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German Pages 329 [332] Year 1994
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Dirk Niefanger
Produktiver Historismus Raum und Landschaft in der Wiener Moderne
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Gedruckt mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien).
Für Susanne Nie fanger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nief anger, Dirk: Produktiver Historismus : Raum und Landschaft in der Wiener Moderne / Dirk Niefanger. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 128) NE: GT ISBN 3-484-18128-1
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Dirk Niefanger, Göttingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
EINFÜHRUNG
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I. Voraussetzungen
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1. Raum- und Landschaftserfahrung um 1900 a) Leben »in der veränderten Welt« b) Wien 2. Raum und Landschaft als Diskursgegenstände der Moderne 3. Zur Begrifflichkeit: Raum - Natur - Landschaft 4. Raum und Landschaft in der Literatur
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II. Raum- und Landschaftsrealisierungen in der Wiener Moderne
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1. Realisierungsformen: »Aufbruch in die Moderne« a) Textverfahren Deskriptive Verfahren Semiotische und assoziative Momente b) 'Points of view' und Darstellungssituationen 'Points of view' Darstellungssituationen c) Ausschnitt und Perspektive
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2. 'Historistische' Referenzen: Kulturparadigmen in Landschaften... 105 a) Intertextuelle Bezüge 107 b) Ikonographische Bezüge 137 c) 'Produktiver* Historismus 160 3. Konnotative Strukturen: Landschaft als 'Sekundärtext' a) Antagonistische Tableaus Natürlichkeit und Künstlichkeit Das Motiv der 'toten Stadt' Interieurs und Exterieurs b) Psychogene Strukturen
177 178 178 192 206 222 V
c) Imaginationen eines anderen Lebens Landschaft als Heimat Landschaft als Fluchtraum Landschaft und Utopie
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III. Resümee
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ABBILDUNGEN
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LITERATURVERZEICHNIS
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1. 2. 3. 4.
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Literatur der Wiener Moderne Anthologien und Sammlungen mit Texten der Wiener Moderne... Primärtexte außerhalb der Wiener Moderne Forschungsliteratur und Texte zum Landschafts- und Raumverständnis
REGISTER ZUR WIENER MODERNE
VI
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EINFÜHRUNG
Das Verhältnis der Menschen zur Natur hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich gewandelt. Naturwissenschaftliche, ökonomische und verkehrstechnische Interessen dominieren seither den Umgang mit der Natur. Die effektive Nutzbarmachung natürlicher Ressourcen wird zu einer zentralen Frage des industriellen Zeitalters. Die ökonomische Vereinnahmung der Natur bringt neben der Erleichterung von Lebensbedingungen auch eine deutliche Veränderung der natürlichen Umgebung mit sich, ja, sie gefährdet schließlich jahrtausendelang gewachsene ökologische Zusammenhänge. Die vorliegende Untersuchung wird diese - gerade heute relevanten - ökologischen Probleme der Moderne nicht behandeln, »die Zeichen unseres gestörten Verhältnisses zur Natur«1 nur erwähnen, wenn sie literarisch relevant werden. 'Landschaft' ist nicht einfach mimetisch realisierte Natur, sondern ein nach eigenen Gesetzen konstruierter ästhetischer Raum: ein Artefakt also. Die ästhetische Konstitution von Landschaft grenzt deshalb weitgehend das problematisch gewordene Naturverhältnis des Menschen - so wie es sich heute zeigt - aus. Nur sehr vermittelt und in ästhetische Kontexte eingebunden zeigen sich auch in den Landschaften der literarischen Moderne die veränderten Wahrnehmungsbedingungen von Räumen überhaupt einerseits und der Natur andererseits. Das Fin de sifecle ist in mehrfacher Hinsicht als 'Geburtsstunde' der europäischen Moderne zu verstehen. Die zentrale Rolle, die die Wiener Moderne2 dabei spielt, steht außer Frage: eine sich neu entwickelnde
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Manfred Smuda: Vorwort. In: Manfred Smuda (Hg.): Landschaft. Frankfurt 1986. S.7. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit literarisch realisierter 'Landschaft' kann zwar die Gefahrdung der Natur kein zentrales Thema sein, die Erhaltung des Lebensraums (mit all seinen natürlichen Ressourcen) kann dabei gedanklich aber nicht ausgegrenzt werden. Möglicherweise zeigt sich, daB das Nachdenken über ästhetische Landschaft die Sensibilität für unsere gefährdete Natur zu fördern vermag. Zum Begriff 'Wiener Moderne' und zu seiner Abgrenzung vgl. Gotthart Wunberg (hg. unter Mitarbeit v. Johannes J. Braakenburg): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981. S.ll-79 ('Einleitung'). Zur 'Wiener Moderne' rechne ich eine vornehmlich avantgardistische Literatur (auch Kunst, Musik und Philosophie), die etwa zwischen den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg in Österreich produziert wurde. Die zeitliche
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Sprachphilosophie (Mauthner, später: Wittgenstein), die neu entstehende Psychoanalyse (Freud), eine neue avantgardistische Musik (Schönberg, Berg, Mahler), Kunst (Klimt, Schiele, Kokoschka) und Architektur (Loos, Otto Wagner), sowie neue philosophische Ansätze (Mach, Wiener Kreis) prägen die (Post-) Moderne bis heute. Kein Zweifel besteht schließlich an der Bedeutung des literarischen 'Jung-Wiens' für die Konstitution der literarischen Moderne. Jedes wissenschaftliche Projekt, das sich mit der Wiener Moderne beschäftigt, wird - angesichts dieser sich in den verschiedensten Bereichen etablierenden Moderne - interdisziplinär argumentieren müssen. Die vorliegende Studie hat eine Literatur zum Gegenstand, bei der sich der Beginn der Moderne auf vielfältige Weise zeigt, und bei der sich erwartungsgemäß auch das gewandelte Verhältnis des Menschen zur Landschaft niederschlägt. Damit ist nicht gemeint, daß in den Räumen und speziell den Landschaften der Literatur der Wiener Moderne die Folgen der Industrialisierung, der Urbanisierung, der Säkularisierung oder des Historismus unmittelbar 'sichtbar' würden. Die gewandelten Lebensbedingungen und die Diskurse der Moderne bestimmen vielmehr höchst indirekt die literarischen Räume und Landschaften; das macht sie aber für die Analyse besonders interessant. Globales Ziel der folgenden Ausführungen soll die Erarbeitung besserer Verständnismöglichkeiten fiktionaler Äußerungen der Jahrhundertwende und darüber hinaus - der Diskurse3 der Moderne überhaupt sein. Verschiedene Formen literarischer Raum- und Landschaftsrealisierung und ihre Funktionen in den Texten der Wiener Moderne werden herausgearbeitet und im literarhistorischen Zusammenhang diskutiert. Das Forschungsinteresse richtet sich also nicht nur auf Beschreibungen, sondern - allgemeiner - auf den Status von Räumen und Landschaften in der
Eingrenzung kann nur als Orientierung dienen. Auch nach 1914 findet man Texte, die man im Kontext der 'Wiener Moderne' lesen könnte (Hofmannsthals Drama 'Der Schwierige', Schnitzlers Erzählung 'Fräulein Else' etc.). Die 'Wiener Moderne' wird im Sinne Michel Foucaults - methodisch - als Archiv gefaßt, das sich durch eine Vielzahl diskursiver Formationen konstituiert (vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übers.v. Ulrich Koppen. Frankfurt 1981. S.183-190). Innerhalb dieses
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Archivs bildet die textuelle Raum- und Landschaftserfahrung einen Aspekt, der wichtige Momente verschiedener Diskursformationen sichtbar machen kann. Der in der Untersuchung verwendete 'Diskurs'-Begriff orientiert sich am üblich gewordenen Gebrauch in vielen neueren literaturwissenschaftlichen Arbeiten. Er basiert auf Texten Michel Foucaults und meint das geregelte Ensemble von Aussagen - zu denen auch Redeformen, Rituale etc. gehören - innerhalb einer historisch differenzierten Praxis. Zum Begriff 'Diskurs' vgl. u.a.: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Übers.v. Walter Seitter. Frankfurt 1991 [Original: Paris '1972] und Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt 1988. S.25-44.
Literatur der Wiener Moderne, auch wenn auf sie in den Texten eher indirekt Bezug genommen wird. Dabei gehe ich davon aus, daß die krisenhaft erfahrene 'historistische' Situation4 der Moderne, die sich besonders auch in einem gewandelten Verhältnis des Menschen zu Natur und Landschaft zeigt, auf unterschiedliche Weise in den literarischen Raumrealisierungen der Wiener Moderne manifest wird. Aus dieser Annahme leitet sich mein Interesse ab, die literarischen Werke der Wiener Moderne nicht als isolierte Untersuchungsgegenstände anzusehen, sondern sie im Kontext ihrer Zeit und der für sie relevanten Traditionen als Äußerungen innerhalb vielfältiger Diskurse zu begreifen. Die synchronen Aspekte einer sich in den verschiedensten Diskursen 'etablierenden' Moderne und die diachronen einer sich einerseits auf die Tradition beziehenden, andererseits sich polemisch absetzenden Moderne werden gleichermaßen Bestandteil der hier angestellten Überlegungen sein. Eine spezielle sozialgeschichtlich orientierte Untersuchung zur österreichischen Literatur im Kontext der historischen Ereignisse der Habsburger Monarchie ist die vorliegende Studie deshalb weniger als ein Versuch, das Wiener Fin de siecle im Zusammenhang übergreifender systematischer Phänomene der Moderne zu betrachten. Gleichwohl wären spezifische (mentalitätsgeschichtliche) Untersuchungen zu Raumvorstellungen des Vielvölkerstaates eine sinnvolle Ergänzung der vorliegenden Arbeit. Ein Problem, das sich bei einer systematischen Untersuchung sofort stellt, die davon ausgeht, daß alle Äußerungen innerhalb eines Archivs innerhalb der 'Wiener Moderne'5 - in gewisser Weise relevant sind, ist ein arbeitsökonomisches: Einerseits können nicht alle Raum- und Landschaftsdarstellungen in den Texten der Wiener Moderne ähnlich intensiv analysiert und gleichberechtigt präsentiert werden, andererseits darf die Auswahl nicht beliebig sein. Nicht akzeptabel ist das Kriterium der quantitativen Verbreitung eines Textes, weil es an sich keine Daten über die Möglichkeit sprachlicher Fixierung von Raum- und Landschaftserfahrungen liefern kann. Aus dem gleichen Grund kann die Zugehörigkeit eines Textes zu einem noch heute gelesenen Kanon kein hinreichendes Kriterium sein.
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Zum hier verwendeten Begriff 'Historismus' vgl. die Kapitel 2 in Teil I und 2.c) in Teil II. Die 'historistische' Situation der Moderne zeichnet sich durch den Verlust transzendenter Ordnungssysteme und einen allgemeinen Relativismus aus. Von der Moderne selbst thematisierte Krisen (Sprach-, Wahmehmungs- und Identitätskrisen) charakterisieren diese Situation. Spezifischere Ausführungen finden sich vor allem in den genannten Kapiteln. Die vorliegende Studie ist gerade in diesem Punkt Diskussionen innerhalb des deutsch-französischen Forschungsprojekts Historismus und literarische Moderne (Deutsches Seminar der Universität Tübingen / Maison des Sciences de l'Homme, Paris) verpflichtet. Vgl. Anmerkung 2.
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Das Vorgehen, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, ist vielmehr folgendes: In einem ersten Schritt sind möglichst viele Äußerungen zur Raum- und Landschaftserfahrung des 'Jungen Wien' gesichtet worden, um den Status der Moderne-Erfahrung in diesen Texten annähernd eruieren zu können. In einem zweiten Schritt wurden aber nur jene Texte eingehender analysiert, die sich auf die krisenhaft erlebte 'historistische' Situation der Moderne6 beziehen lassen. Die Auswahl bestimmt sich also aus der Struktur der Texte selbst: vor allem solche stehen im Vordergrund der vorliegenden Präsentation, die das Spezifische oder spezifisch Neue der Landschafts- und Raumerfahrungen in der Moderne zu charakterisieren vermögen. Besonders geeignet sind deshalb jene Texte, aus denen sich die Brüche, Unwägbarkeiten und Probleme dieser Erfahrungen herauslesen lassen oder jene, die diese sogar reflektieren. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß eine Reflexion auf sich wandelnde Wahrnehmungsbedingungen auch in die formale Gestaltung der Texte eingeht. Die Auswahl der Texte will keine literaturkritische sein; hier sollen nicht (nur) die qualitativ herausragendsten Produkte dieser Zeit untersucht werden, sondern besonders solche, die signifikant die Krisensituation der Moderne aufnehmen. Die Texte werden primär hinsichtlich ihrer Raum- und Landschaftsrealisierungen betrachtet; von dort eröffnet sich häufig eine Perspektive für das Gesamtverständnis des Textes. Da die systematische Analyse verschiedener Raum- und Landschaftsrealisierungen im Mittelpunkt der Ausführungen steht und nicht die Gesamtinterpretation einer kleinen Anzahl von überschaubaren Texten, wird die Perspektive auf den ganzen Text in einigen Fällen zugunsten einer systematisch vergleichenden Analyse verschiedener Raum- und Landschaftsrealisierungen mehrerer Texte vernachlässigt. Daraus resultiert manchmal eine nur angedeutete und sich mit der Analyse einzelner Textpassagen begnügende Erörterung. Das mag mitunter einerseits wenig befriedigend sein, es bietet aber andererseits systematische Vorteile: vergleichbare Phänomene können ohne längere sachfremde Untersuchungen analysiert und systematisiert werden. Ein solches Vorgehen, das eher vergleichbare kürzere Passagen aus verschiedenen Texten als einen Gesamttext im Auge hat, kann zum einen aus den Erfordernissen des systematisierenden Vorgehens der Analysen, zum anderen aber auch aus einer darüber hinausgehenden methodischen Intention gerechtfertigt werden. Die vorliegende Untersuchung legt sich zwar nicht auf einen literaturwissenschaftlichen Zugang fest, nutzt aber - entsprechend den vielfältigen Erfordernissen ihres Gegenstandes und soweit es sinnvoll
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Zur 'historistischen' Situation der Moderne vgl. neben Anmerkung 4 auch die sozialgeschichtlichen Ausführungen in Kapitel 1 der 'Voraussetzungen'.
erscheint - behutsam die Pluralität methodischer Zugänge der neueren Literaturwissenschaft, auf die zuletzt Wilfried Barner7 aufmerksam gemacht hat. Allerdings präferiere ich ein Textverständnis, das die vergleichende Analyse sinnvoll ausgewählter Textausschnitte rechtfertigt, zumindest wenn (gerade durch dieses Verfahren) immer wieder Blicke auf den Textzusammenhang und den diskursiven Kontext der Ausschnitte freigelegt werden können. Dieses Textverständnis orientiert sich insofern an Theoremen des 'New Historicism', als es skeptisch gegenüber Aussagen über die aus dem Text herausgelesene Intention des Autors und die (ästhetische) Geschlossenheit des Kunstwerks ist. Das von Anton Kaes (recht allgemein) formulierte Ziel des 'New Historicism' sieht die Realisierung einer »critical method« vor, die perceives the literary text as a communal product rather than the expression of an author's intention; that disputes the autonomy (and isolation) of the work of art and reconnects it to its cultural context; that scrutinizes artistic production as social intervention; that consistently crosses disciplinary boundaries [...] and nevertheless seeks historical and textual specificity.8
Stephen Greenblatt hat in seinen jetzt übersetzten 'Shakespearean Negotiations' eine Textlektüre vorgeschlagen, die sich nicht »auf das mutmaßliche Zentrum« richtet, »sondern auf seine Peripherie und dem nachzuspüren« sucht, »was gleichsam nur an den Rändern des Textes erhascht werden kann.«9 Die Analyse von Raum- und Landschaftsrealisierungen beschäftigt sich mit solchen 'Rändern': sie sucht in den Staffierungen der Texte nach den Spuren von Diskursen; sie richtet ihr Augenmerk auf verborgene Strukturen in den räumlichen Ausschmückungen der Texte; sie will in dekorativem Beiwerk zentrale Themen eines 'Archivs' erhäschen, in scheinbar beiläufig konnotierten Szenarien glaubt sie, Hinweise auf den Bau der Moderne zu finden. Aus solchen Überlegungen resultiert ein Vorgehen, das nicht an einer Stelle die Analyse eines Textes zu Ende führt, sondern je nach systematischem Zusammenhang unter Umständen immer wieder auf den nämlichen Text zu sprechen kommt. Eine solche Vorgehensweise, die sich an systematischen Überlegungen orientiert, vermeidet auch eine gattungsspezifische Abhandlung der Probleme, um etwaige 'Vorurteile' zu
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Vgl. Wilfried Barner: Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34-1990. S.l-7. Anton Kaes: New Historicism and the Study of German Literature. In: The German Quarterly 62.2-1989. S.210. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Übers.v. Robin Cackett (Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley 1988). Berlin 1990. S.9.
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vermeiden und die entsprechenden Phänomene, auf die es im diskutierten Zusammenhang ankommt, besser akzentuieren zu können. Besonderheiten der einzelnen literarischen Gattungen sollen gleichwohl an geeigneten Stellen zur Sprache kommen. Um einem (berechtigten) hermeneutisch orientierten Leseinteresse, das sich primär über einen Text oder eine Textgruppe informieren will, zu entsprechen, wurde ein Register zu den behandelten Autoren und Texten10 erstellt, das sich am Ende des Buches findet. Mit 'Voraussetzungen' wurde der erste Teil der Ausführungen überschrieben. Hier werden - vor den im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Untersuchungen - theoretische Grundfragen und ergänzende soziologische und (kultur-)historische Aspekte der Raum- und Landschaftserfahrung der Wiener Moderne skizziert. Die Betrachtung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Diskursen wird am Anfang der Untersuchung stehen. Da die vorliegende Studie auf umfangreiche Forschungsliteratur in diesem Bereich zurückgreifen kann, handelt es sich hierbei lediglich um Spezifizierungen hinsichtlich der diskutierten Probleme. Theorieorientierte Ausführungen ergänzen die 'Voraussetzungen': Im Zentrum stehen Überlegungen zum modernen Raum- und Landschaftsverständnis, die sich primär auf kritisch-theoretische Texte der Moderne stützen. Anmerkungen zur Begrifflichkeit von Natur, Raum und Landschaft - die darauf aufbauen - sollen die in der Arbeit verwendete Terminologie offenlegen. Überlegungen zu den prinzipiellen Bedingungen von Raumrealisierungen in der Literatur stehen am Ende der 'Voraussetzungen' und sollen den Einstieg in den Hauptteil, in die textanalytische und interpretatorische Arbeit, vorbereiten. Dieser gliedert sich in drei aufeinander aufbauende Abschnitte: Während im ersten Abschnitt Realisierungsformen literarischer Räume und Landschaften der Wiener Moderne typologisch unterschieden und erläutert werden, analysieren die beiden ersten Kapitel des zweiten Abschnitts wichtige intertextuelle und ikonographische Bezüge zu traditionellen Kunstparadigmen. Daran schließen sich im dritten Kapitel Ausführungen zu Art und Weise dieser Bezüge an. Die Referenzen zu traditionellen Kunstparadigmen werden - im Anschluß an die theoretischen Überlegungen zum modernen Raum- und Landschaftsverständnis - als Belege eines 'produktiven' Historismus zu fassen gesucht. Verschiedene konnotative Strukturen von Raum- und Landschaftsrealisierungen der Wiener Moderne und ihre Funktionen werden im dritten Abschnitt entfaltet. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der Gedanke, daß eine im Text realisierte Landschaft selbst
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Vgl. S.320ff.
als (sekundärer) Text lesbar und interpretierbar ist. Anhaltspunkte für die Interpretation von Räumen und Landschaften als Texte ergeben sich aus den einzelnen literarischen Werken selbst. In diesem Teil der Studie finden sich deshalb Textinterpretationen, die zum Teil über die isolierte Betrachtung von Räumen und Landschaften hinausgehen. Den Abschluß bildet ein thesenartig formuliertes Resümee.
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I. Voraussetzungen
1. Raum- und Landschaftserfahrung um 1900 Die Literatur der Moderne ist geprägt durch den eingreifenden Wandel der Lebensbedingungen seit 1870. Diese neuen Umstände, unter denen Literatur oder besser: Kunst überhaupt entsteht, sind oft beschrieben worden1 und bedürfen keiner weiteren ausführlichen Darlegung. Als die offensichtlichsten Veränderungen der Moderne können die entstehenden Großstädte, Industrialisierung und die Verbesserung des Fortbewegungsund Informationstempos angesehen werden. Das Stichwort, das immer wieder im Zusammenhang künstlerischer und diskursiver Repliken auf diese Phänomene zu hören ist, heißt Krise: Die Umgestaltung der traditionellen Lebenswelt in eine moderne löst »Krisen der ästhetischen Erfahrung aus, die in formalen Brüchen zutage treten oder in formalen Innovationen produktiv verarbeitet werden.«2 Wichtig für das Selbstverständnis solcher Reaktionen in der Moderne - für jede spätere Auseinandersetzung mit den gleichen Phänomenen und moderner krisenhafter Erfahrung vor der Moderne gilt ein Gleiches - scheint das Bewußtsein von der Krisenhaftigkeit der eigenen Zeit zu sein: »Das Selbstbewußtsein der 'Moderne' [ist] gleichursprünglich mit dem Wissen um ihre Krisenhaftigkeit.«3 Die Struktur dieser 'Krisen' ist vielfältig; kennzeichnend sind die Begriffe »'Krise der Wirklichkeitserfahrung', 'Sprachkrise und Sprachverfall', 'Ich-Dissoziation und Bewußtseinskrise' [...], Krise des Zeitbewußtseins«4, Historismus und Informationsüberschuß.5
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Zuletzt und in bezug auf die Wiener Moderne hat dies Ulrich Gaier getan. Vgl. Ulrich Gaier: Krise Europas um 1900 - Hofmannsthal ihr Zeitgenosse. In: Helmut Bachmaier: Paradigmen der Moderne (Viennese Heritage. Wiener Erbe. Vol. 3). Amsterdam, Philadelphia 1990. S.l-27. Vgl. auch: Markus Fischer: Augenblicke um 1900. Literatur, Philosophie, Psychoanalyse und Lebens weit zur Zeit der Jahrhundertwende. Frankfurt 1986. S.4ff.; Jens Malte Fischer, Fin de sifecle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978 und Wolfgang Iskra: Die Darstellung des Sichtbaren in der dichterischen Prosa um 1900. Münster 1967. S.33ff. Heinz Brüggemann: »Aber schickt keinen Poeten nach London!«. Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen. Reinbek 1985. S.19. Girard Raulet: Vorwort. In: Girard Raulet, Jacques Le Rider (Hg.): Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte. Tübingen 1987. S.12. Markus Fischer 1986, S.4. Vgl. Gotthart Wunberg: Wiedererkennen. Literatur und ästhetische Wahrnehmung in der Moderne. Tübingen 1983. S.75ff.
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Daß diese modernen Phänomene eine erhebliche Relevanz für die Landschafts- und Raumerfahrung um 1900 haben, bedarf kaum der Erwähnung. a) Leben »in der veränderten Welt« Walter Schulz verweist in seiner 1972 erschienenen und in mancher Hinsicht sicher selbst schon historisch gewordenen »Philosophie in der veränderten Welt« auf die vermittelte und partikulare Wirklichkeit als Kennzeichen der Moderne.6 Diese beiden Aspekte - Vermitteltheit und Partikularität - kann man als Charakteristika modernen Lebens überhaupt und speziell der modernen Landschafts- und Raumerfahrung ansehen. Das heißt, der jeweils wahrgenommene Raum, die gesehene Landschaft, ist in der Moderne nicht die Sache selbst, sondern durch verschiedene Faktoren vermittelt, und er ist nicht als 'wirkliches' Gegenüber ganzheitlich zu erfassen. Vermitteltheit und Partikularität sind allerdings innerhalb bestimmter Denkweisen 'überwindbar', oder besser: aufhebbar. Wenn oben also von Krisen gesprochen wird, deren Bewußtsein Moderne wesentlich konstituiert, so ist mit dieser Beschreibung selbstverständlich ein zeitgleiches nicht-krisenhaftes Verhältnis zur Lebenswelt ausgeschlossen worden, das sich etwa in der Heimatkunst-Bewegung um 19007 zeigt. Daß allerdings gerade in einem bewußt und polemisch vertretenen nicht kriseologischen Verhältnis zur Lebenswelt Krisenphänomene zu beobachten sind, ist zu erwarten. Die offensichtliche Abhängigkeit des Modernebewußtseins (als Krisenbewußtseiri) vom jeweils geführten Diskurs und der damit verbundene latent fiktionale Charakter dieser Haltung sollte nicht über tatsächliche, 'objektiv' veränderte Rahmenbedingungen in der »veränderten Welt« hinwegtäuschen. Gründe für ein solches krisenhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit hat es gegeben, gibt es im Zeichen der 'Postmoderne' noch in ähnlicher Weise. Diese Gründe muß man sich - auch wenn sie heute in hohem Maße Allgemeingut sind - als Voraussetzungen fiktionaler Raum- und Landschaftserfahrung ins Gedächtnis rufen. Als die offensichtlichste Veränderung wird man die Verstädterung der Umwelt und das Anschwellen der großen Städte zu Metropolen ansehen. Die Wahrnehmung der modernen Stadt - insbesondere der Metropole8 -
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Vgl. Walter Schulz: Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 1972. S.847. Vgl. hierzu Kapitel 3.c) Landschaft als Heimat. Oswald Spengler spricht vom »Steinkoloß 'Weltstadt'«. Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 9 1988. S.673.
ist gekennzeichnet durch Unwirtlichkeit und Unwirklichkeit.9 Die gänzlich neuen Arten städtischer Interaktion in der Moderne wie Massenmedien, neue Verkehrsmittel oder modern eingesetzte Werbung und Propaganda, aber auch das Gesicht und die Struktur der Städte, ihre Gettos, Wohnsilos, Repräsentationsviertel, ihr »technokratisches Stadtdesign«10, ihre ökonomische Zentriertheit, bewirken ein ambivalentes Verhältnis des Menschen zu seiner Urbanen Umgebung. Auf der einen Seite ist dieses Verhältnis bestimmt durch den abweisenden Charakter der Stadt, durch deren Anonymität, durch »gegenseitige Fremdheit und Abstoßung«.11 Auf der anderen Seite scheint sich das Subjekt vor der vielfältigen Bedrohung durch die Stadt - vor ihrer Anonymität - mittels aufgebauter eigener semiotischer Systeme zu schützen, wobei die Reize dieser Stadt in die eigenen Erfahrungen und den jeweils herrschenden Diskurs eingebaut werden.12 Die »objektive Welt« - so schon Simmel wird aus Gründen der »Selbsterhaltung« entwertet.13 Die Unwirtlichkeit der Städte kann so - ungeachtet erheblicher Desorientierungen im sozialen und psychischen Bereich - wenigstens teilweise durch die Unwirklichkeit des Stadterlebens kompensiert, nicht aber aufgehoben werden. Die Neubelegung architektonischer Zeichen jenseits ihrer funktionalistischen Konnotation, ihre Integration in komplexe Bewältigungsdiskurse, wird für die Literatur der Moderne von erheblicher Relevanz.14
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Vgl. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte [1965]. In: Alexander Mitscherlich: Gesammelte Schriften. Hg.v. Klaus Menne. Frankfurt 1983. Bd.VII. S. 515-624. und Klaus R. Scherpe: Zur Einführung - Die Großstadt aktuell und historisch. In: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellung zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek 1989. S.7-13. Zur 'Unwirklichkeit' urbaner Wahrnehmung vgl. auch: Susanne Hauser: Der Blick auf die Stadt. Semiotische Untersuchungen zur literarischen Wahrnehmung bis 1910. Berlin 1990. S.225: Um der Krise des Subjekts begegnen zu können, »müssen die Objekte der Wahrnehmung nicht nur unter den Bedingungen bestimmter Regeln angeschaut werden, sie müssen gar produziert oder über Visionen gewonnen werden.« Klaus R. Scherpe: Nonstop nach Nowhere. Wandlungen der Symbolisierung, Wahrnehmung und Semiotik der Stadt in der Literatur der Moderne. In: Scherpe (Hg.) 1989, S.137. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. In: Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984. S.197 (In Zukunft zitiert als: Simmel 1984[a]). Vgl. Roland Barthes: Semiotik und Urbanismus. In: Alessandro Carlini, Bernhard Schneider (Hg.): Konzept 3. Die Stadt als Text. Tübingen 1976. S.40 und Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe v. Jürgen Trabant. München 1972. S.295ff. Simmel 1984[a], S.197. Dieser Aspekt kann hier nicht ausführlich diskutiert werden: Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.c). Deutlich wird eine neue Zeichenbelegung der Stadtlandschaft und Architektur etwa in den Großstadtgedichten von Georg Heym ('Verfluchung der
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In einer ganz eigenen Weise treten die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Urbanen Prototypen Flaneur, Dandy und Snob der Stadt entgegen. Sie bezeichnen die großstädtischen Boulevards, Caf6s, die von Passanten übervollen Plätze und Kreuzungen (im Wien der Jahrhundertwende besonders das sogenannte 'Sirk-Eck', die Kreuzung Kärntnerstraße / Opernring) als ihr eigentliches Terrain.15 Franz Hessel faßt in seinem 1929 erschienenen Buch »Spazieren in Berlin« die großstädtische Wahrnehmung des Flaneurs als »Lektüre«. Offensichtlich wird hier die Neubelegung des Urbanen Zeichenreservoirs: Flanieren ist eine Art Lektüre der StraBe, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caf6-Terassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.16
Auch Siegfried Kracauer bemerkt diese kompensatorische Funktion des Flanierens, die »das Nichts [...] durch eine Unzahl von Eindrücken überdeckte«.17 Gerade durch die allmähliche Entfernung des Flaneurs von der sozio-ökonomischen Realität Urbanen Lebens, durch das 'Unwirklichwerden der Städte', verbunden mit relativer ökonomischer Unabhängigkeit dieser Großstadtbewohner, entsteht die viel beschriebene Langeweile18 - der Baudelairesche »spieen«19 - , die durch die Wahrnehmungsträume des Flaneurs, durch sein rauschhaftes Erleben dieser
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Städte', 'Der Gott der Stadt') und Ernst Stadler ('Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht'), aber auch in den Stadtgedichten von Stefan George ('Die tote Stadt', .'München') und Hugo von Hofmannsthal ('Siehst du die Stadt', 'Vorfrühling'). Vgl. hierzu u.a.: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hg.v. Rolf Tiedemann. Frankfurt 1983. S.524-569; Hanns-Josef Ortheil: Der lange Abschied vom Flaneur. In: Merkur 40/1986. S.30-42; Eckardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989; Rüdiger Severin: Spuren des Flaneurs in der deutschsprachigen Prosa. Frankfurt 1988; Gisa BrieseNeumann: Ästhet-Dilettant-Narziss. Untersuchungen zur Reflexion detfin de siiclePhänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt 1985; Alfons Backes-Haase: »Über topographische Anatomie, psychischen Luftwechsel und Verwandtes.« Walter Serner - Autor der 'Letzten Lockerung'. Bielefeld 1989. Besonders S.67ff. und S.133ff. Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin (ursprünglich: Spazieren in Berlin). Berlin 1984. S.145; vgl. dazu: Sigrid Weigel: Traum - Stadt - Frau. Zur Weiblichkeit der Städte in der Schrift. Calvino, Benjamin, Paul Nizon, Ginka Steinwachs. In: Scherpe (Hg.) 1989, besonders S.179-181. Siegfried Kracauer: Schriften. Hg.v. Karsten Witte. Frankfurt 1976. Bd.8. S.99. Vgl. etwa: Benjamin 1983, S.156ff. oder Kracauer 1976, Bd.8, S.97ff. Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Übers.v. Monika Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart 1980. S.lOff.
