ohne Gäste ist es bei uns nie gegangen. Wie es damals in Gilgen war und heute, das ist ein Unterschied wie tausend und eins: nichts zu bekommen, keine Bahn; bis man von Salzburg oder Ischl was bekommen hat ... Wenn man schnell was gebraucht hat – das Fleisch: alte Kühe, ich glaub, so alt wie der Schafberg. Wie oft ich da verzweifelt bin, das weiß ich nicht mehr, aber gelebt habe ich doch alleweil. Wollte ich eine Zunge kochen – kein Häfen*, nur ein kleiner. Zuerst habe ich das Hinterteil gekocht, die Spitze hat ganz verdächtig oben hinausgeschaut. „Spitz, warte nur, jetzt kommst du auch dran!“ Wenn ich einen Braten gebraucht habe, ist das Kalb um zehn Uhr noch spazieren gegangen, um ein Uhr ist gespeist worden. Wenn um neun Uhr der Huber von Salzburg kam mit allerlei, bin ich den Wagen ganz auspacken gegangen; wie ein Räuber habe ich mir genommen, ohne zu fragen, und bin gleich davon, um zu kochen. Oft war keine Milch zu bekommen im ganzen Dorf. Ich ging hinauf zu der Hausfrau*, das war die Schmiedin – nicht zu Haus. Nur die blinde Nani, die gerade beim Schmied war; die Gnädige hat ihr auch viel geschenkt. Das will ich sehen, ob ich keine Milch bekomme! „Nani“, sage ich, „wo hat denn die Hausfrau die Milch?“ – „Ja, da hin68

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ter der Stiege ist eine Falltür, die machen Sie auf, da geht man in den Keller, da ist die Milch.“ Gefunden, nehme meine Schüssel, lauf’ davon. „Nani, sagen Sie der Schmiedin, die Helene hat eine Milch davon!“ Es war eine gute Hausfrau, sie hat herzlich darüber gelacht. (...) Die Gnädige ging einmal so nach zwölf Uhr noch am See herum, ohne jemand zu erwarten, hatte auch keine Ahnung, dass jemand kommt; indes kam mit dem Schiff der Graf Adolf Dubsky mit seinen beiden Söhnen. Das kann man sich denken, dass die Gnädige die drei Grafen nicht mehr ausgelassen hat und mit ihnen heraufgekommen ist. Der Herr Graf sagte gleich auf der Stiege: „Köchin, verdammen Sie uns nicht, die gnädige Frau hat uns nicht mehr ausgelassen!“ Alle drei gespeist – zum Glück habe ich allerlei in Vorrat gehabt. Damals war die Frau Gräfin noch nicht in Gilgen, da meinte der Herr Graf: „Das muss ich der Marie sagen, dass man in Gilgen gut speist.“ Ein andermal kam der Hofrat von Lang – da haben wir Faschingskrapfen gehabt. „Die „Krapfen“, meinte der Hofrat, „sind sehr gut, gnädige Frau, aber sie sind außer Gesetz.“ Bekanntlich sind sie nur im Fasching in der Mode, aber in Gilgen gab es keine Mode, da hat man kochen müssen, was man bekommen hat. (...) Es war immer etwas los, alles ist zu uns gekommen, hat natürlich bei uns gespeist, sodass sich der Postwirt geärgert und gesagt hat: „Bei der Frau von Fleischl ist ein Speisehaus, die haben Leute und ich keine!“ Es war auch wahr. Dann ist einige Sommer das Frl. Villinger auf drei Wochen gekommen, hat wohl gewohnt in der Post, zum Ärger des Postwirts aber im Speisehaus gegessen. Gerade dasselbe war mit dem Frl. ­Schücking und noch mit mehreren. Einmal habe ich mich ganz geniert. Die Gnädige hat mich in die Restauration geschickt, eine Frau samt Nichte einzuladen, da hat die Köchin gesagt: „Wir haben so keine Fremden, jetzt nehmen sie uns die paar auch noch weg!“ (...) Leider muss ich wieder sehr viel Trauriges schreiben. Mit dem armen Herrn Professor ging es immer abwärts, das war nicht mehr zu verheimlichen, es war sichtlich. Das hat manches 69

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Mal das ganze Haus verstimmt. Er wurde ganz menschenscheu, wollte niemand mehr haben. Wenn er spazieren ging, hat er sich von niemand begleiten lassen, und nicht selten hat man ihn in einem elenden Zustand gebracht. Die erste Stiege ist er noch hinaufgekommen, auf der zweiten ist er dann schon liegen geblieben. Man kann sich den Schrecken denken, bis man ihn in sein Bett gebracht hatte. Diese Anfälle, einmal das, ein andermal wieder was anderes. Manchmal ein paar Tage und Nächte gar nicht geschlafen, dann wieder ebenso lange nicht mehr aufgewacht. Da kam es einmal vor, dass er zwei Tage und zwei Nächte geschlafen hat. Der gnädige Herr hat sich gefreut darüber: „Ach, er schläft so ruhig und gut!“ Sein Johann war noch in Wien, da hat der gnädige Herr die Aufsicht gehabt, Dr. Otto war auch nicht in Gilgen. Die dritte Nacht kam die Gnädige zu mir hinauf, ich habe nebenan von Herrn Professor geschlafen. „Hast noch nichts gehört?“, fragte die gnädige Frau. „Nein, er ist ganz ruhig.“ Es war zwölf Uhr und eine furchtbare Nacht – stockfinster, mit Sturm, Gewitter, geregnet in Strömen. „Du“, sagte die Gnädige, „es macht mich so ängstlich, geh schauen dass jemand zu Gersuny geht, ich lasse ihn bitten, zu mir zu kommen.“ Der Sohn von Pochlin ging gleich, und nach kurzer Zeit war Gersuny schon da. Nun ist aufgeweckt worden. Gersuny zieht den Arm, hebt ihm den Kopf: „Ernst, wach auf! Ernst, mach die Augen auf!“ – nichts. Mit Wasser angespritzt, alles umsonst. Der gnädige Herr hat nur dreingeschaut, er hätte lieber geweint. Die Gnädige hat halt auch gebettelt: „Geh, Alter, du musst doch auch was essen. Geh, geh, mach die Augen auf!“ – alles umsonst. Da sagte Gersuny: „Helene, machen Sie ihm einen sehr starken schwarzen Kaffee!“, den haben wir nun müssen eingießen. Es wurde sechs Uhr, da sagte Gersuny: „Gnädige Frau, seien Sie nur beruhigt, er wird plötzlich aufwachen“, und ist heim. Die gnädige Frau und der Herr sind dann auch frühstücken gegangen, und ich bin bei ihm geblieben. Habe ihn halt auch bei den Armen gezogen und gebettelt: „Herr Professor, die Mama war die halbe Nacht bei Ihnen, machen Sie doch die Augen auf, Sie schlafen schon so lange, auch Gersuny war da bei 70

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Ihnen!“ Dann hat er mit der Hand die Augendeckel aufgezogen, und so langsam ist er zu sich gekommen; dann hat er wohl ordentlich gegessen und auch Zigarren geraucht. Ein andermal – es war an einem Vormittag – hörte die gnädige Frau einen schweren Fall über ihrem Zimmer. Wir liefen hinauf. Er war vom Bett herausgefallen, und das halbe Gesicht war ganz blau. Der Johann war noch in Wien, da haben halt wir ihn bedienen müssen. Man hat ihm wieder das Chloral* weggenommen und nur gegeben, was ihm Breuer erlaubt hat. Wie er da gebettelt hat! Wie das traurig war, wenn er gesagt hat: „Mama, gib mir nur ein Gramm!“ – „Nein, Ernst, es schadet dir.“ – „Gut, wenn du willst, dass ich zu Grunde gehe, dann gib mir halt keins.“ Es dauerte nicht lange, dann wieder: „Mama, gib mir nur ein halbes Gramm!“ – „Nein, Ernst, Breuer erlaubt es nicht“, dann hat er geweint. Wenn die gnädige Frau hinunterging, habe ich bei ihm sein müssen. „Helene“, hat er angefangen, „geben Sie mir was!“ – „Was denn, Herr Professor?“ – „Seien Sie nicht so grausam mit mir, ich bin ja ein kranker Mann.“ – „Was soll ich Ihnen denn geben, Herr Professor?“ – „Geben Sie mir ein Gramm Chloral!“ – „Ja, wo ist es denn? Ich finde keins!“ Ach, wie traurig – weinen hätte man können. Das waren Kämpfe, sie sind nicht aufzuzählen. Diese Nächte hätte man nur hören sollen, es war eine Pein! Man hat nichts tun können. Wenn er manches Mal auch die halbe Nacht gut geschlafen hat – er ist oft um acht Uhr eingeschlafen und hat bis Mitternacht geschnarcht –, aber jedes Mal, wenn er wach geworden ist, war ein furchtbarer Jammer. Oft bin ich schon vor vier Uhr zu ihm gegangen und hab gefragt: „Herr Professor, möchten Sie nicht Tee und Zunge haben? Ich bin schon lange wach!“ Das hat er nie wissen dürfen, dass man wegen ihm wach wurde. „Ja, Helene, tun Sie das. Habe ich Sie wohl nicht aufgeweckt?“ – „Nein, ich bin schon lange wach.“ – „Schwören Sie es mir?“ – „Gewiss, Sie haben mich nicht geweckt. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Tee wollen, wäre ich schon längst hereinkommen.“ Dann hat er mit Vergnügen Tee getrunken und Zunge gegessen. 71

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„Jetzt werden Herr Professor dann wieder einschlafen“, sagte ich. „Was?“, meinte er, „als ob ich schon einmal geschlafen hätte!“ Das hat er nie zugeben wollen, dass er manchmal doch auch schlief. Ich bin oft zeitig in der Früh mit Tee und Zunge gekommen. Wenn er manches Mal gut gelaunt war, habe ich mir erlaubt zu sagen: „Herr Professor haben lange gut geschlafen.“ Da hat er mit einem Ausruf gesagt: „Nein, ich habe gar nicht geschlafen!“ Ich habe mich noch getraut zu sagen: „Ja, wer hat denn dann geschnarcht?“ Da hat er lachen müssen. Gewöhnlich musste ich warten, bis er fertig war, da habe ich einmal gesagt: „Der Johann wird gewiss eifersüchtig werden, wenn ich den Herrn Professor bediene.“ Da meinte er: „Er ist es schon“, aber der Johann war froh, wenn man was getan hat. Dann hat er es der gnädigen Frau erzählt und gesagt: „Die Helene hat mir geschworen, dass ich sie nicht aufwecke, ich glaube es aber nicht, ich wecke sie ja doch auf.“ Der Arme war trotz seiner Leiden noch rücksichtsvoll, man ist froh gewesen, wenn man ihm hat was tun können. Seine Speisestunde war eigentlich nie, kann man sagen – je nachdem, wann er wach geworden ist, von elf Uhr Mittag bis elf Uhr Nacht. Man hat immer was in Bereitschaft gehalten. Sobald er aufgewacht ist, musste alles schnell gehen. Einmal, ich habe in der Küche geschlafen, es war allerlei für ihn in Bereitschaft, aber ich habe schon geschlafen. Da hat der Johann mich aufwecken wollen; es war Mitternacht, der Herr Professor wollte ein Gulasch mit Nockerln haben. Ich habe nicht gehört, wie der Johann Steine auf das Küchenfenster geworfen hat, habe halt geschlafen. Mir war es dann sehr leid, dass ich nichts gehört habe. Freilich dauert es sehr lange, bis so ein Gulasch weich gedünstet ist, aber ich hätte es doch getan. Er war mit mir immer zufrieden und hat oft gesagt: „Helene, ich mache Ihnen mein Kompliment!“ Wenn er von dem Chloral ein wenig betäubt war, dann hat er öfter nacheinander gesagt: „Helene, ich mache Ihnen mein Kompliment.“ In dem Schmiedhaus habe ich die Gnädige schon um fünf Uhr früh wecken müssen; gleich aus dem Bett, kalt abreiben, dann ist sie spazieren gegangen bis nach Hüttenstein. Um sie72

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ben Uhr kam sie heim zum Frühstück. Die Gilgener haben sich nicht wenig gewundert, dass bei uns schon um fünf alle Fenster offen waren. Dann ist die gnädige Frau vormittags schwimmen gegangen. Das alles hat die Großmutter nicht wissen dürfen. Wenn ich denke, wie gesund und rüstig die gnädige Frau damals war – es freut mich heute. Der schöne Caro* hat uns auch viel Freude gemacht, er hat bei mir in der Küche geschlafen, aber sobald Herr Dr. Otto „Helene!“ gerufen hat, ist er geflogen zu seiner Tür. Wenn es ihm manches Mal zu lange gedauert hat, hat er sich bei seiner Tür hingelegt und gewartet. Alles hat ihn lieb gehabt; so einen anhänglichen Hund gibt’s nicht mehr. Wenn er nicht mit war und die Herrschaften heimgekommen sind, dann hat er auf dem Stiegengitter gewartet; da ist er von jedem gestreichelt worden. Er ging von der einen Sprießel zur andern, hat den Kopf hinausgehalten und sich halt alles Schöne antun lassen. Einmal habe ich mir den Spaß erlaubt und habe mit dem Caro meinen Kopf hinausgehalten, in der Erwartung, dass man mir auch so schön tut. Die gnädige Frau hat sehr gelacht, und Dr. Otto hat mich mit dem Staberl fortgejagt. Ich wollte nur wissen, wer mehr Wert hat, der Caro oder ich. (...) Nun geh ich wieder zu der anderen Wohnung, zu Pochlin. Im Jahr 89 war ein freudiges Ereignis, da kam Herr Paul mit seiner jungen Frau auf der Hochzeitsreise nach Gilgen. Man kann sich denken, wie man gespannt war. Die junge Frau wird noch mehr gespannt gewesen sein, da sie doch niemand gekannt hat außer Dr. Otto. Wenn man es auch gewusst hat, dass sie kommen, so haben sie uns doch überrascht und sind auf einmal dahergekommen. Die junge Frau war anfangs ein wenig verlegen, es war ihr doch alles fremd. Es hat nicht lange gedauert, da hat sie sich benommen, als wenn sie im Haus Fleischl erzogen worden wäre. Ist auch natürlich, wie sie gesehen hat, was sie für liebe und gute Schwiegereltern und Schwäger gefunden hat. Wenn Herr Professor auch im Bett gelegen ist, so hat er doch mit einer Begeisterung mit seiner Schwägerin gesprochen; auch die Frau Gräfin war da – alles liebe Menschen. Die Helene war auch da, 73

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das alte Haus, das ihren Mann so prächtig erzogen hat! Oft hatte ich von der gnädigen Frau einen Putzer* bekommen, wenn die Herren Kinder Paul und Richard sich nicht ordentlich gewaschen hatten und kein Nachthemd anziehen wollten. Es war dann bei uns Sonnenschein, alles in fröhlicher Stimmung. Auch mich hat Herr Paul vorgestellt, und die junge Frau hat mir ein seidenes Tuch mitgebracht, das heute noch sehr schön ist. Herr Paul sagte dann zu mir: „Sehen Sie, ich habe es ihr gesagt, dass sie Ihnen nichts mitbringen soll – glauben Sie, dass sie mir gefolgt hätte? Nun geben Sie meiner Frau ein Busserl!“ Da waren wir beide verlegen. Ich habe ihr dann schon die Hand geküsst und bei mir gedacht: „Ich kenne das Juxbrüderl wohl, aber die junge Frau kann ihn in der kurzen Zeit nicht so kennen.“ Da haben wir halt gelacht, und die gnädige Frau hat auch mit uns gelacht. (...) Die deutsche Kocherei hat die junge Frau interessiert, sie war oft bei mir in der Küche. Wer kam und sie sah, ist auch hereingekommen. Einmal waren nicht weniger als fünf Herren in der Küche beim Herd, jeder hat mit dem Kochlöffel umgerührt mit dem größten Eifer, da zufällig in jedem Topf und Kasserol ein Kochlöffel drin war. Folgende Herren waren meine Gehilfen: Der gnädige Herr, Dr. Otto – das war der Hauptkoch, er hat auch wirklich was gekonnt –, Herr Paul, Prof. von Frisch und Primar Gersuny. Da kam noch die gnädige Frau senior heraus; als sie die Gesellschaft in der Küche sah, wollte auch sie hinein. „Gnädige Frau“, sagte Gersuny, „hier ist kein Platz mehr!“ Ich habe mich zum Tisch gesetzt und zugeschaut. „Ja“, sagte dann Herr Paul, „die Küchenmeisterin sitzt da, und wir können für sie arbeiten!“ Da muss man schon auf Wienerisch sagen: „Gehn wir in die Fleischl-Küche, da gibt’s a Hetz*“, das war auch so. Wenn ich viel zu tun hatte, war ich schon verzagt, habe oft zu der gnädigen Frau gesagt: „Heute bekommt niemand was zu essen!“ – „Ja, warum denn nicht?“ – „Weil ich keine Ruhe habe.“ Um ein Uhr ist gespeist worden, da gab es kein Pardon, da kam zuerst der gnädige Herr: „Gehn wir bald essen? Ich habe Hunger.“ Dann die gnädige Frau: „Helene, anrichten! Ich 74

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will nicht sagen, dass wir verhungern, aber ohnmächtig werden wir.“ Dr. Otto war oft noch nicht da, weil er viel bei Billroth gespielt hat. Dann ist er gerannt gekommen, rief gleich auf der Stiege: „Helene, anrichten, ich bin schon da!“ – und so ging es fort. 1890 heiratete Otto Fleischl die Schweizerin Nina Schwarzenbach. Auf der Hochzeitsreise kam das junge Paar in St. Gilgen vorbei, wo Otto Fleischl seine Ehefrau der Familie vorstellte. Ein weiteres freudiges Ereignis war die Geburt von Paul Fleischls erstem Sohn, den er im Sommer 1891 erstmals seiner Familie präsentierte.

„Die Kälte kommt von innen, da ist nichts zu machen“ Am 22. Oktober 1891 starb Ernst Fleischl trotz seines langjährigen Leidens doch unerwartet. Nachdem Ida und Carl Fleischl vom Tod ihres Sohnes erfahren hatten, begaben sie sich in seine Wohnung in der Schwarzspanierstraße und kehrten erst abends nach Hause zurück. Gegen sieben Uhr abends ist der gnädige Herr mit der Gnädigen erst gekommen. Ich habe mich gar nicht hineingetraut; da kam die Gnädige zu mir in die Küche: „Nun Helene, was sagst du dazu?“ Sie war so gefasst, dass ich mich fast darüber gefreut habe. Sie sagte: „Heute Nacht wird er schon am Zentral* geführt. Es tut mir so leid, ich hätte gerne einen schönen Leichenzug.“ – „Schon wieder gleich hinaus wie die Großmutter“, sagte ich, „ja warum denn?“ – „Ja, es ist ein Feiertag, da darf man ihn nicht begraben, dann bleibt er zu lange liegen.“ – „Ach, tun gnädige Frau das nicht, um Geld geht alles. Er hat eine große Wohnung und hat keine ansteckende Krankheit gehabt, warum soll es nicht gehen?“ – „Ja, wenn du hinausfahren und dem Johann sagen würdest, dass er in der Wohnung bleiben soll, wäre es mir sehr lieb.“ Dann erst habe ich mich zum gnädigen Herrn in sein Zimmer getraut. Indem die gnädige Frau so gefasst war, habe ich mir gedacht, es werde sich auch der gnädige Herr ergeben ha75

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ben. Das war aber ganz anders, es war zum Verzagtwerden. Er ist im Zimmer herumgelaufen, hat geweint, geschrien – ganz zum Verzweifeln. Wahrscheinlich hat er die gnädige Frau verschonen wollen und sich allein dem Schmerz überlassen, weil sie beide den ganzen Tag im Sterbezimmer bei ihm geblieben sind und erst zum Nachtmahl heimkamen. Weiß es heute noch, ich hatte einen Hasen zubereitet und habe vor Aufregung, anstatt mit Suppe zu begießen, schwarzen Kaffee genommen. Dann sind wir, die Marie von Frl. Betty und ich, hinausgegangen. Johann war schon im Bett. „Johann, ist er wohl noch da? Lassen Sie ihn nicht fort, er bleibt in seiner Wohnung.“ Dann hat mir der Johann alles erzählt, wie es gekommen ist. Auch er hatte nicht geglaubt, dass es zu Ende geht. Am Abend war er noch lange bei ihm; er war zum Herrn Professor nicht wie ein Diener, sondern wie ein guter Freund. Den Johann verehre ich, denn ich weiß es am besten, wie gut und lieb, auch geschickt, er mit ihm war. Wie er den letzten Abend lange bei ihm geblieben ist, sagte der Johann: „Herr Professor haben so kalte Füße, ich werde ein warmes Tuch holen!“ – „Ach nein“, meinte er, „die Kälte kommt von innen, da ist nichts zu machen.“ Dann soll er doch eingeschlafen sein. Der Johann nahm ihm, wie immer, die Zigarre aus dem Mund, das Buch aus der Hand, deckte die kranke Hand zu, drehte das Gas ab und hat sich dann auch niedergelegt. Um drei Uhr morgens hat er geläutet, der Johann war gleich bei ihm, er klagte über Schmerzen. Er gab ihm seine Einspritzung und blieb bei ihm. „Johann“, soll er gesagt haben, „bleiben Sie bei mir, ich fürchte mich vor mir selber, bleiben Sie bei mir, bis ich wieder einschlafe. Aber versprechen Sie mir, dass Sie, wenn ich dann schlafe, auch wieder schlafen gehn! Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir Gutes und Liebes getan haben.“ Gegen fünf Uhr soll er dann wieder eingeschlafen sein. Der Johann – wie immer – nahm ihm die Zigarre aus dem Mund, das Buch aus der Hand; die Decke darüber, das Gas abgedreht, schaute er ihn noch eine Weile an, wie er so ruhig schlief, die eine Hand unter dem Kopf, ganz schön, sodass dann der Johann auch in aller Ruhe schlafen ging. 76

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In der Früh war alles ruhig, er hat nicht geläutet wie sonst; es fiel dem Johann auch gar nicht auf. Er hat angefangen im Zimmer nebenan aufzuräumen, wo die Tür in das Schlafzimmer ein wenig offen war. Der Johann sah öfter hinein, ganz leise. Er lag noch genauso, wie er ihn um fünf Uhr früh verlassen hatte, die eine Hand unter dem Kopf; darum hat man an das Totsein nicht glauben können. Blass im Gesicht war er schon lange, sodass der Tod nichts mehr geändert hat. Nun, es wurde neun Uhr, dann ging der Johann zum Bett, griff ihn an – er war kalt und steif. In dem Schrecken wusste der ­Johann keinen Rat, er ging nur schnell hinüber in das Physiologische Institut und holte den Herrn Prof. Exner; er ist auch bei ihm geblieben, bis die armen, betrübten Eltern gekommen sind. (...) Der Winter ist dann traurig vergangen, seine Eltern haben dem äußerlichen Scheine nach so fortgelebt wie vorher. Ich bin sehr oft mit der gnädigen Frau hinaus in seine Wohnung gegangen wegen seiner Sachen. Enorm viel ist verschenkt worden, alle seine Bekannten bekamen sehr wertvolle Sachen, auch viele Bücher für die armen Studenten kamen fort. Traurig genug war es in seiner Wohnung; bei seinem Bett hat dreißig Tage das kleine Öllamperl Tag und Nacht gebrannt. Der gnädige Herr ist nie hinausgegangen, ist von Tag zu Tag trauriger geworden. Vergebens hat man ihn getröstet; je mehr man ihm zugeredet hat, desto mehr hat er geweint. Wenn jemand gekommen ist, dann hat er gleich das Schnupftuch herausgenommen, gleich wieder geweint und geklagt: „Ich kann halt meinen Ernst nicht vergessen!“ Zwei Jahre später, im Sommer 1893, starb Carl Fleischl in St. Gilgen an den Folgen eines Schlaganfalls.

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„Sie haben Ihr Stubenmädchen gewiss schon sehr lange ...“ Das Jahr 96 gingen wir wieder zeitig nach Gilgen, auch die Frau Gräfin und Herr Graf Adolf haben uns begleitet. Wenn es auch anfangs leer und noch wenige dort waren, war es den beiden Damen ganz recht nach einem Winter in Wien, wo keine Ruhe war. Weiß nicht, welche von den beiden mehr belästigt wurde, glaube doch, die Frau Gräfin. Die hatte als Zugabe noch die lästigen Autographensammler, wenn sie auch einmal schrieb: „Wer bei mir Autographen sammelt, denen wird das Tor verrammelt!“ Wahrscheinlich hat sie zu wenig verrammelt, da muss man die Tore schon ordentlich verbarrikadieren, wie im Jahr 48. Wie gesagt, beide Damen waren ganz vergnügt, und die Zeit war ihnen nie zu lang. Vormittags wurde korrigiert, dann ein wenig ausgegangen, das Gleiche am Nachmittag, abends haben sie Karten gespielt. Auch wir haben uns derweilen ausgefaulenzt, bis der Ansturm in das Speisehaus hereinmarschiert ist, auf den man sich schon vorher sehr gefreut hatte. Ausgerastet waren wir auch alle. Das Frl. Kotzian und das Frl. Frankenstein, die schon vor uns dort waren, haben im Speisehaus Fleischl die Saison eröffnet. Dann ging es so langsam los, und sie kamen von allen Weltteilen daher mit allen Sprachen wie beim babylonischen Turmbauen; dort sollen es 72 Sprachen gewesen sein, habe ich immer gehört – ob es wahr ist, weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Dr. Otto kam anfangs allein, da seine Frau noch bei ihrer Mama in Bendlikon geblieben war. Es wurde immer so eingeteilt, dass jede Mutter was gehabt hat von den Kindern. Nach einigen Wochen hat Dr. Otto dann seine Frau wieder abgeholt, und sie sind zu uns gekommen; glaube, dass drei Mal die Mama Schwarzenbach mitgekommen ist und auch ihre Söhne. Da hat sich die gnädige Frau ungemein gefreut und mir aufgetragen, nur alles schön und gut zu machen: „Weißt du“, hat sie gemeint, „die Frau von Schwarzenbach ist eine Hausfrau, die alles versteht. Der Otto hat gesagt, was sie alles haben.“ 78

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Ich habe Angst bekommen, glaube aber, es war doch so ziemlich in Ordnung. Das habe ich gesehen, dass es eine Hausfrau ist, die es versteht. Während sie bei uns war, kam unverhofft eine Truppe, vier Mann hoch, aus Ischl daher, gerade vor dem Soupieren: Dr. Hammerschlag samt Frau und noch zwei. Die Gnädige kam in die Küche: „Du, Helene, alles bleibt da! Schau, dass du was Ordentliches zusammenbringst, geh nur gleich, weil sie wieder fortfahren, nur schnell!“ – „Um Gottes willen, wenn ich nur was bekomme! Sonst ist das Jakerl* in Gefahr, dass es abgestochen wird.“ – „Nein, das Jakerl geb ich nicht her, da wird nichts draus!“ Da haben wir noch recht gelacht. Die Frau von Schwarzenbach ging ganz ruhig den Tisch decken, weiß Gott, wo die Mali war. Sie hat alles gefunden, was sie gebraucht hat, ganz ruhig, und hat den ganzen Tisch fertig gemacht, als wäre sie schon einmal bei uns Stubenmädchen gewesen. Die Mali hat geschaut, wie sie kam. Ich glaube, dass sie serviert auch noch hätte, wenn die Mali nicht da gewesen wäre. (...) Da hat es die gnädige Frau schon sehr schön gehabt, alle um sie herum, die ihr lieb und teuer waren. Ach, wie gut aufgelegt war sie schon früh, wenn sie heraus in die Küche kam und sagte: „Nun, Helene, was wird heute gekocht?“ Wenn wir tags zuvor Gäste hatten – und ich eine große Küchenrechnung –, dann sagte ich: „Heute muss ich sparen, gestern habe ich viel ausgegeben.“ – „Ja, was fällt dir denn ein? Bei mir gibt es keine Hungerkur, ich will, dass man bei mir satt wird.“ Das hat sie mit einem solchen Eifer vorgetragen, als wenn es wirklich mein Ernst gewesen wäre. Wenn wir manches Mal ein größeres Diner gehabt und die Frau Gräfin und die gnädige Frau mich gelobt haben, dass ich gut gekocht hätte, da war ich wohl kindisch, habe mich sehr darüber gefreut. Anfangs, wenn wir das Gefrorene fabriziert und noch allerlei verbessert haben, da sagte ich einmal: „Gnädige Frau haben mich gar nicht gelobt.“ – „Ja, warum soll ich denn loben?“ – „Ja, dass man in Gilgen Gefrorenes bekommt.“ – „Ja, richtig! Oh du braves Lenerl du! Übrigens hast du erst die lederne Medaille bekommen.“ 79

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Nun wird man sich denken, die Helene ist ja recht schön mit ihrer Gnädigen umgegangen. Oh nein, ich habe meine Hochachtung nie vergessen, aber ich habe halt die Gnädige durch und durch gekannt. Es war ihr ganz angenehm, wenn man lustig war, sie hat gerne gelacht. Wenn ich beim Frisieren nichts geredet habe, weil ich manchmal nichts gewusst habe, dann hat sie gefragt: „Hast du Kopfweh?“ – „Nein, warum denn?“ – „Ja, weil du nichts redest.“ – „Was soll ich denn reden?“ – „Du solltest mir was Schönes erzählen, mich unterhalten.“ – „Heute fällt mir nichts ein.“ – „Warum fällt dir nichts ein?“ Darum habe ich mir dann manche Dummheiten erlaubt. Dasselbe auch beim Kleinen. Bekanntlich hat er sich bis Mitternacht nie niedergelegt, und wenn ich dann nach dem Nachtmahl manches Mal bei ihm noch was zu tun gehabt habe, dann hat er mich nicht mehr fortgelassen, damit er die Zeit schneller angebracht hat. Nun Kleiner, so werde ich mir halt erlauben, mich auf den Urgroßvatersessel zu setzen. Dann ist es schon losgegangen: „No, ist Ihnen der Sessel vielleicht nicht recht?“ – „Oh ja, aber der Urgroßvater ist gewiss auch darauf gesessen. A-a-a, da sitze ich schon, und wie bequem! Das ist ja ein prächtiger Sessel!“ – „So, wenn er Ihnen nur bequem genug ist, ich habe Angst gehabt, dass er Ihnen nicht genug bequem ist!“ So ging es manches Mal bis auf zwölf Uhr. „Kleiner, ich geh schlafen, gehn Sie auch, sonst bringe ich Sie früh nicht heraus.“ Einmal habe ich ihm einen Schabernack gemacht. Es war Nikolaus – diese Sitte ist wohl weltbekannt. Am Abend war Herr Richard wo eingeladen, weil in den meisten Häusern, in denen Kinder sind, das Schauspiel des heiligen Nikolaus und Krampus aufgeführt wird. Bei den braven Kindern kommt nur der heilige Nikolaus in Gestalt eines Bischofs, der allerlei Geschenke austeilt; die Kinder, die nicht brav sind, nicht lernen wollen und nicht früh aufstehen, zu denen kommt der schwarze Krampus. Ich habe dem Kleinen einen Krampus gekauft, der war so groß wie ein kleines Kind, ganz schwarz, eine lange rote Zunge heraus, eine Rute in der Hand. Am Abend habe ich diesen in seinem Bett aufgestellt, in der einen Hand die Rute, in der andern ein Blatt Papier, auf dem ein Gedicht darauf war, 80

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von der in dieser Weise ganz unbekannten Lyrikerin Helene Gasser. Das Gedicht lautet wie folgt:

Die Helen’ ruft den heiligen Nikolaus: Treib Du den Mensch vom Bett heraus! Der heilige Nikolaus befiehlt es mir, Ich soll kommen her zu Dir. Zeitig früh musst Du aufstehn, Da hilft kein Bitten und kein Flehn. Wenn Du nicht willst parieren, Werde ich Dich schon kurieren Und zuerst die Rute probieren.

Am Abend oder in der Früh – ich weiß nicht mehr, wann der Kleine gekommen ist – sah er halt diese sonderbare Dekoration in seinem Bett. Was hat der Kleine gemacht? Er hat eine Peitsche mit ins Bett genommen, und als ich früh gekommen bin, um ihn zu wecken, hat er halb im Schlaf im Bett herumgesucht. Auf einmal ist was hinter das Bett gefallen, es war die Peitsche. Nun hatte ich das Instrument zum Aufwecken, das war für den Kleinen ein Schrecken. Dann habe ich mit der Peitsche ein Experiment bei seinem Bett gemacht wie in der Operette „Fatinitza“*, wo der Komiker Knaack als russischer General mit einer Peitsche kommandiert hatte. Wie das komisch war, ein General mit einer Peitsche! Die Mama hat halt auch gelacht, wie es der Kleine ihr erzählt hat. Den andern Tag war er wieder eingeladen, und da kamen die Herrschaften unter anderem auf das Thema vom heiligen Nikolaus zu sprechen, da hat der Kleine das Abenteuer erzählt. Alle haben sehr gelacht und gefragt: „Sie haben Ihr Stubenmädchen gewiss schon sehr lange?“ Ja, wenn ich den Kleinen nicht von seinem elften Jahr an gekannt hätte, dann wäre es vielleicht auch was anderes. Weil ich von Jahr zu Jahr so viel Trauriges zu schreiben hatte, so habe ich mir allerlei Lustiges aufgespart, was fast zum Anfang meines Schreibens gehört hätte. Da muss ich noch einiges von den kostümierten Bällen schreiben. Wie einmal Prof. Ernst und Dr. Otto auf einen Kinderball bei Prof. Obersteiner in 81

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Döbling* eingeladen waren – aber es waren keine Kinder, sondern alle schon erwachsene Menschen – da sind unsere beiden Herren als kleine Babys angezogen gewesen: kurze Höschen, unten Spitzen, ein Röckchen mit einem Gurt um die Mitte, um den Hals eine Krause und ein Barterl* vorn umgebunden, dass die Kleider nicht schmutzig werden, wenn sie beim Essen sich vielleicht antrenzen*, wie man auf Wienerisch sagt. Dieser Ball soll recht originell gewesen sein. Das Fräulein Leidesdorf, später die Frau des Prof. Obersteiner, die haben sie als Wickelkind dahergetragen und auf den Fußboden gelegt und so hineingerollt, bis sie der Einfascherei* entledigt war. So etwas hat halt unserem Professor gefallen. (...) Ja, für unsere Herren musste ich oft Kammerjungfer machen, sie anziehen und aufputzen helfen. Da gab es wohl manche Hetz, wo ich gerne dabei war. Oft hat dann der Kleine gesagt: „Glauben Sie, ich bin Ihr Juxbrüderl.“ Das alles hat mir bei uns gleich gefallen – die Gemütlichkeit. Man hat sich nicht so als dienstbarer Geist gefühlt, und man ist auch nicht als solcher behandelt worden, vielmehr als Hausgenossin. Darum bin ich in diesem Hause gleich festgesessen und glaube, dass es keine Beleidigung ist, wenn ich noch dazusage, dass es kein leichter Dienst war.

„Am Abend war man von einer Müdigkeit wie ein gehetzter Hund ...“ Als ich in das Haus kam, waren samt dem Hofmeister sechs Herren da, die gnädige Frau und das Frl. Betty, die damals noch kein Stubenmädchen hatte. Die gnädige Frau voll Leben und Interesse für alles. Ist was gegründet worden, war sie dabei – selbstverständlich mit einem namhaften Geldbeitrag. Ich war erst kurze Zeit im Haus, ist der Wiener Erwerbsverein* gegründet worden – das gab eine Arbeit. Zweimal in der Woche hat die gnädige Frau den ganzen Vormittag im Lokal sitzen müssen; ein andermal war wieder eine Zusammenkunft von zwölf Damen, alle hervorragende Persönlichkeiten, recht 82

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elegante, darunter auch die Frau von Wiener. Bis die alle da waren, war ich ein Portier, bis wieder alle fortgingen und angezogen waren, verging fast der Vormittag. Mit derlei hat man so viel Zeit verloren, man ist manches Mal nicht zum Aufräumen gekommen. Dann wurde die gnädige Frau viel eingeladen, da musste ich sie überall abholen, bin oft erst gegen ein Uhr nachts heimgekommen; den andern Tag wieder selbst Gäste. Alles ist im Hause genäht worden, zugleich mit mir ist die Nähmaschine in das Haus gekommen; damals im Jahre 64 war es noch eine Seltenheit, in einem Privathause eine Nähmaschine. Ich hatte nicht einmal eine gesehen, viel weniger, dass ich darauf nähen konnte. Acht Tage ist ein Fräulein gekommen, eine Stunde Unterricht, eine halbe Stunde die gnädige Frau, die andere ich. Da habe ich im Ganzen vier Stunden Unterricht bekommen. Ich war ganz verzagt, fremd im Haus, erst einige Tage da, niemand vorher gesehen, und mit so einem teuren Werk manipulieren – wenn ich es zerbräche? Die Maschine hat 175 Gulden gekostet, eine Nadel zehn Kreuzer – gleich war eine abgebrochen. Muss schon sagen: Alle meine Sünden habe ich damals abgebüßt! Anders war es bei der Gnädigen. Die Maschine war in ihrem Zimmer; sie hat probieren können, wie sie hat wollen, hat sich nicht zu fürchten brauchen – aber ich! Obendrein, wer gekommen ist, hat zusehen wollen. Ich habe damals Blut geschwitzt wie Christus am Ölberge. Die jungen Herren haben mich unterrichtet, die haben den Mechanismus verstanden, und vor ihnen, den Kindern, konnte man sagen, habe ich mich doch nicht geniert. Außer dem Herrn Ernst, der hat sich um nichts gekümmert außer um seine Studien. Dann hatten wir immer große Wohnungen, und die vielen Gänge mit den Theaterkarten. Oft bin ich an einem Vormittag einige hundert Stufen hinaufgeklettert. „Ja, schade“, hat es geheißen, „wir sind heute geladen, lassen ein andermal bitten.“ Geh zu anderen: „Ja, heute haben wir Gäste, vielleicht ein anderes Mal.“ Komme zu der Dritten: „Gerade haben wir Sitze in der Oper gekauft.“ Wenn man im vierten Stock wohnt, da 83

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hat man halt einige hundert Stufen. Einmal kam ich voll Zorn nach Hause; es gab noch das Stadttheater, wo wir auch zwei Sitze hatten. Da ging ich mit den Karten in ein Haus, es waren Mutter und Tochter, Letztere war Braut. Die Karten haben sie wohl mit Vergnügen angenommen – ich war schon froh, dass ich heimgehen konnte –, indessen bekam ich von der Frau noch Gänge. Für das Erste musste ich ihr eine Zeitung holen, was gespielt wurde, was für Personen spielten; dann musste ich in das Theater gehen und noch einen Sitz kaufen, den man manches Mal nicht gleich bekommt; oft, wenn ein schönes Stück gegeben wird, muss man sich anstellen. Dann den Schein wieder hintragen – spät kam ich nach Haus. Da habe ich aber schon einen Spektakel losgelassen; wir hatten Gäste auch noch, es war schon höchste Zeit zum Tischdecken. Die Kathi hätte bald geweint, weil sie beim Kochen keine Ruhe hatte, immer aufmachen gehen, sie war schon einiges über fünfzig Jahre alt. Da hat sich die Gnädige wohl auch sehr geärgert über diese Frau, hat es gleich dem Frl. Betty erzählt: „Du, denke dir, wie es die Frau N. der Helene gemacht hat, so eine Ungezogenheit, nein, ihr gebe ich keine Karten mehr!“ Dann erst das Frl. Betty: „Das ist ja eine Bagage*, wenn sie schon die Karten umsonst bekommen, soll man ihnen noch ein Dienstmädchen machen!“ Derlei Sachen kamen wohl viele vor, es hat mich manches Mal sehr verdrossen, am Abend war man von einer Müdigkeit wie ein gehetzter Hund, und im Hause war erst nichts geschehen, alles nur für andere Leute. Es ist halt doch gegangen – wenn man jung und kräftig ist, und das war ich. Die folgenden Erinnerungen Helene Gassers an außergewöhnliche Botengänge finden sich im Originalmanuskript erst gegen Ende im Rahmen eines umfangreicheren Nachtrags; sie werden hier an thematisch passender Stelle in die fortlaufende Erzählung eingefügt. Baron Stein, der Direktor vom Arsenal* und Regimentsinhaber, war viel bei uns, weil seine Schwester wochenlang bei uns gewohnt hat. Weil er dann gekränkelt hat, ist sie im Arsenal ge84

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blieben; dass sein Zustand gefahrdrohend war, hat man nicht gewusst. Auf einmal kam die Frau Baronin mit einem Fiaker dahergefahren, außer sich: „Helene, gehn Sie nur gleich, unten steht noch der Fiaker, und fahren Sie ins Arsenal. Mein Bruder ist während der Jause plötzlich bei Tisch gestorben. Packen Sie alle meine Sachen zusammen und fahren Sie mit dem Fiaker wieder herein!“ Sie hat mich nicht mehr anziehen lassen. Nun bin ich in Gottes Namen in diesem Anzug per Fiaker von der Bräunerstraße in das Arsenal, das ist kein kleiner Weg. Als ich hinauskam, hat es mir nicht wenig Angst gemacht. Da kam gerade der Geistliche, der Herr Baron war schon tot. Der hat den Soldaten eine Predigt erteilt und hat gefragt: „Wer ist da schuld? Wehe dem, der es zu verantworten hat!“ Mir wurde noch mehr Angst, man hat nur Soldaten gesehen. Ich ging zu einem Hauptmann, das war dem Baron sein Adjutant, habe ihm mein Anliegen vorgetragen. Er hat mich ein wenig gemustert – nicht mal eine Kopfbedeckung –, da hat er mich doch in das Zimmer geführt, wo die Frau Baronin gewohnt hat. Dann habe ich so gebeten: „Herr Hauptmann, führen Sie mich ja nicht in das Zimmer, wo der Herr Baron ist. Ich fürchte mich.“ – „Er tut Ihnen nichts“, meinte er dann. „Das weiß ich wohl, Herr Hauptmann, ich fürchte mich halt doch“, und fing an einzupacken. Auf dem Tisch stand noch der Kaffee, die Schale eingeschenkt, es war traurig. Er war oft am Abend bei uns gewesen. Auf einmal trugen sie ihn daher auf einer Matratze; so hat mich der liebe Hauptmann doch betrogen. Er war angezogen, wie er gestorben ist, dann haben sie ihn erst schön gemacht. Auf einmal kam der Dr. Otto auch daher; wie ich froh war, als wenn der erlösende Messias gekommen wär! Dann sind wir beide nach Hause gefahren. Da ich schon vom Arsenal allerlei erzählt habe, so muss ich aus der Heumarktkaserne* auch was erzählen – von der einen Kaserne in die andere. Es war im Kriegsjahr 66*, da hat mich die gnädige Frau in die obgenannte Kaserne geschickt mit Eis und allerlei. Die aristokratischen Damen waren Krankenpflegerinnen; es waren viele Verwundete drin. Man hat mich mit meinem Schaffel Eis in ein Zimmer geschickt, da ist ein Haupt85

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mann im Bett gelegen, dem sie vorher den Fuß abgenommen hatten. Wenn ich heute solche Kommissionen* machen müsste, wo ich mich nicht einmal mehr in eine Kirche traue – das ist doch ein großer Unterschied. Damals habe ich nicht einmal gewusst, was ein Nerv ist. Ich habe geglaubt, es sei ein unsichtbarer Gegenstand. Erst bei den Operationen des armen Herrn Prof. Ernst habe ich diese Fasern in einem Glas gesehen, und jetzt weiß ich es doppelt, weil ich durch diese Ungeheuer ein armer Kerl geworden bin. Wie viel hätte ich noch zu erzählen, was gar nicht uninteressant wäre, über die Kommissionen, die ich im sehr geachteten Hause von Fleischl gemacht habe – nicht nur in die Kasernen, auch in die Spitäler, ins Versorgungshaus und in Kinderasyle. Da hat die gnädige Frau ein dreijähriges Kind in das Asyl nach Zillingdorf* gebracht. Da habe ich müssen mitfahren; wenn die Mutter des Kindes auch mit war, sie war allein nicht im Stande. Es ist schon im Ungarischen; wir haben doch einen ganzen Tag dazu gebraucht, bis wir wieder heimkamen. Heute würde ich so etwas kaum mehr im Stande sein. Der Abschied hat mich angegriffen, der Bub hat so geschrien, die Mutter ist ohnmächtig geworden, der Zug bald zum Abfahren. Ich habe die Frau gezogen zur Bahn. Wo hätten wir da schlafen sollen? Die ungarischen Bauern haben nur Hütten, mit Stroh gedeckt, und so immens hoch, dass man dem Rauchfang hat können die Hand reichen. Diese Frau hatte auch einst bessere Tage gesehen. Sie wurde von so viel Unglück heimgesucht; dann hat sie ein Schutzengel – das muss ein guter Engel gewesen sein – zu uns gebracht. Da war die Not am höchsten, es war gerade um Weihnachten, in einer finsteren Kammer, kein Ofen, kalt, nichts zu essen, eine alte Mutter und das dreijährige Kind. Das war wohl ihr Glück, dass sie zu uns gekommen ist. Der gnädige Herr war immer ein gern gesehner Gast bei Baron Oppenheimer. Der junge Baron war nur um ein Jahr älter als das genannte Kind. So wurden beide, Mutter und Kind, zum Christbaum geladen, auch der gnädige Herr war dabei. Sie haben so viele Sachen bekommen, dass sie sie auf zwei Mal 86

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abholen mussten. Der Bub bekam vom kleinen Baron zwei Anzüge, eine ganze Menge Spielerei, Bäckerei, die Mutter ein Stück Barchent*, auch warme Kleider, und was die Hauptsache war: zehn Gulden, und den andern Tag bekamen sie noch eine Fuhre Holz in ihre Wohnung. Diese Menschen sind gewiss viel glücklicher geworden als der Baron Rothschild, davon bin ich überzeugt. Was hat so ein Millionärkönig? Wenn man nie Bedürfnisse hat, weiß man nicht, was gut ist. Wenn man nie Hunger und Durst hat, kann es einem unmöglich so schmecken wie einem, der einen Riesenhunger hat. Dass meine Herrschaften auch nicht wenig dazu beigetragen haben, ist selbstverständlich. Bekanntlich war die Baronin Oppenheimer eine Nichte der Frau von Wertheimstein, die hat sich dann auch dazugesellt. Durch alle die genannten Damen kam der Bub in das Asyl. (...) Trotz der hohen und vielfältigen Anforderungen hat Helene Gasser gerne im Hause Fleischl gedient, wie sie hier – wieder im Rahmen der Haupterzählung – darlegt.

„Ja, das Unkraut verdirbt nicht ...“ Dann hat mich an das Haus gefesselt – wenn man unwohl war, waren alle ganz ausgezeichnet gut, da ist man behandelt worden wie ein Kind vom Haus. Gewöhnlich habe ich nicht gefolgt. Einmal habe ich gesagt: „Wenn man den Doktor holt, sperre ich die Tür zu.“ Das habe ich auch getan. Indessen kam die gnädige Frau zu mir, wollte herein, es war zugesperrt. Da hat sie mich ganz ordentlich ausgemacht* und hat gesagt: „Weißt du, die Wohnung gehört doch mir.“ Alles half nichts, es kam doch Dr. Breuer, stellte sich an die Tür und sagte: „Helene, werfen Sie mich heraus, wenn ich hineingeh?“ So ging es mir; ohne Doktor hat man nun einmal nicht sein dürfen, wenn man es nicht verheimlicht hat. Ein andermal war ich ganz heiser, beim Frisieren hat es die Gnädige leider gehört: „Du krähst ja wie ein Hahn.“ Zufäl87

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lig kam Dr. Breuer, er kam oft, ohne dass man ihn holen ließ. „Herr Doktor“, sagte dann die gnädige Frau, „sehn Sie sich die Helene an, sie ist miserabel beisammen.“ Gleich kam er in die Küche. „Herr Doktor“, sagte ich gleich, „mir fehlt nichts, kann nur nicht reden.“ Dann hat er mich ausgelacht und gesagt: „Sie haben auch Fieber und gehören ins Bett.“ – „Fällt mir nicht ein, Herr Doktor.“ Dann hat er der gnädigen Frau gesagt: „Die ­Königin von Tirol geruht, einen Schnupfen zu bekommen“, wo die Gnädige sehr gelacht hat. Einmal nur war ich schwer krank in 35 Jahren, da habe ich lange vorher ein schmerzhaftes Magenleiden gehabt, die letztere Zeit war es fast nicht mehr zum Aushalten. Habe nie geklagt, nur gehofft, es würde schon besser werden. Auf einmal ist ein Strom Blut vom Mund herausgekommen, und ich bin darauf ohnmächtig geworden. Ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Der gnädige Herr hat seinen Fiaker im Hof stehen gehabt, gleich ist der Michael um den Prof. Chrobak gefahren, weil der in der Nähe war, zugleich auch zu Dr. Breuer. Beide kamen gleich. Nun bekam ich Eis in den Mund und einen Eisbeutel auf den Magen. So, nun sollte ich mich nicht bewegen, nur ganz ruhig liegen, und Breuer kam den ersten Tag viermal daher. Das kam mir schon ganz verdächtig vor, da dachte ich mir, der Habitus* muss doch sehr krank sein. Dann sagte ich zu der gnädigen Frau: „Warum kommt denn Dr. Breuer heute so oft?“ – „Ja“, meinte die gnädige Frau, „du bist sehr schwer krank, nun musst du dem Dr. Breuer folgen!“ Auch Dr. Breuer sagte: „Wenn Sie mir folgen, dann stelle ich Sie wieder ganz her.“ Da habe ich schon gefolgt. Herr Prof. Ernst kam auch herein, um zu sehen, wie es mir geht. Da habe ich halt gejammert: „Herr Professor, wenn ich mich nur einmal auf die Seite legen könnte … Breuer sagt, es könnte das Blut wieder zum Munde herauskommen.“ – „Das darf nicht sein, ich werde es schon machen“, meinte er dann, und hat mich ganz schön auf die andere Seite gelegt. Ach, wie ich froh war, und wie gut und gefühlvoll er war! Was für Besuche zu mir kamen! Alle Onkel und die lang bekannten Damen, selbstverständlich die Frau Gräfin. Jeden Mor88

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gen kam gleich die Gnädige und hat immer gefragt: „Nun, wie geht es dir, Alte?“ Auch der gnädige Herr kam immer; wenn er manches Mal zeitig fort hat müssen, hat er mir guten Morgen sagen lassen, er hätte nicht mehr Zeit, mich zu besuchen. Alles war mit mir lieb und gut. Das Frl. Betty hat manchmal ein paar Stunden in meinem Zimmer gestrickt mit ihrer Missi, die hat sie dann zu mir ins Bett gegeben. Wenn Breuer kam, hat er mit dem Hund gespielt, das war dem Fräulein recht; ihre Missi war keine gewöhnliche Hündin. Ja, das Unkraut verdirbt nicht, Breuer hat mich ganz hergestellt, aber das Aussehen war zum Schrecken; der Schnee ist nicht so weiß, wie ich war. Einmal habe ich mich im Spiegel gesehen, dann bin ich ohnmächtig geworden. Ich fragte Dr. Breuer, warum ich denn gar so aussehe? „Ja“, meinte er, „weil Sie gar kein Blut mehr haben.“ – „Warum“, fragte ich wieder, „sind denn die Füße geschwollen?“ – „Das kommt auch daher; wenn man so lange nichts essen kann, nur Milch, kann es nicht anders sein. Nun werden wir anfangen zu essen, dann wird es schon schneller gehen.“ Zufällig kam Herr Paul aus London, da habe ich wieder gejammert: „Ach, Herr Doktor, jetzt kommt der Herr Paul, und ich liege da – ich habe keine Zeit dazu.“ – „Ja“, meinte dann Breuer, „es ist recht schön, wenn er kommt.“ Als er fort war, habe ich versucht aufzustehen, das habe ich dann sein lassen, Michael musste mich ins Bett heben. Dann kam die gnädige Frau mit Herrn Paul herein und sagte: „Die arme Helene kann nichts essen.“ Er, gleich einen Witz bei der Hand, sagte: „Was braucht sie denn essen, wenn sie schon den Magen voll Geschwüre hat!“ Das war eigentlich bei uns auch angenehm, es war immer ein Kommen und ein Gehen. Schöner war freilich das Kommen als das Wieder-Gehen. Der gnädige Herr ist die ersten Jahre oft und viel verreist, geschäftlich, dann die jungen Herren, als sie studiert haben. Die Weihnacht und Ostern, überhaupt die Vakanzzeit, meistens zu den Großeltern nach München, die haben ihnen die Taschen wieder vollgestopft. 89

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Ihre Mama war sehr klug* mit dem Taschengeld. Am meisten Pech hat der Kleine gehabt, der ist nie ausgekommen damit; er hat schon so Extra-Passionen gehabt. Dann ist der kleine Schnipfer* meistens beim Frisieren daherkommen, weil er gewusst hat, dass ich ihm auch helfe. „Was willst du denn, Kleiner?“, fragte die Gnädige. „Mama, eine kleine Rechnung hätte ich da.“ Nun ist es schon losgegangen: „Was für eine Rechnung? Lass sehn! Was, schon wieder Handschuhe, schon wieder Krawatten? Das zahle ich nicht!“ – „Aber Mama!“ – „Schon wieder Fahrgeld, du Fratz? Kannst du nicht zu Fuß gehn?“ – „Aber, Mama, ich vertu’ gar nicht, was nicht notwendig ist. Schau, wenn ich ins Theater geh, gebe ich nichts in die Garderobe, ich behalte den Winterrock an und schwitz’. Dann laufe ich nach Hause, dass ich dem Hausmeister nicht das Sperrgeld zahlen brauch’, und beim Laufen schwitze ich dann wieder!“ Darauf habe ich mich dreingemischt und gesagt: „Ach, gnädige Frau! Mir scheint, der Herr Richard schwitzt zum dritten Mal, mir erbarmt er schon.“ Dann haben wir alle zum Lachen angefangen, und wenn er das Geld bekommen hat, dann war er froh und sagte: „Liebes, gutes Mutti!“ (...) Der Kleine ging dann auch in die Fremde, zuerst nach Paris. Das erste Mal aus dem Elternhaus, es muss ihm komisch vorgekommen sein. Er hat es in seinem Elternhaus gewiss gut gehabt, er hat viel mehr beansprucht als seine Herren Brüder, er hat es auch haben können, war er doch als Kind allein im Hause und noch dazu das jüngste, gewöhnlich gibt man denen mehr nach. In der Fremde kann man das nicht alles haben. In der Früh unzählige Male aufwecken, ihm alles Herrichten. Wenn er auf einen Ball ging, ist alles schon vorbereitet gewesen, die Knöpfe auch schon im Hemd; wenn er heimkam, hat er sich nur noch anziehen brauchen. Trotzdem dass die Kammerjungfer Helene ihn bedient hat, hat das lange gedauert, aber er war auch schön und elegant! Oft hat er gesagt: „Wie wird das gehen, wenn ich mir alles dann allein besorgen muss?“ Nun wurde alles, was er in der Fremde brauchte, auf das Sorgfältigste zusammengerichtet, sogar ein Nähzeug mit allen mög­ lichen Knöpfen, Zwirn, Bändchen, auch Seide bekam er mit. 90

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Bei seiner Abreise war uns allen sehr leid; ein junger Mensch im Haus heitert einem das Leben auf. Nach längerer Zeit hat er mir einmal geschrieben: „Liebe Helene, was für ein Segen Gottes das wäre, wenn ich Sie einmal da hätte, um mich aufzuflicken. Die Pariserinnen sind sehr schlampige Frauenzimmer, sie stopfen keine Strümpfe; die ­Löcher ziehen sie nur auf einen Knoten zusammen. Wenn sie mir einen Knopf annähen, ist er so groß wie in Österreich ein Vierkreuzerstück, und das Schwänzchen vernähen sie auch nicht.“ Das hat er sich gemerkt, weil die Gnädige manches Mal gesagt hat: „Du, Helene, da schau her! Da geht es auseinander, weil du das Schwänzchen nicht vernäht hast“, darüber haben wir oft gelacht. Der Kleine kam dann nach London, hat auch Geschäftsreisen gemacht nach Spanien und kam nach zwei Jahren erst wieder heim. Das war so ein rührendes Wiedersehen, das hätte man sehen sollen. Ich war gerade auf der Stiege mit seinem Gepäck, die gnädige Frau ging ihm die Stiege herunter entgegen. Sie haben sich nur stöhnend umschlungen; ganz merkwürdig hat der Kleine geschluchzt, als wenn er eine große Schuld zum Abbitten hätte. Er war auch der Einzige, der ohne Unterbrechung zwei Jahre ausgeblieben ist; er hat sich doch an die Fremde gewöhnt. Als er noch in Paris war, hat er uns auch manches Mal einen Gast zukommen lassen. Unter anderem kam einmal ein junger Franzose daher; ich glaube, dass es ein guter Spezi* von ihm gewesen ist, weil er ihm so manchen Schabernack von mir erzählt haben mag. Natürlich hat er bei uns gespeist. Auf einmal kam der gnädige Herr mit dem Franzos’ in die Küche und sagte: „Das ist die Helene!“ – „So“, meinte er, „sie sind die berühmte Helene. Der Richard spricht viel von Ihnen, und ich soll Grüße von ihm selbst ausrichten.“ Man kann sich denken, wie mir das geschmeichelt hat, auch der gnädige Herr hat sich gefreut, er hat so gemütlich darüber gelacht. Damals ist er noch nicht daheim geblieben, es ist in den siebziger Jahren gewesen. Als der Kleine fortging, waren wir noch in der Bräunerstraße, im Jahr 76 sind wir dann in die 91

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Habsburgergasse gezogen, als er wieder kam, hat er die Wohnung gar nicht gekannt.