Welt erträglich wird: »Der Flaneur glich dem Haschischraucher, die Bilder der Stadt umgaukelten ihn wie Träume.«20 Das Großstadterlebnis des Flaneurs - und wenig modifiziert des Dandys und des Snobs - kann in gewisser Weise als exemplarisch moderne Reaktion auf die Überfülle scheinbar ähnlicher Reize gesehen werden: offensichtliche Nebensächlichkeiten und weltbewegende Ereignisse gleichen sich im kurzlebigen Akt der Kenntnisnahme an; Unterschiede werden im stilisiert erlebten 'Augenblick' aufgehoben. Alltägliche Sensationen - das Allermodernste - und die Erfahrung der »ewigen Wiederkehr alles Gleichen«21 - eigentlich historistische Erfahrung also22 - werden zur »emphatischen Erfahrung des Augenblicks ästhetisch transformiert.«23 Die Differenz zwischen - wie Adalbert Stifter es ausdrückt - dem »alten Wien« und der »sogenannten Neugestaltung«, dem »Wien mit seinen guten [sie!] und schlechten Veränderungen«24 ist wesentlich durch die Einführung moderner Verkehrsmittel, durch das »Heraufkommen eines neuen Tempos«25 bestimmt: Eilfertige Kleinbahnen, Großomnibusse, Tramways, anfangs mit Pferden oder Dampf, bald auch elektrisch betrieben, beherrschen das Stadtbild; Blitzziige, von Jahr zu Jahr verbesserte Telephone, täglich wachsende Telegraphenanlagen besorgen den Fernverkehr 2 6
Egon Friedells Beschreibung der Tempoänderung im alltäglichen Leben seit dem Ende des letzten Jahrhunderts besonders im großstädtischen Ballungsraum verweist auch auf die mit herkömmlichem Realitätsbewußtsein nicht begreifbare Struktur der neuen Kommunikations- und Fortbewegungsmittel. Die als Fiktionalisierung empfundene »Allgegenwart«27 des Menschen - »seine Stimme, seine Schrift, sein Leib durchmißt jede Entfernung, sein Stenogramm, seine Kamera fixiert jeden kürzesten Eindruck«28 - verändert ihrerseits erheblich das Raum- und Zeitbewußtsein in der Moderne.
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Kracauer 1976, Bd.8, S.100; vgl. auch Benjamin 1983, S.525. Benjamin [nach Nietzsche] 1983, S.679. Hierzu vgl. die Ausführungen zur 'relativistischen' Ausprägung historistischer Phänome in Kapitel 2 der 'Voraussetzungen' und in Kapitel 2.c). Markus Fischer 1986, S.17. Adalbert Stifter: Gesammelte Werke in vierzehn Bänden. Hg.v. Konrad Steffen. Basel und Stuttgart 1969. Bd.13 ('Aus dem alten Wien'). S.7f. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. München 7 1987. Bd.2. S.1351. A.a.O. A.a.O.; vgl. auch: »Er ist überall und infolgedessen nirgends, umspannt die ganze Wirklichkeit, aber in Form von totem Wirklichkeitsersatz.« (a.a.O.). A.a.O.
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Die neuen Kommunikations- und Verkehrsmittel verkürzen einerseits die Entfernungen zwischen den Orten und somit die Reisezeit, andererseits werden durch sie erst neue, bislang nie gesehene Orte überhaupt erreichbar. Dies gilt in besonderem Maße natürlich für die Eisenbahn, und zwar schon seit ihrer Erfindung.29 Hugo von Hofmannsthal nimmt das Motiv der Ortsungebundenheit des Menschen in seiner Reiseskizze »Sizilien und Wir« auf. Sein Hinweis auf die moderne Mobilität beginnt mit einem unterscheidenden Hinweis auf Goethe und Odysseus, wobei ja besonders letzterer als Synonym unbegrenzter Reisetätigkeit gilt. Die Fahrt mit der Eisenbahn durch Italien verdeutlicht für Hofmannsthal die Differenz zwischen Vormoderne und Moderne. Die Wahrnehmungsweise des Raums ist zwangsläufig anders geworden: sie ist präformiert durch die Klassiker der Italienfahrt, durch das historistische Wissen um Italien, und sie ist wesentlich gekennzeichnet durch die neuen Fortbewegungsmittel. Beide Aspekte bewirken, daß der Reisende nicht oder nur partikular Wahrgenommenes im Augenblickserlebnis antizipiert. Das Raumerlebnis entspricht somit nicht mehr den 'objektiv' gegebenen Verhältnissen, sondern einer durch die Veränderung der Wahrnehmungsweise entstandenen Fiktion. Wir reisen schnell, fast so schnell wie der Blick über die Landschaft hinfliegt; ja die Schnelligkeit, mit der wir uns bewegen, ermutigt noch die Kühnheit des Auges: wo der Blick nichts gewahrt als einen bläulichen Duft, dort werden wir morgen umhergehen.30
Besonders für das Wien der Jahrhundertwende wird ein modernes Fortbewegungsmittel wichtig, an das man vielleicht nicht sofort denkt: das
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Vgl. Heinrich Heine: Werke. Bd.3. Hg. v. Eberhard Galley. Frankfurt 1968 [Insel Heine], S.510: »Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet.« Hermann Bahr: Natur. In: Hermann Bahr: Essays. Leipzig 1912. S.130f.: »Und als das Leben dann doch anders wurde, da war das nicht durch Gedanken geschehen, sondern Erfindungen brachen das Leben der Menschen um: das Rad, die elektrische Bahn, das Automobil.« Vgl. auch Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München, Wien 1977. S.35ff.
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Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Hg.v. Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch. Frankfurt 1979. [Innerhalb der Anmerkungen werden die Einzelbände folgendermaßen zitiert: Bd.l: Gedichte, Dramen I; Bd.2: Dramen II; Bd.3: Dramen III; Bd.4: Dramen IV; Bd.5: Dramen V; Bd.6: Dramen VI; Bd.7: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen; Bd.8: Reden und Aufsätze I; Bd.9: Reden und Aufsätze II; Bd.10: Reden und Aufsätze III.] Zitat: Bd.7. S.660. Vgl. hierzu den Anfang von Rudolf Borchardts bekanntem 'Villa'-Essay von 1907: »Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr verschlossen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden.« (Rudolf Borchardt: Villa [1907], In: Rudolf Borchardt: Italienische Städte und Landschaften. Hg.v. Gerhard Schuster. Stuttgart 1986. S.14.)
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Fahrrad. Roman Sandgruber macht darauf nachdrücklich aufmerksam.31 Während das Fahrrad vor der Jahrhundertwende vornehmlich das Fortbewegungsmittel der oberen Klassen gewesen ist, wird es für die Arbeiter »im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert [...] zu einer Arbeitsnotwendigkeit, um die größer werdenden Entfernungen von den Wohnstätten zur Arbeitsstelle«32 zu verkürzen. Als offizielles Verkehrsmittel wird es in Wien zwar erst 189733 zugelassen, als Fortbewegungsmittel im Grünen und als Sportgerät hat es allerdings schon früher Bedeutung. Für die Künstler der Wiener Moderne gehören Ausflüge mit dem Fahrrad zur Normalität. Besonders in den Briefwechseln Schnitzlers spielen Fahradausflüge eine große Rolle.34 In engem Zusammenhang mit den neuen Verkehrsmitteln stehen auch die modernen, durch die gesteigerte Mobilität aktuelleren Informationssysteme. Wichtig für die Wirkung der neuen Massenmedien ist ihr Standort in den Metropolen. Sie werden dort - in aller Regel - »nicht nur erfunden und zum ersten Mal ausprobiert, sondern von den Bewohnern auch sehr schnell in den Alltag eingebaut.«35 Das Aufkommen der ersten Massenmedien fällt in die Zeit der beginnenden Moderne: In Berlin wurde 1883 die erste Massenzeitung ausgegeben, nachdem seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Erfindung der Rotationspresse und später der Linotype die technischen Voraussetzungen geschaffen wurden. 1887 konnte die Schallplatte eingeführt, 1895 der erste Film gezeigt werden und 1923 begann man Radioprogramme auszustrahlen36; 1896 wurde in Wien die erste Kinovorstellung gegeben. Ähnliches gilt für die Kommunikationsmittel Telegraphie und Telefon: Seit Erfindung des Schreibtelegraphen 1844 setzt sich in Europa und Nordamerika die Telegraphie durch, die seit 1900 drahtlos ist. 1881 werden erste Telefonortsnetze in
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Vgl. Roman Sandgruber: Wiener Alltag um 1900. In: Alfred Pfabigan (Hg.): Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Wien 1985. S.31. Er weist darauf hin, daß die Anzahl der Fahrräder in Wien von 1887 600 Stück auf 1910 etwa 150.000 bis 200.000 angestiegen ist. Zur Wichtigkeit des Fahrrades um 1900 vgl. auch: Oscar Bie: Fahrrad-Ästhetik (1897). In: Jürg Mathes (Hg.): Theorie des Jugendstils. Stuttgart 1984. S.65-68. Sandgruber 1985, S.32. Vgl. a.a.O. Vgl. etwa Hugo v. Hofmannsthal, Arthur Schnitzler: Briefwechsel. Hg.v. Therese Nicki und Heinrich Schnitzler. Frankfurt 1983. S. 44 (11.8.93), 45 (24.8.93), 89 (8.7.1897) oder Arthur Schnitzler, Otto Brahm: Briefwechsel. Hg. v. Oskar Seidlin. Tübingen 1975. S.130 (1.9.1902). Friedrich Knilli: Massenmedien & Metropolen. In: Friedrich Knilli, Michael Neriich (Hg.): Medium Metropole. Berlin, Paris, New York, Heidelberg 1986. S.23. Zum Verhältnis von neuen Informationstechnologien und einem veränderten Raumgefühl vgl. besonders: Gaier 1990, S.6-10. Vgl. Knilli 1986, a.a.O.
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Mühlhausen und Berlin eingerichtet. Für den postalischen Verkehr innerhalb Wiens ist das Jahr 1870 von Bedeutung. In diesem Jahr werden die Wiener Postämter mit einer Rohrpost verbunden, so daß die Briefpost innerhalb Wiens wesentlich schneller befördert werden kann. Die neuen Informationssysteme haben eine ambivalente Wirkung auf das Raumgefühl: Sie lassen einerseits die Großstadt selbst - als »Stätte der geballten Möglichkeiten zur Kontaktwahl«37 - und die Distanzen zwischen verschiedenen Orten kleiner werden. Man kann jetzt schneller und auf verschiedenste Weise miteinander kommunizieren und interagieren. Ulrich Gaier faßt dieses - für die Veränderung der Raumerfahrung in der Moderne so signifikante - Phänomen in einem kürzlich erschienen Beitrag als »Ubiquität«, als »Überall-Gleichzeitigkeit«.38 Andererseits verdeutlichen die neuen Medien erst Entfernungen, lassen das Fremde als Fremdes erst verstärkt erscheinen. Wien (oder jede andere Großstadt) ist jetzt deutlicher als vorher als eine Metropole unter vielen zu sehen. Ein Informationsaustausch zwischen diesen Städten bleibt trotz der neuen Verkehrs- und Nachrichtentechnologie problematisch.39 Etwas Ähnliches gilt im Zusammenhang mit dem Exotismus-Problem: Exotisches kann zwar nun von jedem durch Zeitungen, Filme oder Kunst rezipiert, aber nicht authentisch erlebt werden. Die neuen Informationssysteme machen den Aspekt der Vermitteltheit als wesentliches Konstituens modernen Lebens vielleicht am besten deutlich, und dies gilt wiederum in besonderer Weise für das Raumerlebnis: Fotografie, Filme, Panoramen, Fernrohr, Gewächshäuser, Passagen - alles Errungenschaften, die erst in der Moderne einem breiteren Publikum zugänglich werden - zeigen auf je eigene Weise eine vermittelte Räumlichkeit.40
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Karl W. Deutsch: Informationsmaschine Metropole. In: Knilli, Nehrlich (Hg.) 1986, S.157. Gaier 1990, S.7. Zum Gesamtkomplex 'Informationssysteme in der Moderne' vgl. auch: Wunberg 1983, S.52ff. und 85ff., Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985 und Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. Vgl. hierzu: Rainer-Michael Schaper: Der gläserne Himmel. Die Passagen des 19. Jahrhunderts als Sujet der Literatur. Frankfurt 1988.
b) Wien Und in der Ferne droht, hinter den tausend Kilometern Obstgärten und Feldern, in eine mysteriöse Dunstwolke gehüllt, Wien die große Stadt! Wien! Babel! Peter Altenberg 41
Julius Bab, der Protokollant der Berliner Bohfeme, und der Wiener Willy Handl behaupten in ihrer 'vergleichenden Kulturgeschichte der beiden deutschen Hauptstädte' Wien und Berlin, daß keiner der jüngeren Wiener Dichter sich »ein Leben außerhalb Wiens auf die Dauer erträglich [hätte] denken können.« Der Stoff der Wiener Moderne sei »immer wieder Wien«.42 Was die beiden Großstadtbiographen dann zuallererst zitieren, ist bezeichnenderweise nicht ein typisches Gesellschaftsbild aus der Feder Schnitzlers oder Altenbergs, nicht eine zeitgenössische MilieuSkizze im Stile von Alfons Petzolds autobiographischem Großstadtroman 'Das rauhe Leben'43, sondern jener Ausschnitt aus Hofmannsthals Prolog zum Buch 'Anatol', in dem vom »Wien des Canaletto«, vom »Wien von siebzehnhundertsechzig«44 die Rede ist. Bab und Handl haben dabei gar nicht unrecht, so zu verfahren. Die Dichter des Jungen Wien leben - und das unterscheidet sie von der Berliner Moderne - weitestgehend getrennt von der sozialen Realität der Wiener Arbeiterviertel und Industrieanlagen in den Vorstädten45, also von dem, was man heute als unabdingbare Bestandteile jener Großstadt ansehen wird. Für die Wiener Moderne gilt durchaus Hermann Bahrs Satz, alles dränge »den Wiener von der Wirklichkeit ab«.46 Hierfür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen verbietet offensichtlich die ästhetizistische Kunstauffassung der Griensteidl-Literaten ein tieferes Eintauchen in die soziale Problematik; zum anderen werden die Jung-Wiener
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Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 51910. S.230f. Julius Bab, Willy Handl, [Hermann Kienzl]: Wien und Berlin. Vergleichende Kulturgeschichte der beiden Hauptstädte. Neu bearbeitete Ausgabe. Berlin 1926 ['1919]. S.264. Vgl. Alfons Petzold: Das rauhe Leben. Graz, Wien, Köln 1979 [' 1920]. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.59. Vgl. Hugo v. Hofmannsthal: Verse auf den l.Mai 1890, Tagebuchnotitz »Lärm, Proletariervorstädte« und die Kommentare von Ludwig Greve und Werner Volke (Ludwig Greve, Werner Volke (Hg.): Jugend in Wien. Literatur um 1900. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Katalog Nr.24/1971. Marbach 21987. S.87). Hermann Bahr: Wien. Staedte und Landschaften. Bd.2. Stuttgart 1906. S.70.
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tatsächlich kaum mit der sozialen Frage konfrontiert. Kunst und Literatur sind in ihrem Umgang wichtiger als die Tagespolitik. Außerdem begünstigte die bauliche und soziale Struktur der Stadt Wien die Trennung zwischen den verschiedenen sozialen Schichten: Im Stadtkern, also innerhalb des Rings, wohnten der alte Adel und wohlhabendere Geschäftsleute, die aristokratische und die neue Oberschicht vornehmlich an der Ringstraße, wobei sich »das vornehmste Teilstück [...] zwischen der Kärntnerstraße und dem Schwarzenbergplatz befand«.47 In der Nähe des neuen Rathauses wohnte die finanzkräftige großbürgerliche Oberschicht, die freien Berufe siedelten sich eher um das neue Postsparkassenamt an. Zwischen Ring und ehemaligem Linienwall, dem heutigen Gürtel, fanden sich die eher bürgerlichen Viertel. Die Josefstadt, also der Stadtbezirk hinter dem neuen Rathaus, beherbergte die etwas besser gestellten Schichten des Bürgertums. Jenseits des Linienwalls befanden sich die Vorstädte, in denen sich einerseits die ausgesprochenen Proletarierviertel befanden, andererseits auch ländliche Bevölkerung wohnte. Hier siedelte sich auch die Industrie an. Der Standort der Industrieanlagen in den Außenbezirken Wiens geht auf eine Anordnung Kaiser Franz II. zurück, der damit soziale Konflikte aus der Stadt fernhalten wollte.48 Man kann also sagen, daß sich um die wohlhabendere Stadtmitte, abgestuft und auch äußerlich durch Ringstraße und Gürtel bzw. Stadtbahn markiert, die sozial schwächeren Viertel anlagerten. Um zu zeigen, wie sich diese krasse Abstufung zwischen den bürgerlichen Vierteln innerhalb des Wiener Stadtgürtels und den Vorstädten außerhalb auch in die Literatur der Jahrhundertwende einschreibt, sei eine kurze Passage aus Albert Ehrensteins früher Erzählung 'Mitgefühl' zitiert. Der Ich-Erzähler, ein junger Student, in »Lackhalbschuhe« gekleidet, gerät auf einem Spaziergang in die Vorstadt »Ottakring«: Die Sucht, den merkwürdigen Gerüchen, die mir entgegenschlugen, dem Staub, den mir Wind und Wagen ins Gesicht warfen, ein Taschentuch entgegenzustellen, diese Sucht wäre mir, glaube ich, nicht so tief verwerflich erschienen, wenn nicht nach und nach die Pferdefleischhauer zu überwiegen begonnen hätten und, Folge notwendig geringerer Sorgfalt, ein unglaublich hoher Prozentsatz von Buckligen und Verwachsenen
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Reingard Witzmann: »Ich bin ein Kind der Stadt« - Die Wiener Gesellschaft zwischen Klischee und Wirklichkeit. In: Robert Waissenberger (Hg.): Wien 18901920. Wien, Heidelberg 1984. S.73. Vgl. Günter Düriegel: Das Bild der Stadt - Gestalt und Wandlung. In: Waissenberger (Hg.) 1984, S.14 und Günter Düriegel: Wien. In: Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930. Katalog zur 93.Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien im Künstlerhaus. 28.3.-6.10.1985. Wien 2 1985. S.212. Vgl. auch Peter Feldbauer: Stadtwachstum und Wohnungsnot. Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in Wien 1848 bis 1914. Wien 1977. S.49 (Skizze).
unter den Kindern mich verstört hätte. Es gab da merkwürdig dünne Arme, merkwürdig große Köpfe, Höcker und Ausladungen mannigfaltigster Art ,..49
Ehrensteins 'Reiseerzählung' kann man sicher nicht als Realitätsbeschreibung der Wiener Vorstadt-S/ums lesen, sie macht aber die Differenz zwischen den Lebensbereichen in Wien sichtbar, gerade in den bewußt krassen Stilisierungen. Die räumliche Struktur der Stadt Wien gilt es mitzudenken, wenn etwa Hofmannsthal von dem Gang des Kaufmannssohns in eine fremde und unübersichtliche Vorstadt berichtet50 oder Schnitzler das Vorstadthaus Annas in seinem Roman 'Der Weg ins Freie' kurz nach Nürnbergers Stadtdomizil beschreibt, das in der »inneren Stadt treppenweise gegen die Donau«51 im Wohngebiet der wohlhabenderen Wiener Juden zwischen Hohem Markt und Franz-Josefs-Kai liegt. Dabei geht es weniger um eine soziologische Interpretation. Man muß nur die selbstverständliche und verkürzte Sprechweise dieser Texte begreifen und das heißt: die spezifisch konnotierten Örtlichkeiten kennen, auf die die Autoren rekurrieren. Die oben grob skizzierte Struktur der Stadt Wien ist ein komplexes Zeichensystem, auf das sich die Autoren des Jungen Wien immer wieder beziehen. Zu diesem Zeichensystem gehört auch die seit 1849 auf dem Gebiet der niedergerissenen mittelalterlichen Befestigungsanlage entstehende Ringstraße, die einerseits als Boulevard, andererseits als Repräsentationsstraße angelegt worden ist. Die vor allem in den Jahren zwischen 1861 und 1886 enstehenden Monumentalbauten und Wohnpaläste bilden in Wien einen in Europa einzigartigen historistischen Baukomplex, der das Stadtbild wenigstens zum Teil von seiner barocken Lieblichkeit52 befreit. Die Ringstraße ist die Detailliert geplante Verwirklichung einer weltstädtischen Aorta, an der sich alle wesentlichen administrativen und kulturellen Ereignisse abspielen. Zentral für die Wirkung der Ringstraße ist die Tatsache, »dass möglichst weite Räume überhaupt unverbaut
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Albert Ehrenstein: Mitgefühl. In: Albert Ehrenstein: Der Selbstmord eines Katers. München, Leipzig [1912] (Kraus Reprint: Nendeln 1973). S.70. 'Mitgefühl' ist auch leicht verändert - unter dem an Schnitzlers bekannten Roman erinnernden Titel 'Weg ins Freie' erschienen. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.53f und S.65. Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das erzählerische Werk. Frankfurt 1977-1979[b]. Bd.4. S.199ff. Vgl. Bab, Handl, [Kienzl] 1926, S.212 und Carl E.Schorske: Abschied und Öffentlichkeit. Kulturkritik und Modernismus in der Wiener Architektur. In: Pfabigan (Hg.) 1985, S.47ff. und Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Sifecle. Übers, v. Horst Günther. Frankfurt 1982. S.23-109.
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belassen wurden«.53 In diese wurden dann eine Reihe von Parkanlagen eingefügt, so daß der Eindruck einer großzügigen Anlage entstand. Als auffällig - besonders für den an die Zeichensprache historistischer Architektur gewöhnten Betrachter - kann außerdem die symbolische Verwendung von Baustilen angesehen werden: Die Votivkirche als 'Staatskirche' wurde von Ferstel im neugotischen - im 'deutschen' - Stil gebaut. Universität, Staatsoper, die Museen gegenüber der Hofburg und das Burgtheater erscheinen im Gewand der Renaissance, der Kulturepoche der alten Welt. Das Parlamentsgebäude entwarf Theophil Hansen im hellenistischen Stil, um an die Wiege der Demokratie, an Griechenland zu erinnern. Die Verwendung verschiedenster historistischer Baustile, das Aufstellen von Denkmälern, die Errichtung des Theseustempels und verschiedener historistischer Brunnenanlagen in den Gärten an der Ringstraße verstärken den Eindruck des musealen Charakters Wiens, der hier seine am deutlichsten sichtbare Ausgestaltung erfährt. Hermann Broch schreibt: In Erfüllung seiner Traditionspflicht verwechselte Wien Museumshaftigkeit mit Kultur. [...] Das Museale war Wien vorbehalten, und zwar als Verfallszeichen, als österreichisches Verfallszeichen.54
Einen anderen Ausdruck dieser späthabsburgischen Musealität findet man im Festzug der Stadt Wien anläßlich der silbernen Hochzeit des Kaiserpaares 1879 paradigmatisch vorgeführt, an dem sich fast alle namhaften Künstler der Donaumonarchie unter der Leitung Hans Makarts beteiligen.55 Dekorationslust und historistische Überfülle, bemerkbar auch in späteren Festzügen56, dem Blumenkorso im Prater oder in den Salons der aristokratischen Oberschicht, prägen das 'alltägliche' ästhetische Empfinden dieser Zeit entscheidend: Dieser Makart-Stü gehört zur Eleganz Urbanen Lebens im Wien der Eltern-Generation der Modernen, bestimmt aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den distinguierten Gusto der Etablierten. Diese historistische Dekorationssucht provoziert im Wien der Jahrhundertwende eine relativ breite Diskussion um das adäquate Interieur und um das Ornament als architektonischem Stilmittel. Als gewichtigster
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Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889). In: Harold Hammer-Schenk: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1985. Bd.2. S.179. Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie. Frankfurt 1974. S.42f. Vgl. Renata Kassal-Mikula: Der Festzug. In: Traum und Wirklichkeit 21985, S.40-49. Vgl. die kritischen Anmerkungen Anton Lindners (Ästhetik der Gasse. Anlässlich der Decorierung Wiens am 18.August dieses Jahres. In: Wiener Rundschau IV-17, 1.9. 1900. S.296-301).
Gegner des Dekorationsstils und des Ornaments tritt Adolf Loos auf.57 Richard Schaukai - auf der Seite des Architekten - bezeichnet die historistische Bau- und Wohnkultur als »Orgie der Barbarei«58, die er in den fassadenhaften Ornamenten der Makart-Kultur zu erkennen glaubt: Posaunenblasende Göttinnen, Rossebändiger, Masken, Pyramiden, Schnecken, Vasen, Urnen, Kränze.... In diesen öden Prunkkolossen, diesen aus schlechtem Material errichteten Schandsäulen des kulturmörderischen Parvenutums ist der moderne Stadtmensch zu wohnen gezwungen.59
Mehr noch als die Fassaden sind die Interieurs Objekte seiner Kritik. Die historistische Ausgestaltung der Wohnungen bezeichnet er als »MixtumKomposition aus den Exkrementen einer mit unverdauter 'Historie' überfütterten 'Dessin* speicherphantasie«.60 Schaukai und Loos schlagen stattdessen ein bequemes Interieur nach englischem Vorbild hinter schlichten Fassaden vor.61 Adolf Loos konnte zwischen 1909 und 1911 am Michaelerplatz ein Geschäftshaus für die Firma 'Goldman & Salatsch' verwirklichen. Dieses Haus - genau gegenüber der Hofburg war für das ancien regime ein Skandal sondergleichen. Erstmals in der Geschichte der Wiener Architektur wurde an prominenter Stelle ein Haus ohne Fassadenornamente gebaut. Daß Loos 1912 behördlich gezwungen wurde, Blumenkästen an der Fassade anbringen zu lassen, um »dieses Scheusal von einem Haus«62 erträglicher zu machen, zeugt von der tiefgreifenden Skepsis der Makart-Generation gegen die Ornamentfreiheit und auch vom zentralen Stellenwert dieser Diskussion in der Öffentlichkeit. Neben dem 'musealen' Wien und seiner monarchisch-behäbigen Tradition existiert in jener Zeit auch ein Wien, das man als die Industriemetropole Österreich-Ungarns bezeichnen kann. Dieses Wien hat
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Zur Ornament-Diskussion innerhalb der ästhetischen Auseinandersetzung in der Moderne vgl. Kapitel 2 der 'Voraussetzungen', innerhalb der Literatur vgl. Kapitel 3.a). Außerdem vgl. Ursula Keller: Böser Dinge hübsche Formel. Das Wien Arthur Schnitzlers. Berlin 1984. S.48-50. Richard Schaukai: Vom Geschmack. Zeitgemässe Laienpredigten über das Thema Kultur. München o.J. [1909]. S.59 ('Vandalismus'). Schaukai [1909], S.18 ('Bemerkungen zur ästhetischen Wohnungsnot'). A.a.O., S.21. Vgl. besonders Schaukai [1909] S.27-55 ('Die Wohnung'), Adolf Loos: Die Abschaffung der Möbel. In: Adolf Loos: Trotzdem. 1900-1930. Wien 1982 ('1931). S. 170-172 und Adolf Loos: Möbel und Menschen. In: Loos 1982, S.209-212. Worte des Gemeinderats Rykl. Zitiert nach: Christian M.Nebehay: Wien speziell. Architektur und Malerei um 1900. Wien 1983. S.VIII/13.
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durchaus das Anlitz einer modernen Metropole.63 Es ist geprägt vom Durchbruch der großindustriellen Produktionsweisen, besonders dem Aufblühen der Maschinen- und Elektroindustrie seit 1880.64 Die Weltausstellung in Wien im Jahre 1873 steht auch für die wachsende ökonomische Bedeutung und das Selbstbewußtsein der Hauptstadt. Sowohl der Ausbau des Eisenbahn- und Stadtbahnnetzes - entlang des Gürtels, des Franz-Josefs-Kais und der Wien - als auch das Entstehen neuer Bahnhöfe und der Regulierungsarbeiten an der Wien und am Donaukanal zeugen von dem enormen Modernisierungswillen der Stadtväter. Das ökonomische Wachstum brachte auf der einen Seite viele Zuwanderer in die Metropole, auf der anderen Seite war aus verwaltungstechnischen und zollrechtlichen Gründen die Eingemeindung der Vorstädte und deren Integration in den Stadtverband notwendig. Die Folge war ein ausgesprochen großes Wachstum der Stadtbevölkerung und der Fläche: Die Einwohnerzahl Wiens hat sich innerhalb von 20 Jahren verdreifacht; sie stieg von 801.176 im Jahre 1890 auf 1.355.979 im Jahre 1891 nach der Eingemeindung und etwa 2.400.000 im Jahre 1910.65 Von großer Bedeutung für das Raum- und Landschaftsgefühl der Wiener Moderne ist ein Landstrich außerhalb Wiens: der Semmering. Ein Blick in die Tagebücher, Briefe oder auch die literarischen Arbeiten überzeugt sofort von der zentralen Bedeutung dieses Erholungsgebietes für die Dichter des Jungen Wiens.66 Wolfgang Kos weist auf zwei Aspekte hin, die die Wiener Society zwischen 1880 und 1914 am Semmering so faszinierend findet: der Erholungswert »eines Frischluft-Ambientes mit Landschaftsreizen, in dem äußeres und inneres Getriebe weiterlaufen konnten«67 und die Technik der Semmeringbahn, die durch ihre Bauweise Modernität mit der »abendländischen Tradition des Steinbaues«68 harmonisch verbindet. Der Semmering kann durch die Eisenbahn gut von Wien aus erreicht werden, wobei die Fahrt mit der viel-
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Vgl. hierzu: Rainer Hank: Mortifikation und Beschwörung. Zur Veränderung ästhetischer Wahrnehmung in der Moderne am Beispiel des Frühwerks Richard BeerHofmanns. Frankfurt 1984. S.64-73. Vgl. Gerhard Meißl: Vom Januskopf zum Wasserkopf. Einige Überlegungen zum sozioökonomischen Entwicklungsniveau Wiens um die Jahrhundertwende. In: Traum und Wirklichkeit 2 1985, S.218-220 und Herbert Matis: Österreichs Wirtschaft 18481913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter FranzJosef I. Berlin 1972. S.153-341. Vgl. Düriegel 1984, S.213 und Bab, Handl, [Kienzl] 1926 S.194f. Vgl. etwa Schnitzler, Hofmannsthal 1983, S. 148 (1901), S.240 (3.10.1908), S.262 (27.3.1914) und Peter Altenberg: Semmering 1912. Berlin 1913. Wolfgang Kos: Der Semmering: Szenen aus einer Show-Landschaft. In: Landschaft. Konkursbuch 18-1987. S.39. A.a.O., S.48.
leicht 'interessantesten Bahn Europas'69 selbst zum Bilderlebnis par excellence wird: »Eigentlich sind es Blicke, die das Gebiet beiderseits der Bahn-Schlangenlinie zu einer Erlebniseinheit verknüpfen, nicht räumlich fixierbare geographische Formen.«70 Dieser Aspekt scheint den Zeitgenossen so wichtig gewesen zu sein, daß selbst in Reisehandbüchern der Jahrhundertwende Hinweise auf einzelne Blicke und den richtigen Sitzplatz nicht fehlen.71 Das Erlebnis der Semmering-Landschaft von den Terrassen der großen und modernen Hotels aus - erwandert wird diese Landschaft kaum - hatte einen deutlich fiktionalen Charakter; Kos spricht deshalb sogar von einer »künstlichen Landschaft«.72 Deutlich wird dies in folgendem Zitat aus Schnitzlers Autobiographie 'Jugend in Wien' - mag hier auch seine Liebe zu Olga Waissnix einen nicht unerheblichen Beitrag zur Nebensächlichkeit der tatsächlichen Natur geleistet haben: War es die Rax oder der Schneeberg, der da vor mir in den rötlichen Himmel ragte? Ich hab' es damals noch Jahre lang nicht gewußt und verwechselte sie immer wieder, wie ich mich überhaupt kaum je eine Viertelstunde weit von dem Haus entfernte [...]. Rax, Schneeberg, die Waldwege, die Wiesenplätze, der Himmel darüber, all das war damals kaum Landschaft für mich; Kulissen waren es, Hintergründe.73
Neben dem Semmering sind natürlich auch andere Ausflugsziele in der Nähe Wiens für die Jung-Wiener wichtig: der Wiener Wald, Klosterneuburg, Baden und etwas weiter entfernt - für Hofmannsthal relevant - das Luxusbad Ischl. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land muß in den Vorstellungen der Wiener Moderne gleichbedeutend mit dem Gegensatz zwischen Wien und diesen Ausflugszielen gewesen sein. Eben darum erscheint der Umgang mit der Stadt-Land-Dialektik in der Literatur so spielerisch; für diese Wiener fängt das Land in den Vorstädten der Metropole an. Es gilt Schnitzlers Satz aus der 'Kleinen Komödie': Wir sind kaum zwei Stunden von Wien und doch so versteckt, als wären wir hundert Meilen weit.74
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Vgl. Meyers Reisebücher. Deutsche Alpen. Dritter Teil. Leipzig und Wien 6 1907. S.146. Kos 1987, S.43. Vgl. etwa: Meyers Reisebücher 6 1907, Dritter Teil, S. 146. Kos 1987, S.42. Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hg.v. Therese Nicki und Heinrich Schnitzler. Frankfurt 1981. S.242. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.200.
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Und doch, weil man sich auf dem Lande trifft, weil die Ausflüge gemeinsam unternommen werden und weil die Terrassen und Salons auf dem Semmering genauso bequem ausstaffiert sind wie in Wien, entfernt man sich im Grunde nicht von der Stadt. Das 'Land' ist nur eine andere Seite der Stadt.75
2. Raum und Landschaft als Diskursgegenstände der Moderne Die veränderten Lebensbedigungen seit der Industrialisierung mögen einen gewichtigen Teil dazu beigetragen haben, daß in den Diskursen der Moderne von einem gegenüber früheren Zeiten deutlich gewandelten Landschafts- und Raumverständnis die Rede ist. Kritisch-theoretische Äußerungen zeigen aber auch, wie zentral eingeschliffene Sprechweisen, die Rezeption oder Wiederaufnahme traditioneller ästhetischer Theoreme und die Aneignung bestimmter geltender Argumentationen für das Raum- und Landschaftsbild um 1900 geblieben sind. Im folgenden wird es um eine (natürlich vereinfachte) Darstellung jener Theoreme gehen, die um 1900 sagbar waren, ohne daß sie sich nun explizit oder implizit - in jede Äußerung über Raum und Landschaft 'eingeschrieben' haben. Ziel ist die Herausarbeitung wichtiger bewußtseinsgeschichtlicher Paradigmen des Raum- und Landschaftsverständnisses der Moderne. Die Reflexionen auf die gewandelten Existenzbedingungen der Moderne (und dazu gehören selbstverständlich die modernen Raumerfahrungen auch) kulminieren einerseits in grundsätzlichen Überlegungen über die conditio hutnana, wie sie etwa im Marxismus oder der Lebensphilosophie entwickelt werden, andererseits in neuen naturwissenschaftlichen Ansätzen. Die Entwicklung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein seit 1905 stellt die wohl tiefste Erschütterung humaner Raumvorstellungen in diesem Bereich dar.76
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Hierzu vgl. auch Kapitel 3.c). Einsteins Theorie der nur relativen Bewegung von Körpern gegeneinander ohne den Rahmen absoluter Zeit und absoluten Raums kann letztlich als Ausdruck der zum Teil deutlich skeptischen Selbstreflexion der modernen Wissenschaften gesehen werden. Gleichzeitig kann man aber eine extreme Spezialisierung und technische Fortentwicklung der Wissenschaften bemerken, denen es an ethischer und auch wissenschaftstheoretischer Selbstreflexion mangelt. Die wissenschaftstheoretischen Diskussionen der Zeit zwischen den Weltkriegen dokumentieren die Unsicherheiten, die einerseits im Verhältnis der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften entstanden sind, andererseits von einem Rechtfertigungsbedürfhis der Wissenschaften selbst zeugen.
Der Krise des traditionellen naturwissenschaftlichen und systemphilosophischen Denkens seit der Jahrhundertwende gehen wichtige kritischtheoretische Entwürfe voraus, die zum Teil sowohl auf die genannten Diskurse, als auch auf die Kunst und Literatur der Moderne gewirkt haben: Zu nennen wären etwa Darwin, Mendel, Lorentz oder Planck im Bereich der Naturwissenschaften und Nietzsche, Droysen, Schleiermacher, Feuerbach oder Marx in den Geisteswissenschaften. Schon deshalb ist die Moderne nicht als Bruch, sondern als Phänomen aufzufassen, das schon weit 'vor' der Moderne um 1900 in Erscheinung tritt. Etwas Ähnliches gilt für die Entwicklung des modernen Raum- und Landschaftsverständnisses. Auch hier ist mehr von sich allmählich verändernden Denkweisen, als von Einschnitten oder Brüchen zu reden. Ein Indiz hierfür mag die Gleichzeitigkeit höchst disparater - der Sache nach 'ungleichzeitiger' - Gedanken zu diesem Thema sein. Zum besseren Verständnis moderner Raum- und Landschaftsparadigmen wird ein kurzer Exkurs über den vormodernen 'Natur'-Begriff und die ästhetische Konstitution von Landschaft eingefügt. Die dann folgenden Ausführungen zur Moderne müssen manchmal vereinfachen und die oben erwähnten Ungleichzeitigkeiten ausklammern; Paradigmenwechsel werden angenommen, die selbstverständlich sukzessive stattgefunden haben. 'Landschaft' wird erst in der Renaissance zu einem ästhetischen Begriff. Er charakterisiert ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Natur, das in der Neuzeit zu einem wichtigen Merkmal des ästhetischen Diskurses überhaupt wird. Landschaft impliziert eine 'ästhetische' Sehweise der Natur. Der Betrachter »transzendiert« sein »gewohntes Dasein« 77 und nimmt die Natur ohne praktische Zwecke als Objekt eines »intentionslosen Schönen, das sich zeigt, ohne einen bestimmten Sinn [...] zu haben« 78 , wahr. Dieser ästhetische Naturgenuß setzt, so Joachim Ritter, »die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus«. 79 So faßt der traditionelle ästhetische Diskurs das Phänomen 'Landschaft' noch um 1900. Es ist das Paradigma mit dem sich die Modernen - reden sie von ästhetisch gesehenen Räumen - auseinandersetzen müssen. Die 'vormodern' verstandene 'Natur' verschließt sich einer solchen ästhetischen Betrachtungsweise. Natur hat - anders als Landschaft - einen klar benennbaren 'Sinn'; sie
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Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Joachim Ritter: Subjektivität. Frankfurt 1980. S.146. Jörg Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982. S.118. Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs vgl. neben den zitierten Werken auch: Lothar Schäfer: Wandlungen des Naturbegriffs. In: Zimmermann (Hg.), 1982, S.l 1-44 und Bernd Kortländer: Die Landschaft in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. In: Alfred Hartlieb von Wallthor, Heinz Quirin (Hg.): Landschaft als interdisziplinäres Forschungsproblem. Münster 1977. S.40. Ritter 1980, S.162.
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konstituiert sich als Gegenstand gerade aus ihrer - für den Menschen allerdings nur bedingt erfahrbaren - Sinnhaftigkeit. Das Verhältnis des Menschen zur Natur jenseits ästhetischer Betrachtung zeichnet sich durch Abhängigkeit und unvollständige Einsicht in die Gesetze und Sinnstrukturen der Natur aus. In der platonischen Tradition der Antike beispielsweise enthält die Natur neben der sinnlich wahrnehmbaren Harmonie (iaisthesis) auch eine - höher eingeschätzte - durch den Verstand bedingt erkennbare Sinnstruktur (noesis). In der mittelalterlichen Vorstellung wird 'Natur' als sinnvoller Zeichenkomplex, der auf Gott verweist, gesehen. Die Natur ist deshalb zwar semiotisch ausdeutbar, aber, weil sie von Gott als natura naturata geschaffen ist, weder vollständig verstehbar, noch beherrschbar. Erst mit der Renaissance wird zum ersten Mal »die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen«. 80 Ritters Hinweis - der sich auf Jacob Burckhardt stützt - , mit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux setze die ästhetische Betrachtung der Natur als Landschaft ein, ist inzwischen zum vielzitierten Topos geworden. 81 Zwei Diskurse prägen von nun an - weitestgehend unabhängig voneinander, aber nicht ohne Einfluß aufeinander - das Verhältnis des Menschen zur säkular aufgefaßten Natur: die wissenschaftliche Naturerforschung und die Ästhetik, die ihr eigentliches Objekt, die Kunst, von nun an - den Aristotelischen Mimesisbegriff aufgreifend - als 'zweite Natur' postuliert.82 In Deutschland etabliert sich der literarische Landschaftsbegriff erst im 18. Jahrhundert. 83 Aufklärung und Goethezeit verfestigen mit ihm ein ästhetisches Bewußtsein, das jene »Leerstelle« weitestgehend ausfüllt, die durch die Verdrängung des metaphysischen Naturverständnisses durch den rationalen Naturbegriff des wissenschaftlichen Diskurses entstanden ist. 84 Zwei Begriffe werden relevant, die die ästhetische Näherung an die Natur zu fassen suchen: das Naturschöne und das Erhabene. Die klassizistische Ästhetik erprobt am Naturschönen ihre Forderungen nach Ganzheit, Abgeschlossenheit, Wohlgeformtheit, Mannigfaltigkeit und Bildhaftigkeit.85 Um der unbegreifbaren, bedrohlich wirkenden Natur und ihren dennoch bemerkbaren unzweifelhaften Reizen theoretisch begegnen zu können, ist aber eine zweite Kategorie not-
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Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Durchgesehen v. Walter Goetz. Stuttgart 101976. S.274. Vgl. Ritter 1980, S.141-144 und Burckhardt 101976, S.277f. Vgl. Jörg Zimmermann 1982, S.127. Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft. In: Hartlieb v. Wallthor, Quirin (Hg.) 1977, S.9. Zur Geschichte des Wortes 'Landschaft' vgl. auch: Rainer Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975. S.192-207. Vgl. Jörg Zimmermann 1982, S.130. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe [HA]. Hg. v. Erich Trunz. München 121982. Bd. XI, S.70, 87, 231; Karl Philipp Moritz: Werke. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt 1981. Bd.II, S.563; Carl Gustav Carus: Briefe über Landschaftsmalerei. Faksimiledruck nach der Ausgabe 21835. Hg. v. Dorothea Kuhn. Heidelberg 1972, S.36, 39; Jean Paul: Werke. Hg.v. Norbert Miller. München 1963. Bd.V, S.288ff.; Immanuel Kant: Werkausgabe. Hg.v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt 1974. Bd.X, S.191ff., 231ff.
wendig. »Erhaben ist« - mit Kant - , »was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt«. 86 Diese 'doppelte' Fassung ästhetisch gesehener Natur ist das Modell, von dem die Moderne theoretisch ausgeht und das sie erst abzulegen beginnt, als die totale Naturbeherrschung und die Fixierung auf den Urbanen Raum (und seine 'unbegreifbaren' Phänomene) das Interesse für das Erhabene in der Natur verdrängt haben. Wenn Max Friedländer von »Lust und Schauer im Angesichte der landschaftlichen Natur« 87 spricht, so klingt diese Doppelung noch nach. Wenn Baudelaire aber bemerkt, die »historischen Landschaftsmaler« würden sich »die Hölle wie eine wirkliche Landschaft vorstellen], mit einem kleinen Himmel und einer freien, reichen Natur«88, dann wird offensichtlich, wie wenig 'erhaben' unter Umständen das Erhabene Kants noch für den Modernen ist.
Die spezifische Thematisierung und Realisierung von Raum und Landschaft in der Moderne, speziell der Wiener Moderne, - so lautet die zentrale These dieses Kapitels - ist genetisch ableitbar von historistischen Phänomenen des 19. Jahrhunderts. Die Wiener Moderne bündelt einen Teil jener Diskurse, die sich aus einer Auseinandersetzung mit historistischen Phänomenen ergeben; sie ist deshalb nicht nur »eine Kampfansage an den Historismus«89, wie Helmut Bachmaier kürzlich konstatiert hat, sie selbst steht auch für eine 'produktive' Weiterführung historistischer Konzeptionen und Strukturen. Hermann Bahrs Konzept der »Überwindung« kann auch auf die Beziehung der Jung-Wiener zum Historismus angewendet werden: 'Überwinden' heißt nicht Ablösen; das Moderne setzt das Alte konstituierend voraus, es selbst bildet dann die Basis einer neuen 'Überwindung' ,90
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Kant 1974, Bd. X, S. 193. Max J. Friedländer: Die Sonderart des Landschaftlichen. In: Max J. Friedländer: Essays über Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen. Den Haag 1947. S . l l . Charles Baudelaire: Von der Landschaftsmalerei. In: Charles Baudelaire: Sämtliche Werke. Briefe. Hg.v. Friedhelm Kemp et al. Darmstadt 1977. Bd.l. S.267. Helmut Bachmaier: Einleitung. In: Bachmeier (Hg.) 1990, S.xiii; vgl. auch S.xxii («Anti-Historismus« als eine 'wesentliche Bestimmung der Wiener Moderne'). Schon Robert MUhlher formuliert: »Die Auseinandersetzung der neueren Zeit mit diesem Historismus bildet eine geistige Voraussetzung jener Literatur- und Kulturwende, die mit dem Wort 'Moderne' umschrieben wird« (Robert Mühlher: Das 'Historische' als Baustein der österreichischen Moderne. In: Institut für Österreichkunde (Hg.): Geschichte in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Wien 1970. S.93; vgl. auch lOOff.). Zu Bahrs 'Überwindungs'-Konzept vgl. Gotthart Wunberg: Hermann Bahrs ModerneEntwurf der neunziger Jahre im zeitgenössischen Kontext. In: Margret Dietrich (Hg.): Hermann-Bahr-Symposion. 'Der Herr aus Linz' (1984). Linz 1987. S.18-20. Zum Verhältnis der Wiener Moderne zum Historismus vgl. besonders auch: Kapitel 2.c) 'Produktiver' Historismus.
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Unter 'Historismus' wird allgemein die weitreichende Historisierung des Wissens und Denkens, die Erhebung des Geschichtlichen zum diskursbestimmenden - Prinzip verstanden.91 'Historismus' setzt die Einsicht voraus, »daß alles und jedes geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist«.92 Schnädelbach unterscheidet - davon ausgehend - typologisch zwei historistische Folgephänomene, die in Zukunft auch gemeint sind, wenn - keinesfalls pejorativ - von 'Historismus' die Rede ist. Unter »Historismusi« ist eine Wissenschaftspraxis zu verstehen, die sich an der erwähnten historistischen Einsicht orientiert und deshalb konsequent zu einer »wertfreie[n] Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem 93 führt; kennzeichnend für den »Historismusi« ist also ein bloß positivistisches Verhältnis zur historischen Materie. Unter »Historismus2« wäre ein »historischer Relativismus« zu subsumieren, der »mit dem Hinweis auf das historische Bedingtsein und die Variabilität aller kulturellen Phänomene absolute Geltungsansprüche zurückweist«.94 Die Moderne um 1900 ist geprägt durch diese beiden Folgephänome des historistischen Denkens: Der Historismus erschließt eine Welt, von der die Moderne sich akzentuierend absetzen, die sie aber auch als ihre Tradition begreifen kann. Er ermöglicht gewissermaßen erst die Bestimmung ihres historischen Ortes. Durch die historische Einordnung wird aber gleichzeitig die Bedeutung der Moderne - als selbst historisch verifizierbare - relativiert. Der Sammel- und Rekonstruktionswahn des Historismus bestimmt die Moderne nicht nur als bloß ein Phänomen unter anderen, sondern konfrontiert sie auch ganz selbstverständlich mit dem verfügbar gewordenen historischen Material, das nun gleichberechtigt allenthalben präsentiert und verwendet wird: die neu entstehenden Museen, die wissenschaftlichen Lexika und Handbücher oder auch die historistische Architektur sind nur die augenfälligsten Beispiele dafür. Es mag deshalb kaum erstaunen, daß die Moderne das Gestaltungsmaterial für ihre eigenen Diskurse der historistisch erfassten Vergangenheit in vielen Bereichen entlehnt, daß sie sich selbst letztlich in weiten Teilen von ihr abhängig weiß. Der so bestimmte Historismus bedeutet für das moderne Subjekt letztlich zweierlei: erstens seine grundsätzliche Relativierung als erkennendes Subjekt und zweitens die Möglichkeit einer
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Vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt 1983, S. 51; Otto Gerhard Oexle: Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung. In: Historische Zeitschrift 2381984, S.17f und Walter Schulz 1972, S.492. Diese allgemeine Bestimmung des Historismus orientiert sich u.a. an Emst Troeltsch und Karl Mannheim. Oexle 1984, S.17f. Schnädelbach 1983, S.51. A.a.O., S.52; vgl. auch Oexle 1984, S.27.
Neukonstitution seiner selbst über historische Modelle, oder besser: historistische Surrogate. Für beide Phänomene gibt es in der modernen Geistesgeschichte unzählige Beispiele.95 Auf die Bedeutung des Historismus für die Literatur der Moderne hat kürzlich Gotthart Wunberg96 aufmerksam gemacht. Folgt man seinen Ausführungen, zeigt sich ein Zusammenhang zwischen dem Positivismus des Historismusi und der Moderne einmal in der deutlichen Zunahme historischer Themen der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dann vor allem an einer sich wandelnden sprachlichen Gestalt der modernen Texte, die aus dem positivistischen Verfahren der historistischen Wissenschaft ableitbar sei. »Die Merkmale solcher formalen Übernahme sind: Aufzählung, [...] historisch korrekte Benennung, Detailliertheit, Enzyclopädistik.«97 Die in diesem Sinne historistischen Textverfahren bedingen automatisch eine gewisse semantische Isolierung der einzelnen Lexeme und Lexemgruppen; letztlich ist eine Tendenz zur Autonomie der Bilder und Lexeme erkennbar. Die semantische Isolierung impliziert auch eine Tendenz zur nur relativen Bedeutung der einzelnen Lexeme, weil sich gerade in der Literatur bekanntlich 'Bedeutung' primär kontextuell erschließen läßt. Die semantische Isolierung der Lexeme kann deshalb zur partiellen Unverständlichkeit des Textes führen.98 Die Folgen des 'historischen Relativismus' (Historismus2) finden sich in der modernen Literatur häufig thematisiert: explizit als allgemeiner Wertzerfall in Hermann Brochs Roman-Trilogie 'Die Schlafwandler', als Ich-
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Vgl. dazu u.a. Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Übers.v. Robert Fleck. Wien 1990 [= Modemit£ viennoise et crises de l'identiti. Paris 1990] und Gotthart Wunberg: Chiffrierung und Selbstversicherung des Ich: Antikefiguration um 1900. In: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmodeme. Passau 1989 (PINK 1). S.190-201. Vgl. Gotthart Wunberg: Historismus und Fin de sidcle. Zum Dicadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Acte du colloque international 'La littdrature de fin de sifccle, une littirature dicadente?'. Num6ro special du Courrier de l'education nationale. Numiro special de la Revue luxembourgeoise de litt6rature generale et comparie. Luxembourg 1990. S. 13-47. Vgl. zum Folgenden auch: Lothar Köhn: Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918-1933. In: DVJS 48,4-1974, S.704-766 u. 49,1-1975, S.94-165 und Friedbert Aspetsberger: Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert. Frankfurt 1987. Wunberg 1990, S.44. Hierzu vgl. vor allem Wunberg 1990, S.13f, 44ff.; Gotthart Wunberg: Hermetik Änigmatik - Aphasie. Zur Lyrik der Moderne. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Poetik und Geschichte. FS Victor imegac. Tübingen 1989. S.241-249; vgl. auch: Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt 1990. S.323. Schließlich: Kapitel l.a) und 2.c).
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Krise seit Ende letzten Jahrhunderts besonders auch in den Texten der Wiener Moderne. Bahrs Aufnahme des Verdikts vom 'unrettbaren Ich', das Ernst Mach in seiner 'Analyse der Empfindungen' postuliert, ist das bekannteste Beispiel." Ich und Welt konstituieren sich aus einer Reihe 'gleichartiger' Elemente; ihre Einheit und damit ihre Existenz ist relativ: Somit setzen sich die Wahrnehmungen sowie Vorstellungen, der Wille, die Gefühle, kurz die ganze innere und äußere Welt aus einer geringen Zahl von gleichartigen Elementen in bald flüchtiger, bald festerer Verbindung zusammen. 100
Die Wichtigkeit des Historismus für die Literatur zeigt sich besonders auch in den Raum- und Landschaftsdarstellungen. Die Erfassung von ursprünglicher Räumlichkeit und Landschaft kann als ein wichtiges Thema der Literatur des 19. Jahrhunderts angesehen werden; sie fällt unter die auch konservatorische Aufgabe der Künste und Wissenschaften, wie sie im Kontext historistischen Denkens formuliert wird. Die Literatur soll - nach Annette von Droste-Hülshoffs 'Westfälischen Schilderungen' - »das Vorhandene [...] in seiner Eigentümlichkeit auf[fassen], ehe die schlüpfrige Decke [...] auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.101 Die ursprüngliche Gestalt der Umwelt soll durch ihre Schriftwerdung - mit Hilfe des Zeichenreservoirs der Moderne - der Gegenwart erhalten werden, ehe die Patina der Zivilisation diese Welt vergessen läßt. Neben den konservatorischen Landschaftsbildern in den 'Westfälischen Schilderungen' finden sich »meantime« - Mitte des 19. Jahrhundert - auch
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Vgl. Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie In: Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hg.v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt 1978. Bd.l. Besonders S.384-716. In einem Selbstkommentar Brochs zu der 'Schlafwandler'Trilogie heißt es: Im dritten Teil der 'Schlafwandler' »ist der Prozeß des Wertzerfalls zu seinem Ende gediehen, die Umwertung der Welt hat begonnen, 'eine schreckliche Revolution der Erkenntnis' hat gleichzeitig mit der äußeren Revolution eingesetzt« (a.a.O., S.734). Machs Zitat vom 'unrettbaren Ich' findet sich in: Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Darmstadt 1987 (Nachdruck der Ausgabe 9 1922; Erstausgabe: 1886). S.20. Bahrs Aufsatz 'Das unrettbare Ich' ist abgedruckt in: Hermann Bahr: Dialog vom Tragischen. Berlin 1904. S.79-101; in Auszügen auch in: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S. 147-148. Bahr, nach: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.147 (Bahr zitiert hier Ernst Mach: vgl. Mach 1987, S.17). Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke. Hg. v. Günther Weydt, Winfried Woesler. München 1973. Bd.l, S.533. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die »gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen« in ihren unendlich vielen kleinen Welten, die Stifter in der Kunst beschrieben sehen will (Zitat: Stifter 1969, Bd.4, S.13; vgl. auch Bd.14, S.393f).
»huge smoking cities [...], innumerable«102, wie sie Poe im 'Colloquy of Monos and Una' beschreibt. Die Abhängigkeit von historistischen Denkformen und die Einsicht in eine sich verändernde Welt sind für die literarische Präsentation von Räumen und Landschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders dann in der Moderne um 1900, die zentralen Eckpunkte. Der Historismus hat für das moderne Raum- und Landschaftsverständnis vielerlei Konsequenzen, auf die nun im einzelnen kurz eingegangen wird: Eine Aufladung der Landschaft und der räumlichen Umgebung mit überzeitlichen Normen- und transzendentalen Zeichensystemen erweist sich - im Kontext des 'relativistischen' Historismus2 - endgültig als inadäquat. Der Verlust solcher allgemeingültiger Zeichensysteme entspricht dem Phänomen der tranzendent(al)en Obdachlosigkeit in der Moderne. Der Wegfall einer solchen 'kosmologischen' Zeichenordnung ist ein Akt der Befreiung103 und ermöglicht eine beliebige und jederzeit aufhebbare Neuzuordnung von Zeichen. Im Zeitalter des Historismus steht nicht - wie etwa in den 'Discourses on Art' von Joshua Reynolds noch - die archetypische Landschaft einer kontingenten Wirklichkeit gegenüber104, sondern die ästhetisch gesehene Natur wird selbst als Kombination beliebiger Zeichen Ausdruck von Kontingenz105', ihre Spezifik gewinnt sie einzig aus der - mit Cassirer - jeweiligen »Sinnordnung«.106
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Edgar Allan Poe: Complete Works. Ed.by James A.Harrison. New York 1902. Bd.3-4. S.203. 103 Vgl. Friedrich Nietzsche: Werke. Hg.v. Karl Schlechta. Frankfurt, Berlin, Wien 1984. Bd.l, S.1112, Bd.2, 116. 104 V g l Eckhard Lobsien: Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken. In: Smuda (Hg.) 1986 S.159. 105 Die im Kontext des Historismus zu diskutierende Infragestellung jedes Repräsentationsmodells der Natur kann als Analogfall zum Zweifel am Repräsentationscharakter der Sprache gesehen werden: Natur ist mit der Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Denkens kein Reservoir repräsentativer Zeichen, sondern bloßes Material. Die materielle Natur unterliegt seit Einstein bekanntlich einer nur relativen Gesetzlichkeit. Natur muß deshalb als ein System von verketteten »Ereignissen« aufgefaßt werden, das abhängig von jeweiligen Rahmenbedingungen und insofern relativ ist (Vgl. Bertrand Russell: Das ABC der Relativitätstheorie. Hg.v. Felix Pirani. Übers.v. Uta Dobl u. Erhard Seiler. Reinbek 1972. S.167f). Diese Idee einer Materialität der Natur, die ohne ein Repräsentationsmodell (und den Absolutheitsanspruch der Gesetzlichkeit) auskommt, korrespondiert mit der Kritik und Relativierung des sprachlichen Repräsentationsmodells, die mit Nietzsche, Mauthner, Wittgenstein, oder auch Mallarmi, Hofmannsthal und Rilke in der Moderne einsetzt (vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers.v. Ulrich Koppen. Frankfurt 1974. S.287ff.; Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt 2 1980. S.41, 126, 139; Fritz Mauthner: Beiträge zu
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Im Zuge der allmählichen »Historisierang und Individualisierung des Wahrheitsbegriffs107 scheint es zunehmend schwieriger, zu sagen, was Landschaft ist und wie sie wirkt. Dessenungeachtet bleibt die Natur als offensichtlich vorerst nicht hinterfragbares Faktum bestehen. Das durch den Historismus seiner transzendenten Bestätigung beraubte und deshalb in seiner Existenz in Frage gestellte Subjekt kann sich in der Natur vorerst eines gewichtigen Teils seiner historistischen Last entledigen: es kann zwar nicht seinen eigenen Bildungshorizont vergessen, es kann sich aber im Augenblick der ästhetischen Konstitution von Landschaft vor den Folgen des historischen Relativismus, vor Informationsüberfluß und oszillierenden Großstadteindrücken, schützen. Der »prinzipiellen Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit sämtlicher Lebensbereiche108 entzieht es sich, indem es etwas nachweisbar Einmaliges - die augenblicklich wahrgenommene Natur als Landschaft - zum »Kunstwerk in statu nascendi«109 erhebt. Insofern bietet die zur Landschaft erhobene Natur einen Erholungsraum vor der Moderne, in dem sich der Mensch noch erfahren zu können glaubt.110 Der ausgestaltete Raum und die Landschaft werden selbst allerdings 'historistisch' wahrgenommen - auch das vorerst zum Schutze des Subjekts: Weil die Elemente von Innenraum und Außenwelt automatisch in historische, wissenschaftliche und ästhetische Ordnungssysteme eingeordnet werden, ist das Gesehene prinzipiell schon bekannt und bedeutet keine Anfechtung für den Sehenden, wenn auch die Gültigkeit
einer Kritik der Sprache. Frankfurt 1982. Bd.l. S.15f, 25, 48, 74; Nietzsche 1984, Bd.3, S.1019ff.; Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.461ff.). 'Zeichen' gewinnen ihre Bedeutung nun nicht mehr aufgrund ihrer Beziehung zum Bezeichneten, sondern durch ihre Stellung im jeweiligen Diskurs oder System. Daß die Abhängigkeit von solchen Systemen bestimmend für das jeweilige Verständnis der - ihrer absolut geltenden Zeichenhaftigkeit entkleideten - Elemente ist, versteht sich von selbst. Die Sprache der »stummen Dinge« (Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.472) in Hofmannsthals Chandos-Brief ist nur für den Adressaten der fiktiven Botschaft nicht mehr verständlich, das Paris und auch die Erzählungen im letzten Drittel der 'Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge' von Rilke nur als ästhetische Setzungen des Protagonisten, als sein »neues Leben voll neuer Bedeutungen« (Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg.v. Rilke-Archiv in Verb, mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt 1987. Bd.6, S.775). 106
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Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Ritter (Hg.) 1975, S.26. Köhn 1974-1975, S.750. Wunberg 1983, S.86. Georg Simmel: Philosophie der Landschaft [1913]. In: Simmel 1984, S.131 (in Zukunft zitiert als: Simmel 1984[b]). Vgl. Ritter 1980, S.150ff„ Jürgen Haupt: Natur und Lyrik. Naturbeziehungen im 20.Jahrhundert. Stuttgart 1983. S.2, Nietzsche 1984, Bd.l, S.696, Bd.3, S.419 und Simmel 1984[b], S.133.
der Ordnungssysteme nicht allgemein ist. Der »Gegenstand« Landschaft, schreibt deshalb Oswald Muris, »muß so gestaltet sein, daß er durchschaubar [...] ist.« Das »Wissen des Ich vom Gegenstand« werde so »zum existentiellen Wissen«111, das Landschaftserlebnis zur Ich-Kultivierung.112 Der Raum an sich hat kein eigenständiges Sein, sondern ist per se Teil eines Ordnungssystems113, das eine - wenn auch eine vielleicht kontingent gesetzte - Kategorisierung ermöglicht; 'Raum' wird als relationaler Rahmen verstanden, der als solcher - seit dem Historismus allerdings nur noch eine provisorische - Orientierung114 bietet. Dies gilt auch für die als Raum erfahrene Landschaft. Parallel zum Verlust der transzendenten Zeichensysteme wird in der Moderne die Aufgabe moralischer Implikationen hinsichtlich der Natur und Landschaft betont. Begründet werden kann diese Abkehr von der moralischen Natur durch deren Realitätsstatus. Nietzsche verweist auf die »gleichgültige Großartigkeit« der Natur »wie sie ist«.115 Gleichgültig ist die Natur gegenüber Mitleid und Furcht; in ihr herrscht ein bedingungsloser Kampf, »gemäß dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.116 Die Natur steht nach ihrer Säkularisierung jenseits von Gut und Böse: Sie »hat keine andere Moral«, schreibt Baudelaire, »als die Tatsachen.117 Weil die Landschaft ästhetisch und nicht moralisch gesehene Natur ist, gelten diese Sätze auch für sie. Das moderne »Empfinden der Landschaft« sei »aussermoralisch«118, schreibt Oscar A.H. Schmitz in der Wiener Rundschau. Das naturwissenschaftliche Denken des 19. Jahrhunderts und der Positivismus als Folgephänomen historistischen Bewußtseins haben für die Erfassung von Landschaftswahrnehmungen auch ästhetische Konsequenzen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und die Übertragung wissenschaftlicher Theoreme auf die Ästhetik fordern eine Kunst, die sich zum einen den gewandelten Bedingungen moderner Wahrnehmung anpaßt und zum anderen überhaupt bestimmte Phänomene erst adäquat und zwar in ihren wesentlichen Ausprägungen - ohne Rücksicht auf eine ästhetische Konsumierbarkeit - erfaßt. »Diese Aufgabe« - schreibt Heinrich Hart 1889 - »kann jedoch die Poesie nur [erfüllen], wenn sie objektiv
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Oswald Muris: Das Erlebnis der Landschaft. In: Zeitschrift für deutsche Bildung. 61930. S.648. Vgl. a.a.O., S.653f. Vgl. Cassirer 1975, S.20ff. und Koschorke 1990, S.7-10 passim. Vgl. Koschorke 1990, S.325. Nietzsche 1984, Bd.2, S.646. A.a.O., S.215. Baudelaire 1977, Bd.I, S.265. Oscar A.H. Schmitz: Über das Empfinden der Landschaft. In: Wiener Rundschau 11897. S.258.