„Da haben wir in St. Gilgen wieder ganz schön und flott weitergelebt“ Ida Fleischl erkrankte im Winter 1894 an einer Lungenentzündung, von der sie sich lange nicht erholte. Während der Sommerfrische in St. Gilgen wurde sie jedoch wieder völlig gesund. So ist die gnädige Frau zur Freude aller, die sie kannten, wieder vollkommen hergestellt worden. Die gnädige Frau war wieder lustig und vergnügt, hat Karten gespielt und sogar wieder Zigarren geraucht, was wir lange, sehr lange vermisst haben. Wie ich die gnädige Frau das erste Mal habe rauchen gesehen, habe ich mich nicht wenig darüber gefreut; dann erst ist der ganz richtige Charakter wieder in ihr gewesen. Überhaupt ist ihr das Rauchen gar so gut angestanden, gewöhnlich war sie da auch bei gutem Humor. Wenn ich manches Mal eine Angelegenheit gehabt habe, was mich oft nicht leicht ankam*, da habe ich gewartet, bis die Gnädige rauchte; dann ist es mir leichter vorgekommen, und ich bin hinein. „Was willst du, Helene?“ Ganz gemütlich: „Eine Rechnung vom Hausfrauenverein.“ – „Lass sehn, wie viel macht es denn aus?“ – „Heute ist es viel!“ Sie hat nichts gesagt, gleich ausgezahlt. Wenn aber die Gnädige nicht gut gelaunt war, ging es halt nicht so leicht, da hat es geheißen: „Was? Schon wieder Hausfrauenverein? Höre einmal, was du brauchst!“ – „Ich nicht, gnädige Frau, wir alle!“ Es war alles gleich wieder gut. Mit dem Küchengeschirr ging es auch so. Wenn ich gesagt habe: „Gnädige Frau, darf ich mir Geschirr kaufen, ich brauche allerlei, fast kann ich nicht mehr kochen“, da habe ich das Feuer gleich angezündet: „Was? Schon wieder Geschirr kaufen! Nein, was du alles zusammenhaust, das ist zu arg!“ – „Nein, gnädige Frau, es ist nicht zusammeng’haut, es ist alles da, aber 92

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wenn ich es auf den Herd stelle, dann sieht es aus wie die Wasserkünste* in Salzburg – die schönsten Springbrunnen. Ein Topf unten, ein andrer an der Seite, und auf dem heißen Herd gibt es ein Brummen, Zischen – eine ganze Musikbande!“ Bei diesem Vortrag kam gerade der gnädige Herr in die Küche und hat es auch gehört. Der hat so zum Lachen angefangen, die Gnädige hat halt auch lachen müssen. Bei der lustigen Gelegenheit hab ich Geschirr bekommen. Wenn man sich gegenseitig kennt, da geht alles leicht; ich habe die gnädige Frau halt durch und durch gekannt und sie mich auch durch die vielen Jahre. Das hat die Gnädige längst schon gekannt, dass ich mit Leib und Seele auf das werte Haus schaue; auch ich habe es verstanden, unter welchen Händen ich mich befinde. Da haben wir in St. Gilgen wieder ganz schön und flott weitergelebt. (...) Am 13. September war bekanntlich der Geburtstag der Frau Gräfin, der musste auch auf das Schönste gefeiert werden. Solche Sachen haben die gnädige Frau immer sehr erfreut. Kurz vorher, bekanntlich am 5.  September, war der Geburtstag der gnädigen Frau. Da hat auch die Frau Gräfin allerlei dazu gemacht. Einmal haben ihre Leute kommen müssen, das Frl. Gusti, die Mina und Angela, jede mit Blumen. Die gnädige Frau hat sehr gelacht und sich gefreut. Die Frau Fürstin Liechtenstein kam gewöhnlich auch dahergefahren. Einmal kam der Fischermeister mit ihr daher mit wunderbaren lebenden Forellen. Das hat auch für mich gepasst, habe mir gedacht, wenn nur alle Wochen so ein Geburtstag wär! Hauptsächlich hat Dr. Otto sie gar so gerne gegessen. Einmal ist er nach Hüttenstein gefahren zu der Frau Fürstin, da meinte die gnädige Frau: „Du, Helene, ich lasse den Otto bei der Gelegenheit Fische mitbringen, wie viel meinst du denn?“ – „Ja, wie viele Personen sind wir denn bei Tisch?“ – „Zehn Personen.“ Da hat man gewöhnlich pro Person 20 Deka gerechnet, das wären zwei Kilo, hätte sechs Gulden gekostet; indessen hat er eine Rechnung von über acht Gulden gebracht: „Aber Herr Doktor! Was haben Sie denn gemacht? Die Mama wird schauen, man muss auch sparen!“ – „Das macht nichts“, hat er gemeint, „ich werde sie schon essen.“ Nun hat halt die gnä93

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dige Frau doch lachen müssen, aber ich habe es mir gemerkt. Wenn manches Mal die Gnädige gesagt hat: „Nein, was du für Rechnungen hast, bald werde ich kein Geld mehr haben!“, da habe ich mich gefreut und gleich gesagt: „Gnädige Frau, lassen wir den Herrn Doktor einkaufen, der hat solch billige Fische gekauft.“ Sie hat halt doch wieder lachen müssen. Den Dr. Otto auszanken, das hätte die gnädige Frau wohl nie getan. (...) In Gilgen waren noch ein paar gute Sommer ohne besondere Ereignisse. Das Speisehaus von Fleischl hat immer Gäste gehabt. Wenn man in den Gasthäusern nichts zu tun gehabt und sich gelangweilt hat, so war es bei uns sehr unterhaltend. Die Frau Gräfin war immer zum Lachen aufgelegt und hat auch immer etwas zu erzählen gewusst. Durch ihre Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit hat sie sich leicht Stoff verschafft. Einmal hab ich sie gesehen mit einem Invaliden, der mit einer Kriegsmedaille dekoriert war und mit einer Drehorgel herummusiziert hat, im eifrigen Gespräch, das lange anhielt. Da die Frau Gräfin, bekanntlich eine berühmte Erzählerin, diese besondere Begabung hatte, so war es für sie ganz leicht, von unbedeutenden Ereignissen etwas Witziges herauszufinden, zu erzählen und die Umgebung zu unterhalten. Dieser Invalide hat ihr ganz interessante Sachen erzählt: wo er gedient hat, wahrscheinlich seine ganze Militärlaufbahn. Man weiß, dass ihr Herr Gemahl, Exzellenz Baron Ebner von Eschenbach, auch ein hoher Militärmann war, da hat sie eine Menge zu erzählen gewusst. Ein andermal war im Gemeindearrest ein Franzose inhaftiert, weil er keine Dokumente bei sich hatte. Es hat lange gedauert, bis die Erledigung aus Frankreich kam. Die Gilgener haben dann doch gesehen, dass das kein gefährliches Individuum ist, und haben den angestellt zu Holzarbeiten für das Spital. Das war etwas für die Frau Gräfin, da hat sie sich die längste Zeit hingestellt und mit ihm diskuriert, selbstverständlich Französisch, weil er kein Wort Deutsch verstanden hat. Das kann man sich denken, wie glücklich der Arme gewesen sein mag, dass er jemand gefunden hat, der seine Leidensgeschichte verstanden hat. Wenn nicht Fremde, die im Sommer in 94

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Gilgen wohnten, einem Fremden aus der Not halfen, in Gilgen gab es keinen Menschen, der nur ein Wort von einer anderen Sprache verstand. (...) Einmal war bei Billroth ein Bazar. Das Frl. Billroth und die Herren aus dem Indianerdörfl* haben es aus ihren Ideen zusammen gemacht, und jede Dame hat aus ihrer Küche zum Verkauf was beitragen müssen. Da kam die gnädige Frau: „Du, Helene, du musst eine schöne, große Torte für den Bazar machen!“ – „Gnädige Frau, ich fühle mich sehr geschmeichelt, ich glaube, ich bin eine Köchin für ganz Gilgen vom Spital aufwärts.“ Ganz lächelnd meinte dann die Gnädige: „Ja, das macht dir eine besondere Ehre.“ Dieser Eröffnungstag wurde durch die Zeitung bekannt gemacht. Es kamen ziemlich viele aus Ischl und Umgebung, war auch ganz originell alles in allem. Da war unter anderem ein großes Haus aus Brettern zusammengemacht, von außen ein großer Kanarienvogel gemalt: „Der größte Kanari von der Welt, eine Sehenswürdigkeit!“ Ist man hineingekommen, war es eine gelb angestrichene Ente, das arme Tier war von der Farbe ganz zusammengepickt. Dann war in einer hölzernen Hütte – ein Ochs hätte auch Platz gehabt – ein seltener Hund, noch nie da gewesen! Was war es? Der graue Pinscher von Billroth, blau angestrichen. Alles Übrige war eine Bauernfängerei, wie man sagt, alles sehr gut und witzig, um Geld zusammenzubringen. Wo man hineingegangen ist, war ein Spagat* gespannt, da war man schon gefangen. Dann wurde man mit einem Bandl geführt und musste bei allen albernen Sachen vorbeipassieren und was mitnehmen. Aus einem großen Sack, musste man etwas herausnehmen – zehn Kreuzer, was man herausgenommen hat, keinen Heller wert; und so ging es fort, ob man wollte oder nicht. 30 Kreuzer Eintritt, man denkt sich, das ist ja nicht viel, und dann ist man unter ein paar Gulden nicht mehr herausgekommen. Ich habe gehen müssen, weil uns die gnädige Frau geschickt hat, damit mehr Geld zusammenkommt. Es sollen 600 Gulden Reingewinn gewesen sein. Das Geld bekam in Wien ein Blindeninstitut. 95

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Ich habe mir auch einen genommen, den alten, blinden Weber; er ist mir treu geblieben bis zuletzt, ich ihm auch. Wie wir das erste Mal nach Gilgen kamen, ist er durch einen Kopftyphus erst blind geworden; dann war er ein doppelt armer Mann, blind und verdienstlos. Da hat ihm die gnädige Frau viel geschenkt. Er hat ihr umso mehr leidgetan, als auch die Frau Großmutter sehr wenig mehr gesehen hat. Alle Reste von der Kocherei, was nicht mehr zu verwenden war, wurden für ihn aufbewahrt, oft zusammengemacht, da auch sein Weib nichts mehr tun konnte. Sie ist über ein Jahr nicht mehr aus dem Bett gekommen. Wenn wir Gäste gehabt haben und viel zu tun war, habe ich mir dennoch Zeit genommen, von allerlei Mischmasch dem Weber Knödel zu kochen. Wie ich mich gefreut habe, wenn so manches Mal der gnädige Herr zu mir in die Küche kam; dann habe ich es ihm gezeigt und gesagt: „Das bekommt der blinde Weber.“ Darauf hat er immer gesagt: „Geben Sie ihm nur, sooft Sie etwas haben.“ Zu meinem Namenstag, den hat er sich wohl gemerkt, am 18. August, ist er in seinem Bräutigamsrock – nach der neuesten Mode von vor fünfzig Jahren, aber die Schabkunst hatte ihn noch nicht vollendet – herausgeputzt mit einem Blumenbouquet mir gratulieren gekommen. Ach, wie witzig der Mann in seinem Elend war: „Fräulein Helene?“, gleich bei der Tür herein. Er wusste nicht, ob ich da bin, gesehen hat er ja nicht: „Stellen Sie sich her zu mir“, meinte er, „wenn ich Sie nur einmal sehn könnte, wie schaun Sie denn aus?“, meinte er dann, „na, ausgezeichnet gut sind Sie, das weiß ich einmal!“ – „Nicht wahr, Weber, ich hab mit mir selber a Freud!“, da kam auch die gnädige Frau heraus, hat sich niedergesetzt und uns zugehört. Dann hat er noch ein Gedicht vorgetragen, das er selbst gemacht hatte. Ich habe nicht gewusst, soll ich die gnädige Frau ansehen oder den blinden Mann; mit welcher Aufmerksamkeit die gnädige Frau ihn angehört hat, und wie es ihr gefallen hat! Sie hat sich gewundert, dass der arme blinde Mann so etwas im Stande ist. Er hat ein gutes Geschäft gemacht. Die gnädige Frau hat ihm wohl mehr gegeben als ich. 96

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Ein andermal war sein siebzigster Geburtstag; da habe ich ihm Tabak gekauft. Die gnädige Frau sah ihn auf dem Tisch liegen: „Was ist denn mit dem Tabak, was brauchst du einen Tabak?“ – „Gnädige Frau, dem blinden Weber sein siebzigster Geburtstag!“ – „Halt“, meinte sie, „da muss ich auch etwas dazugeben!“, und legte drei Gulden dazu. Das war eine Glückseligkeit für den alten Mann. Die St. Gilgener haben durch das Ableben der gnädigen Frau wohl viel verloren – nicht nur die Armen, auch die Geschäftsleute; wir haben viel gebraucht. Aber seit dem Todesfall kommen die Frau Gräfin und andere nicht mehr nach St. Gilgen. Die Frau Pochlin, unsere Hausfrau, hat mir zu Neujahr geschrieben, im Sommer, wenn die Fremden kommen, werde bei ihr immer nachgefragt, ob nicht doch Dr. Otto und Frau einmal kommen. Die Hausfrau sagt es einem jeden, solche Herrschaften kämen wohl nie mehr nach Gilgen. Das Jahr 97 hat wieder was Trübes gebracht. Die gnädige Frau bekam ein Nierenleiden, es hatte wohl keinen gefährlichen Charakter, aber beim Gehen hat es sie recht geniert und wehgetan. Manchmal war es wieder gut, so hat man gehofft, es würde gut bleiben – leider nicht. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen, dieses „Nierenleiden“ zu therapieren, begab sich Ida Fleischl im Herbst 1897, nachdem sie wie üblich den Sommer in St. Gilgen verbracht hatte, in eine orthopädische Heilanstalt nach Augsburg-Göggingen, um sich ein Mieder anfertigen zu lassen. Otto und Nina Fleischl begleiteten sie. Das Dienstpersonal blieb in St. Gilgen. Wir sind noch geblieben bis 1. Oktober, haben noch allerhand in der Wohnung zu tun gehabt, alles einpacken, reinmachen. Die Frau Gräfin hat uns täglich besucht, wenn auch sonst niemand mehr bei uns war als die Mali und ich. Es war halt doch von der Herrschaft von Fleischl ein Dunst noch da. Sie ist öfter längere Zeit bei mir in der Küche gesessen mit banger Erwartung weiterer Nachrichten. Ihre Hausfrau, das Frl. Kotzian, hat sie wohl verpflegt, so gut sie nur konnte, aber im September 97

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sind die Abende schon lang, wenn man ganz allein ist. Auch war es ihr Trauerjahr, da im Winter ihr Mann, Exzellenz Baron Ebner, gestorben war. Da hat der Bruder der Frau Gräfin gemeint, beide Damen sollten nach Rom, aber um diese Zeit hat die gnädige Frau noch nicht recht wollen. In der Zwischenzeit war in Wien was los. Es wurde das Denkmal des Herrn Prof. Ernst von Fleischl in der Universität im Arkadenhof* enthüllt. Da ist Herr Dr. Otto nach Wien gekommen zu der feierlichen Enthüllung, und seine Frau ist bei der gnädigen Frau in Göggingen geblieben. Auch Herr ­Richard, der damals in Berlin war, ist gekommen; schade war es, dass die gnädige Frau nicht dabei sein konnte. Auch wir haben Karten bekommen, Johann, Mali und ich, fast alle Festgäste habe ich gekannt. Alle, die den stillen Martyrer verehrt und bewundert, auch bedauert haben, haben sich getreulich eingefunden. Nicht nur seine Jugendfreunde und Kollegen, sondern auch alle, die die gnädige Frau verehrten und überhaupt das sehr geschätzte Haus von Fleischl. Das wäre etwas gewesen, wenn der gnädige Herr noch gelebt hätte. Wie würde er geweint haben, da es doch auch den beiden Brüdern, Dr. Otto und Richard, sehr zu Herzen gegangen ist. (...) Dass es auch mich nicht unberührt ließ, kann man sich denken, bin ich doch auch mit ihm gegangen die Wege seines Leidens und auch die der Ehren. Man hat stets Anteil genommen; wenn man gesehen hat, wie er leidet, hat man ganz mitempfunden, hat er Ruhm und Ehren eingeheimst, hat man sich auch mit gefreut. Herr Siegmund Exner, Professor und jetzt auch Hofrat, hat die Festrede gehalten. Bekanntlich war er sein bester Freund, hat mit ihm studiert – ich habe ihn gleich gesehen, wie ich in das Haus gekommen bin –, und sie sind Freunde geblieben bis zu seinem Tode. Es war für ihn nicht schwer, die Festrede zusammenzustellen, da er seinen ganzen Charakter und alle Eigenschaften durch so viele Jahre wohl schon gut gekannt hat. Schön und rührend war sie auch. Auf einmal kommt er zu mir, wie alles vorüber war und sagt: „Nun, Helene, habe ich es gut gemacht?“ Das hat mich gefreut und gerührt. 98

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„Auf dem welschen Herd kann ich nicht deutsch kochen ...“ Nach der erfolgreichen Therapie in der Heilanstalt in Göggingen fuhr Ida Fleischl im Herbst 1898 direkt nach Rom, um dort – wie auch schon in früheren Jahren – den Winter bei ihrem Sohn Otto zu verbringen. Helene Gasser und das Stubenmädchen Amalie Will (Mali) reisten ihr wenig später nach. Wir sind dann doch etwas früher abgefahren. Es war gerade der Pestfall* in Alarm, gleich der zweite und dritte Todesfall, es war einem unheimlich zu Mute. Wir haben uns dann in ­Lienz, in meiner Heimat, sechs Tage aufgehalten bis eine Wohnung genommen war. Die gnädige Frau hat sich den Jako gewünscht, dann wieder nicht. Herr Richard hat gemeint: „Nehmen Sie ihn doch, die Mama hat eine Freude.“ Da habe ich ihr von Lienz aus geschrieben: „Das Paperl befindet sich ganz wohl im schönen Tirol.“ Die gnädige Frau hat mir dann geschrieben: „Hast du ihn doch mit, oh du Arme!“ Er war ganz brav, alles hat mit dem Vogel eine Freude gehabt; alle Künste hat er zum Besten gegeben. Ich hätte Eintritt verlangen sollen, ich hätte ein Geschäft gemacht. Ein paar Jahre vorher habe ich ihm in Gilgen ganz eigenmächtig eine neue Villa* machen lassen für die Reise. Er hat früher eine gehabt, in der er sich kaum umdrehen konnte, nie hat er was essen können – Wasser gar keins. Ich habe ihn bei mir gehabt, da hat mir das Tier so leidgetan. Die neue Villa hat ihm sehr gefallen, da hat er spazieren können, ordentlich essen und trinken und war ganz vergnügt; der Transport war dann so leicht. Aber die gnädige Frau hat mich ausgezankt: „Warum hast du das alte Vogelhaus weggetan?“ – „Weil es dem Jako nicht mehr gepasst hat.“ – „Du hast lauter solche Faxen, so viele Jahre fährt er schon in diesem Häuschen.“ – „Ja, gnädige Frau, ebenso lang hat das arme Paperl gelitten!“ Als sie gesehen hat, wie vergnügt er in der neuen Villa war, hat sich die gnädige Frau dann selber gefreut. (...) 99

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Nun komme ich wieder auf die Reise nach Rom. Nach einigen Tagen hat uns Dr. Otto geschrieben, dass sie eine Wohnung haben, auf der Piazza di Spagna Nr. 9. Das hat mich gleich gefreut, weil ich die Gegend schon kannte, gleich beim Pincio*, da ist es am schönsten. Dann sind wir abgereist, aber in Franzens­ feste* haben wir lange auf den Berliner Zug warten müssen, das war langweilig. Es war schon der 30. Oktober, zum Glück war ein herrliches Wetter. Auf einmal hat das Jakerl was zum Besten gegeben, er hat zu pfeifen angefangen, und zwar: „Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin.“* Ein paar Herren, denen das so gut gefallen hat, haben mitgepfiffen, der Jako hat sich gleich bekannt gemacht. Nun kamen wir über die Grenze. Ja, das Paperl musste eine Fahrkarte haben, das ist bei uns in Österreich nicht, drei oder vier Lire – und so kamen wir ganz gut gegen Früh in Florenz an. Da war die Frühstückszeit. Es ist eine Frau aus Berlin mit uns gefahren, sie ist noch weiter nach Neapel und hat kein Wort verstanden. Vergebens hat sie dem Kondukteur* gesagt: „Geben Sie mir warme Milch!“ Da war ich stolz und sagte: „Latte caldo, dare Signora!“ Ich dachte mir, wenn jetzt sich jemand untersteht und mit mir eine welsche* Konversation anfangen will, der wird sich anschmieren*; es war doch nicht der Fall. Die größte Angst, die ich hatte: „Was wird in der Küche – pardon, cucina – für ein Herd sein?“ In Gilgen habe ich schon gesagt: „Auf dem welschen Herd kann ich nicht deutsch kochen.“ Herr Dr. Otto hat gesagt: „Was möglich ist, werde ich schon besorgen.“ Das Stubenmädchen von der Frau Gräfin, Frl. Angela, hat uns mit dem Rafael, das ist der Portier vom Haus, wo wir wohnten – natürlich kein Wort Deutsch –, abgeholt. Mein Grüßgott war: „Fräulein Angela, was ist denn für eine Küche und was für ein Geschirr?“ – „Oh, die Küche ist schrecklich, und wenn man Feuer macht, da muss man mit einem Hennenschweif so lange Wind machen, bis es zu glühen anfängt, so was hab ich noch nie gesehn!“ Sie war schon einige Tage vor uns dort. „Na“, denke ich mir, „gesehn habe ich es schon, neu ist es mir nicht; das wird eine schöne Kocherei werden! Mak100

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karoninudeln und Risotto kochen – dazu braucht man keine deutsche Köchin. Und was die gnädige Frau für Auslagen hat, was die Reise kostet, und ich kann die Herrschaften nicht zufriedenstellen! Ich bin gewohnt, dass man mit mir zufrieden ist, was kann ich denn in dieser Küche für Mehlspeisen kochen?“ Das hat mich ganz verzagt gemacht. Als wir in die Wohnung kamen, waren die Herrschaften nicht zu Hause. Ich glaube, sie, die gnädige Frau und die Frau Gräfin, haben bei der jungen Frau und Herrn Dr. Otto gespeist. Dr. Otto ist zuerst dahergekommen. Er hat sich gefreut, dass wir da sind, und ich habe geweint: „Herr Doktor, ich bin ganz verzagt mit dieser Küche.“ Gleich kam die gnädige Frau herein: „Nun, Helene“, sagte sie wie gewöhnlich, und hat sich auch gefreut, dass wir da sind. Mir war es sehr unangenehm, dass sie gesehen hat, dass ich geweint habe. Aber Dr. Otto hat es gut gemacht und gesagt: „Die Helene ist nur müde.“ Die Mali mag sich gedacht haben: „Wenn schon die Helene Angst hat, was soll ich erst sagen?“, und hat auch im Stillen geweint. Dann habe ich mich aufgemacht und gesagt: „Mali, das nützt uns nichts, wir sind nun einmal da, wir kosten so viel Geld, es wird und muss gehn. Jetzt gehn wir zum Corso*, um Bäckerei zu kaufen, das kenne ich noch alles“, und so haben wir halt in Gottes Namen angefangen. Den andern Tag wurde auch schon gekocht, das war ein Anfang! Die Frau Gräfin war nicht ganz wohl, konnte nicht alles essen. Ein kleines Häufchen Kohlen, das war das ganze Brennmaterial. Mit Kohlen musste man anfeuern und einen Rauchfang draufstellen, dass sich der Rauch nicht in der ganzen Küche verbreitete, und mit dem Hennenschweifbalg so lang Wind machen, bis es brannte. Dann hatten wir Häfen mit drei Füßen, die habe ich schon bei meiner Großmutter gesehen – da kann man sehen, wie unmodern die Römer noch sind. Diese Häfen werden um das Loch, wo das Feuer brennt, herumgestellt. Auf das Feuer kann man auch was draufgeben, aber einen Bratofen, den man so viel braucht, den gab es nicht. Nun wurde halt wieder der Herr Doktor angeraunzt; der gnädigen Frau haben wir schön Ruhe gelassen. 101

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Der Herr Doktor ist bekanntlich auch ein Koch. Aber wirklich, er versteht sehr viel von der Kocherei, und da hat er mir allerlei angeraten; dass in der Via Condotti ein Bäcker ist, da kann man backen lassen, weit wäre es auch nicht. Bin dann hingegangen, um mich zu erkundigen – natürlich alles stockwelsch*. Da habe ich halt angefangen und hab es böhmisch versucht, was ich von der Kathi gelernt habe. Der Bäcker wird sich gedacht haben: „Die kann gewiss mehrere Sprachen.“ Da hatte er auch recht, wenn er sich das gedacht hat. Drei spreche ich nämlich: deutsch, dumm und dalkert*. Böhmisch und deutsch ging einmal nicht. Nun versuchte ich die welsche Katzelmacher*-Sprache, die ist gegangen, und wir haben uns so weit verständigt, was ich wissen wollte. Es ging mit den Braten ganz gut, aber mit den Mehlspeisen war es nichts. Wir bekamen schon mehr Courage und haben einen anderen Bäcker gefunden; der war noch näher von uns, gleich am Anfang von der Via Babuino. Es war der Hofbäcker – eine großartige Bäckerei. (...) Zehn Burschen waren beim Geschäft, nicht einer hat ein Wort Deutsch verstanden. Da ging es zu wie im ewigen Leben, nur nicht so heilig. Da hat es geheißen, der Tommaso und der Fabio, Antonio, Emilio, Angelo – eine ganze Allerheiligenlitanei. Da ging es ganz gut. Man hat selbst mit den Sachen in die Küche gehen können, was sehr gefährlich war, hat darauf warten können und sehen, dass es nicht zu lang im Ofen ist. So nach und nach sind wir auf allerlei gekommen. Am Anfang ging es mit den Torten nicht gut. Man hat dann die Burschen verständigt – zu viel Hitze! Einmal habe ich von Butterteig Pasteten gemacht; bekanntlich muss der Teig sehr kalt sein, sonst geht er im Ofen nicht auf. Als ich fertig war, hat Mali es hingetragen: „Sagen Sie nur ‚subito in stufa’*.“ Nach einer Stunde gingen wir abholen – das war ein Lachen. Die Burschen haben immer noch gewartet, bis die Pasteten aufgehen, so wie ein Germteig*, dann erst in den Ofen. Es war zu komisch, wie sie immer darauf gezeigt haben, dass sie noch nicht in die Höhe gingen; wie sie gesehn haben, dass sie erst im Ofen aufgehen, da haben sie gelacht: „Ho capito, pasta di burro.“* Auch das ist hernach gut gegangen. Die 102

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Burschen hat das sehr interessiert. Strudel, Äpfel im Schlafrock, Kuchen – all das haben sie nicht gekannt, und noch Verschiedenes. Sie haben es gut gemacht, waren sehr brav. Die Mali hat immer die Grammatik bei sich gehabt wie ein Geistlicher das Brevierbuch, das muss er auch immer bei sich haben. Mit meinem Herd hat es halt auch gehen müssen, er hat uns sogar unterhalten. Ich habe so manchen Jux zum Besten gegeben. Oft während des Kochens habe ich mich auf den Herd gesetzt und habe alle Dummheiten losgelassen – es war ja der ganze Herd eisig kalt bis auf das Loch, wo das Feuer brannte. Wenn man sich in Wien zur Mittagszeit hinaufsetzen würde, das möchte schön ausschauen ... Wir waren nicht lange dort, da hatten wir schon eine größere Jause. Es kamen zwei Frl. Exner und noch einige. Es war auch Gefrorenes bestellt vom Zuckerbäcker. Den andern Tag kam ein Mann, ich habe ihn für einen Kohlenträger oder für den, der den Mist wegträgt, gehalten. Angela, Mali und ich – alle haben wir nicht verstanden, was er wollte. Ich frage ihn, ob er carboni, Kohlen, bringe. „No, no!“ Dann sage ich: „Ist er vielleicht vom Zuckerbäcker? Nach dem schmutzigen Kübel gehört er dazu.“ Die Angela meint: „So werden die Zuckerbäcker doch nicht aussehn!“ Wir bringen ihm den Kübel – „Si, si!“ Der war froh, dass er gehen konnte. Wir haben gelacht zum Hinwerden*, dann kommt die gnädige Frau heraus und fragt: „Was ist denn das für ein Höllenlärm?“ – „Ja, weil wir den Zuckerbäcker für einen Kohlenträger und Mistbauer* gehalten haben.“ – „Ja, warum denn?“ – „Weil er danach ausgesehn hat.“ – „Ja, wie sollte er denn aussehn?“ In Wien haben wir den Demel, den Hofzuckerbäcker. Diese Burschen kommen schneeweiß bis auf die Stiefel, die Kübel auch blendend weiß, und überall die Firma drauf; das waren wir halt schon seit Jahren gewohnt. Schließlich hat die gnädige Frau auch mit uns gelacht. Es ist dann ganz schön und gemütlich geworden. Die junge Frau von Dr. Otto hat auch so manches besorgt. Einmal hat sie die Wirtschafterin vom Hausherrn rufen lassen, hat ihr alles gesagt, was man für die Küche so haben muss; 103

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man konnte doch nicht alles kaufen – vieles hatten wir schon gekauft. Die hat gesagt, ich soll in ihre Küche kommen; wenn ich was brauchen kann, soll ich es nur nehmen. Diese Idee war nicht schlecht: Ich habe alles genommen, was nicht nagelfest war! So wurde es von Tag zu Tag besser, und es sind auch Gäste eingeladen worden. (...) Uns hat dann auch alles gefallen, sogar die Fretterei*, weil manches so urkomisch war, dass wir uns gut dabei unterhalten haben, namentlich das Einkaufen, wenn man nicht reden kann. Einmal brauchte ich Germ*: „Gnädige Frau, wie heißt man die Germ?“ – „Die heißt crema.“ Ich geh ganz stolz zum Bäcker, sage: „Crema, due soldi.“* Der Kerl schaut mich an, versteht mich nicht. Ich sage nochmal: „Crema, due soldi!“ – nix Deutsch. Denke mir: „Was soll ich machen, ohne Germ gehe ich nicht nach Haus.“ Nun kommt die Zeichensprache, die verstehen alle Italiener. Lasse mir farina, Mehl, zeigen. „Latte caldo e zucchero“*, hab ich sagen können. Dann habe ich gezeigt, dass es, wenn es warm ist, nach einer Weile in die Höhe geht. Hernach haben sie mir Germ gebracht und sehr gelacht dabei. Ich habe dann wissen wollen, wie sie heißt. „Lievito di birra“ – so ging es halt. Ein andermal hab ich vergessen, mich vorher zu erkundigen, wo der Fischmarkt ist und wie man die Fische heißt. „Ach, es wird schon gehen“, sage ich mir, während ich gehe und denke nach, wie ich es machen soll, dass ich Fische bekomme. Ich frage einen Stiefelputzer – ist so an jeder Ecke einer: „Prego, dov’è grande acqua?“* Dann habe ich wieder die Zeichensprache zur Aushilfe genommen und gezeigt, wie die Fische schwimmen. Ist ganz prächtig gegangen, bin ohne Gefahr auf den Markt gekommen, aber dann war ich nicht wenig verwundert, so viele Gattungen Fisch zu sehen. Nun, was für einen, und wie heißen sie alle? Die in Wien kenne ich alle, aber wenn man so nahe am Meer ist, da werden schon viel mehr auf dem Markt vertreten sein. Nun schaue ich eine Weile – diese sind beinah’ wie in Gilgen die Forellen – nehme sie halt, frage, was es kostet, handel’ die Hälfte herunter – ich lasse mich nicht anschmieren. Zwei Lire 104

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hat er gleich nachgelassen, weiter ging es nicht. Geh zu einem andern, da ruft er „Madam!“ und hat sie mir gegeben. Der Kerl hat sich gedacht, die Deutschen lassen sich gleich anschmieren. Dann kam Dr. Otto, ich habe aufgemacht: „Herr Doktor, kommen Sie meine Fische anschaun, ob ich gut gekauft habe.“ Er sagte: „Das sind spigola*, es gibt nur noch eine bessere Sorte, und Sie haben ihn auch billig bekommen.“ Bei dem sind wir geblieben. Wenn ich einen gallinaccio* kaufen wollte – wir Deutsche sagen Indian* –, ein großes Tier, gar nicht teuer – in Wien kostet so einer fünf Gulden, in Rom etwas mehr als zwei Gulden –, da habe ich immer Angst gehabt, er könnte alt sein. Wie man „alt“ sagt, habe ich nicht gewusst, da sagte ich ganz einfach: „No antico*!“ Da hätte er schon aus dem 12. Jahrhundert sein können – sie haben doch gewusst, was ich meine. Wenn ich heimkam, gab ich all diese Abenteuer zum Besten. Beim Frisieren hab ich der gnädigen Frau allerlei erzählt, es gab gleich was zum Lachen: „Wie man am schnellsten Germ verlangt – ist ein einsilbiges Wort. Ich habe Mehl, Milch und Zucker gebraucht, um Germ zu bekommen, hätte gleich den Teig können anmachen …“ Die gnädige Frau hat so von Herzen gelacht – und erst die Angela, so eine fidele Wienerin. Es gab jeden Tag, wie man in Wien sagt, eine Gaudee*. Ich war wie ein Juxbrüderl; ich bin nicht einmal, als ich jünger war, so lustig gewesen. Das Frl. Angela war meine Spezin*, die hat mich dazu angespornt. Ich hätte ihr immer was Lustiges vormachen sollen. Einmal sind Mali und ich nach Frascati* gefahren, draußen schrieb ich ihr eine Ansichtskarte: „Liebe Spezin, weinen Sie nicht, ich komme heute Abend. Ihre Sie liebende Spezin H. G.“ Den andern Tag kam die Karte am Vormittag. Ich hatte gerade die Gnädige frisiert, habe dann noch im Schlafzimmer allerlei zu tun gehabt. Auf einmal kommt die Gnädige, die Karte in der Hand, und sagt: „Du, Helene, was ist denn das für eine Karte?“ Ich lese – ja, wie kommt denn die auf den Schreibtisch? Ich war fast verlegen. Die gnädige Frau liest: „Liebe Spezin, weinen Sie nicht, ich komme heute Abend!“ Wie war sie hin105

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eingekommen? Die Angela hat sie die Frau Gräfin lesen lassen, die Frau Gräfin hat sie der Gnädigen zeigen wollen, beim Frisieren kam sie nicht hinein und hat sie auf den Tisch gelegt. Es war hernach sehr lustig. Im Frühjahr 1899 wurde in Rom Otto Fleischls Geburtstag gefeiert. Die Gräfin Waldburg hat den Tisch mit Blumen sehr schön dekoriert, nicht nur Blumen bei jedem Gedeck, die ganze Tafel war mit Blumen bestreut. In die Weingläser – überall Rosen hinein, in allen Farben, das kann man nur in Rom haben. Wirklich ganz feierlich. Man war mit dem Diner und mir zufrieden, besonders, weil ich mit dem Herd eine deutsche Küche führen konnte. Auch das Gefrorene haben wir selbst fabriziert, weil uns der Zuckerbäcker zu schmutzig war. Anfangs hat man mich so bedauert in der Küche und deren Schmutz; der würde aus demselben Jahrhundert gewesen sein wie der Palatin*. Die Frau Gräfin hat es sogar ihrem Bruder Adolf mitgeteilt. Er hat dann geschrieben, es tue ihm leid um die arme Köchin. Es war fast wie kondoliert, und nachher hat man mir wieder gratuliert, dass ich es zustande gebracht habe. Einmal ist die gnädige Frau zu mir in die Küche gekommen, einen Brief in der Hand, und hat gelacht und gesagt: „Du, der Paul schreibt, du sollst Acht geben, dass du nicht in eine Delikatessenhandlung hineinkommst, sonst lassen sie dich nicht mehr aus.“ Dann war wieder was Großartiges los, nämlich kam von Wien das Ehrenzeichen*, das der Kaiser der Frau Gräfin verliehen hat. Das war nicht nur eine Freude für die Frau Gräfin, sondern für uns alle; besonders für die Gnädige, die dabei glücklicher war, wenn der Frau Gräfin alle Ehre angetan wurde, als wenn sie sie eingeheimst hätte. Alles war in einer fröhlichen Stimmung, da kamen Telegramme und Briefe in Fülle, auch wir Domestiken waren mit beteiligt. Ich musste auf die Rechnung der Frau Gräfin einen Gallinaccio kaufen und einen guten Wein, das heißt, sie gab mir vorher 10 Lire. Wir haben einen immens großen Gallinaccio gehabt, auf das Wohl der Frau 106

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Gräfin gegessen zum Zerplatzen und getrunken – das war ein Humor! Ich habe meiner liebenswürdigen Angela vorgesungen, sie mir auch. Ich habe so ein Bedürfnis gehabt zum Singen, im Bett habe ich noch geglaubt, ich muss singen. Das war nicht etwa vom Wein, nein, das nicht. Einzig und allein hat mich das Leben so gefreut, und ich habe mir gedacht: Gott hat es mir beschieden, auf der Welt nochmal recht glücklich zu sein, bevor man sagen wird: „Auch du bist dahingegangen, lebe wohl, du müder Wanderer.“ (...) Dann kam halt doch die Zeit, wo wir so langsam zum Einpacken angefangen haben. Ach, wer weiß, vielleicht kommen wir im Herbst wieder, es hat der Frau Gräfin ja so gut gefallen. Wenn die Frau Gräfin wieder geht, bei der gnädigen Frau ist dann kein Zweifel, sie war schon so oft da und ist immer gerne geblieben. Außer Kopfweh, das hatte sie schon oft, sonst war sie in allem gut beisammen. Wir hatten so manches für die Küche kaufen müssen, auch sonst noch Verschiedenes, das haben wir alles zu den jungen Herrschaften gebracht in der Hoffnung, dass wir es im Herbst wieder brauchen würden. So sind wir Ende April, elf Uhr nachts, abgereist. Herr Richard kam aus Berlin, uns abzuholen. Herr Dr. Otto und Frau haben uns zur Bahn begleitet. Die Herrschaften hatten Schlafwagen bestellt, und es ging direkt bis nach Wien. Nach der ersten halben Nacht dauerte die Fahrt noch einen Tag und eine Nacht, und in der Früh kamen sie in Wien an.

„Leben Sie wohl, altes, treues Haus!“ Ich hatte die gnädige Frau gebeten, sie möchte mir erlauben, dass ich nur bis Villach fahre. Von da ist es ganz nah nach ­Lienz. Ich musste mich einmal gründlich um meine Schwester umschauen, weil ich nur die eine Schwester habe, und die war schon lange nervenkrank. „Wenn sie stirbt, dann mache ich mir die größten Vorwürfe!“ Es war in Wien ja nichts los – und diese paar Wochen; dann fährt man sogleich wieder nach Gilgen, mein Gott! 107

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Die Gnädige hat wohl sehr gejammert, hat es aber auch eingesehen, dass mir beides am Herzen liegt: Die gnädige Frau wollte ich nicht verlassen, die Schwester sollte ich auch nicht vernachlässigen. Wie schwer es mir ums Herz war, das kann ich gar nicht sagen. Ja, wegen allem war sie ängstlich. „Wer wird denn das Paperl betreuen?“, und halt noch Verschiedenes. Darauf sagte ich: „Gnädige Frau, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich verlasse gnädige Frau nicht, solange wir leben und ich Kraft habe. Und wenn es nicht geht, bitte mir zu telegraphieren, dann komme ich gleich!“ Da war sie wohl beruhigt. Einige Stationen, bevor wir nach Villach kamen, sagte Herr Richard: „Helene, Sie möchten der Mama Adieu sagen, die Mama will schlafen.“ Die Frau Gräfin war auch dabei; sehr müde hat die gnädige Frau ausgesehen: „Lebe wohl!“, sagte sie einige Male ungemein traurig. Wie mich das angegriffen hat, beinah’ wäre ich nicht ausgestiegen. Wäre es zu meinem Vergnügen gewesen, gerne hätte ich verzichtet darauf, aber die arme Schwester hat ein solches Verlangen nach mir gehabt, dass ich es ihr nicht abschlagen konnte. Dass der grausame Tod drei Geschwister fast noch in den schönsten Jahren nach kurzer Zeit dahingerafft hatte, zwei sogar in einem Tag, mag wohl auch der Grund gewesen sein, dass die Arme so nervenkrank geworden ist. Sie ist wieder ganz mutig geworden, weil ich bei ihr war. Leider hat auch sie mich verlassen – ihr ist wohl. Gleich schrieb ich eine Karte nach Wien: „Ich hoffe, dass gnädige Frau gut angekommen sind und kein Kopfweh haben und meine Wenigkeit nicht vermissen.“ Es kam dann ein lieber Brief: „Liebe Helene, bleibe nur ruhig, es geht schon, ich lade keine Gäste ein. Dich nicht vermissen, das ist eine unnütze Frage“, und so bin ich halt geblieben, 26 Tage. Schrieb dann nochmal: „Es fährt ein Vetter von mir nach Wien, wenn gnädige Frau wünschen, komme ich gleich.“ Darauf hat Herr Richard geschrieben: „Mama hat sehr Kopfweh. Sie sollen noch bleiben bis zum 26. Mai, dann kommen Sie gleich nach Gilgen. Mama freut sich sehr, Sie wiederzusehn.“ Dann kam eine Karte: „Liebe Helene, wir haben die Absicht, 108

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am 28. Mai abzureisen. Heute hat die Frau Gräfin die Audienz beim Kaiser, um für die Auszeichnung zu danken. Richte Deine Reise so ein, dass wir uns in Salzburg treffen. Ich freue mich, Dich wiederzusehn.“ Mit schwerem Herzen und auch mit freudigem bin ich abgereist; traurig, die Schwester zu verlassen, freudig, die gnädige Frau wiederzusehen und mein gewohntes Leben wieder anzufangen. Reiste über Innsbruck – kam fast zwei Stunden vor dem Wiener Schnellzug an. Dann kam er daher, ich wartete mit Freude, bis ich die Damen aussteigen sehe – es kam keine bekannte Seele zum Vorschein. Ich ahnte nichts Böses, denn es war kalt, und ging doch ganz niedergeschlagen hinüber zu der Lokalbahn, um nach Gilgen zu fahren. Es war mir sehr angenehm, dort die Schmiedin, unsere einstige Hausfrau, zu treffen. Die meinte auch: „Gewiss wird es den Herrschaften zu kalt sein.“ Ich hoffte, es würde ein Telegramm bei Pochlin sein. Wie ich in Gilgen ankam, war schon der Pochlin und Frau auf der Bahn mit zwei Telegrammen. In dem ersten, das ich öffnete, hat es geheißen: „Mama im Zimmer gefallen, Fuß wehgetan, kann nicht reisen. Richard.“ Machte das andere auf, es wurde eine Stunde später aufgegeben, da hat es geheißen: „Helene, komm heim, Ida.“ Das war schon zum Schlagtreffen: Wenn die gnädige Frau selbst telegraphieren lässt, das bedeutet nichts Gutes. Was sollte ich nur machen? Es war Abend, man konnte nicht mehr fort. Ich bin dann mit den Hausleuten in unsere Wohnung, habe mich in Gottes Namen in mein gewohntes Bett gelegt – natürlich, um nicht zu schlafen. Um fünf Uhr früh war ich schon auf der Bahn, die Hausfrau sagte: „Gleich können Sie einen Kaffee haben.“ – „Ich geh, um mich zu erkundigen, wie die Züge gehn, ich komme wieder.“ Auf der Bahn sagt man mir, es fährt der Schnellzug um halb neun Uhr und um halb sechs der Personenzug – es dauert nicht mehr lange. „Was soll ich denn bis halb neun da warten“, denke ich mir, „in dieser unruhigen Stimmung?“, und bin ohne Abschied, ohne alles, mit dem Bummelzug davongefahren! Kam in Wien abends zeitig an, mit klopfendem Herzen kam ich heim. Hinein konnte ich nicht gleich gehen, es war Visite 109

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drin: „Schön sieht es nicht aus“, meinte die Mali, „es ist eine Wärterin da“, und erzählte den ganzen Hergang. In der Früh war es zum Abreisen, alles war fast fertig, auch die Wagen waren schon da. „Bringe mir das Frühstück“, hat die gnädige Frau gesagt; indessen hat sie aus ihrem Schreibtisch noch was haben wollen, rückt den Sessel etwas näher und fällt herunter auf den Teppich. Als die Mali den Kaffee brachte, soll sie gesagt haben: „Hilf mir auf, ich kann allein nicht aufstehn!“ Man hat dann den Herrn Richard gerufen und sie aufgehoben, aber man hat sie gleich ins Bett getragen und Dr. Gersuny geholt. Er sagte: „Es ist nichts von Bedeutung, es wird in ein paar Tagen gut sein.“ Wie ich hinein bin und die gnädige Frau gesehen habe, war sie voll Freude und sagte: „Na, endlich! Ich habe schon geglaubt, ich sehe dich gar nicht mehr.“ – „Wie geht es denn, gnädige Frau?“, fragte ich. Währenddem hat die Wärterin den Fuß mit Seifengeist* eingerieben, da sagte die gnädige Frau: „Ein bisschen besser. Gersuny meint, ich soll mich nur recht bewegen, es ist nur eine Prellung. Das kann ich aber nicht, dazu bin ich zu schwach. Ich war halt ungeschickt, es war kein Grund zum Fallen.“ Ich sagte noch: „Gnädige Frau, wir versäumen in Gilgen gar nichts, es ist kalt und noch niemand oben.“ Habe noch allerlei erzählt, was sie interessiert hat. Ich kann nicht sagen, dass mir die gnädige Frau Sorge gemacht hätte. Das war Dienstagabend. Den andern Tag fragte ich den Herrn Richard: „Lassen Sie den Dr. Otto nicht kommen?“ – „Ach“, meinte er, „es ist ja nichts Gefährliches, in einigen Tagen wird die Mama reisen können.“ Der zu Beginn so unbedenklich erscheinende Gesundheitszustand Ida Fleischls verschlechterte sich an den darauf folgenden Tagen zusehends. Sie konnte nicht mehr aufstehen, wurde von Tag zu Tag schwächer, und es entwickelte sich eine Lungenentzündung. Am 4. Juni 1899 – nur fünf Tage nach Helene Gassers Rückkehr nach Wien – starb Ida Fleischl.

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Das war eine Zeit! Man war in einem Zustand, der nicht normal war. Weinen konnte ich nicht. Der arme Dr. Otto und seine Frau waren noch nicht da, auch die Frau Gräfin nicht, die wir in aller Früh erwarteten – wenn die erst kommen! Dann sagte die Mali: „Mit dem Herrn Richard ist es schrecklich, wie der weint!“ – „Wo ist er denn?“ – „In seinem Zimmer.“ Ich habe mich gar nicht hineingetraut zu ihm; man hat ihn allein gelassen. Nach einer halben Stunde ist die Frau Gräfin gekommen mit dem Frl. Gusti. Da habe ich auch nicht danach getrachtet, es zu sehen. Es soll grenzenlos gewesen sein. Die Gusti kam gleich verweint heraus, konnte es auch nicht mit ansehen. Man hat sie allein gelassen. Die Frau Gräfin soll einen Herzkrampf bekommen haben. Dann hat sich Herr Richard doch so weit gefasst, um auf die Bahn zu fahren und Dr. Otto und Frau abzuholen. Welches Glück nach diesem namenlosen Unglück, dass sie in zwei Stunden zu erwarten gewesen sind, wenn auch mit einer Traurigkeit. Um acht Uhr sind sie gekommen. Die junge Frau war schon beim Kommen ganz verweint. Wie es beim Totenbett gewesen sein mag – ich war froh, dass ich nicht dabei sein musste. Nach all dem traurigen Wiedersehen hat man an die Arbeit gehen müssen. Es war an einem Sonntag früh, wo um zehn schon alle Läden geschlossen werden – alles bestellen zur Aufbahrung. Da habe ich zum Glück noch im letzten ­Moment in Erfahrung gebracht, dass Dr. Breuer angeordnet hat: Gleich am Nachmittag hinaus am Zentral in die Halle führen und draußen aufbahren lassen. Wie ich das gehört habe, bin ich gleich zu den Herren und fragte, ob die Mama in dieser Angelegenheit was niedergeschrieben hat. „Nein“, war die Antwort, „nie.“ – „Tun Sie das nicht!“ Ich weiß, wie die Mama beim Herrn Prof. Ernst gejammert hat: „Es ist mir so leid, ich hätte gerne einen schönen Leichenzug gehabt!“ Damals habe ich auch so getrieben und zugeredet: „Tun gnädige Frau es nicht!“ (…) Nun, nach längerem Betteln und Zureden ist allerlei umgeschrieben worden, und sie ist im Haus geblieben. Den Herren 111

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konnte man es nicht übel nehmen in der Aufregung und dem Jammer; der Herr Dr. Otto – die weite Reise, ganz ermüdet, nichts geschlafen. Den Herren war es wohl gleich recht, aber so ein Kerl von der Bestattung hat alle Ausreden dazu gebracht. Dann hat er sich über mich geärgert und gemeint: „Nun ist es Ihnen gelungen!“ Sie blieb im Haus. Überhaupt war wegen des Sonntags die Zeit so kurz gemessen, dass man kaum den großen Kreis von Bekannten verständigen konnte. Der arme Herr Paul in Amerika hatte noch keine Ahnung, was in seinem Elternhause vorging. (...) Nun wurde das ganze Schlafzimmer schwarz dekoriert, viele große Leuchter kamen mit. Unsere Girandolen* wurden schwarz umflort, das ganze Zimmer wäre stockfinster gewesen, wenn man nicht die Tür offen gehabt hätte. Dann sind schon so nach und nach Kränze gekommen. Die Partezettel* sind sehr schnell befördert worden; die zwei Kleinen und das Frl. Galliny haben sich beeilt mit den Adressen und mit Hilfe des Schemas. Es wurde immer schöner, das Schlafzimmer war gleich mit Prachtkränzen voll. Die ersten waren von den Söhnen und Schwiegertöchtern, wunderbar mit schwarzen Schleifen und Inschriften; dann von der Frau Gräfin, ein immens großer, eine schwere Moiré*-Schleife, ohne Worte, ein Prachtexemplar, Goldfransen. Ja, was sich die Frau Gräfin wohl gedacht haben mag – ohne Worte. Nach dem, was mir die Frau Gräfin einmal geschrieben hat, dass es in der Welt niemand gibt, der der gnädigen Frau nur im Entferntesten ähnlich wäre an Weisheit und an Güte, nehme ich da heraus: Sie hat keine Worte mehr gefunden. (...) Alle aufzählen kann ich leider nicht, da ich nicht mehr alle weiß. Auch wir arme Domestiken – Mali, Johann und meine Wenigkeit – haben uns aus Dankbarkeit eingestellt. Da kam der Herr Richard zu mir in die Küche, hat sich an meine Achsel angelehnt und so geweint: „Ach, Helene“, meinte er, „Sie haben der Mama einen schönen Kranz gebracht“, und hat mich bedauert. Das haben wohl mehrere getan, auch Herr Dr. Breuer fragte mich: „Wo werden Sie hingehen, Helene?“ – „Mein Gott, nach Tirol halt.“ (...) 112

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Nach dem Begräbnis ihrer Mutter lösten Otto, Paul und Richard Fleischl die Wohnung auf. Der Erste, der das Elternhaus für immer verließ, war Herr Paul. Heute zittere ich noch, wenn ich daran denke, wie er heraus in die Küche kam, um Abschied zu nehmen. Mein Gott, war das alles schrecklich! Ich habe ein Gefühl gehabt, als wenn ich aus der Welt ginge, ein Abschied auf Nimmerwiedersehen. Herr Paul hat mir versprochen, dass er mich besuchen wird. Es ist kaum anzunehmen, weil es gar so weit ist und ganz aus der Hand. Aber ich hoffe halt doch, ich lebe leichter; die Hoffnung ist halt was Schönes. Wie wir uns die Hände gereicht haben, da habe ich furchtbar geweint, was auch Herrn Paul nicht unberührt ließ. Den andern Tag ging Herr Dr. Otto, der hat es mir erleichtert. Wie er durch das Vorzimmer ging und ich schon recht geweint habe, hat er gesagt: „Lassen Sie es gehn, Helene, ich besuche Sie den kommenden Sommer“ – das war dann ein großes Fest! Der arme Kleine hat gejammert, dass er noch so viel Arbeit hätte. Wo man einen Kasten aufgemacht hat, war alles voll. Wie viele Kartons, Schachteln, Laden – überall genug drin –, alles hat er selber anschauen müssen; Sachen, die die gnädige Frau jahrelang aufgehoben hat. (...) Und so ging die Packerei von einem Zimmer in das andere, von einem Kasten in den anderen. Oft hat er die Hände zusammengeschlagen und gesagt: „Um Gottes willen, wann werde ich fertig?“, und alles war so unsagbar traurig. Oft hat er gesagt: „Ach, wie nervös bin ich heute. Tun Sie nur nicht viel reden, Helene, ich halt’ es nicht mehr aus!“ Muss schon sagen, dass ich mir dabei oft gedacht habe: „Wie schön ist die Armut, wenn es nicht gar zum Verhungern ist.“ Da habe ich oft an meinen Vater gedacht, der ärmer war wie eine Kirchenmaus, sagt man gewöhnlich. Eine Kirchenmaus hat doch eine schöne Wohnung und kein Zinszahlen; so etwas haben meine Eltern nicht gehabt. Wie oft hat er gesagt: „Es ist doch schön, wenn man nichts hat; brauche nie Angst zu haben, ich komme um mein Hab und Gut, weil nichts da ist; kann die 113

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Nächte schlafen ohne Sorgen, ohne Spekulation, und wenn der Kasten leer ist, dann bin ich angezogen.“ Ja, es war, wie es der gute Vater gesagt hat. Nur bei uns Kindern war es ein wenig anders. Der Kasten war leer, aber wir waren nicht alle angezogen. Es wurde weitergepackt; wenn einmal das kleine Zeug verarbeitet ist, geht es mit dem großen schon schneller. Dann sagte er: „Ich gehe doch noch auf vierzehn Tage nach Blankenberge* in das Seebad – ich halt’ es nicht mehr aus, ich geh zu Grunde. Wenn Sie auch heimwollen, Helene, können Sie gehen. Ich zahle Ihnen alles, aber in vierzehn Tagen wiederkommen, Sie müssen bei mir bleiben bis zuletzt!“ – „Ach, wegen vierzehn Tagen so viel Geld ausgeben, das tue ich nicht, ich bleibe schon da, bis Sie wiederkommen.“ Aber das waren bittere Zeiten, denn meine beiden Kolleginnen, die haben mich gemartert. Ich muss schon sagen, 45 Jahre hab ich gedient, habe nur vier Dienstplätze aufzuweisen, aber der Schluss war bitter. Lange habe ich mir Mühe gegeben und gedacht: „Es dauert ja nicht mehr lange, wird auch vorübergehen wie die 35 Jahre.“ Der Grund war nur Eifersucht, weil die drei Herren mit mir lieb und gut waren. Was sie mir gegeben haben, war mir alles recht, ich habe nichts verlangt. Oft haben sie mich gefragt: „Helene, sagen Sie Ihre Wünsche!“ Ich sagte: „Alles, was Sie mir geben, ist eine Gnade und wird mir recht sein.“ In gar keiner Weise habe ich ihnen geschadet, aber genützt genug, nicht nur bis zuletzt, sondern die ganzen Jahre; das haben die Herrschaften alle gesehen und gewusst. Ach, lassen wir das, ich mag mich nicht aufregen und denke an das viel bewährte Sprichwort „Undank ist der Welt Lohn“. Einmal habe ich den Herrn Richard gefragt: „Ich glaube, ich könnte ganz leicht fortfahren, Sie brauchen mich nicht mehr so notwendig; die beiden Mädchen tun es auch.“ – „Oh nein, da wird nichts draus, Sie müssen dableiben bis zuletzt. Ich halt’s nicht aus, bin ja so ganz allein – wollen Sie mich verlassen?“ – „Herr Richard, ich verlasse Sie gewiss bis zum letzten Augenblick nicht, das tue ich nicht, und wenn man mich auf eine Folter legen würde. Ich sehe es, wie Sie leiden bei dieser trau114

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rigen und vielen Arbeit, wo man auch nicht helfen kann. Nur müssen Sie mir sagen, wann Sie glauben, fertig zu werden, da ich mir einen Neffen kommen lasse, um mich nach Lienz zu bringen. Ich bin so nervös und verzagt und aufgeregt, dass ich mich nicht getraue, allein zu reisen. Noch dazu mit allem Möglichen, auch dem Caro – ist auch eine Aufregung, wenn man sich selbst nicht helfen kann.“ Da hat er gesagt: „In vierzehn Tagen bin ich wohl ganz reisefertig.“ Nach vierzehn Tagen fragte ich noch einmal: „Herr Richard, kann ich meinen Reisebegleiter bestellen? Aber nur, wenn Sie wollen, Sie wissen, dass ich Sie nicht verlasse.“ – „Ach“, meinte er, „lassen Sie ihn in Gottes Namen nur kommen. Wir werden schon fertig werden. Wenn nicht – ich halt’ es nicht mehr aus, ich geh zu Grunde.“ Mein Neffe kam. „Ja“, hieß es dann, „ich muss Sie noch ein paar Tage haben. Kann ich Ihnen nicht helfen?“ – „Da ist nichts zu helfen, Herr Richard, ich bleibe bei Ihnen, solange Sie mich wollen.“ Da mein Neffe schon einige Tage auf mich in Wien gewartet und sein Geschäft es nicht mehr erlaubt hat, habe ich ihn müssen abreisen lassen. So werde ich halt in Gottes Namen allein fahren. Es hat dann noch gedauert bis zum 27. September. Das Haus war schon leer, der große Möbelwagen vollgepackt, mein Zimmer auch schon ausgeräumt. Mein Bett und den Kasten hat eine arme Frau bekommen; sie sind auch abgeholt worden. So bin ich am Abend mit dem Neunuhrzug abgefahren. Der brave Johann hat mich auf die Bahn gebracht. Das war ein so trauriger Abend, den ich nicht vergessen werde. Herr Richard wollte durchaus nicht mehr auf den andern Tag warten. Den ganzen Abend ist er bei mir in der Küche gesessen, hat nie aufgehört zu weinen und wiederholt gesagt: „Ach, Helene, Sie haben was durchgemacht durch die 35 Jahre!“ – „Ach, Herr Richard, wie gerne wär ich bereit, wieder von vorne anzufangen. Wir müssen uns in das Schicksal fügen, es war ja eine lange Zeit, wo wir es auch schön und gut gehabt haben – wie fröhlich oft das ganze Haus war! Sie wissen, wie es die Mama verstanden hat, gleich nach einem harten Schicksals115

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schlag wieder lustig zu sein; hat gleich wieder deklamiert und gesungen und mit Behagen ihr Pfeifel geraucht.“ (...) Es kam der letzte Augenblick zum Abschiednehmen. Ich habe schon nicht mehr geweint, es war schon gebrüllt! Er kam zum Wagen herunter und hat mich noch umschlungen. Er hat wiederholt gesagt: „Leben Sie wohl, altes, treues Haus!“, und nur geweint, sodass es auch den Johann gerührt hat. „Ach, Herr Richard, Berlin ist ja nicht aus der Welt, ich hoffe, dass ich Sie wiedersehen werde.“ – „Das werden wir auch“, gab er mir zur Antwort. (...) So bin ich Freitagabend und der Herr Richard Samstagabend von Wien fort. Es hat nicht lange gedauert, bekam ich schon aus Berlin von ihm einen Brief, wo er schrieb: „Liebe Helene, es wird immer schrecklicher. Ich sehe es täglich mehr ein, was wir verloren haben …“; ganz traurig hat er geschrieben, wie er sonst immer lustig und witzig war. Das eine hat ihm noch Freude gemacht, dass der Jako, als er ihn in sein Haus gegeben hat, gleich gepfiffen hat: „Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin!“ Nun haben er und ich, man muss schon sagen, ein anderes Leben angefangen. Es ging nicht leicht, nicht einmal bei Herrn Richard, sonst würde er nicht so gejammert haben. Da haben es die beiden Herren, Doktor Otto und Paul freilich leichter gehabt, die sind in ihr gewohntes Leben zurückgekehrt. (...)

„Da siehst du, dass ich auch was bin ...“ Ich will nach dem Abschluss und der Auflösung des einst so beliebten und viel besuchten Hauses von Fleischl, wo zuletzt alles gar so traurig war, noch allerlei Heiteres und Lustiges hinzufügen, was ich mir zu diesem Zweck vorbehalten habe, ein wenig zu vergessen. Als ich in das Haus kam, in den sechziger Jahren, war bekanntlich Dr. Laube Direktor des noch alten Burgtheaters, seine Frau nicht selten bei uns zu Gast. Da haben die gnädige Frau und das Frl. Betty zu jeder Probe gehen können, auch zur Ge116

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neralprobe. Das war den Damen immer sehr angenehm. Als wir im Jahre 67 in die Bräunerstraße gezogen sind, da war es gar sehr bequem, gleich beim Josefsplatz. (...) Bei dieser Gelegenheit habe auch ich so manches zu sehen bekommen. Einmal, als die Proben schon längst begonnen hatten, war ein Wetterumschlag, dass alles Glatteis wurde. Der gnädigen Frau, die immer so ängstlich war und sich vorm Fallen fürchtete, habe ich ihre Filzschuhe hineingetragen, aber der Theaterfeldwebel* mit seinem Zweispitz*-Hut wollte mich durchaus nicht passieren lassen. Ich habe ihm die schönsten Worte gegeben, nichts geholfen. „Ja, so tragen halt Sie die Schuhe hinein“ – da hab ich’s schon gar nicht getroffen! Auf einmal kam Herr von Lewinsky angestürmt, ich schrie, wie man sagt, wie ein Zahnbrecher*: „Herr von Lewinsky, Herr von Lewinsky“, hab das „Corpus Delicti“ in die Höhe gehalten, „der Herr lässt mich nicht hinein, die gnädige Frau wird ja fallen.“ Er nahm mich am Arm: „Kommen Sie, die Frau von Fleischl sitzt gleich rechts in der dritten Bank.“ Da hat er gespitzt* mit seinem Zweispitz. „Da siehst du, dass ich auch was bin – i bin i!“, habe mich dann gemütlich hingesetzt und eine Weile zusehen können; wenn ich nur mehr Zeit gehabt hätte ... Öfter, wenn die gnädige Frau Kopfweh hatte oder sonst was los war, ist das Frl. Betty allein gegangen. Es war keine Seltenheit, dass es bis drei Uhr dauerte. Auch wenn die Damen schon ein Gabelfrühstück gehabt haben, bis Nachmittag, drei Uhr, ist doch eine lange Zeit. Da hat das Frl. Betty einmal ­allein gehen müssen, das war ein Lamentieren: „Du Ida, wenn du morgen früh in deiner Zeitung liest von einer verhungerten Leiche am Michaelerplatz, so agnosziere* mich.“ – „Du unausstehliche Person, zu was hat man denn in allernächster Nähe einen Zuckerbäcker, kauf dir was, hörst du!“ Wenn die beiden Damen manchmal so aneinandergekommen sind, jeder hätte es nicht gekannt, dass es ein Spaß ist. Je mehr die gnädige Frau im Ernst einen Vortrag gemacht hat, desto mehr hat es dem Fräulein gefallen. Ich habe immer lachen müssen, aber einmal, da war es nicht mehr zum Lachen. Da hat es geheißen, das Fräulein kommt 117

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nicht zum Nachtmahl nach Hause, sie ist eingeladen beim Grafen Auersperg. Ich glaube, es war die Herrschaft Auersperg, von der der berühmte Anastasius Grün, der Dichter, abstammt. Da haben wir doch alle nichts anderes gedacht, als dass sie ein Souper erster Klasse bekommen würde. Indessen war eine Theatervorstellung von den Aristokraten arrangiert und hat bis elf Uhr gedauert. Dann hat sie der Graf ganz freundlich nach Hause befördern lassen mit seiner Equipage*, also schon spät. Wir haben alle geschlafen wie die Murmeltiere. Da wir ein Licht zum Hausmeister gestellt hatten, brauchten wir nicht warten. Es ist anders gekommen, als man gedacht hat. Die Herrschaften sind nach der Vorstellung gleich fortgegangen, gerade wie in einem Theater; da war nichts von einem Souper erster Klasse. Das Frl. Betty kam wohl noch lebend nach Hause, aber auch daheim war nichts, weil niemand gewusst hat, dass man beim Auersperg nichts zu essen bekommt. Das war den andern Tag ein Höllenspektakel: Die verhungerte Leiche von Frl. Betty hatte noch so viel Kraft, um uns alle gehörig zu putzen*. Gleich hat sie mich erwischt: „Warum habe ich gestern nichts zum Essen bekommen? Vor Hunger hatte ich eine schreckliche Nacht.“ – „Ja, Fräulein, die gnädige Frau hat gesagt, dass Fräulein nicht zum Nachtmahl kommen, wir brauchen nichts warm halten.“ Dann ist sie in die Küche zu Kathi: „Kathi, warum habe ich gestern nichts zu essen bekommen? Das werde ich Ihnen nie vergessen.“ Die arme Kathi war ganz verzagt, hat auch nichts dafür können. Dann ist sie auch über die gnädige Frau gekommen; da hat sie sich doch ein bisschen angeschmiert: „Aber Betty“, sagte die gnädige Frau, „sei nicht so unausstehlich, wie man sieht, lebst du noch.“ Dann ist Ruhe geworden. (...) Einmal hatte die gnädige Frau von der Cousine Ladenburg die Loge in der Oper bekommen; man gab die „Königin von Saba“*, und die Gnädige hatte ihr Opernglas vergessen. Das habe ich gleich entdeckt, habe es in die Oper getragen; ohne Anstand* haben sie mich in die Loge geführt, es war eine ParterreLoge, eine Toiletten-Loge, das war eine Pracht! Es war nur die gnädige Frau und das Frl. Betty. Die gnädige Frau hat gesagt: „Helene, du kannst ganz gut dableiben, es kommt niemand 118

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mehr.“ – „Ja, mit meinem Anzug, es wird nicht gehn.“ – „Bleibe nur.“ Dann habe ich die Mantille von der gnädigen Frau umgenommen und bin geblieben fast bis zum Schluss, aber dann bin ich wohl schnell verschwunden, dass man meine Uniform nicht sieht. Aber schön war es, nichts als Pracht und Herrlichkeit. Am meisten gefreut über die Oper hat sich Dr. Otto. Die gnädige Frau hat mit den Opern und Konzerten nicht viel Freude gehabt, dafür hat es beim Dr. Otto kein Ende genommen. Wenn die Philharmonischen Konzerte angefangen haben, ist ihm keines ausgekommen. Jeden Sonntag von eins bis gegen drei Uhr; vier oder sechs Wochen haben die Konzerte gedauert; aber mit seiner Speisestunde, das war bei der alten Kathi ein Kreuz. Wir hatten die Speisezeit um halb zwei Uhr. Der Herr Otto kam öfter nach drei Uhr. Da haben Kathi und ich oft bei der Türe gepasst und mit dem Besen eine Klause gemacht. Endlich ist er dahergekommen, hat voll Begeisterung über die Stiege heraufgesungen, dass ihm die Töne nicht auskommen. Da kam die Kathi mit ihrer Ansprache: „Wo waren Sie so lange? Wird das ganze Essen verdorrt sein, haben Sie noch müssen jeder Bassgeige ein Busserl geben?“ Da ist er schnell über die Klause gesprungen; ich habe ihn dann bei den Rockschößen erwischt, wollte ihn noch zurückhalten. Schnell hat er sich des Rockes entledigt, hat ihn mir zurückgeworfen – und flugs bei der Türe hinein ins Speisezimmer. Die gnädige Frau hat dann gesagt: „Buberl, warum bist du denn gar so spät kommen?“ – „Mama, siehst du, wie ich außer Atem bin, ich bin gelaufen!“ Dass wir eine Remasuri bei der Türe gehabt haben, das hat niemand gewusst. Ich kam mir vor, wie es der ägyptische Josef* gemacht hat, als das verbrecherische Weib seinen Mantel ergriffen hat; er hat ihr auch den Mantel zurückgelassen und ist entflohen. Die verehrten Leser werden sich denken, die Domestiken haben sich mit den jungen Herren zu viel erlaubt, das ist doch zu wenig Achtung. Oh nein, wir haben alle geachtet und auch lieb gehabt, aber die Jugend, die hat gerne Jux; auch ich war doch, kann man sagen, nicht alt, und das Dummheitenmachen war immer meine liebste Passion. (...) 119

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„Wenn auch nicht alles schön war, ist es doch schön gewesen“ Ich muss doch bald trachten aufzuhören, auch wenn ich noch so viel weiß. Ja, wenn man bedenkt, 35 Jahre ist eine lange Zeit – es ist schon mehr als ein halbes Menschenalter – und dazu in diesem bewegten Hause von Fleischl, wo ich die ganze Welt und noch ein paar Dörfer kennengelernt habe. Das ist auch so ein Gleichnis: Wie einer, der eine lebenslängliche Strafe bekommen hat und sich doch noch was zu Schulden hat kommen lassen, da hat er noch drei Jahre draufbekommen. Da ich nun so viele kennengelernt habe und mir eine Zeitung gönne, freue ich mich immer, wenn ich von den Gekannten und Bekannten was lese, besonders von Marie von EbnerEschenbach. (...) Da bekomme ich immer wieder Material zum Weiterschreiben und glaube, ich muss alles aufschreiben, was ich erlebt habe und wie man in dem Hause Tag für Tag gelebt und gewirtschaftet und alles Schöne und Vergnügte, Lustige und Traurige gemeinschaftlich ertragen hat. Um wie viel leichter man das Leid trägt, das habe auch ich erfahren; werde es nie vergessen, wie im Jahre 91 fast in einem Tag zwei Geschwister von mir noch in den schönsten Jahren gestorben sind. Ohne was zu wissen, bekam ich ein Telegramm: Die jüngste und gesunde Schwester gestorben. Ich war vor Schrecken ganz verwirrt, bin im Bett gelegen, da bekam die gnädige Frau ein Telegramm, weil sich meine Leute schon gedacht haben, das werde ich wohl nicht mehr ertragen. Im Telegramm hat es geheißen: „Helene ihr Bruder Alois gestorben.“ Die gnädige Frau, die schon vorher nicht gewusst hat, was mit mir anfangen, war ganz weg. Den Kopf in die Hände ist sie zum gnädigen Herrn hinein, der war krank. „Es ist schrecklich“, hat er gemeint. Dann kam die gnädige Frau mit dem Dr. Breuer: „Herr Doktor, Sie können mir nicht helfen.“ Nach acht Tagen hat man es mir erst gesagt, da war der Bruder schon begraben. Dann hat mir erst das Frl. Betty erzählt: „Nein, so habe ich die Frau noch nie gesehen!“ 120

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Es war Ende Februar. Dasselbe Jahr im Oktober ist dann der Herr Professor gestorben. Das ist mir ebenso zu Herzen gegangen, gar nicht weniger als bei meinen Geschwistern. So haben wir die Jahre durch gelebt in Vertrauen eins auf das andre. Wie oft hat der gnädige Herr, als die alte Kathi noch gelebt hat, gesagt: „Wir haben keine Dienstboten, sondern Hausgenossen.“ Ich habe es auch verstanden, die Charaktere zu beurteilen. Wie oft habe ich in dieser Beziehung an die gnädige Frau gedacht, wie sie immer gesagt hat: „Vor allem muss eine gescheit sein.“ Da hab ich manchmal darauf gesagt: „Ja, gnädige Frau, die dienstbaren Geister brauchen keine Schriftsteller zu sein, wenn sie nur arbeiten können.“ – „Da hast du sehr Unrecht“, hat sie dann gemeint. Wenn so manches vorkam, und das ­Häferl ist übergangen – wie man gewöhnlich sagt, die kleinen Häferl gehen bald über; ich bin aber ein großes Häferl, und das ist auch manchmal übergangen –, da hat mir die gnädige Frau immer zugeredet und gesagt: „Schau, Helene, du bist ja gescheit, lass es gehen ...“ – „Nein, ich bin nicht gescheit, gnädige Frau, wenn ich nur gescheit bin zum Nachgeben.“ – „Weißt du, tu es mir zulieb!“ – „Ja, gnädige Frau, dann tu ich’s“, und das große Häferl hat sich dann so langsam gesetzt. Da hat sich manches Mal der Kleine darüber lustig gemacht und hat gesagt: „Mama, du wirst sehn, jetzt wird die Helene gleich anfangen zu lachen. Wenn der Ärger am höchsten ist, dann fängt sie an zum Lachen!“ Über das fing die gnädige Frau zu lachen an und der Kleine auch, was ist mir dann übrig geblieben, als auch zu lachen – da hat man noch eine Unterhaltung gehabt. Wer weiß, ob eine andere in die Familie von Fleischl in dieser Weise hineingepasst hätte: „Bin ich Böhm, der kennt sich aus; bin ich nicht Böhm, hab mich auch auskennt“, daher hatte ich auch Courage bekommen. In der Hauswirtschaft hab ich nicht viel gefragt, habe mit Gewissen auf das Haus geschaut. Da könnte ich so manches erzählen, wenn ich nach meinem Gutachten* was getan habe; habe auch manchen Putzer eingeheimst. Man hat oft und oft bei der gnädigen Frau um nichts fragen wollen, weil sie den ganzen Tag in einem Belagerungs121