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verfährt, wenn der Dichter schafft wie die Natur selbst«.119 Naturalismus und Impressionismus sind Kunstrichtungen, die eine Näherung an die 'tatsächliche' Natur jenseits transzendent(tal)er Zeichenbelegungen jeweils in ihrer Weise verwirklichen wollen. Mimesis bedeutet hier eine möglichst angemessene - nicht unbedingt möglichst 'realistische' Näherung an das wertfrei betrachtete Objekt.120 Der Historismus kann - für die Literatur - als der Diskurs der anderen Moderne angesehen werden. Er ist das Gegenüber, auf das sich eine avantgardistische Moderne beziehen läßt und von wo aus ihr Diskurs verständlicher wird, gegen den sie sich nicht nur wendet, sondern auf dem sie auch in vieler Hinsicht fußt. Diese Moderne steht in unmittelbarem Zusammenhang historistischer Phänomene; ihr zentrales Anliegen kann man mit Lothar Köhn kennzeichnen als Versuch der »Überwindung des Historismus«.121 Im folgenden sollen die Auswirkungen einiger solcher Überwindungs-Versuche für das Raum- und Landschaftsverständnis der Moderne kurz umrissen werden. Die Entwürfe zur Überwindung historistischer Phänomene sind aus heutiger Sicht durchaus oft 'konservativ', sind keineswegs nur das, was gewöhnlich als die avantgardistische Moderne bezeichnet werden könnte. Oft implizieren sie - will man historisch argumentieren - vormoderne Elemente: Seit der fast beliebigen semiotischen Ausdeutbarkeit sowohl der durch Menschen gestalteten Räume als auch der Natur ist eine zunehmende (auch ideologische) Vereinnahmung beider Bereiche122 zu beobachten. Auf der einen Seite findet man eine durchaus utopisch verstandene Bewegung zurück zur vermeintlichen Ursprünglichkeit der Natur (Heimatkunst, Jugendbewegung, Wandervogel), auf der anderen Seite findet man aber auch - nicht nur in diesen Bewegungen - erste Ideen zu einem Ausgleich zwischen Stadt und Land, Industriebauten und
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Heinrich Hart: Über den Realismus [1889]. In: Theo Meyer (Hg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1973. S.140. Vgl. etwa Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Hg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1976. Besonders S.58f ('Darwin in der Poesie'). Köhn 1974-1975, S.705ff. und 750ff. Antihistoristische Bewegungen gibt es schon seit den letzten Dekaden des letzten Jahrhunderts: vgl. Nietzsche 1984, Bd.l, S.209ff. oder auch - im hier diskutierten Zusammenhang interessant: - die Gartentheorien von William Robinson (1838-1935), John Dando Sedding (1838-1891) und Ernst Rudorff (1840-1916), dargestellt in Clemens Alexander Wimmer: Geschichte der Gartentheorie. Darmstadt 1989. S.320ff. Zum Aspekt der Ideologisierung vgl. besonders: Brigitte Wormbs: Über den Umgang mit Natur. Landschaft zwischen Illusion und Ideal. München, Wien 1976, besonders S.95ff. und Jörg Zimmermann 1982, S.140ff.
Gartenanlagen123 und zu einem harmonischen Arbeitsverhältnis zwischen Mensch und Natur.124 Die Ideologisierungen der Natur und der räumlichen Gestaltung sind Versuche, die Beliebigkeit der Interpretation von Natur und Raum - und damit einen Aspekt dieses 'Historismus' - zu überwinden, indem einem Modell absolute Geltung zugesprochen wird. Diese Ideologisierungen dienen der Rekonstruktion eines transzendenten Bezugsrahmens. Die Vielzahl divergierender ideologischer Auslegungen von Raum und Natur zeigt allerdings, daß es sich bei dem Versuch, die historistische Beliebigkeit zu überwinden, durchaus selbst um ein historistisches Phänomen handelt.125 Ein gutes Beispiel für die Ideologisierung der Natur ist Moeller van den Brucks Vereinnahmung der Natur als konservatives Vorbild schlechthin: »Der Konservativismus hat die Ewigkeit für sich. Der Kosmos selbst ist in der Art. [...] Die Natur ist konservativ.^..] Diese konservative Statik kehrt im politischen Leben wieder.126 Im Zusammenhang der weltanschaulichen 'Zurückeroberung' der Natur sind auch die vielen monistischen Entwürfe einer 'Überwindung' der historistischen Relativität und Disparatheit zu lesen.127 Eine Konsequenz aus dem Ausgeliefertsein an eine kontingente Welt ist die Schaffung einer eigenen neuen Welt mit eigener - für diesen Bereich verbindlicher - Gesetzlichkeit, einer neuen Räumlichkeit. Als bestes Beispiel eines solchen Versuchs der 'Überwindung' historistischer Denkweisen kann man Freuds Psychoanalyse ansehen. In ihr gewinnt der erdachte, erträumte, verdrängte - jedenfalls nicht reale - Raum eine eigenständige und gleichberechtigte Wertigkeit und Wirklichkeit. Besonderes Gewicht hat die Vorstellung von Räumlichkeit in Freuds Theorie:
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Vgl. etwa die Gartentheorien von Shirley Hibberd (1825-1890) und Frederick Law Olmsted (1822-1903), dargestellt in Wimmer 1989, S.293-319. Vgl. etwa Karl Marx: Das Kapital. Berlin 1980. Bd.l. S.192f. Neben der großen Anzahl weltanschaulicher und ideologischer Entwürfe zwischen 1880 und 1930 finden sich auch viele Geschichtsmodelle (von Spengler bis Bloch oder Benjamin), die die 'historistische' Vereinfachung der Geschichte 'überwinden' wollen. Das massenhaft zu findende Angebot an 'absolut' auftretenden Entwürfen in den verschiedensten Bereichen macht die Situation des 'historischen Relativismus' (Historismus:) deutlich. [Arthur] Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. Berlin 1923. S.223. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Monismus Ernst Haeckels. Ein anderes Beispiel ist Rudolf Steiners Theosophie (später Anthroposophie). Steiners Raumverständnis geht - im Anschluß an Gedanken Goethes - davon aus, daß »der Raum [...] eine Art [ist], die Welt als eine Einheit zu erfassen. Der Raum ist eine Idee« (Rudolf Steiner: Der Goethesche Raumbegriff. In: Johann Wolfgang Goethe: Farbenlehre. Hg.v. Gerhard Ott u. Heinrich O. Proskauer. Stuttgart 4 1988. Bd.l. S.36). Vgl. auch Gotthart Wunberg: Österreichische Literatur und allgemeiner zeitgenössischer Monismus um die Jahrhundertwende. In: Peter Bemer et al.(Hg.): Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne. Wien 1986. S. 104-111.
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Man träumt »vorwiegend in visuellen Bildern«.128 Den Bereich des Seelischen vergleicht Freud mit »Schonungen« und »Naturschutzparks«.129 Die Aufwertung der »Landschaften der Seele«130 und der Räume des Unbewußten als eigenständige Gebiete der Reflexion und Beschreibung, deren Emanzipation als eigene Wirklichkeitsbereiche wird von der Literatur und Kunst besonders der Wiener Moderne aufgenommen. Hofmannsthal spricht in seinem ersten 'D'Annunzio'-Essay von zwei Bereichen, die »modern« seien: »das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt.«131 Schnitzler betont in seinen Aufzeichnungen »Über Psychoanalyse« die Wiedererlangung definitiver Gesetzlichkeit durch die Neubewertung des psychischen Bereichs. »Daß es keine Zufallshandlungen gibt, ist selbstverständlich.«132 Der rekonstruierbaren psychischen Motivierung im Handlungsbereich entspricht die Verstehbarkeit psychisch motivierter Zeichenbelegungen in der vorgestellten, erträumten oder realen Welt: Mit der Psychoanalyse hat man ein Zeichensystem gefunden, mit dessen Hilfe erdachte und erträumte Räume und Landschaften wieder interpretierbar geworden sind, ohne ein neues transzendent(tal)es System zu etablieren, weil der Bezugspunkt, auf den die Zeichen der Seelenlandschaft referieren, nicht eine 'höhere' Ebene darstellt. Vielmehr handelt es sich bei der Ausdeutung der Seelenlandschaft um deren 'eigentliche', bisher verborgen gebliebene Motivierung: letztlich beherbergt also hier die Landschaft die Signifikanten einer 'realeren' Natur, während die traditionelle Landschaft die Signifikanten einer idealen - oder besser: als ideal gedachten - Natur trägt.133 Erst viel später wird Jacques Lacan in seiner Freud-Interpretation die Zeichenstruktur seeüscher Landschaft wieder aus dem Bereich der Eigentlichkeit befreien: »das Unbewußte ist nicht das Ursprüngliche«134; es ist Ausdruck signifikanter Verschiebungen, letztlich ein Bild oberflächlicher Kontingenz. Als ein anderes Beispiel für die Erlangung einer räumlich gedachten Rückzugsmöglichkeit aus der kontingent erfahrenen Welt kann man die fiktive Heimat 'Israel' in zionistisch geprägten Denkbildern - besonders
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Sigm[und] Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet [Imago-Ausgabe], Hg.v. Anna Freud et al. London 1940ff. Bd. XI, S.86. A.a.O., Bd. XI, S.387. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.509. A.a.O., S. 176. Arthur Schnitzler: Beziehungen und Einsamkeiten. Aphorismen. Ausgew.v. Clemens Eich. Frankfurt 1987. S.90 ('Über Psychoanalyse'). Zu psychogenen Strukturen von Landschaften in der Wiener Moderne vgl. Kapitel 3.b). Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstaben im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. Übers, v. Norbert Haas. In: Jacques Lacan: Schriften II. Ausgew., hg. v. Norbert Haas. Freiburg 1975. S.48; vgl. auch S.51.
auch des Jungen Wien135 - verstehen. Der zentrale Gedanke des Zionismus ist die Wiedererlangung einer Heimat nach der Diaspora. Die Hoffnung auf die Rekonstitution eines Staates Israel - beispielhaft und an der Praxis orientiert erdacht in dieser Zeit von Herzls Text 'Der Judenstaat136 - wird mit messianisch-eschatologischen Vorstellungen verbunden. Die Utopie der Heimat ist im Blickwinkel des Zionismus die Fiktion einer ursprünglichen Welt, die zwar als vollkommen vertraut - weil in der Thora überliefert - angesehen wird, die aber nicht selbst, sondern nur 'fiktional' erlebt werden kann. »Er sei seit dreißig Jahren im Heiligen Land zu Haus«, äußert Richard Beer-Hofmann deshalb auf seiner einzigen Reise nach Palästina: Ich habe in der Landschaft Palästina gelebt, und dieses Leben war für mich immer eine Realität, die über der Wirklichkeit steht.137
Palästina »ist ihr Land, ihre Wurzelerde, und da zwei Jahrtausende die Fäden nicht zerreißen konnten, mit denen Volk und Land zusammenhängen, wird Palästina immer das Land und die Wurzelerde der Juden bleiben138, schreibt Felix Saiten. Das aber ist der Garant für die Sicherheit, mit der von dieser nur mehr fiktiven landschaftlichen 'Heimat' gesprochen werden kann. Die 'natürliche' Landschaft bleibt im 'avantgardistischen' Diskurs der Moderne nicht länger bevorzugter Gegenstand für ästhetische Betrachtungen und Refugium einer Erholung vor der Moderne. »Die Stadt selbst soll als Landschaft und Analogon von Heimat aufgefaßt werden: als die Landschaft der Moderne.«139 An die Stadt werden zwar oft die gleichen Wahrnehmungsmuster angelegt, doch sie ist, im Gegensatz zur Landschaft, nicht nur ästhetisch, sondern auch 'baulich' gestaltbar. Nicht zuletzt deshalb werden in der ästhetischen Diskussion um die Stadt auch praktische Erwägungen, wie Funktionalität und Bequemlichkeit, formuliert. Hier gewinnt die 'Überwindung' historistischer Denkweisen eine praktische Qualität. Ein lapidarer 'Fackel'-Aphorismus von Karl Kraus macht das deutlich:
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Vgl. hierzu Kapitel 3.c). Vgl. Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Zürich 1988. Richard Beer-Hofmann mündlich; zitiert nach Alfred Werner: Richard BeerHofmann. Sinn und Gestalt. Zum 70.Geburtstag. Wien 1936. S.45. Felix Saiten: Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt. Königstein 1986. S.29f. Gerard Raulet: Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat. Darmstadt 1987. S.65.
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Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Wannwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.140
Die Forderung nach absoluter Omamentlosigkeit, die Adolf Loos in die Diskussion um eine moderne Raumästhetik einbringt, ist gleichzeitig eine radikale Veneinung historistischer Baukultur. Moderne Omamentlosigkeit bedeutet eine 'Entschlackung' der historistischen Zeichenflut. »Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande.«141 Organologische Begründungen des Fassaden-Ornaments, wie sie die Theoretiker des Jugendstils hervorbringen142, werden strikt abgelehnt. Die sachliche Gestalt der Räume soll nunmehr selbst Ornament und damit Zeichen seiner Funktion werden.143 Der Kontingenz der Zeichen steht dann wieder eine sachliche Sinnordnung gegenüber: Die jeweiligen Signifikanten verweisen auf Ort und Funktion des Signifikats in der gesellschaftlichen oder technischen Realität. Daß trotz der Funktionsästhetik dem einzelnen Betrachter das urbane Zeichensystem immer noch weitestgehend kontingent erscheint, erwähnt Loos nicht. Mit der Rückführung ästhetischer auf funktionale Aspekte ist offensichtlich nicht unbedingt ein überzeugendes Modell (ästhetischer) Erfahrung etabliert. Die rationale Ordnung einer solchen Sachlichkeit grenze im Grunde viele Probleme des Lebensraums Großstadt aus und begnüge sich mit der Anpassung an den »Rhythmus der Erscheinungen«, behauptet Georg Simmel schon in 'Die Grosstädte und das Geistesleben'. Übersichtliche Oberflächenstrukturen verdecken die fundamentalen Anfechtungen der Moderne: So schafft der Typus des Großstädters [...] sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen 144
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Karl Kraus: Die Fackel ΧΠ,315,316-1911, S.35. Loos 1982, S.79 ('Ornament und Verbrechen' [1908]). Zur Ornament-Diskussion vgl. auch Kapitel 1 der 'Voraussetzungen' und Kapiel 3.a), sowie Raulet 1987 und die Beiträge in: Pfabigan (Hg.) 1985. Vgl. etwa Henry van de Velde: Was ich will (1901). In: Mathes (Hg.) 1984, S.106 110. Vgl. Loos 1982, S.175 ('Ornament und Erziehung' [1924]) und Raulet 1987, S.67ff. Simmel 1984[a], S.193. Das expressionistische Pathos bei der Beschreibung urbaner Lebenswelt entspringt zum Teil einer ähnlich gelagerten Motivation: Bei aller Dissoziiertheit der Wahrnehmung, der Fremdheit des Lebens und des apokalyptischen Grundgefühls der expressionistischen Generation entstehen bei der Mehrheit der jungen Dichter ähnlich pathetische Reaktionen und - noch deutlicher - eine ähnliche Einschätzung dieses Lebenszusammenhangs. Der gemeinsame Grundkonsens über die
Ohne die Aufwertung der künstlichen Natur in der Fin de sifccle-Dichtung hätte die Ornament-Diskussion so sicher nicht stattgefunden, ist doch das polemische Gegenüber im Grunde das gleiche:" eine im Historismus entwertete und deshalb als Instanz irrelevante Natur und Landschaft. Im Fin de siecle wird zwar der ästhetische Wert der realen Natur und damit die Landschaft überhaupt in Frage gestellt. Doch kann als Folge nicht die radikale Abwendung von der Landschaft als ästhetische Möglichkeit gesehen werden; vielmehr wird die durch den Historismus eingeleitete Neu- und Umwertung der Landschaft radikalisiert. Deshalb formuliert Oscar A.H. Schmitz in seinem 'Landschafts'-Essay: »Die Schicksale berühren uns nicht, nur die Linie und der Ton.«145 Alle darüber hinausgehenden Konnotationen der Landschaftszeichen sind beliebig. Zu diesen 'beliebigen Konnotationen' gehört - ganz anders als im Naturalismus - auch die Referenz auf die tatsächliche Natur. Proust läßt den Helden seiner 'Recherche du temps perdu' die fiktionale Landschaft in seinem Denken »einen viel größeren Raum« einnehmen »als die andere, nämlich die, die wirklich vor meinen Blicken lag.146 »Die Landschaften in den Büchern [...] schienen [...] mir [...] ein wirklicher Teil der echten Natur zu sein.«147 Oscar Wilde stellt sogar die These auf, »daß die Natur nicht weniger als das Leben eine Nachbildung der Kunst ist«.148 Ein Sonnenuntergang ist in dieser Perspektive »nichts weiter als ein zweitklassiger Turner«.149 Diese fiktive Landschaft hat - gegenüber der tatsächlichen Lebenswelt - den Vorteil, fixiert und zum Teil schon ausgedeutet zu sein. Die Konsequenz dieser Gedanken für eine theoretische Bestimmung der Kunst (und damit auch einer Landschaftspoetik) liegt auf der Hand: »Die Abkehr vom Mimesisprinzip [wird] geradezu zur Bedingung künstlerischer Progressivität.150 Nachdem durch realistische Tendenzen in
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Großstadt ermöglicht weitestgehend den Einstieg in einen gemeinsamen Diskurs, der sprachlich und weltanschaulich Orientierung bietet. Ort dieses Diskurses ist die Großstadt; Gegenstand das vermeintliche Ausgeliefertsein an deren Lebenswelt und gebrochene Realität. Oscar A.H. Schmitz 1897, S.258. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. In Swanns Welt. Übers, v. Eva Rechel-Mertens. Frankfurt 1981. S.l 18. A.a.O., S.l 19. Oscar Wilde: Werke. Hg.v. Rainer Gruenter. Übers.v. Christine Koschel, Inge v.Weidenbaum u. Hedda Soellner. München 1970. Bd.l. S.417 ('Der Verfall der Lüge. Eine Betrachtung'). Wichtige Hinweise zum Diskurskontext der These, die Natur ahme die Kunst nach, finden sich in: Victor Zmegac: Die Realität ahmt die Kunst nach: Zu einer Denkfigur der Jahrhundertwende. In: Pfister (Hg.) 1989, S.l80189. Wilde 1970, Bd.l, S.417f. Jörg Zimmermann 1982, S.145.
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der Kunst fast alles zum mimetischen Objekt werden und deshalb das Stoffliche der Kunst ein deutlich stärkeres Gewicht gewinnen konnte (besonders im Naturalfsmus), erfordert eine Kunst, die nicht mehr an das Gebot der Mimesis gebunden ist, eine Orientierung an primär ästhetischen Kategorien, wie dies Schmitz im oben zitierten Satz konstatiert. Die Folgen einer solchen Neugewichtung ästhetischer Kategorien sind bekannt: der Ästhetizismus wird zum bestimmenden Moment der Kunstproduktion im Fin de siecle. Die anfangs - mit Wunberg - aus dem Historismus abgeleitete Tendenz zur Lexemautonomie in der Literatur hat genau hier ihren Ort: Die unabhängig von der Natur und deshalb in gewisser Weise kontingenten Zeichenkombinationen der 'Landschaften' - wenn man sie als solche noch erkennt - können im Ästhetizismus als kaum verstehbare ' Texturen' erscheinen; sie sind - mit Ernst Mach - »nichts außer dem Zusammenhang der Elemente«151, den das Kunstwerk herstellt.
3. Zur Begrifflichkeit: Raum - Natur - Landschaft Die Überlegungen zu Raum und Landschaft als Gegenständen verschiedener Moderne-Diskurse haben deutlich gemacht, daß von einem einheitlichen und verbindlichen Landschaftsbegriff in der Moderne genausowenig die Rede sein kann wie von einer allgemein geltenden Vorstellung von Raum bzw. Räumlichkeit. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sollen die Begriffe Raum, Natur und Landschaft einheitlich verwendet werden und zwar so, wie es der alltagssprachliche Gebrauch einerseits nahelegt und andererseits es die wissenschaftliche bzw. ästhetische Reflexion erfordert. Das Unternehmen, eine akzeptable Begrifflichkeit festzulegen, diese im Laufe der Argumentation beizubehalten, gleichwohl aber differenzierte Aussagen treffen zu wollen, mag zwar kein problemloses Unterfangen sein, muß aber aufgrund der Zielsetzung dieser Arbeit gewagt werden. Allerdings: die einheitliche Verwendung einer Terminologie innerhalb dieser Untersuchung behauptet keine 'anthropologischen Konstanten' hinsichtlich des Raumverständnisses. Das kann nicht - wie Norbert Reichel richtig bemerkt - die Aufgabe des Interpreten sein. Vielmehr setzt meine Studie stets die Abhängigkeit der Begrifflichkeit vom jeweils geführten Diskurs, von der jeweils vorliegenden historischen Situation voraus.152 Das Wissen um die Abhängigkeit
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Mach 1987, S.5. Zum Problem der 'Unverständlichkeit' vgl. auch: Wunberg 1989[b], S.241-249. Vgl. Norbert Reichel: Der erzählte Raum. Zur Verflechtung von sozialem und poetischem Raum in erzählender Literatur. Dannstadt 1987. S.21. Reichel vernach-
stellt die methodisch motivierte einheitliche Verwendung der Begriffe in dem hier konstatierten Zusammenhang aber nicht in Frage. Auf die umfangreiche Forschungsdiskussion zur Begrifflichkeit wird nur insofern eingegangen, als sie der Festlegung der hier vorgeschlagenen Terminologie dient. Raum kann man als »Konstituens der Welt«153 bezeichnen, das wesentlich die Beziehung des Subjekts zu sich selbst, zu seinem Dasein und zu seiner Umwelt prägt. Insofern bietet der Raum - ganz allgemein - ein Ordnungssystem, auf das sich menschliches Handeln - wie auch immer ausrichtet.154 Hieraus ergeben sich zwei allgemeine Bestimmungen des Raums: er ist immer 'relational' zu verstehen und er stellt sich als (begrenzte) Ausdehnung dar. Eine Spezifizierung des Raumbegriffs darüber hinaus fällt schwer, da seine »wissenschaftliche Verwendung zu Differenzierungen geführt hat«, die es nicht erlauben, einen »gemeinsamen [...] Bedeutungszusammenhang zu erkennen«.155 Cassirer weist darauf hin, daß der Begriff Raum nicht eine Vorstellung impliziert, also nicht mehr Ausdruck einer Seinsgestalt ist, sondern selbst als Ordnungsbegriff für eine ganze Reihe von Ordnungssystemen ästhetischer, physikalischer oder mythologischer Art zu gelten hat.156 So folgt ein poetisch konstituierter Raum zwar anderen Gesetzlichkeiten als ein mathematisch konstruierter157 oder geographisch rekonstruierter, doch stellen die räumlichen Vorstellungen immer die Konstituenten des jeweiligen Imaginationsaktes dar. Nicht zuletzt deshalb kommt der Herstellung des Raumes in poetischen Texten eine besondere Bedeutung zu.158 Die Vorstellung von Räumlichkeit entspricht dem Akt einer Grenzziehung, der Bestandteil eines Diskurses ist. Auf die Bedeutung des Horizonts hierbei macht Albrecht Koschorke aufmerksam: dieser sei »eine konstituierende Bezugslinie für die Ordnung der Empirizität«; er organisiere das »Feld der Wahrnehmung« und
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lässigt allerdings die Diskursabhängigkeit gegenüber einer historischen Bedingtheit der Begriffe Raum und Zeit. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 151979. S.101. Vgl. Cassirer 1975, S.21ff. Vgl. auch Kants Begriff des Raumes als »reine Anschauung«, der nicht aus der Erfahrung abstrahiert ist (Kant 1974, Bd.3, S.71ff.). Peter Janich, Jürgen Mittelstrass: Raum. In: Hermann Krings et al. (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München 1973. Bd.4. S.1154. Wenn hier trotzdem weitere Differenzierungen versucht werden, dann nur unter der Maßgabe, daß der entworfene Raumbegriff nur als vorläufige interpretatorische Kategorie dient. Vgl. Cassirer 1975, S.23f. Y g j ß f u n o Hillebrand: Mensch und Raum im Roman. Studien zu Keller, Stifter und Fontane. München 1971. S.5-36 ('Poetischer, philosophischer, mathematischer Raum'). Vgl. Kapitel 4 der 'Voraussetzungen'.
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markiere gleichzeitig »die Grenze und den Übergang«.159 Insofern bietet die räumliche Grenzziehung - und ihr Paradigma: der Horizont - Orientierung. Die Grenzen des Raumes sind insbesondere auch durch die Grenzen der Mitteilungsfähigkeit unserer Sprache hinsichtlich der Raumvorstellung und insbesondere durch den jeweiligen Diskurs bestimmt.160 Das gilt sogar für den unendlichen Raum des Universums, über den wir nur insofern zu Aussagen fähig sind, als wir ihn uns, für den Akt der Mitteilung, begrenzt denken: als Formel, die 'Unendlichkeit' ausdrückt, als ptolemäische Geozentrik oder Reich Gottes - je nach Paradigma. Andererseits ist es bekanntlich gerade unser Denken, das die Grenzen jeglicher Räumlichkeit zu überschreiten vermag, allerdings um neue Orientierungspunkte zu setzen.161 Räumlichkeit bezeichnet jene Grenze, die sich im dialektischen Spiel von Überschreitung und (neuer) Konventionalisierung ergibt. Sie ist real, insofern sie Ort und Orientierungspunkt humaner Interaktion realisiert·, sie ist fiktiv, insofern sie perspektivisch veränderbar oder mental überwindbar ist. Der Aufbau eines Raumes wird wahrnehmbar durch eine Reihe von Zeichen, die als 'Markierungszeichen' interpretiert werden müssen. Sie zeigen seine Grenzen und Strukturen. Die mit dem Historismus einsetzende gewisse Beliebigkeit des Umgangs mit Zeichen und die Technisierung der Umwelt haben Folgen für den Raumbegriff. Der Raum ist nicht mehr nur der habituell - also vornehmlich durch optische Zeichen wahrgenommene, sondern auch der innerhalb neuer Diskurse162 gesetzte und durch diese erfahrene; Koschorke sieht deshalb im semiotisch ver-
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Koschorke 1990, S.7. Vgl. Brigitte Wormbs: Raumfolgen. Essays. Darmstadt 1986. S.43f und 136f. Vgl. a.a.O. und besonders auch: Jacob von Uexküll: Wie sehen wir die Natur und wie sieht sie sich selber? In: Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgew. Schriften. Hg.v. Thure von Uexküll. Frankfurt 1980. S.180. Diese Relativierung der 'äußeren' Orientierungspunkte des Raums - des 'realen' Raums überhaupt - durch die Möglichkeit der Konstitution von Räumlichkeit jenseits konventioneller Raumgrenzen bedingt letztlich wesentliche Elemente der substantiellen Ich-Krise um 1900. Das Ausgeliefertsein an eine subjektiv als kontingent erfahrene Räumlichkeit wird durch die Setzung neuer Orientierungspunkte zu überwinden gesucht. Die Veränderung der Raumvorstellung hinsichtlich der Orientierungsfunktion - Raum als nur 'relativer' relationaler Begriff - in der Moderne wird von vielen bekannteren Theoretikern der Jahrhundertwende bemerkt, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden soll: vgl. etwa Simmel 1984[a]; Mach 1987; Oscar A.H. Schmitz 1897; Friedrich Naumann: Der Zufall als Maler [1902], In: Friedrich Naumann: Werke. Bd.6. Hg. v. Heinz Ladendorf. Köln, Opladen 1964. S.27-29; Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen. In: Schriften der Gesellschaft für psychologische Forschung. U.Sammlung, Heft 6-10. Leipzig 1893-1897. S.[295-727],
mittelten Horizont moderner Texte eine bloß »provisorische Ordnungslinie«.163 Ein Beispiel hierfür wäre die Emanzipation des Traums (oder des Unbewußten) als zweite 'Realität' mit eigener durch Zeichen bestimmbarer Räumlichkeit, mit eigenen Grenzen und Übergängen. Im engeren Sinne meint Raum - als Innenraum - eine optisch und haptisch abgeschlossene oder abschließbare Einheit. Wesentliches Merkmal einer so verstandenen Räumlichkeit ist deren ästhetische Gestaltbarkeit und ihre psychische Wirkungsmöglichkeit.164 Auch für den Innenraum muß die Möglichkeit des mentalen oder 'ästhetischen' Überschreitens seiner Grenzen als konstitutiv erachtet werden. Der Blick hinaus aus dem Fenster165, Illusionsmalerei, Fototapeten oder Glasdächer sind hierfür nur die augenfälligsten Beispiele. Auch der Begriff Natur166 enthält wesentliche Merkmale eines Orientierungsbegriffes. Er hebt sich »aus der langen und wechselhaften Geschichte unseres Denkens wie eine feste Orientierungsmarke heraus.«167 Das heißt nicht, daß die Natur als Gegenstand unseres Denkens, unserer Anschauungen - oder gar die Natur als unser Lebensraum - nicht verschiedenen Wandlungen unterworfen sei. Im Gegenteil: Die Veränderlichkeit der Natur und unserer Einstellung zu derselben kann geradezu als Topos naturphilosophischen Denkens gesehen werden.168 Nur: Natur bleibt bei aller Mannigfaltigkeit ihrer Stellung zur menschlichen Existenz, bei aller Ambivalenz ihrer Beziehung zum Menschen, Bezugspunkt menschlicher Denk- und Lebensformen. Dies impliziert natürlich auch Bezugnahmen ex negativo, wie sie Oscar Wilde oder die Futuristen pflegen. Zu unterscheiden ist zwischen Natur (natura) als Summe dessen, was allem Sein ursprünglich - oder besser: wesentlich - gegeben ist und Natur als dem Gebiet, das vom Menschen nicht geschaffen bzw. gestaltet worden ist. In diesem letzteren Sinn bezeichnet die Natur Gegenstände der Anschauung in ihrem ursprünglichen Zustand: Berge, Steine, Pflanzen, Tiere usw. Im Gegensatz zur Natur steht der Bereich des von Menschenhand und -geist Geschaffenen: Kultur, Zivilisation, Städte, Ideen, Konventionen usw. Im hier erörterten Kontext interessiert weniger der
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Koschorke 1990, S.325. Vgl. Otto Friederich Bollnow: Mensch und Raum. Stuttgart 1963. S.217ff. und Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt 1965. S.2254. Vgl. hierzu Heinz Brüggemann: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer Urbanen Wahrnehmungsform. Frankfurt 1989. Zum Folgenden vgl. den Sammelband Zimmermann (Hg.) 1982. Schäfer 1982, S . U . Vgl. schon Aristoteles (Physik. 111,1, 200b, 13-15), Schäfer 1982 oder Foucault 1974, S.168.
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Bereich impliziter Natürlichkeit, wie Naturgesetze oder natumotwendige Verhaltensformen bei Menschen und Tieren. Vielmehr liegt der vorliegenden Arbeit an dem Teil der Natur, der visuell, habituell und konzeptionell als dialektisches Gegenüber zum menschlich gestalteten Bereich aufgefaßt wird, an dem also, was als Außenwelt jenseits humaner Gestaltung dem Menschen gegenübertritt. Systematisch zwischen der Natur und dem Bereich menschlicher Gestaltung liegt - im hier diskutierten Zusammenhang - die Landschaft. Sie ist »Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist.«169 Sie ist also Natur, wird aber gestaltend - in ästhetisch veränderter Form - rezipiert. Ein Naturausschnitt kann erst dann als Landschaft bezeichnet werden, wenn er als 'Landschaft' betrachtet wird, das heißt, wenn er in einer spezifischen Weise gesehen, gemalt, beschrieben oder musikalisch dargestellt wird. Für Eduard von Hartmann existiert deshalb »das Naturschöne [...] nur als schöner Schein in einem Bewußtsein und für dasselbe, und was unabhängig vom Bewußtsein existiert, ist nicht das Schöne.«170 Das klingt trivial, ist aber von erheblicher Bedeutung für den hier diskutierten Zusammenhang. Obschon Landschaft prinzipiell in allen Kunstgattungen gestaltet und mehr oder weniger mit allen Sinnen rezipiert werden kann, muß Landschaft als primär optisches Phänomen gesehen werden: als Landschaftsbild. Hierzu sind einige Voraussetzungen nötig: Landschaft bezeichnet immer nur einen NaturaKsscAm'tt171; sie ist also begrenzt. Um diese - wenn auch je und je changierende - Abgeschlossenheit realisieren zu können, ist eine Distanz des Betrachters zum Objekt notwendig172, wenn auch nicht gesagt werden kann, wie diese Losgelöstheit des ästhetischen Betrachters vom Kunstobjekt 'Landschaft' jeweils auszusehen hat. Ähnlich schwierig ist die Festlegung der Kategorie 'Ganzheit', die fast immer auftaucht, wo von Landschaft die Rede ist.173 Diese Kategorie mag zwar für das Landschaftsempfinden zentral sein, wichtig für Landschaftsrealisierungen der Moderne scheint aber gerade der Bruch mit dem ganzheitlich gesehenen Landschaftsbild zu werden. Die Sichtweise der Landschaft muß als historisch und sozio-ökonomisch präformiert angenommen werden. Bildungsgeschichte, soziale und
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Ritter 1980, S.150. Eduard von Hertmann: Philosophie des Schönen. Berlin 2 1924 ['1887]. S.457. Vgl. Manfred Smuda: Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konstitution von Landschaft. In: Smuda (Hg.) 1986, S.55. Vgl. Rilke 1987, Bd. 5, S.521; Simmel 1984[b], S.135; Paul Cizanne: Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet, Briefe. Hg.v. Walter Hess. Mittenwald 1980. S.17. Vgl. Smuda 1986, S.55; Ritter 1980, S.144, 149; Lobsien 1986, S.162; Muris 1930, S.649; Rudolf Borchardt: Nachwort. In: Rudolf Borchardt (Hg.): Der Deutsche in der Landschaft. Berlin, Frankfurt 21953. S.459.
wirtschaftliche Stellung, Teilhabe an bestimmten Diskursen, Stimmung und ästhetische Sensibilität des Betrachters bestimmen wesentlich das gesehene Landschaftsbild. Dieses ist Mittel- und Ausgangspunkt einer Reihe von Referenzsystemen, die der Betrachter im Bild wahrnimmt. Landschaft ist »wie ein Kunstwerk mehr als eine Zeichensequenz: sie ist als Ganzes selber«, kann man mit Lobsien sagen, auch »ein Zeichen«.174 Zu diesen Referenzsystemen, auf die eine Landschaft oder Zeichen einer Landschaft verweisen, gehören genauso historische, literarische, kunstgeschichtliche, als auch psychisch geprägte oder gesellschaftliche Diskurse. Die Zeichen können auf mehr oder minder private Dinge rekurrieren oder können politische Anspielungen enthalten. Sie stammen »aus Büchern, Bildern, Erinnerungen oder Überlieferungen [...]; das Vergangene, Erfundene oder Wirkliche gilt hier gleich viel«175, wie Franz Tumler in seinem Essay 'Österreichische Landschaft' richtig bemerkt. Landschaft verweist immer auf etwas, meint nie nur sich selbst, kann nie ausschließlich als 'die Sache selbst' angesehen werden. Eine Variante der Landschaft in der Moderne sei noch nachgetragen: die Stadtlandschaft. Im Grunde gelten hier die gleichen Kategorien wie bei der 'Natur'-Landschaft, nur ist der Gegenstand unter Umständen schwieriger zu bestimmen. Nicht mehr ein Ausschnitt der Natur wird aus seinem Zusammenhang herausgelöst und als Landschaft erfahren, sondern in der Moderne kann sowohl ein Teil der Natur als auch Elemente urbaner Umgebung 'Landschaft' werden; sie müssen nur - und hier gilt wieder das oben angeführte Verdikt - als 'Landschaft' betrachtet werden. Das Herausarbeiten eines solchen 'Blicks' muß allerdings angesichts des »raschen und ununterbrochenen Wechsels] äußerer und innerer Eindrücke«176, die auf den Wahrnehmenden wirken, als kein leichtes Unterfangen angesehen werden. Oft wird im folgenden von 'Raum- und Landschaftserfahrungen' die Rede sein. Diese verkürzte Formulierung setzt zwei Aspekte voraus: Erstens befaßt sich die vorliegende Studie mit Texten der Wiener Moderne; insofern ist mit der genannten Formulierung immer die sprachlich vermittelte Raum- und Landschaftserfahrung gemeint. Zweitens finden sich viele der untersuchten Phänomene sowohl in Raumdarstellungen als auch in spezifischen Landschaftsevokationen. Eine Differenzierung zwischen beiden Kategorien wird dann vorgenommen werden, wenn sie zu deutlichen Unterschieden führt. Die oben eingeführte Formulierung
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Lobsien 1986, S.162. Zum Begriff 'Landschaft' vgl. Eckhardt Lobsien: Landschaft in Texten. Zur Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung. Stuttgart 1981. S.lff. und S.82ff. Franz Tumler: Österreichische Landschaft. In: Jutta Freund (Hg.): Österreich erzählt. 27 Erzählungen. Frankfurt 1989. S.147 Simmel 1984[a], S.192.
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geht von der übergeordneten Kategorie 'Raum' aus und verweist auf das spezifischere - ästhetisch interessantere - Phänomen 'Landschaft'.
4. Raum und Landschaft in der Literatur Eine Prämisse der vorliegenden Untersuchung lautet: Die Imagination von Räumlichkeit gehört zu den konstituierenden Elementen poetischer Texte, insbesondere zu denen erzählender Prosa.177 Diese imaginative Räumlichkeit gestaltet ein »Anderswo«178 jenseits des Rezeptionsortes, jenseits der Wirklichkeit. Von dieser hat sich der dargestellte Raum selbst wenn er in mimetischer Absicht konstituiert wurde179 - durch seine Schriftwerdung unwiederbringlich entfernt. Der Raum in fiktionalen Texten entspricht nicht der Realität, »auch wenn eine geographisch oder zeitlich bekannte Wirklichkeit montagemäßig der Romanschauplatz ist.«180 »Landschaft im Gedicht ist etwas anderes als Landschaft in Wirklichkeit.«181 Diese »Binsenweisheit«182 von Brigitte Wormbs gilt für die Realisierung von Räumen in der Literatur überhaupt. Neben der in den Texten imaginierten Räumlichkeit kann man bei vielen Beispielen der Literatur um 1900 - aber auch in derjenigen des Mittelalters oder des Barock - von einer äußeren Ausstattung der Texte sprechen, die insofern 'Räumlichkeit' konstituiert, als das Kunstobjekt Buch als Ganzes und nicht nur im Lesen eine ästhetische Wirkung intendiert. Die Relevanz graphischer und bibliophiler Gestaltung von Texten um 1900 verlangt eine Einbeziehung der 'äußeren' Gestalt dieser
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Vgl. Wolfgang Staroste: Raumgestaltung und Raumsymbolik in Goethes 'Wahlverwandtschaften'. In: Wolfgang Staroste: Raum und Realität in dichterischer Gestaltung. Studien zu Goethe und Kafka. Hg. v. Gotthart Wunberg. Heidelberg 1971. S.89 und Herman Meyer: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst. In: Studium Generale. 10-1957. S.621. Michel Butor: Repertoire 2. Übers.v. Helmut Scheffel. München 1965. S.81 ('Raum des Romans'). Mimesis wäre hier im Sinne von 'Nachahmung' zu übersetzen. Der aristotelische Gebrauch von Mimesis legt allerdings eine Übersetzung als 'Darstellung' nahe (vgl. Aristoteles, Poetik, Kapitel 1-3 und 9). Legt man dieses Verständnis von Mimesis zugrunde, was nicht der Rezeptionstradition in Deutschland seit Lessing entspräche, kann man sehr wohl von einer 'mimetischen' Gestaltung von Räumlichkeit in poetischen Texten reden. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 3 1977. S . l l l . Wormbs 1986, S.115 ('Utopia schwarz auf weiß. Aufzeichnungen zu Carl Einsteins Entwurf einer Landschaft'). A.a.O.
Literatur in die Interpretation183 der Texte. Wenn im folgenden von 'Räumlichkeit' gesprochen wird, werden diese keineswegs bloß illustrativen Elemente vorerst ausgeklammert. Bei der Erörterung der Bedingungen, unter denen eine Imagination von Räumlichkeit innerhalb von Texten möglich ist, orientiere ich mich an zwei Fragen, die das Problem wesentlich präjudizieren: Wie kann Räumlichkeit in Literatur dargestellt werden? Welchen Stellenwert hat Räumlichkeit in Literatur? Die Beantwortung beider Fragen wird speziell für die moderne Literatur zu präzisieren sein. Das zentrale Stichwort für die poetische Realisierung von Räumlichkeit wurde oben - mit einem Rekurs auf Walter Schulz184 - als das Kennzeichen des modernen Wirklichkeitsbewußtseins eingeführt: Vermitteltheit. Literatur kann Räumlichkeit nur über das Medium Sprache suggerieren. Deshalb ist die Darstellung von Räumlichkeit in Texten ein Akt der Vermittlung, der imaginierte Ort ein vermittelter. Der Akt der Vermittlung durch Sprache, die Beschreibung oder auch die Evokation über verschiedene Andeutungen, ist ein sukzessiver. Darauf macht bekanntlich Lessings 'Laokoon' aufmerksam. Zwar könne die Dichtkunst prinzipiell - aufgrund ihres Zeichencharakters - Räumlichkeit beschreiben; sie sei aber nicht ihr eigentlicher Gegenstand, »weil das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in Kollision kömmt«.185 Lessings Laokoon geht vom Ziel einer möglichst adäquaten Nachahmung der Wirklichkeit aus: Kunst müsse Räumlichkeit dementsprechend möglichst gut 'abbilden'. Weil die 'bildende' Kunst, vermöge ihrer spezifischen Eigenart, Koexistierendes abbilden könne, erweise sie sich als adäquateres Mittel für die Darstellung von Räumlichkeit. Deshalb gelte: »Die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.«186 Weil aber in der Moderne eine wesentliche Prämisse des Lessingschen Verdikts - Mimesis als Abbildung - obsolet geworden ist, muß die Geltung des Laokoon-Satzes eingeschränkt187 gesehen werden: es gibt
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Hierzu vgl. Hans-Ulrich Simon: Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst. Stuttgart 1976. Das bekannteste Produkt ineinandergreifender Kunstmittel der bildenden Kunst, des Kunstgewerbes und der Literatur ist für die Wiener Moderne Oskar Kokoschkas 'Die träumenden Knaben' von 1908 (Hergestellt v. den 'Wiener Werkstätten'). Eine Interpretation des Textes, die von der bildnerischen Gestaltung absähe, wäre - das ist unmittelbar einzusehen - unsinnig. Die 'äußere' Gestaltung des Buches ist hier unmittelbarer Bestandteil des Kunstwerks. Vgl. Kapitel l.a) der 'Voraussetzungen'. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg.v. Kurt Wölfel. Frankfurt 1967. Bd.3. S.99 ('Laokoon'). A.a.O. S. 102. Edelgard Hajek (Literarischer Jugendstil. Vergleichende Studien zur Dichtung und Malerei um 1900. Düsseldorf 1971. S.63f.) ist der Meinung, die Jahrhundertwende-
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kein Primat der 'bildenden' Kunst für die Darstellung von Räumlichkeit, zumal sie selbst seit dem Impressionismus in der Auflösung des oberflächlichen (Landschafts-)Bildes den Wahrnehmungsakt als Akt der Vermittlung mitreflektiert188 und deshalb sogar von einer 'doppelten' Vermitteltheit von Räumlichkeit in den Werken jener Kunst gesprochen werden kann. Weil das Ziel der Literatur und der 'bildenden' Kunst nach Naturalismus und Realismus keineswegs mehr die möglichst getreue Abbildung von Räumlichkeit ist, sondern wesentlich durch ihre eigene Logik und Konsistenz bestimmt wird, kann von einer mehr oder minder adäquaten Vermittlung nicht mehr die Rede sein. Der Maßstab dafür fehlt. Was von Lessings 'Laokoon' 'verwertbar' bleibt, sind allerdings zwei nicht unwichtige Gedanken zur Bedingung der Möglichkeit einer poetischen Raumrealisierung: die sukzessive Gestalt der Sprache und der Zeichencharakter sprachlicher Ausdrücke. Die Referentialität von Sprache ist längst vor Beginn des postmodernen Diskurses zum Problem geworden. Spätestens seit einer breiteren Rezeption von Wittgensteins 'Philosophischen Untersuchungen' ist sich die Sprachwissenschaft einig, daß sich die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken erst im Diskurs (bzw. im 'Sprachspiel') konstituiert189, von einer unmittelbaren Referenz auf eine nichtsprachliche Realität infolgedessen nicht gesprochen werden kann. Jeder sprachliche Ausdruck somit auch Literatur - kann als komplexes Referenzsystem bezeichnet
Kunst basiere noch weitestgehend auf dem Mimesis-Gebot realistischer bzw. idealistischer Kunst. Dieser Auffassung ist allein schon - um nur wenige Beispiele der Wiener Moderne zu nennen - durch einen Hinweis auf die poetologischen Bemerkungen von Hofmannsthal (Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.16, 184) oder Hermann Bahr (Die Ddcadence. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.227ff.; Dficadence und Dilettantismus, a.a.O., S.237f. und Symbolisten, a.a.O., S.251f.), aber auch auf die deutlich amimetischen Elemente in Gustav Klimts 'Fakultätsbildem' (1899-1907), seinem 'Beethoven-Fries' (1902), in Adfolf Böhms 'Landschaft' (1901; vgl. Abb.), in Egon Schieies und Oskar Kokoschkas Werken oder in der Lyrik Hofmannsthals (besonders: Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.28) zu widersprechen. Daß die Jahrhundertwende-Kunst 'sinnliche Anschaulichkeit' intendiert, wie Hajek richtig bemerkt, ist kein Argument fur den mimetischen Charakter dieser Kunst (zumindest im Sinne einer realistischen bzw. idealistischen Kunstauffassung). 188 189
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Vgl. etwa C6zanne 1980, S.28ff. Vgl. Wittgenstein 21980, §§ 43, 83 und Francois Latraverse: Von der Moderne zur Post-Moderne. Die Sprachspiele als Formen der neuen Rationalität bei Wittgenstein. In: Raulet, Le Rider (Hg.) 1987, S.149-166. Aus dem Gesagten geht hervor, daß die vorliegende Untersuchung den von Gerhard Hoffmann in der Diskussion um den Raum gebrauchten Begriff »Wirklichkeitsrepräsentation« (Gerhard Hoffmann: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart 1978. S.2) für unglücklich hält, weil er das mimetische Verfahren in der literarischen Kunstproduktion unumgänglich festschreibt.
werden, das auf verschiedenen Ebenen auf andere 'Texte' (oder Diskurse) referiert, ohne alle Implikationen dieser 'Texte' zu internalisieren. Dazu gehört auch eine sich in den jeweiligen Diskursen konstituierende - und so auch benannte - 'Wirklichkeit', ein Sprechen über die Lebenswelt der Diskursteilnehmer. Über einen solchen 'WirklichkeitsDiskurs' findet die Realität außerhalb der Sprache Eingang in die Texte. Es ist sicher richtig, daß sich das Subjekt - zumal in der Literatur wesentlich »in der Sprache konstituiert«; allerdings scheint die Vorstellung abstrus, eine Realität »außerhalb des Textes190 zu leugnen. Der oben referierte Gedanke einer Intertextualität impliziert gerade die - wenn auch vermittelte - Aufnahme des Redens über 'Wirkliches' in die Literatur. Damit soll keine neue (realistische) Mimesis über den Umweg einer konstatierten Intertextualität rekonstruiert werden. Vielmehr wird darauf verwiesen, daß auch im diskurstheoretischen Sinn von textualen Verweisen auf diskursiv vermittelte Realsubstrate gesprochen werden kann. Die Präsenz solcher Wirklichkeitsbezüge bestimmt in eigenartiger Weise die Realisierung von Räumlichkeit in der Literatur: der Rekurs auf Realsubstrate kann auf aufwendige Beschreibungen verzichten, weil er eine hohe Zeichenkompetenz voraussetzen darf. Wenn die Realsubstrate sich auf Örtlichkeiten beziehen lassen, die beim intendierten Leserkreis bzw. innerhalb des jeweiligen Diskurses als bestens bekannt vorausgesetzt werden können - wie in der Wiener Moderne - , gilt der oben beschriebene Sachverhalt um so mehr. Beschreibungen können dann zu Andeutungen reduziert werden. Dieser Reduktionismus schränkt aber, versteht man den referierten Kontext, in keiner Weise die Plastizität der imaginierten Räumlichkeit ein. Ganz im Gegenteil: die angedeuteten Realsubstrate evozieren unter Umständen unendlich vielfältige Bilder und Begebenheiten. Vielfach kann die evozierte Räumlichkeit sinnvoll nur über die Selbstreferentialität der Texte erschlossen werden und scheint auch nur in ihrem Horizont verstehbar. Aber auch dann wird man für die Interpretation den Diskurszusammenhang rekonstruieren müssen. Denn auch innertextuelle Verweise, Reflexionen auf die Eigenart von Beschreibungen innerhalb eines Textes und Modifikationen einer einzigen Räumlichkeit projizieren noch keinen euklidischen Raum, wie Michel Butor richtig bemerkt: »Jeder Ort ist das Zentrum für einen Horizont von anderen Orten.«191 Der Unterschied zu anderen Texten und der Bruch mit den Konventionen geltender Beschreibungsstrategien bezeichnen genauso die
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Beide Zitate: Andreas Huyssen: Postmoderne - eine amerikanische Internationale? In: Andreas Huyssen, Klaus R.Scherpe (Hg.): Postmodeme. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek 1986. S.32. Butor 1965, S.89.
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»einmalige Seinsweise«192 eines Textes, wie die Differenz des evozierten Ortes zu den bewußt ausgesparten Beschreibungen anderer Orte Charakteristisches freilegt. Auf eine weitere Modifikation des Problems 'Vermitteltheit* bei der Raumrealisierung in Texten macht Eckard Lobsien aufmerksam: er weist darauf hin, daß »in das Verhältnis von Gegenstand und Medium [...] immer auch das Verhältnis von Gegenstand und Betrachter eingeschrieben«193 sei. Innerhalb des Textes wird neben dem Raum, neben der Landschaft, die beschrieben wird, immer auch der »Akt ihrer Erfassung und Verarbeitung«194 implizit oder explizit thematisiert: als Beschreibung aus der Sicht des Erzählers oder eines Protagonisten.195 Pfeiffer spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »Art Affinität« der Literatur zur »ästhetischen Landschaft, weil der sprachliche Gegenstandsentwurf die Konstitutionsbedingungen von Landschaft schneller [...] bloßlegt«196 als andere Medien. Daß Räumlichkeit in der Literatur immer schon als eine vermittelte und deshalb innerhalb ihres Diskurskontextes modifizierte zu sehen ist, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Der vielleicht wichtigste Aspekt der Raumrealisierung, der daraus resultiert, ist zu kennzeichnen als Spannung zwischen dem Autonomiestatus des Textes und der Referentialität der Raumevokation; die Referenz bezieht sich auf ein Jenseitiges, das aber stets nur innertextlich - der Autonomie der Texte gehorchend - preisgegeben werden kann. Die Raum- und Landschaftsdarstellung hat vor allem zwei Funktionen197: sie gibt eine bestimmte Ordnung des Textes vor, indem sie den Handlungsablauf durch eine Reihe von Zeichen strukturiert (Bewegungen der Protagonisten, Trennung von Schauplätzen, um verschiedene Handlungsstränge zu unterscheiden etc.), und sie evoziert fiktionale Bedingungen, innerhalb derer Vorgänge im Text plausibel erscheinen (Handlungen, Brüche, essayistische Äußerungen, seelische Vorgänge etc.).198
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Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Übers.v. Karin Hofer u. Anneliese Botond. Frankfurt 1988. S.17. Lobsien 1981, S.82. A.a.O. Parallel dazu - wenn auch mit gattungsspezifischer Problematik - wäre die Vermittlung von Räumlichkeit über das 'lyrische Ich' bzw. das 'Bühnenbild' (das ja im eigentlichen Sinne weniger 'Bild', als vielmehr 'Raum' suggerieren soll) zu sehen. Hierzu vgl. Kapitel l.b). K.Ludwig Pfeiffer: Bedingungen und Bedürfnisse. Literarische Landschaften im England des 19. Jahrhunderts. In: Smuda (Hg.) 1986, S.179. Vgl. zum hier verwendeten Begriff 'Funktion': Foucault 1988, S.17f. Schon 1910 macht Käte Friedemann (Die Rolle des Erzählers in der Epik. Berlin 1910 [Neudruck: Darmstadt 1965]. S.185f.) auf die Bedeutung der Raumschilderung als 'atmosphärische' Vorausetzung verschiedenster Textfunktionen aufmerksam.
Als wichtigste Ordnungsfunktion kann man den Aufbau des fiktionalen Rahmens ansehen. Aus dieser erzähltechnischen Aufgabe läßt sich Bruno Hillebrands Gedanken variierend - der Raum als »Konstituens des Dichterischen« verstehen, »das seismographisch die Perspektive« des Textes registriert.199 Daneben dient der Raum - möglicherweise in Kombination mit anderen inhaltlichen Elementen - als Ausgangspunkt einer Reihe von Textbewegungen, die die Struktur des literarischen Werks bestimmen: an ihm werden Erinnerungen200 festgemacht; er kann als »Museum der Seele«201 dienen, als Tableau psychischer Vorgänge; er vermag Motive und Symbole auszudrücken, die im Lesen aber auch von den Protagonisten wiedererkannt werden, und in ihm können schließlich sogar die verschiedensten ästhetischen, politischen und sozialen Diskurse sichtbar werden. Gerhard Hoffmann sieht deshalb den literarischen Raum - »wegen seines hohen Verweispotentials« - als »günstigen Ausgangspunkt«202 für Symboluntersuchungen. Landschaft kann in dieser Funktion regelrecht als 'Sekundärtext' auftreten, der vom Leser (und auch von den Protagonisten) entschlüsselt werden kann.203 Die fiktionalen Bedingungen, die mit der Raum- und Landschaftsdarstellung evoziert werden, sollen, um einen für die Wiener Moderne zentralen Begriff zu gebrauchen, 'Stimmungen' vermitteln. Auf den Terminus 'Stimmung' wird spezifischer noch im Zusammenhang der 'Historismus'-Problematik einzugehen sein.204 Hier soll vorerst die folgende Formulierung des Begriffs genügen: Die 'Stimmung' eines Raumes (oder einer Landschaft) wird von den Denkern der Moderne als nicht identisch mit seiner morphologischen Erscheinung gesehen; vielmehr wird damit die 'schwebende' Erscheinung des Raumes205, so wie sie auf den Betrachter wirkt, charakterisiert. Die so erzeugte 'Stimmung' eines Raumes muß also offensichtlich mehr als Effekt der Rezeption denn als inhärenter Vorgang des Textes beschrieben werden,
199 Beide Zitate: Hillebrand 1971, S.10. 200 vgl. hierzu: a.a.O., S.5f. und Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Übers. München 1960. S.10, 13 u. 31. 201 Mario Praz: Die Inneneinrichtung von der Antike bis zum Jugendstil. Übers.v. Otto Emil Jantert. München 196S. S.21: der Raum ist lesbar als »Museum der Seele«, als »ein Archiv ihrer Erfahrung«. Vgl. auch Hillebrand 1971, S.22. 202 Gerhard Hoffmann 1978, S.X. 203 Vgl. hierzu Kapitel 3 in Teil II. 204 Vgl. Kapitel 2.c). Zum Modewort 'Stimmung' in der Moderne vgl. u.a.: Hillebrand 1971, S.22; Friedemann 1965, S.182; Muris 1930, S.653; Borchardt 1953, S.469; Jacob Wassermann: Die Kunst der Erzählung. In: Wiener Rundschau 1-1901. S.82; Theodor Herzl: Stimmung. Bemerkungen 1893]. In: Gotthart Wunberg (Hg.): Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902. Tübingen 1976. Bd.l. S.415ff. 205 Vgl. Borchardt 1953, S.469.
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während die 'fiktionalen Bedingungen' die semantische Struktur des Textes prägen. Allerdings können 'Stimmungen' der Protagonisten, etwa im Zusammenhang ihrer Raumerfahrungen, beschrieben werden; diese haben dann per se schon eine fiktionale Valenz und sind sowohl über den Rezeptionsvorgang als auch innerhalb der Textstruktur begreifbar. Die Evokation einer 'Stimmung' gilt den Modernen als Ausdruck einer bewußten 'Subjektivierung'206, deren Ziel ausdrücklich die Möglichkeit des »Nach- und Anempfindenfs]«207 impliziert; dabei scheint ihnen der direkte Zugang zur 'Stimmung' wichtiger als der Umweg über die Gefühle eines Protagonisten.208 An dieser Fassung des Begriffs 'Stimmung' wird die Nähe und die Differenz zu Walter Benjamins Begriff der 'Aura' deutlich. Einerseits entsprechen sich beide Ausdrücke als Zusammenfassungen kaum definierbarer Modalitäten einer Raum- und Kunsterfahrung jenseits materieller Bestimmungen des Gegenstandes: 'Aura' und 'Stimmung' bezeichnen die auf den Betrachter wirkende »Hülle«209 des Wahrnehmungsobjekts. Andererseits scheinen gerade die zentralen Eigenschaften der 'Aura' nach Benjamin »Einmaligkeit und Dauer«210 - auf den Fin de sifecleBegriff 'Stimmung' nicht zuzutreffen; zeichnen ihn doch offenbar die von Benjamin analysierten Verfallssymptome der 'Aura' - »Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit«211 - aus. Allerdings darf Herzls Formulierung, 'Stimmung' müsse »das gleiche persönliche Empfinden«212 des Rezipienten ermöglichen, nicht als vorbehaltlose Bejahung der Reproduzierbarkeit von Kunst in der Moderne, wie sie Benjamin als Ursache des »Verfalls der Aura213 beschreibt, verstanden werden. Herzl hebt das »Nach- und Anempfinden« deshalb vom »Mitempfinden«214 ab. Ersteres beschreibe den unmittelbaren Zugang zur 'Stimmung', letzteres erfordere zuerst ein »Empfinden für die Person«215, deren Empfinden beschrieben wird. Insofern zielt sein Votum für die 'Stimmung' durchaus auf die Erfahrung 'authentischer' - nicht problemlos reproduzierbarer - Kunst.
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Vgl. Muris 1930, S.653. Herzl 1976, S.415. Vgl. a.a.O. Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Ausgew. v. Siegfried Unseld. Frankfurt 1980. S.143 ('Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit'). A.a.O. A.a.O. Herzl 1976, S.415. Benjamin 1980, S.142; vgl. auch Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg.v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt 1973. S.73. Herzl 1976, S.415. A.a.O.
Trotz der Differenzen sind mit Benjamins Analyse der Labilität auratischer Kunsterfahrung zentrale Aspekte jener fiktionalen Bedingungen verschiedener Textvorgänge, deren Ziel die Moderne mit dem Begriff 'Stimmung* zu fassen sucht, begreifbar. Gerade zu Beginn der Moderne - mit dem Aufkommen des poetologisch gebrauchten Begriffs 'Stimmung' - wird die auratische Erfahrung von Kunst problematisch. Die »Zertrümmerung der Aura«, sagt Benjamin, sei »die Signatur einer Wahrnehmung, deren 'Sinn für das Gleichartige in der Welt' so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«216 Aus dieser historistischen Situation erklärt sich auch der Rekurs der Jung-Wiener auf die Kategorie 'Stimmung'. Sie soll zwar, wie die 'Aura', Ausdruck unmittelbaren Erlebens sein; sie verzichtet aber auf die Forderung nach Einmaligkeit und Dauerhaftigkeit. Die Flüchtigkeit einer 'Stimmung' kennzeichnet geradezu die letzte Möglichkeit auratischer Erfahrung in der Moderne. Ihre Einzigartigkeit resultiert nur insofern, wie die Benjaminsche 'Aura', aus dem »Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition«217, als ihr diese historistisch verfügbar geworden ist. Die Kunst der Tradition dient fortan als aus den jeweiligen historischen Kontexten gelöstes Material für eigene - moderne - 'Stimmungen'. Die Inszenierbarkeit von 'Stimmungen' über dekorative Raum-Arrangements im Späthistorismus ('Makart'Interieurs) ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel hierfür. In der Wiener Literatur um 1900 wird die Evokation besonders auch einer räumlichen oder landschaftlichen 'Stimmung' einerseits zum bestimmenden Merkmal der Texte erhoben und auch poetologisch konstatiert, andererseits aber - ein offensichtlicher Gegensatz: - die Analyse, die Segmentierung als Prinzip der Texte genannt. Hofmannsthal beschreibt dies als äquivoken Ausdruck von Modernität: »Modern ist [...] das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All.«218 Die auratische Erfahrung der 'Stimmung' kehrt in Hofmannsthals Text als »somnambule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen«219, als »Vergessen«220 der Realität, als Orte, »deren Namen nicht nach schalem Alltag und rauher Wirklichkeit klingen«221, wieder. Jakob Wassermann beschwört in einem kurzen poetologischen Text ähnliches, indem er die Relevanz der »Intensität der Vision«222 hervorhebt.
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Benjamin 1980, S.143. A.a.O. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.176. A.a.O. A.a.O. A.a.O., S. 184. Wassermann 1901, S.85.
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Trotz der poetologischen Festschreibung der 'Stimmung' als letzter Möglichkeit 'auratischer' Erfahrung bleiben prinzipielle Probleme: Die ästhetische Wahrnehmung von Räumen und deren Vermittlung durch die Literatur kann in der Moderne nicht als homogener Vermittlungsstrang, als einfache Transformation in ein anderes Medium gesehen werden; vielmehr werden die Brüche, Entfremdungen und Unwägbarkeiten ästhetischer Wahrnehmung selbst zunehmend zum Thema der Texte. Außerdem birgt die oben beschriebene Funktion der Räumlichkeit als Ausgangspunkt diverser Textvorgänge - als 'Sekundärtext' - die Gefahr einer endgültigen Entzauberung der als 'Stimmung' noch erhaltenen Aura. Die 'Stimmung' räumlicher Erfahrung erschiene dann auf ihre Brauchbarkeit im jeweiligen Kontext reduziert. Gerade in einer solchen Reduktion liegt aber oftmals der vordergründig intendierte 'Sinn' einer Landschaftsbeschreibung. Das ändert nichts an der Tatsache, daß eine, wie auch immer 'genutzte', Landschaftsbeschreibung nicht auch weitere in diesem Kontext keinesfalls aufgehende Textfunktionen hat - allerdings auf einer anderen Ebene. 'Auratische' Gestaltung von Räumlichkeit in Texten der Moderne impliziert immer schon ihre potentielle Entzauberung durch den Text selbst. Deshalb tritt am Problem der Raumwahrnehmung auch die Sprachskepsis der modernen Literatur zutage.223 Hofmannsthal gilt hier wiederum als Kronzeuge: Seine wortreiche Apotheose des Sprachverlustes im 'Chandos'-Brief zielt nicht zuletzt auf die Unmöglichkeit sprachlicher Rekonstruktion auratischer Erfahrung: Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen/224
Unmöglich scheint Chandos die sprachliche Wiedergabe von Wahrnehmungserfahrungen, die nicht einer oberflächlichen Beschreibung gleichen. Die Sprachskepsis, die der Brief formuliert, geht einher mit einer Wahrnehmungskrise, die auf einer Relativierung des optisch Wahrgenommenen im Sinne Ernst Machs basiert225, wobei bei Hofmannsthal neben der Gleichwertigkeit der oberflächlich gesehenen Elemente noch eine Sehnsucht nach der Darstellung der Eigentlichkeit der »stummen Dinge«226 bemerkbar bleibt.
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Vgl. Iskra 1967. S.33-45. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.469. Vgl. Mach 1987, S.l-30 passim. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.472.