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zustand gewesen ist, dann hat man halt so manches, ohne zu fragen, getan, um weiter zu kommen, um fertig zu werden. „Du tust, was du willst!“, hat es dann geheißen. Ich hab mich doch nicht abschrecken lassen. (...) Mir hat all das Niederschreiben Freude gemacht. Freude und auch Stolz ist dabei, dass ich so viele verschiedene Menschen von jeder Kategorie, vom ersten Rang, kennengelernt habe. Und noch mehr Freude war es, weil die Herren mich aufgefordert haben, dass ich die Erlebnisse in ihrem werten Elternhause durch 35 Jahre – alles, was ich nur weiß –, niederschreiben soll. Das macht mir ein großes Vergnügen, wenn ich den Herren, denen ich so viel Dank schuldig bin, noch einmal dienstlich* sein kann. Ich bin ganz davon überzeugt, wenn sie so manches herauslesen, was sie noch nicht gehört oder gewusst haben, wird es sie gewiss interessieren. Gekommen bin ich so ziemlich auf alles, vom allerhöchsten Kaiserhaus bis in die armen Hütten der Bettler. Durch alle die Erlebnisse, habe ich, wenn ich so darüber nachdenke, vieles erfahren und profitiert, und bin immer noch stolz, solche hervorragenden Persönlichkeiten kennengelernt zu haben. Schade, dass die Wissenschaft nicht epidemisch ist, wie viel hätte ich da geerbt! Da wäre am Ende gar aus mir eine gescheite Person geworden. Ich bilde mir schon ein, wenn mir etwas fehlt, hülf’ ich mir selber mehr als ein schlechter Arzt (...). Wenn ich nicht bald aufhöre, bekomme ich vielleicht gar die Dichteritis; das ist eine gefährliche Krankheit, aber lebensgefährlich ist sie nicht. Warum soll ich denn diese Krankheit bekommen? Ich dichte ja nicht. Was ich schreibe, habe ich erlebt und in Wahrheit erzählt; hie und da habe ich halt Purzelbäume gemacht, die sind mir angeboren. Ich will ja nur Helene Gasser sein und bleiben. (...) Ich habe sehr, sehr viel noch im Gedächtnis, und da denke ich an die gute, alte Großmutter, die hat mir oft gesagt: „Was man in jungen Jahren sammelt, von diesen Erinnerungen lebt man, wenn man alt ist.“ Was die Alten sagen, ist alles wahr; man kommt erst darauf, wenn man älter wird, und so geht es mir in meinem Lebensabend. Ich lebe jetzt auch von den Erin122

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nerungen. Wenn auch nicht alles schön war, ist es doch schön gewesen. Wie ein Traum kommt es mir vor, und ich frage mich oft: „Ist es denn wahr, dass du das alles erlebt hast? Ist es denn wahr, dass alle dahingegangen sind?“ Ja, ja, es ist Wahrheit, es ist die traurige Wahrheit. Und alle, alle, die dahingegangen sind, waren mit mir gut und lieb, waren edle und liebe Menschen. Nun kann man sonst nichts mehr tun – geweint und geklagt hat man schon genug – nur mit Liebe, Hochachtung und Dankbarkeit alle zeitlebens im Gedächtnis behalten, und das wird mir heilig sein und heilig bleiben. Nun bitte ich noch, die innigst verehrten Herren und Damen wollen mir verzeihen, dass ich so viel geschrieben habe und die Herrschaften zu viel mit Lesen in Anspruch genommen habe. Es war ursprünglich nicht meine Absicht, so viel zu schreiben. Bei Tag habe ich keine Zeile geschrieben, am Abend, wenn alles ruhig ist, zünde ich mir eine Lampe an, setze mich hin, und kaum fange ich an zu schreiben, fällt mir gleich so viel ein, dass ich nicht weiß, was ich zuerst niederschreiben soll. Ich habe dabei gar keine Plage mit dem Nachdenken, ich denke überhaupt gar nicht nach. Alles, was ich erlebt habe und noch weiß, ist für mich von größtem Interesse; da meine ich halt, es muss für die Herren auch so sein. Ach, wie gern hab ich das alles niedergeschrieben, es war mir so eine angenehme Empfindung. Oft hatte ich dabei das Bedürfnis: „Das muss ich der gnädigen Frau erzählen“, oder auch: „Das muss ich die gnädige Frau fragen.“ (...) Nun, zum Schluss hätte ich nur noch den einen Wunsch. Wenn ich noch einmal bei den „Knäblein“* anfangen könnte, wie gern würde ich es wieder 35 Jahre durchmachen. Auch alles, was trübe und traurig war, würde ich ebenso übernehmen und die Knäblein wieder so dressieren wie damals. Da war ich stark, und der Kleine war ein schwaches Knäblein, aber stark hat er doch wollen sein. Dann war ich ihm zu grob, dann hat er mich bei seiner Mama verklagt und gesagt: „Mama, die Helene ist die gröbste Person in der ganzen Wienerstadt.“ – „Ja, was hast du denn alleweil bei der Helene zu tun?“ Da hat erst 123

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der Kleine Putzer bekommen; hat nicht lange gedauert, war er schon wieder bei der Nähmaschine. Wer hätte das gedacht, dass ich den auch beweinen muss. Viel und oft war er krank, viele Nächte habe ich bei ihm zugebracht. Dann ist er ein gesunder und starker Mensch geworden. Da ist er dahingegangen, und seine letzten Worte, die werde ich nie vergessen, die er beim Abschied weinend zu mir gesagt hat: „Leben Sie wohl, altes, treues Haus.“

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Marie Konheisner

„Ich nahm mir vor, nicht länger als ein Jahr zu bleiben“ Genau an dem Tag, als man in Wien die ermordete Kaiserin Elisabeth zu Grabe trug, trat ich meinen Dienst im Hause des Obersten von Kövess an. Und zwar durch Empfehlung einer mir bekannten Köchin, die bei der Mutter des Herrn Obersten bedienstet war. Damals ahnte ich nicht, dass ich den größten Teil meines Lebens da verbringen würde. Ich kam in eine ganz leere Wohnung; die Möbel waren von der letzten Garnison noch auf der Reise nach Wien. Der Herr Oberst war schon in Wien, wohnte aber im Hotel. Er war vor Kurzem zum Regimentskommandanten des 23. Ungarischen Infanterieregiments ernannt und mit demselben nach Wien versetzt worden – ein noch jugendlich aussehender, sehr strammer Herr, schlank und bartlos. Vom allerersten Moment hatte ich den allergrößten Respekt, und den verlor ich nicht bis zu seinem vor einigen Jahren erfolgten Tode. Die Dame des Hauses lernte ich erst nach vierzehn Tagen kennen, als sie kam, um die Wohnung zu besichtigen. Diese hatte ich inzwischen mit dem Diener, der schon länger im Hause war, und nach einem Plan, den mir Herr Oberst gab, so weit fertig, dass sie zu bewohnen war. Ich sah mit einem richtigen Angstgefühl der Ankunft der Frau Oberst entgegen, da ich doch keine Ahnung hatte von all den Kleinigkeiten, die zum täglichen Leben gehören und die in jedem Haus anders sind. Aber es ging besser, als ich dachte; es war alles so ziemlich recht bis auf kleinere Abänderungen. Die Frau Oberst war eine sehr hübsche, blonde Frau und die Tochter des bekannten 125

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Wiener Rechtslehrers, Exzellenz* Baron Hye, der sich als Justizminister besonders um die Abschaffung der Kettenstrafe* verdient gemacht hatte, jedoch nicht mehr am Leben war. Die Mutter der Frau Oberst lebte noch und war eine sehr schöne alte Dame mit schneeweißem Haar, die mit siebzig Jahren noch ihre eigenen Zähne besaß und ohne Brille las, schrieb und Handarbeiten machte. Eine sehr gebildete und feine Dame, die sich im Laufe der folgenden Jahre oft mit mir über meine Heimat Steyr unterhielt, die sie sehr gut kannte, da sie in ihrer Jugend oft dort war. Kraft ihres vorzüglichen Gedächtnisses erinnerte sie sich an alles und erzählte mir vieles, was ich – zu meiner Schande gesagt – von meiner Heimat gar nicht wusste; von da an lernte ich erst verstehen, wie schön meine Heimat eigentlich war. Fremde Menschen müssen einen lehren und aufmerksam machen, und vor allem muss man fort, um die Heimat erst richtig schätzen zu lernen. Endlich war die Wohnung fertig, und nun lernte ich die drei Kinder kennen, drei Buben: Béla, der älteste, im vierten Jahr; Géza, der zweite, zwei Jahre und Eugen, der jüngste, vier Monate alt. Béla war ein sehr schönes, aber auch sehr schlimmes Kind. Géza war weniger hübsch, aber ein recht lieber kleiner Kerl, der sich viel bei mir in der Küche aufhielt und dessen Sprache ich anfangs gar nicht verstand; das Kindermädchen, das schon vier Jahre im Hause war, machte den Dolmetsch. Aber das Herzigste war der kleine Eugen, sooft ich nur etwas Zeit hatte, stahl ich mich ins Kinderzimmer zum Wagerl. Das Kindermädchen war aber sehr dagegen, sie meinte, ich verwöhne ihr den kleinen Buben ganz – das durfte nicht sein. Die Kinder wurden sehr abgehärtet, ganz militärisch erzogen. Arbeit gab es sehr, sehr viel. Die Wohnung war sehr groß, sieben große Zimmer und Nebenräume, viele Gäste. Wir waren wohl drei Dienstleute, Wäscherin und Büglerin, aber trotzdem glaubte ich nicht daran, bleiben zu können, da ich eher schwächlich war. Auch bemerkte ich sehr bald, dass sich Kindermädchen und Diener auf meine Kosten das Leben bequem machten, getraute mir aber nichts zu sagen, da beide gut standen bei den Herrschaften. Die Frau Oberst war viel 126

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eingeladen, kümmerte sich nicht, wer die Arbeit machte, nur gemacht musste sie sein; und so kam es bald so weit, dass ich auch Windeln waschen sollte, aber dagegen wehrte ich mich. Ich war zwar von meiner Mutter, die selber eine fleißige Frau war, schon sehr früh zur Arbeit angehalten worden, und die Arbeit tat mir auch nie weh, aber hier war es doch zu viel des Guten. Ich nahm mir vor, nicht länger als ein Jahr zu bleiben. Gekocht wurde gut und viel; besonders wenn Gäste kamen, war immer alles schön und gut. Es gab immer feine Vorspeisen, gute Braten und Salate, feine Mehlspeisen und auch Gefrorenes, das aber vom Zuckerbäcker kam. Es war oft eine Kunst, in der kleinen Küche alles füreinander* zu bringen. Ich habe mich oft gewundert, was sich der Baumeister wohl gedacht haben muss, dass er für eine ganze Stockwohnung* so ein Loch von einer Küche gebaut hat. Eine dicke Köchin hätte unmöglich Platz gehabt. Auch das Dienstbotenzimmer war ein finsteres Loch, dessen Fenster auf den Gang hinausging. Ich hatte zwar eh nie Zeit, mich drinnen aufzuhalten, aber zum Schlafen war auch nicht die beste Luft. Der erste Winter verging, und nun wurden Vorbereitungen zum Landaufenthalt getroffen, und zwar nach dem schönen Altaussee. Ich hoffte nun, dass es mit der Arbeit doch etwas leichter würde und freute mich schon sehr drauf. Aber beinahe wäre meine Freude, wie schon so oft, ins Wasser gefallen. Drei Wochen vor der Abreise hatte Herr Oberst eine Aus­ rückung* in den Prater, wo auch der Kaiser angesagt war. Es sollte um vier Uhr geweckt werden, um halb fünf das Frühstück fertig sein. Wir hatten die ganzen Tage vorher Teppiche und alles andere eingekampfert*. Ich war sehr müde und verschlief, ebenso der Diener und auch Frau Oberst. Fünf Minuten vor fünf wurde ich wach. Furchtbar erschrocken sprang ich auf, weckte den Diener, dieser den Herrn Oberst, und eine furchtbare Jagd ging an. Ich hatte mir zwar alles hergerichtet zum Kaffee und war auch schnell fertig, aber Kaiser Franz Joseph war die Pünktlichkeit selbst, und es wäre eine furchtbare Blamage für den Herrn Oberst gewesen, als Regimentskommandant nicht auf seinem Posten zu sein, und es hätte vielleicht 127

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sogar schwere Folgen nach sich ziehen können. Eine Minute vor Ankunft des Kaisers war Herr Oberst zur Stelle. Aber das Donnerwetter, das über mich erging, war nicht so ohne; und zwar kam es nicht vom Herrn Oberst, sondern die Frau Oberst warf mir die größte Pflichtverletzung vor und machte mich für die Folgen verantwortlich. Selbstverständlich war es mir ja auch nicht gleichgültig, aber ganz gerecht waren diese Vorwürfe auch wieder nicht. Wenn schon von einer Pflichtverletzung gesprochen werden soll, so glaube ich, ginge dies zuallererst den Diener an, der ja Soldat war und wissen musste, was auf dem Spiel stand. Dies sagte ich auch der Frau Oberst und bat gleichzeitig um meine Entlassung; denn schließlich immer nur wegen des Dieners beschimpft zu werden (es war nicht das erste Mal), war mir doch etwas zu viel. Wie schon erwähnt, ging im Prater alles gut aus. Als Herr Oberst zurückkam, wurde ich hineinbefohlen. Ich entschuldigte mich mit großer Müdigkeit. Herr Oberst war aber sehr nett mit mir und meinte, die Kündigung nehme er als nicht gesprochen an und hoffe, wir werden uns alle nicht mehr verschlafen. Es löste sich alles in Wohlgefallen auf. Verschlafen aber habe ich mich niemals wieder, im Gegenteil: Ich habe mich so trainiert, dass ich zu jeder gewünschten Stunde wach wurde. Dem Diener wurde aber der Kopf gehörig gewaschen, und es wurde ihm mit der Einrückung zum Regiment gedroht. Es wäre nicht schade gewesen. Ich habe mich oft vor ihm gefürchtet; er war ein halber Zigeuner, kein Mädel im Haus war sicher vor ihm, und es gab wiederholt Skandale. Er verstand es aber wunderbar, sich bei der Herrschaft unersetzlich zu machen. Er war von einer kriecherischen Höflichkeit. Ich habe ihn bald kennengelernt und mich gehütet: Eines Tages hatte er mit dem Kindermädchen eine Auseinandersetzung, warum, habe ich nie erfahren. Nun sagte er mir im Vertrauen, ich solle verschiedene Arbeiten nicht mehr machen, die mir das Kindermädchen zugeschoben hatte. Ich hörte ihn ruhig an, sagte dann: „Ich danke Ihnen, aber von heute an werde ich auch die Arbeiten nicht mehr machen, 128

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die Sie mir zugeschoben haben, denn in meinem Vertrag, den ich schriftlich von Frau Oberst habe, steht nichts von Gläser waschen, Besteck und Tafelgeschirr abtrocknen und so weiter. Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie sich jederzeit beschweren, ich werde mich zu verteidigen wissen!“ Ich habe auch wirklich darauf bestanden, beschweren ging sich keiner der beiden, und ich hatte es etwas leichter.

„Vier Sommer verbrachten wir im schönen Altaussee“ Mitte Mai waren wir auf der Reise nach Altaussee, wohin auch die Mutter der Frau Oberst, Exzellenz Baronin Hye, mit ihrer Köchin kam. Die Reise war für mich ein Ereignis. Wir bewohnten dort ein sehr hübsches, altes Bauernhaus ganz allein – sehr einfach, aber sehr sauber und nett: im Speisezimmer ein großer, grüner Kachelofen mit schön gepolsterten Bänken herum; schöne Decken in Kreuzstichmustern und überall große Sträuße von Narzissen. Die Küche, groß und licht, erfreute mich. Aber ich hatte mich wieder einmal zu früh gefreut; ich musste mein Amt der Köchin der Exzellenz Frau überlassen, die viel älter war als ich und länger im Hause, was ich selbstverständlich auch einsah. Ich war nun Stubenmädchen, was mir wenig Freude bereitete. Arbeit gab es auch hier genug, aber doch weniger anstrengend als in Wien. Es waren beinahe täglich Gäste da. Mittags, meistens zur Jause, da kamen ganze Wagen voll von Markt Aussee herüber, und der große Gartentisch war immer voll besetzt. Kaffee, Tee, Obst, Backwerk, Striezel*, Torten – immer musste was Fertiges da sein. Die Exzellenz Frau, wie wir die alte Frau nannten, brachte von Wien ganze Kisten voll englischen Sekts mit, sodass wir nie in Verlegenheit gerieten. Es gab natürlich immer eine Unmasse schmutziges Geschirr, aber mit dem Trinkgeld war es schlecht bestellt. Es gab auch viele Verdrießlichkeiten, meist der Kinder wegen, aber wenn ich dann die schönen Berge ringsherum sah, vergaß ich wieder – jung war ich eben auch, und da erträgt man vieles leichter. 129

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Die Hausherrenleute, die nebenan in einem kleinen Häuschen wohnten, waren sehr nett und lieb mit uns. Wenn ich manchmal abends etwas Zeit hatte, ging ich hinüber, und dann kam der alte Hausherr ins Erzählen, was oft wie ein Märchen klang: von den Familien Hohenlohe* und Meran*, dem Erzherzog Johann und der schönen Postmeisterstochter Anna Plochl. Er erzählte auch von seinen Bergfahrten und vom Leben und Treiben im Altausseer Salzbergwerk, wo er Oberhutmann* war, aber schon in Pension. Seine Stelle nahm sein Sohn ein, der auch Kapellmeister der Salinenkapelle war. Die Töchter – bis auf die Jüngste alle verheiratet – waren alle hübsch. Die Jüngste war sehr schön, aber leider schwer lungenkrank. Die Zweitjüngste, so wurde erzählt, soll an gebrochenem Herzen gestorben sein. Ein Prinz Hohenlohe wollte sie durchaus heiraten, aber seine Eltern gaben die Erlaubnis nicht. Nach den Bildern zu schließen, war sie die Allerschönste – Schicksal! Die Eltern waren auch trotz des hohen Alters noch schöne, aufrechte Menschen. Im August kam Herr Oberst auf Urlaub, und Ende September musste ich allein nach Wien, um die Wohnung zu putzen. Bei meiner Rückkehr fand ich einen neuen Diener vor. Auf meine Frage, wo Johann sei, teilte mir der Neue mit, es habe im Hause etwas mit Johann gegeben, da musste er zum Regiment einrücken. Später erfuhr ich, Herr Oberst hatte ihn mit einem fremden Mädchen in der Wohnung angetroffen. Ich war froh. Der Neue war ein ungarischer Schwabe*, ein sehr netter, ruhiger Mensch. Nun hieß es, den Neuen anlernen, was nicht immer leicht war. Im Allgemeinen hatten es die Diener gut: Sie bekamen Zivilkleider, Wäsche, Schuhe, das gleiche Essen wie die Herrschaften, hatten ein eigenes Zimmer, erhielten aus der Kaserne Löhnung, Menage* und Brotgeld und ein ganz schönes Taschengeld vom Herrn Oberst. Wenn einer wollte, konnte er sich schon etwas ersparen; blieb er ein Jahr über seine Dienstzeit hinaus, was die meisten taten, wurden ihm die Waffenübungen nachgelassen. Aber mit der Frau Oberst war wohl jeder, außer dem Ersten, im Kampf. Sehr leicht war es wirklich nicht, mit 130

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der Frau Oberst auszukommen. Sie war schnell aufbrausend und oft etwas zum Fürchten, konnte sehr böse werden über Dinge, die oft gar nicht dafürstanden sich aufzuregen, auch den Kindern gegenüber: Wegen schmutziger Schuhe und einer zerrissenen Hose, was doch bei wilden Buben nicht selten ist, konnte sie geradezu in Wut geraten. Wenn sie aber wirklich was Ernstliches anstellten, war sie von einer Ruhe, was mir bis heute unverständlich war und ist. Der neue Diener Martin war von Beruf Schlosser, packte dementsprechend auch alles an, als ob es von Eisen wäre, und hatte im Verlauf der drei Jahre sehr, sehr viel Geschirr auf seinem Gewissen. Ersetzen brauchten wir nie etwas, aber es durfte nicht verheimlicht werden; es wurde auch nicht weiter geschimpft, wenn man beichtete, und mit einem „Passen Sie ein andermal besser auf!“ abgetan. Nach größeren Gesellschaften, wo es beinahe unvermeidlich war, dass das eine oder andere Stück in Trümmer ging, hieß es dann, die Scherben aufheben als Muster. In der Beziehung war die Frau Oberst einsichtsvoll, dass man nicht etwa boshafterweise etwas beschädigte. Nun wurde also mit Hilfe der Wäscherin die Wohnung geputzt, dann kamen die Herrschaften wieder zurück, und alles ging seinen Lauf. Gäste und immer wieder Gäste; viele Menschen mit berühmten Namen gingen aus und ein, unter anderen auch der damalige päpstliche Nuntius Taliani kam zu Soupers mit anschließenden Kartenpartien. Er konnte sehr böse werden, wenn er verspielte. Er war immer von zwei geistlichen Herren begleitet. Er beschenkte die Herrschaften mit den italienisch gefüllten und auf eine ganz besondere Art geselchten Schweinsfüßen, die lange gekocht werden mussten und sehr gut waren. Alle hatten wir immer Magenbeschwerden, gegessen wurden sie aber trotzdem immer wieder. Der zweite Winter verging. Nun war es auch mit den Kindern schon besser. Der Älteste, Béla, wurde von einem Lehrer zu Hause unterrichtet. Géza war noch nicht schulpflichtig, und Eugen lief schon herum und sprach auch schon ganz herzig. Er freundete sich mit dem neuen Diener an, nannte ihn Baklin statt Martin; Lilli nannte er Didi und mich Pie. Er war unser 131

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aller Liebling, und bei mir kann man wirklich sagen „von der Wiege bis zum Grabe“, leider! Im Frühjahr 1901 wurde Herr Oberst mit seinem Regiment von der Schmelzer* Kaserne in die Rennweger* Kaserne versetzt, und wir übersiedelten vom 7. in den 3. Bezirk auf den damaligen Gemeindeplatz* in eine sehr hübsche und noch etwas größere Wohnung. Hier hatte ich eine schönere Küche und auch ein zwar kleines, aber lichtes, freundliches Zimmer. Als wieder alles in Ordnung war, ging es wieder nach dem schönen Altaussee, in das liebe Haus mit den guten Hausherrenleuten. Leider trafen wir die jüngste Tochter beinahe sterbend an. Die Exzellenz Frau ging täglich hinüber, las ihr vor, erzählte ihr alles Mögliche, und sie durfte sich jeden Tag etwas zum Essen bestellen, was sie mit Freuden tat. Nach vier Wochen starb sie leider. Wir betrauerten sie sehr, sie war lieb und gut. Es war ein ziemlich verregneter Sommer, und der Loser* war oft beschneit, sodass geheizt werden musste. Im August kam wieder Herr Oberst, und Ende September musste ich wieder nach Wien. Wieder wurde die Wohnung geputzt, und ein an Arbeit schwerer Winter begann. An die damaligen Samstage denke ich mit Schaudern zurück. Um halb drei war die ganze Verwandtschaft zum Essen da, anschließend eine Kinderjause, und um fünf war Jour*. Damals kam nachmittags immer eine französische Kindergärtnerin, so war wenigstens das Kindermädchen frei und half in der Küche und auch beim Servieren. Es waren harte Nachmittage, die sich meist bis in die späten Nachtstunden ausdehnten – nicht selten war es zwei Uhr in der Früh, bis wir wieder alles in Ordnung hatten. Vom Trinkgeld sah ich nie viel, es kamen wohl die Neidigsten zu uns. Die Nobelste in punkto Trinkgeld war die Mutter der Frau Oberst. In Aussee durften wir keine Hausiererin wegschicken, ohne ihr einen Hauskreuzer zu lösen zu geben. Jedes Mal durfte sich eine von uns dreien etwas auf ihre Rechnung aussuchen: Strümpfe, Schürzen und Sonstiges; zu jedem Ausgang ein Jausengeld und am Sonntag dreißig Kreuzer Bratengeld. Deswegen hatten wir immer unseren Braten, und zum Kirchweihfest „zehn Gulden auf ein Lebkuchenherz“, wie sie immer sagte. 132

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Es kam öfter vor, dass ihre Köchin krank war, dann musste ich wieder die Köchin machen, wofür ich aber immer extra vergütet wurde. Vier Sommer verbrachten wir im schönen Altaussee. Im Frühjahr 1902 wurde Herr Oberst mit seinem Regiment nach Pest* versetzt. Nun wurde die Wohnung aufgelöst. Für zwei Zimmer nahm sich der Herr Oberst Möbel mit, alles andere kam in ein Depot. Die Frau Oberst ging mit einer neu aufgenommenen Französin und den Kindern nach Gmunden, da in Altaussee umgebaut wurde und die Wohnung noch nicht fertig war. Ich durfte nach vier Jahren anstrengenden Dienstes auf drei Wochen nach Steyr zu meinen Eltern und Geschwistern. Das Kindermädchen hatte uns damals schon vor beinahe einem Jahr verlassen. Es gab verschiedene Streitigkeiten mit dem Diener Martin, daraufhin kündigte sie und ging nach sechsjähriger Dienstzeit. Ich glaubte, die Kinder würden sehr um sie jammern, aber nichts geschah, obwohl sie die Kinder vorbildlich gepflegt und betreut hatte. Es gibt nichts Undankbareres als Kinder, und sie können auch grausam sein. Mir selber fehlte sie sehr, wir hatten uns gut verstehen gelernt und hatten nie Verdruss miteinander. Die drei Wochen Steyr waren rasch vorüber, und nun hieß es wieder ins Joch.

„Wir bewohnten eine Villa schon nahe dem Bergisel …“ In diesem Sommer, welcher auch der letzte in Altaussee für lange Jahre sein sollte, hatte sich vieles verändert. Ich war wieder Köchin, die Köchin der Exzellenz war fort, hatte geheiratet. Im Nebenhaus waren die alten Hausherrenleute ins Austragstüberl* gezogen; der Sohn mit seiner Frau hatte alles übernommen. Aber auch die jungen Leute waren nett und lieb mit uns, und ich verbrachte manch schöne Stunde in ihrem ganz neu eingerichteten Heim. Ich besuchte auch oft die Alten in ihren beiden sehr schönen Zimmern, die ihnen die Schwiegertochter mit Liebe eingerichtet hatte. Sie waren aber ver133

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ändert und fühlten sich nicht glücklich. Alte Bäume soll man nicht mehr verpflanzen. Der Sommer verging, wieder war es Herbst. Doch diesmal wusste ich noch nicht, in welchem Teil der Monarchie ich Wohnung putzen würde. Diesmal musste ich in Altaussee zurückbleiben; Herrschaften und Kinder fuhren nach Wien in die Wohnung, denn Herr Oberst stand vor der Avancierung* zum General, nur wusste man noch nicht, in welche Garnison. Ich brachte nach der Abreise der Herrschaften das Haus in Ordnung und packte alles ein. Einen Teil schickte ich nach Wien und harrte nun der Dinge, die da kommen sollten. Endlich kam ein Telegramm, alles bereitzuhalten zur Abreise nach Innsbruck. Dann kam der Befehl zur Abreise nach Innsbruck. Es war schon eine Wohnung gemietet. Nun sollte für mich ein Wunsch in Erfüllung gehen: Tirol kennenzulernen war schon in der Schule immer ein geheimer Wunsch gewesen. Nun wusste ich auch bestimmt, dass wir nicht mehr nach Aussee kommen würden. Der Abschied fiel mir schwer. Auf der Reise nach Innsbruck traf ich mit dem Diener Karl zusammen; bei strömendem Regen kamen wir an, von einem Feldwebel erwartet, der uns in die Wohnung führte. Es waren noch kaum Möbel da, aber die Hausfrau stellte mir ein Bett zur Verfügung, damit ich nicht in ein Hotel musste. Herr General war bereits hier, wohnte jedoch im Hotel. Endlich, nach drei Tagen, kamen die Möbel, und nun richtete ich zum dritten Mal die Wohnung ein. Wir bewohnten eine Villa schon nahe dem Bergisel*, das Schönste, was man sich denken kann. Vor meiner schönen, großen Küche war ein Balkon; da lag zum Greifen nahe die ganze Kette der nördlichen Kalkalpen: Martinswand, Frau Hitt – von jedem Fenster ein anderer Fernblick –, Ötztaler Alpen, Kaisergebirge, Patscherkofel, Glungezer, die Hohe Waldrast und wie sie alle heißen. Ich konnte nicht genug schauen! Das Speisezimmer entlockte jedem, der es betrat, ein „Ach wie schön!“ Wände und Plafond mit dunklem Holz und Brandmalereien* verkleidet – ein Werk unseres Hausherrn, der Kunsttischler und Brandmaler war. Ein Erker mit gedrechselten Säulen, in 134

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den Fenstern Butzenscheiben und ganz mit Efeu verwachsen. Unsere Möbel passten sich hier gut ein. Als alles so ziemlich am Platz stand, kam die gnädige Frau mit den Kindern und dem Kinderfräulein. Es wurde beinahe Weihnachten, bis wirklich alles fertig war. Am Dreiundzwanzigsten abends putzten das Fräulein, der Diener und ich den Christbaum – ein herrlicher Baum, der in einem schweren Eisengestell, das schon immer in Gebrauch war, im Speisezimmer aufgestellt war. Als ich am Vierundzwanzigsten früh das Zimmer betrat, traute ich meinen Augen nicht: Da lag der schöne Baum der Länge nach auf dem Boden, alles zerbrochen – die wunderhübschen Sachen! Ich war dem Weinen nahe. Wie konnte das geschehen? Ich war nie abergläubisch, aber hier dachte ich an eine höhere Macht. Kaum traute ich mir, es der gnädigen Frau zu sagen, aber auch sie hatte sofort den gleichen Gedanken wie ich. Und wirklich kam am Christtag ein Telegramm aus Wien: „Exzellenz Frau schwer erkrankt!“ Die gnädige Frau reiste sofort ab, traf aber ihre Mutter nicht mehr am Leben an. Der Baum hat angezeigt, was kommen wird. Eine schöne, goldene Brosche aus Tiroler Glücksringen war das letzte Weihnachtsgeschenk an mich. Ich hielt sie sehr in Ehren, aber eines Tages war sie verschwunden. Wohin? Ich weiß es nicht, fand sie nie mehr wieder. Nun fuhr auch Herr General zum Begräbnis; den Kindern verschwiegen wir den Tod der Großmama bis nach den Feiertagen. Nach Neujahr sagte es das Fräulein den Kindern, und nun kam zu Tage, wie so ganz verschieden die drei Brüder waren. Béla war ganz weg und weinte bitterlich. Géza sagte ganz kalt: „Gott sei Dank, jetzt kann sie mich nicht mehr schlagen.“ Von Schlagen war aber keine Rede; er hatte öfter, wie man so sagt, ein Tapperl* bekommen. Es war keine rechte Sympathie zwischen den beiden. Der Jüngste, Eugen, war ganz geschäftlich veranlagt. Er fragte: „Was wird jetzt mit den Sachen der Großmama geschehen?“ Die Großmama hatte ihre Enkel sehr gern, erfüllte ihnen jeden Wunsch. Aber der Liebste war ihr halt doch 135

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der Älteste, Béla, der viel bei ihr war und sich sehr gut mit ihr verstand. Er war überhaupt sehr gutherzig. Als damals der Ort Zirl bei Innsbruck abbrannte, trug er heimlich seine Sparkasse hin. Ich las es unter dem Spendenausweis in der Zeitung. Er gab dort auch keinen Namen an, sondern wurde von einem Beamten erkannt, der in der Villa im Nebengebäude wohnte. Herr General kam nach dem Begräbnis wieder zurück. Die gnädige Frau blieb in Wien, löste die Wohnung auf – sie war Universalerbin. Ende Februar kam sie zurück und brachte einen Möbelwagen voll Sachen mit. Nun musste wieder die ganze Wohnung umgestellt werden, um Platz für das alles zu machen. Ich habe so heimlich immer gehofft, dass man an mich auch denken wird bei der Verteilung, wo so viele beschenkt wurden. Ich bekam aber gar nichts, selbst um ein Bild musste ich bitten, was mich heute noch reut, denn eine andere hätte sich selbst eines genommen, da ja ganze Stöße da waren, und sich dann das Bedanken erspart. Immer ist es nicht gut, gar zu anständig zu sein. Ich wenigstens habe immer draufgezahlt; vor lauter Pflichtgefühl wurde ich nur ausgenützt. Gemerkt habe ich es mir aber schon und war gekränkt. (...) Endlich kam der Frühling. Nun sah man erst, wie schön Innsbruck und seine Umgebung waren. Im Garten, der die Villa umgab, war alles in Blüte. Von der Frau Hitt fuhren die Lawinen ab und hinterließen schwarze Straßen. Auch in der Stadt selbst gab es viel Interessantes zu sehen. Der historische Berg­ isel, das Schloss Ambras*, der Tummelplatz* am Wald – ein Friedhof aus den napoleonischen Kriegen, von 1809 –, das Goldene* Dachl, die Hofkirche* mit den herrlichen Grabdenkmälern, das Stift Wilten* usw. Schon in der Schule hatte ich immer den Wunsch, dies einmal alles zu sehen. Leider hatte ich nur sehr wenig Zeit dazu. Manchmal an schönen Sommerabenden wünschte ich mir, zeichnen zu können, um die schönen Berge, die sich so scharf vom Abendhimmel abhoben, nachzeichnen zu können. Jeden Grat sah man deutlich. Als dann am 24. Juni die Sonnwendfeuer* aufgingen auf jedem Berggipfel, das war wohl das Schönste, was man sich denken kann. 136

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„Von den Schandtaten der zwei Kleinen könnte man ein Buch schreiben“ Das Leben hatte aber auch eine Kehrseite: Es gab oft recht hässliche Auseinandersetzungen und Verdrießlichkeiten – meist der Kinder wegen. Die zwei älteren Buben gingen ins Pädagogium, aber das Lernen gefiel ihnen schon gar nicht. Jeden Donnerstag ging der Herr General in die Schule, bekam meistens schlechte Nachrichten, da musste dann die Reitpeitsche ihr Amt antreten, aber es nützte nicht viel. Am meisten nützte noch der Entzug der Mehlspeisen, das machte Eindruck. Die schlechte Stimmung wirkte sich auch auf uns aus. So war der Donnerstag ein schwarzer Tag im Kalender. Sie trieben auch sonst alle möglichen Sachen, warfen Steine in den fahrenden Zug – da kam die Polizei ins Haus –, warfen Fensterscheiben ein; es war halt immer etwas los. Sie waren in kurzer Zeit in ganz Innsbruck bekannt, aber auch wieder beliebt, weil sie sehr freundlich waren, und man ihnen trotz allem nicht böse sein konnte. Nach dem Trauerjahr wurde es wieder lebendig bei uns. Diners, Soupers, Tee, Kartenpartien waren an der Tagesordnung. Ganz Innsbruck verkehrte bei uns, und sehr gerne sogar. Es wurde immer sehr gut gekocht bei uns, schön angerichtet und fein serviert: Service, Gläser, Silberbesteck, Silberschüsseln, Tischtücher und Servietten – alles aufs Schönste. So ein gedeckter Tisch sah wunderschön aus, die Blumen je nach Jahreszeit. Ich habe immer mit Liebe gekocht und habe mich gefreut, wenn die Schüsseln geleert zurückkamen. Ich hatte schon einen guten Ruf als Köchin, es kam wohl selten vor, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Die Jahre vergingen. Herr General war Feldmarschallleutnant geworden und musste nun mit Exzellenz tituliert werden. Endlich hatte ich wieder einmal Urlaub bekommen und sollte aus Steyr ein Stubenmädchen mitbringen. In Innsbruck wollte der Buben wegen niemand zu uns. Da entschloss sich meine Schwester Anna mitzukommen, wie sie sagte, auf ein oder zwei Jahre, es wurden aber zwölf daraus. Sie war ausgelernte Schneiderin, und die gnädige Frau griff mit Freuden zu. 137

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Merkwürdigerweise hatte sie einen sehr guten Einfluss auf die Buben, und besonders der Jüngste schloss sich fest an sie an. Er ließ sich von ihr aus der Schule abholen und ging immer Arm in Arm mit ihr. Den früheren Stubenmädchen ging er immer durch und verließ die Schule durch ein anderes Tor. Sie hatte aber doch ein schweres Amt. Ich habe sie zwar darauf vorbereitet, aber besonders in der Früh beim Aufstehen spielten sich oft ganze Szenen ab. Hauptsächlich Géza war recht widerlich, versteckte immer seine Kleider und beschuldigte dann Anna, sie hätte nichts hergerichtet, er könne nicht aufstehen. Die gnädige Frau glaubte immer wieder diese Lügen. Nicht so der Exz. Herr, der ihn mit der Reitpeitsche aus dem Bett trieb – nun fand er seine Kleider. Es war merkwürdig, wenn wir mit den Kindern allein waren – die gnädige Frau verreist –, kamen wir ganz leicht mit ihnen aus. Gerauft wurde oft, dass man nicht wusste, wem die Hände und Füße gehörten, so verbissen waren sie ineinander. Mit Säbeln, Gewehren, Kohlekübeln und Schürhaken gingen sie aufeinander los. Meistens die zwei Jüngeren auf den Ältesten, der ganz hilflos war und sich nicht wehren konnte. Eine Zeit lang kam nachmittags ein Hofmeister*, um mit ihnen spazieren zu gehen, aber keiner blieb länger als drei Tage. Dann wurde eine Französin aufgenommen. Die überfielen die beiden Jüngsten eines Tages mit Bergstöcken; sie wollten ihr das Wiederkommen verleiden. Sie waren aber ahnungslos, dass der Exz. Herr noch zu Hause war. Weinend lief sie ins Schreibzimmer und beklagte sich. Zwei Tage konnten die Buben nicht sitzen, aber das Fräulein kam auch nicht wieder. Béla war damals doch schon vernünftiger; er hatte zwei gute Freunde gefunden, bei deren Eltern er sich aufhielt und von zu Hause flüchtete, wann immer es nur möglich war. Sie sind Freunde geblieben bis zu ihrem frühen Tod. Alle drei sind im Weltkrieg gefallen; Béla war der Erste. Leider! Von den Schandtaten der zwei Kleinen könnte man ein Buch schreiben. Einmal waren die beiden im Bad, Béla wollte sich einen Krug warmes Wasser nehmen, das erlaubten sie nicht; als er es aber doch tat, zogen sie ihn samt den Kleidern in die 138

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Badewanne und tauchten ihn unter. Ich kam ihm zu Hilfe auf sein Schreien, beugte mich über die Wanne, um ihn herauszuziehen, da drehten die beiden die Dusche auf. Ich war nass bis auf die Haut. In dem Moment kam Exz. Herr nach Hause und sah die Bescherung. Er konnte wohl auch das Lachen nicht verbeißen über meine traurige Gestalt. Die Reitpeitsche trat in Aktion. Wir hatten einmal ein Kindermädchen, die sagte, die BuschBücher* sollte man alle vernichten, denn die wirkten nicht abschreckend, sondern aufreizend auf die Kinder. Ich konnte ihr nicht Unrecht geben. Wie viele Fensterscheiben hat wohl die gnädige Frau ohne Wissen des Exz. Herrn gezahlt, auch solche, die die Kinder gar nicht zerhaut hatten. Denn es war schon so in Innsbruck, wenn irgendetwas geschah, dann hieß es: „Das haben die Kövess-Buben getan.“ Auch unsere Hausherrenleute meinten oft, sie hätten nie so schlimme Buben erlebt. Aber sie täuschten sich, unsere Wohnungsnachfolger hatten noch schlimmere. Und die Vorgänger von unseren waren die Buben von Exz. Conrad, der damals auch in Innsbruck in Garnison war. Die Zeit verging. Im Sommer waren immer die beiden Schwestern von Exz. Herr mit ihren Kindern in Hall bei Innsbruck. Da war nun jede Woche wieder ein Familientag. Dann gab es eine Masse Durchreisende, man kann wohl sagen, aus der ganzen Monarchie und Deutschland. Die Herrschaften hatten einen sehr, sehr großen Bekanntenkreis, und alle stellten sich sofort ein, vertrauend auf die unbegrenzte Gastfreundschaft des Hauses Kövess. Manchmal wurde ich schon ungeduldig, weil beinahe kein Tag mehr war, wo man etwas ausschnaufen konnte. Jeden Tag meldete sich wer anderer an. Ich machte einmal die Bemerkung: „Wenn der Kaiser von China kommt, der wird auch eingeladen!“ Da lachte die gnädige Frau hellauf und sagte: „Ja, Marie, auch der wird eingeladen – zu gebackenen Regenwürmern.“ Je mehr Gäste da waren, umso liebenswürdiger war die gnädige Frau. War einmal niemand da, dann schlug auch ihre Stimmung um. Wenn Exz. Herr auf Inspizierungen war, dann 139

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wurde gründlich* gemacht. Das ging beinahe nie ohne Krach ab. Beim Speisezimmer musste ich immer mithelfen. Einmal wurde uns die Zeit schon recht knapp, und wir räumten nicht alles hinaus, wurden erwischt dabei, und der Krach war da: „Alles muss hinaus!“ Obwohl es schon höchste Zeit zum Kochen war, räumten wir alles hinaus, die gnädige Frau stand daneben wie ein Detektiv. Wir hatten damals einen Tiroler als Diener. Zum Schluss ging der Diener noch zu dem riesigen Kachelofen und tat so, als wollte er auch den hinaustragen. Ich konnte das Lachen nicht verbeißen und verschwand. Aber auch die gnädige Frau verschwand, als sie merkte, wie allzu wörtlich ihr Befehl aufgenommen wurde. Im Herbst gingen die Herrschaften immer für einige Wochen auf Reisen; wir waren mit den Kindern allein. Nach der Rückkehr ging das Werkel wieder an. Die gnädige Frau war damals Präsidentin vom Roten Kreuz. Es wurden jedes Jahr große Feste zu Gunsten des Roten Kreuzes abgehalten, da hieß es immer fest mithelfen. Diese Feste waren wunderschön: schöne Frauen, die vielen Uniformen. Meist spielte sich so eine Festlichkeit im Zeitalter des Biedermeier oder Barock ab, die Damen also alle in den Kleidern des Biedermeier usw. Die Zeit verging. Sechs Jahre verbrachten wir in Innsbruck, dann wurde wieder einmal eingepackt und nach Bozen übersiedelt. Nach knappen zwei Jahren kamen wir wieder nach Innsbruck zurück. Inzwischen waren die zwei Jüngsten außer Haus – Géza in Kalksburg* und Eugen in der Militärschule in Enns* – untergebracht worden. Sie taten in keiner Schule gut, so bestand Exz. Herr zum Schmerz der gnädigen Frau darauf, dass sie fortkamen. Béla blieb noch im Hause, bis er so weit war, um in die Wiener Neustädter Akademie* einzutreten.

„Wir kamen in eine ganz andere Welt ...“ Im Jahre 1911, im Herbst, wurde Exz. Herr kommandierender General von Siebenbürgen mit der Garnison Hermannstadt*. Nun hatte auch die gnädige Frau das Recht, sich Exzellenz ti140

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tulieren zu lassen. Exz. Herr war nun Geheimer* Rat – für die Friedenszeit damals der höchste Rang. Wieder wurde gepackt. Im Oktober 1911 ging die Reise nach Hermannstadt. Ab Budapest fuhren wir im Salonwagen mit Exz. Herrn, der schon in Hermannstadt war und bis nach Pest kam, um die Exz. Frau abzuholen. Für unsere vom Tirol verwöhnten Augen war die Reise durch die Puszta nichts weniger als schön. Erst als wir in die Nähe von Hermannstadt kamen, wurde es schöner, aber kein Vergleich mit den Gegenden, die wir eben verlassen hatten. Am Bahnhof war großer Empfang, auf den Straßen alles voll von Menschen, die neugierig waren auf die neue Kommandeuse. Auch lebte hier eine große Verwandtschaft vom Exz. Herrn, dessen Mutter eine Siebenbürger Sächsin war. Meine Schwester und ich waren von einem ganz eigentümlichen Gefühl befallen. Wir kamen in eine ganz andere Welt, andere Menschen, andere Sitten und Gebräuche. Trotz des herrlichen Palais, in das wir nun unseren Einzug hielten, wurden wir hier nicht warm, das spürten wir vom ersten Moment an. Der erste Eindruck ist der beste. Zum Glück, muss man sagen, erwartete uns hier so viel Arbeit, dass wir leichter über die erste Zeit hinwegkamen. Das Palais war vollständig eingerichtet; die Exzellenz hätte ihre Sachen ruhig in Wien lassen können, aber es wurde alles ausgepackt, umgestellt, gemalt, tapeziert usw. Der Vorgänger vom Exz. Herrn hatte uns sehr viel Schmutz zurückgelassen und alles sehr vernachlässigt. Die Geschirrschränke, voll mit Meißener Porzellan und schönem Glas, wurden ausgeräumt; da fanden wir auf den großen Schüsseln, ganz angetrocknet, Zitronenscheiben und Fischgräten. Auf schönen Glasschüsseln waren noch die Farben von Gefrorenem zu sehen, und die kleinen Kompottteller, die goldene Fußerln hatten, waren so aneinandergeklebt, dass wir ganze Stöße ins Wasser stellen mussten, um sie aufzuweichen. Trotzdem brachen uns bei vielen die Fußerln ab. Ganze Stöße feiner Damastservietten waren schmutzig zusammengebügelt, viele waren unbrauchbar dadurch. Ein Hausdiener, der schon beim Vorgänger war, sagte mir: „Wir haben immer Geschirr gewischt mit den Servietten, weil keine Geschirrtücher hier waren.“ Ein 141

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verlässliches Personal muss das gewesen sein; auf die Hausfrau warf es kein gutes Licht. Das Palais war sehr groß und schön. Es stand etwas von der Straße zurück in einem ziemlich großen Garten mit schönen Obstbäumen. Es hatte zwei große Gittertore, eine Wagenauffahrt und Schildwachhäuser. Beim Haupteingang kam man in das Vestibül*, teppichbelegte Fliesen und in den Ecken Palmenund Blattpflanzengruppen. Rechts führte die Stiege in den ersten Stock, überall große Spiegel eingelassen. Dann kam man in eine große Diele mit buntem Glasdach darüber; auch hier überall Palmengruppen, auf den Tischen große Jardinieren* mit blühenden Blumen, eine Gruppe Korbmöbel und ein riesiger Fellteppich, der den Boden bedeckte. Hier führten Türen in den großen grünen Salon, in den roten und blauen, in das Speisezimmer, in das Arbeitszimmer des Exz. Herrn, in das Badezimmer der gnädigen Frau und in zwei Schlafzimmer. Alles sehr groß. Vom Speisezimmer kam man in die Office* mit Speiseaufzug und Geschirrkasten, nebenan das Zimmer meiner Schwester. Von der Office aus führte eine Stiege in die Küche, die hieß Dienstboten- und Lieferantenstiege, aber unsere Herrschaften benützten sie viel öfter als den Prunkaufgang. Die Küche war sehr groß mit zwei großen Herden, drei großen Anrichttischen, zwei Kredenzen*, und es war noch Platz zum Tanzen. Aber es kamen Momente, wo sie beinahe zu klein wurde. Links kam man in das Aufzugzimmer und anschließend in mein Zimmer. Rechts davon waren zwei Fremdenzimmer und zwei Dienerzimmer. Geradeaus führten einige Stufen in den Tanzsaal und in zwei Speisesäle mit Garderoben. Vom Vestibül aus war das Entree für die Gäste. Die Haustüre führte in den Garten. Auf der anderen Seite des Palais waren die Kanzleien, eine kleine Wohnung für den Hausadjutanten und ein Burschenzimmer. Rückwärts im Garten waren die Stallungen, im Stock die Hausmeisterwohnung, seitwärts die Waschküche und das Bügelzimmer. Riesige Kellerräume für Obst, Wein, Gemüse und Holz. Es wurde nur mit Holz geheizt, auch in der Küche; Gas gab es keines. Es war schon der ganze Wintervorrat einge142

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kellert, den das Ärar* bezahlte; was zu wenig war, musste sich Exzellenz selbst bezahlen. Es war auch immer viel zu wenig. Unser neuer Diener, der von Beruf Kammerdiener war, sprach kein Wort Deutsch – nur Ungarisch und Rumänisch. Der zweite Diener war ein Sachse, er sprach natürlich Deutsch und machte den Dolmetsch. Aber Lajos lernte mit großem Eifer Deutsch, und es dauerte gar nicht lang, da konnten wir uns gut verständigen mit ihm. Ich musste Rumänisch lernen, wenigstens die Zahlen und die Namen vom Obst und dem Gemüse; die Marktweiber waren beinahe alle Rumäninnen. Hermannstadt war keine schöne Stadt. So viele Sprachen wie hier gesprochen wurden, hatte ich noch nirgends gehört: Deutsch, Ungarisch, Rumänisch. Die Sachsen sprachen eine uns ganz unverständliche Sprache, die schon Deutsch war; hier waren aber auch zweierlei: die Sachsen, die aus Deutschland eingewandert waren, und die Landler*, die aus Oberösterreich und Salzburg stammten und zur Zeit der Religionskriege ausgewandert waren und sich hier angesiedelt hatten – alle protestantisch. Die Landler verstehen wir ganz gut, da sie wie unsere Bauern reden. Im Verkehr mit Landfremden sprechen sie alle ein sehr hartes, aber ganz reines Deutsch. Die Zigeuner haben auch ihre eigene Sprache. Die Ämter waren alle ungarisch. Kein Briefträger konnte angeblich Deutsch, für ein gutes Trinkgeld konnte es jeder. Wochen vergingen, eh wir so weit waren, dass Ordnung im Hause war, aber ganz fertig wurden wir überhaupt nie, immer war irgendein Handwerker im Hause. Als dann endlich, nach beinahe fünf Jahren, alles in schönster Ordnung war, mussten wir fort. Zu Weihnachten kamen die drei Söhne. Seit Herbst war Béla in Wiener Neustadt. Géza war in Wien bei einem Professor in Pension und besuchte das Gymnasium, Kalksburg nahm ihn nicht mehr. Eugen war noch in Enns. Nun war Leben im Hause. Die Exzellenzen hatten nun schon große Söhne: zwei in Uniform, einer in Zivil. Béla war ein sehr tüchtiger Mensch geworden. Eugen war, wie die Exz. Frau immer sagte, ein großer Lausbub und Faulenzer, aber er kam immer gut durch in seiner 143

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Schule. Er verstand es sehr gut, mit seinen Lehrern umzugehen und hatte eine Art, dass ihm niemand böse sein konnte. Die Küche war immer der Ort, wo sie sich gerne einfanden. Es gab immer etwas zu naschen. Béla saß abends oft stundenlang bei uns in der Küche und erzählte alles Mögliche, ebenso Eugen. Géza weniger, er war immer anders als die beiden anderen und war eifersüchtig auf sie. Im blauen Salon war der Christbaum aufgestellt. Die Bescherung – so wie jedes Jahr, aber meine Schwester und ich waren gar nicht weihnachtlich gestimmt. Woran es lag, wussten wir selber nicht. Vielleicht machte es die so ganz fremde Umgebung, oder war es, weil wir so lange auf uns allein angewiesen waren? Zum Glück muss man beinahe sagen, hatten wir sehr wenig Zeit, uns solchen Betrachtungen hinzugeben. Anna war jetzt eigentlich Kammerjungfer, hatte nur die Exz. Frau zu bedienen, sehr viel zu nähen, Wäsche auszubessern usw. Die jungen Herren sorgten sehr für sie und brachten alles zerrissen mit. In der Früh ging ich zur Exz. Frau hinauf, um den Speisezettel zu machen und sonstige Befehle entgegenzunehmen. Im Laufe des Tages kam die Exz. Frau ein bis zwei Mal herunter in die Küche auf ein Tratscherl, was sie schon immer gern getan hatte, erzählte mir alles Mögliche, und auch ich erzählte meine Erfahrungen beim Einkaufen usw. Nach Neujahr wurde es wieder stiller im Hause. Schweren Herzens waren die Söhne wieder abgereist. Man konnte es ihnen nachfühlen, dass sie wohl lieber hier geblieben wären. Beim Abschied nahmen sie uns das Versprechen ab, jede Woche ein Fresspaket an sie abzuschicken. Nun gingen regelmäßig jede Woche drei Pakete ab, und regelmäßig kamen dann die Dankkarten und Wünsche für die nächste Sendung bei uns an. Ich hatte für Gugelhupfe, Torten, Käse, Salami und Sonstiges zu sorgen. Das Postfräulein machte die Pakete und sorgte für ihre Beförderung in die verschiedenen Militärschulen.

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„Es vergingen Tage, bis wieder alles in Ordnung war“ Ende Jänner wurde für die erste Gesellschaft hergerichtet. Ein Souper für sechsunddreißig Personen: hohe Militärs, die Honoratioren von Hermannstadt, Bürgermeister, Obergespan*, katholischer Pfarrer, Prinz Hohenlohe, der Sachsen-Bischof, der rumänische Bischof usw. Gedeckt wurde im Speisezimmer – die Tafel war wunderschön vom Hausgärtner mit Blumen geschmückt. Da es aber in Hermannstadt keine Wildbret-, Geflügel- und Fischhandlung gab, musste alles aus Arad, die Fische vom Plattensee bestellt werden. Ganslebern kamen aus Wien, wo wir einen bekannten Gansljuden hatten. Folgender Speisezettel war mein Debüt in Hermannstadt: 1. Kalte Fische, Fogosch* mit Aspik* und Mayonnaise 2. Gebratene Ganslebern mit Trüffeln, Butterteig, Madeirasauce 3. Rehrücken mit Salat gemischt, Orangenkörbchen mit Preiselbeeren, Erdäpfelkugerln, Rahmsauce 4. Gemüseplatten 5. Gefrorenes, Käse, Backwerk, schwarzer Kaffee, Obst, Bier, Wein, weiß und rot, Dessertwein. Vier Diener servierten, und wir mussten sehr flink sein mit dem Anrichten, dass keine Pausen zwischen zwei Speisen waren. Anna war da immer der Hansdampf an allen Ecken: Tischwäsche und Teller herausgeben, oben helfen beim Herrichten; dann stahl sie sich in die Küche, um mir etwas zu helfen, dann wieder hinauf. Erst als die Gäste da waren, half sie mir dann fertigkochen, richtete die Schüsseln, wie wir sie der Reihe nach brauchten, und half mir dann beim Anrichten. Ohne ein Wort zu reden, verrichteten wir unser Werk, aufatmend, wenn alles vorüber war. Anna legte sich bei solchen Gelegenheiten den schönen Namen „Kövess-Hund” bei, weil alles, was am Tranchierbrett liegen blieb, ihr gehörte. Trotz vieler Arbeit fand sie immer Zeit, sich diese Bissen anzueignen, und sie behauptete immer, das sei das Allerbeste, was hier liegen blieb. 145

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Als ich am nächsten Tag in die militärische Fleischbank kam, die von einem Oberst und einem Obertierarzt, der noch dazu von Gmunden stammte, geleitet wurde, umringten mich alle Herren und fragten mich um alles Mögliche aus. Der gestrige Abend war schon Tagesgespräch in Hermannstadt. Der schön gedeckte Tisch und die schön angerichteten Speisen auf den Silberschüsseln der Exz. Frau erregten Aufsehen. Es wurde immer großer Wert darauf gelegt, dass nur ganz unbeschädigtes Geschirr auf den Tisch kam. Nach dieser ersten Veranstaltung wurden nun die Herrschaften zurück eingeladen. Nun erlebten wir etwas Lustiges: Überall, wo die Herrschaften eingeladen waren, das heißt bei den bodenständigen Hermannstädtern, bekamen sie das gleiche Essen. Die Suppen und Saucen schmeckten überall gleich, die Speisen wurden nach dem gleichen Programm angerichtet. Exz. Frau wunderte sich oft darüber, bis wir draufkamen, dass in allen sächsischen Häusern die gleiche Aushilfsköchin kochte. In den ungarischen und in den Offiziersfamilien war alles anders und auch viel besser. Die Kocherei der Sachsen ist wenig gut – für unseren Wiener Geschmack wenigstens. Ich will nur eine Suppe erwähnen, an der sich die Sachsen delektierten, und zwar die sogenannte Egrischsuppe. Grüne, unreife Egrisch (Stachelbeeren) wurden gekocht, dann kam sehr viel Rahm dazu und der entsetzliche, luftgeselchte Speck, der schon grüne und gelbe Ränder haben musste, wurde würflig hineingeschnitten. Wie sie richtig gemacht wurde, weiß ich nicht – ich verstand ihre Küchenausdrücke schlecht. Aber in der Egrischzeit roch man sie aus jedem Haus. Ende Februar war der erste Hausball. Es waren über hundert Personen geladen; nur ganz wenige Absagen kamen. Tanz- und Speisesaal wurden mit Palmen und Blattpflanzen geschmückt, ein Teil der Regimentskapelle spielte zum Tanz auf. Damals gab es noch keinen Jazz. Das alles zu erstellen war Pflicht des Hausadjutanten – ein Oberleutnant, der sich immer als Ungar aufspielte, aber ein Sachse war. Nun kamen heiße Tage und Nächte. Nun hieß es kochen, braten, backen und sieden. Tage zuvor standen wir schon bis ein oder zwei Uhr in der 146

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Nacht in der Küche, und um halb sechs hieß es wieder aufstehen. Exz. Herr ritt zeitig in der Früh aus – Sommer und Winter bei jedem Wetter. Beide Öfen waren in Betrieb, und nun kam der Moment, wo die große Küche zu klein wurde. Neben der Küche war ein großes Fremdenzimmer, wo es sehr kalt war; dorthin stellten wir die fertigen Schüsseln. Am Tag des Balls hatte ich auch die Hausmeisterin, die in der Offiziersmesse* Köchin war, zum Helfen da. Leider war sie halb taub, und es war anstrengend, sich mit ihr zu verständigen. Auch hatte sie das Talent, meine Küche, die ich selbst beim größten Rummel immer so ziemlich in Ordnung hielt, in einer halben Stunde in einen Stall zu verwandeln. Sie warf alles auf den Boden, überall war ausgeschüttet usw. Das machte mich ganz unglücklich. Ich höre heute noch die Exz. Frau, als sie in die Küche kam: „Um Gottes willen, wie schaut’s denn da aus!“, das war sie nicht gewöhnt. Die Hausmeisterin konnte zwar sehr gut kochen, aber sie war ein Schweindl. An die Mauer geworfen, wäre sie picken* geblieben! Wie oft meine Schwester an diesem Tag die eine Stiege hinauf, die andere herunter gelaufen ist, wäre zählenswert gewesen, aber die Exz. Frau behauptete, das Stiegenlaufen wäre gesund. Das ist Ansichtssache und taugt nicht für jeden. Endlich waren wir so weit, dass mit dem Aufstellen des Buffets begonnen werden konnte. Kaltes Buffet zum ersten Ball: 25 Stück Poularden 4 ganze Lungenbraten glaciert mit saurem Gemüse 6 ganze Schinken mit Aspik 2 ganze Rehschlögel mit Sauce Cumberland Gansleberpasteten, verschiedene Formen in Aspik gesulzte Mayonnaisen, Salmis*, Zungen mit Kren und Rettichen, Fische in Aspik, verschiedene Sandwichs, gemischte Salate Kompotte, Orangensalat, Torten, Backwerk, Gefrorenes Tee, Limonaden, Wein. Die ersten Gäste kamen, die Musikanten stimmten ihre Inst147

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rumente. Es war ein schönes Bild: die vielen Uniformen, die schönen, jungen Mädchen – und auch die weniger schönen und jungen –, aber alle gut gekleidet. Es wurde getanzt. Exz. Herr tanzte fest mit, Exz. Frau nur die Quadrille. In der Pause wurde das Buffet eröffnet. Da vergaßen wohl viele ihre gute Erziehung. Im Nu waren die Schüsseln leer, aber ich hatte noch Reserven. Die Musikanten bekamen Schweinsbraten, Salat, Mehlspeisen, Bier und Zigaretten. Rattenkahl kamen die Schüsseln zurück; was sie nicht essen konnten, wanderte in die Geigenkästen. Manch heitere Episode spielte sich da ab. So sah unser Diener Lajos, wie der Hausadjutant mit einer großen Tasse Kugler-Bonbons* in einem der kleinen Garderobenzimmer verschwand, die Bonbons in ein Tuch schüttete und dasselbe dann hinter einen großen Spiegel steckte; durch einen andern Spiegel sah ihm der Diener zu. Als er den Adjutanten tanzen sah, nahm er die Bonbons aus dem Tuch und gab stattdessen alles Mögliche hinein: Weinkapseln, Salzstangelstückln und so Verschiedenes. Die Bonbons trug er in mein Zimmer. Leider sahen wir das enttäuschte Gesicht des Herrn Oberleutnant nicht, als er die Verwandlung entdeckte. Wir freuten uns alle; Schadenfreude ist eine der schönsten Freuden, es ist zwar nicht schön, aber der Herr Oberleutnant war auch mit uns nicht der Feinste. Und die Erfahrung habe ich oft im Leben gemacht, so auch hier: Je höher der Herr, desto liebenswürdiger und freundlicher ist er mit seinen Untergebenen. Exz. Herr war immer freundlich zu uns, mancher Feldwebel trug den Kopf höher als er. Und der Herr Oberleutnant bildete sich gar oft ein, er sei der Korpskommandant. Damit will ich aber nicht sagen, dass alle so waren; es gab auch unter den jungen Offizieren sehr nette Menschen, die auch für einen Dienstboten ein „Bitte“ und „Danke“ übrig hatten. Viele der jungen Offiziere schnürten sich ganze Fresspakete und machten sich in den Garderoben zu schaffen, um dieselben in ihren Mänteln verschwinden zu lassen. Schinkenknochen, wo noch viel drauf war, waren ein beliebtes Diebesgut. Aber da drückte Lajos die Augen zu, denen war es vergönnt. Ein Major 148

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steckte für seine Kinder Bonbons ein, rückwärts im Waffenrock, vergaß es dann und setzte sich nieder – das Malheur war fertig. Das sah auch die Exz. Frau und lachte drüber. So gab es manches zur Aufheiterung, aber auch viel Ärger. Wie alles auf der Welt verging auch so eine lange Nacht. Schmutziges Geschirr türmte sich zu unheimlichen Bergen auf, reines und schmutziges wurde aufeinandergestellt, und man hätte zehn Augen und zwanzig Hände haben müssen, um etwas Ordnung hineinbringen zu können. Allmählich gelang es dann doch. Von Schlafen war natürlich keine Rede, höchstens kurze Zeit, dann wurde Kaffee gekocht und weitergearbeitet: die Reste, was noch zu verwenden war, sortiert, Geschirr gewaschen, Glas und Silber geputzt, Tanz- und Speisesaal wieder in Ordnung gebracht. Die Möbel, Sessel und Bänke, die mit rotem Damast überzogen waren, mussten mit Benzin behandelt werden; es war alles voll Flecken. Es vergingen Tage, bis wieder alles in Ordnung war. Dann hieß es bald wieder, für ein zweites Fest vorbereiten. Nun kam die ältere Gesellschaft dran. Mit diesem Fest waren die Repräsentationsfeste abgeschlossen. Kleinere Veranstaltungen waren aber an der Tagesordnung. Es kamen auch jeden Moment aus Wien Inspizierungen; diese Herren mussten dann eingeladen werden. Im Mai 1912 kam Erzherzog Leopold. Ihm zu Ehren wurde ein großes Diner gegeben: Gedeckt wurde im Tanzsaal, Militärmusik, feierlicher Einzug unter den Klängen des „Gott erhalte“, Exz. Frau am Arm des Erzherzogs als einzige Dame – sonst lauter Herren. Diner für Erzherzog Leopold am 14. Mai 1912: 1. Suppe klar – Consommé* 2. Fogosch kalt mit Aspik und grüner Mayonnaise 3. Lungenbraten mit Gemüse garniert: Karfiol*, Paradeiser*, Fisolen*, Erbsen, Spinat, Karotten 4. Spargel mit Sauce Hollandaise 5. Junge Hühner mit Trüffelfüllung, gemischter Salat, Kompotte 6. Artischocken gefüllt 149

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Eiscreme, Waffeln, Biskotten; Käseplatten Schwarzer Kaffee weiße und rote Weine, Dessertweine, Champagner Obst: Erdbeeren, Kirschen, Ananas. Was mich immer sehr erfreute: Exzellenz kam nach jeder großen Veranstaltung in die Küche, bedankte sich für meine Mühe und belobte* mich: „Es hat allen Herrschaften gut geschmeckt.“ Die Exz. Frau dagegen fand nie ein Wort der Anerkennung. Das musste so sein; zu dem bin ich da. Es ist aber nicht wahr. Sie hat sehr viel von mir verlangt – eine andere hätte ihr das ohne Küchenmädchen überhaupt nicht gemacht. Es ist auch nur gegangen, weil meine Schwester hier war, wir gut eingearbeitet waren und mich meine Nerven nie im Stich gelassen haben. Es war nicht immer leicht da unten in Hermannstadt, nicht wie in Wien, wo man einfach zum Geflügelhändler geht und einkauft. Dort hatte man immer die Sorge: „Hoffentlich versagt die Post nicht und alles kommt zur rechten Zeit an!“ Es kam öfter vor, dass an Tagen, wo die Gesellschaft – ein Diner oder ein Souper – sein sollte, noch keine der bestellten Sachen hier war. Oft kamen sie wirklich erst im letzten Moment. Das war dann natürlich eine Hetzjagd. Oder statt Rehrücken und Schlögeln wurden manchmal einfach ganze Rehe geliefert, die ich dann zuerst selber abziehen und tranchieren musste. Irgendetwas war immer, aber zum Schluss klappte es doch. Beim Einkaufen ließ mir die Exz. Frau freie Hand. Geknausert wurde nicht; es sollte nur alles gut, schön und genug sein. Die verschiedenen Reste wurden weiterverwendet. Bei sämtlichen Geschäftsleuten in Hermannstadt war die Exz. Frau beliebt, denn sie kehrte nirgends die Kommandeuse heraus, unterhielt sich gern und freundlich und war vor allem eine pünktliche Zahlerin. Das Wort Schulden kam in diesem Haushalt nie vor. Es wurde nie über die Verhältnisse gelebt, aber alles war immer gut und schön.