Ähnliches kann man aber auch etwa in Robert Musils 'Törleß' finden. Dort resümiert der Erzähler nach einer Landschaftswahmehmung des Protagonisten: Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte, ein halbes Bewußtsein, daß die Worte nur zufallige Ausflüchte für das Empfundene waren. 227
Die Textpassage, aus der das obige Zitat stammt, kann in mehrfacher Hinsicht das oben Erläuterte deuüich machen: Die sprachliche Wiedergabe von Landschaft, noch mehr einer durch die subjektive Wahrnehmung des Betrachters gefilterten Räumlichkeit, wird im Text selbst als problematisch vorgeführt. Nimmt man den Textkontext, ein erinnertes Gespräch zwischen Törleß und seinem Vater, hinzu, wird sogar eine Reflexion auf die Diskursabhängigkeit der sprachlichen Äußerung bemerkbar. Die Erinnerung an diesen Landschaftseindruck ist für den Erzähler Anlaß zu essayistischen Äußerungen über 'Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn', die allerdings, ganz anders als später im 'Mann ohne Eigenschaften', streng an die Empfindungen des Protagonisten gekoppelt bleiben.
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Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisi. Reinbek 1983. PS, S.65 [Die Ausgabe wird nach folgenden Sigeln zitiert: PS: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches; ER: Essays und Reden, Kritik; MoE: Der Mann ohne Eigenschaften],
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II. Raum- und Landschaftsrealisierungen in der Wiener Moderne Der Hauptteil der vorliegenden Untersuchung nähert sich von drei Seiten den Spezifika der Raum- und Landschaftsrealisierung in der Literatur des Jungen Wien. Der erste Abschnitt wird in drei Kapiteln verschiedene Realisierungsformen literarischer Landschaft in der Wiener Moderne beschreiben. Hier sollen eher 'formal' zu nennende Fragen des Textverfahrens und weniger inhaltliche Probleme der Texte diskutiert werden. Im zweiten Abschnitt werden intertextuelle und ikonographische Bezüge der Landschaftsrealisierungen herausgearbeitet. Solche Bezüge werden als Repräsentationen jener Kulturparadigmen gelesen, auf die sich die Texte der Wiener Moderne beziehen lassen und ohne die ein adäquates Verständnis der Realisierungen schlecht möglich wäre. Das letzte Kapitel dieses Abschnitts faßt das Verfahren und die Funktion solcher textuellen Repräsentationen unter dem Stichwort 'produktiver Historismus' zusammen. Der dritte Abschnitt geht davon aus, daß Räume und Landschaften in Texten - im Sinne einer zweiten Deutungsebene - als ein 'Sekundärtext' lesbar sein können: Ein Text evoziert Landschaften. Die Landschaften selbst sind als 'Texte' lesbar; sie können als konnotative Strukturen jener Landschaft interpretiert werden, die vom Wahrnehmenden produziert (und auch rezipiert) wird. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich also mit der Bedeutung von Landschaften innerhalb der Texte.
1. Realisierungsformen: »Aufbruch in die Moderne« »Aufbruch in die Moderne«1 hat Jens Rieckmann seine Untersuchungen über die »formativen Jahre des Jungen Wien«2 zwischen 1889 und 1893 überschrieben. Der Titel seiner Arbeit charakterisiert sehr gut, wo die Wiener Moderne und ihre zur Verfügung stehenden Textverfahren literaturgeschichtlich einzuordnen wären: im Graubereich zwischen der traditionellen Literatur des 19. Jahrhunderts und einer 'emphatisch' auftretenden Moderne, wobei für die vorliegende Untersuchung unerheblich ist, ob sich das Junge Wien 'auf dem Weg zur Moderne' befindet oder schon 'am Anfang der Moderne' steht.
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Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de siöcle. Frankfurt 2 1986. A.a.O., S.9.
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Auf der einen Seite finden sich in der Wiener Literatur um 1900 durchaus Textverfahren zur Landschaftsrealisierung, die erst in der 'klassischen' literarischen Moderne (Expressionismus, Kafka, Musil) an Bedeutung gewinnen. Auf der anderen Seite ist allerdings offensichtlich, daß die traditionellen, an der Mimesis orientierten Textverfahren des 19. Jahrhunderts recht dominant erscheinen. Das Bild, das sich einer typologisierenden Untersuchung von Realisierungsformen bietet, ist also kein einheitliches. In den Raum- und Landschaftserfahrungen darstellenden Textverfahren, die ja selbst - wie gezeigt - abhängig von den strukturellen Veränderungen der Moderne überhaupt und speziell vom Entstehen der Moderne-Diskurse sind, offenbart sich die Schwellensituation der Jung-Wiener Literatur zwischen Moderne und Tradition vielleicht am deutlichsten.3 Als allgemeine These läßt sich formulieren: Moderne - z.T. experimentelle - Textverfahren (z.B. 'Innerer Monolog') und neuere Formen der Gegenstandserfassung (z.B. 'Zoomen' von Bildausschnitten) finden sich in der avantgardistisch orientierten Literatur der Wiener Moderne häufig, wenn die Modernität der Realisierungsobjekte oder - anders als im 'Naturalismus' - die modern gesehene Problematik des Wahrnehmungsvorgangs profiliert werden soll. Hierzu wären Raumdarstellungen zu rechnen, die im Kontext moderner Diskurse stehen (z.B. innerhalb der impressionistischen Diskussion), die aus der Innensicht der Protagonisten geschildert werden oder die eine typisch moderne Wahrnehmungssituation vermitteln sollen (Eisenbahnfahrt, Großstadt). In diesen Verfahren und Formen erkennt man das Junge Wien als jene literarische Gruppe, »die einen weit nachhaltigeren Einfluß auf die Entwicklung der Moderne nahm als die naturalistische Richtung«4 . In drei Kapiteln sollen mit unterschiedlichen typologischen Zugängen primär 'formale' Aspekte literarischer Raumrealisierungen beschrieben werden. Dabei stehen die gegenüber der traditionellen Literatur neuen Aspekte im Vordergrund. Das Augenmerk der Untersuchung richtet sich also nicht auf die quantitativ häufigeren traditionellen Darstellungstechniken, sondern auf die im Sinne der obigen These interessantesten Beispiele. Das erste Kapitel typologisiert allgemein verschiedene Textverfahren zur Landschaftsdarstellung möglichst unabhängig vom Status der einzelnen Passagen im Text. Deskriptive Verfahren der Landschaftsrealisierung sind dabei von semiotischen und assoziativen Mitteln zu differenzieren.
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Vgl. Reinhard Urbach: Literatur der Jahrhundertwende in Wien. Desiderata. In: Peter Berner et al. (Hg.): Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne. München 1986. S.102f. und Wendelin Schmidt-Dengler: Literatur zwischen Dekadenz und Moderne. In: Traum und Wirklichkeit 1985, S.304f. Wendelin Schmidt-Dengler verdankt die Studie darüber hinaus einige wichtige brieflich mitgeteilte Hinweise. Rieckmann 2 1986, S.9.
Im zweiten Kapitel wird ein Zugang über unterschiedliche 'Points of view' und Darstellungssituationen versucht. Hier steht also der Status der Realisierung im Vordergrund. Ausschnitt und Perspektive der Raumrealisierung sind Themen des dritten Kapitels. Die Typologisierungen können sich auf relativ umfangreiche allgemeine Erkenntnisse der Forschungsliteratur stützen, die spezifiziert und anhand repräsentativer Fallstudien erörtert werden. Daß in ein und derselben Raumdarstellung unter Umständen verschiedene Realisierungstechniken nachzuweisen sind, versteht sich von selbst. a) Textverfahren Eine Landschaftsvorstellung kann im Text - vereinfacht gesehen - durch zwei Mittel realisiert werden: sie kann durch längere Deskriptionen entfaltet oder durch kürzere Textsignale, in der Regel 'allegorisch', mit Hilfe einer textfremden Referenz, aber auch 'symbolisch', mit Bezug auf einen vorher vermittelten Zeichenkontext, erschlossen werden.5 Die nicht beschreibenden Verfahren, die mit Textsignalen operieren, werden hier als assoziative und semiotische Momente der Landschaftskonstitution aufgefaßt und im Anschluß an die deskriptiven Verfahren behandelt. Deskriptive Verfahren Eberhard Lämmert verzeichnet in seinen 'Bauformen des Erzählens' verschiedene Deskriptionsformen, die nach ihrem Verhältnis zur zeitlichen Abfolge des erzählten Geschehens unterscheidbar sind: Vollkommen statisch und - bezogen auf die erzählte Zeit - zeitlos steht das »Bild« auf der einen Seite einer ganzen Palette von Beschreibungsmöglichkeiten, während die »Description en mouvement« als bewegte, der Darstellung nahe Illustrationsweise auf der gegenüberliegenden Seite zu situieren wäre.6 Zu den statischen Deskriptionen sind vor allem jene traditionellen 'realistischen' Landschaftsbeschreibungen zu rechnen, die systematisch und sukzessive ein Landschaftsbild zu erfassen suchen, ohne in der Regel die oft problematischen (modernen) Wahrnehmungs-
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Die unterscheidend benutzten Begriffe 'allegorisch' und 'symbolisch' sind hier im Sinne von Paul de Man verwendet. Vgl. Paul de Man: Allegorie und Symbol in der europäischen Frühromantik. In: Stefan Sonderegger, Alois M. Haas, Harald Burger (Hg.): Typologia Litterarum. FS Max Wehrli. Zürich 1969. S.403-425. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 2 1967. S.88. Lämmert bezieht sich hier auf Wolfgang Kayser und Thibaudet. Zum Verhältnis von Beschreibung und Erzählung und zum Problem beschreibender Passagen in lyrischen Texten vgl. Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukäcs. München 1972.
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bedingungen irgendwie in die Beschreibung zu integrieren. Solche Beschreibungen werden häufig verwendet, um den landschaftlichen 'Hintergrund' einer Erzählung auszubreiten7 . Oft interessiert sich die Wiener Moderne aber gerade für die Bedingungen, unter denen eine Landschaft wahrgenommen wird8 - schon weil sie in verschiedenen Diskursen der Moderne ausführlich thematisiert werden. Die Einbeziehung der Wahrnehmungsbedingungen führt - fast automatisch - zu modernen Deskriptionsformen: zur 'Description en mouvement', zur Beschreibung partikularer Wahrnehmungen, zur Aufzählung synästhetischer Erfahrungen oder zum Einsatz ungewöhnlicher Metaphern.
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Auch in der Literatur der Wiener Moderne kann man Fälle 'statischer' Landschaftsbilder finden: ein Beispiel wäre die Beschreibung einer Stadtlandschaft in Felix Saltens Novelle 'Femen'. Saltens Verfahren ist ein typisch realistisches, das das statische Bild eines geographisch genau bezeichneten Areals wiedergibt. Seine Novelle besteht, wie viele Novellen des österreichischen Realismus' (Marie v. EbnerEschenbach, Ferdinand v. Saar), aus Binnenerzählung und Erzählrahmen. Die Beschreibung bildet den Eingang zum Binnenstück; sie situiert (im Modus der Erinnerung und insofern findet sich auch hier ein indirekter Hinweis auf Wahmehmungsbedingungen) mit der Nennung überdauernder, auch heute noch im 18. Wiener Stadtbezirk eruierbarer Zeichen Ort und Zeit der eigentlichen Handlung: »Weißt Du, [...] wir haben damals im Cottage gewohnt. Es waren erst wenige Häuser, und die Türkenschanze war noch nicht so verbaut wie jetzt. Trat ich vors Thor aus dem Garten hinaus, lagen gleich die Felder da, und dehnten sich weithin, bis zu den grünen Waldhängen, bis zum Kahlenberg und zum Hermannskogel. Zwischen den Aeckern liefen schmale Wege, keine Fahrstraßen. Und Scheunen standen da und dort, die ich alle kannte. Aus den Saaten hoben sich die alten Türkenhäuschen mit den Schießscharten im verwitterten Gemäuer.« (Felix Saiten: Der Hinterbliebene. Kurze Novellen. Wien 1900. S.72f). Deiktische Hinweise ('da und dort') vervollständigen hier das deskriptive Verfahren.
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Ein gutes Beispiel für die Einbeziehung moderner Wahrnehmungsbedingungen ist Peter Altenbergs (ironische) Beschreibung des Wiener Rathausparks als »Wiener Oase« für »überempfindliche [...] Nerven«. Altenberg hebt die »Gesundheit ausströmenden kurzgeschorenen Wiesen« hervor, die »stets erfüllt« seien »mit Wasserleitungs-Feuchtigkeiten«.·, hier, im vielleicht kleinsten, wahrscheinlich übersichtlichsten, der zahlreichen Parks an der Ringstraße, sieht er »Gebüsche«, die »scheinbar in den Urwald führen«. In den Grünanlagen vor dem Haupteingang zum Rathaus der Millionenstadt fühlt er: »ich bin gar nicht mehr in der Großstadt«. Diese ironischen Formulierungen zielen auf verschiedene Aspekte modernen Lebens: Erstens verdeutlicht der Altenberg-Text die reduzierten Ansprüche an eine natürliche Umgebung als Folge des Lebens in der Großstadt, »diesem staubigen, schlechtgepflegten Häusermeere«. Zweitens konfrontiert der Text die Erholungsmöglichkeiten einfacherer Menschen in den Parks der Donaumetropole mit den Kurorten der besseren Gesellschaft, mit »Karlsbad, Marienbad, Franzensbad«. Schließlich hat er noch die entfremdeten Wahrnehmungsweisen der Großstadtmenschen, die bei 'dichten und dunklen Gebüschen' gleich an den »Urwald« denken, im Visier. Alle Zitate: Peter Altenberg: Das große Peter Altenberg Buch. Hg.v. Werner J.Schweiger. Wien, Hamburg 1977. S.168.
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Die Landschaft, die Schwendar, ein Dragoner aus Hofmannsthals 'Soldatengeschichte', wahrnimmt, wird durch eine 'Description en mouvement' erfaßt. Die Landschaftsbeschreibung verfolgt wie eine Filmkamera (»Camera eye«9) die jeweilige Blickrichtung des Protagonisten. Die Beschreibung der sich verändernden Landschaft zeichnet Schwendars Weg durch den Wald nach. Sie fokussiert nur den jeweiligen - höchst subjektiven - Bildeindruck des Betrachters. Verschiedene aus der Bewegung entstehende Bildfragmente werden nacheinander wiedergegeben: Immer tiefer trieb es ihn in den Wald hinein. [...] Vor ihm schien der Wald sich zu lichten. Etwas Rötliches schwebte vor seinen Augen, ein rötlichblauer Schimmer zog sich quer über den Weg. Als er näher kam, waren es viele Salbeiblüten zwischen den dämmernden Büschen. Er sah sie aufmerksam an, aber wie er die Augen hob und weiterging, flog das Rötliche wieder vor ihm wie ein schwebender Schleier. Dann lag es auf dem Stamm einer vorgeneigten Birke, die halbversteckt lauernd seitwärts, wie ein roter Fleck. Dann kam es von allen Seiten ein ganzer blutroter Schleier, warf blutige große Flecken auf das kugelige Grün der dichten Büsche, auf die weißen Stämme. 10
Die roten Flecken, die Schwendar wahrnimmt, kommen von der untergehenden Sonne; sie lassen ihn an Blut und Tod denken. Die Landschaftswahrnehmungen gehören zu einer ganzen Reihe von Lichterscheinungen, die der Dragoner als »Zeichen«11 deutet. Aus diesen »Zeichen« leitet er schließlich eine Religiosität ab, die ihn aus einer fundamentalen Sinn- und Identitätskrise befreit. Die Beschreibung der Wahrnehmung von Lichteindrücken als eigenständige Bildelemente erinnert an impressionistische Techniken in der bildenden Kunst. Im sukzessiven Nachvollzug der verschiedenen Blicke Schwendars liegt durchaus auch eine 'impressionistische' Intention: der Text interessiert sich nicht für eine Waldlandschaft an sich, sondern nur
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Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 4 1989. S.160f. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.71f. Hofmannsthals »Vision zum St. Magdalenentag« von 1889 mit dem Titel 'Der Geiger von Traunsee' entwirft ebenfalls ein bewegtes Bild einer Landschaft: »Hier, an der Grenze von Wald und Flut bilden sich zahllose kleine Buchten, dem landenden Kahne günstig, bieten wechselnde Einschnitte, schattig überhangende Lauben ein wechselnd bewegtes Bild.« (Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.13.) Die Landschaftsbeschreibung verfolgt wie eine Filmkamera verschiedene Blicke: von der Totalen wendet sich die Beschreibung einzelnen Aspekten des Bildes zu; sie sieht schließlich die einzelnen Buchten, die dem vorüberfahrenden Kahn »wechselnd bewegte Bilder« zeigen. Im Folgenden werden diese Buchten näher betrachtet und schließlich jenes »Fleckchen Erde, weltvergessen und weltentlegen« (a.a.O.) gefunden, das der Ich-Erzähler schon lange gesucht hat: den Ort der Inspiration, des Hinwegträumens in die 'erhabene' Landschaft des 'Geigers von Traunsee'. A.a.O., S.78, 79, 80.
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für eine in Blicken wahrgenommene - für die Realität farbiger Erscheinungen. Deshalb tritt die Bildkomposition hinter die Bildbewegungen zurück. Einzelne hintereinander gestaffelte Bilder können nicht konstatiert werden. Der Übergang zwischen den einzelnen Eindrücken ist fließend; die Wahrnehmungen sind ostentativ (grammatisch und motivisch) miteinander verbunden. Auch Richard Beer-Hofmanns frühe Novelle 'Das Kind' nimmt 'impressionistische' Sujets auf und lehnt sich wie die 'Soldatengeschichte' an Wahrnehmungstechniken dieser Kunstrichtung an. Ein Beispiel hierfür ist folgende erinnerte Landschaft, die auf vorher Beschriebenes beziehbar ist.12 Den Landschaftseindruck, der wie die gesamte Novelle »gänzlich aus der Innenperspektive des Helden«13 geschildert wird, umreißt Paul in nur wenigen Stichworten. Verschiedene bewegte Szenen der Erinnerung 'verdichten' sich zu einem Bild. Und er erinnerte sich an die beiden weißen Falter, die er im Hofe des Dorfwirtshauses sah, wie sie spielend einander jagten, bis sie in eins verbunden über die Wiesen glitten, und er sah den Hof wieder, im Sonnenlicht, und dann die Wirtsstube, - und den Dorfplatz - und die Dorfstraße, - aber das Alles wie zusammengedrängt in ein Bild; klar, deutlich, greifbar, vor Augen, - und doch anders!14
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Die ursprünglich gesehene Landschaft, auf die sich Pauls Erinnerung beziehen läßt, wäre paradigmatisch als description en mouvement zu bezeichnen. Dort lassen die Bewegungen in der Landschaft eher an eine ländliche Szene denken, als an ein starres Gemälde: Bauern, Mägde und Kinder gehören zu dieser ständig in Bewegung befindlichen ländlichen Idylle genauso wie Tiere, Blumen, Geschirr oder verschiedene Lichteinfälle (vgl. Richard Beer-Hofmann: Novellen. Berlin 1893. S.73ff.). Die nuancenreich wahrgenommene ländliche Szene entspricht durchaus Pauls Selbsteinschätzung als »Mann der überfeinen Nuancen« (a.a.O., S.24). Er sieht Bilder, die sich in Bewegungen auflösen und bewegte Szenen, die zum 'Bild' erstarren; auch hier werden Blicke nachgezeichnet und Blickbewegungen beschrieben: »Dann schien es Paul, als glitten sie beide [Magd und Bursche] langsam nach unten in eine Versenkung und das offene Fenster, das das Bild gerahmt hatte, Schloß nur ein Stilleben ein« (a.a.O., S.73). Immer wieder finden sich Hinweise auf das zeitliche Nacheinander der Landschaftselemente, auf Gerüche und akustische Reize, die eine Landschaftskonstitution als Bild nur für Sekunden erlauben. Vielfalt und Bewegung sind die dominierenden Eigenschaften dieser Landschaft und der Art und Weise ihrer Wahrnehmung.
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Markus Fischer 1986, S.175. Vgl. auch Hartmut Scheible: Literarischer Jugendstil in Wien. München, Zürich 1984. S.73. Was Scheible dazu bewegt, im Laufe seiner Interpretation neben der »Perspektive einer einzigen Gestalt« (S.73) doch noch eine 'spöttische' Erzähler-Perspektive zu konstatieren (S.85), wird nicht deutlich, zumal seine Belegstelle (Beer-Hofmann 1893, S.58) auch als Gedanke Pauls - verfaßt in erlebter Rede - lesbar ist. Beer-Hofmann 1893, S.78.
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In mancher Hinsicht könnte man hier von einem 'impressionistischen' Landschaftsbild sprechen; Sonnenlicht, Wirtshaus, Dorfplatz könnten Gemälden Liebermanns oder Slevogts entstammen. Dazu kommt die 'gerundete' Form: Paul sieht nicht mehr eine »Summe einzelner Naturgegenstände15, sondern eine »Einheit«, deren Gemeinsames Simmel in seiner 'Philosophie der Landschaft' mit dem Begriff »Stimmung«16 umreißt. Dabei scheint es für die Konstitution des Landschaftsbildes unerheblich, daß nicht nur räumlich und zeitlich auseinanderliegende Eindrücke, sondern auch ein Innenraum in das 'Bild' integriert werden. Die ursprünglich ineinander übergehenden Bewegungen seiner Wahrnehmungen werden zu einzelnen Momenten eines Bildes: Hof, Wiese, Wirtsstube, Dorf. Beer-Hofmanns Protagonist Paul wird später diese Landschaft symbolisch begreifen; sie eröffnet ihm einen philosophischen Gedanken, der ihn für Augenblicke von den Schuldgefühlen befreit, die er gegenüber seinem toten Kind hegt.17 Das monistische Sich-Wiederfinden »im Haushalt der natürlichen Natur«18, wie Hofmannsthal in einem Brief an Beer-Hofmann formuliert, läßt Paul seine Mitschuld am Tod des Kindes nicht mehr als Versündigung gegen die »Gesetze der Natur«19 verstehen. Nicht blos Form und Farbe hatten die Dinge, - hinter ihnen war ein geheimer Sinn, der sie durchleuchtete, sie standen nicht mehr fremd nebeneinander, - ein Gedanke schlang ein Band um sie! [...] Die Natur! 20
Das Verfahren, bewegte Bilder darzustellen, wandelt sich in BeerHofmanns Hauptwerk 'Der Tod Georgs' zur Beschreibung partikularer Wahrnehmungen. Beschreibt die 'Description en mouvement' sich bewegende Bilder und Blicke, die als Elemente eines Wahrnehmungszusammenhangs aufeinander beziehbar bleiben - deutlich wird dies etwa durch
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Simmel 1984, S.135. A.a.O., S.136. Zu dieser Interpretation vgl. Markus Fischer 1986, S. 182ff. Rainer Hank (vgl. Hank 1984, S.30ff.) sieht - im Gegensatz zu Fischer - keine temporäre Bewältigung der Krise Pauls durch ein augenblicklich adaptiertes Konzept, sondern eine prinzipiell gemeinte philosophische Lösung. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch - ohne Kenntnis der Arbeit von Hank - Hartmut Scheible. Die Novelle erscheint ihm, vom Schluß her betrachtet, als »Geschichte einer Heilung« (Scheible 1984, S.90). Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel. Hg.v. Eugene Weber. Frankfurt 1972. S.24 (Brief Hofmannsthals v. 16.7.1893). Zum Verhältnis monistischer Gedanken zum Impressionismus vgl. Manfred Diersch: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin 1977. S.24-41 u. 63-82. Beer-Hofmann 1893, S.76. A.a.O., S.78f.
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die monistische Zusammenschau der erinnerten Landschaft oben - , erfaßt die Beschreibung partikularer Wahrnehmungen Elemente, die aus ihrem Kontext isoliert werden und bestenfalls als Fragment auf den wahrgenommenen Raum zurückweisen. Paul, der Protagonist in Beer-Hofmanns 'Tod Georgs', nimmt während einer Zugfahrt21 verschiedene Eindrücke wahr. Die einzelnen Land-
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Vgl. Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. Nachwort v. Hartmut Scheible. Stuttgart 1980. S.71ff. Fast jeder Dichter des Wiener Fin de sifecles thematisiert ein Landschaftserlebnis aus dem fahrenden Zug: nicht nur Beer-Hofmann im 'Tod Georgs', sondern auch Saiten in der Novelle 'Flucht' (Vgl. Saiten 1900, S.37-63. Eine kurze Interpretation dieser Novelle findet sich in: Markus Fischer 1986, S.374), Schnitzler in 'Der Weg ins Freie' (Vgl. Schnitzer 1977-1979[b], S.163) oder Robert Musil in 'Die Vollendung der Liebe' (Vgl. Musil 1983, PS, S.167); sogar Andrian im 'Garten der Erkenntnis' bemerkt die Anonymität der Sekunden-Wahrnehmungen aus dem Zugfenster (Vgl. Leopold Andrian: Der Garten der Erkenntnis. Nachwort v. Iris Paetzke. Zürich 1990. S.13). Hofmannsthal beschreibt den Blick aus modernen, schnellen Fortbewegungsmitteln in der späten Reiseskizze 'Sizilien und Wir' als visuelle Okkupation der Landschaft, die durch die schnelle Blickfolge möglich ist: »So sehen wir schon vorübergehend, was wir morgen sehen werden. [...] Wir beherrschen den Raum.« (Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.660) In Jacob Julius Davids Erzählung 'Digitalis' benutzt der Held auf der Fahrt in den Süden die schon erwähnte Eisenbahnlinie über den Semmering. Die Beschreibung seiner Fahrt ist die Aneinanderreihung verschiedener Blicke: »Er saB stumm und in sich versunken am Fenster, sah die Stadt, die prächtigen Villenorte längs der Linie an sich vorüberfliegen, endlich über der weiten Ebene die feierlichen Mauem und Zinken der Alpen aufsteigen. Diesen zu ging's. Grüne Wasser tauchten geheimnisvoll auf und flössen dann rasch und spiegelnd durch tiefe und waldgrüne Gründe. Höher ging's; in unzähligen Kehren und Windungen; über Brücken, Viadukte, durch Tunnels. Er saß im letzten Wagen und so, daß er nach rückwärts sehen konnte und so bei jedem Tunnel durch einen sehr kleinen Rahmen einen umgrenzten Ausschnitt der Landschaft und ihres Reizes genoß.« (Jacob Julius David: Digitalis. In: Joseph Peter Strelka (Hg.): Alt-Wiener Geschichten. Frankfurt 1984. S.143f.) Diese Aufzählung von Wahrnehmungselementen, die durch die Verwendung verkürzter Satzwendungen unterstützt wird, dient der Darstellung eines Landschaftserlebnisses, das aus mehreren unabhängig voneinander existierenden und schnell hintereinander folgenden Eindrücken zusammengesetzt ist. Keiner dieser Eindrücke besteht für sich; sie sind Komponenten eines Erlebnisses. Auch hier findet sich - wie bei Andrian - der Hinweis auf die Anonymität der Landschaftselemente; diese tauchen »geheimnisvoll auf« oder sind namenlos und unzählig. Die Landschaftsbeschreibung von David endet mit der Hervorhebung eines Landschaftserlebnisses, das bewußt nur Ausschnitte wahrnimmt. Der Erzähler nimmt dabei Momente moderner Perspektivengestaltung auf: das Exponieren einzelner Ausschnitte und die Wahrnehmung der Landschaft in durch die Technik bestimmten raschen Blickfolgen und Blickzeiten. Die Möglichkeit des Blicks durch den Tunnel auf einen kleinen Landschaftsausschnitt eröffnet sich in angemessener Häufigkeit eigentlich nur in der damals relativ neu erbauten Bergbahn. Diese moderne Wahrnehmungsweise erscheint aber gleichzeitig als Garant dafür, überhaupt etwas von den unübersehbaren Mengen an partikularen Bildeindrücken 'genießen' zu können, die
schaftsfragmente sind nicht mehr in ein geschlossenes Bild zu bringen, sondern reihen sich unverbunden aneinander. Er mußte die Augen fast schließen, so grell leuchtete der weiße Kies. Durch einen schmalen Wiesenstreif vom Geleise getrennt, war gelber Lehmboden zu einem tiefen Kessel abgegraben. Unter niedern langgestreckten Dächern waren Ziegel geschichtet. In trüben Lachen stand versumpfendes Wasser.22
Hier erscheint die Rekonstruktion der Verhältnisse der einzelnen Eindrücke zueinander völlig unmöglich. Es könnten wenige Meter oder ganze Kilometer zwischen den Wahrnehmungselementen liegen. Eine Raumvorstellung ist deshalb kaum evozierbar. Selbst der Anhaltspunkt, den die 'Geleise' bieten, ist nur relativ zu verstehen, denn aus der Beschreibung geht nicht hervor, ob die eigenen oder fremde 'Geleise' gemeint sind oder ob sich der Zug in einer Kurve befindet, so daß auf den vorher passierten Schienenstrang gesehen werden kann. Unspezifisch erscheinen im nachhinein auch die Beschreibungsvokabeln. BeerHofmann verwendet in den Landschaftsbeschreibungen die gleichen Worte, um das Anlitz eines Bauern zu beschreiben, den Paul vom Zug aus sieht: Glanzlose Augen lagen wie trübe, zufrierende Lachen in dunkeln tiefgeschaufelten Gruben.23
Rainer Hank weist zu Recht darauf hin, daß Pauls Blick von der Eisenbahn auf die Landschaft paradigmatisch moderne Wahrnehmungsbedingungen aufgreift, die erst durch die erhöhte Reisegeschwindigkeit, letztlich durch die Industrialisierung, hervorgerufen werden.24 Die parti-
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die moderne Reiseart auf den Wahrnehmenden einstürzen läßt; sie ist das regulierende Moment. Beer-Hofmann 1980, S.71. A.a.O., S. 72. Vgl. Scheible 1984, S.132 und Hank 1984, S.147ff. Hanks These, die Wahrnehmungen Pauls würden an »panoramatisches Sehen« (S.148) erinnern, bei denen der Betrachter sich souverän »im Zentrum« (S.148) erfahrt, scheint allerdings zweifelhaft. Die - mit Berufung auf Wolfgang Schivelbusch (vgl. Schivelbusch 1979, S.51-66) konstatierte Parallele setzt »die Konzentration des Blicks auf den ruhigen, den Gesamtüberblick ermöglichenden Hintergrund« (Hank 1984, S.149) voraus. Hiervon kann bei Pauls partikularen Wahrnehmungen wohl kaum die Rede sein. Ansonsten wäre auch Pauls veränderndes Sehen, wären seine imaginierten Bilder während der Fahrt, die Hank auch bemerkt und sogar als »esoterische Erfahrung« (S.152) kennzeichnet, kaum verständlich. Der Sicherheit bietende Blick ins Panorama benötigt keine Ergänzungen. Auf den Realitätsstatus der Wahrnehmungen Pauls, auf seine Fähigkeiten, Bildwelten einerseits zu imaginieren, anderseits von diesen fast patho-
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kularen Wahrnehmungen Pauls zeichnen insofern Krisenphänomene nach, denen das moderne Subjekt ausgeliefert ist. Als ein analoges Problem zu der Beschreibung partikularer Wahrnehmungen, also zu der Frage, wie disparate Elemente der Wahrnehmung in eine Landschaftsdeskription zu integrieren sind, kann die Wiedergabe synästhetischer Wahrnehmungsphänomene gesehen werden. Bahrs Formulierung, »Czernowitz sei eine unangenehm, gelb riechende Stadt«25 aus seinem Essay 'Colour Music', zeigt, wie im Fin de sifecle Färb- und Geruchsempfindungen zur Charakterisierung eines Ortes herangezogen werden. Wie die Beschreibung partikularer Wahrnehmungen beschränkt sich in der Regel auch die deskriptive Integration der synästhetischen Wahrnehmung in Landschaftsdarstellungen auf Aufzählungen und Reihungen der Eindrücke. Räumlichkeit im eigentlichen Sinne, wie sie noch bei der description en mouvement bemerkbar ist, entsteht nicht, weil die synästhetischen Eindrücke selbst auf keine gewöhnlichen - primär visuellen - Raumerfahrungen referieren und weil sie nur schwer in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Die Landschaftserinnerungen in Altenbergs 'Ereignis' aus dem 'Semmering'-Buch von 1913 sind Beispiele solcher synästhetischen Wahrnehmung: EREIGNIS Am 24. Juli haben sie die Bergwiesen gemäht hingeschnitten die diskreten Farben eines alten Perserteppichs die Duft-Symphonien abgebrochen unserer 'musikalischen Nasen'! Wie ein Kapellmeister 'abgeklopft'. Frischer einfacher Heuduft wurde sogleich, und schon ahnte man feiste Kühe mit den Stampfmühlen ihrer feuchten Mäuler für die rosigen Euter es vorbereiten! Wie Urkraftrausch wäret ihr, Bergwiesen, bis zum 24.Juli. Es dröhnte von Hummeln; es schimmerte braunwolkig, distellila, schafgarbenweiß, königskerzengelb, arnikagold; es roch wie 'Menagerie', 'Apotheke'; wie Bienenhonig schmeckt, so roch es im vorhinein. Es betäubte süß und belebte. Es vermittelte: sanft einschlummern, frisch erwachen! Nun ist es nicht mehr. 26
Altenberg versucht die 'Stimmung' dieses elegischen Textes um abgemähte Bergwiesen durch eine Reihe spezifischer Färb- und Geruchswahrnehmungen darzustellen; die Landschaft wird nicht direkt beschrieben, sondern indirekt als Wahrnehmungsereignis erfaßt. Die einzelnen
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logisch abhängig zu sein, wird an späterer Stelle eingegangen: vgl. das Kapitel 'Landschaft als Fluchtraum'. Hermann Bahr: Colour Music [1891]. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.233. Altenberg 1977, S.415 ('Ereignis').