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„Beim Turmbau zu Babel kann es auch nicht vielsprachiger gewesen sein“ Nun ging es dem ersten Sommer entgegen. Der Garten war ein Paradies, verwandelt alles in schönster Blüte: ganze Wände Weißdorn, Jasmin und die schön blühenden japanischen Quittensträucher. Auch echte Quittenäpfel und Birnenbäume, feine Apfel- und Birnensorten, Ribisel*, Stachelbeeren und Nüsse. Die Einkochzeit begann. Exz. Frau schaffte einen Rexapparat* an, und so wie die Natur es der Reihe nach reifen und wachsen ließ, so wurde es eingekocht. Hauptsächlich viel Spargel, Erbsen und Obst von allen Sorten. Der Hermannstädter Markt war um diese Zeit einfach wunderbar. Das Gemüse war zu Bergen aufgehäuft und spottbillig – im Gegensatz zu Wien und Innsbruck geschenkt. Herrliches Obst, die Zigeunerinnen brachten in selbst geflochtenen Binsenkörbchen alle Gattungen Beerenfrüchte und Schwämme; alles so frisch, gerade vom Wald in die Stadt. Kuhmilch und -butter gab es hier nicht, nur Büffelmilch und -butter, die sehr gut war, ganz rein im Geschmack, wenn die Büffel rein gehalten wurden. Am Dienstag und Freitag war Wochenmarkt. Da kamen ganze Karawanen von Büffelgespannen mit Gemüse und Obst in die Stadt. Es kommt oft vor, wenn Büffel Wasser sehen, dass sie nicht mehr zu halten sind und samt Wagen und Inhalt in den Fluss gehen. Keine Macht bringt sie wieder heraus, ehe sie es nicht freiwillig tun. Es sind hässliche und mitunter sehr gefährliche Tiere. So ein Wochenmarkttag war sehr interessant. Der größte Teil der Leute noch in ihren Trachten: Die sächsischen Frauen in weiten, schwarzen Röcken, ebensolchen Spenzern* und gestickten Schürzen; am Kopf ein Tuch, so gebunden, dass man kein Haar sah, und darauf ein breiter, weißer Strohhut mit schwarzem Band. Die Mädchen trugen damals wenigstens noch hängende Zöpfe mit bunten Bändern eingeflochten. Die Sonntagstracht war besonders reich bestickt. Die rumänischen Frauen trugen weiße Röcke, an den Seiten fein gefältelt, vorne und hinten schwarze, gold- und silbergestickte Cätrinte*, eine 151

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Art Schürze, ärmellose Leibchen aus Tuch und weiße Hemden mit langen, weiten Ärmeln mit schwarzen Stickereien und fein gehäkelten, schwarzen Spitzen, am Kopf schwarze Fransentücher, sehr kokett gebunden. Alle Rumänen – Frauen und Männer – tragen Sommer wie Winter den Schafpelz, dessen Leder schön bunt gestickt ist. Im Winter wird der Pelz nach innen, im Sommer nach außen getragen. Auch ungarische Trachten und schöne Zigeunerinnen, meist in Lumpen gekleidet oder in rumänischer Tracht, sah man viele. Ein buntes Bild – und ein Geschrei! Besonders die Rumänen stritten immer, es kam auch zum Raufen. Und diese vielen Sprachen. Beim Turmbau zu Babel kann es auch nicht vielsprachiger gewesen sein. Feilgeboten wurde hier alles, was man sich denken kann: Obst, Gemüse, Milch, Rahm, Butter, Eier – in solchen Massen, wie ich es nirgends gesehen habe; lebendes Geflügel, aber alles sehr mager und schlecht gefüttert; Pferde, Schweine, Getreide, landwirtschaftliche Geräte und hausgesponnenes Leinen. Auf schweren Leinendecken arbeiteten hauptsächlich die Sachsen im Kreuzstich Sprüche ein. Ihre Wohnungen waren ganz behängt mit solchen Arbeiten – auch die der Bauern. Die Rumänen webten aus Schafwolle bunte Tücher in sehr grellen Farben, aber man fand nie zwei gleiche, jedes war anders. Eine Zigeunerin kam immer ins Palais und brachte sehr schöne Decken und Vorhänge. Exz. Frau kaufte diese Sachen gern, und wir beide kauften auch Verschiedenes, besonders handgewebte Handtücher, die sehr billig und sehr haltbar waren. Zu den Ferien waren die Söhne wieder heimgekehrt. Exz. Herr war sehr viel fort auf Inspizierungen, dann kamen die Manöver. In der Zeit ging die Exz. Frau mit ihren Söhnen auf die sogenannte „Hohe Rinne“. Das war hoch in den siebenbürgischen Karpaten, wo sich verschiedene Hermannstädter Familien Sommervillen geschaffen hatten und auch ein bewirtschaftetes Militärkurhaus war. Man fuhr sechs Stunden im Wagen hinauf. Nun konnten auch wir daran denken, uns die Umgebung von Hermannstadt anzuschauen. Es gab aber nicht viel zu se152

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hen. Die Hermannstädter hatten nur ein Ziel, das war der Junge Wald – der einzige Ausflugsort. Dort gab es ein Gasthaus und eine Jausenstation. Auf freien Plätzen tanzten die Sachsen, getrennt davon die Rumänen, was ganz interessant war. An Sonntagen zogen ganze Scharen sächsischer und rumänischer Dienstmädchen an uns vorüber. Zehn bis zwölf hielten sich an den Händen und gingen lachend und schreiend, so breit die Straße war. Keine Frau würde von ihrem Mädchen verlangen, zu Hause zu bleiben – es würde auch keine tun. Wo das nicht erlaubt war, blieb keine Magd, wie sie dort sagten. In der Herbstzeit war dieser Junge Wald sehr schön – lauter Eichen und Buchen. Wir wären gerne oft tiefer in den Wald gegangen, aber dort wurde es einsam. Die Hermannstädter gingen nicht weiter, so mussten wir immer wieder umkehren, weil man fortwährend von Zigeunern belästigt wurde. Mit einem bemalten Holzkreuz in der Hand kamen sie einem entgegen. Man hatte Angst, die Geldtasche aufzumachen; gab man ihnen nichts, wurde man verflucht. Wir verstanden es zwar nicht, aber in ihren Mienen sahen wir keine Segenswünsche. Um Exz. Frau hatten wir oft Sorgen, weil sie ganz allein da herumging, aber sie lachte uns immer nur aus. Es wurde Herbst, die Söhne rückten wieder in ihre Schulen ein, die Exz. Frau fuhr nach Wien. Nach ihrer Rückkehr begann wieder das Gesellschaftsleben. So verging Jahr um Jahr – immer mit dem gleichen Programm, und doch auch wieder anders. Géza war nun ganz in Hermannstadt, hatte sich einen Hühnerhof angelegt, der viel Geld kostete und gar keinen Gewinn abwarf. Es war nur eine Spielerei, bei der hauptsächlich der Hausmeister einen Gewinn hatte: Die Hühner verschwanden – angeblich holte sie der Fuchs. Eier sah man beinahe nie, aber das machte nichts. Der Hausmeister mästete sich ein Bäuchlein an und betrog den Géza, wo er nur konnte. Géza hatte jetzt einen Hauslehrer aus Wien, der im Palais wohnte und seine liebe Not mit seinem Zögling hatte. In der Früh holte er ihn aus dem Bett und tagsüber zehnmal aus dem Hühnerhof, der ihm wichtiger war als das Lernen. Freude hatte Exz. Herr keine mit seinem Sohn Géza. Der Hauslehrer hatte 153

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immer nur Schwierigkeiten mit ihm. Trotz allem brachte er ihn doch so weit, dass er im Herbst 1914 in das deutsche Gymnasium in Mährisch-Weißkirchen* aufgenommen wurde. Im Jahr 1914, als die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht von Leipzig begangen wurde, kam der damalige Fürst Schwarzenberg nach Hermannstadt, um einer Denkmalsenthüllung seines Ahnherrn beizuwohnen. Es war ein großes Fest mit anschließender Tafel bei uns. Es war das letzte der Feste und das letzte Diner, das ich kochte. Dann kam die Ermordung des Thronfolgerpaares und der Krieg. Der junge Fürst Schwarzenberg, der so fröhlich war, war eines der ersten Kriegsopfer in Serbien, wo er an Ruhr starb.

„Jetzt kommt was Furchtbares!“ Am 29. Juni 1914 kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht der Ermordung, die Prinz Hohenlohe, unser katholischer Pfarrer, Exzellenz überbrachte. Es dauerte keine halbe Stunde, waren alle Offiziere bei Exzellenz versammelt. Lange wussten wir nicht, was das zu bedeuten hatte. Nur Lajos kam einmal herunter und meinte, es müsse was passiert sein. Endlich kam Géza, erzählte, was geschehen war. Ich höre heute noch die prophetischen Worte: „Jetzt kommt was Furchtbares!“ Er sollte nur zu recht haben. Es kam die Mobilisierung, der Krieg. Exz. Herr fuhr nach Wien zum Leichenbegängnis. Er sollte eigentlich damals in Pension gehen, nach 40-jähriger Dienstzeit. Exz. Conrad riet aber ab, Exzellenz solle abwarten. Und wirklich: Anstatt in Pension zu gehen, zog Exzellenz am 10. August 1914 an die russische Front ab mit seinem ganzen Korps. Es war ein trauriger Abschied. Exzellenz sagte: „Bleiben Sie nur bei der gnädigen Frau, vor Mai werde ich wohl nicht kommen.“ Es vergingen aber vier Maien, ehe wir Exzellenz wiedersahen. Aber auch Béla wurde am 1. August zum Leutnant ausge­ mustert und kam sofort nach Innsbruck zum 1. Tiroler Kaiser­ jäger*-Regiment. Schon am 19. August ging er mit dem Regi154

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ment nach Galizien ab. Exz. Frau fuhr nach Pest und brachte zwei Tage am dortigen Bahnhof zu, um Béla noch einmal zu sehen, konnte ihn noch eine halbe Stunde sprechen. Es war ein letztes Wiedersehen: Am 29. August wurde er bei Rawa-Ruska durch einen Kopfschuss schwer verwundet und starb am 3. September in einem Spital in Uhnow, wo er auch begraben liegt. Uhnow war aber damals schon von den Russen besetzt, und so kam lange keine Nachricht. Exz. Frau erfuhr es durch einen Kondolenzbrief, den einer seiner Freunde geschrieben hatte. Wir getrauten uns nicht, den Brief der Exz. Frau zu geben, gaben ihn Géza, der ihn öffnete und sich mit dem Ruf „Béla ist gefallen!“ auf die Stiege setzte, wo wir drei Bediensteten standen. In diesem Moment kam die Exz. Frau. Géza raunte uns noch zu, nichts zu sagen, und verschwand. Wir gingen mit Exzellenz herunter in die Küche, da ich gerade für die Verwundeten am Kochen war – Rindssuppe mit Semmelknödel. Exz. Frau schaute uns wohl prüfend an, denn sie merkte schon unsere Verstörtheit. Ich musste alle meine Willenskraft zusammennehmen, um überhaupt reden zu können, und betete im Geheimen, dass sie endlich gehen möge. Auch Géza wartete diesen Moment ab. Nun hielten wir Rat, wie wir Exz. Frau das Furchtbare sagen werden – alle drei hatten wir nicht den Mut. So holte Anna schließlich eine gute Freundin der Exzellenz; die übernahm diese Aufgabe zwar auch sehr ungern, aber tat es doch. Als die Dame wieder weg war, gingen wir hinauf. Exz. Frau sprach mit sich selbst, und wir hörten gerade, als sie sagte: „Mir ist es immer zu gut gegangen, über mich musste etwas kommen …“, weiter verstanden wir nichts mehr. Nun nahm ich all meinen Mut zusammen. Exzellenz saß ganz zusammengesunken in einem Sessel. Als sie mich sah, meinte sie: „Sie wollen mir wohl Ihr Beileid sagen?“ – „Nein, Exz. Frau, vielleicht ist es ja auch gar nicht wahr, ich hoffe es, sonst hätte man doch vom Regiment aus die Exzellenz und auch den Exz. Herrn verständigt. Vielleicht ist es nur ein Gerücht, das in Innsbruck verbreitet wird. Es kann sich auch um eine Verwundung oder Gefangenschaft handeln.“ Aber ich hat155

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te selber das Gefühl, dass es leider Wahrheit ist und ich nur leere Worte sprach. Exz. Frau sagte dann, sie habe seit Tagen immer eine Ahnung gehabt, dass irgendetwas kommen würde, und nun sei es da. Es war ein tränenloser Schmerz. Exz. Frau machte alles mit sich selber ab, und wir merkten, dass es ihr lieber wäre, wenn wir sie allein ließen. Diesen Tag werden wir beide wohl nie vergessen. Am nächsten musste auch Géza fort in seine Schule nach MährischWeißkirchen. Nun waren wir mit Exzellenz ganz allein. Wochenlang ging sie nicht aus dem Haus. Vom Exz. Herrn kam täglich Post, aber er konnte von dem schweren Verlust noch gar nichts wissen. Dann raffte sich Exzellenz doch so weit auf, Exz. Herrn zu benachrichtigen, doch hatte es Exz. Herr inzwischen erfahren. Lajos schrieb uns davon: „Exzellenz ist ganz vernichtet, isst nichts und spricht seit Tagen nichts mehr.“ Ganz verwunden hat Exz. Herr den Tod seines Sohnes überhaupt nie. Wenige Monate vor seinem Tod sprach Exzellenz mit sich selbst im Badezimmer, wobei er immer die Worte wiederholte: „Béla, lieber Béla!“ Exz. Herr war auch ein Mensch, der alles mit sich selbst abmachte, und ich glaube, selbst seine Frau wusste wenig von seinem Innenleben. Nur Béla hatte sein ganzes Vertrauen, und nur ihm gegenüber sprach er sich aus – er wäre sein zweites Ich geworden. Leider hat es Gott anders beschlossen. Mit der Zeit legte sich bei Exz. Frau dieser Zustand, dass sie niemanden sehen wollte, und es traten auch Pflichten an sie heran als Präsidentin vom Roten Kreuz. Exz. Frau ging wieder in die Spitäler inspizieren. Auch ins Wäschemagazin und in die Abgabenstelle holten sie die andern Damen wieder, und so war auch für sie Arbeit die beste Medizin. Es gab sehr viel zu tun. Auch wir beide hatten alle möglichen Arbeiten zu machen, besonders kochen für Verwundete. Große Kannen Tee mussten wir an den Bahnhof befördern. Es blieb uns wenig Zeit zum Nachdenken. Inzwischen war auch unser einziger Bruder an die russische Front gegangen – wieder eine neue Sorge mehr. Vor Weihnachten fuhr Exz. Frau nach Wien, wohin auch Eugen kam, der jetzt in Mährisch-Weißkirchen in der Oberre156

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alschule war. Géza, der, anstatt bei seiner Mutter zu bleiben, nach Hermannstadt fuhr, musste aber den Heiligen Abend im Zug verbringen und kam zwölf Stunden später an, also am Fünfundzwanzigsten. Es ist ihm aber ganz recht geschehen; mit Hermannstadt verband ihn gar nichts, und in Wien ließ er Mutter und Bruder allein. Exz. Frau ist wohl deshalb fort, um den Erinnerungen an die verflossenen Weihnachten zu entgehen. Bis Ende Februar waren wir mit einem Diener allein in dem großen Palais. Einmal hieß es, die Russen wären schon in Kronstadt*. Viele Familien verließen damals Hermannstadt. Sie kamen aber doch nicht so weit. Als dann Exz. Frau zurückkam, beruhigten sich wieder die Gemüter. Unser Haushalt war klein und ruhig geworden, das war ganz ungewohnt nach dem Trubel und den Hetzjagden der vergangenen Jahre. Exz. Frau versorgte uns mit Wolle, und nun strickten wir unzählige Paar Socken, Schneehauben, Pulsund Kniewärmer für das Vaterland. Géza kam nach Hermannstadt zurück und rückte als Einjährig-Freiwilliger* ein. Ein Jahr nach dem anderen verging. Exz. Herr holte sich große Erfolge und war bis zum fünften Rang gekommen: Feldmarschall.

„... wir mussten beinahe alles im Stich lassen und fliehen“ Und so kam das für uns so denkwürdige und bewegte Jahr 1916 heran. Gleich nach Neujahr musste sich Eugen im Wiener Garnisonsspital einer Blinddarmoperation unterziehen, die glücklich vorüberging. Exz. Frau war bei ihm. Zur Rekonvaleszenz nahm ihn Exz. Frau nach Hermannstadt mit. Zwei Stunden vor der Ankunft war in Hermannstadt ein ziemlich starkes Erdbeben; alles bewegte sich, Luster und Bilder fielen herunter, alles war voll Staub und Mörtel – wir hatten eben alles geputzt. Das Glasdach ober der Diele bewegte sich und krachte in allen Fugen. Ich nahm meine Schwester bei der Hand und hatte nur einen Gedanken: „Aus dem Haus hinaus!“ Die Herrschaften hatten im fahrenden Zug gar nichts verspürt. Als wir erzählten, 157

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dass wir ausgelaufen seien, meinte die Exz. Frau: „So, und an meine Sachen habt ihr gar nicht gedacht?“ Aber ich glaube, das wäre so ganz unmöglich gewesen – eher kann man vor Feuer und Wasser etwas retten. Meine Schwester Anna holte sich damals einen kleinen Nervenschock. Es waren wochenlang kleine Erschütterungen zu spüren; da fing sie oft zu weinen an. Anfang Juni kam nach einem sehr heißen Tag und einer heißen Nacht am Morgen ein furchtbarer Hagel. Im Garten war alles vernichtet. Laub und Fruchtknoten lagen am Boden, der Garten – in eine Winterlandschaft verwandelt. Voll Entsetzen kam Anna herunter; beide standen wir beim Fenster und schauten diesem traurigen Vernichtungswerk zu. In so einem Augenblick fragt man sich: „Warum lässt der liebe Herrgott so viel wachsen, wenn er es wieder vernichtet?“ Es wird auch seinen Grund haben. Der nächste Hagelschlag ging über die Stadt selbst hinweg, die Felder und umliegenden Dörfer waren nur strichweise davon berührt. Unser schönes Obst im Garten war für dieses Jahr verloren, aber wir hätten es auch im andern Falle nicht mehr ernten können. Ende August kam die Kriegserklärung Rumäniens, und wir mussten beinahe alles im Stich lassen und fliehen. Es wurde schon lange davon gesprochen, und sehr oft versuchten Anna und ich die Exz. Frau zu veranlassen, ihre vielen und schönen Sachen in Sicherheit zu bringen. Sie wollte nicht recht, entschloss sich dann endlich, Silber, Teppiche, Wäsche und Geschirr nach Wien zu schicken, alles andere blieb hier. Wir beide schickten alle unsere entbehrlichen Sachen nach Steyr zu den Eltern, schon ein Jahr zuvor. Als Géza dann nach Hermannstadt kam und erfuhr, dass Exzellenz einen Teil ihrer Sachen weggeschickt hatte, schimpfte er, nannte mich ein altes Weib, das die Mama nervös mache und wollte durchaus alles wieder retour haben. Glücklicherweise blieb die Exzellenz standhaft, und es blieb alles in Wien. In der Nacht von Sonntag auf Montag, den 28. August, war es im Stallgebäude und in den Kanzleien, auch auf der Straße, besonders unruhig. Die Burschen des Nachfolgers vom Exz. Herrn packten ein. Anna kam herunter. Wir konnten 158

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aber nichts erfahren, gingen wieder schlafen, standen wieder auf und wanderten so die ganze Nacht ruhelos hin und her, bis endlich um vier Uhr in der Früh an der Haustür Sturm geläutet wurde. Ein Leutnant kam mit dem Befehl: „Binnen vier Stunden muss die Stadt geräumt sein, den Befehl an Exz. Frau weitergeben!“ Was wir die ganze Nacht nur geahnt hatten, war da. Wie wir beide über die Stiege kamen, weiß ich nicht mehr. Zuerst weckten wir die beiden jungen Herren, dann Exz. Frau. So schnell waren sie wohl noch nie aus den Betten. Eine Schwester des Exz. Herrn und ihre Tochter aus Wien waren da; auch die wurden aufgeweckt, und nun ging es ans Packen. Eugen bewährte sich sehr gut. Gottlob, dass er hier war! Er ging sofort auf das Korpskommando und verlangte dort ein Lastauto, er bekam es zwar nicht, aber ein Wagen der elektrischen Straßenbahn wurde zum Palais beordert. Bis neun Uhr hatten wir 36 große Körbe und Koffer gepackt mit militärischen Schriften, Uniformen, Wäsche, Kleidern und dem Allernotwendigsten. Als wir uns zufällig im Spiegel sahen, erschraken wir vor uns selber – beide waren wir grün im Gesicht und ganz verstört. Aber es hieß durchhalten. Im letzten Moment füllte ich noch einen großen Koffer voll mit Mehl, Grieß, Zucker und was mir in der Speis* gerade in die Hände kam. Anna kam noch mit Zwirn, Bandeln und sonstigen Nähsachen. Exz. Frau meinte zwar, wir würden die Sachen nie erhalten, lachte uns beinahe aus; aber ich wusste schon, was ich tat, las ich doch in den Zeitungen von der Lebensmittelnot in Wien. Wir hatten ja dieselbe noch gar nicht kennengelernt. Hätte mir die Exz. Frau gefolgt und früher alles weggeschickt, sie wäre vor großem Schaden bewahrt geblieben. Sie hätte es vielleicht noch getan, aber Géza war dagegen. Sein Wort galt schon damals alles, um mich besser auszudrücken: Sein Wort war ein Befehl! So energisch die Exz. Frau war, ihrem Sohn gegenüber getraute sie sich nicht aufzumucken – aber auch nur dem gegenüber. Nun war der Abschied von Hermannstadt da, besonders leid tat es uns nicht, aber auf diese Art war es zu traurig. Auf der Fahrt zum Bahnhof dachten wir an unsere Ankunft vor fünf Jahren. 159

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Ganz Hermannstadt war auf den Beinen, alles beladen mit Koffern und Paketen, alles strebte dem Bahnhof zu. Dort stand ein langer Zug für uns Flüchtlinge bereit. In Viehwagen hatten sich bereits viele mit Kind und Kegel, Haustieren und Möbel wohnlich eingerichtet; die kamen schon von den Grenzgebieten nach Hermannstadt. Exz. Frau bekam zwei kleine Abteile zugewiesen, eines für die Herrschaften, eines für uns zwei und den Diener. Plötzlich erschienen zwei Flieger. Wo eben noch wüster Lärm war – auf einmal Totenstille. Alles glaubte an feindliche Flieger. Ein paar Bomben in diese Menschenmassen, und wir alle wären „gewesen“. Sie kamen tief herunter, man sah das schwarze Kreuz, es waren Deutsche – ein Aufatmen und ein „Gott sei Dank!“ Von der Ferne hörten wir schon Kanonendonner. Als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, sprachen wir ein Dankgebet. Es sollte eine lange Reise werden – auf jeder Station endloser Aufenthalt. Die Straßen, die nach Klausenburg* führten, das auch unser Ziel war, waren überfüllt mit Pferde- und Büffelgespannen. Auf den Wagen führten die Flüchtlinge ihr ganzes bewegliches Eigentum fort. Am nächsten Morgen kamen wir nach Klausenburg – sonst eine Fahrt von vier Stunden. Hier wurden wir auswaggoniert*, und bekamen vom Bahnhofskommando drei Zimmer angewiesen im gräflichen Palais Karatsonyi, wo wir zwei Tage blieben. Am ersten Nachmittag trafen wir plötzlich unseren Diener Lajos und den Adjutanten des Exz. Herrn. Die beiden waren knapp nach unserer Abreise nach Hermannstadt gekommen, um uns behilflich zu sein. Exz. Herr hatte sie geschickt. Sie brachten ein großes Lastauto mit, luden es mit Möbeln voll und brachten es in Sicherheit. Am zweiten Tag setzten wir unsere Reise gegen Budapest fort. Es war eine Geduldsprobe! Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Tage wir fuhren, eigentlich standen. In einer kleinen ungarischen Bahnstation standen Bauern und Bäuerinnen und verteilten Brot und Äpfel an die Flüchtlinge. Eine Frau reichte mir einen Riesenlaib Brot, der kaum durch das Coupéfenster ging. Als ich fragte, was es koste, meinte sie auf Ungarisch: „Nichts, gar nichts.“ Ich bedankte 160

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mich schön, und es kamen mir ganz ungewollt die Tränen. Sie riefen uns alle nach, wir mögen es uns gut schmecken lassen, und alle fingen zu weinen an, als wir abfuhren. Den Brotlaib nahm ich mit nach Wien und brachte ihn meiner Schwester, die ganz glücklich war darüber, denn in Wien gab es nur Maisbrot. Endlich waren wir in Budapest, ganz krank und zerschlagen. Der Bahnhof war überfüllt mit Verwundeten, es roch nach Blut – eine furchtbare Luft! Meiner Schwester wurde schlecht. Von was wir eigentlich die ganze Fahrt gelebt haben, weiß ich nicht. Es war nirgends eine Gelegenheit; eigentlich bekam man nichts. Hier bekamen wir endlich einen heißen Kaffee und konnten uns etwas reinigen. Nun ging die Reise nach Wien. Gottlob, das war überstanden! Noch am Bahnhof telegraphierten wir unseren Eltern, dann fuhren wir zu unserer Schwester, die uns aufnahm. Exz. Frau fuhr in die Pension, wo sie immer abstieg, die beiden jungen Herren nach Mödling in die Kadettenschule, wo sie angesagt waren. Exz. Frau nahm eine Notwohnung. Bis die Möbel kamen, hatten wir Urlaub und fuhren zu den Eltern, die wir beinahe sechs Jahre nicht gesehen hatten. Nach drei Wochen mussten wir wieder einrücken – wieder einmal Wohnung einrichten. Von den geretteten Sachen kam so ziemlich alles an. Vieles wurde auch gestohlen, aber der Lebensmittelkoffer kam zu meiner Freude an; für die erste Zeit waren wir versorgt. Im Geheimen war wohl auch die Exz. Frau erfreut, aber auch uns einmal eine kleine Anerkennung und ein Lob sagen, das haben wir nie erlebt – und werden es auch nicht erleben. Auch sonst erhielten wir nie etwas außer dem Weihnachtsgeschenk, einer Kleinigkeit zum Namenstag, hie und da einmal eine Theaterkarte – das war alles. Verwöhnt wurden wir nie von Exz. Frau, aber gefordert hat sie sehr viel von uns, manchmal weit über unsere Kräfte. Die Wohnung war nur klein, sie war überhaupt nur als Notwohnung gedacht. Im Schweiße unseres Angesichtes arbeiteten Anna und ich. Es war eine sehr schwere Arbeit, man kam nicht vorwärts. Jedes Stück musste erst ein Tischler wieder gebrauchsfähig machen. Durch den Transport im offenen Auto 161

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hatte alles gelitten. Überhaupt: Es war ein Durcheinander; alle früheren Übersiedlungen waren ein Kinderspiel. Und warum? Hätte die Exz. Frau auf unsere Worte und nicht auf die ihres Sohnes gehört, und wäre alles so, wie es sich gehört, verpackt gewesen, wäre die Exz. Frau vor großem Schaden bewahrt worden. Hätte man nur einen kleinen Blick in die Zukunft werfen können damals, so hätten wir auch trotz allem in Hermannstadt bleiben können. Die Stadt wurde zwar beschossen, aber die Rumänen getrauten sich nicht in die Stadt; sie glaubten sie von unseren Truppen besetzt, was aber gar nicht der Fall war. Sie scheinen schlecht unterrichtet gewesen zu sein – zum Glück! Nach sechs Wochen war es möglich, dass Exz. Frau, ihr Neffe, ein Diener und ich nach Hermannstadt zurück konnten, um all die anderen Sachen zu holen. Das Palais war vom deutschen General Falkenhayn und seinem Stab bewohnt. Nur widerwillig erlaubten die Deutschen, dass sich die Exzellenz ihr Eigentum holte. Unser ganzes Winterholz war schon verbrannt, und wären wir nur ein paar Tage später gekommen, so hätten auch die Möbel daran glauben müssen. Ein Teil war schon im Holzkeller. Der Feind hätte nicht ärger hausen können. Es war zum Weinen: Die schönen Seidensteppdecken, auf denen lagen die Pferdewärter im Stall; die ganzen Kisten mit Winterkleidern waren leer, mein schönes Küchengeschirr war in einem unbeschreiblichen Zustand. Ich will mich hier nicht weiter ausdrücken, aber dass sie überall Barbaren genannt wurden, das haben sie verdient. Nun waren wir auch da so weit, dass man den Möbelwagen bestellen konnte, den wir dann noch zur Bahn begleiteten. Exzellenz gab uns zwei Ruhetage; wir waren beide mit unseren Kräften fertig. Mit einem Spaziergang in den Jungen Wald schlossen wir unseren Hermannstädter Aufenthalt ab. Aber was war aus dem schönen Wald geworden? Kreuz und quer von Schützengräben durchzogen, hausgroße Granattrichter, zerschossene Geschütze, Gewehre, Stiefel, in denen noch der Fuß steckte – ein grauenvoller Anblick, dem wir gerne den Rücken wandten. 162

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Viele der Einheimischen waren schon wieder zurückgekehrt. Es war Not an Lebensmitteln, aber dank meinen guten Beziehungen zu den verschiedenen Geschäften und Händlerinnen konnte ich doch eine große Kiste mit Lebensmitteln nach Wien mitbringen. Sehr froh war ich, als ich wieder in Wien war. Wenn ich heute so nachdenke über die Erlebnisse des Jahres 1916, so kommt mir alles wie ein böser Traum vor. Das Jahr, das uns so übel mitgespielt hat, hatte kurz vor seiner Vollendung noch etwas für uns aufgehoben. Zu den Weihnachtstagen fuhr die Exz. Frau mit den beiden Söhnen in die Bukowina, um Exz. Herrn zu besuchen. Wir durften zu den Eltern und freuten uns, nach so vielen Jahren wieder einmal den Heiligen Abend mit den Eltern verleben zu können. Aber unsere Freude wurde sehr getrübt: Am Dreiundzwanzigsten erlitt unser alter Vater einen Gehirnschlag. Er erholte sich zwar bald wieder, aber die Freude war getrübt. Nach Neujahr ging es wieder nach Wien zurück.

„Die nun folgende Zeit war aufregend und sorgenvoll“ Die beiden Söhne waren nur samstags und sonntags zu Hause; die anderen Tage waren wir meistens allein. Exz. Frau ging auch in Wien in Spitäler und nahm an allen möglichen Aktionen teil. Die Zeit verging im ewigen Kampf um Lebensmittel. Im Oktober 1917 feierten die Herrschaften ihre silberne Hochzeit – Exz. Frau in Wien, Exz. Herr an der Front. Im Jänner 1918 starb unser guter Vater im 79. Lebensjahr. Mein Bruder war noch immer an der Front, seit beinahe Anfang des Krieges. Im Frühjahr 1918 sahen wir nach beinahe vier Jahren Exz. Herrn wieder. Er kam auf längeren Urlaub; an der russischen Front war Frieden geschlossen worden. Exz. Herr wollte nicht in Wien bleiben, er war erholungsbedürftig nach all den Jahren. Und so fuhr Exz. Frau nach Altaussee, um eine Wohnung zu mieten. Unser altes Haus von früher war leider nicht frei. Ich hätte es mir nie träumen lassen, dass ich doch noch ein163

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mal nach Altaussee kommen würde. Wir verbrachten dort einen schönen Sommer. Alle meine lieben Bekannten von früher hatten mich nicht vergessen und mich auch gleich wieder erkannt. Nur unser alter Hausherr von damals war nicht mehr am Leben, aber die alte Hausfrau, der ich am Weg zur Kirche begegnete, erkannte mich sofort wieder und rief aus: „Au, ‘s is’ die Marie!“ Sie hatte – eigentlich auch ich – Tränen in den Augen und konnte mir nicht genug die Hand drücken. Mitte August wurde Exz. Herr dienstlich nach Wien befohlen; ich musste mit. Nach acht Tagen fuhren wir wieder nach Aussee zurück. Mitte September musste Exz. Herr wieder nach Wien, ich wieder mit. Leider musste Exzellenz aber an die serbische Front, wo alles schiefging. Nun hieß es einpacken; der Diener, der auf Urlaub war, musste zurück. Nun kam auch die Exz. Frau nach Wien, um Abschied zu nehmen. Als Exzellenz fort war, fuhren wir wieder nach Aussee zurück. Es war ein ewiges Hin und Her. Géza war irgendwo in Italien an der Front. Er war aber mehr auf Urlaub als sonst etwas. Eugen war in Altaussee während der Ferien. Bis Mitte Oktober blieben wir in Aussee, dann nahmen wir Abschied, wie ich glaube, für immer. Nun wurde auch Eugen zum Leutnant ausgemustert und rüstete sich zur Abreise an die Front. Er kam aber nur mehr bis nach Zell am See – der Krieg war aus, der Umsturz da. Wieder kamen bange Tage. Exz. Herr war irgendwo in Serbien; Eugen war wohl in Sicherheit, doch wussten wir es nicht, da in dem allgemeinen Durcheinander keine Post kam. Géza war in Wien; er hatte wie gewöhnlich gerade wieder einmal Urlaub, und so ist er der italienischen Gefangenschaft entgangen. Unser Bruder, der auch an der italienischen Front war, ging mit mehreren Kameraden zu Fuß durch ganz Tirol*, dann über den Krimmler Tauern bis nach Zell am See, von dort dann mit der Bahn nach Hause. Er wurde mit der silbernen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Endlich kam auch Exz. Herr und dann auch Eugen wieder, beide in einer sehr traurigen Stimmung, besonders Exz. Herr. All seine Aufopferung, seine schönen Siege, die ganze große 164

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Arbeit seines Lebens – alles war umsonst! Anstatt Ehren zu empfangen, wurde er verdächtigt, Uniformstoffe bezogen zu haben, und zwar hieß es 840 Meter, die er nie bezahlt habe. Zum Glück hatte Exzellenz die Rechnung, die saldierte 8 Meter und 40 Zentimeter Tuch, das er vom Monturdepot angefordert und auch bezahlt hatte. Der damalige Soldatenrat musste es zwar widerrufen, aber geglaubt haben es wirklich nur die Menschen, die Exzellenz gut gekannt haben. Denn in dieser Beziehung war Exz. Herr sehr streng, erlaubte er doch in Hermannstadt nicht einmal seiner eigenen Familie, sein Dienstauto zu benützen. Nun wurde die Wohnung zu klein, und Exz. Frau war immer auf der Suche nach einer größeren, die sich endlich 1919, im Mai, fand. Wieder einmal übersiedelten wir. Unser Bruder, der noch arbeitslos war, kam nach Wien und war uns ein guter praktischer Helfer. Es gab keine Arbeit, wo er nicht zugriff, reparierte alles Mögliche. Es dauerte einige Wochen bis alles am Platz war. Kaum waren wir fertig, auf den Tag genau, bekam er ein Telegramm von Mutter, er müsse sofort nach Hause kommen. Er erhielt eine Anstellung beim Steyrer Magistrat. Die nun folgende Zeit war aufregend und sorgenvoll. In Ungarn war die Räteregierung ausgerufen, Exz. Herr bekam lange Zeit keine Pension, Béla Kun und Genossen regierten. Exz. Herr war in sehr gedrückter Stimmung, beinahe lebensüberdrüssig. Während des ganzen Krieges als Sieger an allen Fronten, sein ganzes Leben dem Vaterland geopfert, seinen Lieblingssohn verloren, immer nur das Beste wollend – und nun dieser Undank. Die geliebte Uniform durfte nicht mehr getragen werden, aber mit den Zivilkleidern fand sich Exzellenz beinahe gar nicht zurecht. Das Binden der Krawatte versetzte ihn oft in maßlose Aufregung. Ich traf ihn einmal beim Haustor, seinen Regenschirm verfluchend, den er nicht aufbrachte. Es war ja auch ein fremder Begriff für ihn, der nie einen Regenschirm getragen hatte. Das ganze Vermögen war in ungarischer Kriegsanleihe* gezeichnet – wertloses Papier! Es musste Geld aufgenommen werden; die beiden Söhne ohne Arbeit und Stellung, und Ex165

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zellenz selbst zum Nichtstun verurteilt. Er, der immer so fleißig war, sich immer mit allem Möglichen beschäftigte. Dies alles, der ganze Zusammenbruch der Monarchie, bedrückte ihn schwer. Ich bedauerte ihn sehr. Nie, die ganzen Jahre, die ich im Hause war, hörte ich ein böses Wort von ihm. Auch seine Diener, alle waren immer bestrebt, ihm alles recht und gut zu machen. Nun hatte er auch keinen Diener mehr, was er sehr vermisste. Er ließ sich nur ungern von Frauen bedienen. Es kam halt alles zusammen. Selbstverständlich wirkte sich das alles auch auf uns aus. Meiner Schwester wurde es schließlich zu viel: Die große Wohnung, die vielen Sachen, vier Herren – da auch ein Freund der jungen Herren bei uns war – und die Exz. Frau, die auch gewohnt war, bedient zu werden. Hilfe wollte die Exzellenz keine nehmen, so verließ uns meine Schwester und ging wieder zur Schneiderei zurück nach Steyr – und sie tat gut daran. Zu all dem kam noch, dass unsere Wohnung zu groß befunden, und zwei Zimmer zwangsvermietet wurden an einen Herrn mit einem Hund, der nun auch noch zu bedienen war. Er war einer jener Menschen, die damals, ohne zu arbeiten, herrlich und in Freuden lebten von Börsen und Kartenspiel. Er hatte Geld wie Heu! Einerseits gab er es mit vollen Händen aus, andererseits musste ich mich jedes Monat herumstreiten um das Frühstücksgeld und sonstige Ausgaben, die ich für ihn auslegte. Zwei bis drei Freundinnen kamen immer ins Haus, die ihn auf die gemeinste Art wurzten*, aber da zahlte er, ohne mit einer Wimper zu zucken, große Schneiderrechnungen und Italienreisen. Aber wie gewonnen, so zerronnen! Vier Jahre wohnte er hier. Im letzten Jahr musste er sich einen Pfleger nehmen; durch sein ausschweifendes Leben war er zur Ruine geworden, konnte seinen Zahlungen nicht mehr nachkommen. Schließlich starb er, verlassen von allen seinen Freundinnen, arm und einsam im Lainzer Versorgungshaus*. Nachdem meine Schwester Anna weg war, nahm Exzellenz ein älteres Stubenmädchen; die blieb ein Jahr, dann verließ sie uns, und nun machte ich beinahe zwei Jahre die ganze Arbeit allein, hie und da wurde eine Putzfrau genommen. 166

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Es waren harte Jahre. Ein Augenleiden, aus der Kinderzeit datierend, befiel mich, und zwar so arg, dass ich dem Erblinden nahe war. Viele Monate war ich in Behandlung im Allgemeinen Krankenhaus, aber keine Besserung trat ein. Manchmal befiel mich eine solche Mutlosigkeit, dass ich auf Selbstmordgedanken kam. In meiner Verzweiflung ging ich endlich zu einem Augenspezialisten, der nach der ersten Untersuchung ein sehr bedenkliches Gesicht machte und zur Operation riet, vorerst aber noch ein Mittel ausprobierte, das zwar furchtbar schmerzhaft war – aber ich hielt stand. Als ich nach zwei Tagen wieder zum Arzt kam, war er selber verblüfft über die wunderbare Wirkung und meinte, an mir wäre ein Wunder geschehen. Ich selbst hatte schon am ersten Tage bemerkt, dass der Nebel heller geworden war. Die Operation war unnötig geworden; ich dankte meinem Herrgott. Es folgte eine viermonatige, sehr, sehr schmerzhafte Behandlung. An den Tagen, wo ich zum Arzt musste, war ich kaum fähig zu arbeiten, und es wartete immer so viel Arbeit auf mich. Ich glaube, die Exzellenz machte sich gar keine Vorstellung, wie schlecht es um mich gestanden ist. Sie ließ mich Kohlentragen vom Keller. Als ich sie darum bat, sie möge doch jemanden nehmen, da meinte sie, das hätte sie noch nicht gehört, dass man, wenn man augenkrank sei, nicht schwer tragen solle – obwohl es mir der Arzt streng verboten hatte! Nun wandte ich mich an den Herrn Feldmarschall, der sehr erstaunt war, dass ich zu ihm mit dieser Bitte kam, aber sofort bereit war, mir jemanden zu nehmen. Als die Behandlung zu Ende war, schrieb der Arzt einen Brief an die Herrschaften, dass sie mir einen längeren Urlaub geben müssten, den ich auch erhielt. Aber ich hatte mir vorgenommen, wenn ich Ende August 1923 nach Wien zurückkomme, putze ich noch die Wohnung, bringe alles in Ordnung und dann verlasse ich das Haus, wo ich so viele Jahre meine Pflicht – und noch darüber hinaus – getan habe, und wo man so wenig Rücksicht auf mich genommen hat. Als ich dann zurückkam, waren tags zuvor die Herrschaften von einer Reise zurückgekommen, und zu meiner größten Überraschung war ein 167

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zweites Mädchen aufgenommen worden. Nun überlegte ich mir die Kündigung noch einmal: Habe ich schon die schlechte und harte Zeit mitgemacht, warum sollte ich jetzt, wo es leichter für mich würde, gehen? Die sechs Wochen Urlaub hatten mich wieder gestärkt, ich konnte wieder arbeiten, sah wieder gut und war meinem Arzt und Wohltäter von ganzem Herzen dankbar. Nicht nur, dass er mir mein Augenlicht wiedergab, auch sonst war er sehr human gewesen. Als er mich fragte, wer mir die Behandlung bezahle, und ich ihm sagen musste: „Ich muss es mir selber bezahlen“, da rechnete er mir nur die Hälfte für jede Ordination, und im letzten Monat zahlte ich gar nichts mehr. Der Arzt freute sich selber, dass ihm meine Heilung gelungen war. Ehre seinem Angedenken! Ein Jahr später starb er, leider.

„Ich hatte meinen Beschützer verloren“ In dem folgenden Winter begann bei uns wieder ein reges Leben. Es gab wieder Gäste, man erhielt Lebensmittel, Exz. Herr bekam seine Pension nachgezahlt. Der ungarische Staat verlieh ihm eine Großtrafik*, in die der jüngste Sohn Eugen als Leiter kam und schöne Einnahmen zu verzeichnen hatte. Exz. Herr wurde nun auch wieder fröhlicher, äußerlich wenigstens. Innerlich machte ihm die Trafik wenig Freude. Es war wohl auch nicht die Belohnung, die er sich erhofft hatte. Vielleicht täusche ich mich auch. Es waren sehr viele Unannehmlichkeiten damit verbunden. Alle Augenblicke musste der Exzellenz Herr nach Pest. Es kamen dann noch zwei Teilhaber dazu – Neid und Missgunst spielten eine große Rolle. Am 30. März 1924 feierte Exz. Herr seinen 70. Geburtstag, der für ihn zu einem großen Freudentag wurde. Er wurde von allen Seiten geehrt, alle seine alten Kameraden erschienen zur Gratulation und sehr viele Soldaten, die unter ihm gedient hatten. Alle Mitglieder des Kaiserhauses telegraphierten, der König Ferdinand von Bulgarien schickte einen großen Korb mit Wein. Auch sonst kamen alle möglichen Geschenke; vor al168

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lem aber Blumen – so viele, dass wir gar nicht mehr wussten, wohin damit. Exz. Herr war sonst ein Feind davon, dass seine Person so in den Vordergrund gehoben wurde; diese Ehrung freute ihn, und er war sehr gerührt. Es sollte seine letzte Geburtstagsfeier sein. Im Sommer waren die Herrschaften auf ein ungarisches Gut eingeladen. Ich bekam Urlaub nach Steyr zu meiner Mutter und Geschwistern. Mariechen, unser Stubenmädchen, fuhr in ihre Heimat. Anfang September kamen wir wieder nach Wien, wo wir uns gleich über das Putzen der Wohnung machten. Am 21. September, es war ein Sonntag, ging Exz. Frau in die Kirche und machte dann noch einen Spaziergang. Als sie nach Hause kam, fand sie den Exz. Herrn am Boden liegend, tief bewusstlos auf. Eine Stunde zuvor traf ich Exz. Herrn noch im Vorzimmer, wo er eben seine Rauchschale ausleerte. Als er ins Zimmer zurückkehrte, hatte er nicht mehr Zeit, dieselbe aus der Hand zu stellen – mit der Schale in der Hand lag er am Boden. Tief erschrocken rief mich die Exz. Frau. Meine Schwester Rosa, die gerade bei mir war, suchte die ganze Umgebung nach einem Arzt ab. Man sollte es nicht glauben, dass es in Wien auch unmöglich sein kann, einen Arzt zu finden. Selbst unser Hausarzt war nicht zu erreichen. Endlich kam sie mit dem Arzt aus dem Theresianum*, der nur einen Blick auf Exz. Herrn warf, der uns genug sagte: ein schwerer Gehirnschlag, dem Exz. Herr am Montag um fünf Uhr früh erlag, ohne noch einmal zu Bewusstsein gekommen zu sein. Im letzten Moment war ich mit Exz. Herrn ganz allein; er machte noch einmal die Augen auf, ich hatte das Gefühl, er erkannte mich, dann ein tiefer Seufzer, und ein edles Herz hatte zu schlagen aufgehört. Ich hatte meinen Beschützer verloren. Gerade an diesem Sonntagvormittag war Exz. Herr in so guter Laune gewesen; er neckte unser junges Stubenmädchen, das er sehr gern hatte. Vom Exz. Herrn stammte auch der Name „Mariechen“ für sie. Baron Géza war gar nicht zu Hause, Eugen wurde telegraphisch berufen, traf aber seinen Vater nicht mehr lebend an. Meine Schwester Anna wurde berufen, sie kam auch. Exz. Herr wurde in seinem Zimmer aufgebahrt, 169

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dann am dritten Tag ins Militärkasino überführt. Von dort wurde der Kondukt* bis zum Kriegsministerium und dann zur ungarischen Schiffsstation geführt, auf einen Schlepper verladen und in Pest auf dem Heldenfriedhof zur ewigen Ruhe bestattet. Gott geb ihm die ewige Ruhe! Exz. Frau fuhr mit den beiden Söhnen nach Pest. Meine Schwester Anna, Mariechen und ich blieben allein in der Wohnung. Wir drei betrauerten Exz. Herrn aufs Tiefste; für jede von uns hatte er immer ein liebenswürdiges Wort bereit. Er schätzte unsere Pflichterfüllung; selber ein eiserner Pflichtenmensch, schätzte er es auch an anderen. Eine große Lücke entstand in unserm Haushalt. Mariechen und ich hatten immer das Gefühl, jetzt müsste die Küchentür aufgehen und Exzellenz heimkommen, mit seiner immer gleich bleibenden Freundlichkeit eine Bitte auszusprechen – nie einen Befehl. Er sagte nie anders als „Bitte, liebe Marie“ oder „Mariechen“. Wie viel wir an Exz. Herrn verloren, kam uns mit jedem Tag von Neuem zu Bewusstsein. Bis über Neujahr war es still geworden, aber dann ging es wieder langsam an. Es wurde am Sonntag der Jour eingeführt, und es dauerte nicht lange, so war das Bienenhaus wieder fertig. Die Exzellenz hielt so ein ruhiges Leben nicht aus. Eine von uns hatte doch Ausgang, die andere war dann allein. Zwei Jahre machte ich diesen Rummel mit, dann setzte ich der Exzellenz auseinander, dass ich da nicht mehr mittun würde. Es sei zu viel für eine, sie möge entweder eine Aushilfe nehmen oder den Jour auf einen Wochentag verlegen. Die ganze Arbeit ging mir überhaupt gegen den Strich. Gäste zu bedienen, servieren waren nie mein Fall. Wenn es geheißen hätte, den ganzen Nachmittag kochen, hätte ich kein Wort verloren. Exz. Frau lachte mich aus, es fiele ihr gar nicht ein, wegen mir das umzuändern, ich solle es mir zur Ehre anrechnen usw. Für diese Ehre bedankte ich mich. Wenn es noch die Herrschaften von früher her gewesen wären, die ich alle kannte und die alle immer nett und freundlich waren, aber es waren lauter Unbekannte. Mit einem „Nie!“, ließ mich die Exzellenz stehen. Es blieb mir nichts anderes übrig als weiterzuschinden oder mir 170

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selbst jemanden zu nehmen, was ich dann auch wirklich tat. Natürlich musste ich mir diese Hilfe auch selbst bezahlen. Nun will ich aber diese meine Weigerung auch näher begründen und ein ungefähres Bild eines solchen Sonntags machen: Schon am Samstag waren Torten, Teestangerln und Laibchen für Sandwichs zu machen. Am Sonntag war aber auch zu Mittag immer jemand zum Essen da, das aus Suppe, Vorspeise, Braten mit allen möglichen Zutaten, Mehlspeise, Obst und schwarzem Kaffee bestand. Ganze Berge Sandwichs mussten für den Nachmittag vorbereitet werden. Mariechen war schon sehr tüchtig. Sie griff überall zu, konnte alles, und ich brauchte mich um Verschiedenes gar nicht mehr zu kümmern. Nach dem Essen war natürlich eine Unmasse Geschirr abzuwaschen, und dann musste gleich zum Tee hergerichtet und die Spieltische aufgestellt werden. Dann ging die eine weg, und die zu Hause Gebliebene rannte, rannte von der Tür ins Speisezimmer, in die Küche den Tee machen, einschenken, alles herumservieren usw. Es kamen oft bis zu fünfzig Personen. Von fünf bis acht Uhr war ein ewiges Kommen und Gehen. Die Bridgespieler blieben auch meist zum Abendessen, da gab es Würstel, Schinken, Wein, Bier, Salate. Bis zum Abendessen war die vom Ausgang wieder hier. In der ersten Zeit reinigten wir auch das Geschirr, aber dann stellten wir alles zusammen und unterhielten uns am Montagvormittag damit. Mariechen hatte oft geschwollene Füße und jammerte, traute sich aber nichts zu sagen, weil sie immer glaubte, die Exzellenz würde sie weggeben, und sie wollte sich ein längeres Zeugnis erringen. Aber Exzellenz hätte sie auch gar nicht weggegeben, weil sie ganz gut wusste, was Mariechen für eine gute Kraft war. Das Trinkgeld war recht minimal. Mariechen machte einmal die sehr richtige Bemerkung: Wenn die Leute kämen, da ließen sie sich am liebsten bis aufs Hemd ausziehen und sich vor den gedeckten Tisch tragen, aber wenn sie gingen, da sei ihnen am liebsten, wenn man nicht im Vorzimmer sei. Es ist kaum zu glauben, wie gut es manche Menschen verstehen. Mit einem lieb sein sollenden Lächeln und einem freundlichem Adieu 171

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sind sie bei der Tür draußen, obwohl ihnen der Sonntag nicht allein Vergnügen, sondern auch gutes Essen, wohl durchwärmte Zimmer und schön beleuchtete Räume gebracht hat. Exz. Frau war immer so stolz auf ihre gut besuchten Jours, und ich machte gelegentlich die Bemerkung, es würde mich interessieren, ob all diese Leute auch kommen würden, wenn die Bewirtung nicht so gut wäre. Exzellenz meinte: „Oh ja, ganz bestimmt!“ Ich bezweifelte es, und wie sollte ich eines Tages Recht haben! Eugen, der in Pest die Trafik leitete, machte Exz. Frau oft aufmerksam, sie solle diese Bewirtungen auflassen, es werde in Pest beredet. Aber die Exzellenz wollte in dieser Beziehung nichts hören. Um dieses viele Geld hätte ich mir schon ein schöneres Vergnügen geleistet, als all diese Schmarotzer zu füttern. Das ging so fort bis zum Jahre 1928, als ein harter Schlag kam, auch für mich: An Weihnachten 1928 war Eugen hier in Wien bei uns, fuhr am letzten Dezember nach Pest zurück. Wer mir gesagt hätte, dass es ein Abschied für immer sein sollte, den hätte ich ausgelacht – und doch war es so. Gesund und lustig reiste er ab, und nach zwanzig Tagen war er einer schweren Lungenentzündung erlegen. Nun hatte ich wieder einen mir gut gesinnten Menschen verloren. Ich war immer so gewissermaßen seine Vertraute. Sein erster Weg war immer in die Küche. Exz. Frau war oft eifersüchtig und sagte recht böse: „Warst natürlich zuerst in der Küche!“, was er immer mit einem „Jawohl, liebe Mutter“ beantwortete. Nun war auch das aus und vorbei. Wäre er mein Sohn gewesen, ich hätte ihn nicht tiefer betrauern können. Nun war alles tot, was gut und lieb in diesem Hause war – der Rest ist Schweigen. Meine Schwester Anna war zu der Zeit auch in Wien wie jedes Jahr in der stillen Saison, wo sie immer nähen kam und die Kleider der Exz. Frau in Ordnung brachte. Nun saßen wir drei wieder beisammen, in tiefster Trauer vereint. Es ist unfassbar, dass dieser fesche, lustige und gute Mensch so bald sterben musste – Schicksal, das unbeirrt seinen Weg geht.

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Johanna Gramlinger

„Und so will ich beginnen, alles aufzuschreiben ...“ Ja, nun habe ich wieder einmal das kleine, versperrbare Büchlein gelesen mit dem festen Vorsatz, dass es diesmal das letzte Mal sei. Immer hatte ich eine Ausrede, es gäbe keinen Ofen, um dieses Geschreibsel endlich zu verheizen. Aber ich komme so oft zur Donau, wo ich es hineinschmeißen könnte, also ist es nur eine faule Ausrede. Ich will mich ganz einfach nicht davon trennen. Die ersten zwei Seiten sind gar so schnulzig, wahrscheinlich habe ich gerade ein Courths-Mahler-Buch* gelesen, das mich zu so einem unmöglichen Gefasel inspiriert hat. Dieses hübsche Büchlein habe ich mir buchstäblich vom Munde abgespart, denn ich wollte eines zum Versperren, und da gab es nichts Billigeres. Aber je weiter ich lese, desto besser kann ich mich in diese Stimmung versetzen, und es ist alles so geschildert, wie es wirklich war. Es ist nicht etwa so, dass es mich traurig macht, im Gegenteil, es macht mich froh. Sind es schöne Stunden, die mir da deutlich in den Sinn kommen, freu’ ich mich, dass ich sie erlebt habe. Nun, deren sind es nicht allzu viele. Sind es bittere Erinnerungen, freu ich mich, dass diese hinter mir liegen. Hoffentlich versäume ich nicht, mein vieles Geschreibsel zu vernichten, wenn es mit mir zu Ende geht, denn junge Leute könnten sicher nicht begreifen, dass es vor sechzig Jahren so war. Vielleicht haben sie Humor und würden lachen, vielleicht aber würden sie nachdenklich und sähen, wie gut sie es in manchen Dingen haben. Wie frei sie über ihre Probleme sprechen können, wie sie in allem und jedem beraten werden, was 173

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meine Generation erst in vielen Jahren erkunden musste – und erkämpfen. Wie viele schwere Pflastersteine am Weg lagen, die man mühsam wegschaffen musste, und manche davon so schwer, dass man oft Jahre dazu brauchte. Ja, die Pflastersteine! Große und kleine. Viele sind es, die am Weg liegen. Ich muss gestehen, dass ich mir eine ganze Menge selbst in den Weg gelegt habe – und wie schwer sind manche gewesen! Ich wollte so gern etwas werden, keine Mühe war mir zu groß, keine Entbehrungen zu bitter. Und wie viel Enttäuschung gab es da. Kaum glaubte ich, meine Schwingen erheben zu können, wurden die Flügel auch schon wieder gestutzt. Aber versagt habe ich nie, wenn es nur auf mich allein ankam. Mir kam oft vor, ich würde alles schaffen, wenn man mir nur eine Möglichkeit gäbe, mich beweisen zu können. Aber leider, ich wurde in eine Zeit geboren, wo alles Mühen vergeblich war. 1914 bis 1918 Krieg, dann die schwere Nachkriegszeit. Wie viel Hunger, Not und Elend gab es da und keine Aussicht auf bessere Tage. Mein grünes Büchlein habe ich jäh abgebrochen – ohne Schlusswort, aber mit der bitteren Anklage, warum man seine jungen Jahre so tatenlos verbringen muss. Jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert, könnte ich ja meine Hände ruhig in den Schoß legen, aber das kann und will ich noch nicht. Mit meinen täglichen Arbeiten bin ich nicht ausgelastet, und so will ich beginnen, alles aufzuschreiben, an was ich mich erinnern kann. Und sicher macht es mir Freude, wenn ich meinen Weg verfolgen kann, wie alles war, und wie es kam, dass ich so wurde, wie ich bin. Ja, da muss ich weit zurückdenken, an die Eltern meiner Eltern, an meine Großeltern also, dann werde ich vielleicht manches begreifen, an was ich eigentlich nie gedacht habe, weil nie davon gesprochen wurde. Von den Eltern meines Vaters weiß ich nur, dass sie einen Bauernhof hatten, dass sich seine Eltern aber nicht gut verstanden und sich trennten. Dies war in der damaligen Zeit für Bauern etwas Ungeheuerliches. Seine Mutter arbeitete dann auf der Bahn, ich glaube, Unkraut putzte sie zwischen den Geleisen. Ich kannte sie kaum. Sie besuchte uns nie und wir sie auch nicht. Meinen Großvater sah ich überhaupt nie. 174

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Mein Vater sprach nie über seine Sippe, aber dies erzählte er uns öfter: Er kam mit zwölf Jahren zu einem Bauern, wo er fleißig arbeiten musste. Wenn der Bauer mit seinen Ochsen die Felder bestellte, musste er diese führen, damit sie richtig gingen. Da kam es oft vor, dass sie nicht so gingen, wie der Bauer wollte, dann schrie er: „Du hundshäutiger Rotzbua*, kannst nicht aufpassen!“, und schon sauste die Geißel über die Ochsen und meinen Vater. Dies erzählte uns der Vater öfter, aber es war keine besondere Bitternis in ihm, er wollte uns nur sagen, wie gut wir es haben, weil wir keine Ochsen führen müssen und auch nicht wissen, wie eine Geißel schmeckt. So war es kein Wunder, dass Vater kalt und lieblos war, da er kein richtiges Elternhaus gehabt und nie Liebe empfangen hatte. Er hatte eine Schwester und einen Bruder, die auch in Attnang lebten, ebenso seine Mutter, aber wir hatten zu niemandem einen Kontakt. Mein Vater sprach nie davon, also weiß ich nicht, warum. An meine Großmutter mütterlicherseits erinnere ich mich sehr gut. Was war das für ein armes Weiblein! Den Großvater kannte ich kaum, er war eher mürrisch. Die hatten ein kleines Häusl, außerhalb von Pinsdorf auf einer Anhöhe, mit einer kleinen Landwirtschaft. Ich glaube, zehn bis zwölf Kinder hatten sie. Mein Großvater war in der nahen Sägemühle beschäftigt, aber meine Großmutter sah nie viel von seinem Verdienst, denn er war oft betrunken. Meine Großmutter musste oft mit den Kindern in den nahen Wald flüchten bei Nacht, weil er so gewalttätig war. Ja, an meine Großmutter erinnere ich mich gut, sie war sehr lieb zu mir. Wenn ich bedenke, was sie alles geschafft hat trotz der vielen Kinder, kann ich mich nur wundern, dass ein Mensch das leisten kann. Tagtäglich fuhr sie mit einem zweirädrigen Wagen mit vielen Milch- und Rahmkannen den weiten Weg nach Gmunden zu ihren Kunden – sommers und winters, bei Regen und Schnee, ohne gutes Schuhwerk. Heimzu war der Karren genauso schwer, denn da hatte sie die Gefäße mit Sautrank voll. Ich kenn’ die Strecke, und es ist mir unfassbar, dass ein Mensch das jahrelang leisten kann. (...) 175

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„Als Kinder vermissten wir das freilich nicht ...“ Nun will ich mich als gereifter Mensch meiner Eltern erinnern und objektiv ihre Eigenschaften durchdenken. Es gab bei ihnen kaum Missverständnisse. Sie waren sich immer einig, wenn es Probleme zu lösen gab. Streit oder lautes Geschrei gab es nie. War es, weil sie in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, oder haben sie sich so gut aneinander angepasst? Fest steht, dass bei uns nie gestritten wurde. Auch in der Kindererziehung waren sie sich immer einig, und zwar waren beide gleich streng. Sie waren ehrliche, fleißige, bescheidene und gottesfürchtige Menschen und kerngesund. Sie brauchten bis ins hohe Alter keinen Arzt, weder für sich noch für uns Kinder. Mein Vater hatte bis zu seinem Tode mit 76 Jahren noch sein vollständiges Gebiss – allerdings etwas bräunlich vom Rauchen. Aber Zahnarzt brauchte er nie einen. Der Verdienst meines Vaters war sehr klein, da er bei der Bahn keine Prüfungen machen wollte, denn das erste Mal schaffte er es nicht, und dann verdross es ihn, noch einmal anzutreten. Also, strebsam war er nicht, da er die Flinte so leicht ins Korn warf. Gott sei Dank haben meine Brüder und ich diese Eigenschaft nicht geerbt. Wir waren alle sehr strebsam und scheuten keine Mühe und Entbehrungen, um etwas zu erreichen. Andererseits war Vater wieder fleißig und ging zu bekannten Bauern arbeiten, wann immer er Zeit hatte und gebraucht wurde. Auch Mutter ging oft mit, um wieder Lebensmittel zu bekommen, damit sie unsere Mäuler stopfen konnte, denn hungern brauchten wir nie, nicht einmal als Strafe. Wir waren Allesesser – ein Nörgeln gab es nicht. So kann ich wohl sagen, dass wir Kinder in sehr geordneten, friedlichen Verhältnissen aufgewachsen sind. Wenn ich heute sehe, wie viel Streit es in manchen Familien um Nichtigkeiten gibt trotz des Wohlstandes, kann ich nur denken, wie zufrieden und glücklich wir trotz unserer Armut lebten. Aber es gab auch viel Kummer, Leid und Sorge für meine Eltern, denn wir Kinder sorgten schon dafür und legten allerhand Pflastersteine auf ihren Weg, an denen sie oft hart tragen 176

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mussten. Auch ein großer Mühlstein war dabei, der uns allen schwer zu schaffen machte. Aber ohne überheblich zu sein, möchte ich denken, dass wir meist schuldlos waren. Es waren die Umstände und die harten Zeiten, die uns das Leben oft so schwer machten. Eines aber kannten wir Kinder nicht – nämlich ein klein bisschen Liebe. Als Kinder vermissten wir das freilich nicht, denn wir kamen nie in eine fremde Wohnung, und es kann wohl so sein, dass es in unserer Nachbarschaft auch so und nicht anders war, aber das weiß ich nicht. Wir wurden jedenfalls nie geküsst oder gestreichelt und kaum einmal gelobt. Ein Gratulieren gab es nicht, weder zum Namenstag, Geburtstag noch zu den Jahresfesten. Es gab nie Gäste oder irgendeine Feier. Auch zwischen den Eltern gab es weder ein Küssen noch ein Gratulieren noch sonst irgendwelche Zärtlichkeiten. Wenn mein Vater in den Dienst ging, sagte er nie einen Gruß, weder zu Mutter noch zu uns. Wir Kinder wurden von der Mutter angehalten, „Pfüat Gott, Vater“ zu sagen, wenn er wegging, dann machte er einen freundlichen Brummer als Antwort. Aber es war nicht etwa so, dass er verärgert gewesen wäre oder launisch, nein, überhaupt nicht. Scheinbar hatte er das als Kind nie gesehen und auch später als Erwachsener nichts dazugelernt. Bei Mutter dürfte es so ähnlich gewesen sein, denn sie fand das ganz in Ordnung, und es kränkte sie ganz bestimmt nicht. Verzärtelt wurden wir jedenfalls keineswegs, und so wurden wir Kinder auch ziemlich harte Knochen. Eigentlich war dies ein gutes Rüstzeug, um den Stürmen des Lebens gewachsen zu sein. Freilich, wenn ich sehe, wie antiautoritär die Kinder heute erzogen werden, muss ich denken, dass man in dieser Hinsicht von einem Extrem ins andere fällt. Ich gönne es den Kindern und der Jugend sehr, dass die Eltern ihnen so viel Verständnis und Liebe entgegenbringen. Nur leider geschieht jetzt wieder des Guten zu viel, und sie nehmen alles selbstverständlich und oft ohne Dank entgegen. In dieser Hinsicht waren wir wirklich arm dran. Wir durften weder eine Meinung noch einen Willen und auch keine Wünsche haben. Es gab nur eines: Keine Widerrede und immer gehorchen! 177

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Als wir Kinder waren, hatten unsere Eltern nicht viel Plage mit uns. Wir lernten alle gut und ohne Ermahnen, und es gab daher auch nie Ärger mit den Zeugnissen. Freilich, immer folgten wir nicht, denn wir waren sehr lebhaft und lustig und verübten wohl auch manche Streiche. Nun, dann gab es entweder Watschen oder mit einer Rute oder einem Stecken etwas auf das Hinterteil. Da hatten es meine Brüder besser, denn diese hatten eine Hose an, ich aber nicht; das Kitterl kam hinauf, und so klatschte es auf den nackten Hintern. Das merkten wir uns wieder eine Weile. Als Strafe mussten wir auch öfter Scheitelknien, das war eine schlimme Angelegenheit. Da mussten wir uns aus dem Ofenloch ein paar Scheiter auf den Fußboden legen und draufknien. Leider waren dies aber nie flache Hölzer, sondern kantige, und das tat gar weh in den Knien. Außerdem dauerte dies länger als Prügel – je nach Vergehen. Also schätzten wir Schläge mehr, denn wir wollten ja so schnell wie möglich zu unseren Freunden kommen, die immer schon auf uns warteten. Johanna Gramlinger erzählt, bevor sie das eigene Leben Revue passieren lässt, mehr oder weniger ausführlich die Lebensgeschichten ihrer Großeltern, ihrer Eltern, sämtlicher Onkel und Tanten und ihrer vier älteren Geschwister. Ihre zwei Brüder absolvierten eine Schlosserlehre, heirateten und hatten Kinder. Eine Schwester lebte als Nonne in Salzburg und ist infolge einer Lungenkrankheit früh gestorben. Die zweite Schwester war eine Zeit lang als Dienstmädchen beschäftigt; Erlebnisse aus dieser Zeit hinterließen tiefe Spuren sowohl in ihrer persönlichen Lebens- als auch in der Familiengeschichte.

„Diese Begebenheiten erfuhr ich allmählich nach Jahrzehnten ...“ Nun denke ich an meine zweite Schwester Loisl. Da will ich besonders scharf nachdenken und mit einem gereiften Menschenverstand ihr schweres Schicksal beleuchten, denn wie viel Vorurteil und Unverstand wären hier zu revidieren. Nun, wie 178

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mir Bekannte immer sagten, soll sie ein besonders hübsches Mädchen gewesen sein, und das dürfte stimmen, denn sie hatte sehr viele Verehrer, was ich den vielen Liebesbriefen entnahm, die sie in einer Truhe aufbewahrte und die ich heimlich las, wenn ich Gelegenheit hatte. Es war ja Krieg, und die Feldpostbriefe endeten immer voll Sehnsucht nach einem Wiedersehen. Aber wie ich daraus entnahm, hatte sie sich für keinen endgültig entschlossen. Sie war bei meiner Tante im Dienst, es gab aber öfter Verdrießlichkeiten. Schließlich ging sie weg und suchte sich eine Stelle in Urfahr. Meine Tante sagte zwar, dass sie sehr fleißig und geschickt sei, aber etwas launisch. Auch ihre neuen Dienstgeber lobten sie sehr. Da bekam meine Mutter eines Tages einen Brief von der Tante, worin sie ihr mitteilte, sie solle meine Schwester heimholen, denn ihre Dienstleute könnten die Verantwortung nicht übernehmen. Sie sei in der Hoffnung, und in ihrer Verzweiflung habe sie sich in die Donau gestürzt, konnte aber gerade noch gerettet werden. Diesen Vormittag werde ich nie vergessen. Mein Vater war nicht zu Hause, aber meine Brüder und ich. Ich sehe noch die rosarote Pfanne mit Milchgrieß, den Mutter tränenüberströmt und mit zitternden Händen umrührte und austeilte. Wir Kinder waren alle sehr erschreckt, denn wir sahen Mutter eigentlich nie weinen. Nun musste sie es Vater beibringen, als er nach Hause kam, das tat sie aber in unserer Abwesenheit. Nun, die Stimmung war von dem Tag an wie in einem Trauerhaus. Freilich, wir Kinder waren meist bei unseren Freunden, und da waren wir bald wieder lustig und froh. Wenn ich heute ganz scharf darüber nachdenke, warum Mutter gar so verzweifelt und unglücklich war, dass meine Schwester bald ein Kind haben sollte – was ja zu der damaligen Zeit schon eine Schande war –, kann ich es heute schwer begreifen. Als ich viele Jahre später – ich war schon längst erwachsen – einmal mit ihr Beeren pflücken ging, kamen wir an einem Bauernhaus vorbei, und ein Mann stand bei der Tür. Ich beachtete ihn nicht. Meine Mutter fragte, ob ich ihn angesehen habe, was ich verneinte. 179

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Dann sagte sie, dass sie früher auf diesem Hof im Dienst war und eben von diesem Mann ein Kind bekommen hatte. Er war um viele Jahre älter als sie und Witwer und wollte sie auch heiraten, aber sie mochte ihn nicht mehr. Das Kind war ein Mädchen und wurde zwölf Jahre alt. Es kam an einem Weihnachtstag beim Schlittenfahren ums Leben, weil es in den Bach geraten und ertrunken war. Mutter hatte sich sehr gekränkt, wie sie sagte. Meine Großmutter hatte dieses Kind aufgezogen, obwohl sie doch selbst so viele hatte und dazu noch so ein hartes Leben. Da sollte man doch meinen, dass Mutter ein bisschen mehr Verständnis für die Lage meiner Schwester hätte haben können, aber leider hatte sie immer ein hartes Herz. Es ist nicht schön, wenn ich das sage, aber zu mir selber darf ich doch aufrichtig sein, und ich habe das Bedürfnis, mir einmal alles der Reihe nach von der Seele zu schreiben, damit ich jetzt, in meinem hohen Alter, mit mehr Verstand und ohne Vorurteil die Menschen mit ihren oft schweren Schicksalen begreifen und nicht zu hart verurteilen lerne, denn dazu ist es nie zu spät. Meine Schwester kam von dem Tag an, als Mutter sie nach Hause brachte, als es schon sichtbar war, nie mehr aus dem Haus. Wir alle schämten uns ihrer. Sie bekam wohl ihr Essen wie wir, und ich hörte auch nicht, dass jemand sie beschimpfte, aber es wurde fast überhaupt nichts gesprochen. Die fröhliche Stimmung, die wir Kinder immer verbreiteten, war verstummt. Es war jetzt immer traurig bei uns. Aber das Allerschrecklichste stand uns erst bevor; wir wussten nicht, was alles an Leid, Kummer und Schande noch auf uns zukam. Nun, ich trachtete, von zu Hause fortzukommen, damit ich dieser düsteren Stimmung entfliehen konnte. Zudem wollte ich mir unbedingt etwas verdienen, denn ich war ja schon sechzehn oder siebzehn Jahre alt, und da war es so an der Zeit, daran zu denken. Meine Schwester fragte mich, ob ich von zu Hause wegginge, weil sie daheim sei. Ich sagte aber, dass ich mir etwas verdienen wolle. Meine Eltern hatten keinerlei Verbindungen, und so suchte ich mir selbst auf Umwegen einen Posten als Küchenmädchen in Gmunden bei einer Fürstin. 180

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Diesen verschaffte mir ein Pater aus Puchheim, der die Theatergruppe leitete, in der ich mitspielte. Diesen liebten wir alle sehr, er war so lustig mit uns, und wir durften ihn auch besuchen, wenn irgendjemand einen Rat brauchte. Als ich mich von ihm verabschiedete und mich noch vielmals bedankte für seine Fürsprache bei der Fürstin, sagte er wirklich zu mir: „Du musst sehr gut auf dich aufpassen, denn du hast etwas, was die Männerherzen besonders anzieht.“ Nun, sicher hat er bemerkt, dass mich die Buben, die dort mitspielten, alle gern mochten, denn da war ich immer Hahn im Korb, weil ich so witzig und schlagfertig war. Das machte mir natürlich viel Spaß, aber wir waren alle vollkommen unverdorben, und zweideutige Reden gab es überhaupt nicht. Wir wollten nur immer lustig sein, und ich kann mich noch an manchen Schabernack erinnern. Zum Beispiel an die Würste, die eine Freundin und ich herstellten. Wir sammelten Wursthäute oder passendes Papier und füllten diese mit angefeuchteten Sägespänen. Nach der Probe zu den Weihnachtsspielen war es schon immer ein wenig dunkel, und da hatten wir unsere Hetz*, wenn die so Beschenkten fest spuckten, wenn sie ahnungslos hineinbissen. Natürlich mussten wir uns immer wieder neue Opfer suchen, aber die Gaudi war immer groß. Nun, der Ernst des Lebens sollte bald beginnen. Meine Mutter brachte mich also zu meiner Arbeitsstelle, und ich war froh, eine Beschäftigung zu haben. Zu Hause war ich sehr fleißig gewesen beim Beerenpflücken. So hatte ich mir viel erwirtschaftet, dass ich mir Stoff für ein Kleid kaufen konnte und bei der Schneiderin auch gleich eines nach meinem Geschmack anfertigen ließ. Zu Ostern sollte es fertig sein. Ich freute mich so sehr darauf, war es doch das erste, das ich mir selbst verdient hatte. Ich zählte die Tage, denn am Gründonnerstag sollte es mir die Mutter bringen. Ja, sie brachte es mir, und es war genau so, wie ich es mir gewünscht hatte; es passte herrlich. Es war Pepita*, ein Faltenrock mit einer Art Russenbluse* und einem schwarzen Lackgürtel. Jetzt freute ich mich unbändig auf den Ostersonntag, wenn ich es das erste Mal zum Kirchgang ausführen würde. Wo da 181

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wohl die Andacht geblieben wäre vor lauter Eitelkeit? Ich war der Meinung, alle Leute müssten mich bewundern. Die Vorfreude, so sagt man, sei immer am schönsten. Nun, in diesem Fall stimmte es wohl. Nicht etwa, dass mir das Kleid nicht immer gleich gut gefallen hätte, aber mit diesem Kleid war eine schreckliche Katastrophe verbunden. Als nämlich meine Mutter heimkehrte, wartete bereits unsere liebe Nachbarin auf sie, und sie nahm – was noch nie der Fall war – meine Mutter um den Hals und sagte: „Winterederin, jetzt musst du ganz stark sein, wenn du heimkommst!“ Mutter erschrak sehr, denn sie wusste, es muss etwas ganz Schlimmes sein, denn das Verhalten der Nachbarin war ganz ungewöhnlich. Ja, das war es wohl. Meine Schwester hatte das Kind, das sie inzwischen geboren hatte, mit dem Polster erstickt, und es war bereits tot. Mein Bruder war arbeitslos und war zu Hause, aber er hatte nichts gesehen. Wahrscheinlich war meine Schwester im Schlafzimmer und er in der Küche. Was mein Bruder unternommen hat, weiß ich nicht. Der Nachbarin hat er es auf alle Fälle gesagt, weil diese ja meine Mutter etwas vorbereitet hat. Wie alles dann gekommen ist, wusste ich nicht, denn ich kam ja nie nach Hause in dieser schweren Zeit. Ich hätte überhaupt so bald nichts erfahren, wenn ich nicht am Karfreitag früh mit der Köchin in die Kapuzinerkirche gegangen wäre. Als ich mit ihr aus der Kirche kam, stand eine Frau von einem Nachbarhaus dort und sagte, sie möchte mir etwas sagen. Nun, die Köchin ging zum Glück weiter, und so teilte mir diese Person kaltblütig die ganze Tragödie mit, die ich nicht zu fassen vermochte, denn es musste schnell gehen, weil ich ja mit der Köchin wieder nach Hause musste. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wieso diese Frau dort, zur selben Zeit in derselben Kirche war, denn sie konnte ja nicht wissen, dass ich hinkomme. Es muss wohl ein unglückseliger Zufall gewesen sein. Aber wie kann ein erwachsener Mensch so dumm oder so böse sein und ein junges Mädchen von einer Minute zur anderen so todunglücklich machen? So musste ich mit blutendem Herzen freundliche, belanglose Re182

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den mit der Köchin führen, damit sie meine Verzweiflung nicht merkte. Mein Gedanke war aber nur, dass es nicht in die Zeitung kommt, damit meine Herrschaft nichts erfährt. Nun, ich konnte aber nichts unternehmen, denn ich durfte ja nicht aus dem Haus, und außerdem hätte ich kaum gewusst, wie man so etwas verhindern könnte. Als ich dann, viele Monate später, einmal für einen Tag nach Hause durfte, erfuhr ich etwas mehr. Meine Schwester konnte keinen Vater angeben, mein Bruder Hermann war Taufpate von dem Mädchen, und sie nannten es Hermine. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was für eine Sensation das in Attnang war und unsere Familie das allgemeine Gesprächsthema – einen Kindesmord hatte es noch nie gegeben. Meine Eltern waren wirklich arm und bedauernswert in dieser Lage. Mutter ging nur außer Haus, wenn es nicht anders ging, aber Vater musste täglich in den Dienst. Aber sie sagten beide, wie verständnisvoll und gut alle zu ihnen waren. Die Leute hatten Mitleid, denn meine Eltern waren doch immer geachtet gewesen. Hatten fleißig, bescheiden und gottesfürchtig gelebt, und es gab nie einen Anlass für eine üble Nachrede – weder über sie noch über uns Kinder. Und jetzt so etwas Schreckliches! Meine Schwester kam lange in Untersuchungshaft, beim Prozess wurde sie aber freigesprochen, da sie unzurechnungsfähig war. Sie kam dann gleich nach Niedernhart* bei Linz, in die Irrenanstalt. Sie verteidigte sich nicht, sie sprach überhaupt nichts. Wie lange sie dort war, weiß ich nicht. Mutter hat sie ein paarmal besucht, aber sie war jedes Mal verärgert, weil meine Schwester zu wenig dankbar war und keine Freude zeigte. Mutter war einer so schweren Situation ganz einfach nicht gewachsen, sie verstand es nicht. Mein Vater und wir Geschwister besuchten sie nie; der Gedanke an sie war uns schon schrecklich. Auch als sie von der Anstalt entlassen wurde, wussten wir nichts und interessierten uns auch nicht, wo sie sich aufhielt. Sie war für uns der Schandfleck, an den wir am liebsten nicht denken mochten. Sie war dann bei verschiedenen Leuten im Dienst, aber sie hielt es nirgends lange aus. Schließlich heiratete sie. Wahr183

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scheinlich, damit sie endlich einmal wusste, wohin sie gehörte. Wie zu erwarten, war der Mann aber keineswegs von der Sorte, der eine Frau als Mensch behandelt, denn er war arbeitsscheu und trunksüchtig, und so kam sie eigentlich vom Regen in die Traufe. Sie bekam sechs Kinder. Ein Bub war hirngeschädigt, ein Kretin*. Meine Schwester behauptete, im Gebärhaus sei er beim Wickeln vom Tisch gefallen. Es kann aber auch sein, dass er im Rausch gezeugt wurde. Aber sie zog alle Kinder, auch dieses, mit viel Liebe auf, wie ich von ihren Töchtern später erfuhr. Allerdings musste sie in der Zwischenzeit wieder einmal in die Irrenanstalt gebracht werden, weil sich ihr Geist wieder umnachtet hatte. Ihr Mann und ihre Kinder wussten nichts von ihrer unglücklichen Vergangenheit, und sie trug eben zu schwer an diesem Geheimnis ihrer Schuld und Schande. (...) Diese Begebenheiten erfuhr ich allmählich nach Jahrzehnten, wo ich schon mit mehr Verstand und vorurteilslos den Dingen ins Auge sah. Als meine Eltern, mein Mann und ein Bruder von mir tot waren, und ich schon bald sechzig Jahre alt wurde, erkundigte ich mich nach ihrer Adresse, schrieb ihr einen netten Brief und fragte sie, ob sie mich nicht einmal wiedersehen möchte. Ganz gleich, wie sie möchte, entweder soll sie mich besuchen oder ich sie. Sie schrieb mir bald zurück, es wäre ihr lieber, wenn ich hinkäme. Nun, ich schrieb ihr die genaue Ankunftszeit des Zuges, damit sie mich abholen könnte. Leider war sie nicht am Bahnhof, was mich kränkte. So suchte ich nach ihrer Wohnung. Mann und Töchter wunderten sich, dass ich allein kam, denn meine Schwester sei zum Bahnhof gegangen, um mich abzuholen. Sie kam dann bald, und es stellte sich heraus, dass wir uns ganz einfach nicht erkannt hatten und aneinander vorbeigegangen waren. Nun, gar so verwunderlich ist das eigentlich nicht, denn es war ja schon über vierzig Jahre her, dass wir uns nicht gesehen hatten, und in so langer Zeit gehen die Jahre an keinem Menschen spurlos vorüber. Sie bewohnte eine Gemeindewohnung mit Zimmer, Küche, Kabinett – sehr sauber, aber ziemlich ärmlich –, und ich sah 184

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bald, dass es an vielem fehlte. Sie ließ es nach Möglichkeit nicht merken und jammerte nicht. Die zwei Buben waren schon verheiratet, die zwei Mädchen verdienten schon, und von diesem Verdienst lebten sie. Der Mann trug nichts dazu bei, der versoff, was er bekam. Das sagte sie mir damals nicht, aber ich sah schon selbst, dass er ein arbeitsscheues Individuum war. Der Besuch verlief recht gut, von der Vergangenheit wurde nicht gesprochen. Sie sah auch ganz gut aus. Ich schickte ihr dann öfter Pakete mit Obst von meinem Garten und neuer Wäsche und machte Kleider für sie. Darüber freute sie sich sehr. Ja, eine Tochter hatte bereits ein lediges Kind; dieses zog meine Schwester mit viel Liebe auf und verwöhnte es sehr. Also, Mutterliebe hatte sie genug erwiesen, nach all ihren Schicksalsschlägen. Ich lud sie dann im Sommer ein, für ein paar Tage zu mir zu kommen, worüber sie sich sehr freute. Sie kam mit einer Tochter, es war herrliches Wetter, und ich schlug vor, sie auszuführen. Aber meine Schwester wollte lieber im Garten bleiben, in der Stadt war ihr zu viel Trubel. Ihre Tochter wollte aber lieber etwas anschauen, und so blieben wir zwei allein daheim und machten es uns gemütlich. Da fing sie ganz unvermittelt an, über die Vergangenheit zu sprechen und erzählte mir genau, wie sie zu dem ledigen Kind gekommen war. Sie war bei der Tante im Dienst und ging sonntags spazieren auf den Pöstlingberg oder auf den Freinberg. Da wurde sie einmal von einem gut aussehenden Mann angesprochen, und so gingen sie zusammen weiter. Auf einer einsamen, menschenleeren Stelle zog er sie in ein Gebüsch, und obwohl sie sich nach Kräften wehrte – schreien wollte sie nicht –, erreichte der Wüstling, was er wollte. Er hat sie buchstäblich vergewaltigt. Er bat sie wohl um Verzeihung, dass er so unbeherrscht war, versprach ihr alles Schöne und bat sie inständig, nächsten Sonntag wieder mit ihm auszugehen. Sie sagte zu, aber sie wollte ihn auf keinen Fall mehr sehen; es hatte sie zu sehr abgestoßen. Aber sie war neugierig, ob er am nächsten Sonntag auf dem vereinbarten Platz stehen würde. Sie beobachtete ihn, als er lange dort stand, sie ließ sich aber nicht blicken, und 185

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so nahm das Schicksal seinen Lauf, von dem sie nichts ahnte, denn das Kind war schon in ihr. So hat dieser Mann durch seine Unbeherrschtheit ein junges, hübsches Mädchen todunglücklich gemacht und mit ihr der ganzen Familie unsägliches Leid und Schande bereitet. Dieser gemeine Mann kam ganz ungestraft davon, meine Schwester musste ganz allein seine Schuld bezahlen. Es kann ja sein, dass er ernste Absichten gehabt hätte, wer kann das wissen, von der ganzen Tragödie wusste er jedenfalls nichts. So konnte dieser Mann glücklich und froh und ohne Gewissensbisse seine Tage verleben. Meine Schwester ging dann von der Tante weg, denn sie sollte nichts erfahren. Sie suchte sich einen Posten in Urfahr, wo es ihr sehr gut ging. Als aber die Zeit kam, wo sie damit rechnen musste, dass ihre Herrschaft ihren Zustand bemerken würde, verlor sie die Nerven und stürzte sich in die Donau, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Vorher hatte sie versucht, sich mit einem Hammer so lange auf den Kopf zu schlagen, bis sie das Gehirn träfe und sterben könnte – das gelang natürlich nicht. So erzählte sie mir an diesem Tag ihre ganze damalige Verzweiflung. Auch, wie sie zu den Verhören gehen musste und bitterlich weinte am Weg, und wie der Wärter sie mit den Worten anherrschte: „Kanaille, jetzt heulst du, zuerst hast dich hingelegt wie eine Sau!“ Schrecklich, so ein Unmensch, ein gemeiner! Von den verschiedenen Stationen, wo sie war, nachdem sie aus dem Irrenhaus entlassen worden war, erzählte sie auch, aber das ist mir entfallen. An etwas erinnere ich mich aber. Nämlich daran, dass sie freiwillig wieder einmal zu Fuß dorthin zurückging, denn dort fühlte sie sich geborgener als in der Freiheit bei den Menschen. Einmal wollte mein Vater sie zu einem Bauern in Dienst geben und führte sie hin. Weil er aber den Retourzug nicht mehr erwischt hätte, ließ er sie auf freiem Feld stehen und zeigte ihr das Bauernhaus von weitem, wo sie hingehen sollte, und er eilte auf den Bahnhof zur Heimfahrt. Ich weiß nicht mehr, ob es damals war, dass sie wieder ins Irrenhaus ging. 186

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Ich war über ihre Enthüllungen zutiefst erschüttert. So viel Unglück wegen einem ledigen Kind! Wie haben sich die Zeiten nach einem halben Jahrhundert geändert. Ein Glück für alle jungen Frauen und Mädchen, die viele Möglichkeiten haben, ein unerwünschtes Kind nicht in die Welt zu setzen, wenn sie aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sind, einem Kind ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Ein Glück, dass die sogenannte „gute alte Zeit“ vorüber ist. Für die oberen Zehntausend war das ja auch damals kein Problem. Einige Monate Kuraufenthalt, eine prall gefüllte Geldtasche, und schon ging alles nach Wunsch. Aber die armen, geknechteten Menschen mussten schauen, wie sie zurechtkamen mit dem Unglück, wenn sie selbst kaum genug zu essen hatten. Der Mann meiner Schwester starb bald, nachdem ich mit ihr Kontakt aufgenommen hatte. Gott sei Dank! Nun sah ich, wie tüchtig und sparsam meine Schwester und ihre zwei Töchter waren. In kurzer Zeit richteten sie sich neu und ganz modern ein, und ich freute mich wirklich, als ich sie besuchte, wie schön sie alles gemacht haben. Da erfuhr ich auch, dass ihr Mann nichts von seiner Arbeitslosenunterstützung hergegeben und sogar meist die Kinderbeihilfe versoffen hatte. So hatte sie doch zuletzt noch einige schöne Jahre. Dieser Erzählung folgen ausführliche Erinnerungen der Autorin an ihre eigene „goldene, unbeschwerte Kindheit“. Sie wuchs zwar in bescheidenen Verhältnissen auf, musste aber – nach eigener Aussage – nie Hunger leiden oder übermäßig hart arbeiten. Die zumeist mit ihren Brüdern und einigen Nachbarskindern verbrachten Kindertage zählt sie zu den glücklichsten Zeiten ihres Lebens. Nach ihrem letzten Schuljahr, 1920, ging Johanna Gramlinger als Dienstmädchen „in Stellung“.

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„So trat ich also meine erste Stelle bei einer Herrschaft als Mädchen für alles an ...“ Mit 16 Jahren wollte ich doch allmählich eine beständige Beschäftigung haben, und so fuhr meine Mutter mit mir in die nächste Stadt zu einer Dienstvermittlerin, die sofort eine passende Stelle für mich bereit hatte. Wenn ich an diese Fahrt denke, muss ich unwillkürlich an einen Fleischhauer denken, der vom Bauernhof ein Kalb kauft und an einem Strick wegführt, um es zu schlachten. Nun, geschlachtet wurde ich nicht, aber an diesem Tage war es für immer vorbei mit der sorglosen Zeit, und mein Lebensschifflein musste viele Stürme und Klippen umfahren, von denen ich damals nichts ahnte. So trat ich also meine erste Stelle bei einer Herrschaft als Mädchen für alles an. Es waren zwei Damen, und zwar Mutter und Tochter. Die Tochter machte die feine Arbeit, und ich war da für die grobe. Die ersten Wochen waren nicht ganz leicht, denn ich kannte in Wirklichkeit nichts, da Mutter in dieser Hinsicht recht großzügig gewesen war und mich nicht sonderlich für häusliche Arbeiten herangezogen hatte. Außerdem war unser Haushalt so einfach, dass es kaum viel zu lernen gegeben hätte. Zum Glück waren es hauptsächlich grobe Arbeiten, die mir leicht fielen, und im Übrigen bemühte ich mich sehr, dass man mit mir zufrieden war. Aber ich war eigentlich schon recht arm, der ärmste Kuli*. Ich musste mit einem großen Zweiradler mit vielen Säcken in eine Säge* fahren, um Sägespäne für den Ofen heimzuführen. Der Weg führte am Fabrikgelände vorbei, auf dem mein Bruder als Schlosser arbeitete. Ich schämte mich selber für meine Tätigkeit und wollte auch nicht, dass er sich vor seinen Kollegen meiner schämen musste; so rannte ich mit dem schweren Wagen einen Umweg zur Säge. Dort erwarteten mich gleich die Arbeiter und belehrten mich, ich solle jedes Mal drei Säcke weniger in der Kanzlei kaufen, diese bekäme ich dann von ihnen und noch einige Kreuzer dazu. So schwindelte ich immer und begriff eigentlich nicht, wie schlimm es wäre, wenn man daraufkäme. Aber ich freute mich über das Geld und dachte 188

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nicht weiter nach. Nun, die Säge wird deswegen nicht pleite gemacht haben. Eine Arbeit mochte ich besonders gern, nämlich im Keller Holz schneiden und hacken – und dies aus einem besonderen Grund. Die Kellerabteile waren mit Latten abgeteilt, und eine Partei hatte ganz nah ein Fass mit Sauerkraut stehen, und der Zwischenraum war gerade so breit, dass ich mit der Hand hinübergreifen konnte. Da füllte ich mir immer mein Bäuchlein mit Sauerkraut, denn ich hatte stets Hunger, weil die Köchin ein schrecklicher Geizkragen war und bei der Herrschaft eine scheinheilige Schmeichlerin. An ein Mittagessen nach einer Sägespan-Tour kann ich mich besonders erinnern – man musste wirklich viel Hunger haben, um es zu verschlingen. Es waren Haferflocken, in Wasser gekocht, und oben drauf mit Wasser verdünntes Sacharin statt Zucker, denn diesen zweigte die Köchin für sich ab. Da ist es nur verständlich, dass es eines Tages zu einem großen Krach kam. Ich musste mit einem Tablett das Essen für die Herrschaft über die Stiege tragen, wo sich das Speisezimmer befand. Als ich abserviert hatte und die Reste in die Küche tragen musste, naschte ich davon auf der Stiege, wenn es möglich war. Ach, wie schmeckte das herrlich! Da ich nie übrig gebliebene Speisen auftragen musste, wird es wohl die Köchin verspeist haben. So fand ich es eigentlich nur recht und billig, dass ich mir auch etwas davon einverleibte. Ja, und dabei erwischte mich eines Tages die Dame des Hauses. Ich sehe mich heute noch, wie ich mich schämte – bald wäre ich vor Schreck samt dem Tablett über die Stiege gefallen. Ich weiß noch genau, was ich damals naschte. Es war ein Eiertommerl* mit Fleischhaschee. Ach, wie gut hat es geschmeckt, aber der Bissen blieb mir im Munde stecken, und ich schämte mich sehr. Es wurde dann zwar nie mehr davon gesprochen, ich getraute mich auch nie mehr zu naschen, aber ich wollte nicht mehr dort bleiben. Die Hausmeisterin merkte, wie traurig ich war, und erzählte mir, dass nie ein Mädchen lange geblieben sei bei so einem Schundlohn und unter so tristen Bedingungen. Sie machte mich auch 189

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mit einer Frau bekannt, die mir zu einer neuen Stelle verhelfen wollte, und so zog ich gerne fort aus diesem freudlosen Haus. Die Frau hatte leider gar keine Ahnung, wie wenig ich eigentlich außer groben Arbeiten konnte. Als ich mich bei der neuen Herrschaft vorstellte und gefragt wurde, ob ich perfekt servieren, feine Wäsche und Kleider pflegen könne – und noch so verschiedene Arbeiten, die ein Stubenmädchen können müsse –, musste ich natürlich verneinen, denn ich war ja kein Stubenmädchen, sondern ein gewöhnlicher Haustrampel. Die Dame war sehr lieb und sagte, sie möchte es trotzdem mit mir versuchen, und sie werde die Köchin bitten, dass sie mir zur Hand gehen solle. So trat ich ein. Aber leider, die Köchin ärgerte sich über diese Zumutung und verhielt sich sehr ablehnend. So sagte ich der Gnädigen, dass es für mich doch zu schwierig sei, da ich für diese Aufgaben keinerlei Erfahrung habe. So musste ich schweren Herzens wieder meinen Strohkoffer packen und war ganz verzweifelt, weil ich versagt hatte. Nun hatte ich ja mein Heim bei meinen Eltern, wo ich jederzeit nach Hause kommen konnte, aber ich merkte doch, dass Mutter enttäuscht war, weil ich es nicht geschafft hatte. Einmal machte sie eine Bemerkung, die ich nie vergessen habe, weil es mir so wehtat und ich ohnedies verzweifelt war über mein Versagen. Ich musste ein leeres Gurkenglas auf den Dachboden tragen. Es fiel mir aus der Hand und zerbrach. Da sagte sie: „Wenn du so ungeschickt bist, ist es ja kein Wunder, dass dich niemand brauchen kann!“ – Ach, das tat weh! Viel lieber wäre mir eine Tracht Prügel gewesen, die hätte ich bald wieder vergessen, diese Worte aber nie. Sie hat es sicher nicht so böse gemeint und wusste nicht, wie sehr sie mich kränkte, denn sie war nicht so fein besaitet. Aber heute, mit über siebzig Jahren, kann ich, ohne überheblich zu sein, sagen, sie hatte nicht recht. Sie kannte mich und meinen Ehrgeiz viel zu wenig. Aber von dem Tage an nahm ich mir vor, so bald wie möglich wieder eine Stelle zu suchen und dort mindestens ein Jahr zu bleiben, selbst wenn ich geschlagen und gefoltert würde und wieder hungern müsste. Da verschaffte mir dann der Pa190

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ter, der das Theater leitete, in dem ich mitspielte, eine Stelle als Küchenmädchen, damit ich kochen lernen könne.

„Ich sehe noch den schweren, gusseisernen Topf vor mir ...“ Nun, dort war der Anfang keineswegs schwierig, denn ich musste ausschließlich grobe Arbeiten verrichten. Brennmaterialien zu allen Öfen schleppen, Holzstiegen reiben, Berge von Geschirr waschen und in der Küche Gemüse gut putzen, Zucker stoßen – alles, damit die Köchin es bequem hatte. Von einem Kochenlernen konnte nicht die Rede sein, dazu kam ich gar nicht. Die Köchin hatte auch kein Interesse, mir etwas zu lehren, sie wollte es selbst leicht haben und machte außer Kochen überhaupt nichts. Meine Kochkünste bestanden lediglich darin, Frühstück und Jause für die Dienerschaft herzustellen. Dafür musste ich halb Wasser, halb Milch, so viele Löffel Kakao wie Mehl mischen. Nun, einen Göttertrank konnte ich daraus nicht machen. Dazu kam noch 365-mal im Jahr vormittags eine Einbrennsuppe* aus Kernfett* herzustellen. Ich sehe noch den schweren, gusseisernen Topf vor mir, in dem ich diese zubereiten musste. (...) Einmal wurde die Köchin krank und musste einige Tage das Bett hüten, da fand es die Herrschaft selbstverständlich, dass ich nun einspringen müsse, obwohl sie eigentlich wissen mussten, dass ich viel zu viel andere Arbeit bewältigen musste und daher kaum Gelegenheit gehabt hatte, etwas zu lernen. Zum Glück habe ich aber doch immer Augen und Ohren gut aufgemacht und mir auf diese Weise vieles abgeguckt. Beim Speisezettel wurde darauf Bedacht genommen, das Einfachste zu wählen, so hatte ich keine Angst, dass ich es nicht schaffen würde. Im Übrigen solle ich halt die Köchin um Rat fragen, wenn ich etwas nicht wüsste, sagte man mir. Nun wusste ich, dass die Köchin oft in einem Kochbuch nachschaute, welches in einer Lade lag. Das kam mir gut zustatten, denn ich wollte alles ohne den Rat der Köchin schaffen, und es gelang mir auch recht gut. 191

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Nur einmal hatte ich eine Panne, von der aber niemand etwas erfuhr. Ein Gast hatte einen Fasan mitgebracht, und der musste gebraten werden. Nun, als Kinder hatten wir oft und gerne diese Vögel beobachtet, aber wie sie kunstgerecht aus der Bratpfanne kommen sollten, davon hatte ich keine Ahnung. Für diesen Zweck war das Kochbuch von großem Vorteil. Als ich dann den Vogel tranchierte, merkte ich zu meinem Schreck, dass ich vergessen hatte, den Magen zu entfernen, und so war im Innern alles voll Körner und Steinchen, denn der Magen war geplatzt. Ja, da riss es mich herum, um alles schön herauszuputzen, denn es wäre nicht abzusehen gewesen, wenn sich da einer einen Zahn ausgebissen hätte. Und schnell musste es außerdem gehen, damit keine Verzögerung beim Auftragen entstand. Mein Renommee als Köchin wäre auch im Eimer gewesen, und das wollte ich auf keinen Fall. Nun, niemand merkte etwas, und ich erntete großes Lob, weil alles so gut geschmeckt hatte. Den größten Kummer und das bitterste Leid musste ich auch an dieser Stelle erfahren. Es war jener schwarze Gründonnerstag, an dem mir eine wohlmeinende Nachbarin die Schreckensnachricht von meiner Schwester überbrachte, als ich aus der Frühmesse kam, wo sie mich unerklärlicherweise schon erwartet hatte, um mir diesen Giftpfeil in mein Herz zu stoßen. Das war eine schwere Zeit, und ich lebte in ständiger Angst, ob nicht jemand von der Herrschaft aus einer Zeitung etwas erfahren würde. Einige Monate später hatte ich noch ein Erlebnis, das mich sehr erschüttert und verzweifelt machte, und das kam so: Als ich noch zu Hause war, schlich ich mich, wenn die Luft rein war, auf den Dachboden, wohin wir Kinder nicht durften. Dort hatte das junge Ehepaar, welches die Mansarde bewohnte, außerhalb des Zimmers einen versperrten Kasten stehen, und obenauf lag ein großer Stoß Ullstein-Hefte*, wo manches drinnen war, was ich für Handarbeiten und Basteleien abspitzen* konnte. Wenn ich das abgezeichnet und aufgeschrieben hatte, was mir wissenswert erschien, legte ich sie wieder hin und lieh mir andere aus. 192

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Eines Tages, als ich in meiner Stelle das Vorzimmer aufräumte, läutete es. Ich machte die Tür auf und war nicht wenig erstaunt, als die Frau von der Mansarde und eine Schulkollegin vor mir standen. Mein Erstaunen verwandelte sich bald in Schrecken, denn die Frau schrie mich an, ich solle sofort die gestohlenen Hefte herbeischaffen, denn sie wisse es von dem Mädchen, dass ich sie hätte. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich es dem Mädchen anvertraut habe, aber es wird wohl so gewesen sein, dass ich mich mit einer Handarbeit gebrüstet habe, die ich aus so einem Heft abgespitzt habe. Ich holte schnell die paar Hefte und hatte solche Angst, dass jemand von der Herrschaft etwas hören könnte, denn die Frau schrie immer „Diebin!“ und „stehlen“, obgleich ich versicherte, dass ich sie mir nur ausleihen wollte. Ich weinte und kniete mich vor den beiden nieder und bat sie händeringend, doch meinen Eltern und den anderen Hausparteien nichts zu verraten. Als sie meine Verzweiflung sah, ließ sie sich doch erweichen und versprach es. Ich war so verzweifelt, dass ich schon daran dachte, ob es nicht besser wäre, mich in den See zu stürzen, weil ich die Schande, als Diebin dazustehen, nicht überleben wollte, denn ich war nicht sicher, ob diese Frau es nicht doch weitererzählt. Aber ich befürchtete, dass es schwer sein würde zu ertrinken, weil ich doch gut schwimmen konnte, und die Schande dann noch größer wäre, wenn man mich lebend herausfischen würde. Nun, verraten hat sie es nicht, aber sie bat die Hausfrau*, ob sie sich einen Hund halten dürfe, damit ihr nichts gestohlen würde. Alle Parteien waren schockiert, meine Eltern natürlich auch – ich hüllte mich in Schweigen. (...) Später übersiedelte die Herrschaft nach Deutschland, wohin die ganze Dienerschaft mitgenommen wurde. Nun, da gab es viel Neues zu sehen, und das gefiel mir sehr. Freizeit gab es allerdings auch dort nicht mehr als jeden zweiten Sonntag von zwei bis sechs. Da konnte man natürlich nicht viel unternehmen. Aber das Stubenmädchen, mit dem ich das Zimmer teilte, und ich nützten die wenigen Stunden, um sie so fröhlich als möglich zu verbringen. Wir wurden immer zu einer Familie 193

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mit neun Söhnen eingeladen, deren Vater bei uns im Garten arbeitete. Ach, dort hatten wir viel Spaß! Meine Freundin war sehr hübsch und hatte viele Verehrer. Ich war auch nicht gerade hässlich. Ich hatte eine sehr schöne Stimme, war sehr witzig, und das gefiel allen. Wenn ich bedenke, um was für einen Schundlohn wir so viel arbeiten mussten und so streng gehalten wurden, scheint es heute geradezu unglaublich, dass eine Arbeitskraft so wenig wert war. Wir bekamen zwar immer abgelegte Kleider und einmal im Jahr ein Paar neue Schuhe. Da erinnere ich mich noch genau, wie ich einmal ein besonders schönes Paar Schuhe bekam, um die mich alle beneideten, denn es waren die schönsten. Schwarze Lackschuhe mit Schlangenleder verziert. Nun, es war dies bestimmt ein günstiges Restpaar, das schwer abzusetzen war, denn ich hatte Schuhnummer 34. Bis zu diesem Zeitpunkt trug ich noch immer die groben, schwarzen, selbstgestrickten Strümpfe, aber für diese Schuhe wollte ich mir den Luxus leisten und welche kaufen. Man trug damals nur schwarze, und es war nicht etwa die beste Qualität. Ich war ganz entsetzt über den Preis, denn es machte genauso viel aus wie ein Monatslohn. Ich gab das ganze Jahr überhaupt nie Geld aus, denn Essen hatte ich und die abgelegten Kleider richtete ich mir zurecht, so gut ich konnte, und eitel war ich überhaupt nicht. Ich entsinne mich nicht, dass mir je der Gedanke gekommen wäre, ob ich eine gute Figur habe oder nicht. Ich war eigentlich immer etwas mollig, aber das störte mich keineswegs, denn ich war immer gesund und fröhlich. Auch für Vergnügen oder Naschen gab ich keinen Groschen aus, und man nannte mich oft eine alte Wucherhaut. So war ich in dieser Stelle fast drei Jahre, aber dann wollte ich mich endlich verändern. Erstens war ich in punkto Arbeit schon sehr selbstbewusst, und zweitens hatte ich nicht die Absicht, weiterhin in der Küche zu verbleiben, denn ich musste oft Stubenmädchen vertreten und diese Arbeit sagte mir besser zu. Da hatte ich viel mehr Möglichkeiten, mein Geschick bei verschiedenen Arbeiten unter Beweis zu stellen. 194

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„Aber eine Woche dauert lang, wenn man verliebt ist ...“ So fuhr ich also nach Hause und machte einmal eine Zeit lang Urlaub. Allerdings war ich dann sehr enttäuscht, denn ich musste erkennen, dass sich während meiner Abwesenheit vieles verändert hatte. Meine Freundin aus der Kinderzeit lernte Schneiderin, sang beim Kirchenchor und Gesangsverein, hatte daher andere Freundinnen und viele Verehrer und war sehr schön angezogen. Nun, es war nicht etwa so, dass sie mich ignoriert hätte, nein, sie war sehr freundlich. Es ergab sich von selbst, dass wir nicht zusammenkamen. Denn die ganze Woche war sie in der Lehre, und sonntags hatte sie immer etwas vor. Sie bemühte sich trotzdem und lud mich öfter ein mitzukommen. Ich kannte aber ihre Bekannten nicht, und mit meinen zusammengepfuschten Kleidern hätte ich wohl kaum Furore gemacht, so ging ich nie mit. Wenn ich schon bei den Herrschaften demütig sein und katzbuckeln musste, in meiner Heimat wollte ich nicht der letzte Dreck* im Kalender sein. So hatte ich eigentlich niemanden, fühlte mich armselig und einsam. Ich wollte aber auch zu Hause nicht untätig sein und begann mit einer Heimarbeit. Diese teilte eine Frau aus, und zu der ging ich sehr gern hin. Mit ihr konnte ich über alle meine Probleme sprechen. Sie verstand mich gut und freute sich immer, wenn ich sie besuchte. Sie hatte eine reichhaltige Bibliothek, und sie borgte mir alles, was ich wollte. Ich verschlang gierig alle Ganghofer* und Greinz* und vieles andere. Diese Bücher waren meine schönsten Stunden. Aber meine Mutter sah es nicht gerne, dass ich so oft zu dieser Frau ging, denn diese lebte mit einem geschiedenen Mann zusammen, war daher nicht verheiratet und aus diesem Grunde bei vielen Leuten nicht besonders geachtet; aber ich ließ es mir trotzdem nicht nehmen. Bald suchte ich mir wieder eine Stelle, aber jetzt ganz keck als perfektes Stubenmädchen, denn ich hatte mir vieles angeeignet und war ganz sicher, dass ich es schaffen würde – und ich schaffte es leicht und gut. Nach ein paar Monaten lernte ich dort einen Mann kennen. Es war auf beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick. Da kamen 195

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dann nie erlebte, selige Tage und Wochen. Sonntags gingen wir zusammen in die Messe und nachmittags hinaus ins Grüne; in ein Lokal gingen wir nie, wir wollten allein die Natur genießen. Aber eine Woche dauert lang, wenn man verliebt ist und sich nicht sehen kann. Ich konnte ihn wohl in seiner Dienststelle anrufen, wenn die Herrschaft abwesend war, aber ihm konnte ich es nicht erlauben. So schlich ich mich oft am Abend heimlich aus dem Haus, wenn ich meine Arbeit beendet hatte. Das war natürlich sehr gefährlich, und die Angst, meine Abwesenheit könnte bemerkt werden, trübte natürlich diese Stunden. Aber ich hatte immer Glück, denn ich blieb nie lange. Mein Liebster hatte es jedoch wahrlich nicht leicht mit mir. Ich hatte weder als Kind noch später Zärtlichkeiten empfangen; ich wurde auch nie geküsst außer manchmal in einer lustigen Gesellschaft, und da war ich immer verärgert. So war eigentlich immer nur er lieb und zärtlich zu mir, ich aber scheu und konnte es nicht. Aber er nahm mich doch so, wie ich war, und neckte mich oft, ob er es doch erleben werde, dass ich ihm von selbst ein Busserl gäbe. Ja, das war eine selige Zeit! Nach ungefähr einem halben Jahr kam es aber immer wieder zu Zerwürfnissen, denn er wollte mich endlich ganz besitzen, aber er biss immer auf Granit. So fing er an, an meiner Liebe zu zweifeln. Ach, was war ich für eine blöde Gans trotz meiner neunzehn Jahre! Statt dass ich ihn einmal herzlich umarmt und geküsst hätte, was ich eigentlich doch gern getan hätte, dachte ich immer an eventuelle Folgen und an meine arme Schwester, die immer noch im Irrenhaus war. Aber das konnte und wollte ich ihm nicht sagen, ich schämte mich. Mutter schrieb immer in ihren Briefen: „Tu fleißig beten, geh in die Kirche und zu den Sakramenten und bleibe schön brav, damit es dir nicht so geht wie deiner Schwester!“ – und das war zu dieser Zeit auch mein Evangelium. So kam es, dass wir uns immer seltener sahen, denn die ewigen Streitereien zermürbten uns beide.

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„Ich war dann in verschiedenen Stellen ...“ Dann vermittelte mir eine Bekannte eine andere Stelle, wo ich mehr Lohn bekam und auch etwas mehr freie Zeit. Es war wohl in derselben Stadt, aber ich war nicht mehr so nahe bei ihm, und ich glaubte, dass dies gut sei, wenngleich ich oft große Sehnsucht nach ihm hatte. In der neuen Stelle ging es mir recht gut. Es war ein kleiner Haushalt, nur die Köchin und ich als Personal. Mit dieser verstand ich mich sofort sehr gut. Sie hatte auch eine Bekanntschaft, und wir deckten uns gegenseitig, wenn eine von uns heimlich wegging. Ja, und dann kam jener verhängnisvolle Krampustag. Die Köchin und ich waren beide recht lustig, aber wir ärgerten uns, dass im Hof ein Hund schon eine volle Stunde laut bellte. Ich schüttete Wasser hinunter, aber da bellte er nur noch mehr. Kurz entschlossen packten wir jede ein paar leere Sardinenbüchsen und hauten sie hinunter. Bald darauf war es still, und wir hatten Ruhe. Das aber war die Ruhe vor dem Sturm, denn am nächsten Tag hörte ich ein Telefongespräch mit, aus dem ich entnahm, dass sich jemand beschwerte, weil wir die Sardinenbüchsen in den Hof geschmissen hatten. Es ist zwar weder dem Hund noch sonst irgendjemandem etwas geschehen, zum Glück, aber wie leicht hätten wir jemanden verletzten können. Ich vereinbarte mit der Köchin, dass wir es abstreiten würden, denn es gab noch andere Leute in der Nähe, die diese Missetat hätten begehen können. Sie wurde als Erste einem Kreuzverhör unterzogen. Sie war dem nicht gewachsen und gab es schließlich zu. Das aber wusste ich nicht; ich blieb standhaft und leugnete es ab. Das war ein großer Fehler, und viel Leid wäre mir erspart geblieben, wenn ich mich entschuldigt hätte. Ich wurde zwar nicht hinausgeschmissen, aber ich schämte mich entsetzlich und kündigte. So kurz vor Weihnachten wäre es weder für die Herrschaft noch für mich leicht gewesen, einen passenden Ersatz zu finden, und so einigten wir uns dahingehend, dass ich bei der Tochter des Hauses, die in der Nähe ein Jagdhaus besaß, bis zum neuen Jahr arbeiten sollte, weil diese ohnehin dringend einer Hilfe bedurfte. Die 197

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Herrschaft selbst begnügte sich mit der Köchin allein. Die versprach, mich so gut sie konnte zu vertreten, denn sie fühlte sich ja auch schuldig, und so hatten wir beide den „verdienten Lohn“. So zog ich also in dieses Jagdhaus, und meine Kochkünste, die ich mir erworben hatte, kamen mir sehr zustatten, denn ich war allein und musste alles machen – auch jede grobe Arbeit, die ich nicht mehr gewohnt war. Da war ich entsetzlich traurig, denn ich musste mir ja eingestehen, dass ich mir selbst dieses Leid zugefügt hatte und es mir nur recht geschehe, wenn ich dafür büßen musste. Dazu kam noch, dass mein Liebster nichts von sich hören ließ, und die Köchin hatte ich auch nicht mehr. Ich fühlte mich grenzenlos verlassen. Diesen Weihnachtsabend im Jagdhaus werde ich wohl nie vergessen. Es waren Gäste eingeladen, die zu Fuß abgeholt werden mussten. Der Weg führte durch ein kleines Wäldchen, und ich musste mit dem Herrn des Hauses mitgehen, um hinter den Gästen den Weg mit einer Laterne zu beleuchten. Fröhlich lachend und plaudernd kamen die Gäste an, und ich ging mit der Laterne in einigen Metern Abstand hinterher. Ich weinte so bitterlich, dass ich nur froh sein konnte, dass alle so lustig waren und niemand mein jämmerliches Schluchzen hörte. Als ich alle Arbeit erledigt hatte, ging ich in mein Zimmer. Es war schön, mit einem großen, grünen Kachelofen, aber er war nicht geheizt, und ich fror erbärmlich. Als Weihnachtsgeschenk bekam ich einen Batistkragen für ein Kleid, aber leider hatte ich dazu keines. Ich legte mich ins Bett und weinte bitterlich und war so unglücklich, während gleich nebenan alle so fröhlich sein durften. Die Herrschaften waren mit mir sehr zufrieden und fragten mich, ob ich nicht bleiben möchte. Ich lehnte aber ab, denn ich hatte mir inzwischen schon eine neue Stelle verschafft und zog in eine andere Stadt. Ich kam in ein schönes Schloss außerhalb der Stadt in einen großen Haushalt mit mehr Dienerschaft. Ich arbeitete wieder als Stubenmädchen, und zwar bald darauf als erstes. Ja, das wäre nun ganz schön gewesen. Ich liebte die Einsamkeit und 198

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die Stille in der Umgebung. Aber der Zauber dauerte nur ein paar Wochen, denn der Herr des Hauses war ein ganz gefährlicher Schürzenjäger. Er umschmeichelte mich bald und gab mir ein paarmal einen Geldbetrag, weil ich, wie er sagte, so tüchtig sei: Aber dann wurde er immer zudringlicher, und als er merkte, dass er nichts erreichen konnte, fing er an, mich zu sekkieren*. So sah ich bald ein, dass ich mich hier nicht allzu lange würde halten können, und ging nach ein paar Monaten wieder weg. Im Gutshof war ein Buchhalter angestellt, der mich sehr verehrte. Nun, von meinem Liebsten hörte ich nichts mehr, und so freute ich mich darüber, denn er führte mich manchmal in ein feines Lokal aus. Das war mir vollkommen neu, und es gefiel mir. Als ich von dieser Stelle wegging, fuhr ich zunächst nach Hause und wollte einmal Urlaub machen. Da besuchte mich dieser Mann jeden Sonntag; in der Woche kamen ein bis zwei Briefe und nicht selten ein Telegramm, wenn er außertourlich abkommen konnte. Der Briefträger wunderte sich und neckte mich immer. Mir war so viel Aufmerksamkeit aber bald schon zu viel. Auch meinen Eltern war es nicht recht, dass jemand so viel Aufhebens um mich machte, und sie fanden es geradezu lächerlich. Auch meinen Liebsten konnte ich nicht vergessen, und so suchte ich eine Möglichkeit, diesen hartnäckigen Verehrer wieder loszuwerden. Das war nicht leicht, denn er drohte sich umzubringen, wenn er mich verlieren würde, und das war doch das Letzte, was ich hören wollte. Ich suchte mir aber eine Stelle in einer weit entfernten Stadt und sagte es ihm nicht, auch meine Eltern gaben ihm meine Adresse nicht, und so hatte ich endlich wieder meine Ruhe. Viele Monate später erfuhr ich durch Zufall, dass er bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich hatte und schon jahrelang geschieden war. Ich war dann in verschiedenen Stellen, aber ich blieb nirgends lange. Ich konnte ganz einfach nicht froh werden, obwohl es mir eigentlich an nichts fehlte. Um mich etwas abzulenken, kaufte ich mir eine Gitarre und nahm ein paar Stunden. 199

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Ich war in dieser Zeit schon sehr tüchtig und daher begehrt und beliebt und konnte nirgends auf normale Weise loskommen. Ach, was habe ich da oft zusammengelogen, es ist eine wahre Schande! In dieser Zeit geschah es auch, dass ich meinen Liebsten wiedersah, und zwar ganz unverhofft. Ich wollte mit Bekannten eine Freundin aus einer früheren Stelle besuchen, die nur eineinhalb Stunden Fußweg entfernt zu Hause bei ihren Eltern war. Als ich diese Leute abholte, und wir das Haus verlassen wollten, stand er plötzlich mit einem Dienstkollegen vor mir. Ich war so weg und musste um ein Glas Wasser bitten und mich setzen. Es war aber schwierig für uns, den Weg zueinander zu finden, denn meine Bekannten ahnten ja nicht, wie nahe wir uns einmal standen, und es waren alle recht lustig und gesprächig. Erst nach einem Gasthausbesuch, wo er mir in den Mantel half, blieben wir etwas zurück und konnten uns ungestört aussprechen. Ja, da waren wir nach eineinhalb Jahren wieder beisammen und unsagbar glücklich. Wie diese beiden, meine Freundin und sein Freund, es angestellt haben, dass dieses Zusammentreffen so klappte, weiß ich nicht mehr. Nur eines weiß ich: Der Dienstkollege war ein Schulkamerad meiner Freundin, und dieser stellte meinem Liebsten eines Tages ein Bild von mir auf seinen Nachttisch, welches ich meiner Freundin einmal geschenkt hatte. Als er mich plötzlich so vor sich sah, hatte er nur einen Wunsch, mich um jeden Preis wiederzusehen, denn er hatte sein Schweigen sehr bereut, weil er mich dadurch vollkommen aus den Augen verloren hatte, und ich war zu stolz gewesen, ihn anzurufen. Ja, da kam dann wieder eine selige Zeit. Alles, was wir zusammen erlebt und gesprochen haben, wussten wir noch so genau, und jeder erzählte von seinen Sehnsüchten, die nun auf einmal Wirklichkeit wurden. Er kam, sooft es sein Dienst erlaubte, um meine karge Freizeit mit mir verbringen zu können. Er fuhr viele Stunden mit der Bahn, auch wenn ich nur ein bis zwei Stunden Zeit für ihn hatte. Allmählich kamen aber wieder die Zerwürfnisse, die uns einst getrennt hatten. Aber er wollte mich 200

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nie mehr verlieren, und er bat mich immer um Vergebung, wenn er etwas zu stürmisch war – so ward immer wieder alles gut. Dann aber wurden seine Besuche etwas seltener und seine Briefe immer deprimierter und trauriger, und wenn er auch nicht den Mut hatte, mir den wahren Grund zu sagen oder zu schreiben, so las ich es doch zwischen den Zeilen, was ihn so sehr bedrückte. Er hatte in der Zwischenzeit eine Liebschaft gehabt, die nicht ohne Folgen geblieben war, und er wollte sie nicht im Stich lassen. So kam es, wie es kommen musste – der letzte, kurze Besuch des Abschieds. Ich war so traurig, dass ich es nicht zu sagen vermochte, und wollte ihm sein Herz nicht noch schwerer machen; denn ich sah, wie unglücklich er war, weil er doch die Schuld daran trug, dass wir uns nun trennen mussten, obwohl wir uns beide so liebten. Im Geheimen hoffte ich immer, dass alles gut werden könnte. Aber viele Monate später erfuhr ich, dass er verheiratet und Vater eines Kindes ist. Da gab es dann keine Hoffnung mehr. So wurde ich wieder ruhelos und mochte nirgends lange bleiben. Ich ließ mir ein Telegramm schreiben, wenn ich unbedingt wegwollte und man mich nicht ziehen lassen wollte. Was war ich nur für ein Lügenschippel damals! Ich ließ eine Schwägerin sterben und konnte den Bruder nicht allein lassen, oder eine Schwester bekam ein Kind und bedurfte meiner. Einmal ließ ich meine Mutter über die Kellerstiege fallen, wo sie schwer verletzt wurde, obwohl sie pumperlgsund zu Hause war. Aber diesmal war die Dame des Hauses besonders hartnäckig, sie wollte mich auf keinen Fall weglassen und erklärte sich bereit, für meine Mutter eine Krankenpflegerin zu bezahlen. Es war gar nicht so leicht, ihr begreiflich zu machen, dass diese für ihre Pflege ihre Tochter haben wolle.

„Ich fühlte mich als Mensch und nicht als Kuli ...“ Aber dann kam ich doch endlich wieder wohin, wo ich froh und zufrieden war, wo ich überhaupt am liebsten arbeitete. Ich kam in eine mir völlig fremde Umgebung, nämlich ins stei201

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rische Ennstal. Der Kutscher holte mich mit zwei Schimmeln vom Bahnhof ab, das gefiel mir gleich. Und dann die herrliche Landschaft, die Berge und Täler – und das Haus, in dem ich arbeiten sollte, erst recht: herrlich gepflegt, ein wahres Schmuckkästchen! Aus vierundzwanzig Bewerbungsschreiben wurde ich aufgrund meiner Zeugnisse ausgewählt, und die Herrschaft brauchte es wahrlich nicht zu bereuen, denn ich war sehr fleißig und ehrgeizig; so war es kein Wunder, dass ich bald heimisch wurde. Es war noch ein Stubenmädchen dort, mit der ich ein schönes Zimmer mit Balkon teilte, und wir verstanden uns ganz gut. Was mir aber am meisten Spaß machte, war, dass ich sogleich mit der Bevölkerung Kontakt bekam, besonders beim sonntäglichen Kirchgang – hauptsächlich mit jungen Burschen. Ach, was hatten wir da immer viel Spaß! Ich wirkte bei einer Primiz im Kirchenchor mit, und meine Herrschaft wurde gebeten, dass ich Theater spielen durfte und zu den Proben frei bekam; es wurde gern erlaubt, denn sie waren stolz auf mich. Sie besuchten selbst die Vorstellungen, was die Veranstalter und die Bevölkerung sehr freute, denn sie waren hochgeehrt. Sie beschenkten zu Weihnachten immer eine Menge arme Leute. Dort leistete ich mir dann auch etwas, was damals in meiner Position ganz ungewöhnlich war. Ich kaufte mir ein Fahrrad, das war natürlich herrlich. Ich konnte in der freien Zeit in der Umgebung herumgondeln und zu einem nahen See schwimmen gehen. Die Dame des Hauses fuhr im Sommer auf mehrere Wochen weg, und in dieser Zeit mussten meine Kollegin, der Kutscher und ich den ganzen Besitz gründlich putzen. Der Herr des Hauses war daheim; er war eine Seele von einem Menschen. Wenn ein besonders schöner Tag war und wir fleißig herumfegten, sagte er oft: „Ach, lasst doch das heute sein!“, ließ die Pferde einspannen, und wir wurden vom Kutscher ausgeführt. War das immer schön! Oder meine Kollegin und ich machten eine Tagestour: am Hauser Kaibling, am Stoderzinken, auf die Brünnerhütte, ein Stück von Gröbming; weiters auf die Planneralm, die Taup202

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litzalpe – alles zu Fuß natürlich, und es begegnete uns oft den ganzen Tag keine Menschenseele. So still und schön war es damals noch auf Berg und Alm! Da lernte ich zum ersten Mal, wie herrlich es ist, wenn man so sorglos wandern kann. Almrausch, Enzian, Speik und Kohlröserl gab es in rauen Mengen. Normalerweise hatten wir nur alle vierzehn Tage Ausgang, das war überall so üblich. Aber die bekannten jungen Burschen, mit denen wir sonntags unseren Spaß hatten, baten uns immer, wir sollten doch eine Möglichkeit schaffen, damit wir alle richtig lustig zusammen sein konnten. So bat ich eines Tages die Dame des Hauses, ob ich diese Burschen am Abend zum Kartenspielen einladen dürfte. In unserem Speisezimmer hätten wir schön Platz, und alle würden sich sehr freuen. Als ich die Namen der Burschen nannte, war sie sofort einverstanden, denn sie kannte sie alle, es waren lauter Bürgersöhne. Ja, das waren lustige Abende. Wir zwei Mädchen und fünf bis sechs Burschen. Der Herr des Hauses spendete uns Wein, und die Köchin musste die selbstgebackenen Bäckereien beisteuern, was sie sehr verdross, denn sie war schon älter und nahm daran nicht teil. Meine Zither und Gitarre hatte ich immer mit, auch wenn ich gar nicht viel konnte, da ich ja wenig Zeit zum Üben hatte, so war es doch eine schöne Abwechslung. So zogen wir auch manchmal hinaus mit wehenden Lautenbändern*. Ich fühlte mich als Mensch und nicht als Kuli, und das tat gut nach den vielen Demütigungen, die ich so schwer ertragen konnte. Der Lohn war zwar sehr gering, aber das war bei den Herrschaften überall gleich, das wusste ich ja, und ich gönnte mir überhaupt nichts, ich sparte alles. Die einzige Ausgabe, die ich mir leistete, war im Sommer das Schwimmbad. So lebte die Dienerschaft wie auf einer Insel der Seligen, während die Herrschaft schon lange finanzielle Sorgen hatte. Eines Tages sagte uns die Dame des Hauses, dass sie sich einschränken müssten, und Entbehrungen nicht zu vermeiden seien. Die Köchin könne bleiben, aber zwei Stubenmädchen könne sie sich nicht mehr leisten. Sie sagte zu mir, sie würde sich freuen, wenn ich bleiben würde, nur müsste ich halt dies und jenes machen, was jetzt von Bedienerinnen gemacht wür203

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de – ich solle es mir überlegen. Nun, ich überlegte hin und her, aber ich kam doch zu dem Entschluss, dass es eher ein Abstieg wäre, und ich wollte doch weiterkommen, so entschloss ich mich zu gehen. Der Abschied wurde wirklich schwer. Von der Herrschaft, die immer gut zu mir war, von der freundlichen Bevölkerung und vor allem von der herrlichen Landschaft.