Wahrnehmungselemente nuanciert der Text durch Reihungen ungewöhnlicher Komposita und Stichworte aus naturfremden Bereichen, die Gerüche oder Geschmacksempfindungen assoziieren sollen. Die Textbewegung beginnt mit einer sachlichen Aussage über eine abgemähte Wiese; sie verläuft von der Evokation eines allgemeineren synästhetischen Wahrnehmungserlebnisses, das möglichst viele Nuancen der Wiesen enthalten soll, über konkrete Assoziationen und synästhetische Einzelempfindungen zu allgemeineren anaphorisch aneinander gebundenen Aussagen, die die Folgen einer solchen Landschaftserfahrung betreffen. Diese Aussagen haben durch das - nicht auf ein im Kontext erwähntes Substantiv beziehbare - Pronomen und den schlichten Satzbau wieder einen deutlich sachlichen Charakter. Die grammatische Konstruktion legt die Interpretation des Pronomens als expletives Es27 nahe: eine analoge Formulierung zu »es betäubte« wäre dann etwa »es regnete«. Im Gegensatz zum Verb 'regnen' ist die Besetzung der Subjektstelle bei den Verben 'betäuben' und 'vermitteln' mit einem Substantiv üblich. Weil Altenberg die Subjektstelle hier mit einem expletiven Es ausfüllt, haben die Aussagen einen allgemeineren, unspezifischeren Charakter; die Herkunft der Wahrnehmungen ist nur unkonkret bestimmbar. An den Schluß dieser kleinen Prosaskizze setzt Altenberg eine stark elegische Sentenz, die die Wahrnehmungen als unwiederbringlich akzentuieren soll und inhaltlich den Eingang der Skizze wiederaufnimmt. Durch die grammatikalischen Verkürzungen, durch ungewöhnlichen Satzbau und durch die befremdlichen Komposita ist der Mittelteil des Textes als Wahrnehmungsbeschreibung nur schwer verständlich. Er erfordert ein assoziatives Lesen. Die Häufung der die verschiedensten Sinne betreffenden Wahrnehmungen, die im Mittelteil erwähnt werden, scheint auf die kaum zu bewältigende Fülle an Eindrücken anzuspielen, die man auf den Bergwiesen vor dem »24. Juli« sammeln konnte. Die Wiedergabe und Thematisierung einer solchen Fülle könnte man als 'Unsagbarkeits-Topos' der Moderne verstehen. Durch den Hinweis auf die Fülle erscheinen die sprachlich klareren Anfangs- und Endsequenzen noch gewichtiger: der Eindruck dieser (vorerst) verlorenen Landschaft sei nur schwer vermittelbar. Synästhetische Wahrnehmungen tendieren zur Metapher. Als sprachliche Bilder verweisen sie zwar nicht auf ein geschlossenes Bild, aber auf landschaftliche, also durchaus auch bildliche Assoziationen und damit letztlich auch auf bildliche Vorstellungen. Insofern gehören die referierten synästhetischen Wahrnehmungen auch in den Kontext bildlicher Verfahren der Deskription.
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Vgl. hierzu: Ulrich Engel: Deutsche Grammatik. Heidelberg 1988. S.190 und 309.
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Eine Variante solcher bildlichen Verfahren, die typisch für die Literatur der Wiener Moderne ist, sollte wenigstens kurz erwähnt werden. Bildliche Mittel setzen die Jung-Wiener oft ein, um eine Raum- oder Landschaftsvorstellung bewußt undeutlich, vage zu zeichnen: Im 'Satanella'-Zyklus von Felix Dörmann erscheint »in vollen Strömen« flutendes »blaugrünes Ampellicht« etwa »wie zitternder Weihrauchdampf, wie eine phosphorschimmernde Mondesgloriole«28 um das Haupt der verruchten Geliebten. Die bildliche Sprache der Deskription dient hier dazu, dem eher trivialen 'Ampellicht* einen geheimnisvollen Nimbus zu geben. Eine so verfahrende Raumbeschreibung paßt zur prinzipiellen Einstellung der Dörmann-Gedichte zu Gefühls- und Erlebnisdarstellungen, von denen Jens Rieckmann mit Recht sagt, sie seien »stilisiert, gesteigert und entstellt«29 intendiert. Übersteigerung und verweigerte Klarheit gehören zum im Titel präsentierten Programm der Gedichtbände 'Neurotica' und 'Sensationen'. Semiotische und assoziative Momente Raum- und Landschaftsvorstellungen werden nicht nur durch längere Beschreibungen entfaltet, sondern oft auch durch wenige assoziative oder semiotische Signale evoziert.30 Um dieses Verfahren der Raum- und Landschaftsrealisierung geht es im folgenden.
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Felix Dörmann: Neurotica. Dresden, Leipzig 1891. S.68. Rieckmann 2 1986, S. 114. Neben den bislang beschriebenen auffalligsten Realisierungsverfahren der Wiener Moderne kann man vereinzelt weitere Momente der Raumkonstitution eruieren. Zu nennen wäre etwa die Montage und das Zitat. Die Montage ist um 1900 in der Regel kein Mittel der literarischen Gestaltung. Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, in der 'Neuen Sachlichkeit', finden sich gehäuft Beispiele von montierten Texten; gewöhnlich werden dabei verschiedene Medien genutzt und möglichst in ihrer eigenen Struktur und Sprechweise belassen in die Texte eingearbeitet. Als die bekanntesten Beispiele von Raumkonstitutionen durch Montage in der Wiener Literatur der ersten Hälfte des Jahrhunderts können die Texte von Karl Kraus gelten. Seine 'Reklamefahrten zur Hölle' aus dem Jahr 1921 dokumentieren beispielsweise mit Hilfe eines Textteils, der äußerlich abgesetzt als Anzeige kenntlich gemacht ist, »Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto« (Karl Kraus: Reklamefarten zur Hölle. In: Die Fackel 577-82,1921, S.96-98), die die 'Baseler Nachrichten' veranstalten. Dabei imitiert Kraus im nicht montierten Textteil ironisch den Tonfall der in den Text eingeschalteten Anzeige. Im Unterschied zur Montage wird das Zitat weitestgehend homogener Bestandteil des Textes; es wird konsistenter in den Text einbezogen - sei es durch Kommentierung, sei es dadurch, daß es als Nachweis benutzt wird oder einfach nicht mehr als Fremdkörper erkennbar ist. Man denke nur an Hofmannsthals Erzählung 'Erlebnis des Marschalls von Bassompierre', die über weite Passagen wörtlich die gleichlautende Erzählung Goethes aus den 'Unterhaltungen deutscher
Zuerst seien die hier verwendeten Begriffe 'Assoziation* und 'Zeichen' präzisiert31: Eine Assoziation besteht aus einem kurzen Textteil mit Gerhard Hoffmann dem »Assoziationsstimulus«32 - und einem Vorstellungsbereich, der mit diesem semantisch verbunden wird. Betrachtet man die Oberflächenstruktur, unterscheidet sich eine Assoziation im Grunde also nicht von einem Zeichen. Bei genauerem Hinschauen bietet sich allerdings ein 'graduell' anderes Bild: Bei der Assoziation korrelieren der textuelle und der assoziierte Bereich weniger streng, während ein 'Zeichen' eine streng gesetzte Verbindung des Signifikaten mit dem signifikanten Bereich impliziert. Liegt die konventionelle Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem fest, läßt der Gebrauch von Textteilen, die zum besseren Verständnis Assoziationen erfordern, bewußt die Möglichkeit verschieden nuancierter Interpretationen. Beim Zeichen ist der Signifikate mit dem signifikanten Bereich zwar rational und deflatorisch festgelegt, die Verbindung kann im Grunde aber willkürlich bleiben: Zeichen und Bezeichnetes müssen außer dieser 'gesetzten' Verbindung nichts miteinander zu tun haben.33
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Ausgewanderten' zitiert, ohne daß ein Unterschied zwischen Hofmannsthalscher und Goethescher Rede bemerkbar wäre. An dieser Stelle soll keine Begriffsdiskussion geführt werden. Der hier vorgeschlagene Gebrauch von 'Assoziation' und 'Zeichen' orientiert sich an gängigen Verwendungsweisen der Begriffe: vgl. etwa Manfred Lurker: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 4 1988. S.698 und 823. Gerhard Hoffmann 1978, S.267. Vgl. S.267-444. Das 'Zeichen' unterscheidet sich hier von dem engeren Begriff des 'Symbols': Symbole gehören zu der Gruppe der Zeichen, allerdings sind nicht alle Zeichen Symbole. Das 'Symbol' steht in gewisser Weise im semantischen Umfeld des Bedeutungsbereichs und partizipiert also am Symbolisierten. Während ein nicht-symbolisches Zeichen austauschbar ist, besteht zwischen dem symbolischen Zeichen und dem von ihm Bezeichneten eine semantische Verbindung. In der Regel repräsentiert das 'Symbol' als Teil ein Ganzes. Es ist - als 'Symbol' - das Bezeichnete: »Im Bereich des Symbols wäre es möglich, daß Bild und Symbol zusammenfallen; denn die Substanz und ihre Darstellung unterscheiden sich in dieser Sprache nicht seinsmäßig, sondern nur ausdehnungsmäßig« (Paul de Man 1969, S.423). Eine solche Verwendung des Begriffs legt nicht zuletzt die ursprüngliche Bedeutung des griechischen συμβολον nahe. Anders die 'Allegorie': »Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten.« (Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg.v. Rolf Tiedemann. Frankfurt 21982. S.152.) Ein 'allegorisches' Zeichen referiert auf eine dem Zeichen fremde Welt; »der Bezug zwischen« ihm »und seinem Sinn ist nicht notwendigerweise dogmatisch festgelegt« (Paul de Man 1969, S.423). Es ist zwar nicht - wie bei einer bloßen Assoziation offen interpretierbar, aber prinzipiell veränderbar, weil es das Resultat einer festgelegten, aber aufhebbaren Konvention ist. Ein »Abgrund« (Benjamin 2 1986, S.144), eine Distanz zwischen Signifikant und Signifikat ist im Begriff des 'allegorischen' Zeichens mitgedacht, während sich im 'Symbol' die »Möglichkeit einer Identität oder Identifikation postuliert« (Paul de Man 1969, S.424).
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Der Aufbau von Räumen und Landschaften interessiert nur dann als semiotisch deutbare Erscheinung, wenn er als Kultur- und damit als Kommunikationsphänomen34 angesehen wird. Die Natur an sich ist deshalb für eine semiotische Untersuchung kein Gegenstand; sie ist es nur als kulturell vermittelte - z.B. als ästhetisch gesehene Landschaft in der Literatur oder bildenden Kunst. Das Verständnis eines semiotischen (und entsprechend weit gefaßt auch eines assoziativen) Hinweises in Raum- und Landschaftsrealisierungen hängt von seinem kulturellen Kontext, von den Diskursen, in denen er ausgesprochen wird, ab. Eine Landschaft, die mit assoziativen und semiotischen Mitteln realisiert wird, setzt beim Rezipienten ein spezifisches kulturelles Wissen voraus, das jenseits des prinzipiell semiotischen Charakters der Sprache liegt.35 Eine Unterscheidung der assoziativen und semiotischen Momente von Landschaftsrealisierungen nach verschiedenen kulturellen Kontexten, die unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten entsprechen, bietet sich deshalb an. Drei größere Bereiche, auf die sich die Assoziationsstimuli und Zeichen von Landschaften der Wiener Moderne beziehen lassen, können unterschieden werden. Assoziative und semiotische Hinweise verweisen auf allgemeines kulturelles Wissen (z.B. auf eine historische Konstellation oder reale
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Vgl. hierzu Eco 1972 [1968]. Eco schreibt: »Die ganze Kultur muß als Kommunikationsphänomen untersucht werden« (a.a.O., S.33). »Alle Kulturphänomene [können selbst] Gegenstand von Kommunikation werden« (a.a.O., S.36). »Die Semiotik untersucht alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse« (a.a.O., S.38). Im Rahmen der semiotischen und assoziativen Raumkonstitutionen sind auch die Deiktika zu erwähnen; auch hier verweist ein kürzeres Textsignal auf einen größeren Komplex. Käte Hamburgers Ausführungen zur epischen Fiktion konstatieren bekanntlich, daß »die deiktischen Adverbien, die zeitlichen wie räumlichen, [...] in der Fiktion ihre deiktische [...] Funktion, die sie in der Wirklichkeitsaussage haben«, verlieren und »zu Symbolen« werden, »bei denen die räumliche bzw. zeitliche Anschauung zu Begriffen verblaßt« (Hamburger 3 1977, S.110). Obwohl es zweifellos richtig ist, daß die Deiktika in der Fiktion eine andere Funktion haben als in der Realität, wird man kaum bezweifeln können, daß ihr Status in Texten von dem anderer Verfahren der Fiktion, besonders dem 'Erzählen' oder konkreten 'Beschreiben' zu unterscheiden ist. Deiktische Aussagen werden nur insofern »zu Symbolen« - im Grunde müßte man vielleicht von 'Zeichen' sprechen - als ihre Geltung bestenfalls im Rahmen der Fiktion oder eines Diskurses, auf den referiert wird, bestimmbar ist. Das Spezifische einer Raumkonstitution mit deiktischen Mitteln ist, daß auf etwas verwiesen wird, was nicht beschrieben werden soll, gleichwohl entweder aber als bekannt vorausgesetzt werden muß, weil es innerhalb der Fiktion einer allgemein bekannten Wirklichkeit angehört, oder für die Raumkonstitution irrelevant ist, und deshalb die Deiktika einen nur 'gestischen' Charakter haben. Ein bloß mit deiktischen Vokabeln erschlossener Raum wäre also vor allem aus dem Erzähl- oder Diskurskontext erschließbar.
Örtlichkeit36), auf spezifische Diskurse und Diskursformationen der Wiener Moderne (z.B. auf ein bestimmtes Verständnis von einer Örtlichkeit innerhalb eines Diskurses) oder auf nur vage bestimmbare 'Stimmungskontexte', letztlich auf eine gewisse Lösung der Signifikanten von den Signifikaten und ihren ursprünglichen Kontexten. Die Möglichkeit der definitiven 'Entzifferung' einer Landschaft ist von Bereich zu Bereich offensichtlich immer weniger intendiert. Die Bereiche geben Grade der kulturellen Beschränkung semiotisch und assoziativ codierter Landschaften an. Generell gilt, daß Assoziationsstimuli leichter 'überlesen' werden können, also weniger konstitutiv für die verschlüsselte Landschaftsrealisierung erscheinen, als festgelegte Zeichen. Beispiele aus dem ersten Bereich, der im 'kollektiven Gedächtnis'37 verfügbaren Signifikant/Signifikat-Relationen, gibt es viele. Gemeint sind solche Hinweise, von denen angenommen werden kann, daß sie zumindest in intellektuellen Kreisen um 1900 selbstverständlich verstanden werden. Solche Zeichen sind Bestandteil des kulturellen Wissens dieser Gesellschaftsgruppe. Ein Beispiel hierfür ist Richard Beer-Hofmanns 'Gedenkrede auf Wolfgang Amade Mozart' von 1906. Sie beginnt mit zwei Landschaftsbeschreibungen, die den Geburtsort des Musikers weniger 'geographisch' - wie Werner Vordtriede in seinen Gesprächen mit dem Dichter bemerkt38 - , sondern eher 'semiotisch' bestimmen. Unter Verwendung der spätestens durch Goethe bekannten, eigentlich römischen Unterscheidung südlicher und nördlicher Hemisphären bezeichnet Beer-Hofmann den
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An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, daß mit der Konstatierung eines assoziativen Verfahrens, das sich auf Realsubstrate bezieht, noch kein mimetisches Verfahren (im Sinne einer Abbildung realer Gegebenheiten) in den Texten gesehen wird. Vielmehr sind die realen Örtlichkeiten, auf die sich die Assoziationen beziehen lassen, zuerst einmal Komponenten eines Diskurses: 'Prater' läßt primär nicht an die 'realen' Wiesen, Bäume, Wege und Blumen am Donaukanal denken, sondern vor allem die sprachlich konservierten Traditionen, Konventionen, Gefühle, Texte, Veduten, Postkarten, Musikstücke und viele persönliche oder erzählte Erlebnisse assoziieren. Die Realsubstrate werden hier also als kulturell vermittelte 'reale' Örtlichkeiten verstanden. Vgl. Kapitel 4 der 'Voraussetzungen'. Vgl. hierzu Waltraud Wiethölters Hinweis auf Aby Warburg (Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk. Tübingen 1990. S. 12-16); zur neueren Diskussion vgl.: Aleida Assmann, Jan Assmann, Christoph Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. München 1983; zum problematischen Verhältnis von Literatur und 'kollektivem Gedächtnis' auch: Gotthart Wunberg: Mnemosyne. Literatur unter den Bedingungen der Moderne: ihre technik- und sozialgeschichtliche Begründung. In: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt 1991. S.83-100. Vgl. Werner Vordtriede: Gespräche mit Beer-Hofmann. In: Neue Rundschau. 631952. S.126.
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Geburtsort Mozarts als Schnittpunkt und Mitte beider Kulturbereiche. Nach den Beschreibungen konstatiert er: Und dort, wo die zwei sich treffen - der Strom von den Firnen norischer Berge, und die Straße vom Meer und vom Süden her ist eine Stadt gelagert. Dort wird Mozart geboren! 39
Diese Lagebestimmung Salzburgs kann man nur verstehen, wenn man die Gegenüberstellung der 'norischen Berge' und der von 'Süden' kommenden Straße als kulturell überliefertes Zeichensystem liest, das auf verschiedene Lebens- und Kunstformen verweist. Die kulturelle Differenz zwischen dem 'italienisch' geprägten Süden und dem 'germanischen' Norden akzentuiert Beer-Hofmann durch die Verwendung des römischen Provinznamens 'Noricum' bei der Bezeichnung der Salzburger Alpen. Dieses Land war im Römischen Weltreich nördliches 'kulturelles' - Grenzgebiet. Der Strom aus den Bergen steht für den Einfluß des mitteleuropäischen, deutschen Denkens, für die deutsche Barockmusik, während die Straße aus dem Süden das 'Ultramontane', die italienische Operntradition, die Kultur und Lebensweise des Mittelmeers bezeichnet. Ein anderes interessantes Beispiel für die Nutzung kollektiver semiotischer Kompetenz ist die Gestaltung eines, zwar 'modern' konnotierten, aber historisch ausgestalteten literarischen Raums in Schnitzlers Drama 'Der grüne Kakadu'. Dieses Drama ist zwar reich an Anspielungen auf die Zeit um 1900, besonders auf das Kaffeehaus-Ästhetentum des Jungen Wiens; es ist aber keineswegs völlig 'unhistorisch' zu lesen. Um die Relevanz des gedoppelten Bühnenraums - des im Theater gespielten Theaters - adäquat verstehen zu können, muß man wenig vom spezifischen Ablauf der französischen Revolution wissen; allerdings werden gewisse, die Besonderheiten des dargestellten Bühnenraums rechtfertigende, historische Assoziationen vorausgesetzt: der Inselcharakter der »Spelunke Prosperes« beispielsweise, die man in der oben vorgeschlagenen Lesart als eine Art 'Kaffeehaus' jenseits des eigentlichen Lebens sehen müßte, wäre wenig verständlich, wenn sich hinter dem Personenverzeichnis nicht die Anmerkung fände, daß das Stück »in Paris am Abend des 14.Juli 1789«40 spielt. Dann erst erhält das Stück jene Brisanz, die sich daraus ergibt, daß sich draußen die weltpolitischen Ereignisse
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Richard Beer-Hofmann: Gesammelte Werke. Geleitwort v. Martin Buber. Frankfurt 1963, S.648. Zur Symbolik dieser landschaftlichen Bestimmung Salzburgs vgl. auch: Otto Oberholzer: Richard Beer-Hofmann: Werk und Weltbild des Dichters. Bern 1947. S.188f. Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das dramatische Werk. Frankfurt 1977-1979[a], Bd.3, S.7.
überschlagen, während drinnen 'Theater' gespielt wird. Erst durch die semiotisch zu realisierende - historische Situierung der Bühne werden die modernen Allusionen begreifbar. Die Distanz zwischen historischem Stoff und moderner Assoziation läßt so die Problematik des Jung-Wiener Theaters und seines ästhetizistischen Ansatzes selbstreflexiv deutlich werden. Das Avantgarde-Theater zeigt durch die sich aus dem historischen Stoff ergebende Verdoppelung des Spielcharakters - als Theater im Theater - die eigene Situation als Theater einer lebensfernen Künstlerwelt. Die historische Situierung des Stückes läßt auf diese Weise moderne Fragen assoziieren.41 Setzt das Bühnenbild von Schnitzlers 'Der grüne Kakadu' schon eine gewisse, über ein allgemeines historisches Wissen hinausreichende, semiotische Kompetenz voraus, indem das Stück verlangt, historische Zeichenformationen auch als moderne zu lesen, werden in vielen anderen Texten Assoziationsstimuli und Zeichen verwendet, die nur innerhalb der Wiener Moderne semantisch interessant oder überhaupt verstehbar sind: die »Tuberosen« in den Gedichten Dörmanns42, das Haar in den Texten Andrians und auf den Bildern
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Max Burckhard, seit 1890 Direktor des 'Burgtheaters', deutet in einer Rezension der dortigen Aufführung des 'Kakadu' eine solche 'unhistorische* Verstehbarkeit des Stückes an: »Der 'grüne Kakadu' ist eine Schenke, in der der verehrliche französische Adel fin de siecle (natürlich XVIII.) sich von Komödianten eine Diebes- und Mörderspelunke vorspielen läßt.« (Max Burckhard: Drei Einacter von Arthur Schnitzler. In: Die Zeit, Wien, 231-1899. S.141.) - Eine ähnliche Rolle kommt den historischen Assoziationen in den Renaissance-Dramen Hofmannsthals zu: im Zentrum der Stücke stehen die Probleme der modernen ästhetizistischen Existenz. Um aber der Logik des Spiels folgen zu können, ist die Imagination einer historischen Räumlichkeit von Bedeutung. Diesem Anliegen dienen die ausführlichen Regieanweisungen, aber auch konkrete zeitliche Eingrenzungen der Stücke. Der 'Tod des Tizian' »spielt im Jahre 1576, da Tizian neunundneunzigjährig starb« (Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.246 u. 262) - allein diese zeitliche Festlegung assoziiert eine - wenn auch unspezifische räumliche Vorstellung, die durch Bühnenanweisungen ergänzt wird. Nach diesem historischen Hinweis erübrigt sich eine Ausführung über den Stil des Bühnenbildes: Villa, Terasse, Polster und Rampe sind im Stile der Renaissance zu denken, auch wenn Hofmannsthal dies im 'Tizian' nicht mehr explizit vermerkt.
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Für den Wiener Lyriker Felix Dörmann dient die mexikanische, stark aromatische Agavenpflanze Polianthes tuberosa, die gewöhnlich zur Parfumherstellung benutzt wird, der Ausgestaltung eines Duft-Raums. Dabei gilt diese Pflanze nicht als Zeichen lebendiger Frische - wie man angesichts ihrer Eigenschaften denken könnte - , sondern als Ornament einer künstlichen Traumwelt. Es ist nur in zweiter Linie das Exotische, das die Wiener Moderne an dieser Blume reizt; vielmehr scheint sie das Vertrautsein mit der wirklichkeitsfernen Welt, die diese Pflanze ausdrückt, zu reizen; die Tuberose wird zum Zeichen einer kostbaren Üppigkeit, die nur im Traum denkbar ist. Im Titelgedicht der 'Sensationen' heißt es: »O Tuberosen, süße, wächsernbleiche, / Ο heißgeliebte, regungslose Schar! / Dass Euer Anblick nimmer mir entweiche! / Und Euer Hauch, der feuchte, zärtlich-reiche, / Süß-duftig wie die Haarflut einer Leiche, / Er möge mich umzittem immerdar.« ( Felix Dörmann: Sensationen. Wien
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Klimts43 oder die Vorstadt in den Werken Schnitzlers, Andrians oder Hofmannsthals44 sind die einleuchtendsten Beispiele so verwendeter Zeichen. Als eines der wichtigsten semiotischen Elemete der Landschaftsdarstellungen der Wiener Moderne - vielleicht des ganzen Fin de siücles ist das Gartengitter zu sehen; es fungiert als Zeichen für den Status der Abgeschlossenheit von der Außenwelt, für das Befangensein in einem solitären ästhetizistischen Bezirk 45 Es symbolisiert dabei auch die Mög-
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1892. S.24f.) Mit dem Duft der Tuberosen evoziert der Text einen Raum, in dem sich die phantasierende Seele des lyrischen Ichs bewegt. »Die neue Welt« (a.a.O., S.25), die dieses Geruchs- und Farbenerlebnis ermöglicht, wird schließlich zur Kathedrale der dekadenten Psyche: »Und meine Seele wird zum Hochaltar, / Wo Jubelhymnen Deiner Süße schwellen.« (a.a.O., S.30). Geradezu abgöttisch wird im gesamten Fin de sifccle üppiges, fließendes Frauenhaar verehrt und als semiotisches Element mit vor allem erotischen, aber auch morbiden Konnotationen in die Texte und Bilder eingeschrieben. In der bildenden Kunst von Edvard Münchs 'Liebespaar in Wellen' und seiner 'Madonnen'-Lithographie bis zu Gustav Klimts 'Nuda Veritas' und dessen 'Wasserschlangen'-Serie, von Georges Rodenbachs 'Bruges-la-morte', Charles Baudelaires 'La Chevelure' bis zu Leopold Andrians Gedichten 'Eine Locke' und 'Dann sieht die Seele ...' in der Literatur begegnet das Motiv fließenden Haars allenthalben. Es ist Symbol kaum nahbarer Frauen, Erinnerung an Vergangenes und Sinnbild des illusionären Träumens schlechthin; es ist die Jahrhundertwende-Version des Schleiers der Maya, der das Unerreichbare zugleich sichtbar macht und verbirgt (vgl. Edvard Munch: 'Liebespaar in Wellen' 1896; 'Madonna [Die Brosche]', 1903, Lithographien; Gustav Klimt: 'Nuda Veritas', 'Fischblut', in: Ver Sacnim 1-1898, Heft 3; 'Wasserschlangen I', etwa 1904, Österreichische Galerie, Wien; 'Wasserschlangen II', 1904/07, Privatbesitz, Wien; Georges Rodenbach: Das tote Brügge [Bruges-la-morte]. Autorisierte Übers.v. Friedrich v.Oppelln-Bronikowski. Stuttgart 1966; Baudelaire 1980, S. 50ff. [ΧΧΠΙ]; Leopold Andrian: Fest der Jugend des Gartens der Erkenntnis erster Teil und Jugendgedichte. Berlin 4 5 1919. S.64 und 67). Vgl. etwa Schnitzler 1977-1979[b], S.185ff. ('Die kleine Komödie'); Andrian 1990, S.35f, 37f; Hofmannsthal 1979, Bd.7, S. 53ff. ('Das Märchen der 672.Nacht'). Als Hinweise auf die Welt des 'Ästhetizismus' - dem vielleicht wichtigsten Bereich, auf den Landschaft in der Wiener Moderne verweist - sind auch die begrenzten Landschaften in Hofmannsthals 'Erlebnis' von 1892 (Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.19) zu verstehen; im semiotisch gedeuteten Landschaftserlebnis reflektiert der Text moderne Kunsterfahrung. Das dämmrige Tal wird zum Bild des sich in der Landschaft und seinen Gedanken entgrenzenden Ichs (vgl. Haupt 1983, S.27), die imaginierte tropische Gartenlandschaft zum Ausdruck toten Kunstgenusses: »Und dieses wußte ich, / [...] Das ist der Tod.« Die Stadt am dunkelblauen Wasser und das Schiff, auf das sich das lyrische Ich denkt, auf dem es seinen Doppelgänger am Ufer stehen sieht, weist - als Interpretation des Charon-Mythos - auf den Weg in die tote Kunstwelt des Ästhetizismus. Die einfachen Raumerfahrungen der Kindheit, symbolisiert durch die rauschenden Brunnen, die Gassen, den Duft der Fliederbüsche in der Vaterstadt, sind unwiederbringlich verloren. »Lautlos«, wie im Nachen des griechischen Fährmanns, gleitet das Schiff »mit gelben fremdgeformten Riesensegeln«
lichkeit des distanzierten und - durch die mitgedachte verzierende Ornamentik des Gitters - ästhetisierenden Blicks auf die Außenwelt, auf das 'Leben' außerhalb: Hohe Gitter, Taxushecken, Wappen nimmermehr vergoldet, Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd... ... Knarrend öffnen sich die Tore. 46
Schon die erste Nominalphrase in Hofmannsthals Prolog zu Schnitzlers 'Anatol' verdeutlicht semiotisch die Abgeschlossenheit der im folgenden beschriebenen ästhetizistischen Sphäre. Die hohen Gitter kennzeichnen die Landschaft als - mit Ferdinand v. Saars 'Ver sacrum'-Gedicht geheimnisvoll umzirkten Zaubergarten47, als Fin de si£cle-Garten par excellence; Thomas Koebner sieht einen solchen Garten zu Recht als Symbol, das mit der Vorstellung einer abgekapselten Existenz [...] verknüpft48 ist. Weitere Beispiele hierfür gibt es genügend: in der bildenden Kunst dieser Zeit, von Heinrich Vogelers Titel-Illustration zu Hofmannsthals 'Der Kaiser und die Hexe'49 bis zu Josef Hofmanns 'Landruhe'50, in der Literatur von Hofmannsthals Regieanweisungen zu 'Gestern'51 bis zu Felix Rappaports 'Übergänge'.52 Als Variante des Gitters findet sich auch die Gartenmauer: in Schnitzlers 'Der Weg ins Freie'53, in Hofmannsthals 'Die Frau am Fenster'54
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Richtung Unterwelt. Während die vom Schiff aus wahrgenommene Kinderzeit aus wiedererinnerbaren Räumen besteht - ins eigene »Zimmer« wird gesehen - , bleiben die Formen der neuen Kunst, vermittelt im Bild der 'fremdgeformten' Segel, fremd. Melancholisch sieht das lyrische Ich, dessen Imaginationen hier geschildert werden, als ob es das Kind am Ufer wäre - sich selbst unaufhaltsam dem Totenreich naturferner Kunst zuschwimmen (alle Zitate: a.a.O.). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.59. Ferdinand von Saar: Ver sacrum. In: Ver sacrum. 1,7-1898. S.28. Zu diesem Gedicht vgl. das Kapitel 'Landschaft und Utopie'. Thomas Koebner: Der Garten als literarisches Motiv: Ausblick auf die Jahrhundertwende. In: Park und Garten im 18.Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18.Jahrhundert. GH Wuppertal. Heidelberg 1978. S.146. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe. Mit Zeichnungen von Heinrich Vogeler-Worpswede. Erschienen im Verlage der Insel bei Schuster & Löffler. Berlin S.W. im Mai 1900. Frankfort 5 1987. S.6. Joseph Hofmann: 'Landruhe'. In: Ver Sacrum 4-1901, Heft 1, S.12. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.212. Vgl. Felix Rappaport: Übergänge. In: Wiener Rundschau 1-1897. S.376. Vgl. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.4, S.237ff. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.343.