„Aber da musste ich erfahren, dass viele Herrschaften sich einschränken mussten ...“ Durch eine Empfehlung kam ich gleich auf ein Schloss in Oberösterreich. Ach, war das eine Enttäuschung! Nach so einem gepflegten Haushalt war dieser in jeder Weise schlampig geführt, obwohl eine Menge Dienerschaft da war. Die Herrschaft war ein junges Ehepaar, das viel außer Haus war und keine Ahnung von einem geordneten Haushalt hatte, kurzum: Es war gerade das, was ich nicht wollte, denn ich bin ein ordnungsliebender Mensch. Ich sah gleich, dass dies keine bleibende Stätte für mich sein konnte, und so tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte. Als die Herrschaft verreist war, packte ich meine Sachen und fuhr ohne Kündigung davon. Ich hätte doch nicht gut sagen können, dass ich mich an so eine Sauwirtschaft nicht gewöhnen könne, das wäre die Wahrheit gewesen, aber es wäre doch peinlich, so etwas zu sagen. Ich fuhr also nach Hause, wollte ein bisschen Urlaub machen und mich dann wieder um eine passende Stelle umsehen. Aber da musste ich erfahren, dass viele Herrschaften sich einschränken mussten, die allgemeine schlechte Wirtschaftslage machte sich überall bemerkbar. Es waren meist nur Stellen ausgeschrieben für Köchinnen oder für Mädchen für alles. Stubenmädchen oder Kammerjungfern waren nicht gefragt, und so war es für mich schwer, etwas Passendes zu finden. Da erinnere ich mich an ein Gespräch, das Mutter mit mir führte, als ich mit ihr spazieren ging. Sie sagte: „Es wäre gut, wenn ich sterben könnte, dann könntest du bei Vater sein und ihm die Wirtschaft führen und hättest eine bleibende Stätte.“ Es 204

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war nicht etwa so, dass sie nicht selbst gerne gelebt hätte, denn sie war gesund, und für ihre bescheidenen Bedürfnisse fehlte es ihr an nichts. Aber sie sah wohl, dass ich oft verzweifelt war, wenn es bei keiner Bewerbung klappen wollte. Nun war es nicht etwa so, dass ich Vater nicht gerne gepflegt hätte, wenn er krank gewesen wäre und meiner bedurft hätte. Aber auch er war gesund und genoss seine Pension, so gut er konnte. Im Übrigen wäre es leicht gewesen, ihm die Wirtschaft zu führen, denn er war ein äußerst bescheidener und friedliebender Mensch. So war ich über Mutters Worte gerührt und zugleich traurig. Ich war gerührt, weil ich sah, wie froh sie wäre, wenn ich wieder eine Betätigung hätte, nach der ich mich sehnte, denn müßig mochte ich nie sein. Traurig aber war ich, weil ich erkennen musste, wie wenig mich Mutter kannte, wie wenig sie von mir wusste. Sie hätte es als Glück für mich empfunden, wenn ich wieder dahin hätte zurückkehren können, von wo ich einst auszog, um so viel wie möglich zu lernen und mich zu bewähren – und wie schwer der Anfang war, weil ich überhaupt gar nichts konnte! Nun habe ich mir aber im Laufe der Jahre wirklich viel an Wissen angeeignet, und jetzt hatte es den Anschein, dass so vieles umsonst war, und man mit seiner Arbeitskraft betteln gehen musste. Es war entwürdigend! Da dachte ich oft verbittert, ob es für einen jungen Menschen denn wirklich zu viel verlangt ist, wenn er nichts als arbeiten will? Da bewarb ich mich dann auf eine Zeitungsannonce um eine Stelle nach Deutschland als Buffetfräulein. Nun hatte ich eigentlich von deren Tätigkeit wenig Ahnung, aber ich bekam zu meiner Überraschung diese Stelle. Die ersten Tage waren auch nicht gerade einfach, aber ich bemühte mich, mein geringes Wissen nach Möglichkeit zu verschleiern. Ich wurde vom Sohn des Hauses eingeführt, und ich passte auf wie ein Haftelmacher, um mir die vielen Wein- und Schnapssorten so schnell wie möglich einzuprägen – das tat ich in der Nacht. Die Preise für die Näschereien notierte ich mir, und so habe ich mich eigentlich schnell eingearbeitet, obwohl dies eine völlig neue Betätigung für mich war. 205

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Es war ein großer Betrieb mit vielen Stammgästen und verschiedenen Vereinen. Sonntags und samstags hieß es wirklich flink sein, um den beschäftigten Kellnern das Gewünschte zu reichen. An den Abendbetrieb musste ich mich natürlich erst gewöhnen, denn es wurde immer nach Mitternacht, bis ich ins Bett kam. Bei den Gästen war ich bald beliebt, denn ich bemühte mich, immer gefällig und fröhlich zu sein. Ich verdiente sehr gut und bekam reichlich Trinkgeld, denn manche Gäste konsumierten gleich bei mir am Buffet, weil sie gern mit mir plauderten, und mein Chef hatte es gern, wenn ich die Leute mit meiner Fröhlichkeit unterhielt. So war ich eigentlich recht zufrieden mit meiner Betätigung, aber leider nicht lange, denn mein Chef belästigte mich bald mit schmutzigen Anträgen, obwohl er verheiratet war und Kinder hatte. Aber wie ich erfuhr, war meine Vorgängerin in dieser Hinsicht nicht abgeneigt gewesen, und so fand er es selbstverständlich, dass dies auch bei mir der Fall sein müsste. Mit der Zeit wurden auch einige Gäste zudringlicher, meist alte, gut situierte Herren; das war natürlich schwierig, denn höflich musste ich doch immer sein. Ich musste einsehen, dass ich mich mit meinen moralischen Grundsätzen auf die Dauer nicht würde halten können. Mein Chef nörgelte auch an mir herum, als er sah, dass er sein Ziel nicht erreichen konnte. So entschloss ich mich aufgrund einer Annonce für einen kaufmännischen Kurs in München in einer Handelsschule. Dort konnte ich auch bei einer bekannten Familie wohnen. Die Frau kannte ich von einer früheren Stelle, wo sie als Köchin gewesen war und wir viel Spaß miteinander hatten. Ja, die Weihnachten als Buffetfräulein vergesse ich auch nicht. Von manchen Gästen bekam ich nette Aufmerksamkeiten. Aber mein Chef schickte mir mit dem Aufzug – neben den bestellten Speisen – Briefpapier, Seife und einen kleinen Geldbetrag. Ja, so feierlich hat er es gemacht, weil er wütend auf mich war, weil er immer abgeblitzt ist. Aber ich wusste ja, dass dies sein letzter Streich sein würde, denn ich hatte schon den Bescheid über den baldigen Beginn des Handelskurses in den Händen. Eines Tages kündigte ich, da war er ganz außer sich, 206

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denn es war Fasching und sehr viel Betrieb in diesen Tagen. Er bot mir an, den Kurs dort zu machen und die übrige Zeit im Betrieb zu arbeiten, aber ich wollte nicht, ich freute mich, dass ich ihm seine Frechheiten richtig heimzahlen konnte. Er war wütend und sagte, auf Referenzen von ihm dürfe ich ja nicht hoffen. Nun, ich brauchte keine.

„Ich war immer die Erste im Klassenzimmer ...“ So packte ich wieder einmal meinen Koffer, um etwas ganz Neues zu beginnen. Aber ich war so fest überzeugt, dass ich auch dies schaffen würde, mir war keineswegs bange, denn mein Fleiß und mein Ehrgeiz hatten keine Grenzen. Zehn Fächer hatte ich in diesem Kurs belegt. So kam nun der erste, ereignisreiche Tag in München. Ich wohnte bei der bekannten Familie außerhalb der Stadt, und der Mann führte mich die ersten Tage zur Schule, da ich mich ja nicht auskannte mit den Fahrzeugen, die ich benutzen musste. Ich war sehr überrascht über die Schüler – alle sehr nobel gekleidet, sie schienen aus reichen Familien zu kommen. Nun, ich kleidete mich damals auch schon recht nett, und so hatte ich eigentlich keinerlei Hemmungen. Es war ein herrliches Gefühl, unter lauter feinen Menschen zu sitzen. Auch eine königliche Hoheit war unter uns. Ja, und ich brauchte nicht wie bisher meine Ohren zu spitzen, um ihre Befehle und Wünsche entgegenzunehmen und gewissenhaft auszuführen. Ich armer Schlucker saß unter ihnen und brauchte nichts zu tun als das, was alle mussten. Nämlich aufpassen und lernen, was vorgetragen wurde. Und ich passte auf wie ein Haftelmacher, damit ich ja überall mitkam. Zu Hause setzte ich mich gleich hin, um die Aufgaben zu machen, damit ich nichts vergessen würde. Die meisten Fächer wurden von Grund auf gelehrt, und so war es nicht allzu schwer. Stenographieren hatte ich schon vor Jahren aus einem Buch gelernt, das kam mir gut zustatten. Allerdings lernte ich damals Gabelsberger* und hier wurde Einheitskurzschrift* 207

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gelehrt. Zehnfinger-Blindschreiben konnten auch die anderen Schüler nicht, nur hatten sie den Vorteil, dass sie zu Hause eine Schreibmaschine hatten und üben konnten, wenn sie wollten. Nun, ich schrieb mir die Tastatur ab und übte auf diese Art, damit die Finger richtig gelenkig wurden. Tippfehler konnte ich auf diese Weise nicht feststellen, aber ich tippte überall – in der Straßenbahn die Firmenschilder, an denen ich vorbeifuhr. Da legte ich immer einen Schal oder ein Tuch über meine Hände, damit die Leute nicht etwa glaubten, ich wäre so nervös oder ein bisschen blöde, weil meine Finger immer in Bewegung waren. Heute muss ich schmunzeln, wenn ich an das alles denke. Nach einigen Wochen musste ich aber leider feststellen, dass ich wohl in fast allen Fächern sehr gut mitkam, aber beim Rechnen haperte es. Ich kam nicht mit, ich verstand nichts. Hier wurden gewisse Vorkenntnisse vorausgesetzt, die ich einfach nicht besaß, und so sehr ich mich bemühte, ich musste mir eingestehen, dass ich es beim besten Willen nicht schaffte, und darüber war ich ganz verzweifelt. Die Rechenstunde hielt der Direktor selber. Er wusste, dass ich in allen Fächern zu den gewissenhaftesten Schülern gehörte. Als er mich eines Tages aufrief und ich eine Frage beantworten sollte, konnte ich es nicht. Er stellte mir eine leichtere Frage, ich wusste auch das nicht. Er konnte es gar nicht glauben und fragte, ob ich indisponiert oder krank sei, was ich verneinte. In der Pause sagte er zu mir, ich möge nach dem Unterricht in sein Büro kommen. Er bot mir dort zuerst einen Drink und eine Zigarette an, denn er sah wohl, wie aufgeregt ich war und wie sehr ich mich schämte, weil ich so versagt hatte. Er war so besorgt und gütig zu mir. So verschwand alle Scheu, und ich erzählte ihm, dass ich am Land nur die Pflichtschule besucht habe und mir daher kaum die Grundbegriffe im Rechnen geläufig seien, dass ich deshalb auch beim besten Willen nicht mitkäme. Da war er erstaunt und gerührt zugleich und bewunderte mich, dass ich alle anderen Fächer so gut schaffte. Er sagte mir, dass fast alle Schüler Matura haben, und viele davon schlechter seien als ich, weil sie zu faul zum Lernen seien, und dass er meinen Fleiß richtig zu schätzen wisse. Ich solle mich 208

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sogleich trösten, denn auch das mit dem Rechnen würde ich schaffen. Er werde heute noch seiner Sekretärin den Auftrag geben, jeden Tag mit mir nach dem Unterricht zu lernen und zwar so lange, bis ich alles verstanden habe, was notwendig sei, damit ich dann in der Stunde leicht mitkomme. Bis dorthin würde er mich nie mehr aufrufen, denn er habe wohl gesehen, wie peinlich es mir gewesen sei, als ich nichts wusste. Als ich fragte, was das wohl kosten würde, sagte er, es koste gar nichts, es sei der Lohn für so viel Wissbegier und Fleiß. Ach, da war ich glücklich! Ich konnte es gar nicht fassen, dass ein Mensch so gütig sein konnte. Er war der erste Mensch in meinem Leben, der mir etwas schenkte, ohne dafür etwas zu verlangen. Wie oft habe ich in der Hitlerzeit an diesen gütigen Menschen gedacht und für ihn gebetet, dass er doch nicht etwa in ein Konzentrationslager verschleppt und umgebracht würde, denn die Schüler sagten, dass er ein Jude sei. Ich wünschte mir, dass ich etwas für ihn tun könnte. Ich wäre jedes Risiko eingegangen, wenn ich ihm hätte helfen können. Ich hoffe nur, dass er doch nicht unter die nazistischen Mörder gekommen ist. Seinen Namen werde ich nie vergessen, Direktor Möllerich hieß er. Ja, und ich erinnere mich an die Tage, an denen ich zu seiner Sekretärin ging, um alles nachzuholen, was mir fehlte. Die Dame war lieb zu mir und bemühte sich sehr, ich mich natürlich auch, denn ich wollte die Güte nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Nach vierzehn Tagen meldete ich mich beim Direktor und sagte, er könne mich nun aufrufen, ich käme jetzt schon sehr gut mit, und ich bedankte mich noch recht schön bei ihm und seiner Sekretärin. Ich war sehr selbstbewusst, denn ich hatte wirklich fleißig gelernt, Tag und Nacht, und jetzt wusste ich, dass ich es leicht schaffen würde. Der Direktor wunderte sich und meinte, ich könne ruhig die Nachhilfe in Anspruch nehmen, aber ich sagte, es sei wirklich nicht mehr nötig, und so war es auch. Nun waren die Rechenstunden keine peinliche Angelegenheit mehr, im Gegenteil. Ich freute mich darauf, denn jetzt konnte ich es allen zeigen, dass ich sehr wohl rechnen konnte. Es war ja so, dass viele Schüler 209

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den Kurs besuchen mussten, um in den elterlichen Betrieb einzusteigen, selber aber gar kein Interesse und keine Lust zum Lernen hatten und zu faul waren, die Aufgaben zu machen. Ich war immer die Erste im Klassenzimmer, und so machten es sich viele zur Gewohnheit, einfach von mir abzuschreiben, weil sie wussten, dass ich es richtig habe; sie brauchten ihren Kopf nicht anzustrengen, und ich war eigentlich stolz darauf. Aber einmal war eine Rechenaufgabe ziemlich schwierig, und ich beschloss, diesmal die Faulpelze hängen zu lassen; ich ging recht kurz vor dem Unterricht in die Klasse. Und siehe da, ich hatte richtig geraten. Diesen Erfolg werde ich nie vergessen, ich konnte es selbst gar nicht glauben, aber es war wirklich so. Ich war die Einzige, die die Aufgabe richtig hatte. Ach, da war ich im Geheimen wirklich stolz und glücklich! Und erst recht, als mich der Direktor als Vorbild für die ganze Klasse hinstellte und sagte, dass ich die wenigsten Vorkenntnisse für diesen Kurs mitbringen würde, keine Matura und trotzdem solche Erfolge habe. Da sehe man, was man mit Fleiß und Ausdauer erreichen könne.

„So lebte ich ein halbes Jahr lang nur von Milch und Brot ...“ Ja, so ging es mir also recht gut, alle waren nett zu mir und achteten mich. Ich wurde auch öfter zu einem Theaterbesuch oder zu einer Jause eingeladen, aber ich hatte immer eine Ausrede. Ich ging das ganze Dreivierteljahr nirgends hin. Ich wollte mich vom Lernen durch nichts ablenken lassen, und außerdem war ich zu sparsam. Ich hätte mich auch nie revanchieren können, aber es wusste ja niemand, was ich eigentlich für ein armer Schlucker war. Einmal beschwerten sich einige Schüler beim Direktor, dass eine Lehrerin, welche Buchhaltungen lehrte, zu schnell vorginge und sie nicht richtig mitkämen. Nun, der Direktor erklärte, die Lehrerin müsse den Stoff in der vorgeschriebenen Zeit lehren, und jeder müsse eben zu Hause auch noch lernen. So fragte 210

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er dann mich, ob es schwierig sei mitzukommen, was ich verneinte. Da meinten sie dann, Fräulein Wintereder, also ich, sei kein Maßstab für alle, denn ich sei ein ausgesprochener Streber, was nicht alle sein könnten. Nun, ich war freilich ein Streber – ich musste es sein. Ich wollte doch eine Existenz aufbauen, während es die anderen nicht so genau zu nehmen brauchten, denn bei den meisten würde es der Papa schon richten. Ich aber hatte niemanden und musste darum auch fleißiger sein. So war in der Schule alles gut, aber bei meinen Gastgebern wurde es etwas schwierig. Der Mann war Frühpensionist, denn er war herzkrank, und da gab es oft Meinungsverschiedenheiten; wenn er einen Anfall hatte, war er oft ungerecht zu seiner Frau. Da merkte ich dann, dass es ihnen peinlich war, wenn ich es mit anhören musste, wenngleich ich mir nie erlaubt hätte, mich einzumischen. So fragte ich sie einmal, ob ich mir vielleicht eine andere Bleibe suchen solle. Sie sagte, es täte ihr sehr leid, aber ihr Mann wäre lieber allein. Sie half mir noch, ein billiges Quartier in einem Siedlungshaus zu suchen. Ich war dankbar, dass ich das erste Vierteljahr bei ihnen wohnen durfte, denn das war ja am schwersten, weil ich doch ganz fremd war. Ich habe wohl gezahlt, was sie verlangten, aber es war nicht viel, und es fehlte mir an nichts. Meine neue Heimstätte war äußerst bescheiden, eigentlich nur eine Schlafstelle in einem Dachzimmer, das ich mit einer Tochter der Besitzer bewohnte. Zum Glück war das ein liebes Mädchen in meinem Alter, und wir verstanden uns sehr gut. Jetzt aber kamen neue Probleme auf mich zu. Ich hatte mich nämlich noch nie im Leben selbst versorgt, und wenn das Essen auch oft recht minderwertig gewesen war, so war es doch immerhin etwas. Nun aber musste ich mich selbst versorgen, und da sah ich erst, was es kostet, wenn man satt werden will. Es war aber nicht etwa so, dass ich kein Geld gehabt hätte, denn ich ließ mir ja von meinen Ersparnissen schicken, was ich benötigte. Aber es war einfach so wie immer: Ich war eine alte Wucherhaut, wie mich viele schon früher nannten. So lebte ich ein halbes Jahr lang nur von Milch und Brot – und das war auch nicht allzu viel. 211

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Als es an das Ende des Kurses ging, leistete ich mir einmal in der Woche in einem Gasthaus ein Mittagessen, nicht etwa, um mich satt zu essen, sondern um die Annoncen zu studieren in den Zeitungen und nach Möglichkeit gleich eine Stelle in einem Büro zu bekommen. Ach, wenn ich an die vielen Bewerbungsschreiben denke, die ich an alle Ecken sandte, wird mir jetzt noch schwummerig. Wie traurig ich immer war, wenn keine Antwort kam, obwohl ich eine Retour-Marke beigelegt hatte, was meine Finanzen arg belastete. So kam also das Ende des Kurses – er dauerte neun Monate –, und ich musste leider einsehen, dass es sehr schwer war, in einem Büro unterzukommen. Ich bedankte mich beim Herrn Direktor für all seine Güte, und er sagte, wenn er nicht eine so langjährige und tüchtige Sekretärin hätte, er würde mich gern behalten, denn bei mir wäre er sicher, dass ich mich bald einarbeiten würde. Ich bekam ein sehr schönes Zeugnis. Ich freute mich natürlich sehr, aber es war ein schlechter Trost für mich. So fuhr ich also mit einem Kopf voll mühsam erworbenen Wissens, aber leider ohne Stellung nach Hause. Mutter wunderte sich, wie mager ich geworden war, aber ich sagte nicht, wie armselig ich gelebt hatte, denn ich wusste ja, wie sie über diesen Kurs dachte. Sie ärgerte sich, weil ich sie nicht um Erlaubnis gefragt hatte. Nun, das wäre wohl überflüssig gewesen, denn das wusste ich schon, dass sie ihn nicht billigen würde. Darum blieb ich ja auch in München, denn einen Handelskurs hätte ich auch in Wels oder Linz machen können, was natürlich viel leichter gewesen wäre.

„Ich studierte fleißig die Annoncen ...“ Zum Glück gab es zu Hause eine Menge Arbeit, da sich meine Eltern eine Neubauwohnung gekauft hatten und gerade jetzt die Übersiedelung bevorstand. Darüber freute ich mich, denn es war ein Kabinett dabei, welches ich bewohnen durfte. Ich kaufte mir von meinem restlichen Geld neue Möbel und richtete mir alles sehr schön ein. Auch meine Eltern steuerten etwas 212

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dazu bei, denn ich sagte immer, dass ich nicht heiraten würde, und so war das sozusagen mein Heiratsgut. Ja, mit diesem Zimmer hatte ich eine große Freude. So fehlte zu meinem Glück nur ein passender Wirkungskreis. Ich studierte fleißig die Annoncen, aber leider, es war das Jahr 1930. Da waren viele tüchtige Sekretärinnen arbeitslos, wie sollte ich da als Anfängerin ohne Praxis etwas finden? Ich war manchmal ganz verzweifelt. Müßig war ich zwar in dieser Zeit auch nicht. Ich begann wieder mit einer Heimarbeit, aber was man da verdiente, war wirklich zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Zum Glück konnte ich zu Hause sein, aber es bedrückte mich entsetzlich, dass ich nach so viel Mühe und Entbehrungen mein Ziel nicht erreichen konnte. Wie leicht vergisst man vieles, was man in so einem Schnellsiedekurs lernt, das fürchtete ich mit Recht. So vergingen Monate, und nichts ereignete sich. Ich war oft ganz deprimiert, am liebsten wäre ich manchmal schon gestorben. Eines Tages sagte meine Mutter, junge Leute vom Haus gingen auf ein paar Tage auf eine Alm in der Steiermark und hätten sie gefragt, ob ich nicht vielleicht mitkommen möchte, weil ich gar nirgends hingehe. Nun, darüber freute ich mich sehr und ging gern mit. Denn ich dachte daran, wie gern ich im Ennstal gewesen und wie glücklich ich damals war. Ja, das war wirklich einmal eine schöne Abwechslung für mich, nach so einer langen Zeit wieder einmal einem Vergnügen nachzugehen. Es wurden wirklich schöne und lustige Tage, und ich vergaß meine Sorgen. Ich hatte zu dieser Zeit gerade Geburtstag, was zufällig bekannt wurde, und da gab es ein fröhliches Hochlebenlassen. Es waren mehrere Leute auf der Alm mit Musikinstrumenten, und es wurde viel gesungen und gelacht. Die halbe Nacht feierten wir, es war eine Mordshetz*, denn es waren lauter lustige Leute, und ich musste immer wieder Lieder zum Besten geben. Ich hatte ja so viele auf Lager und freute mich, dass ich endlich wieder einmal Gelegenheit hatte, diese vorzutragen. Es war auch ein Ehepaar dabei, das ich nicht kannte, obwohl es nicht weit weg von uns wohnte. Da ich so wenig zu Hause 213

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war und nirgends hinging, kannte ich überhaupt sehr wenige Leute. Es war ein Zufall, dass sie gerade zur selben Zeit auf der Alm waren, aber dieser Zufall war eigentlich bestimmend für mein ganzes späteres Leben. Das ahnte ich damals natürlich nicht, aber es war so, dass ich ihnen dann öfter begegnete und wir immer von den lustigen Tagen auf der Alm sprachen. Daheim war alles beim Alten, und ich musste allmählich einsehen, dass es unmöglich war, eine Stelle in einem Büro zu bekommen. So musste ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, wieder zu meinem alten Handwerk – zu Besen und Staubtuch – zu greifen. Wie schwer mir dabei war, vermag ich nicht zu beschreiben. Ich war entsetzlich traurig. Aber ich wollte schon gerne von zu Hause weg, ich wollte wieder einen ständigen Wirkungskreis haben und vor allem wieder Geld verdienen. So bewarb ich mich aufgrund einer Annonce in Wien um eine Stelle als Stubenmädchen, die ich auch bekam. Ich war bis zu dieser Zeit noch nie in Wien gewesen und hatte ein bisschen Angst vor der Großstadt, aber es blieb keine Wahl, denn auch im Haushalt gab es nicht viele offene Stellen – meist nur als Köchin oder als Mädchen für alles.

„Ich tat meine Arbeit bis zum Abend, aber dann kündigte ich ...“ So packte ich wieder einmal schweren Herzens meinen Koffer und fuhr nach Wien. Ich zog mein blaues Kostüm mit einer weißen Bluse an, mit dem ich mich vor Kurzem hatte fotografieren lassen, und hatte einen kleinen, grauen Hut ohne Krempe auf. Ich kam zu einer sehr schönen Villa mit einem gepflegten Garten davor, und zwar in Hietzing*. Als ich mich der Dame vorstellte, musterte sie mich von Kopf bis Fuß, dann sagte sie wörtlich: „Tu einmal deinen Hut herunter, damit ich sehe, wie du da aussiehst!“ Ich war schon schockiert, als sie mich duzte, und dann erst recht, als sie mich sehen wollte, wie ich ohne Hut aussah. Das war ein Empfang, der nichts Gutes erwarten ließ. Nun, sie schien aber doch über mein Aussehen, 214

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auch ohne Hut, nicht enttäuscht gewesen zu sein, denn sie beauftragte die Köchin, mir mein Zimmer zu zeigen. Ich aber war über diesen Empfang empört. War es jetzt schon so weit auf dem Arbeitsmarkt, dass sogar auf ein schönes Aussehen großer Wert gelegt wurde, um den Herrschaften den Dreck wegputzen zu dürfen? Nein, ich konnte es gar nicht fassen, ich war entsetzlich traurig – schon in der ersten Stunde. Die Köchin zeigte mir zuerst die ganzen Räumlichkeiten des Hauses; da war ich angenehm überrascht, wie herrlich alles eingerichtet und wie schön alles gepflegt war. Ich dachte, in dieser Hinsicht kann es wohl kaum zu Beanstandungen kommen, denn ich bin sehr genau und arbeite am liebsten in solchen Haushalten. Dann zeigte sie mir mein Zimmer. Auch da war alles schön eingerichtet, darüber freute ich mich besonders. Ich dachte, hier müsse es doch gut zu leben sein, und wollte den schlechten Eindruck, den die Dame des Hauses durch ihr Benehmen hinterließ, vergessen. So gingen die ersten zwei Wochen verhältnismäßig ganz gut vorbei. Den Frühstückskaffee kochte ich in der Halle auf den damals üblichen Maschinen mit Spiritus; die kannte ich schon von früher. Eines Tages zersprang der gewölbte Glasdeckel, denn diese waren zu jener Zeit noch nicht so hitzefest. Es passierte oft, dass einer zersprang, das wusste ich auch von früher. Ich meldete es der Dame, denn ich war der Meinung, dass sicher ein Reservedeckel vorhanden sein würde. Dies war aber nicht der Fall. Nun bekam diese „Dame“ einen Wutanfall, der nicht zu beschreiben ist. Ich war ganz entsetzt. Ich höre sie jetzt noch im Geiste, wie sie wörtlich schrie: „Geschrieben hast du dumme Gans wie ein Buchhalter, sein und können tust du nichts, gar nichts!“ Ich lief schnell die Treppe hinunter, ich fürchtete mich, denn sie packte schon das schwere Silbertablett und schleuderte es mir nach. Sie traf mich nicht, aber mein armes Herz war schwer verwundet. Ich tat meine Arbeit bis zum Abend, aber dann kündigte ich und bat, dass ich gleich gehen dürfe, denn unter solchen Umständen sei ich nicht in der Lage, meine Pflicht zu tun. 215

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Da kam ich aber schön an – sie zwang mich, die vierzehntägige Kündigungsfrist einzuhalten. Mein Koffer war eingesperrt, und so war ich gezwungen, noch vierzehn Tage in diesem „gastlichen“ Hause zu bleiben. Es gab aber keine nennenswerten Sekkaturen* mehr. Ich zählte die Tage und Stunden, wann ich endlich die Türe von außen zumachen konnte. Die Köchin erzählte mir, was für ein großer Mädchenverschleiß in diesem Hause üblich sei. Sie selbst beneide mich, denn sie müsse bleiben, bis sie eine andere Stelle gefunden habe, weil sie niemanden habe. Sie tat mir aufrichtig leid. Ich ging sang- und klanglos aus dem Haus. Ich verabschiedete mich nicht, ich verzichtete sogar auf meinen Lohn; ich mochte diese Bestie nicht mehr sehen! Nach einigen Tagen bekam ich diesen aber zugeschickt, und zwar von ihrem Gatten. Dieser war ein hoher Regierungsbeamter. Was, wo und wie er regierte, weiß ich nicht, aber eines weiß ich ganz genau: Zu Hause regierte er nicht, das besorgte sein Hausdrachen. Er war ein erbärmlicher Waschlappen, denn sonst hätte er das bekannte Sprichwort einmal in die Tat umgesetzt, welches sagt: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!“* Sie verschonte auch ihn nicht, wenn sie schlechter Laune war, und setzte ihm Hörner auf. Ich hatte ein Zuhause, das ist wahr, aber ich wollte nicht nach Hause, denn ich schämte mich vor den Eltern, den Hausleuten und Bekannten, dass ich versagt hatte, denn allen Leuten wollte ich doch nicht erzählen, wie viele Gemeinheiten mir widerfahren waren. Leider war ich in Wien vollkommen fremd, aber ich glaube, ich wäre lieber in ein Obdachlosenheim gegangen, wenn ich von einem solchen gewusst hätte, um gleich wieder nach einer anderen Stelle zu suchen. Es war nicht etwa so, dass mir meine Eltern Vorwürfe gemacht hätten, denn als ich ihnen erzählte, wie gemein mich diese „Dame“ behandelt hatte, waren sie auch empört. Auch wussten sie selbst schon, wie schwer es war, eine Arbeit zu finden. Mein Bruder war auch oft arbeitslos und musste unter schwersten Bedingungen mit seinem schlechten Fuß beim Straßenbau arbeiten, weil er in seinem erlernten Beruf keine Stelle fand. 216

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Es war ja schön, daheim zu sein, denn jetzt hatte ich mein schön eingerichtetes Kabinett, aber ich war trotzdem traurig. Ich wollte doch arbeiten, tägliche Pflichten haben und vor allem etwas verdienen. So kam es, dass ich oft wartete, bis meine Eltern schlafen gingen, damit ich mich richtig ausweinen konnte, denn ich wollte ihnen das Herz nicht schwer machen, weil ich nicht wusste, was ich beginnen sollte. Es schien mir das ganze Leben sinnlos. Da kam mir oft der Spruch in den Sinn, weil er so viel Wahrheit in sich birgt: „Dein wahres Glück, o Menschenkind, so glaube doch mitnichten, dass es erfüllte Wünsche sind – es sind erfüllte Pflichten!“* Ich hatte mich so auf dieses Kabinett gefreut, aber ich wollte doch mit 27 Jahren nicht herumlungern und nichts tun. Nein, ich war manchmal ganz verzweifelt, ich wäre am liebsten gestorben.

„Bald machte er mir einen Liebesantrag ...“ Eines Tages ging ich mit meiner Mutter spazieren, da trafen wir das Ehepaar, welches auf der Alm war, als ich auch dort war. Sie hatten einen Besuch mit, den Bruder des Mannes. Da fingen sie zu schwärmen an, wie lustig es damals gewesen sei, wie ich mit meinen Liedern und Witzen die Leute unterhalten habe, und wir sollten doch wieder einmal zusammenkommen. Nun, ich dachte nicht an Vergnügen, mir war nicht danach zumute, aber ich zeigte mich fröhlich – denn wie’s da drin aussieht, geht niemanden was an! Der Besuch zeigte sich aber sehr interessiert, denn er sagte, dass er sehr musikalisch sei und viele Instrumente spiele; er möchte mich gern einmal singen hören. Ich beachtete diese Begegnung nicht weiter, und so gingen Mutter und ich allmählich wieder nach Hause. Nach ein paar Stunden kam der Mann von dem Ehepaar zu uns in die Wohnung und lud mich ein, doch zu ihnen zu kommen. Sie würden sich so freuen, mich wieder einmal singen zu hören; auch sein Bruder würde sich sehr freuen, und ich solle Zither und Gitarre mitbringen. Meine Eltern ermunterten mich, denn ich wollte nicht recht, da ich doch in letzter Zeit wenig 217

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geübt hatte und außerdem zum Singen nicht aufgelegt war. So versprach ich, am Abend zu kommen. Meine Eltern waren froh, wenn ich einmal wo hingehen konnte, denn sie wollten nicht, dass ich mich so absondere und zum Schluss ein Sonderling würde. So ging ich also hin, und da merkte ich, dass der Mann viel besser spielen konnte als ich, was mir gefiel. Es wurde ein sehr lustiger Abend, denn alle waren begeistert, wie gut wir zusammenspielten und sangen, und ich freute mich auch. Natürlich blieb das jetzt nicht bei dem einen Mal, und der Mann bat mich, ob er mich am Sonntag besuchen dürfe, da könnten wir meinen Eltern etwas vorspielen. So begann es also und wurde bald zur Gewohnheit, dass er jeden Sonntag kam. Meinen Eltern gefiel unser Singen und Spielen auch recht gut, denn bei uns gab es kein Radio, und so war das auch für sie eine angenehme Abwechslung. Bald machte er mir einen Liebesantrag, aber der große Altersunterschied gab mir doch zu denken, denn er war zwanzig Jahre älter als ich. Aber ich war in einer so verzweifelten Lage, keine Aussicht auf Arbeit, und so schien es mir doch, ich hätte wenigstens ein Heim, einen Wirkungskreis – und er bestürmte mich so mit seiner Liebe. Er malte mir unsere Zukunft in den schönsten Farben aus. Natürlich galten wir bei den Eltern, Bekannten und Hausleuten bald als ein zukünftiges Paar. So dachte ich in meiner verzweifelten Lage, dass es für mich vielleicht doch gut wäre, wenn ich Ja sagen würde, obwohl ich von einer Liebe meinerseits nicht gut sprechen konnte; das sagte ich ihm auch, indem ich ihm von meiner ersten großen Liebe erzählte. Aber er wollte mich für alles entschädigen, wenn ich nur zu ihm kommen würde, und so sagte ich dann endlich ein zögerndes Ja. Auch freute ich mich, dass er mir gleich eine Violine brachte und mir Unterricht gab, denn ich wollte ja immer lernen. Dazu hatte ich nun Gelegenheit, und ich übte fleißig, was er sehr bewunderte. Auch einige Lieder textete und komponierte er für mich. Er hatte mehrere Schüler und wusste daher gut Bescheid. Meine Eltern waren über diese Entwicklung eigentlich recht froh, denn sie hofften, dass ich nun endlich einmal eine bleibende Stätte haben würde. 218

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Eines Tages aber machte mir die Frau des Ehepaars ein Geständnis. Nämlich, dass der Mann seit vielen Jahren geschieden sei von Frau und Tochter. Da war ich ganz verzweifelt. Meine Eltern waren mit Recht empört, dass sie das erst jetzt nach Monaten erfuhren; sie würden eine solche Verbindung nicht gutheißen. Ich machte ihm bittere Vorwürfe, aber er bat mich um Verzeihung. Er wollte mich auf alle Fälle gewinnen, und so hatte er es mir nicht zu sagen gewagt. Er sagte, seine Frau wäre schwer krank, und so würde es sicher nicht lange dauern, bis wir heiraten könnten. Ach, war das eine schwere Zeit, die ich nicht mehr erleben möchte! Auf der einen Seite die Ablehnung meiner Eltern, was ja ganz natürlich war, wo sie doch so christlich waren. Dazu das Gerede der Leute, und auch ich hatte zu dieser Zeit noch strenge moralische Begriffe. Auf der anderen Seite bestürmte mich der Mann mit seiner Liebe und wollte mich nicht verlieren. Dazu noch meine schwierige Lage, weil ich keinen Posten fand, so sehr ich mich auch bemühte. In dieser verzweifelten Situation wurde ich allmählich mürbe und sagte Ja, falls er eine passende Wohnung fände. Meinen Eltern blieb schließlich auch nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und sicher waren sie froh, dass ich endlich aus dem Haus kam, damit sie wieder ruhiger leben konnten. Schließlich hatte mich das Leben im Laufe der Jahre auch schon gelehrt, wie weit man es mit Moral, mit Lernbegier und Schaffensfreude bringen kann – nämlich zu nichts, zu gar nichts. Das ewige Hausieren mit meiner Arbeitskraft hatte ich schon wirklich satt. Und wenn ich damit einen Menschen glücklich machen konnte, war es immer noch besser als auf etwas zu warten, was allem Anschein nach aussichtslos war. Freilich war die Zukunft für mich auch in diesem Fall alles eher als rosig, denn mein Mann musste von seinem Gehalt als kleiner Bahnbeamter 35 Prozent Alimente für Frau und Tochter zahlen. Da konnte ich mir schon ausrechnen, dass Schmalhans Küchenmeister sein würde. Aber mein Mann beruhigte mich, dass er ja viele Musikschüler habe und so viel wie nur irgend 219

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möglich dazuverdienen werde. Eines aber wollte ich auf gar keinen Fall: in so ärmliche Verhältnisse ein Kind in die Welt setzen, wenngleich ich immer gern Kinder gehabt hätte. Denn ich stellte mir vor, dass dieses noch ärmer wäre als ich, weil ich ihm nicht einmal einen ehrlichen Namen geben könnte. Zu dieser Zeit war ein uneheliches Kind noch eine Schande und musste meist überall abseitsstehen. Er war der gleichen Meinung und versprach mir, in allem meinen Willen zu tun, wenn ich nur zu ihm käme, kurzum: Er war bemüht, in jeder Hinsicht meine Bedenken und Ängste zu zerstreuen. So war also die Situation, als er mir eines Tages freudestrahlend sagte, dass er eine passende Wohnung gefunden habe, die Mitte April beziehbar sei. So sind also die Würfel gefallen, und ich stellte mich darauf ein, dass ich zu ihm ziehen würde. Jetzt gab es genug zu planen und zu besorgen und mich auf mein neues Leben vorzubereiten. Ich tat es gewissenhaft, damit es keine Panne geben konnte; es war alles sehr schwer. Ich war traurig, dass ich so gar nichts im Leben erreicht hatte, obwohl ich so voll Hoffnungen und guten Willens gewesen wäre. Aber andererseits musste ich mich trösten, dass es so viele gescheiterte Existenzen gab; Menschen, die auch so viele Mühen und Entbehrungen auf sich genommen haben und denen eben jene unselige schlechte Zeit keine Chance gab, ihre Wünsche und Träume zu verwirklichen.

„So stahl ich mich also wie eine Verbrecherin aus dem Haus ...“ So kam der Tag meiner Übersiedelung nach Linz. Es war der 14. April 1931, diesen werde ich nie vergessen, so alt ich auch werde. Zu Hause bereitete ich alles vor, denn meine Möbel und all meine Habe wurden am nächsten Tag mit einem Auto in unsere Wohnung gebracht. Ich aber fuhr zeitig früh mit dem Fahrrad fort, damit mich niemand vom Haus sah. Ich habe mein Vorhaben streng geheim gehalten, denn ich schämte mich zu sehr. Ich, die ich immer so streng geurteilt habe, fuhr jetzt 220

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selbst zu einem Mann, um mit ihm in wilder Ehe zu leben. Ja, das mag wohl jedem recht denkenden Menschen unfassbar erscheinen, das war natürlich klar. So stahl ich mich also wie eine Verbrecherin aus dem Haus, ich drehte mich nicht um, denn ich war sicher, dass mir Mutter nachsah und bitterlich weinte über meinen unrühmlichen Auszug aus dem Elternhaus. Bei uns war das Abschiednehmen ja nie besonders herzlich, denn eine Umarmung oder einen Kuss gab es nie, aber diesmal musste ich mich schon sehr zusammennehmen, um nicht loszuheulen, es würgte mich sehr. Nachdem ich einige Zeit geradelt war, kam ich an ein kleines Wäldchen; da machte ich auf einem Baumstumpf Rast und weinte mich tüchtig aus. Mein ganzes Leben ließ ich im Geiste vorüberziehen, wie es einmal auf, dann wieder ab gegangen ist; zu was ich es nun im Leben gebracht hatte trotz meines guten Willens. Nun war ich dabei, meine ganze strenge Moral über den Haufen zu werfen, weil sie mir ja doch nichts eingebracht hat und ich jetzt in den Augen dieser Menschen keinen Charakter habe. Als ich mich richtig ausgeweint und etwas beruhigt hatte, fuhr ich weiter und kam gut an den vereinbarten Platz, wo mein Mann schon lange gewartet hatte und ganz außer sich war. Er fürchtete, ich hätte es mir doch noch anders überlegt und er warte vergeblich auf mein Kommen, denn er wusste gar wohl, wie schwer mir dieser Entschluss gefallen ist. Überglücklich schloss er mich in seine Arme. Wir gingen gleich in unsere Wohnung, auf die ich schon sehr neugierig war. Sie gefiel mir recht gut. Es gab eine Küche, ein großes Zimmer und einen kleinen Balkon. Er stellte mich auch gleich den Hausherrenleuten vor, die mich freundlich empfingen, was mir sehr wohltat, denn ich fürchtete, sie würden mich wenig achten, weil wir, ohne heiraten zu können, zusammenleben wollten. Es waren aber Gott sei Dank aufgeschlossene Menschen und fanden nichts Ehrenrühriges daran, und darüber war ich wirklich froh. Die Küchenmöbel waren schon dort, diese hatten wir uns auf Raten gekauft. Auch seine Möbel waren schon drinnen. Am nächsten Tag kamen dann meine Möbel und all meine Habe. Nun, schön war das Zimmer natürlich nicht, da unsere Einrich221

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tungen ja verschieden waren, aber wir hofften, dass wir uns bald ein neues Schlafzimmer kaufen könnten, wenn wir recht sparsam wären. Ich richtete also die Wohnung her, so gut ich es unter diesen Gegebenheiten vermochte. Arbeit hatte ich in der Wohnung nicht viel, auch mit dem Kochen nicht, denn wir lebten mehr als bescheiden, aber wir waren damit zufrieden. Es gab ja doch viele Sachen, die auch für einen kleinen Haushalt unbedingt nötig waren, die musste ich eben kaufen, und wo hätte ich sonst sparen können als beim Essen? Aber, Gott sei Dank, wir waren beide nicht verwöhnt. Hunger ist ja bekanntlich der beste Koch, und uns schmeckte alles, wenn es auch noch so dürftig war.

„... er lebte nur für die Musik“ Mein Mann hatte viele Schüler für die verschiedenen Instrumente, und er lieferte jeden Schilling ab. Er brauchte im Monat nur ein paar Schillinge für die billigsten Zigaretten. Die Schüler kamen zum Teil in unsere Wohnung, zum Teil ging mein Mann in die Wohnung der Schüler, wenn es die Eltern wünschten. Er war ziemlich streng, wenn die Kinder nicht fleißig geübt hatten, und so war es für mich kein Vergnügen, wenn sie in die Wohnung kamen. Er plackte sich regelrecht ab, und je mehr Schüler er bekommen konnte, desto lieber war es ihm, damit er nach Möglichkeit viel verdiente, weil er ja wusste, wie notwendig wir das Geld brauchten. Er kümmerte sich nicht, wie ich es mir einteilte, aber ich informierte ihn immer, wo und wie ich wirtschaftete, denn ich legte mir gleich ein Haushaltsbuch an, und so wussten wir immer, wo unser Geld hinkam. Er kümmerte sich aber nie darum, er überließ mir alles, er wollte sich damit nicht belasten. In dieser Hinsicht hatte er es besser als ich, denn es war wirklich nicht viel, was übrig blieb, wenn alle Verpflichtungen abgegolten sein wollten. In Wirklichkeit hatte ich ja noch nie einen Haushalt selbständig geführt, und ich musste erst sehen, was ein solcher eigentlich kostet. Nun, ich teilte es mir immer gut ein, ich wirtschaftete wirklich sparsam, 222

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kaufte nie etwas auf Schulden, und es gab nie Streit, wenn das Essen auch noch so armselig war. Mein Mann gab auch mir Unterricht in Zither, Gitarre und Harmonika, was mich recht freute, denn ich sah jetzt, wie wenig ich eigentlich konnte und wie falsch ich manches gemacht hatte. So hatte ich den ganzen Tag zu tun mit Lernen und Üben; er verlangte in dieser Hinsicht viel von mir. Auch schrieb er immer wieder Lieder und komponierte sie, die musste ich auch wieder lernen. Auch für Blas- und Streichmusiker komponierte er. Er kannte keine Freizeit, es kam fast nie vor, dass wir spazieren gingen oder uns sonst irgendwie unterhielten – er lebte nur für die Musik! Es war wirklich schade, dass diese seine große Leidenschaft nicht zu seinem Beruf werden konnte. Mit so viel Talent, Eifer und Ehrgeiz – dazu ein absolutes Gehör – hätte er es bestimmt zu etwas bringen können. Noch dazu hätte er als zwölfjähriger Bub die große Chance gehabt, doch leider erkannten seine Eltern diese nicht. In seiner Heimat sang er bei den Messen immer die Soli, und durch Zufall hörte ihn ein Fachmann; der war von seiner Stimme so beeindruckt, dass er ihn gleich nach der Messe fragte, ob er nicht Musik und Gesang studieren möchte. Da war er natürlich gleich Feuer und Flamme, aber er sagte, seine Eltern würden es wahrscheinlich nicht erlauben. Nun ging der Herr mit ihm nach Hause und belehrte den Vater, welch großes Talent in dem Buben stecke. Er werde schauen, dass er dorthin käme, wohin er gehöre, nämlich ins Konservatorium – und den Eltern entstünden keinerlei Kosten. Aber der Vater sagte, das komme überhaupt nicht in Frage, denn in einem Jahr käme der Bub aus der Schule und könne so wie er im Bergwerk unterkommen und gleich Geld verdienen, was notwendig gebraucht werde bei zwölf Kindern und einem alten Häusl, das immer Geld koste. Ja, da tat er mir leid, als er mir erzählte, dass er sich vor seinem Vater niederkniete und ihn weinend mit aufgehobenen Händen bat, ihn doch gehen zu lassen, aber es half nichts, und so musste sich der Gönner leider ohne Erfolg verabschieden. 223

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Und so wie es bestimmt war, kam er auch gleich nach der Pflichtschule in das Bergwerk – ein hartes Leben! Ich bin mit ihm die Strecke einmal gegangen, ich glaube es waren fast zwei Stunden – sommers und winters nur mit Holzschuhen und nur dürftig bekleidet und ernährt. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, dass ein Mensch so viele Jahre solche Strapazen ertragen kann bis zur Rente. Sein Vater hat es geschafft, aber die Rente konnte er nur ein Jahr genießen. Mein Mann blieb nicht so lange, er bemühte sich, zur Eisenbahn zu kommen, musste ganz unten anfangen, aber er war sehr ehrgeizig und machte alle Prüfungen, die nötig waren, um in den Beamtenstand zu kommen und seine Jahre in den Kanzleien verbringen zu können. Aber die Musik blieb zeitlebens seine große Leidenschaft. Schon als Vierzehnjähriger spielte er bei den verschiedenen Veranstaltungen auf Blech und Streich mit und verdiente damit immer Geld. Er spielte viele Instrumente, die er aus Büchern erlernte. Er hatte eigentlich für sonst gar nichts ein Interesse; das tat mir oft leid, denn ich war ein vielseitig interessierter Mensch. Ich habe sehr gerne gelesen, und die Hausfrau borgte mir einmal ein Buch. Da war er aber von mir sehr enttäuscht, dass ich meine Zeit vergeude, anstatt dies und jenes zu üben. Ich aber war enttäuscht, weil er mir dieses harmlose Vergnügen nicht gönnte und nicht verstehen konnte, dass ich auch für etwas anderes Interesse haben konnte als nur für Musik und Gesang. Er hat nie im Leben ein Buch gelesen und konnte es nicht verstehen, dass mir dies ein Vergnügen bereiten konnte. Nun, ich las kein Buch mehr, ich wollte deswegen keine Missstimmung aufkommen lassen. So übte und lernte ich halt immer fleißig, und je mehr ich konnte, desto glücklicher war er. Unsere Hausherrenleute luden uns öfter ein, ihnen etwas vorzuspielen und vorzusingen, denn sie hörten es sehr gerne, und es waren immer schöne Abende. Auch wir freuten uns immer, denn wir wurden großzügig bewirtet.

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„So arm sollte es doch nicht sein, schon vom ersten Tage an“ So vergingen einige Monate schnell und gut, aber allmählich machte sich die allgemeine Geldknappheit auch bei den Eltern der Schüler bemerkbar, und wenn der Unterricht auch nicht teuer war, so hörten doch immer wieder Schüler auf, und andere wollten nicht lernen. Das war natürlich immer schlimm für uns, da wir ja mit diesem Geld rechnen mussten. Mein Mann war bemüht zu unterrichten, so viel er konnte, aber es war nun einmal so: Die Schüler wurden immer weniger und mein Mann immer deprimierter, sodass ich immer noch diejenige sein musste, die den Mut nicht verlor. Und eines Tages wusste ich auch, warum er so niedergeschlagen war. Ich lag schon im Bett, als er sich weinend vor mich hinkniete und mir gestand, dass er auch noch für ein außereheliches Kind mit vier Jahren Alimente zahlen müsse und nun das Geld dafür nicht mehr heimlich beschaffen könne. Er habe gehofft, dass er es mir nie gestehen müsse, aber nun wisse er nicht mehr aus und ein, denn die Alimente müssten bezahlt werden. Ich möge ihm das um Gottes willen verzeihen, denn er könne und wolle ohne mich nicht leben. Ich machte ihm keine Szene, aber ich war wie vor den Kopf geschlagen. Einerseits hatte ich Mitleid, weil er so bitterlich weinte, aber innerlich verurteilte ich ihn doch. So blieb mir also nichts anderes übrig, als auch mit dieser Belastung fertigzuwerden, und das war wahrlich nicht leicht. Wenn ich heute darüber nachdenke, wie und wovon wir damals leben mussten, wundere ich mich, dass man davon überhaupt leben und gesund bleiben kann. Es gab nie Fleisch, keine Eier, keine Butter, kein Obst, kein Gemüse, rein nur Erdäpfel und Kraut. Und da ging ich einige Male den Markt entlang, wenn die Bauern schon abräumten, wo es am schäbigsten und daher am billigsten war, denn eines kam für mich nie in Frage, nämlich etwas schuldig zu bleiben. Und wenn es für ein altes Brot nicht reichte, dann gab es eben keines, und das war auch manchmal der Fall. 225

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Natürlich war ich unter diesen Umständen oft nicht in Stimmung zu musizieren und zu lernen, und darüber war mein Mann sehr gekränkt. Da dachte ich oft an die Zeit, in der ich so gern immer lernen wollte, und nun verdross es mich, aber es war ja auch kein Wunder bei so vielen Sorgen. Ich wurde also die Geister nicht mehr los, die ich so ersehnt hatte, denn ob ich wollte oder nicht, um des lieben Friedens willen lernte ich doch, aber ohne die einstige Begeisterung, sondern nur einem Zwange gehorchend. Es war wirklich eine schwere Zeit, aber das Allerschlimmste war dann, als ich merkte, dass ich schwanger war. Ich war ganz verzweifelt. Ich wollte doch von Haus aus unter diesen Verhältnissen kein Kind in die Welt setzen, und damals wusste ich noch gar nicht, wie sich diese erst noch verschlechtern würden! Ich wusste nicht aus noch ein. Wie konnte ich ein gesundes Kind zur Welt bringen bei meiner einseitigen, ärmlichen Ernährung? Und ich hätte ja nicht einmal Fetzen, um es einwickeln zu können. Nein, unter diesen Umständen fand ich es buchstäblich unverantwortlich, ein Kind in die Welt zu setzen. In meiner Verzweiflung vertraute ich mich unserer lieben Hausfrau an und bat sie um Rat. Und obwohl ich ihr nicht alle Einzelheiten unserer ganzen Armut geschildert habe, begriff sie doch, wie arm und hilflos ich war, und sie sah auch ein, dass es am besten wäre, wenn ich einem Arzt meine verzweifelte Lage schildern würde. Ja, sie tat es sogar für mich bei einem bekannten Arzt. So war der Doktor über meine verzweifelte Lage schon informiert und schärfte mir strengstes Stillschweigen ein, denn er mache das nur, wenn eine Frau in einer besonders schwierigen Situation sei. Das glaubte ich auch, denn er machte es nur aus Mitleid und verlangte auch nicht viel. Wenn ich heute darüber nachdenke, wundere ich mich, wie unwissend ich eigentlich war, und wie leicht ich für ein paar Jahre ins Zuchthaus hätte kommen können. Aber ich wusste nichts von dem Paragraphen* 144, rein gar nichts, ich hatte keine Ahnung. Woher hätte ich auch eine haben sollen? Es gab kein Radio, kein Fernsehen, keine Zeitung, und ein Gespräch über so ein Thema gab es 226

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ganz einfach nicht, das war viel zu unmoralisch. Dass es eine Sünde war, ahnte ich schon, aber ich dachte auch, wie sehr ich mich immer bemüht habe, brav und anständig zu leben und trotzdem auf keinen grünen Zweig gekommen bin. Und es war ja nicht etwa so, dass ich nicht gerne ein Kind gehabt hätte, im Gegenteil, ich hätte mich sehr gefreut, wenn ich es in ein halbwegs warmes Nesterl hätte legen können. So arm aber sollte es doch nicht sein, schon vom ersten Tage an. So ging beim Arzt alles bald vorüber. Ich ging zu Fuß nach Hause und legte mich auf Anraten des Arztes ins Bett. Da kam dann so eine Verlassenheit und Traurigkeit über mich, und ich weinte und weinte. Ich konnte gar nicht aufhören, weil ich so unglücklich war. Wahrscheinlich hatte ich zu lange meine Tränen zurückgehalten, kurzum: Ich fühlte mich elend und verlassen. Mein Mann war ja bestrebt, wo immer es möglich war, etwas zu verdienen, aber ich fühlte mich so unverstanden. Er überließ alles mir, wie ich es machte, war es ihm recht, und so hatte ich in allem, die Verantwortung allein zu tragen. Ich weiß nicht, ob er in seinem Alter auch so unwissend über den Paragraphen 144 war wie ich, oder wollte er mich nicht noch mehr beunruhigen in unserer Verzweiflung, dass er mich nicht vor der Gefahr gewarnt hatte? So lag ich mit meinen trüben Gedanken und immer noch weinend im Bett, da klopfte es an der Wohnungstür. Ich rührte mich nicht, ich wollte auf keinen Fall öffnen. Der Schlüssel steckte aber, und so wusste man, dass jemand in der Wohnung ist. So blieb mir nichts übrig, als zu öffnen, denn meine Mutter stand in der Türe. Sie kam ganz unverhofft. Als meine Mutter sah, dass ich am helllichten Tag aus dem Bett gestiegen und in Tränen aufgelöst war, war sie voll Entsetzen und Mitleid für mich, denn sie hatte mich, seit ich erwachsen war, nie weinen gesehen, und auch als Kind weinte ich nicht leicht. Ich sah wohl ein, dass es keinen Sinn hätte, ihr etwas vorzulügen, und so erzählte ich ihr all meinen Kummer und alles Leid, das über mich gekommen ist. Da war sie so gütig zu mir wie nie zuvor. Und so gütig sie zu mir war, umso zorniger war sie über meinen Mann, der mich in eine so verzweifelte Lage 227

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gebracht hatte, und es kam für sie gar nicht in Frage, dass ich noch länger bei diesem Lumpen bliebe. Ich war froh, dass ich mir endlich einmal all mein Leid von der Seele reden konnte und dass Mutter so viel Verständnis dafür hatte, denn ich selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen, nach Hause zu gehen und sie mit meinem Kummer zu belasten. Erstens wusste ich, dass mich mein Mann nie und nimmer weglassen würde, und zweitens schämte ich mich entsetzlich, dass ich so Schiffbruch erlitten hatte. Aber ich wusste auch nicht, wie es weitergehen sollte. So vereinbarten wir, dass ich heimlich und ohne sein Wissen wegziehen würde.

„Das Heimkommen war für mich entsetzlich traurig ...“ Der kommende Sonntag war dafür sehr günstig, denn an diesem Tag war ein Blasmusiker-Wettbewerb in Wien, daran nahm die Eisenbahnerkapelle teil, und er war natürlich dabei. Für diesen Tag bestellte meine Mutter wieder dasselbe Auto, welches mich hergebracht hatte. So vereinbarten wir also alles ganz genau. Ich konnte meiner Mutter nicht einmal etwas anbieten, denn es war nichts im Haus, nicht einmal Brot. Bevor ich zum Arzt ging, hatte ich noch eine Rein voll eingebrannter Kartoffeln gekocht, da ich nicht wusste, ob ich nachher in der Lage sein würde. Mutter wollte auch gar nichts, denn bei diesen Enthüllungen ist ihr begreiflicherweise der Appetit vergangen. Sie machte sich bald auf den Weg, denn sie wollte meinen Mann auf gar keinen Fall sehen. Ich sagte ihm auch nicht, dass meine Mutter hier war. Es kam dann auch gleich ein Schüler, und so verging der Tag wie jeder andere. Für mich war er natürlich von neuen, unvorhergesehenen Gedanken erfüllt. Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, einfach wegzugehen und ihn im Stich zu lassen, andererseits sagte ich mir doch, dass er diese Strafe verdient habe, denn es war ihm wirklich jedes Mittel recht gewesen, um mich zu gewinnen, was ein Ehrenmann ganz einfach nicht dürfte. Freilich, für vieles konnte 228

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er nichts, denn er arbeitete ja, so viel er nur konnte; in dieser Hinsicht hatte er keine Schuld. Auch seine Bescheidenheit kannte keine Grenzen; er verzichtete selbst auf die billigsten Zigaretten, und ich sah, wie sehr sie ihm abgingen. So kam also der Sonntag, und mein Mann freute sich auf den Wettbewerb, denn er war sicher, dass seine Kapelle gut abschneiden würde. Auch für mich kam alles wie vereinbart. Was möglich war, hatte ich für den Abtransport schon gut vorbereitet, und so ging alles glatt. Auch den Hausherrenleuten sagte ich schon früher Bescheid über meine Absicht, und sie sahen ein, dass es für mich unter diesen Verhältnissen kaum möglich wäre, auf einen grünen Zweig zu kommen. Das Heimkommen war für mich entsetzlich traurig, weil es ja offenbar war, wie sehr ich Schiffbruch erlitten hatte, und ich schämte mich mehr denn je. Ich verschwand sogleich in unserer Wohnung und überließ es meinen Eltern und meinem Bruder, die Sachen hereinzuschaffen. Es war nicht etwa so, dass die Hausleute mir dies gönnten, denn ich war immer zu allen freundlich gewesen, und sie wussten ja auch, wie strebsam und anständig ich war. So war ich sicher, dass fast alle Mitleid mit mir hatten, aber das tat auch weh. Kurzum: Ich ging wochenlang nicht aus dem Haus. Später dann holte ich mir wieder bei meiner Bekannten Heimarbeiten und vor allem wieder Bücher, die meine einzige Freude waren. Da ging ich aber immer erst hin, wenn es dunkel war, denn ich wollte niemanden sehen. Dort fand ich Verständnis, dort konnte ich mich auch ausweinen, wenn es mich gar zu arg drückte. Die Reaktion meines Mannes nach der Heimfahrt vom Wettbewerb war fürchterlich. Meine Hausfrau schrieb mir gleich einen Brief, und sie teilte mir mit, dass sie Angst habe, er würde sich etwas antun. Sie versuchte ihn zu beruhigen, denn er gebärdete sich wie ein Wahnsinniger. Ja, so was Ähnliches hatte ich vorausgesehen, und darum wusste ich auch, dass ich im Guten niemals weggekommen wäre. An seinem ersten freien Tag tauchte er bei uns auf. Mutter ahnte gleich, dass er es sein könnte, als es läutete, und ging hinaus, schloss die Tür und ließ 229

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ihn nicht herein. Sie beschimpfte ihn, so viel sie nur hervorbrachte – und das war nicht wenig! Er verteidigte sich nicht; er bat nur immer wieder, sie möge es doch erlauben, dass er nur ein paar Minuten mit mir sprechen dürfe. Sie aber schimpfte weiter und schlug ihm zuletzt die Tür vor seiner Nase zu. Ich hatte gerade Gemüse geputzt und mich über das Geschrei so aufgeregt, dass ich mich erheblich in den Finger geschnitten hatte, sodass meine Mutter mich verbinden musste. Meine Gefühle waren kaum zu verstehen. Einesteils gönnte ich ihm diese Demütigungen, andernteils tat er mir wieder leid. Darüber sagte ich aber nichts zu meiner Mutter, denn da wäre ich schön angekommen, aber es war nun mal so. Mein Mann begnügte sich mit dieser Abfuhr aber keineswegs. Er kam am Abend ins Haus und ging zu den bekannten Parteien und bat sie, ein Wiedersehen mit mir zu ermöglichen. Dies war aber bei niemandem möglich. Bei uns war es von jeher nie der Brauch, in eine Wohnung zu gehen. Dann bat er sie, mir wenigstens einen Brief zu übergeben. Das war auch nicht leicht, weil ich ja nie ausging, frühestens am Abend, um mir Heimarbeit zu holen. Da gelang es dann einmal einer Partei, mich abzupassen, um mir einen Brief zu geben, denn er tat ihr so leid, weil er so unglücklich war. Nun, ich las diesen bei Bekannten, beantwortete ihn aber nicht. Meine Mutter ging abends, wenn es finster war, mit mir öfter spazieren, denn sie wollte nicht, dass ich gar nie ausging. Bei dieser Gelegenheit sagte sie wieder, wie schon einmal, dass es gut wäre, wenn sie sterben könnte, damit ich bei Vater eine bleibende Stätte hätte. Offenbar dachte sie nicht daran, dass dieser ja auch nicht ewig leben wird – und er starb auch viele Jahre früher als sie. So merkte ich halt, wie sie sich um meine Zukunft Sorgen machte, und es tat mir leid.

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„... wie sehr ich mich wieder nach einem eigenen Heim sehnte“ Bei meiner Bekannten sprach ich auch darüber, dass ich gern wieder eine Stelle annehmen würde; denn erstens ginge ich gerne von zu Hause weg, irgendwohin, wo niemand mich kenne, und zweitens wolle ich doch wieder richtig arbeiten und Geld verdienen. Eines Tages sagte sie mir dann, sie wüsste eine Stelle in der nächsten Stadt, allerdings nur als Mädchen für alles. Wenn ich möchte, würde sie mich gern empfehlen, denn es seien sehr nette Leute, sie kenne sie sehr gut und glaube, dass es mir bestimmt nicht schlecht gehen würde – es sei eine Arztfamilie. Ich sagte sofort zu und war ihr dankbar, dass sie sich so für mich bemühte. Meinen Eltern war es natürlich auch recht, und so packte ich wieder einmal meinen Koffer, mit sehr gemischten Gefühlen. Die Arztfamilie war wirklich sehr nett, und es war gar nicht schwer, mich anzugewöhnen. Ich hatte keine Sorgen, alle waren lieb und gut zu mir, und die Arbeit fiel mir nicht schwer, nicht einmal das Kochen. Es gelang mir alles und es schmeckte allen, denn sie waren nicht anspruchsvoll. Eines jedoch fiel mir sehr schwer, aber das war leider nicht zu ändern. Ich hatte nicht das kleinste Plätzchen für mich allein, da die Wohnung sehr klein war. Ich musste am Abend mein Bett im Wartezimmer aufschlagen und früh wieder wegräumen, darüber war ich wirklich traurig. Da dachte ich halt oft daran, wie schön es ist, eine eigene Wohnung zu haben, denn es ist nun mal so im Leben: Alles, was man einmal im Leben besessen hat und später entbehren muss, sieht man wieder mit anderen Augen, und das Schlechte ist scheinbar immer das, was man besitzt. Aber ich wollte zufrieden sein, denn sonst fehlte es mir an nichts. Ich hatte keine Hemmungen, Leuten zu begegnen, die ich beim Einkaufen kennenlernte, plauderte gerne, und niemand wusste, wie viel Leid ich hinter mir hatte. Darüber war ich froh. So vergingen ein paar Monate ohne irgendwelche Ereignisse oder Ärger. 231

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Eines Tages läutete es, ich ging wie immer zur Tür, und zu meinem Schrecken stand mein Mann da. Ich war ganz weg, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie er meine Adresse erfahren hatte. Nun, er durfte es mir nicht sagen, denn er habe sein Ehrenwort gegeben, es nicht zu verraten – ich habe es nie erfahren. Er begrüßte mich freundlich, brachte mir Blumen und bat mich um eine Unterredung. Ich war auch nicht unfreundlich, aber ich sagte, dies sei unmöglich, ich könne auf keinen Fall weggehen. Da kam gerade die Frau Doktor vorbei, und da ich noch nie einen Besuch gehabt hatte, sagte sie, ich solle ihn doch hereinführen. Er aber bat sie höflich, ob es nicht möglich wäre, dass ich für eine Weile frei haben könnte, und sie gab mir sofort für den ganzen Nachmittag frei. Obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, blieb mir nichts anderes übrig, denn es war mir unangenehm, vor der Frau Doktor von ihrer Liebenswürdigkeit keinen Gebrauch zu machen. So traf ich mich mit ihm zu der vereinbarten Zeit und Stelle. Ich hatte Angst vor dieser Aussprache, ich wollte mich nicht wieder aufregen, da ich doch so froh war, endlich in Ruhe leben zu können. Es war aber nicht allzu schlimm, denn er sah seine Fehler ein und war sehr zerknirscht. Er sagte, mein Weggehen sei wohl die schwerste Strafe für seine Vergehen gewesen und ich möge ihm doch verzeihen, damit er wieder etwas ruhiger werden könne, denn in diesem Zustand sei er kaum in der Lage, seiner Lieblingsbeschäftigung, der Musik, nachzugehen. Er erzählte mir, wie er alles geregelt habe und dass die Hausfrau ihm die ersten Tage beigestanden sei. Wie fröhlich er vom Musikwettbewerb nach Hause gekommen sei, weil seine Kapelle den ersten Preis bekommen habe, und wie bitter und traurig sein Eintreten in die ausgeräumte Wohnung gewesen sei. Nun, das konnte ich gut begreifen. Er habe die Wohnung bald aufgegeben und habe jetzt bei Bekannten ein möbliertes Zimmer. Ich erzählte ihm eigentlich nichts von mir außer den Vorwürfen, wie sehr er mich in vielem enttäuscht habe und wie sehr er mich auch mit dem vielen Üben und Lernen gequält und mir nicht einmal vergönnt habe, ein Buch zu lesen, kurzum: Alles hielt ich ihm unverblümt vor, was ich früher nie ge232

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wagt hätte, weil ich den häuslichen Frieden nicht stören wollte. Aber nun, weil ich nicht mehr abhängig war, hatte ich den Mut und sagte ihm alles, und zwar gründlich. Ich hielt ihm richtig einen Spiegel vors Gesicht, denn er wusste gar nicht, wie einseitig er durch die Musik geworden war und wie wenig Verständnis er für andere Dinge hatte, die auch das Leben schöner machen können. So war eigentlich ich diejenige, die die Szene beherrschte, und er wurde ganz kleinlaut und demütig und wusste kaum etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen. Als ich mich verabschieden wollte, bat er mich, doch noch ein bisschen zu bleiben. Er möchte mich wieder besuchen, ich solle ihm diese Freude gönnen, damit er etwas habe, auf das er sich freuen könne und seine Tage nicht gar so einsam und traurig wären. Wie ich ihn so zerknirscht und demütig sah, tat er mir doch wieder leid, und obwohl ich es eigentlich gar nicht gerne mochte, sagte ich doch Ja, damit er zu jammern aufhörte. So schlitterte ich also hinein, ohne dass ich es wollte, und er kam jeden Sonntag. Ich wunderte mich wirklich, dass er sich so strapazierte und viele Stunden auf der Bahn zubrachte, da ich doch wusste, wie er früher um jede Minute gegeizt hatte, um nur ja immer üben und schreiben zu können. Und schließlich war ich zwar nicht unfreundlich, aber auch nicht herzlich. Ich ging mit ihm in den Park, da saßen wir dann, bis ich wieder nach Hause musste, und wenn es regnete, ging ich früher. In ein Lokal ging ich nicht. Für ihn war es wirklich beschwerlich, denn er konnte nicht mehr bei seinem Bruder übernachten, da er sich mit ihm zerstritten hatte. Als er ihm nämlich sagte, dass er mich besuchen wolle, nannte der ihn einen Trottel und einen Waschlappen, weil er mir jetzt wieder nachrannte, nachdem ich ihn so schmählich verlassen hatte. Und von seinem Standpunkt aus konnte ich dieses Gezeter schon verstehen, denn ich weiß doch, dass mein Mann sich zu fest dafür schämte, was er alles falsch gemacht hatte und in welcher aussichtslosen Situation wir uns befanden. So gönnte ich ihm diese Abfuhr, weil er immer verschwieg, was unbedingt gesagt werden musste, und ich sagte es ihm auch. 233

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So vergingen einige Sonntage, und eines Tages musste ich erfahren, dass der Teufel nie schläft, wie es heißt, denn ich bekam von Mutter einen Brief, der mich vollkommen aus der Ruhe brachte, denn er strotzte von Beschimpfungen übelster Art. Sie hatte erfahren, dass ich mich mit meinem Mann getroffen habe. Ja, sie war sogar der Meinung, dass ich deswegen eine Stelle angenommen hätte, damit ich ihn treffen könnte. Da hatte sie aber nicht recht, denn ich hatte nicht geglaubt, dass ich ihn überhaupt noch einmal sehen würde. Nun, ich konnte ihren maßlosen Zorn gut verstehen, denn sie war es ja, die mich in der großen Not aus dem Schlamassel herausgeholt hatte, und da war es verständlich, dass sie so wütend war. Es tat mir aufrichtig leid, dass ich ihr schon wieder Kummer und Ärger bereitet hatte. Ich schrieb ihr dann, sie solle doch nicht gar so böse auf mich sein, weil ich ja schon viel mitgemacht habe im Leben. Darauf schrieb sie mir ganz kurz: „Alles, was du mitgemacht hast, hast du dir selbst getan!“, und noch weitere böse Worte. Da wusste ich, dass es ihr am liebsten wäre, wenn sie nichts mehr von mir hörte, und ich schrieb nur die üblichen Wunschkarten zu den Feiertagen und zum Namenstag. Meinen Mann ließ ich alles lesen, und es tat ihm leid, dass ich seinetwegen so viel einstecken musste. Er tröstete mich, so gut er konnte und kam weiterhin jeden Sonntag. Es war mir auch recht, denn ich hatte ja keinen Menschen, mit dem ich sprechen konnte; ich war so grenzenlos einsam und traurig! Warum er so beharrlich war mit seinen Besuchen, erfuhr ich eines Tages. Als ich von ihm weg war, bekam er ein paar anonyme Briefe, worin ihm mitgeteilt wurde, dass seine geschiedene Frau mit einem gut situierten Mann zusammenlebe und er daher nicht verpflichtet sei, ihr Alimente zu zahlen, weil sie so versorgt war. Darauf erkundigte er sich bei einem Rechtsanwalt, der dies bestätigte und ihm auch riet, eine Klage einzureichen. Er werde unter diesen Umständen sicher Erfolg haben. Nun, er tat es und hatte tatsächlich Erfolg. Er brauchte für seine geschiedene Frau keine Alimente mehr zahlen. Er brachte auch den Gerichtsbescheid mit, und ich war froh für ihn, dass er von dieser finanziellen Last befreit war. So, meinte er, wäre nun 234

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doch eine ganz andere Grundlage gegeben, und er bitte mich, wieder zu ihm zu kommen. Nach langem Hin und Her und nachdem ich verschiedene Bedingungen gestellt hatte in punkto Spielen und Lernen, sagte ich doch zu. Auch wenn es mir an meiner Arbeitsstelle gut ging, so sehnte ich mich doch auch selber wieder nach einem eigenen Heim, weil ich nicht das kleinste Fleckchen für mich allein hatte. Was ich meinen Eltern damit antat, wusste ich wohl; sie aber wussten nicht, wie sehr ich mich wieder nach einem eigenen Heim sehnte. Ich wusste auch, dass sie mir diesen meinen Entschluss nicht leicht verzeihen werden. Mutter schrieb nur, falls ich meine Möbel noch einmal wegbringen ließe, würde sie ins Wasser gehen, denn sie möchte doch nicht zum allgemeinen Gespött der Hausleute werden. Nun, diese Absicht hatte ich sowieso nicht. Mein Mann hatte einen ganz schönen Betrag erspart, und auch ich hatte etwas Geld, da konnten wir gleich eine Angabe für ein neues Schlafzimmer geben, das andere in Monatsraten. So vereinbarten und besprachen wir alles bis ins Kleinste. Er bemühte sich wieder um eine Wohnung, und eines Tages war es dann wirklich so weit. Meiner Herrschaft war sehr leid, als ich kündigte. Ich sagte, dass ich heiraten würde, und so kam der Tag meiner Abreise. Meinen Koffer gab ich auf der Bahn auf, ich selbst fuhr wie das erste Mal aus Spargründen mit dem Fahrrad. Es war insofern eine sehr traurige Fahrt für mich, denn ich musste in unmittelbarer Nähe vom Wohnhaus meiner Eltern vorbeifahren, aber ich getraute mich nicht hin, denn ich wusste ja, was für ein Donnerwetter mich da erwarten würde. Es wäre wirklich für beide Teile eine überflüssige Aufregung gewesen, und der Bruch war ja schon perfekt; also war es so am besten, aber es war mir sehr schwer ums Herz. Bei demselben Baumstumpf, bei dem ich das erste Mal gerastet hatte, machte ich wieder Halt und erinnerte mich, wie sehr ich damals geweint hatte. Nun, diesmal weinte ich nicht, aber ich nahm mir ganz fest vor, was immer kommen würde, ich würde durchhalten, und wenn es mir noch so schwer fiele; es war fast wie ein Schwur, den ich mir selbst geleistet habe. 235

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Die anfängliche Zuversicht Johanna Gramlingers wurde getrübt, als die Alimente für die Exfrau und die Tochter des Partners gerichtlich wieder eingefordert wurden und die Lebensgrundlage des Paares sich dementsprechend verschlechterte. In dieser Situation wurde die Autorin ein zweites Mal ungewollt schwanger und entschied sich neuerlich für einen Schwangerschaftsabbruch. 1938 konnte die Autorin ihren langjährigen Partner, Anton Gramlinger, nach dessen Scheidung von seiner ersten Frau, heiraten. Auch die Exfrau ihres Gatten heiratete wieder, sodass die belastenden Alimentsforderungen endgültig wegfielen. 1939 zog das Paar nach Wien, in der Hoffnung dort bessere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Nachdem Johanna Gramlinger als Hilfskraft in einer Herrenschneiderei und einer Strickerei gearbeitet hatte, bewarb sie sich als Gesellin in einer Schneiderei und erhielt die Stelle, obwohl sie nie eine entsprechende Lehre absolviert hatte. Durch Lernwillen und Fleiß arbeitete sie sich rasch zur stellvertretenden Chefin empor. Ihr Ehemann gab auch nach seiner Pensionierung weiterhin Musikunterricht. Außerdem kauften sich Johanna und Anton Gramlinger einen Pachtgrund, auf dem sie Hasen und Hühner hielten und Gemüse anpflanzten. Bald widmete die Autorin ihre ganze Energie der Gartenarbeit und gab ihre Anstellung als Schneiderin auf. 1942 verkauften Anton und Johanna Gramlinger den Pachtgrund und erwarben dafür ein Wochenendhaus in einer Kleingartensiedlung, das sie selbständig renovierten und winterfest machten. Nebenher nähte Johanna Gramlinger weiterhin für einige ehemalige Kundinnen der Schneiderei und übernahm sämtliche Näharbeiten auf einem Gutshof, wofür sie vorwiegend mit damals wertvollen Lebensmitteln entlohnt wurde. 1952 starb Anton Gramlinger. Die Autorin widmete sich weiter mit großer Leidenschaft der Arbeit in Haus und Garten. Sie bezog eine kleine Rente, verdiente aber weiterhin mit Nähen etwas Geld dazu, um sich Anschaffungen wie Plattenspieler, Fotoapparat oder Fernseher leisten zu können. Auch unternahm sie mehrere Reisen. 1969 wurde eine schwere Arthrose auf beiden Hüften festgestellt, die eine Operation erforderte. Da Johanna Gramlinger aufgrund der Schmerzen und der Gehbehinderung die schwere Gartenarbeit nicht mehr machen konnte, verkaufte sie ihr Häuschen und zog in ein Pfle236

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geheim nach Tulln. Nachdem ihr zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt worden waren und sie sich wieder schmerzfrei bewegen konnte, entschied sich Johanna Gramlinger ein weiteres Mal für die Selbständigkeit.

„... wie eine Suppenhenne, die zeitlebens getreulich ihre Pflicht erfüllt hat ...“ So kaufte ich mir eben eine Garçonniere* in Alt-Erlaa*. Der Einzugstermin war längstens für 1976 bestimmt. Leider wurde der Termin nicht eingehalten, und so sitze und warte ich im Juli 1977 noch immer auf meinen Einzug. Ich kann es schier kaum erwarten, so freue ich mich schon! Wenn ich denke, wie froh ich in meinem Häuschen gewesen bin, wenn ich nicht zu kochen brauchte, so sehr sehne ich mich jetzt danach, wieder den Kochlöffel schwingen zu können, um mir mein Süppchen selbst zuzubereiten. Manche Leute tippen zwar mit dem Zeigefinger auf die Stirne, weil sie nicht fassen können, dass eine Frau mit 73 Jahren so blöd sein kann, sich in diesem Alter noch eine Wohnung zu kaufen und vollkommen einzurichten. Sie finden es geradezu leichtsinnig, einen Heim­ platz aufzugeben, und sind der Meinung, wenn ich einmal wirklich ernstlich krank würde, dann würde ich sehen, was ich für eine Dummheit begangen habe. Nun, in dieser Hinsicht bin ich vollkommen beruhigt, denn dass verschiedene Wehwehchen in diesem Alter kommen werden, darauf stelle ich mich jetzt schon ein, damit es mich nicht wieder trifft wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Solange ich ein bisschen kann, versorge ich mich sehr gerne selber, und wenn es nicht mehr gehen sollte, habe ich auch keine Angst, denn da werde ich eben die vielen guten Einrichtungen in Anspruch nehmen, welche die Wiener Stadtväter für alle alten und hilflosen Menschen geschaffen haben. Ich bin ganz sicher, dass ich weder verhungern noch verdrecken werde. Ich tue also das, was mir am lebenswertesten erscheint, und das ist für mich ein eigenes Heim. 237

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Schließlich ist es ja nicht etwa so, dass ich mir die Kosten vom Munde absparen müsste. Nein, dazu ist der Erlös meines Häuschens da, und es wäre wohl unklug von mir, wenn ich den Lohn für jahrzehntelange und entbehrungsreiche Zeit nicht genießen würde. Freilich gibt das viel Kopfzerbrechen, damit man alles richtig macht. Aber es schadet bestimmt nicht, wenn man sein Gehirn ein wenig anstrengt, damit es nicht ganz einrostet. Ich sehe es ja hier am besten, um wie viele Freuden sich die Leute selbst bringen, weil sie sich in keiner Weise anstrengen wollen, immer nur die Höchste aller Freuden im guten und vielen Essen und Trinken sehen und immer nur jammern, weil wir zwei Weltkriege und so schlechte Zeiten erleben mussten. Nun, das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, und unser sozialer Staat hat doch auch für uns alte Menschen manches getan, und so ist es gut, mit den gegebenen Umständen fertigzuwerden. Schließlich sollte jeder Mensch seine Tage so gestalten, wie sie ihm am lebenswertesten erscheinen; das kann ihm trotz allem ein Staat nicht abnehmen. Wenn ich manchmal Bekannten meine Farbbilder von meinem schönen Garten vorführe, wundern sie sich immer, dass ich dies überhaupt ohne Tränen zustandebringe. Natürlich kann ich das. Es ist ja nicht etwa so, dass ich meinen Besitz im Übermut oder Unverstand verkauft hätte und jetzt darum weinen müsste. Ja, in diesem Fall würde ich ganz bestimmt darüber weinen und traurig sein. Aber mir blieb ja keine andere Wahl, denn ich hatte ja schon viel zu lange gezögert und mich dadurch zu einem Krüppel gearbeitet. Es war eine schöne Zeit, ich vergesse sie nie. Ich erlebe jedes Gartenjahr im Geiste so, wie ich es fast dreißig Jahre erlebt habe. Ich sehe im Jänner und Februar, wenn die Schneedecke nicht allzu hoch ist, den leuchtendgelben Winterling, wie er fürwitzig schon seine Blüten herausstreckt. Im März und April gehe ich mit der Brille bewaffnet zu sehen, ob sich die Spitzen der Krokusse, Märzbecher, Schneeglöckchen und all die Frühjahrsblüher etwa schon zeigen. Kaum dass die Rosen zur Knospe ansetzen, greife ich im Geiste schon zur Spritze, um noch vor den Läusen das Rennen zur schönsten 238

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Blüte zu machen, und so kommt eines ums andere. Es war ein Blühen von Februar bis Oktober, und da wollten es manche Spätblüher im Staudenbeet nicht zur Kenntnis nehmen, dass es Zeit ist, den Garten für den Winter zu bestellen, es blühte immer noch irgendetwas. Freilich, eitel Wonne ist auch der schönste Garten nicht, denn es bleibt oft Ärger, und die viele Arbeit muss auch immer getan werden. Wenn ich jetzt an Gärten vorübergehe, bewundere ich sie, wenn sie schön sind und gut gepflegt, wenn nicht, dann denke ich, wie ich dies oder das besser machen würde, und wenn ich ganz verwilderte sehe, denke ich, dies werden sicher Faulpelze sein. Nun werde ich aber meine Erinnerungen beenden, denn ich glaube, es wird doch bald meine Wohnung beziehbar sein, und da brauche ich mir dann nicht mit Gewalt eine Beschäftigung zu suchen, da bin ich dann sicher ausgelastet. Hier schrieb ich, um mir die Zeit zu vertreiben, für mich auf, an was ich mich erinnere. Aber nachdem es so umfangreich geworden ist, denke ich daran, mich zu erkundigen, ob es eine Zeitung vielleicht für Wert befinden würde, dass diese meine Geschichte gedruckt würde. Geschichten gibt es sicher mehr als genug, die auf eine Veröffentlichung hoffen, aber meist sind es eben Geschichten, die gut oder weniger gut erfunden wurden. Meine Geschichte hat aber den Vorteil, dass sie aus dem Leben gegriffen ist, also eine wahre Geschichte – eben mein Leben. Wenn ich mich frage, für welchen Personenkreis diese Geschichte wohl lesenswert wäre? Nun, ich denke für Alt und Jung. Viele alte Menschen, eben meine Generation, würden sich mit manchen Dingen identifizieren können, weil es ihnen genau so erging wie mir, und sie genauso kämpfen mussten; weil sie viele Talente besaßen und auch bereit waren, fleißig zu lernen und zu arbeiten und trotzdem ihre gesteckten Ziele nicht erreichten, weil ihnen diese erbarmungslose Zeit keine Chance gab. Vielleicht wäre es auch für junge Leute ein Gewinn, wenn sie lesen würden, wie schwer wir Alten es hatten. Vielleicht würden sie darüber nachdenken, wie gut es ihnen geht und wie vieles ihnen in den Schoß fällt, was wir ein ganzes Leben lang, trotz allem Streben, nicht erreichen konnten. 239

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Vielleicht urteilen sie dann nicht so hart, wenn alte Menschen verbittert und oft auch ungerecht sind, wenn sie erkennen, wie mühselig und beschwerlich ihr Lebensweg war. Nun, wenn ich Glück hätte und meine Erinnerungen wirklich gedruckt würden, hätte ich eine große Freude, wenn damit mein karges Budget etwas aufgebessert würde. Ja, ich käme mir wahrlich wie eine alte Suppenhenne vor, die zeitlebens getreulich ihre Pflicht erfüllt hat, wenngleich ihr nur wenig und minderwertiges Futter gestreut wurde, und nun am Ende ihrer Tage, bevor sie in den Suppentopf oder in die Pfanne gelegt wird, doch noch reichlich gute Weizenkörner zu picken bekäme, um ihren alten Kropf damit zu füllen.

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Glossar 48 (1848) – Als Reaktion auf den starren Konservatismus unter dem Außenminister und führenden Staatsmann Fürst Metternich, der liberale und nationale Bestrebungen mit Polizeigewalt und strenger Zensur bekämpfte und am System des monarchischen Absolutismus festhielt, kam es in der Habsburgermonarchie – ähnlich wie in ganz Europa – im Jahr 1848 zu einer bürgerlich-demokratischen Revolution. Gefordert wurde u. a. mehr demokratisches Mitspracherecht, die Aufhebung des Untertanenverhältnisses der Bauern, die Festlegung bürgerlicher Grundrechte, Presse-, Lehr- und Lernfreiheit, die Beseitigung der Zensur, und die Gleichstellung der Konfessionen. Dazu kamen Unabhängigkeitsbestrebungen aus den einzelnen Ländern der Habsburgermonarchie. In Wien kam es im März und im Oktober des Jahres 1848 zu revolutionären Aufständen, die von Studenten, Bürgern und Arbeitern getragen waren. Trotz einiger Erfolge der ­Revolutionäre (Sturz Metternichs in der sogenannten Märzrevolution beginnend am 13. 3. 1848, Einrichtung von liberal-demokratischen Übergangsregierungen in Wien und Budapest, Aufhebung der bäuerlichen Untertanenlasten im Juli 1848) konnten die kaiserlichen Truppen letztlich die revolutionären Bestrebungen niederschlagen. Der im Oktober erstmalig gewählte Reichstag, der einen demokratischen Verfassungsentwurf ausgearbeitet hatte, wurde im März 1849 von Kaiser ›Franz Joseph I. aufgelöst, der eine neue zentralistische, auf dem monarchischen Prinzip beruhende Ordnung einrichtete. 66 (1866) – Preußisch-österreichischer Krieg (auch Deutscher Krieg genannt). Kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Großmächten Österreich und Preußen (mit Unterstützung von Italien) um die Vorherrschaft im Deutschen Bund. 241

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Nach der Niederlage Österreichs in der Entscheidungsschlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 rückten preußische Truppen bis gegen Wien (Stockerau, Gänserndorf) vor. ­Österreich verpflichtete sich im Frieden von Prag mit ­Preußen (23. 8. 1866) und im Frieden von Wien mit Italien (3. 10. 1866) u. a. zur Anerkennung der Auflösung des Deutschen Bundes sowie zur Abtretung Venetiens an Italien. 90 (1890) – Der 1. Mai wurde in Österreich erstmals im Jahr 1890 von den Sozialdemokraten festlich begangen, obwohl die Arbeitsniederlegung von staatlicher Seite als gesetzeswidrig erklärt wurde. Im Vorfeld war die Stimmung in der Bevölkerung angespannt. Zeitungen berichteten, dass „Soldaten in Bereitschaft“ seien. Trotzdem befolgten viele Arbeiter/innen die Streikparole; in Wien zogen mehr als 100 000 Personen in den Prater. Die Kundgebung verlief friedlich. abspitzen, auch: abgespitzt – hier: abschauen, abschreiben, durch Zuschauen erlernen agnoszieren – eine/n Tote/n identifizieren Akademie (Wiener Neustädter Akademie) – Offiziersschule in der Wiener Neustädter Burg. Die Theresianische Militärakademie, so der offizielle Name, wurde 1751 von Kaiserin Maria Theresia gegründet und dient heute noch dem Österreichischen Bundesheer als Ausbildungsstätte für Offiziere. Alt-Erlaa – Teil des 23. Wiener Gemeindebezirks Liesing. Hier befindet sich die größte nicht kommunale Wohnhausanlage Österreichs, der „Wohnpark Alt-Erlaa“ mit mehr als 3000 Wohnungen. Ambras (Schloss Ambras) – Renaissanceschloss und Museumsbau aus dem 16. Jahrhundert. Heute dient das Schloss Ambras als Außenstelle des Kunsthistorischen Museums Wien. ankam (was mich nicht leicht ankam) – was mir schwerfiel; was mich Überwindung kostete Anrede – kurze, feierliche Ansprache anschmieren, auch: angeschmiert – (sich) täuschen, betrügen, übervorteilen; getäuscht, betrogen Anstand – hier: Beanstandung, Schwierigkeiten antico – italienisch für: antik, altertümlich 242

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antrenzen – tropfenweise fallen lassen (z. B. Speisen oder Getränke), sabbern Ärar – Staatshaushalt, Staatsvermögen, Fiskus Arkadenhof – Innenhof des Hauptgebäudes der Universität Wien. Hier wird auf 154 Tafeln und Büsten berühmter Wissenschaftler gedacht. Unter anderen wird auch an Ernst ›Fleischl-Marxow (Tafel Nr. 84) erinnert. Die einzige Frau, die bisher eine Gedenktafel im Arkadenhof erhalten hat, ist Marie von ›Ebner-Eschenbach. Arsenal – militärische Anlage im 3. Wiener Gemeindebezirk, die in den Jahren 1849 bis 1856 errichtet wurde. Das Arsenal umfasst 72 Gebäude und diente als Kaserne, Depot und Waffenmuseum. Heute ist das Heeresgeschichtliche Museum im Arsenal untergebracht. Aspik – Gallert, Sülze; durchsichtige, steife Masse aus verkochten tierischen oder pflanzlichen Stoffen ausgemacht – hier: gescholten, ausgeschimpft auskennt – mundartlich für: ausgekannt Ausrückung – militärischer Aufmarsch in Formation Austragstüberl – Wohnraum für die im Austrag (Altenteil) lebenden alten Bäuerinnen und Bauern. Der Austrag regelt die Altersversorgung im landwirtschaftlichen Bereich und sichert den Alten nach der Hofübergabe an ihre Kinder u. a. Wohnrecht und Verpflegung zu. auswaggoniert (werden) – (organisiertes) Aus- oder Umsteigen aus Zügen, besonders bei militärischen Truppentransporten Avancierung – rangmäßige Beförderung Bagage – hier: Gesindel Barchent – Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle Barterl – Kinderlätzchen Bediente/r – jemand, der anderen Dienste leistet; Diener, Dienstbote beloben – veraltet für: belobigen, loben, auszeichnen Bergisel – Hügel südlich von Innsbruck; Schauplatz der „vier Schlachten am Bergisel“ im Kampf gegen die bayerische Herrschaft in Tirol (1809). 243

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Blankenberge – Badeort an der belgischen Nordseeküste Bosnien (Krieg mit Bosnien) – Okkupationskämpfe in Bosnien und Herzegowina von 1878/79. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg – ausgelöst durch einen Aufstand der christlichen Bevölkerung gegen die osmanische Herrschaft im Jahr 1875 – wurde Bosnien-Herzegowina 1878 auf dem Berliner Kongress unter österreichische Verwaltung gestellt. Daraufhin besetzte Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina gegen beträchtlichen Widerstand der muslimischen Bevölkerung. Brandmalereien – durch erhitzte Metallstifte (Brennstifte) verziertes Holz; traditionelles Kunsthandwerk Burgtheater – österreichisches Bundestheater in Wien. Eine der ältesten und traditionsreichsten Theaterbühnen Europas. Das mit dem Kaiserhaus eng verbundene alte Burgtheater wurde 1748 am Michaelerplatz, neben der Hofburg, eröffnet. Die Hofloge war direkt von den kaiserlichen Gemächern aus erreichbar. Von 1849 bis 1867 war Heinrich ›Laube Direktor des Burgtheaters. Unter seiner Leitung erreichte das Theater eine führende Stellung im deutschsprachigen Raum. 1888 übersiedelte das Burgtheaterensemble in das neue Burgtheater am Ring. Der von den Architekten Gottfried Semper und Carl Hasenauer konzipierte Neubau provozierte anfangs vor allem wegen seiner schlechteren Akustik viel Kritik. Busch-Bücher – Kinderbücher des Dichters und Zeichners Wilhelm Busch (1832–1908). Sein berühmtestes Buch „Max und Moritz – eine Bubengeschichte in sieben Streichen“ wurde 1865 erstmals aufgelegt. In Knittelversen erzählt Busch die bösartigen Streiche zweier Jungen, die am Schluss in einer Mühle gemahlen und von Hühnern aufgefressen werden. Caro – Hund der Familie ›Fleischl-Marxow Cätrinte, rumänisch: cătrinţe – Schürze der rumänischen Schürzentracht. Cătrinţe sind längliche, rechteckige (Woll-) Tücher. Es werden jeweils zwei dieser Tücher – eines vorne und eines hinten – wie zwei Schürzen getragen. In der Hermannstädter Region sind die (schwarzen) cătrinţe häufig mit Metallfäden (silber oder gold) bestickt. 244

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Chloral, eigentlich Chloralhydrat – erstes synthetisch hergestelltes Schlafmittel (1832 vom Chemiker Justus von Liebig). Neben Schlafstörungen wurden im 19. Jahrhundert auch Atemwegserkrankungen oder Neuralgien (Nervenschmerzen) mit Chloralhydrat therapiert. Chloral hat eine süchtig machende Wirkung. s. ›Chloralkrankheit Chloralkrankheit – Chloralismus oder Chloralvergiftung; bei der Einnahme von ›Chloralhydrat über einen längeren Zeitraum tritt eine Gewöhnung an den Wirkstoff ein, was eine ständige Erhöhung der Dosis erforderlich macht und nebst einer Abhängigkeit zu einer Vergiftung des Organismus führt. Eine Chloralvergiftung äußert sich kurzfristig in Dauerschlaf oder Bewusstlosigkeit. Bei einer längeren, hoch dosierten Einnahme führt ›Chloralhydrat u. a. zu Verdauungsstörungen, Atemnot, Depressionen und Angstzuständen. Bei einem Entzug sind auch Psychosen möglich. Im 19. Jahrhundert war Chloralismus eine weitverbreitete Sucht. Chloroformieren – Betäubung mittels Chloroform (Trichlormethan), ein 1847 in die chirurgische Praxis eingeführtes Narkotikum. Chloroformdämpfe verursachen Bewusstlosigkeit und Schmerzlosigkeit, sind jedoch krebserregend und wirken schädlich auf Herz und Leber. Unmittelbare Nebenwirkungen sind Störungen im Verdauungstrakt. Chloroform wird heute nicht mehr als Narkotikum verwendet. Cholera-Anfall – hier: Brechruhr (Cholera europaeae). Die Erkrankung äußert sich in Brechdurchfall, trat im 19. Jahrhundert, vor allem in heißen Sommern, häufig auf und verlief relativ glimpflich. Davon unterschieden wird die Cholera asiatica, die sich schnell verbreitende und häufig tödlich verlaufende Epidemie. Coiffuren – Kopfschmuck (früher: „Kopfputz“); eine schmückende Kopfbedeckung, die nicht in erster Linie der Bedeckung des Kopfes dient, sondern als Modeaccessoire zur Hervorhebung der eigenen Person eingesetzt wird. Comptoir – hier: Handelshaus Consommé – französisch für: klare Suppe 245

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Corpus Delicti – Gegenstand oder Werkzeug des Verbrechens, Beweisstück; hier: Anstoß erregender Gegenstand Corso (Via del Corso) – eine der Hauptstraßen in der Innenstadt von Rom Courths-Mahler-Buch – die populäre deutsche Schriftstellerin Hedwig Courths-Mahler (1867–1950) verfasste zahlreiche Unterhaltungsromane, in denen Liebende sich trotz vieler Hindernisse und Intrigen finden, dabei häufig traditionelle Standesschranken überwinden und gemeinsam Glück, Erfolg und Reichtum erlangen. Crema, due soldi – italienisch für: Creme für zwei Soldi. Crema bedeutet nicht, wie fälschlicherweise von Ida ›Fleischl-Marxow angenommen, Germ (Hefe), sondern ist die italienische Bezeichnung für Creme, Salbe. Soldi war im 19. Jahrhundert die kleinste verfügbare Einheit der italienischen Währung Lira in Form von Kupfermünzen. dalkert – ungeschickt, unbeholfen, dumm Dein wahres Glück, o Menschenkind … – Zitat nach Friedrich Karl von Gerok (1815–1890), evangelischer Theologe und Dichter („Dein bestes Glück, o Menschenkind, berede dich mitnichten, dass es erfüllte Wünsche sind: Es sind erfüllte Pflichten!“) dienstlich – hier: zu Diensten, diensteifrig Döbling – 19. Wiener Gemeindebezirk Dreck (der letzte Dreck im Kalender sein) – offenbar eine Vermischung der Redensarten „der letzte Dreck sein“ (sozial missachtet, ausgestoßen sein) und „es steht Dreck im Kalender“ (es steht schlimm); hier für: schief angesehen, abschätzig behandelt werden Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin ... – Berliner Gassenhauer nach einer Melodie aus der Operette ›Fatinitza des österreichischen Komponisten Franz von Suppé. Ehrenzeichen (Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft) – das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft wurde 1887 von Kaiser ›Franz Joseph I. gestiftet und galt in der k. u. k. Monarchie als höchste Auszeichnung und Anerkennung im Bereich von Kunst und Wissenschaft. Marie von ›EbnerEschenbach erhielt dieses Ehrenzeichen im Jahr 1899. 246

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Einbrennsuppe – in Fett geröstetes Mehl (Mehlschwitze), mit Wasser oder Brühe aufgekocht Eiertommerl – im Ofen gegarte Mehlspeise Ein Fallissement – wörtlich: ein Bankrott. Theaterstück des norwegischen Dichters Bjørnstjerne ›Bjørnson über den wirtschaftlichen Zusammenbruch einer großen Firma und den sozialen Abstieg eines Unternehmers. Das sehr erfolgreiche, gesellschaftskritische Drama wurde in Wien erstmals im Jahr 1884 im ›Burgtheater aufgeführt. Einfascherei, von: faschen (mit einer Binde umwickeln) – Bandagen, Verbände; hier als Verkleidung eingekampfert (und gepfeffert) – mit Kampfer (und Pfeffer) behandelt. Der Kampferbaum enthält ein ätherisches Öl, das u. a. zur Bekämpfung von Motten und Holzwürmern eingesetzt wird; auch Pfeffer kann in der Möbelpflege zur Ungezieferbekämpfung herangezogen werden. Einheitskurzschrift – die Deutsche Einheitskurzschrift (DEK) wurde 1924 eingeführt und ist das im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreitete Stenographie-System. Einjährig-Freiwilliger – das Einjährig-Freiwilligen-Jahr stellte in der k. u. k Armee eine Alternative zum dreijährigen Militärdienst dar und stand jungen Männern mit mittlerer und höherer Schulbildung offen. Die Ausbildung endete mit der Ernennung zum Reserveoffizier. Elektrisiermaschine – Apparat zur Erzeugung von Reibungselektrizität. Elektrisiermaschinen wurden im 19. Jahrhundert u. a. für Heilzwecke eingesetzt. Die sogenannte „Elektrotherapie“ nutzte die chemische Wirkung elektrischen Stroms für die Behandlung von Nerven- und Muskelkrankheiten. Enns (Militärschule) – von 1906 bis 1918 bestand in Enns, Oberösterreich, eine Militärunterrealschule, vergleichbar mit einem Oberstufenrealgymnasium. Die vierjährige Kadettenschule diente der Vorbereitung auf den Besuch einer Militärakademie. Equipage – elegante Kutsche 247

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Erwerbsverein (Wiener Frauen-Erwerb-Verein) – gegründet 1866 zum Zweck der Ausbildung und Förderung von Frauen und Mädchen. Es war die erste wirtschaftliche Frauenorganisation Österreichs, die sich für bessere Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten von Frauen einsetzte. Esplanade – eingeebnete, freie Fläche, die ursprünglich als Schieß-, Waffen- oder Paradeplatz genutzt wurde Exzellenz, auch: Exz. – Ehrentitel, der in der Habsburgermonarchie von einem Geheimrat ›Geheimer Rat (also v. a. von hohen Militärs, Ministern, Botschaftern sowie deren Ehefrauen) geführt werden durfte Fantaisie (Schloss Fantaisie) – ein im 18. Jahrhundert erbautes Schloss in der Nähe von Bayreuth (Bayern) Fatinitza – Operette in einem Akt von Franz von Suppé; Uraufführung 1876 im Carltheater, einem Altwiener Vorstadttheater im 2. Wiener Gemeindebezirk (Leopoldstadt) Fisolen – grüne Bohnen Fogosch – ungarisch: Zander Franzensfeste (italienisch: Fortezza) – Ort in Südtirol, wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Brennerverkehr Frascati – beliebtes Ausflugsziel südöstlich von Rom Frauenkäferln – Marienkäfer (lat. coccinellidae) Fretterei – mühevolle, anstrengende Arbeit füreinander (bringen) – eins vor das andere bringen; hier: eine Vielzahl an Speisen auf engem Raum wunschgemäß vorbereiten können Gabelsberger – hier für das von Franz Xaver Gabelsberger (1789-1849) entwickelte und bis in die 1920er Jahre meistgenutzte Kurzschriftsystem für die deutsche Sprache. Die Gabelsberger-Stenographie gilt als Vorläuferin der 1924 eingeführten Deutschen ›Einheitskurzschrift. Gallinaccio – hier: Truthahn, Pute Ganghofer – Ludwig Albert Ganghofer (1855–1920); deutscher Schriftsteller, Verfasser von Heimatromanen Garçonniere – zeitgemäß ausgestattete, möblierte Kleinwohnung für eine Person 248

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Gaudee, von lateinisch: Gaudium – auch: Gaudi; Ausgelassenheit, Freude, Spaß Geheimer Rat – eigentlich Geheimrat: Titel, mit dem in der Habsburgermonarchie oberste Beamte und Angehörige des kaiserlichen Hofstaates in besonderer Vertrauensstellung bzw. beratender Funktion zum Kaiser ausgezeichnet wurden. Geheimräte durften sich als ›Exzellenz titulieren lassen. gekampfert und gepfeffert – s. ›eingekampfert und gepfeffert Gemeindeplatz – 1908 wurde der Gemeindeplatz im 3. Wiener Gemeindebezirk (Landstraße) nach dem heilig gesprochenen Mailänder Erzbischof Karl Borromäus (1538–1584) in Karl-Borromäus-Platz umbenannt. Germ, Germteig – Hefe, Hefeteig gespitzt – hier: geschaut, gestaunt Girandolen – Armleuchter Goldenes Dachl – Wahrzeichen der Stadt Innsbruck. Der mit feuervergoldeten Kupferschindeln gedeckte und mit Freskenmalereien und Erkerreliefs verzierte Prunkerker wurde um 1500 im Auftrag von Kaiser Maximilian I. gebaut. Gräfenberger Bandagen – in Gräfenberg (Schlesien) errichtete der Naturheiler Vincenz Prießnitz 1838 eine Wasserheilanstalt. Mit Kaltwassertherapien – kalten Wassergüssen, Wicklungen, Umschlägen etc. – erzielte er große Erfolge bei seinen Patient/inn/en und erlangte bis weit über die Landesgrenzen hinaus Berühmtheit. Vermutlich handelt es sich bei den erwähnten Gräfenberger Bandagen um eine Anwendung der Prießnitzer Kaltwasserkur. Greinz – Rudolf Greinz (1866–1942); österreichischer Schriftsteller; Autor von Unterhaltungsromanen, Humoresken und Geschichten aus dem Tiroler Volksleben in der Tradition der Bauerndichtung Großtrafik, auch: Trafik, von: italienisch: traffico (Handel) – Verkaufsstelle für Tabakwaren, Zeitungen, Zeitschriften und Kleinwaren. 1749 führte Kaiser Joseph II. in Österreich das Tabakmonopol ein. Anbau, Herstellung und Handel von Tabak blieben dem Staat vorbehalten. Die staatliche Be249

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willigung zum Betreiben einer Trafik wurde bevorzugt an Kriegsopfer und schuldlos verarmte Beamte verliehen. gründlich machen – sauber machen, putzen Gutachten – hier: Gutdünken Habitus – hier: die äußere Körperbeschaffenheit eines Kranken; das Befinden einer Person Häfen, auch: Häferl – Topf bzw. kleiner Topf Hafteln – Häkchen, Ösen Hausfrau – hier: Vermieterin, Hausbesitzerin Hausfrauenverein (Wiener Hausfrauenverein) – ein im Jahr 1875 gegründeter Verein zur Wahrung der wirtschaftlichen und häuslichen Interessen der Frauen. Der Hausfrauenverein bot eine unentgeltliche Stellenvermittlung für Dienstmädchen an, engagierte sich für die Einrichtung von „Dienstbotenschulen“ und schuf eine „Prämienkasse für Dienstmädchen“. „Treuen“ Dienstboten – das heißt, Dienstboten, die länger als sechs Jahre in der gleichen Familie dienten und mindestens ein Jahr lang Mitglied bei der Prämienkasse waren – wurde eine Prämie im Wert von 20 Gulden und ein Ehrendiplom verliehen. Helene Gasser erhielt zweimal eine Prämie vom Wiener Hausfrauenverein. Hermannstadt (rumänisch: Sibiu; ungarisch: Nagyszeben) – Stadt in Siebenbürgen, Rumänien Hetz, auch: Mordshetz – Spaß; Riesenspaß Heumarktkaserne – Kaserne „am Heumarkt“ im 3. Wiener Gemeindebezirk, die 1910 abgerissen wurde Hietzing – 13. Wiener Gemeindebezirk Hinwerden (zum Hinwerden gelacht) – totgelacht Ho capito, pasta di burro – italienisch für: Ich habe verstanden, Butterteig. Die heute gängige Bezeichnung für Butterteig (Blätterteig) ist pasta sfoglia. Hofkirche – die Hofkirche in Innsbruck beherbergt das pompöse Kenotaph (leere Grabmal) von Kaiser Maximilian I., die Silberne Kapelle mit den Grabmälern des Tiroler Landesfürsten Erzherzog Ferdinand II. und seiner bürgerlichen Frau Philippine Welser sowie die letzte Ruhestätte des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer. 250

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Hofmeister – Hauslehrer, Erzieher Hohenlohe – fränkisches Adelsgeschlecht Hörrohr – längliches Rohr mit trichterförmiger Öffnung, das vor die Ohrmuschel gehalten ein besseres Hören ermöglicht. Die Schallwellen werden gesammelt in den äußeren Gehörgang geleitet, was eine Verstärkung der Schallenergie bewirkt. Indian – kurz für: indianischer Hahn, Truthahn Indianerdörfl – gemeint ist der Brunnwinkl, ein Ortsteil von St. Gilgen am Wolfgangsee, wo die Familien von ›Frisch und ›Exner ihre Sommerfrische verbrachten. In der Nähe vom Brunnwinkl ließ sich auch Theodor ›Billroth einen Landsitz errichten. Die Bezeichnung „Indianerdörfl“ ist vermutlich eine Wortschöpfung der Autorin bzw. ihrer Dienstgeberfamilie ›Fleischl-Marxow. Jakerl, Jako – Papagei von Ida ›Fleischl-Marxow Jardinieren – Schalen für Blumenpflanzen Josef (Der ägyptische Josef und das verbrecherische Weib) – Helene Gasser nimmt hier Bezug auf eine Bibelstelle (Genesis 39, 7-20): Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft worden war, arbeitete als Sklave im Haus des Hofbeamten Potiphar. Als dessen Frau Josef aufforderte, mit ihr zu schlafen, widersetzte er sich und lief davon. Sie wollte ihn festhalten, aber er riss sich los und nur sein Gewand blieb in ihrer Hand zurück. Potiphars Frau rächte sich an Josef, indem sie ihrem Mann erzählte, dass er sie vergewaltigen wollte. Daraufhin ließ Potiphar ihn ins Gefängnis werfen. Jour – Jour fixe. Ein für regelmäßige Treffen fest vereinbarter Termin. Der Begriff stammt aus dem Gesellschaftsleben des 18. Jahrhunderts. Großbürgerliche Haushalte bestimmten einen Tag des Monats oder der Woche, an dem jede/r zu Besuch kommen konnte, auch ohne geladen zu sein. Ein gut besuchter und etablierter Jour fixe erhöhte das gesellschaftliche Ansehen einer Familie. Kaiserjäger (1.  Tiroler Kaiserjäger-Regiment) – eigentlich: 1. k. u. k. Tiroler Jäger-Regiment. Bezeichnung für vier In251

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fanterieregimenter der österreichisch-ungarischen Armee, die als Elitetruppen des k.  u.  k. Heeres galten. 1914/15 erlitten die „Kaiserjäger“ an der Ostfront in Galizien enorme Verluste. Kalksburg (Kollegium Kalksburg) – 1856 gegründetes katholisches Gymnasium und Schulzentrum am südlichen Stadtrand von Wien Karfiol – Blumenkohl Katzelmacher – abschätzige Bezeichnung für Italiener, hier für die italienische Sprache Kernfett – Rindertalg. Bei der Schlachtung von Rindern gewonnenes Nieren-, Darm- und Lungenfett, das ausgelassen und mit Schweinefett gemischt ein ausgezeichnetes Kochfett für ›Einbrennsuppen ist. Kettenstrafe – eine bis ins 19. Jahrhundert verbreitete Form des Strafvollzuges für besonders schwere Verbrechen. Die Häftlinge wurden mit einer eisernen Kette an die Zellenwand gefesselt oder durch eine schwere Kette an den Füßen in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Abgeschafft wurde die Kettenstrafe in Österreich in der von Anton ›Hye ausgearbeiteten Strafgesetznovelle von 1867. Klausenburg (rumänisch: Cluj; ungarisch: Kolozsvár) – Stadt in Siebenbürgen, Rumänien Klistier – medizinischer Einlauf zur Darmreinigung. Einspritzen einer Flüssigkeit (häufig warmes Wasser mit Öl, Salz, Essig, Seife) in Mastdarm oder After zur Entleerung des Darminhaltes. klug – hier: sparsam, wirtschaftlich, geizig Kopftyphus – veraltete alltagssprachliche Bezeichnung für Nachfolgeerkrankungen von Typhus (typhus abdominalis), einer Infektionskrankheit mit hohem Fieber und Darmbeschwerden. Kopftyphus äußert sich in Gesichtslähmungen, Bewusstlosigkeit oder Delirien. Vermutlich handelte es sich bei Kopftyphus um eine Hirnhautentzündung (Meningitis). Kommissionen – hier: Aufträge, Erledigungen, Botengänge Kondukt – Geleit, Leichenzug Kondukteur – Schaffner 252

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Königin von Saba – Oper in vier Akten des Komponisten Karl Goldmark. Das 1875 an der Wiener Hofoper, der heutigen Staatsoper, uraufgeführte Werk gilt als eine der erfolgreichsten Opern des späten 19. Jahrhunderts. Knäblein – die Bezeichnung Knäblein wurde einmal von einem Besucher für die Söhne der Familie ›Fleischl-Marxow verwendet, was allgemein als unpassend bzw. belustigend empfunden wurde; sie wird demnach hier ironisch eingesetzt. Kneippkur – eine von Sebastian Kneipp (1821–1897), Pfarrer und Naturheilkundler, entwickelte Heilmethode aus Wasseranwendungen (Wickel, Güsse, Bäder, Waschungen, Wassertreten etc.) Kredenzen – Küchenschränke mit Anrichte Kretin, von: französisch: crétin (Idiot) – veraltete Bezeichnung für eine geistig, körperlich oder psychisch behinderte Person. Kretinismus bedeutet ursprünglich eine angeborene Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose), die eine geistig verzögerte Entwicklung und körperliche Missbildungen zur Folge hat. Kreuz (es ist ein Kreuz) – hier: eine Last, eine Schwierigkeit; es ist verflixt Kriegsanleihe – Wertpapier, das meist in Verbindung mit heftiger patriotischer Propaganda von Regierungen vergeben wird, um den Kriegsaufwand zu finanzieren; durch die Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg wurden die gezeichneten Anleihen wertlos. Kronstadt (rumänisch: Braşov; ungarisch: Brasso) – Stadt in Siebenbürgen, Rumänien Kugler-Bonbons – Zuckerbonbons des Konditors Henrik Kugler. Das von Kugler gegründete Café Gerbeaud in Budapest wurde dank Kuglers legendären Bonbons, Torten, Likören, Eiskreationen, Teespezialitäten und der erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem Unternehmer Emil Gerbeaud, der das Lokal führte und später übernahm, zu einem der berühmtesten Kaffeehäuser Budapests, das heute noch existiert. 253

Kuli – Taglöhner in Südostasien; hier: Bezeichnung für eine rücksichtslos ausgenutzte Person Landler – Protestanten aus Oberösterreich (dem „Landl“), aus Kärnten, Salzburg und der Steiermark, die im 18. Jahrhundert unter Kaiser Karl VI. und Kaiserin Maria Theresia aus dem österreichischen Kernland nach Siebenbürgen in die Nähe von ›Hermannstadt deportiert wurden. Latte caldo e zucchero – italienisch für: warme Milch und Zucker Lautenbänder – zur (Lauten-)Gitarre gehörende, schön verzierte, bemalte oder mit Sprüchen bestickte Bänder lederne Medaille – symbolische Auszeichnung für hervorragende Leistungen, aber ohne materiellen Wert (im Gegensatz zu Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen) Leopoldstadt – 2. Wiener Gemeindebezirk Loser – Berg im steirischen Salzkammergut (1838 Meter hoch) Lydi – Hund von Ida ›Fleischl-Marxow und Betty ›Paoli Mährisch-Weißkirchen, tschechisch: Hranice – Stadt in Mähren (Tschechische Republik); bis 1918 war Mähren ein Kronland der Habsburgermonarchie. marode – krank, erschöpft Marianka (tschechisch: Mariechen) – hier: (böhmische) Köchin. Viele der böhmischen und mährischen Zuwandererinnen nach Wien verdienten ihren Lebensunterhalt als Köchinnen. Die Marianka wurde – häufig besungen in Couplets und Parodien – zum Sinnbild einer böhmischen Köchin. Martyrer – hier: Mensch, der große Leiden erdulden muss Maul (ein Maul anhängen) – frech widersprechen Menage (Menage führen): – Verpflegung; sich selber verpflegen bzw. kochen (im Gegensatz zum Speisenkonsum im Wirtshaus) Meran – hier: Grafen von Meran. Nachkommen von ›Erzherzog Johann und Anna ›Plochl merkwürdig – hier: des Merkens würdig, bemerkenswert, auffallend Mistbauer – Nachdem 1839 vom Wiener Magistrat der Abtransport des Abfalls (österreichisch: Mist) beschlossen worden war, waren bis in die 1920er Jahre sogenannte Mistbau254

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ern mit ihren Pferdewägen für die Beseitigung des Abfalls zuständig. Moiré – Gewebe mit Maserungsmuster (ähnlich einer Holzmaserung) aus Seide oder Viskose Montreux – Kurort am Genfersee, bekannt für sein mildes Klima Mordshetz, auch: Hetz – Riesenspaß Mordsplätten, von: Plätte – kielloses, aus Holz gefertigtes, breites und flaches Arbeitsschiff, das vorwiegend im Alpen-Donau-Raum für Gütertransporte eingesetzt wurde; hier: ein besonders großes Schiff dieser Art Neubau – 7. Wiener Gemeindebezirk Niedernhart – psychiatrische Anstalt in Linz; heute: LandesNervenklinik Wagner-Jauregg Obergespan – der höchste Beamte eines ungarischen Komitats. Im österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 verlor Siebenbürgen seinen Autonomiestatus und wurde der ungarischen Reichshälfte zugesprochen. Oberhutmann – Oberaufseher im Bergwerk Offiziersmesse, von: englisch: mess (Mahlzeit) – Speise- und Aufenthaltsraum von Offizieren Office – Anrichteraum Palatin – Monte Palatino; einer der sieben Hügel Roms. Er gilt als ältester bewohnter Teil der Stadt. Paperl – Papagei Paradeiser – Tomaten Paragraph 144 – von 1768 bis 1973 war laut dem Paragraphen 144 des österreichischen Strafgesetzbuches der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe gestellt. Seit 1975 gilt die Fristenlösung, in der ein Abbruch der Schwangerschaft bis zur zwölften Woche straffrei ist. Partezettel – Todesanzeige Pepita – Stoffmuster aus kleinen, zweifarbigen Karos, die diagonal miteinander verbunden sind. Benannt nach der spanischen Tänzerin Josefa de la Oliva, deren Spitznamen Pepita de Oliva (Olivenkern) war.

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Pest – Stadtteil von Budapest am östlichen Ufer der Donau. Bis zum Zusammenschluss von Pest, Buda und Óbuda zu Budapest im Jahr 1873 war Pest eine eigenständige Stadt. Pestfall – im Jahr 1898 infizierte sich ein Laborant des Pathologisch-anatomischen Instituts der Universität Wien mit Pestbazillen. Eine Studienkommission hatte diese aus Bombay mitgebracht, wo 1896 die Lungenpest ausgebrochen war, um damit Tierversuche durchzuführen. Der Laborant, sein behandelnder Arzt und eine Pflegerin starben innerhalb weniger Tage. Diese letzten „Pestfälle“ erzeugten eine große Aufregung in Wien, da man eine neuerliche Pestepidemie befürchtete. Dank gut funktionierender Quarantänemaßnahmen kam es jedoch zu keinen weiteren Erkrankungen. picken – kleben, haften Pincio – Monte Pincio; Hügel im Nordosten von Rom Portechaise – tragbarer, geschlossener Kasten mit einer Sitzfläche und Fenstern Post – Gasthaus zur Post in St. Gilgen Pötzleinsdorf – Stadtteil im 18. Wiener Gemeindebezirk (Währing). Hier befindet sich die Schloss- und Parkanlage Pötzleinsdorf, die 1868 in den Besitz von Julie von ›Ladenburg kam. Prego, dov’ è grande acqua? – italienisch für: Bitte, wo ist das große Wasser (das Meer)? putzen – hier: tadeln, zurechtweisen Putzer (bekommen) – eine Rüge, einen Verweis bekommen Rastelbinder – hausierender Topf- und Kesselflicker; hier als Schimpfwort verwendet. rekommandiert – eingeschrieben Remasuri – Trubel, großes Durcheinander, Tumult Rennweger Kaserne – Kaserne im 3. Wiener Gemeindebezirk (Landstraße) Rexapparat – Gerät für eine bestimmte Art des Konservierens von Obst oder Gemüse durch Erhitzen und luftdichten Verschluss in speziellen Gläsern Ribisel – Johannisbeeren 256

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Rotzbua – Rotzbub, schlimmer Junge, Bengel Russenbluse – kragenloses, gerade geschnittenes, längliches und mit Ornamenten besticktes Oberteil, das an die Tracht von russischen Bauern erinnert Säge – hier abgekürzt für: Sägewerk Salmis – Ragout aus Wildbret oder Wildgeflügel Sárospatak – Kleinstadt im Nordosten Ungarns. Das Schloss in Sárospatak war seit 1807 im Besitz der Fürsten von ›Bretzenheim Schinakel – kleines Boot, Ruderboot Schmelzer Kaserne – hier: Graf-Radetzky-Kaserne im 16. Wiener Gemeindebezirk (Ottakring), nahe dem ehemaligen Parade- und Exerzierplatz „Auf der Schmelz“ Schnipfer – Lausbub Schwabe (ungarischer) – Bezeichnung für einen Angehörigen der deutschsprachigen Bevölkerung im südosteuropäischen Raum (Banat, Siebenbürgen usw.). Um die in den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert großteils entvölkerte pannonische Tiefebene wiederzubesiedeln, das wirtschaftliche Leben anzukurbeln und die Militärgrenze zum Osmanischen Reich zu sichern, förderten die habsburgischen Kaiser im 17. und 18. Jahrhundert die Ansiedlung von Kolonisten in verschiedenen Regionen des Donauraumes. Obwohl die Schwaben lediglich fünf Prozent der Siedler ausmachten, wurden sämtliche deutschsprachigen Kolonisten als „Schwaben“ bezeichnet. Schwarzen Hund – Drogerie zum Schwarzen Hund. Im Palais Arnstein am Hohen Markt 1 im 1. Wiener Gemeindebezirk wurde 1862 die Drogerie zum Schwarzen Hund eingerichtet, die bald zu einer angesagten Adresse Wiens wurde. Seelentränker – sehr schmales, leichtes und wendiges Boot Seifengeist – Seife in Äthanol (Spiritus) aufgelöst, auch Seifenspiritus. Diente früher neben der Anwendung als Fleckentferner auch als Heilmittel bei äußeren Verletzungen. Sekkaturen – Belästigungen, Schikanen sekkieren – belästigen, quälen 257

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sekundiert, von: sekundieren – mit Worten oder Taten Beistand leisten Sonnwendfeuer – Der Brauch, in den Nächten um die Sommersonnenwende (21. Juni) auf Hügeln und Berggipfeln Feuer zu entzünden, hat vorchristliche Wurzeln. Im Zuge der Christianisierung wurde das Fest der Sommersonnenwende durch das Fest der Geburt Johannes des Täufers (24. Juni) ersetzt, sodass die Sonnwendfeuer regional auch als Johannisfeuer bezeichnet werden. Spagat – hier: Bindfaden Speis – Speisekammer Spenzer – kurzes, eng anliegendes Jäckchen Spezi, Spezin – guter Freund, gute Freundin; Kumpel spigola – italienisch für: Seebarsch Stadt – hier: abgekürzte Bezeichnung für die Innere Stadt, den 1. Wiener Gemeindebezirk. Stadttheater (Wiener Stadttheater) – ein von Heinrich ›Laube gegründetes, bürgerliches Theater, das als Konkurrenz zum stark ans Kaiserhaus gebundene ›Burgtheater konzipiert war. Aufgeführt wurden in dem 1872 eröffneten Stadttheater im 1. Wiener Gemeindebezirk sowohl klassische Stücke als auch moderne Tragödien und Lustspiele. 1884 brannte es völlig aus und wurde daraufhin zu einem Varietétheater (Verbindung von Theater, Ballsaal und Restaurant) umgebaut und in „Etablissement Ronacher“ umbenannt. Heute ist das „Ronacher“ ein Musicaltheater. stockwelsch – s. ›welsch Stockwohnung – Wohnung, die ein gesamtes Stockwerk eines Hauses einnimmt Striezel – längliches Hefegebäck in geflochtener Form subito in stufa – italienisch für: sofort in den Ofen Tapperl – Klaps, leichter Schlag Theaterfeldwebel – Aufsichtsorgan im Theater Theresianum – Gymnasium und Internat im 4. Wiener Gemeindebezirk (Wieden). Von 1746 bis 1783 war das Theresianum eine jesuitische Erziehungsanstalt (Ritterakademie), 258

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ab 1797 ein katholisches Gymnasium. Noch heute ist das Theresianum eine Privatschule mit Internat (öffentliches Gymnasium der Stiftung Theresianische Akademie). Tirol – hier: Südtirol, das bis Ende des Ersten Weltkrieges zu Österreich-Ungarn gehörte und im allgemeinen Sprachgebrauch nicht explizit von (Nord-) bzw. (Ost-)Tirol unterschieden wurde. Tobelbad – ehemaliges Heilbad in der Weststeiermark. Der Kurbetrieb wurde 1938 eingestellt. Tramway – Straßenbahn. In Wien wurde 1865 die Pferdetramway – ein auf Schienen laufendes, von Pferden gezogenes Verkehrsmittel – in Betrieb genommen. Carl ›Fleischl-Marxow war Präsident der Wiener Tramway-Gesellschaft. Tresse – Borte Tummelplatz – historischer Waldfriedhof auf einer Lichtung südwestlich des Schlosses ›Ambras in Innsbruck. Ullstein-Hefte – ab 1912 im Ullstein Verlag erscheinende Handarbeitsbücher „Ullstein-Schnittmuster“. In dieser erfolgreichen Frauenzeitschrift wurden erstmals Schnittmuster für den Massenbedarf abgedruckt, was Frauen mit beschränkten finanziellen Mitteln ermöglichte, sich selber modische Kleider zu schneidern. ungeniert – hier: ungestört, frei Versorgungshaus – zwischen 1902 und 1904 errichtete die Stadt Wien am südwestlichen Stadtrand, in Lainz, ein Versorgungshaus für alte, pflegebedürftige und „arbeitsunfähige“ Menschen. 1908 ließ der Wiener Bürgermeister Karl Lueger das Versorgungshaus zu einem Krankenhaus im Pavillonsystem erweitern, das bis zu 5000 Patient/inn/en Platz bot. Heute steht an dieser Stelle das Geriatriezentrum „Am Wienerwald“. Vestibül – Vorhalle Villa – hier: Vogelkäfig für den Transport Wasserkünste – Wasserspiele beim Schloss Hellbrunn, Salzburg. welsch, auch: stockwelsch – romanisch, hier: italienisch; durch und durch italienisch Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht – alltags259

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sprachliche Variante einer Textpassage aus Friedrich Nietzsches Buch „Also sprach Zarathustra“. Der originale Wortlaut ist: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ Wieden – 4. Wiener Gemeindebezirk Wilten (Stift Wilten) – Prämonstratenser (Chorherren) Kloster in Innsbruck. Das Kloster wurde im 12. Jahrhundert gegründet. Das heute bestehende barocke Kloster stammt aus der Blütezeit des Stifts im 17. und 18. Jahrhundert und beherbergt heute ein Museum. Wirtschaft (eine Wirtschaft machen) – hier: Unordnung; eine Unordnung machen wurzten, von: wurzen – ausnutzen, ausnehmen Zahnbrecher – Marktfahrer, die ihre Dienste, nämlich das Zähneziehen, lautstark anpriesen, um Kundschaft anzulocken. „Schreien wie ein Zahnbrecher“ ist eine vom 16. bis ins 19. Jahrhundert übliche Redensart. Zeiseln – Zeisige (carduelis); eine Gattung innerhalb der Familie der Finken Zentral – Wiener Zentralfriedhof, 1874 am südöstlichen Stadtrand angelegt Zillingdorf (Kinderasyl Zillingdorf) – in Zillingdorf, das heute zum Bezirk Wiener Neustadt-Land in Niederösterreich gehört, wurde 1873 ein interkonfessionelles Kinderasyl für Waisenkinder eingerichtet. Gründerin war Josephine von ›Wertheimstein, die Tante von Yella ›Oppenheimer. Oppenheimer war 30 Jahre lang Präsidentin dieses Kinderasyls. Der Ort Zillingdorf gehörte zwar über Jahrhunderte zu Ungarn, im 19. Jahrhundert war er jedoch, trotz seiner Lage östlich der Leitha, bereits ein Teil Cisleithaniens bzw. der österreichischen Reichshälfte. Zins – hier: Miete zugegeben – hier: erlaubt, zugelassen, zugestimmt Zweispitz – ein Hut mit zwei senkrecht aufgeschlagenen Krempen, sodass zwei Spitzen entstehen. Der Zweispitz kann entweder längs oder quer auf den Kopf gesetzt werden. Letztere Variante bevorzugte Napoleon Bonaparte, weshalb der Zweispitzhut häufig auch Napoleonshut genannt wird. 260

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Personenverzeichnis Amerling, Friedrich Ritter von (1803–1887) – Porträt-, Genreund Historienmaler; gefeierter Porträtist der Aristokratie und des Bürgertums Angela (Lebensdaten unbekannt) – Stubenmädchen von Marie von ›Ebner-Eschenbach Anna bzw. Anna Konheisner (Lebensdaten unbekannt) – Schwester von Marie Konheisner; Stubenmädchen bei der Familie ›Kövess Auersperg, Graf von – nicht eindeutig identifizierbar. Auers­ perg ist ein altes österreichisches Adelsgeschlecht mit vielen berühmten Namensträgern. Vermutlich handelt es sich um einen der Besitzer des Palais Auersperg in der Josefstadt (8. Wiener Gemeindebezirk). Möglicherweise um Vincenz Carl Fürst von Auersperg (1812–1867) oder um dessen Sohn Franz Joseph Maria Emanuel Fürst von Auersperg (1856– 1918). August, Onkel August – vermutlich August Fleischl (1814– 1892), ein Cousin von Carl ›Fleischl-Marxow Bamberger, Heinrich von (1822–1888) – Wiener Arzt, Diagnostiker und Universitätsprofessor der Medizin Barbieri, Domenico (1845–1906) – Privatassistent von Theodor ›Billroth Berger, Julius Victor (1850–1902) – Genre- und Porträtmaler; sein Hauptwerk ist das Deckengemälde im Saal XIX des Kunsthistorischen Museums in Wien. Billroth, Else († 1915) – Sängerin; Tochter von Theodor ›Billroth Billroth, Theodor (1829–1894) – Chirurg und ab 1867 Universitätsprofessor in Wien, Mitglied der Akademie der Wissenschaften; eng befreundet mit Ernst ›Fleischl-Marxow Bjørnson, Bjørnstjerne (1832–1910) – norwegischer Dichter, 261

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Literaturnobelpreisträger und Politiker; er verfasste unter anderem den Text für die norwegische Nationalhymne. Bretzenheim, Karoline Fürstin von (1806–1875) – geb. Fürstin von Schwarzenberg; verheiratet mit Fürst Ferdinand von Bretzenheim Breuer, Josef (1842–1925) – Arzt und Psychoanalytiker; er gilt als Mitbegründer der Psychoanalyse. 1895 verfasste er gemeinsam mit Sigmund Freud die „Schriften über Hysterie“. Als Hausarzt und enger Freund der Familie ›Fleischl-Marxow verkehrte er sehr häufig in deren Haus. Brücke, Ernst Wilhelm Ritter von (1819–1892) – Physiologe; ab 1849 Leiter des Physiologischen Instituts in Wien; Ernst ›Fleischl-Marxow war sein Assistent und habilitierte sich bei ihm als Privatdozent. Bühler, (Johann) Georg (1837–1898) – Sprachwissenschaftler, Orientalist und Indologe Chambrun, Gräfin von (Lebensdaten unbekannt) – nicht eindeutig identifizierbar; Angehörige der adeligen Familie Pineton de Chambrun aus Lozère (Frankreich) Chrobak, Rudolf (1843–1910) – Gynäkologe und Universitätsprofessor in Wien und Prag Conrad (Exz. Conrad) bzw. Conrad Franz Graf von Hötzendorf (1852–1925) – österreichischer Feldmarschall; ab 1906 Chef des Generalstabs und von 1914–1917 Oberkommandant der k. u. k. Armee Decker, Georg (1818–1894) – Maler und Lithograph; Decker ist berühmt für seine Aquarell- und Pastellporträts, u. a. von Kaiser Joseph II. Dom Pedro II. von Brasilien (1825–1891) – von 1831 bis 1889 Kaiser von Brasilien; Dom Pedro war vielseitig gebildet und gilt als Förderer von Wissenschaft und Kunst. Dubsky, Adolf Graf von (1833–1911) – Halbbruder von Marie von ›Ebner-Eschenbach; Besitzer des Schlosses Neuhaus in Salzburg Dubsky, Xaverine Gräfin von (1808–1869) – geb. KolowratKrakowsky; Stiefmutter von Marie von ›Ebner-Eschenbach; 262

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sie erkannte und förderte das schriftstellerische Talent ihrer Stieftochter. Ebner-Eschenbach, Marie Gräfin von Dubsky (1830–1916) – bedeutende österreichische Schriftstellerin und Erzählerin; in vielen ihrer Werke thematisiert sie die soziale Ungerechtigkeit und übt Kritik an der Adelsgesellschaft. Ab 1863 wohnte die auf Schloss Zdislavitz/Zdislavice in Mähren geborene Ebner-Eschenbach vorwiegend in Wien und verkehrte als enge Freundin von Ida ›Fleischl-Marxow häufig in deren Haus. Ebner-Eschenbach, Moritz Freiherr von (1815–1898) – General, Erfinder, Professor für Chemie und Physik an der Ingenieurakademie in Znaim und Wien; verheiratet mit Marie von ›Ebner-Eschenbach, deren Arbeit er sehr unterstützte Elisabeth, Kaiserin von Österreich (1837–1898) – geb. Herzogin in Bayern; auch Sisi genannt. Durch ihre Heirat mit Kaiser ›Franz Joseph I. wurde sie Kaiserin von Österreich, ab 1867 Königin von Ungarn. Am 10. September 1898 wurde sie in Genf von einem italienischen Anarchisten erstochen und am 17. September, dem Arbeitsbeginn von Marie Konheisner bei der Familie ›Kövess, in der Wiener Kapuziner­ gruft beigesetzt. Exner – Die Familie Exner war eine der bedeutendsten Akademikerfamilien der Habsburgermonarchie. Der Philosoph und Schulreformer Franz-Serafin Exner und seine Ehefrau Charlotte Dusensy hatten fünf Kinder, die alle Berühmtheit erlangten. Der älteste Sohn, Adolf Exner (1841–1894), war Jurist und Rechtsprofessor. Karl Exner (1842–1915) war Mathematiker und Physiker. Marie von Frisch (1844–1925), geb. Exner, war Autorin, Ehefrau des bekannten Wiener Urologen Anton von ›Frisch und eng befreundet mit Marie ›Ebner-Eschenbach. Siegmund Ritter Exner von Ewarten (1846–1926) war ein bedeutender Physiologe und enger Freund von Ernst ›Fleischl-Marxow. Er wurde 1917 aufgrund seiner Verdienste in der physiologischen Forschung zum Ritter geadelt. Er ist der Ehemann der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Emilie Exner (1850–1909). Franz-Serafin 263

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Exner (1849–1926), der jüngste Sohn der Familie, war als Physiker ein Pionier auf dem Gebiet der modernen Physik. Falkenhayn, Erich von (1861–1922) – preußischer General; 1914 übernahm er die Führung des deutschen Heeres. Nach Misserfolgen an der Westfront (Verdun) wurde er Ende August 1916 als Chef des Generalstabes abgesetzt und erhielt das Kommando über die 9. Armee in Rumänien. Ferdinand I., König von Bulgarien (1861–1948) – von 1886 bis 1918 König und Fürst von Bulgarien; Angehöriger der Dynastie Sachsen-Coburg und Gotha Feuerstein – vermutlich Martin Ritter von Feuerstein (1856– 1931); deutscher Maler und Kunstprofessor Fischer, (Ludwig) Hans (1848–1915) – Maler, Archäologe und Ethnologe Fleischl-Marxow, Carl von (1818–1893) – Kaufmann, Börsenrat und Präsident der Wiener Tramway-Gesellschaft; 1875 vom Kaiser mit dem Prädikat „Edler von“ geadelt, für das er den Zusatz „Marxow“ wählte; Dienstgeber von Helene Gasser Fleischl-Marxow, Ernst von (1846–1891) – Physiologe, Universitätsprofessor und Erfinder des Hämometers (Apparat zur Bestimmung des Hämoglobingehalts im Blut); Sohn von Ida und Carl ›Fleischl-Marxow Fleischl-Marxow, Ida von (1824–1899) – Kunstmäzenin; Freundin und Beraterin von Betty ›Paoli und Marie ›Ebner-Eschenbach; Dienstgeberin von Helene Gasser Fleischl-Marxow, Otto von (1849–1935) – Arzt; ab 1873 österreichischer Botschaftsarzt in Rom; in zweiter Ehe verheiratet mit der Schweizerin Nina ›Schwarzenbach; Sohn von Ida und Carl ›Fleischl-Marxow Fleischl-Marxow, Paul (*1850) – Kaufmann und Bankier in London; verheiratet mit der Engländerin Cecile Levis; Sohn von Ida und Carl ›Fleischl-Marxow Fleischl-Marxow, Richard (1853–1901) – Kaufmann und Bankier in Berlin; Sohn von Ida und Carl ›Fleischl-Marxow Frankenstein, Hermine (1842–1904) – Schriftstellerin, Zeitungsredakteurin und Feuilletonleiterin des Neuen Wiener Tagblatts; sie verfasste vorwiegend kriminalistische Fortset264

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zungsromane im Feuilleton des Neuen Wiener Tagblatts, die teilweise auch in Buchform herausgebracht wurden. Franz I., Kaiser von Österreich (1768–1835) – letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Titel: Kaiser Franz II.); 1804 rief er – nun mit dem Titel Kaiser Franz I. – das Kaisertum Österreich aus. Franz Joseph I., Kaiser von Österreich (1830–1916) – Angehöriger des Hauses Habsburg-Lothringen; ab 1848 Kaiser von Österreich; ab 1867 König von Ungarn; verheiratet mit ›Elisabeth von Österreich-Ungarn Frau Gräfin – Marie von ›Ebner-Eschenbach Frisch, Anton Ritter von (1849–1917) – Urologe; verheiratet mit Marie ›Exner Fröhlich, Katharina (1800–1879) – die aus einer Beamtenfamilie stammende, musikalisch sehr begabte Katharina Fröhlich lernte 1821 Franz ›Grillparzer kennen und verlobte sich mit ihm. Ab 1849 wohnte Grillparzer bei ihr und ihren beiden Schwestern an der Spiegelgasse 21 in Wien. Grillparzer und Fröhlich blieben zeitlebens verlobt. Deshalb wird sie gemeinhin als seine „ewige Braut“ bezeichnet. Fuchs, Emil (1866–1929) – Bildhauer und Maler; er fertigte das Relief von Ernst ›Fleischl-Marxow für die Ehrentafel im ›Arkadenhof der Universität Wien. Gabillon, Ludwig (1828–1896) – Schauspieler und Regisseur am Wiener ›Burgtheater; verheiratet mit der Schauspielerin Zerline ›Gabillon Gabillon, Zerline (1835–1892) – geb. Würzburg; Schauspielerin am Wiener ›Burgtheater; verheiratet mit Ludwig ›Gabillon Galliny, Florentine (1845–1915) – Pseudonym: Bruno Walden; Journalistin, Übersetzerin; in den letzten Monaten vor Ida ›Fleischl-Marxows Tod war sie deren Gesellschafterin. Gersuny, Robert (1844–1924) – Chirurg und Privatassistent von Theodor ›Billroth; ab 1894 Leiter des Rudolfinerhauses (Krankenhaus und Ausbildungsstätte für Krankenschwestern) in Wien

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Grillparzer, Franz (1791–1872) – österreichischer Schriftsteller, Dichter und Dramatiker; verlobt mit Katharina ›Fröhlich Großmutter – Luise ›Marx; Mutter von Ida ›Fleischl-Marxow Großvater – Lipmann ›Marx; Vater von Ida ›Fleischl-Marxow Grün, Anastasius (1806–1876) – Pseudonym für Anton Alexander Graf von Auersperg; Lyriker, Epiker und Übersetzer Gusti, Frl. (Lebensdaten unbekannt) – Dienstmädchen oder Gesellschafterin von Marie von ›Ebner-Eschenbach Hager, Frl. – nicht eindeutig identifizierbar Haizinger, Amalie (1800–1884) – geb. Morstadt; Schauspielerin; ab 1846 Engagement am Wiener ›Burgtheater, wo sie bis zu ihrem Tod wirkte Hammerschlag – vermutlich Albert Hammerschlag (1863– 1935). Diagnostiker; Sohn von Samuel Hammerschlag, dem Religionslehrer von Sigmund Freud Hedwig (Lebensdaten unbekannt) – Bedienerin von Ernst ›Fleischl-Marxow Herr Professor – Ernst ›Fleischl-Marxow Hye, Anton Josef Freiherr von Glunek (1807–1894) – Jurist und Universitätsprofessor in Wien; 1867 Justiz- und Unterrichtsminister; ab 1869 Mitglied des Herrenhauses sowie ständiger Repräsentant des Reichsgerichts; 1871/72 Rektor der Universität Wien. Hye engagierte sich für die Humanisierung des Strafvollzugs in Österreich. 1867 wurde auf sein Bestreben die Prügel- und ›Kettenstrafe abgeschafft. In zweiter Ehe verheiratet mit Eugenie ›Hye Hye, Eugenie Freiin von (Lebensdaten unbekannt) – geb. Grünwald; Ehefrau des Juristen Anton ›Hye; Mutter von Eugenie ›Kövess Ignaz (Lebensdaten unbekannt) – Diener in der Familie ›Fleischl-Marxow Johann (Lebensdaten unbekannt) – von 1884 bis 1891 Diener von Ernst ›Fleischl-Marxow Johann (Lebensdaten unbekannt) – Offiziersdiener von Hermann ›Kövess Johann, Erzherzog von Österreich (1782–1859) – Bruder des österreichischen Kaisers Franz I.; 1829 heiratete Erzherzog 266

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Johann in Aussee die bürgerliche Postmeisterstochter Anna ›Plochl. Für ihre gemeinsamen Nachkommen konnte er trotz seiner nicht standesgemäßen Heirat bei Metternich den Titel „Grafen von ›Meran“ erwirken. Kahler, Otto (1849–1893) – Arzt und Professor der Medizin in Prag; 1889 wurde er als Nachfolger für den 1888 verstorbenen Heinrich von ›Bamberger als Ordinarius für spezielle Pathologie an die Universität Wien berufen. Karl (Lebensdaten unbekannt) – Offiziersdiener von Hermann ›Kövess Kathi bzw. Katharina Brosch (~1810–1891) – Köchin bei der Familie ›Fleischl-Marxow Knaack, Wilhelm (1829–1894) – Komiker und Schauspieler Kotzian, Frl. (Lebensdaten unbekannt) – Vermieterin von Marie von ›Ebner-Eschenbach in St. Gilgen Kövess von Kövessháza, Béla (1894–1914) – Leutnant im 1. k. u. k. Tiroler Jäger-Regiment (›Kaiserjäger); Sohn von Hermann und Eugenie ›Kövess Kövess von Kövessháza, Eugen (1898–1929) – Betreiber einer ›Trafik in Budapest; Sohn von Hermann und Eugenie ›Kövess Kövess von Kövessháza, Eugenie (1861–1941) – geb. Freiin Hye von Glunek; Tochter des Justizministers Anton ›Hye; verheiratet mit dem Feldmarschall Hermann ›Kövess; Dienstgeberin von Marie Konheisner Kövess von Kövessháza, Géza (1896–1977) – Kustos im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien; ab 1941 Dienstgeber von Marie Konheisner Kövess von Kövessháza, Hermann (1854–1924) – österreichisch-ungarischer Feldmarschall und letzter Oberkommandant der k. u. k. Armee; verheiratet mit Eugenie ›Kövess; Dienstgeber von Marie Konheisner Kun, Béla (1886–1939) – ungarischer, kommunistischer Politiker und Revolutionär; nach dem Ersten Weltkrieg bildete Kun in Ungarn aus Sozialisten und Kommunisten eine Räteregierung, die von März bis August 1919 Bestand hatte. Ladenburg, Julie Gräfin von (~1820–1876) – geb. von Lämel; ab 1868 Besitzerin des Schlosses Pötzleinsdorf in Wien, das 267

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zu ihren Lebzeiten zu einem Treffpunkt für Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik wurde; Cousine von Ida ›Fleischl-Marxow Lajos (Lebensdaten unbekannt) – Offiziersdiener von Hermann ›Kövess Landesmann, Heinrich – s. Hieronymus ›Lorm Landesmann, Henriette (Lebensdaten unbekannt) – geb. Frankl;­ Ehefrau von Hieronymus ›Lorm Lang, Viktor von (1838–1909) – Physiker und Universitätsprofessor; Begründer und Pionier der Kristallographie; 1915– 1919 Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Lehrer von Franz-Serafin ›Exner La Roche, Auguste (1810–1875) – geb. Kladzig; Schauspielerin; verheiratet mit Karl ›La Roche La Roche, Karl Ritter von (1794–1884) – Schauspieler und Sänger; ab 1832 gehörte er dem Ensemble am Wiener ›Burgtheater an; in zweiter Ehe mit der Schauspielerin Auguste ›La Roche verheiratet Laube, Heinrich (1806–1884) – Schriftsteller, Dramaturg und Direktor des Wiener ›Burgtheaters (1849–67); Gründer des bürgerlichen ›Stadttheaters Laube, Iduna (1808–1879) – geb. Budeus; Frauenrechtlerin; Leiterin eines bedeutenden Literatursalons in Wien und Gründungsmitglied des Wiener Frauen ›Erwerb-Vereins; in zweiter Ehe mit Heinrich ›Laube verheiratet Lechner, Dr. (Lebensdaten unbekannt) – Arzt in Mondsee Leidesdorf, Frl. (Lebensdaten unbekannt) – Tochter des Psychiaters Maximilian Leidesdorf (1816–1889) und Ehefrau des Psychiaters und Neurologen Heinrich ›Obersteiner Leopold (Salvator), Erzherzog von Österreich (1863–1931) – Mitglied des Kaiserhauses Habsburg-Lothringen Lewinsky, Joseph (1835–1907) – Schauspieler; ab 1858 Engagement am ›Burgtheater in Wien Liechtenstein, Franziska Fürstin von und zu (1813–1881) – geb. Kinsky; Besitzerin des Schlosses Hüttenstein in der Nähe von St. Gilgen; verheiratet mit Alois II. Fürst von und zu Liechtenstein; Mutter von Johann II. Fürst von und zu ›Liechtenstein 268

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Liechtenstein, Johann II. Fürst von und zu Liechtenstein (1840–1929) – Johann II. leitete Modernisierungsmaßnahmen des bis dahin agrarisch geprägten Fürstentums Liechtenstein ein. Er gilt als großer Förderer von Kunst und Wissenschaft, was ihm den Beinamen „der Gute“ eintrug. Sohn von Franziska Fürstin von und zu ›Liechtenstein Lilli (Lebensdaten unbekannt) – Kindermädchen bei der Familie ›Kövess Littrow, Arthur von (Lebensdaten unbekannt) – vermutlich Sohn des Astronomen Karl Ludwig von Littrow (1811– 1877), Direktor der Wiener Sternwarte, und der Schriftstellerin Auguste von ›Littrow, geb. Bischoff von Altenstern Littrow, Auguste von (1819–1890) – geb. Bischoff von Altenstern (Pseudonym: Otto August); Schriftstellerin und Betreiberin eines Salons; in ihrem Salon verkehrten neben Ida ›Fleischl-Marxow und Marie ›Ebner-Eschenbach Persönlichkeiten wie Franz ›Grillparzer oder Friedrich Hebbel. Sie war gemeinsam mit Iduna von ›Laube Gründungsmitglied des Wiener Frauen›Erwerb-Vereins. Lorm, Hieronymus (1821–1902) – geb. als Heinrich Landesmann in Mähren; Literaturkritiker, Schriftsteller, Journalist und Redakteur der Wiener Zeitung; Lorm, der mit 16 Jahren erblindete und taub wurde, schuf die nach ihm benannte Fingerzeichensprache für Taubblinde, das Lorm-Alphabet. Ludwig Viktor, Erzherzog von Österreich (1842–1919) – jüngster Bruder von Kaiser ›Franz Joseph I.; er zog sich schon früh aus dem öffentlichen Leben zurück und ließ sich auf Schloss Klesheim bei Salzburg nieder; Förderer und Protektor zahlreicher sozialer und kultureller Institutionen Makart, Hans (1840–1884) – Historien- und Monumentalmaler, Dekorationskünstler; er fertigte unter anderem den Stiegenaufgang im Wiener Kunsthistorischen Museum und das Schlafzimmer der Kaiserin ›Elisabeth in der Hermesvilla im Lainzer Tiergarten. Sein üppig dekoriertes Atelier wurde zum Zentrum des Wiener Gesellschaftslebens, und seine Art der Raumdekoration, der sogenannte Makart-Stil, war prägend für den Einrichtungsgeschmack der Oberschichten. 269

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Mali bzw. Amalie Will (Lebensdaten unbekannt) – Stubenmädchen bei der Familie ›Fleischl-Marxow und langjährige Arbeitskollegin von Helene Gasser Marie (Lebensdaten unbekannt) – Stubenmädchen von Betty ›Paoli Mariechen (Lebensdaten unbekannt) – Stubenmädchen bei der Familie ›Kövess Martin (Lebensdaten unbekannt) – Offiziersdiener von Hermann ›Kövess Marx, Lipmann (1797–1870) – Kaufmann in München und Prag; verheiratet mit Luise ›Marx; Vater von Ida ›FleischlMarxow Marx, Luise (1801–1888) – geb. von Lämel; verheiratet mit Lipmann ›Marx; Mutter von Ida ›Fleischl-Marxow Michael (Lebensdaten unbekannt) – Diener der Familie ›Fleischl-Marxow Miklosich, Franz (Miklošič, Franc) Ritter von (1813–1891) – österreichischer Philologe slowenischer Herkunft, Universitätsprofessor in Wien und Verfasser zahlreicher lexikographischer Werke; gilt als Mitbegründer der wissenschaftlichen Slawistik Mina (Lebensdaten unbekannt) – Dienstmädchen von Marie ›Ebner-Eschenbach Nothnagel, Carl Wilhelm Hermann (1841–1905) – Wiener Internist und Diagnostiker Obersteiner, Heinrich (1847–1922) – Neurologe und Psychiater; ab 1872 Leiter der von seinem Vater, Heinrich Obersteiner senior, gegründeten „Döblinger Privatanstalt für Geisteskranke“; 1882 wurde auf sein Bestreben das „Institut für Anatomie und Physiologie des zentralen Nervensystems“ an der Universität Wien gegründet. Obersteiner war verheiratet mit der Tochter des Psychiaters Maximilian ›Leidesdorf. Oppenheimer, Gabriela (Yella) von (1854–1943) – geb. Todesco; Tochter der Wiener Salonbetreiberin Sophie von Todesco geb. Gomperz; bis 1883 verheiratet mit dem Unternehmer Ludwig Freiherr von ›Oppenheimer; Mutter von Felix von Oppenheimer (1874–1938), den Helene Gasser als den 270

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„jungen Baron“ bezeichnet; Präsidentin des interkonfessionellen Kinderasyls in ›Zillingdorf Oppenheimer, Ludwig Freiherr von (1843–1909) – Großgrundbesitzer, Unternehmer und Politiker; Oppenheimer war bis 1883 mit Yella von ›Oppenheimer verheiratet. Neben Julius von Gomperz, dem Onkel seiner Exfrau, war er das zweite jüdische Mitglied im Herrenhaus des Reichsrats. Oppolzer, Johann von (1808–1871) – Internist und Universitätsprofessor der Medizin in Prag, Leipzig und Wien Paoli, Betty (1814–1894) – Pseudonym für Barbara Elisabeth (Babette) Glück; Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin; von ihren Zeitgenossen v. a. als Lyrikerin und Essayistin anerkannt und geschätzt. Sie war eng mit Marie von ›EbnerEschenbach und Ida ›Fleischl-Marxow befreundet. Von 1843 bis 1852 war sie Gesellschafterin bei Maria Anna Gräfin zu Schwarzenberg, geb. Hohenfeld, Ehefrau von Karl I. Philipp zu ›Schwarzenberg. Ab 1852 wohnte sie im Haus der Familie ›Fleischl-Marxow. Pitha, Franz Freiherr von (1810–1875) – Chirurg; von 1857 bis 1874 Leiter der Chirurgie am Josephinum, einer medizinisch-chirurgischen Akademie in Wien Plochl, Anna (1804–1885) – Tochter eines Postmeisters in Aussee; heiratete 1829 den Erzherzog ›Johann von Österreich. Trotz ihrer bürgerlichen Herkunft wurde sie 1834 von Kaiser Franz I., dem Bruder von Erzherzog Johann, in den niederen Adelsstand aufgenommen und zur Freifrau von Brandhofen ernannt. Ab 1850 durfte sie den Titel Gräfin von ›Meran führen. Pochlin (Lebensdaten unbekannt) – Vermieter der Familie ›Fleischl-Marxow während der Sommerfrische in St. Gilgen Rokitansky, Carl Freiherr von (1804–1878) – Pathologe und Universitätsprofessor in Wien; 1869–78 Präsident der Akademie der Wissenschaften; Rokitansky schuf mit Josef ›Škoda ein noch heute gültiges System der Krankheiten, aufbauend auf der genauen Beschreibung der Befunde, und eine neue Pathologensprache. 271

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Rosa (Lebensdaten unbekannt) – Stubenmädchen von Betty ›Paoli Rothschild, Baron – Die Familie Rothschild war die einflussreichste Bankiersfamilie des 19. Jahrhunderts mit Stammhaus in Frankfurt. Ein Zweig der Familie, ab 1816 als Freiherren geadelt, lebte in Österreich. Salomon Meyer Freiherr von Rothschild (1774–1855) war der Gründer der „Rothschild-Bank“ in Wien. Das Bankhaus wurde zum wichtigsten Geldgeber des Staates und beeinflusste wesentlich die Industrialisierung und den Eisenbahnbau in Österreich. Schönfeld-Neumann, Luise Gräfin von (1818–1905) – Schauspielerin; die Tochter der Burgschauspielerin Amalie ›Haizinger und des Schauspielers Karl Neumann gehörte ab 1840 bis zu ihrer Hochzeit mit dem Grafen Karl von Schönfeld im Jahr 1857 zum Ensemble des Wiener ›Burgtheaters. Schücking, Levin (1814–1883) – Schriftsteller und Journalist; verheiratet mit der Schriftstellerin Louise von Gall Schücking, Theophanie (1850–1903) – Tochter des Schriftstellerehepaares Levin ›Schücking und Louise von Gall; Korrespondenzpartnerin von Marie von ›Ebner-Eschenbach Schwarzenbach, Ernst (1867–1937) – Arzt in Zürich; er studierte Medizin in Zürich und Wien. Während seiner Studienzeit in Wien wohnte er bei der Familie ›Fleischl-Marxow; Bruder von Nina ›Schwarzenbach Schwarzenbach, Mama (Lebensdaten unbekannt) – Mutter von Nina und Ernst ›Schwarzenbach Schwarzenbach, Nina († 1915) – Ehefrau von Otto ›FleischlMarxow; ab 1873 wohnte die gebürtige Schweizerin gemeinsam mit ihrem Gatten in Rom. Sie pflegte einen regen gesellschaftlichen Kontakt mit Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft. Zu ihren Gästen zählten u. a. Liszt, Brahms, Wagner, Nietzsche und Böcklin. Schwarzenberg, Karl I. Philipp Fürst zu (1771–1820) – österreichischer Offizier und Diplomat in Frankreich; Oberkommandierender in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, wo die Verbündeten Österreich, Russland und Preußen die napoleonischen Truppen besiegten. Verheiratet mit Maria Anna 272

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Gräfin zu Schwarzenberg, geb. Gräfin von Hohenfeld (1768– 1848), die als Anhängerin von Aufklärung und Liberalismus eine erlesene Wiener Salongesellschaft unterhielt. Schwarzenberg, Karl V. Friedrich Johannes Fürst zu (1886– 1914) – Angehöriger des weit verzweigten böhmischen und fränkischen Adelsgeschlechts Schwarzenberg; verheiratet mit Eleonore von Clam und Gallas; gestorben im Alter von 28 Jahren in Vukovar (Kroatien). Škoda, Josef von (1805–1881) – Pathologe und Universitätsprofessor in Wien; in enger Zusammenarbeit mit dem Pathologen Carl von ›Rokitansky entwickelte Škoda ein noch heute gültiges System der Krankheiten. Stasi (Lebensdaten unbekannt) – Kleidermacherin der Familie ›Fleischl-Marxow Stein, Karl Freiherr von (1801–1867) – Offizier, Regimentsinhaber der k. u. k. Armee; Bruder der Malerin Wilhelmine von ›Stein Stein, Wilhelmine Freiin von (*~1825) – Porträtmalerin; Schwes­ter von Karl von ›Stein Taliani, Emidio (1838–1907) – ab 1896 päpstlicher Botschafter (Nuntius) am Wiener Hof Theo, Frl. – s. ›Schücking, Theopanie Türck, Ludwig (1810–1868) – Mediziner mit dem Spezialgebiet Laryngologie (Lehre des Kehlkopfes und seiner Erkrankungen) in Wien Villinger, Hermine (1849–1917) – Schriftstellerin; Autorin von Erzählungen und Kalendergeschichten, v. a. über Bauern, Handwerker, Kleinbürger und gesellschaftliche Außenseiter Waldburg-Syrgenstein, Sophie Gräfin von (1857–1924) – Pseudonym: S. Waldburg; Lyrikerin; Nichte von Marie ›Ebner-Eschenbach Wertheimstein, Josephine von (1820–1894) – geb. Gomperz; Betreiberin des bekannten Salon Wertheimstein in Döbling (19. Wiener Gemeindebezirk), in dem viele liberale Persönlichkeiten verkehrten. Gründerin des Kinderasyls in ›Zillingdorf; Mutter von Franziska Wertheimstein, die als enge Freundin Ernst ›Fleischl-Marxows galt. 273

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Wesemael, Adele (1825–1893) – Pseudonym: Hermine Wild; Schriftstellerin Wiener von Welten, Henriette (*~1829) – geb. Goldschmidt; Gattin des Großkaufmanns und Bankiers Eduard Wiener von Welten, Präsident der Österreichischen Creditanstalt und Gründer des Bankhauses „Eduard Wiener“; Richard und Paul ›Fleischl-Marxow absolvierten eine Ausbildung zum Kaufmann bei „Herrn von Wiener“.

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Andrea Althaus

Lebensverhältnisse von Dienstmädchen und Hausgehilfinnen im 19. und 20. Jahrhundert

Dieses Nachwort leistet keine Textanalyse der in diesem Band veröffentlichten lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen, sondern bietet einen Überblick über das städtische Dienstbotenwesen des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Österreich. Ziel ist es, den historischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem die Aufzeichnungen verankert sind, darzustellen. Die Aufzeichnungen der Autorinnen umfassen eine breite Zeitspanne, nämlich von der Gründerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Im Folgenden werden die Veränderungen, aber auch die Kontinuitäten, die der häusliche Dienst in dieser Zeit erfahren hat, ausgeleuchtet.

Dienstmädchen im 19. Jahrhundert Mit dem Erstarken der bürgerlichen Lebensweise im 19. Jahrhundert stieg auch die Anzahl der städtischen Hausdienstboten massiv an. Der Eifer des Bürgertums, den adeligen ­Lebensstil zu kopieren, zu dem das Halten von Dienstboten als wichtiges Repräsentationsmerkmal gehörte, ließ die Nachfrage nach Dienstpersonal in städtischen Haushalten stark wachsen. Allein in Wien gab es 1890 mehr als 91 000 Dienstboten.1 94 % davon waren weiblich; das bedeutet, dass jede achte Frau in 1

Bolognese-Leuchtenmüller, Birgit (Hg.): Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750–1918. München 1978, S. 163 f.

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Wien ein Dienstmädchen war.2 „Dienstmädchen“ ist ein Überbegriff für jene weiblichen Dienstboten, die in bürgerlichen und adeligen Haushalten die häuslichen Arbeiten und die persönliche Bedienung der ‚Herrschaften‘ übernahmen. Sie wohnten im Haus ihrer Dienstgeber/innen und erhielten neben einem Geldlohn auch Kost und Logis. Je nach Qualifikation und Funktion, die sie im Haushalt innehatten, wurde weiter differenziert zwischen Köchinnen (selbständige Köchin und Köchin für alles), Stubenmädchen (feines und einfaches Stubenmädchen), Küchenmädchen, Mädchen für alles und Kindermädchen, um nur die wichtigsten Untergruppen zu nennen. Zwischen diesen bestand eine klare soziale Abstufung, die ihren Ausdruck in einer Lohndifferenz und im gesellschaftlichen Ansehen fand. In der Hierarchie ganz oben stand die selbständige Köchin, die – so die Zahlen für das Jahr 1898 und die Stadt Graz – durchschnittlich 24 Kronen pro Monat verdiente. Ein einfaches Stubenmädchen bekam ca. 15 Kronen Lohn und das auf der untersten Stufe stehende Kindermädchen etwa 8 Kronen.3 Großbürgerliche und adelige Haushalte konnten sich einen ganzen Stab an Dienstboten leisten, die jeweils auf einzelne Bereiche im Haushalt spezialisiert waren und die Hausarbeit unter sich aufteilten. In solchen Häusern waren auch männliche Dienstboten angestellt, die als Haus- oder Herrschaftsdiener die persönliche Betreuung der Herren des Hauses übernahmen oder als Kutscher, Stall- und Pferdeknechte beschäftigt waren. Für bestimmte Tätigkeiten wie Waschen, Bügeln, Holz- oder Kohletragen, Kleidermachen etc. wurde zusätzliches Personal eingestellt, das jedoch nicht im Haus wohnte. Marie Konheisner und Helene Gasser dienten in solchen großbürgerlichen Haushalten. 2

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Winter, zit. nach Klucsarits, Richard; Kürbisch, Friedrich G. (Hg.): Arbeiterinnen kämpfen um ihr Recht. Autobiographische Texte zum Kampf rechtloser und entrechteter Frauenspersonen in Deutschland, Österreich und der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts. Wuppertal 1975, S. 86. Schwechler, Karl: Die städtischen Hausdienstboten in Graz. Beiträge zur Dienstboten-Statistik. Graz 1903, S. 3.

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Das aufstrebende Bildungs- und Besitzbürgertum, zu dem vorwiegend Beamte und Akademiker gezählt werden, orientierte sich in seinem Lebensstil am Großbürgertum, verfügte jedoch nicht über das entsprechende Vermögen. Zur Demonstration einer standesgemäßen Lebensführung mussten Dienstboten angestellt werden, auch wenn diese teilweise fast nicht zu finanzieren waren. Deshalb konnte meistens nur ein Dienstmädchen beschäftigt werden, das Mädchen für alles.4 Sein durchschnittlicher Lohn war – hier wieder die Zahlen für das Jahr 1898 und die Stadt Graz – mit 13 Kronen gering5 und die physische Belastung überdurchschnittlich hoch. Johanna Gramlinger erzählt in ihren Aufzeichnungen von der Arbeit als Mädchen für alles in mittelständischen Haushalten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das städtische Dienstbotenwesen fast ausschließlich zu einer weiblichen Erwerbsdomäne geworden. 1869 waren in Wien noch 13 % der Dienstboten männlich, 1890 sank ihr Anteil auf 6 % und 1900 auf 3 %.6 Diese Entwicklung ist vor den tiefgreifenden sozialen Umwälzungen zu betrachten, welche die Industrialisierung und die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit sich brachten. In der vorwiegend auf Eigenproduktion beruhenden vorindustriellen Wirtschaftsform des „ganzen Hauses“, in der Wohnen und arbeitsteiliges Wirtschaften eine Einheit gebildet hatten, war nicht zwischen häuslichem und gewerblichem Personal unterschieden worden. Trotz des Protestes von Zünften wurden in vielen bürgerlichen Haushalten die (männlichen) Dienstboten nicht nur als Diener, sondern auch als Handwerker – vor allem als Friseure, Schuhmacher oder Schneider – sowie als Mitarbeiter im Laden oder in der Kanzlei eingesetzt.

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Orth, Karin: „Nur weiblichen Besuch“. Dienstbotinnen in Berlin, 1890–1914. Frankfurt/Main 1993, S. 49. Schwechler, Die städtischen Hausdienstboten, S. 3. Hahn, Sylvia: Frauenarbeit. Vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert. Wien 1993, S. 26.

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Durch das Aufbrechen der Ökonomie des „ganzen Hauses“ im Laufe der fortschreitenden industriellen Entwicklung lösten sich die männlichen Dienstboten immer mehr aus der Hauswirtschaft heraus.7 Die Wiener Dienstbotenordnung von 1810 schloss erstmals explizit „alle Bedienungen, zu deren Bekleidung eine wissenschaftliche Vorbereitung erfordert wird“ – wie beispielsweise „Handlungsdiener, Arbeiter bei Kunstgewerben und Fabriken und Handwerksgesellen“ – aus der Definition der Dienstboten aus.8 Der nunmehr auf die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten reduzierte häusliche Dienst wurde vorwiegend von jungen Frauen übernommen, die angewiesen auf einen Gelderwerb in die Städte strömten.9 In Wien waren im Jahr 1890 nur 12,4  % der städtischen Hausdienstboten gebürtige Wiener/innen. Haupteinzugsgebiete waren Böhmen und Mähren, Ungarn, sowie Nieder- und Oberösterreich. Diese Zahl muss vor dem Hintergrund des starken Urbanisierungsprozesses im 18. und 19. Jahrhundert betrachtet werden. Das natürliche Bevölkerungswachstum nach dem demographischen Übergang ab 1875 (sinkende Sterbeziffern und gleich bleibend hohe Geburtenraten), die Agrarkrise in den 1870er Jahren, die viele Arbeitskräfte auf dem Land freisetzte, und die Zentralisierung von Arbeitsmöglichkeiten in den Städten waren Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel den Zuzug in die Städte beförderten. Insbesondere Wien als Haupt- und Residenzstadt zog viele Frauen und Männer aus dem näheren und weiteren Umland an. Von 1850 bis 1910 wuchs die Bevölkerung Wiens von 430 000 auf über zwei Mil-

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Tichy, Marina: Alltag und Traum. Leben und Lektüre der Wiener Dienstmädchen um die Jahrhundertwende. Wien-Köln-Graz. 1984, S. 18 f. § 3 der Wiener Dienstbotenordnung von 1810, zit. nach Morgenstern, Hugo: Österreichisches Gesinderecht. Handbuch und systematische Darstellung des gesamten, in Österreich geltenden Gesinderechts nach den bestehenden 24 Dienstbotenordnungen, einschließlich der Gesindepolitik und des Verwaltungsverfahrens in Gesindestreitigkeiten. Wien 1912, S. 14. Budde, Gunilla-Friederike: Das Dienstmädchen, in: Frevert, Ute; Haupt, HeinzGerhard (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main - New York 1999. S. 148–175, hier: S. 152 f.

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lionen Einwohner/innen.10 Die Dienstmädchen kamen vorwiegend aus ländlichen Regionen oder Kleinstädten und stammten aus Bauern-, Handwerker- oder Arbeiterfamilien. Dorothee Wierling zeigt in ihrer Studie über Dienstmädchen im deutschen Kaiserreich auf, dass diese bis auf wenige Ausnahmen nicht in kleinbürgerlichen Verhältnissen, sondern unter proletarischen Bedingungen aufwuchsen, das heißt, „geprägt von extremer Unsicherheit der materiellen Existenz, geringer Entscheidungsbefugnis im Beruf und dem Zwang, alle Familienmitglieder in die Erwerbsarbeit zu integrieren.“11 Unter diesen Umständen wurden die Töchter schon früh zum ‚Zuverdienen’ aus dem Haus geschickt, während den Söhnen eine Berufsausbildung ermöglicht oder ein Arbeitsplatz im elterlichen Betrieb geschaffen wurde.12 Viele Dienstmädchen arbeiteten zuerst in ländlichen Betrieben, sahen jedoch die Chance auf einen sozialen Aufstieg, beispielsweise durch eine Heirat ins Kleinbürgertum, in der Stadt gegeben. Eine Stellung als städtisches Dienstmädchen bot gleichermaßen Existenzsicherung und Aufstiegsmöglichkeiten.13 Bei vielen dürfte auch eine gewisse Neugier oder Abenteuerlust eine Rolle gespielt haben. Als Beispiel kann Josefine Jocksch zitiert werden, die ihre Erfahrungen als Kindermädchen in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung geschildert hat: „Es war an einem trüben Wintertag, als ich meine erste Reise unternahm, um in Wien als Kindermädchen Stellung zu nehmen. Ich war gerne vom Hause weggegangen. Einmal, weil alle, die in der Lage waren, dienen zu 10 Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien 2001, S. 289. Zu diesen Zahlen muss vermerkt werden, dass 1890 und 1904 Eingemeindungen vorgenommen wurden. 11 Wierling, Dorothee: Vom Mädchen zum Dienstmädchen. Kindliche Sozialisation und Beruf im Kaiserreich, in: Bergmann, Klaus; Schörken, Rolf (Hg.): Geschichte im Alltag – Alltag in der Geschichte. Düsseldorf 1982, S. 57–87, hier S. 61. 12 Ottmüller, Uta: Die Dienstbotenfrage. Zur Sozialgeschichte der doppelten Ausnutzung von Dienstmädchen im deutschen Kaiserreich. Münster 1978, S. 70 f. 13 Wierling, Vom Mädchen, S. 77 f.

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müssen, fortgingen, um das bißchen Ansehen, das sie in der Heimat genossen, nicht einzubüßen, und dann war Wien seit langem das Ziel meiner Sehnsucht. ‚'S gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien! Dort muss es prächtig sein, dort muß ich hin!’“14 Die lange vorherrschende Meinung, Dienstmädchen seien lediglich vom Land in die nächste Stadt gewandert, muss revidiert werden. Beispielsweise kamen zwei Drittel der Dienstmädchen in Paris aus dem deutschen Kaiserreich.15 Die weiblichen Dienstboten wanderten auch nach London, Kopenhagen, Paris, Mailand oder St. Petersburg.16 Ebenso waren sie stark beteiligt an der Auswanderung nach Übersee.17 Dienstmädchen waren zum Großteil jung und ledig. 1910 waren in Wien knapp 90 % der Dienstmädchen jünger als 30 Jahre.18 Nur 2 % waren verheiratet. 94 % waren ledig und 4 % verwitwet oder geschieden.19 Dies erklärt sich dadurch, dass Dienstmädchen nicht heiraten durften und eine Verheiratung gleichbedeutend mit der Aufgabe des Berufs war. Für einige, beispielsweise für Helene Gasser und Marie Konheisner, stellte das lebenslange Verbleiben in einer Familie eine Alternative zur Ehe dar. Gerade der häusliche Dienst brachte – durch die isolierte Lebensweise der Dienstmädchen – eine gewisse „Gefahr der Ehelosigkeit“ mit sich.20 14 Jocksch, Josefine: Nur ein Kindermädchen, in: Klucsarits u. a., Arbeiterinnen, S. 86. 15 König, Mareike: ‚Bonnes à tout faire’. Deutsche Dienstmädchen in Paris im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.): Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration. München 2003, S. 69–92. 16 Budde, Das Dienstmädchen, S. 153. 17 Steidl, Annemarie: Jung, ledig, räumlich mobil und weiblich. Von den Ländern der Habsburgermonarchie in die Vereinigten Staaten der USA, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. 15/2 (2004), S. 249–269, hier S. 267. 18 44,6 % war zwischen 20 und 30 Jahre alt, 33 % jünger als 20 und 12.5% sogar unter 15 Jahren. Tichy, Alltag und Traum, S. 24. 19 Tichy, Alltag und Traum, S. 24. 20 Arru, Angiolina: Patronage und Protektion. Geschlechtsspezifische Merkmale

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Von 1890 bis 1895 beispielsweise waren in Österreich 9,6 % der heiratsfähigen Bevölkerung heiratsfähige Dienstmädchen, aber nur 6,7 % der Heiraten entfielen auf sie.21

Die Dienstbotenordnungen Die Beziehung zwischen Dienstmädchen und Herrschaft wurde bis 1920 über die Dienstbotenordnungen geregelt. Diese galten nicht nur für städtische Dienstboten, sondern auch für landwirtschaftliche Knechte und Mägde. Jedes Kronland und viele Landeshauptstädte der Habsburgermonarchie verfügten über eine eigene Dienstbotenordnung.22 Die folgenden Ausführungen beziehen sich vorwiegend auf die Wiener Dienstbotenordnungen von 1810 und 1911. Bis ins 20. Jahrhundert hinein zeichnete sich das Gesinderecht in mittelalterlicher Tradition durch eine unscharfe Trennung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht aus. Hugo Morgenstern, der zeitgenössische Experte für Gesinderecht und Gesindeordnungen, hält im Jahr 1912 fest: „Heutzutage stellt sich der Dienstbote unzweifelhaft als derjenige Lohnarbeiter dar, welcher, weil ganz eng dem Haushalts- und Wirtschaftsorganismus einverleibt, verglichen mit allen anderen Lohnarbeitern, am wenigsten Freiheit genießt; seine Stellung stellt sich somit als Ausnahmstellung dar und die Dienstbotenordnungen können daher nicht anders, denn als Ausnahmsbestimmungen gegenüber den allgemeinen Gesetzen und dem allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche angesehen werden.23“ der Dienstbotenarbeit im Rom des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Dickmann, Elisabeth (Hg.): Arbeiterinnengeschichte im 19. Jahrhundert. Hamburg 1994, S. 23–53, hier: S. 33. 21 Tichy, Alltag und Traum, S. 25. 22 Morgenstern, Österreichisches Gesinderecht, S. 2. 23 Ebd. S. 23.

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Das Dienstpersonal unterstand laut Dienstbotenordnung der Gewalt des Hausherrn und musste die Hausordnung, die jeder Hausherr beliebig aufstellen durfte, durch den Eintritt in die „Hausgenossenschaft“ akzeptieren und befolgen.24 Der Begriff der Hausgenossenschaft meint kein gleichberechtigtes Nebeneinander innerhalb der Familie, sondern eine Abhängigkeit der Dienstboten vom Willen des Hausherrn.25 Die Dienstbotenordnungen überließen aber nicht alle Aspekte der Regelung der Beziehung zwischen Dienstgeber/in und Dienstnehmer/in den Hausordnungen. Zentral geregelt wurde beispielsweise das Ausgehrecht. § 76 der Wiener Dienstbotenordnung von 1810 hält fest, dass ein Dienstbote „ohne Vorwissen oder Erlaubnis des Dienstherrn (...) auf längere Zeit weder ausgehen (...) noch über die gegebene Erlaubniszeit aus dem Hause bleiben“ dürfe. Die Dienstbotenordnung von 1911 verschärfte das Ausgehrecht durch die Streichung des Zusatzes „auf längere Zeit“ und legte, ohne die Erlaubnis der Dienstgeber/innen, ein generelles Ausgehverbot fest. Das Personal verpflichtete sich vertraglich nicht nur zur Verrichtung der aufgetragenen Arbeiten, sondern zu „Treue, Fleiß und Willigkeit“ sowie zu „Sorgfalt und Haftung“ in der Arbeit und für die ihm anvertrauten Gegenstände.26 Bei einem Schaden am Eigentum der Herrschaft konnte laut Verordnung das Dienstpersonal mit seinem Lohn dafür haftbar gemacht werden.27 Bei sittlichen Verfehlungen der Dienstboten, wie beispielsweise „Ausschweifungen außer Hause“, Verstößen gegen das Ausgehrecht, Verletzungen der Sorgfaltspflicht oder Diebstahl konnte der Hausherr die Dienstboten fristlos entlassen.28 Bereits beim Verdacht auf Diebstahl oder Veruntreuung durften die Dienstgeber/innen vom „Visitierungsrecht“ Gebrauch ma24 Casutt, Marcus: Häusliches Dienstpersonal (insbesondere Dienstmädchen) im Wien des 19. Jahrhunderts, Diss. Univ. Wien 1995, S. 119. 25 Morgenstern, Österreichisches Gesinderecht, S. 22. 26 Casutt, Häusliches Dienstpersonal, S. 112. 27 Morgenstern, Österreichisches Gesinderecht, S. 104 f. 28 Casutt, Häusliches Dienstpersonal, S. 157 ff.

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chen, das heißt, in Anwesenheit von zwei Zeugen die Habseligkeiten des Dienstpersonals durchsuchen.29 Heftig umstritten, aber bis zur neuen Dienstbotenordnung von 1911 rechtlich abgesichert war das „Züchtigungsrecht“ der Hausherren. Dies stand in Diskrepanz zum öffentlichen Strafrecht, in dem körperliche Züchtigung 1867 abgeschafft worden war.30 Die Grenzen der Züchtigung waren nur schwammig formuliert; es durfte den Dienstboten weder an Körper und Gesundheit noch an der Ehre Schaden zugefügt werden.31 Die zuständige Behörde, um Gesetzesüberschreitungen einzuklagen oder Streitigkeiten zwischen Dienstboten und ihrer Herrschaft zu schlichten, war kein ordentliches Gericht, sondern die Polizei, die nicht selten Partei für die Herrschaft ergriff.32 Die Dienstgeber/innen waren ihrerseits verpflichtet zur Zahlung eines Geldlohnes, zur Bereitstellung von Kost und Logis, zu einer vierwöchigen Fürsorgepflicht im Krankheitsfalle sowie zur wahrheitsgemäßen Ausstellung des Zeugnisses über die Dauer des Dienstverhältnisses, die Art der Arbeit sowie das Verhalten der Dienstboten in Bezug auf Treue, Geschicklichkeit, Fleiß und Sittlichkeit.33 Die Mindesthöhe des Lohnes oder die Art der Kost und Schlafstätte wurden gesetzlich nicht geregelt und basierten auf der einzelvertraglichen Regelung zwischen Dienstbote und Dienstgeber/in. Auch gab es keine gesetzliche Kranken-, Alters- oder Arbeitslosenversicherung für das Dienstpersonal. Im Krankheitsfall endete nach vier Wochen die Fürsorgepflicht der Herrschaft, und die Dienstboten konnten entlassen werden.34 1851 wurde in Wien das System der Dienstbotenbücher eingeführt, das die Zeugnisse in einem Buch vereinte. Dieses 29 Ebd. S. 123. 30 Ebd. S. 129. 31 Morgenstern, Österreichisches Gesinderecht, S. 83. 32 Tichy, Alltag und Traum, S. 37. 33 Casutt, Häusliches Dienstpersonal, S. 130 ff; Morgenstern, Österreichisches Gesinderecht, S. 120 f. 34 Casutt, Häusliches Dienstpersonal, S. 194.

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Dienstbotenbuch musste bei Antritt einer neuen Stelle dem/der Arbeitgeber/in vorgewiesen werden. Kurze Dienstverhältnisse oder ein schlechtes Zeugnis konnten die Chancen auf eine Anstellung verringern oder sogar existenzgefährdend wirken. Durch dieses Dienstbotenbuchsystem wurde die Abhängigkeit der Dienstboten von ihren Arbeitgeber/innen noch verstärkt.

Leben und Arbeiten im bürgerlichen Haushalt Das bürgerliche Familienideal brachte eine spezifische Arbeits- und Rollenverteilung für die Geschlechter mit sich. Die Aufgabe der Frau war es, den sozioökonomischen Erfolg ihres Ehemannes nach außen zu demonstrieren, was eine Reihe von Repräsentationspflichten nach sich zog: die Führung eines standesgemäßen Haushaltes, das Ausrichten von Abendgesellschaften, die Beherrschung bestimmter Umgangsformen und Kleidernormen sowie die Demonstration von Müßiggang. Dazu musste mindestens ein Dienstmädchen beschäftigt werden, das die körperliche Arbeit verrichtete. Im Gegensatz zur vorindustriellen Ökonomie des „ganzen Hauses“ spielten die Dienstboten nicht nur eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der Familienökonomie, sondern waren Bestandteil der Repräsentation. Sie mussten entsprechende Verhaltens- und Umgangsformen erlernen und diese inner- und außerhalb des Hauses anwenden. Die Hierarchie zwischen Dienstpersonal und Herrschaft wurde ganz bewusst aufrechterhalten und demonstrativ zur Schau getragen. Die Abgrenzung geschah beispielsweise über die Sprache. Die Dienstmädchen mussten ihre Dienstgeber/innen mit ‚Gnädige Frau’ oder ‚Gnädiger Herr’ ansprechen, während diese ihre Angestellten selbstverständlich duzten. Diese asymmetrische Beziehung zwischen Dienstmädchen und Herrschaft, aber auch die Art der Arbeit im bürgerlichen Haushalt an sich barg viel Konfliktstoff. Die Arbeitsbereiche waren selten klar geregelt und abgegrenzt. Dies galt nicht nur für die Mädchen für alles, die im wahrsten Sinne des Wor284

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tes ‚alles’ erledigen mussten, sondern auch für spezialisierte Dienstmädchen. Dies wird beispielsweise in der Erzählung von Marie Konheisner deutlich, die zwar als Köchin eingestellt war, aber eine ganze Reihe von zusätzlichen Aufgaben zu erfüllen hatte. Das Spektrum reichte dabei vom Windelnwaschen bis zum Servieren. Auch die Arbeitszeiten waren nicht gesetzlich festgelegt. Laut Dienstbotenordnungen musste das Dienstpersonal den Herrschaften stets zur Verfügung stehen, das heißt, 24 Stunden pro Tag in Arbeitsbereitschaft sein, je nach Bedarf.35 In einer Umfrage von Oscar Stillich, der 1902 sowohl Dienstmädchen als auch Hausfrauen in Berlin befragte, gaben 51 % der Dienstmädchen an, durchschnittlich zwischen 16 und 18 Stunden pro Tag zu arbeiten.36 Es gab weder eine gesetzliche Vereinbarung über die Mindesthöhe der Löhne noch eine klare Regelung bezüglich Kost und Logis. Marina Tichy hält fest, dass Dienstmädchen nicht selten ihr Bett in der Küche oder dem Badezimmer aufstellen mussten und zum Essen nur die Überreste des ‚herrschaftlichen’ Essens erhielten.37 Aufgrund der gesetzlich verankerten Aufnahme in die „Hausgenossenschaft“ und der Unterordnung unter den Willen des Hausherrn waren die Dienstboten nicht vor Willkür geschützt. Berichte über Ausbeutung, Misshandlungen oder sexuelle Übergriffe finden sich in vielen Erinnerungen von Dienstmädchen, so beispielsweise bei Johanna Gramlinger. Da viele Dienstmädchen noch sehr jung waren, betrachteten es viele Hausfrauen als ihre Pflicht, die Dienstmädchen vor den vermeintlichen Gefahren der Großstadt zu schützen. Sie übernahmen eine Art mütterliche Verantwortung für ihre ‚Mädchen’, was die Kontrolle des Privatlebens und erzieherische Maßnahmen bei ‚unehrenhaftem’ Benehmen legitimierte.38 Die

35 Casutt, Häusliches Dienstpersonal, S. 144. 36 Nach Ottmüller, Die Dienstbotenfrage, S. 89. 37 Tichy, Alltag und Traum, S. 46. 38 Arru, Patronage und Protektion, S. 36 f.

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Dienstmädchen, die sich durch ihre Migration in die Stadt der dörflichen Kontrolle entziehen konnten, gerieten in ein neues Abhängigkeitsverhältnis. Die durch die Erwerbsarbeit gewonnenen neuen Freiräume und erweiterten Möglichkeitshorizonte, die bei Arbeiterinnen durchaus zu einer Emanzipation führen konnten,39 blieben bei den Dienstmädchen eingeschränkt. Dienstmädchen und Herrschaft standen in einem engen Beziehungsgeflecht, geprägt von Interdependenz. Auch die Dienstgeber/innen waren in gewisser Weise ‚abhängig’ von ihrem Dienstmädchen, waren sie doch auf ‚gute’ Dienstboten angewiesen, um ihren Repräsentationspflichten nachzukommen. Dieses für das Dienstmädchendasein charakteristische Geflecht aus nur mäßig geregelten Arbeitsbedingungen und persönlichen Beziehungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnissen führte dazu, dass dieser Beruf gegen Ende des 19. Jahrhunderts zusehends an Attraktivität verlor. Das Fehlen sozialer Absicherungen wie Kranken-, Alters- oder Arbeitslosenversicherung, die mangelnden Gesetze zu Arbeitszeitbeschränkung und Mindestlohn sowie die potentielle Ausbeutungsgefahr und Kontrolle durch die Hoheitsgewalt des Hausherrn veranlasste viele Dienstmädchen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, anderen Formen der Erwerbsarbeit den Vorzug zu geben. Obwohl die absolute Zahl der Dienstmädchen bis zum Ersten Weltkrieg stieg, sank ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung bereits im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und ging kontinuierlich zurück: 1890 waren noch 13 %, 1910 9,8 % und 1934 nur noch 5,8 % der erwerbstätigen Bevölkerung im häuslichen Dienst beschäftigt.40 Parallel zu dieser Entwicklung ist ein starker Zuwachs von Frauen in den Berufsgruppen „Handel und Verkehr“ sowie „Öffentlicher Dienst“ zu beobachten.41

39 Wecker, Regina: Zwischen Ökonomie und Ideologie. Arbeit im Lebenszusammenhang von Frauen im Kanton Basel-Stadt 1870–1910. Zürich 1997, S. 296. 40 Banik-Schweitzer, zit. nach Czachay, Gabriele: Die soziale Situation der Hausgehilfinnen Wiens in der Zwischenkriegszeit. Diplomarb. Univ. Wien 1985, S. 33 f. 41 Czachay, Die soziale Situation der Hausgehilfinnen, S. 31.

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Hausgehilfinnen in der Zwischenkriegszeit Auch wenn der Begriff des Dienstmädchens noch lange im alltäglichen Sprachgebrauch verankert war – Johanna Gramlinger bezeichnet sich selber noch in den späten 1930er Jahren als Mädchen für alles –, verwende ich für die Hausangestellten der Zwischenkriegszeit den Begriff der „Hausgehilfin“, um darauf aufmerksam zu machen, dass nicht von einer ungebrochenen Kontinuität der Dienstmädchen ausgegangen werden darf. Der Begriff der Hausgehilfin wurde offiziell 1920 mit dem Inkrafttreten des Hausgehilfengesetzes eingeführt. Analog dazu wandelte sich die Bezeichnung des Dienstgebers: die „Herrschaft“ wurde zum „Arbeitgeber“. Mit dem Zerfall der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg brachen die alten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen zusammen, was sich in direkter Weise auf den häuslichen Dienst auswirkte. Dem Hof, dem Adel, der alten Hochbürokratie und dem Offizierskorps raubte der Zusammenbruch der Monarchie nicht nur ihre privilegierte gesellschaftliche Position, ihr Ansehen und ihre Macht, sondern konfrontierte sie mit massiven finanziellen Verlusten. Das in Kriegsanleihe gezeichnete Vermögen war wertlos geworden. Die wirtschaftliche Produktion war durch die neu gezogenen Grenzen massiv gestört, und die rasante Geldentwertung42 führte dazu, dass der großbürgerliche Lebensstil nicht aufrechterhalten werden konnte. Der städtische Mittelstand – Bildungsbürger, Beamte, Freiberufler – wurden von dieser Entwicklung sogar „an den Rand der Proletarisierung gedrängt“.43 Eine Folge davon war der massive Rückgang des Dienstper42 Roman Sandgruber konstatiert für das Jahr 1922, dass Österreich sich finanziell in einer Situation befand, die dem Staatsbankrott gleichkam. Die Lebenshaltungskosten stiegen im Vergleich zur Vorkriegszeit auf ein 14.000- faches. Sandgruber, Roman: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 2005, S. 354. 43 Wirthensohn, Beate: Hausgehilfinnen und Hausfrauen. Aspekte einer konflikt­ reichen Beziehung. Wien 1893-1934. Diplomarb. Univ. Wien 1987, S. 33.

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sonals. Waren in Wien um 1900 noch ca. 100 000 Dienstboten beschäftigt, halbierte sich ihre Zahl bis 1934 auf 50 000.44 Von dieser Entwicklung war auch Marie Konheisner betroffen, die als Einzige von mindestens fünf Dienstboten der Vorkriegszeit im Haushalt der Familie Kövess verblieb und zwei Jahre lang nicht mehr als selbständige Köchin, sondern als Mädchen für alles arbeiten musste. Aufgrund dieser Entwicklungen veränderte sich nach 1918 auch die Art der Haushaltsführung. War vor dem Krieg die Haltung von Dienstboten die Norm, so wurde die Hausarbeit in der Zwischenkriegszeit häufig von den Hausfrauen selber oder höchstens noch von einer Hausgehilfin verrichtet. Ermöglicht wurde dies durch die zunehmende Elektrifizierung und die damit einhergehende Vereinfachung der Hausarbeit. Geräte und Maschinen übernahmen viele Tätigkeiten, die bis dahin zeit- und arbeitsintensiv gewesen waren, sodass für die Erledigung der Arbeit anstelle vieler spezialisierter Dienstmädchen ein „Alleinmädchen“, manchmal sogar eine für einzelne Stunden angestellte Bedienerin, ausreichte.45 Dieser Prozess der „Entspezialisierung und Entdifferenzierung“ wurde bereits 1930 in einer Studie zur Situation der Hausgehilfinnen herausgestrichen, die von Marianne Hönig im Auftrag des BÖFV (Bund österreichischer Frauenvereine) erhoben wurde: „Völlig im Gegensatz zu der immer mehr fortschreitenden industriellen Arbeitsteilung hat nach den Ausweisen aller Stellenvermittlungen die Differenziertheit des Hauspersonals abgenommen. Die Köchin oder das Mädchen für Alles ist die einzige Arbeitskraft, die in 76 % der Wiener Haushalte, die Personal beschäftigen, die gesamte Arbeit zu verrichten hat.“ 46

44 Sandgruber, Ökonomie und Politik, S. 358 f. 45 Schulz, Selke: Die Entwicklung der Hausgehilfinnen-Organisationen in Deutschland, Diss. Univ. Tübingen 1961, S. 7. 46 Hönig, zit. nach Wirthensohn, Hausgehilfinnen, S. 50.

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Diese Entwicklung wird auch in der Lebensgeschichte von Johanna Gramlinger deutlich, als sie in einer Phase der Arbeitslosigkeit schreibt: „Ich fuhr also nach Hause, wollte ein bisschen Urlaub machen und mich dann wieder um eine passende Stelle umsehen. Aber da musste ich erfahren, dass viele Herrschaften sich einschränken mussten, die allgemeine schlechte Wirtschaftslage machte sich überall bemerkbar. Es waren meist nur Stellen ausgeschrieben für Köchinnen oder für Mädchen für alles. Stubenmädchen oder Kammerjungfern waren nicht gefragt, und so war es für mich schwer, etwas Passendes zu finden.“47 Damit zusammenhängend änderte sich auch die Wahrnehmung und Bewertung des häuslichen Dienstes. Das Dienstmädchen wurde von der Expertin auf einem bestimmten Gebiet zur Haushaltshilfe, was mit einem Verlust des ohnehin nie speziell hohen Ansehens dieser Berufsgruppe einherging und eine zusätzliche Abwanderung der Hausgehilfinnen in andere Berufszweige hervorrief. Trotz einiger Vorstöße von sozialdemokratischer Seite konnte auf rechtlicher Ebene bis nach dem Ersten Weltkrieg keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Hausgehilfinnen erzielt werden. Im Gegensatz zu der industriellen und gewerblichen Lohnarbeit, für die im Laufe des 19. Jahrhunderts Sozialgesetze eingeführt wurden, blieb die Dienstboten- bzw. Hausgehilfenarbeit davon ausgeschlossen. Die sozialdemokratischen Forderungen nach einer Sozialgesetzgebung für Hausgehilfinnen scheiterten an dem Widerstand bürgerlicher Hausfrauen und -herren, die darin eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Privathaushaltes sahen. Infolge der prekären gesellschaftlichen Situation während des Krieges und in den Nachkriegsjahren kam es zu einem 47 Gramlinger, Johanna: Ohne Titel. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, S. 53.

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Aufschwung der Sozialdemokratie, die 1919 als stärkste Partei aus den Wahlen zu einer konstituierenden Nationalversammlung hervorging. So gelang es 1920 sozialdemokratischen Mandatar/inn/en mit der Unterstützung einiger christlichsozialer Abgeordneter, den Gesetzesantrag für ein neues Berufsgesetz für Hausgehilfinnen durchzubringen. In dem Hausgehilfengesetz, das am 26. 2. 1920 in Kraft trat, wurde die vorher unbeschränkte Arbeitszeit auf 13 Stunden festgelegt, eine Angleichung an den Achtstundentag der Arbeiter/innen wurde jedoch nicht erreicht. Jeden zweiten Sonntag mussten nicht mehr nur sieben, sondern acht Stunden Freizeit gewährt werden. Zudem stand den Hausgehilfinnen pro Woche ein halber Tag zur Erledigung von persönlichen Besorgungen und pro Jahr eine Woche Urlaub zu. Erstmals wurden auch Mindestlöhne, Bestimmungen über Kost und Logis sowie eine Kündigungsfrist von vierzehn Tagen eingeführt. Das System der Dienstbotenbücher wurde abgeschafft, um die Kontrolle der Arbeitgeber/innen über die Hausgehilfinnen einzuschränken. Anstelle des Dienstbotenbuches wurde eine Dienstkarte eingeführt – eine Art Identitätsausweis der Hausgehilfin mit Angaben über Personaldaten und Lichtbild. 1921 wurden die Hausgehilfinnen auch in das gesetzliche Krankenversicherungssystem aufgenommen; Arbeitslosenunterstützung und Altersvorsorge blieben weiterhin ausgespart.48 Formal brachte dieses Gesetz einige Verbesserungen mit sich, faktisch blieb der Beruf der Hausgehilfin weiterhin ein prekäres Arbeitsverhältnis. Käthe Leichter, Sozialwissenschaftlerin und Sozialdemokratin, führte 1926 für das „Referat für Frauenarbeit der Wiener Arbeiterkammer“ eine Studie über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Hausgehilfinnen durch. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung zeigen, dass es sich um den Beruf mit den „meisten Gesetzesübertretungen“ handelt.49 Das Unterbieten der Mindestlöhne, das Überschrei48 Czachay, Die soziale Situation der Hausgehilfinnen, S. 78–109. 49 Wirthensohn, Hausgehilfinnen, S. 107.

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ten der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit, die Verletzung der persönlichen Rechte in Bezug auf Essen und Unterkunft sowie die körperliche Züchtigung waren weiterhin an der Tagesordnung.50 Auch die innere Zusammensetzung der Berufsgruppe der Hausgehilfinnen hat sich im Vergleich zum 19. Jahrhundert nicht maßgeblich verändert. Die Zuschreibungen weiblich, ledig, jung und zugewandert haben auch für die Zwischenkriegszeit ihre Gültigkeit. Bei genauerer Betrachtung der zahlenmäßigen Verteilung können jedoch kleinere Unterschiede festgestellt werden. Zwar arbeiteten immer noch vorwiegend Zuwandererinnen vom Land als Hausgehilfinnen. Die Haupteinzugsgebiete für Wien waren nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie jedoch nicht mehr Böhmen, Mähren und Ungarn, sondern die Steiermark und das Burgenland. Auch waren immer noch etwa 73 % der Hausgehilfinnen jünger als 30 Jahre, im Vergleich zur Vorkriegszeit stieg aber das Durchschnittsalter und der Anteil der Unter-20-Jährigen sank von knapp 46 % im Jahr 1890 auf etwa 19 % im Jahr 1934.51 Darin wird deutlich, dass viele (auch ältere) Frauen nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 als Arbeitskräfte in die privaten Haushalte zurückkehrten, die zuvor andere Berufe dem häuslichen Dienst vorgezogen hatten. Die Konsequenz davon war, dass die Zahl der Hausgehilfinnen kurzfristig wieder anstieg.52 Zugleich konnten sich viele Arbeitgeber/innen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage keine Hausgehilfinnen mehr leisten und stellten höchstens noch eine Bedienerin für einzelne Stunden ein, sodass Hausgehilfinnen in der Zwischenkriegszeit in hohem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Da diese bis 1956 keine Arbeitslosenunterstützung beantragen konnten, führte dies zu einer gewissen „Berufsumschichtung“, 50 Ebd. S. 108 f. 51 Czachay, Die soziale Situation der Hausgehilfinnen, S. 44–48. Czachay stützt sich auf die Statistiken der sozialdemokratischen Hausgehilfinnenorganisation „Einigkeit“. Da nur ein Teil der Hausgehilfinnen in diesem Verein organisiert war, können die Zahlen lediglich als ungefährer Richtwert angesehen werden. 52 Ebd. S. 137 f.

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wie Käthe Leichter in ihrer Erhebung über die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Hausgehilfinnen im Jahr 1926 festhält: „Die Hausgehilfin von heute ist die Gast- und Kaffeehausangestellte, die Hilfsarbeiterin, die Verkäuferin von morgen.“53 Diese Veränderung manifestiert sich auch in der Lebensgeschichte von Johanna Gramlinger, die 1930 als Buffetfräulein nach Deutschland ging, weil sie keine passende Stelle als Stubenmädchen finden konnte. Viele und häufige Stellenwechsel sowie die Notwendigkeit, sich in anderen Bereichen als Hilfskraft zu verdingen, sind charakteristisch für die Hausgehilfinnen der Zwischenkriegszeit. Der bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzende Rückgang der Beschäftigtenzahlen im häuslichen Dienst hielt, nach dem kurzfristigen Anstieg infolge der Weltwirtschaftskrise, weiter an. Hausgehilfinnen, die permanent im Haushalt der Arbeitgeber/innen wohnten, galten bald als aussterbende Berufsgruppe. In Wien waren nach dem Zweiten Weltkrieg (1947) um die 14 500 Hausgehilfinnen beschäftigt, 1934 waren es noch knapp 50 000 gewesen.54 Ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung, so die Zahlen für ganz Österreich, sank kontinuierlich von 2,3 % im Jahr 1951 auf 0,5 % im Jahr 1971.55

53 Leichter, zit. nach Wirthensohn, Hausgehilfinnen, S. 112. 54 Hahn, Frauenarbeit, S. 42. 55 Banik-Schweitzer, zit. nach Czachay, Die soziale Situation der Hausgehilfinnen, S. 33 f.

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Damit es nicht verlorengeht ...“ ist ein Leitmotiv vieler Menschen, die sich im fortgeschrittenen Alter verstärkt mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigen und selbst Erlebtes in der einen oder anderen Form zu dokumentieren versuchen. Daran orientiert sich der Titel dieser Buchreihe, die seit 1983 besteht und vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ herausgegeben wird. Persönliche Erinnerungstexte bieten vielfältige Einblicke in vergangene Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse und können das Verständnis für Alltagsgeschichte und historischen Wandel sowie für unterschiedliche Denkweisen und Traditionen erweitern. Über den privaten Familienkreis hinaus haben solche Selbstzeugnisse in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen als sozial-, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente Aufmerksamkeit gefunden. Aus diesem Grund wurde am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ eingerichtet, ein Textarchiv, in dem schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art (Autobiographien, kürzere Erinnerungstexte, Tagebücher, Familiengeschichten, Chroniken usw.) gesammelt, wissenschaftlich genutzt und für fachlich Interessierte bereitgestellt werden. Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, Beiträge zu dieser Textsammlung zu leisten, indem sie eigene lebensgeschichtliche Texte oder überlieferte Aufzeichnungen von Vorfahren zur Verfügung stellen oder uns auf entsprechende Materialien in Privatbesitz aufmerksam machen. Ebenso freuen wir uns über Kontakte zu schreibfreudigen Menschen, die sich durch das Motto der Buchreihe angesprochen fühlen. Kontaktadresse: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien (z. H. Mag. Günter Müller) Tel. +43 (0)1/4277-41306; E-mail: [email protected] http://lebensgeschichten.univie.ac.at http://MenschenSchreibenGeschichte.at 293

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