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oder in Richard Schaukais Aufzeichnungen 'Grossmutter' bei der Beschreibung eines 'alten Gartens'55: Ein paar Stufen fuhren zum Garten hinab. Er ist von mannshohen Mauern umgeben und scheint ausserhalb der Welt zu liegen.56
Die im folgenden beschriebene Landschaft, die durch die Mauern umschlossen wird, weist in drei Punkten Charakteristika des Gartens im Wiener Fin de si&le auf: sie enthält Zeichen der Erinnerung an eine vergangene Zeit, an die Kindheit, und sie verweist auf Geheimnisvolles, das durch die Mauern vor der äußeren Welt geschützt wird; schließlich ist der Garten durch seine Gestaltung auch als ein ästhetisch stilisierter Ort vorgestellt. Diese Punkte deuten sich schon durch die semiotisch zu verstehende Konstellation - 'Garten hinter Mauern' - an. Die Abgeschlossenheit des Gartens allein läßt an Komponenten von Landschaft denken, die in der Wiener Moderne präsent sind. Zu den semiotischen und assoziativen Verweisen auf Vorstellungsbereiche der Wiener Moderne gehören auch Zeichenkomplexe, die zwar auf real existierende Örtlichkeiten oder gängige Topoi referieren, aber den spezifisch variierten Diskursen des Jungen Wien akkomodiert werden. Diese Gruppe von Texthinweisen scheint zwar oberflächlich völlig verständlich, charakterisiert aber durch ihre spezifischen Konnotationen innerhalb des Jungen Wien den entsprechenden Raum anders als vielleicht erwartet. So setzt der Gebrauch einiger Realsubstrate in Raumrealisierungen des Wiener Fin de siöcles beim Lesepublikum nicht nur die Kenntnis der realen Örtlichkeiten voraus, auf die sich der Text bezieht, sondern auch das Gespür für ihre assoziativ bzw. semiotisch erfahrbare Aura.57 Ein gutes Beispiel hierfür findet sich in Richard Beer-Hofmanns Novelle 'Das Kind'. Dort sind die Anspielungen auf die 'problematischen' räumlichen Rahmenbedingungen, in denen ein Treffen zwischen Paul und seiner Geliebten Juli stattfindet, kaum ohne eine gewisse Kenntnis
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Vgl. Richard Schaukai (Hg.): Grossmutter. Ein Buch von Tod und Leben. Gespräche mit einer Verstorbenen. München, Leipzig 21911. S.5 Iff. (Kapitel 'Der alte Garten'). A.a.O., S.51. Der relativ geschlossene Lesekreis der Wiener Moderne und die allgemeine Bekanntheit Wiener Örtlichkeiten machen es den Jung-Wienern leicht, ein Verfahren in ihren Texten anzuwenden, das mit extrem wenigen Hinweisen konkrete räumliche Situationen schafft. Das vielleicht häufigste Verfahren der Wiener Avantgarde, Räume assoziativ oder semiotisch zu gestalten, ist die Verwendung von spezifisch konnotierten Realsubstraten, die an ein städtisches oder landschaftliches Areal denken lassen. Oft haben die Realsubstrate einen - relativ klar definierbaren - semiotischen Charakter; manchmal erfordern sie bloß vage Assoziationen.
der Stadt Wien und der gesellschaftlichen Bedeutung seiner Orte einsehbar.58 Paul sieht Juli »vor den Arcaden der Facade« der »Oper« am »Ring«59: Nicht bei der Oper, nicht zu einer Zeit, wo es noch licht war [...] - , und nun stand sie wiederum gerade dort, [...] da der Ring mit Spaziergängern und Equipagen, die vom Prater kamen, belebt war und ein breiter Menschenstrom aus der Stadt in die Vorstadt hinaus wogte, von den Vorstädten in die Theater strömte. 60
Pauls Ungehaltensein begründet sich aus der Bedeutung dieses Treffpunkts unweit des bekannten 'Sirk'-Ecks, der Flaniermeile der Wiener Society, von der Ludwig Hevesi, der Kritiker und Protokollant des 'besseren Wiens', schreibt, hier träfe man »ganze Prozessionen von zweibeinigen Biebern und Zobeln«.61 Um dort nicht mit Juli, dem einfachen 'Vorstadt-Mädl' gesehen zu werden, verlangsamt Paul erst sein Schrittempo, »als sie in einer Seitengasse des Ringes angelangt waren«.62 Die dritte Gruppe der assoziativen und semiotischen Momente wurde eingeführt als Zeichen und Assoziationsstimuli, die sich zum Teil von
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Ein ähnliches Assoziationsvermögen setzen viele Texte Schnitzlers und Altenbergs voraus. Die überaus knappe Regieanweisung »Ein Cabinet particulier bei Sacher« (Schnitzler 1977-1979[a], S.68) in Schnitzlers 'Anatol'-Episode 'Abschiedssouper' ersetzt z.B. nicht nur umständliche Beschreibungen des Bühnenaufbaus, sondern situiert die Handlung sofort in ein ganz spezifisches soziales und regionales Milieu, das allein mit raumbeschreibenden Regiehinweisen nicht entfaltet worden wäre. Dieser Ort, ein separates Kabinett im Spitzenrestaurant 'Sacher' zwischen 'Sirk'-Eck, Kärntner Straße und Hofoper setzt nicht nur eine beträchtliche Liquidität bei Anatol voraus, sondern bietet auch ein bestimmtes Ambiente, das sofort assoziiert wird. Schon zu seiner Zeit gilt es als Ort einer fast obsolet gewordenen vornehm-zurückhaltenden Pracht und Gediegenheit, die zu den modernen Denkweisen der jungen Generation, die sich gewöhnlich eben im 'öffentlichen' Kaffeehaus trifft, nicht so recht passen will. Vielleicht kann der Name 'Sacher' sogar als Hinweis auf das 'Fin de sifccle' gelesen werden: er benennt eine Ortlichkeit, die in gediegenen, von der 'modernen' Außenwelt abgeschirmten Räumen Platz bietet für letzte Feiern der Individuation. Gerade dort 'feiert' der Jung-Wiener Dandy Anatol ein »Abschiedssouper« (a.a.O.), das Ende einer Liebesbeziehung. Insofern ist es nicht nur die sozial niedrigere Stellung seiner neuen Freundin, die Anatol verlauten läßt, daß er »mit der [...] hier nicht soupieren« (a.a.O, S.70) möchte, sondern auch die Angst vor einer möglichen Entweihung dieser - zusammen mit seinem Freund Max und dem Kellner - inszenierten 'Fin de siÄcle'-Atmosphäre.
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Beer-Hofmann 1893, S.7. A.a.O. Ludwig Hevesi, zitiert nach: Witzmann 1984, S.74. Beer-Hofmann 1893, S.9.
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ihren Referenzen gelöst haben und mehr einen Stimmungskontext als vorstellbare Räume und Landschaften repräsentieren.63 Die von Wunberg konstatierte »Unverständlichkeit« als »dominante Leseerfahrung mit lyrischen Texten der Jahrhundertwende«64 kann man auch für viele Passagen aus Prosatexten und Dramen dieser Zeit konstatieren. Texte, die sich »einer erfolgreichen Deutung« entziehen65, sind in der frühen österreichischen Moderne allerdings - im Gegensatz zum Expressionismus etwa - die Ausnahme: Hofmannsthals 'Lebenslied' fällt sofort ein, an einige Texte aus Peter Altenbergs 'Ashantee'-Sammlung wird man denken. Betrachtet man die Texte zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg, wird man Passagen aus Alfred Kubins 'Die andere Seite'66 als Beispiel einer solchen 'Unverständlichkeit' sehen, oder man wird an Oskar Kokoschkas 'Die träumenden Knaben' und 'Mörder, Hoffnung der Frauen' denken, vielleicht auch an Robert Müllers im 'Brenner' veröffentlichte Erzählung 'Das Grauen' .67
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Zum Begriff Stimmung vgl. die Kapitel 4 der 'Voraussetzungen' und 2.C) 'Produktiver' Historismus. Wunberg 1989, S.241. A.a.O. Vgl. Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. München 1975 ['1909], In Kubins Roman finden sich vor allem im letzten Teil schwer verständliche Landschaftsbeschreibungen, die als räumliche Realisierungen einer phantastischen 'Traumwelt' gekennzeichnet sind, ein Beispiel: »In der Ferne verschwand die Vorstadt in einem Gespinst violett schimmernder Fäden. Ich bemerkte eine kolossale Muschel, die wie ein Felsenriff am Flußufer lag; ich sprang auf ihre harte Schale. Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete sich schwerfällig, mein Standort wurde abschüssig, in ihrem Innern zitterten gelatineartige Massen ich erwachte -.« (S.150ff.). Vgl. auch in Kapitel Kapitel 3.a) die Ausführungen über das Motiv der 'toten Stadt' in Kubins Roman. Robert Müller, der bislang wenig beachtete Freund Musils, läßt den Erzähler in seiner - 1912 im 'Brenner' veröffentlichten - Novelle 'Das Grauen' Landschaftswahrnehmungen, die aus semantisch isolierten Signifikanten bestehen, mit Reflexionen über die partikulare Sehweise und die psychische Situation des Protagonisten verbinden: »Die von der Umgebung abgezielten Impressionen reihten sich auf, Stück um Stück, kristallisierten sich nicht um die Kontinuität persönlichen Erlebens. Der Zusammenhang zwischen Augenblick und jüngster Vergangenheit war vollkommen ausgeschaltet. Heilemann sah den geborstenen Baumstrunk aus seinen gespreizten kahlen Rippen schreien, wunderte sich nicht im geringsten über die absonderliche Gestalt.« (Robert Müller: Das Grauen. In: Michael Winkler (Hg.): Phantastische Erzählungen der Jahrhundertwende. Stuttgart 1982. S.246.) Die vom Erzähler konstatierte Segmentierung einzelner Wahrnehmungsaspekte und die Aufhebung ihres zeitlichen Nacheinander in einem Bildeindruck zeigt sich in der dann folgenden Beschreibung als im Grunde korrekte grammatische Verbindung semantisch nicht zusammenstimmender Einzelwahrnehmungen. Die Beschreibung konstruiert deshalb keine neue Einheit, sondern ein Nebeneinander partikularer Elemente, hier nur isoliert verstehbarer
Die von Wunberg beschriebene Leseerfahrung bezieht sich auf eine unvoreingenommene Rezeption. Der Diskurskontext und die Eingebundenheit der Texte und Textpassagen in übergreifende Zusammenhänge macht aber die - durchaus von den Texten intendierte - 'Unverständlichkeit' selbst oft als Element der Textbewegung 'verständlich'. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Signifikanten und Assoziationsstimuli, deren Referenzen unklar bleiben oder die aus einem verständlichen Kontext gelöst sind, realisieren keine präzisen Räume und Landschaften. Sie werden erstens eingesetzt, um vage Stimmungskontexte zu illustrieren und nicht, um vorstellbare Landschaften zu evozieren. Zweitens sind sie oft Ausdruck einer - nicht realistisch beschreibbaren - fremden Vorstellungswelt (Traum, Vision, Wahnsinn, Exotik); sie werden dann in der Regel als Verwirklichung einer entsprechenden Redeweise durch Texthinweise eingeführt. Die Präsentation vager Stimmungszusammenhänge wird an Texten Trakls und Hofmannsthals verdeutlicht, die Rechtfertigung 'unverständlicher' Passagen an Texten von Kokoschka und Altenberg. In Trakls im 'Brenner' veröffentlichten Gedicht 'Klage' findet sich folgende Wahrnehmungsbeschreibung: Jüngling aus kristallnem Munde Sank dein goldner Blick ins Tal; Waldes Woge rot und fahl In der schwarzen Abendstunde. Abend schlägt so tiefe Wunde. 68
Fragt man sich, warum - um nochmals Wunberg zu zitieren - »solche Texte unverständlich sind«69, wird man feststellen, daß ein großer Teil der hermeneutischen Probleme, mit denen wir es hier zu tun haben, aus dem unverbundenen Nebeneinander von Signifikanten resultiert; diese wären in konsistenten Zusammenhängen durchaus verständlich. Die Segmentierung einzelner Textelemente geht bis in die Nominalverbindungen hinein. Ein wichtiger Aspekt, der Texte wie das vorliegende Trakl-Gedicht so schwer verstehen laßt, ist der Gebrauch der Epitheta, die in der hier verwendeten Weise kaum mit dem Nomen zusammenzubringen sind; Epitheta und Nomen erscheinen deshalb als im Grunde 'autonome' Lexeme, als syntagmatisch isolierte Signifikanten. Gleiches gilt für den Gebrauch der Verben. Sie sind zwar grammatisch korrekt
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Signifikanten. Daß die Wahrnehmungen Heilemanns überhaupt einigermaßen 'verstehbar' sind, resultiert aus der ordnenden Einleitung des 'auktorialen' Erzählers. Georg Trakl: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar. Hg.v. Friedrich Kur. München 7 1982. S.92. Wunberg 1989, S.241.
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angebunden, doch ihre syntagmatische Struktur verhindert ein logisches Verständnis der Beschreibung und eine 'sinnvolle' Referenz. Die Semantik und Syntagmatik der Sätze stimmen nicht zusammen; der Verweischarakter der Sprache wird dadurch in Frage gestellt, das 'Verständnis' konterkariert. Ein so konstruiertes Gedicht erfordert geradezu eine nicht grammatische Lesart: ein Lesen nach Stichworten, nach isolierten 'Zeichen', die der Text selbst liefert. Aus den Worten 'Tal', 'Wald', 'rot' und 'Abendstunde' entsteht dann so etwas wie eine - zugegeben vage melancholische Landschaftsstimmung, die zum Gedichttitel ('Klage') und zu anderen Textelementen, etwa zur ersten Zeile der zweiten Strophe (»Angst! des Todes Traumbeschwerde«70) paßt; ein 'Verständnis' des Gedichts im strengen Sinne ist damit nicht erreicht. Auch in früheren Texten der österreichischen Moderne, in der Wiener Literatur des Fin de sifecle, stößt man auf ähnliche Phänomene. Als geradezu klassisches Beispiel 'unverständlich' verwendeter LandschaftsSignifikanten kann man Hofmannsthals 'Lebenslied' sehen. Wie bei Trakl enthalten grammatisch korrekte Sätze ungewöhnlich oder unverbunden aneinandergereihte Signifikanten, die bestenfalls für sich genommen verstehbar sind, oder besser: innerhalb des Diskurses der Wiener Moderne einen Signalwert haben; sie sind Stichworte vager 'Stimmungen'. Natürlich lassen sich auch im 'Lebenslied' Landschaften oder Landschaftsfragmente durch ungrammatisches Lesen extrahieren: Der Flüsse Dunkelwerden Begrenzt den Hirtentag!71
Ein solcher Satz, liest man ihn ungrammatisch, man könnte sagen 'symbolisch', ermöglicht durchaus eine 'Interpretation': Der Arbeitstag der Hirten endet mit dem Sonnenuntergang an den Flüssen. Allerdings ist damit wenig gewonnen, weil ein so erschlossener Inhalt wenig mit dem restlichen Gedicht zu tun hat. Es kommt hier einzig auf die Signifikanten 'Hirten', 'Flüsse' und 'Dunkelwerden' an; sie deuten - mit einer unpräzisen Semantik - auf ein Idyll, auf das Motiv der bukolischen Landschaft und über dies hinaus auf die ästhetizistische Abgeschlossenheit einer Welt, die in hermetischen Worten spricht - wie das 'Lebenslied' selbst.72
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Trakl 7 1982, S.92. Hofmannsthal 1979, S.28. Vgl. dazu Wunberg 1989, S.244: »Ein Gedicht wie Hofmannsthals Lebenslied, beispielsweise, ist schlechterdings unverständlich. Es vermittelt aber den Eindruck, daß, wer den Wohlklang von 'Adler, Lamm und Pfau' [...] usw. auch nur hört, diesen Text bereits versteht, oder doch verstehen könnte.«
Als drittes Beispiel einer Verwendung 'unverständlich' zusammengestellter Landschaftssignifikanten sei ein Teil der Anfangspassage von Kokoschkas lyrischer Prosa 'Die träumenden Knaben' angeführt: Hier wird das inkonsistente Nebeneinander von Signifikanten aus dem Text heraus gerechtfertigt, indem die 'unverständlichen' Sequenzen als Träume des Protagonisten ausgegeben werden: und ich fiel nieder und träumte / viele taschen hat das schicksal / ich warte bei einem peruanischen steinernen bäum / seine vielfingrigen blätterarme greifen wie geängstigte arme und finger dünner / gelber figuren / die sich in dem sternblumigen gebüsch unmerklich wie blinde rühren / ohne daß ein heller / verziehender streifen in der dunklen luft von fallenden Sternblumen die stummen tiere lockt / blutraserinnen / die zu vieren und fünfen aus den grünen / atmenden seewäldern / wo es still regnet / wegschleichen / wellen schlagen über die wälder hinweg und gehen durch die wurzellosen / rotblumigen / unzähligen luftzweige.73
Der Eindruck einer 'unverständlichen' Fremdheit der Traumvisionen wird durch verschiedene Mittel erzeugt: Der Text enthält Nominalphrasen, die phantastisch anmuten, aber an nichts Konkretes denken lassen außer an eine grob bestimmte Gattung. Daneben finden sich auch hier wieder ungewöhnlich komponierte Wortfolgen und 'unpassende' Epitheta, die durchaus in korrekte grammatische Sequenzen eingebunden scheinen. Hinzu kommen einige zusammengesetzte Wortschöpfungen aus vertrauten Lexemen. Auch Kokoschkas Text will zusammen mit umfangreichen Illustrationen74 - eine 'Stimmung' erzeugen, die schon durch den Titel der Prosa angedeutet wird: hier werden Visionen der 'träumenden Knaben' geschildert. Der in Ich-Form geschriebene Text weist aber auch später immer wieder auf den Status der Passagen hin und macht von vornherein klar, daß hier nicht 'verständlich' erzählt, sondern geträumt wird:
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Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben. Wien 1908 (auch, allerdings um einige Abbildungen gekürzt in: Jürg Mathes (Hg.): Prosa des Jugendstils. Stuttgart. 1982. S.309-317). Zitat: Mathes 1982, S.311. Vgl. auch die Einleitung der Landschaftswahrnehmung in Robert Müllers 'Das Grauen' (Winkler (Hg.) 1982, S.246; hierzu: Anmerkung (67)). Auch die Illustrationen des Gustav Klimt zugeeigneten und in den Wiener Werkstätten hergestellten Werks machen die 'phantastischen' Landschaften, die der Text entwirft, nicht eigentlich 'verständlicher'. Ein Bezug zwischen Text und Bild ist oft nur schwer konstatierbar. Zur 'Bildsprache' Kokoschkas vgl. Hans Bisanz: Oskar Kokoschka - Vom 'Heiligen' zum wilden Frühling. In: Traum und Wirklichkeit 1985, S.486-493: »Die Bildsprache der weiteren Illustrationen [Bisanz nimmt das erste Bild aus] kann drängend [...], meditativ [...] oder beides zugleich sein [...], in jedem Fall bedient sie sich landschaftlicher Elemente, die der eigenen Gegenwart und Umwelt fernliegen.« (Zitat: S.486).
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in mir träumte es und meine träume sind wie der norden / wo schneeberge uralte märchen verbergen / durch mein gehirn gehen meine gedanken [...] / niemand weiß davon und begreift. 75
Einem etwas anderen Phänomen begegnet man in Peter Altenbergs 'Ashantee'-Sammlung von 1897. In der Skizze 'Akole's Gesang, Akol6's süsses Lied' ist eine durchaus nachvollziehbare Landschaftsbeschreibung mit einem fast völlig unverständlichen - fremdsprachig anmutenden Lied kombiniert: Ein schrecklicher Sturm im Garten. Auf dem braunen Teiche liegen tausend grüne Blätter und kleine schwarze Äste. Die hellbraunen Wildgänse bekommen schleissige Federn, öffnen ihre rothen Schnäbel. Akolö hockt an dem Teiche, singt ihr süsses Lied: 'andelaina andelaina andelaina gbomol££66£ - andelainagbomolö. andelaina Akkra-uma, andelaina gbomolö andelaina andelaina .
[...] andelaina Akkra-lady andelaina Ιιέ oblaino, andelaina andelaina andelaina Vienna-lady andelaina bobandöoö — [...] andelaina h i oblaio, andelaina gbomoli! ['] Ein schrecklicher Sturm im Garten. Auf dem braunen Teiche liegen tausend grüne Blätter und kleine schwarze Äste, 'andelaina andelaina ,' 1 6
Selbst bei genauem Hinsehen erschließt sich die Zeichenstruktur des 'Ashantee'-Textes kaum. Konstatierbar ist aber, daß 'Akole's Gesang', wie alle Texte der Sammlung, auf den Exotismus-Diskurs der Jahrhundertwende referiert. In diesem Zusammenhang wäre einmal auf den Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts überhaupt, dann auf den 'Orientalismus' in der bildenden Kunst (Hans Makart und besonders Leopold Carl Müller in Österreich, Gustave Guillaumet und Charles de Tournemine in Frankreich77), die Wiederentdeckung der naiven Kunst
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Kokoschka, nach: Mathes 1982, S.313, vgl. u.a. auch S.311, 312, 317. Altenberg 5 1910, S. 314f. Es sind keineswegs nur die 'Ashantee'-Texte Altenbergs, bei denen sich eine Tendenz zur syntagmatischen Isolierung von Lexemen beobachten läßt, die eine oberflächliche 'Unverständlichkeit' erzeugt. Unter einer Überschrift offenbar relativ willkürlich subsumierte Lexemgruppen finden sich zum Beispiel in den Prosaskizzen 'Meine Ideale' (vgl. Altenberg 1977, S.84), 'Zimmereinrichtung' (a.a.O. S.116) und 'Tagebuchnotizen* (a.a.O., S.162). Vgl. etwa: Leopold Carl Müller ('Orientmüller'): 'Ein Markt in Kairo'. 1878, Österreichische Galerie im Schloß Belvedere, Wien; Hans Makart: 'Kleopatra auf
durch den Frühexpressionismus (Oskar Kokoschka, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff in Skulptur und Malerei, Carl Einstein in der Literatur78) und auf die exotistischen Themen und RaumAusstattungen in den Romanen Flauberts und - für Altenberg besonders - Huysmans'79 zu verweisen. Im Kontext dieses Diskurses ergibt sich folgende Möglichkeit, den Status der 'unverständlichen' Passage zu begreifen: Akolö's Lied enthält zwar fast ausschließlich unverständliche Signifikanten - also 'Zeichen' ohne erkennbare Referenz - , in der Reproduktion des Liedes in dem vorliegenden Kontext drückt sich aber auch - semiotisch verschlüsselt ein modernes Unverständnis gegenüber naiven Phänomenen aus. Auffällig ist die textuelle Verbindung von 'archaisch' erlebter Sturmlandschaft und 'naivem' Text. Die Beschreibung der Landschaft und der eigentliche Gesang sind durch Wiederholungen ganzer Passagen gekennzeichnet. Der Anfang der Skizze wird als 'Refrain' wörtlich wiederholt; das Wort »andelaina« kommt in Altenbergs Text 26mal vor; in 'Akolö's Lied' ist kein Wort nur einmal zu finden. Diese naive Lied-Struktur der Rahmenskizze und noch mehr des Gesangs selbst spiegelt die naivnatürliche Reaktion des 'Ashantee'-Mädchens auf das Naturphänomen: es fangt an zu singen. In der Beobachtung dieser vermeintlich 'ursprünglichen' Reaktion liegt der konstatierbare Sinn der Skizze. Ein inhaltliches Verständnis des Gesangs von Akol6 ist gar nicht intendiert; der Text zielt hier auf Unverständlichkeit. Nur so kann er die Entfremdung des zivilisierten Beobachters von den naiven Reaktionen des Mädchens dokumentieren, seine Distanz auch zu den ursprünglichen Naturerfahrungen Akoles zeigen, die die Sturmlandschaft noch in ihrer Bedrohlichkeit versteht. Der Text beobachtet das Mädchen Akole und den 'schrecklichen Sturm' als Teil eines zivilisierten 'Gartens'. Auch dieser semiotische Hinweis dokumentiert die zivilisatorische Differenz zwischen dem naiven 'Verstehen' der Afrikanerin und dem - seinerseits in gewissem Sinne 'naiven' - Unverständnis des Beobachters. Mit den einzigen, vielleicht verstehbaren Worten aus 'Akole's Lied', mit 'Akkralady' ('Akkra' ist die Hauptstadt der Goldküste) und 'Vienna-lady', deutet sich - mehr als 'Stimmung' denn als 'Verständnis' - eine Distanz zwischen der Sängerin und der Wiener Gesellschaft an, die ausgezogen ist, ihre Naivität zu besichtigen, die sie nicht verstehen kann, wie Akole die Gesellschaft.
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dem Nil'. 1875, Staatsgalerie, Stuttgart; Gustave Guillaumet: 'Le dösert'. 1867; Charles de Tournemine: 'E16phants d'Afrique', 1867, beide: Mus6e d'Orsay, Paris. Vgl. etwa Erich Heckel: 'Trägerin'. 1906 (Ausstellung: Josef-Haubrich-Kunsthalle, Köln 1984). Zur Literatur: vgl. etwa Carl Einstein: Negerplastik. Leipzig 1915. Vgl. Gustave Flaubert: Salammbd. Paris 1971 und Joris-Karl Huysmans: A rebours. Hg.v. Marc Fumaroli. [Paris:] Gallimard 1989.
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Texte, die von ihren Referenzen weitestgehend gelöste Signifikanten und Assoziationsstimuli enthalten, deren Worte oft nicht auf ein konkretes Verständnis zielen, müssen auch im Zusammenhang des Entstehens abstrakter - nicht 'inhaltlich' verstehbarer - Kunst in der Moderne gelesen werden. Eine Literatur, in die sich einzelne isolierte Landschaftsfragmente in ein syntagmatisch unverbundenes Spiel von Signifikanten einschreiben können, der die schwer definierbare 'Stimmung' eines Textes offensichtlich wichtiger ist als die Möglichkeit semantischer Entschlüsselung, ist auf dem besten Weg zu jener avantgardistischen Moderne, die seit etwa 1910 das Kunstgeschehen bestimmt und die gewöhnlich mit den Namen Kandinsky oder Picasso verbunden wird. Hermann Bahrs erstaunliche Sätze über das abstrakte Verwenden von Farben in der bildenden Kunst - die allerdings keineswegs die einzigen sind, die sich schon um 1900 mit diesem Problem beschäftigen80 - könnten insofern als Programm über einigen der hier besprochenen oder erwähnten Texte stehen: So läßt sich auch wohl ein Bild denken, das durchaus 'sinnlos' wäre, das heißt: durchaus keine Beziehung zur Wirklichkeit hätte, das nur seine Farben wirken lassen würde, die nichts bedeuten, nichts darstellen oder vorstellen, sondern nur durch ihre eigene Kraft Gefühle und Stimmungen erregen sollen.81
b) 'Points of view' und Darstellungssituationen Um literarische Formen von Raum- und Landschaftsrealisierungen typologisch zu klassifizieren, bieten sich auch zwei klassische 'darstellungstechnische' Zugänge an: die Unterscheidung verschiedener 'Points of view' und Darstellungssituationen. Während eine Differenzierung unterschiedlicher 'Points of view', wie Stanzel sagt, »die Notwendigkeit der perspektivischen Trennung der Ansichten des Erzählers und der Charaktere«82 voraussetzt, geht die typologische Betrachtung der
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Vgl. auch: J[ulius] Meier-Gräfe: Dekorative Kunst. In: Freie Bühne für modernes Leben. Neue Deutsche Rundschau 7,1-1986. S.543-560 (besonders S.560); Stanislaw Prszybyszewski: Psychischer Naturalismus. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 5,1-1894, S.150-156; Hermann Bahr: Rote Bäume. Zur Ausstellung der Secessionisten im Künstlerhause. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.507-508; Anton Lindner: Farbe und Linie. Ein Versuch I. In: Wunberg (Hg.) 1976, S. 1041ff. In diesem Zusammenhang ist auch auf den 'dekorativen' Stellenwert der Sprache (und des Schriftbildes) um 1900 hinzuweisen. Vgl. dazu: Simon 1976, besonders S.100107. Hermann Bahr: Impressionismus [1903]. In: Bahr 1912, S.175. Hierzu vgl. auch die Kapitel l.c) und 2.c). Stanzel 4 1989,S.37.
Darstellungssituationen, so Stanzel, von der »Relativität und Modalität der narrativen« - und auch der lyrischen und dramatischen - »Aussage« aus; die Unterscheidung verschiedener Situationen setzt beim »Grad der Einsicht in die inneren und äußeren Vorgänge«83 der Darstellung an. Hier wird es nicht um die Forschungsdiskussion verschiedener Klassifizierungsmöglichkeiten gehen, sondern nur um Fragen der Anwendung von sinnvollen und auch bewährten typologischen Unterscheidungen auf Raum- und Landschaftsdarstellungen in der Wiener Moderne. Sowohl die Unterscheidung zweier elementarer 'Points of view'84 als auch die Typologie der Darstellungssituationen können prinzipiell für alle Gattungen gelten. Die klassische Unterscheidung verschiedener Erzählsituatio-
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A.a.O. Zum Begriff 'Point of view' vgl. Lämmert 2 1967, S.70ff. und Stanzel 4 1989, S.21-38. Die Interpretation spezifischer Ausformungen eines 'Point of view' ist nicht nur für erzählende Texte relevant. Auch in der Lyrik und im Drama macht es Sinn, verschiedene Blickpunkte der Darstellung zu unterscheiden, erlaubt die Darstellungsweise, von verschiedenen Vermittlungsebenen der einzelnen Raumvorstellungen zu sprechen. Hier wird der Terminus 'Point of view' deshalb nicht nur, wie es seine traditionelle Verwendung nahelegt, auf die Erzählperspektive bezogen, sondern auf alle möglichen Realisierungsmomente. Gattungsgrenzen bleiben bei der Anwendung der Begrifflichkeit aus methodischen Gründen vorerst unbeachtet, um deutlich zu machen, daß strukturelle Ähnlichkeiten existieren, die bei einer von vornherein gattungsspezifischen Kategorisierung unbeachtet bleiben könnten. Grundsätzlich sind Raum- und Landschaftsdarstellungen, die aus der Situation eines 'fiktiven Erzählers' gestaltet sind, von solchen zu unterscheiden, die die Perspektive eines Helden wiedergeben sollen. Ahnliches gilt für die Lyrik und das Theater: es macht einen Unterschied, aus welcher Situation heraus ein lyrischer oder dramatischer Text spricht, ob aus der Sicht eines nicht näher gekennzeichneten »Aussagesubjekts« (Hamburger 31977, S.188) des lyrischen Textes oder einer im Text personal gekennzeichneten Instanz, ob ein Raum als Bühnenbild oder Regieanweisung im Drama verzeichnet ist oder ob ein Protagonist diesen wahrnimmt und beschreibt. Die Nähe vieler Jahrhundertwende-Dramen zum Lesedrama rückt den 'erzählenden Charakter' der Regieanweisungen noch stärker in den Vordergrund. Unabhängig von der Gattung sind also zwei elementare Ebenen der fiktionalen Realisierung zu differenzieren: eine erste Ebene (der 'direkten Raumdarstellung') und eine zweite Ebene, auf der Personen der Handlung als Mittler der Darstellung auftreten. Die Konstatierung verschiedener Ebenen der Mitteilung ermöglicht u.a. verschieden institutionalisierte Aussagen von Diskursen zu unterscheiden. Indem die Stellung einer Aussage im Text nach ihrem institutionellen Charakter unterschieden wird, kann die diskursive Formation, die sich in einen Text einschreibt, besser herausgearbeitet werden. Aussagen, die die gewohnte Institutionalisierung durchbrechen, indem sie entweder typische Diskurse einer anderen Ebene aufgreifen oder vorgeben, in einer anderen situiert zu sein, sind in diesem Zusammenhang natürlich besonders interessant. Ein auf der Bühne agierender Erzähler, ein »Spielansager« etwa, wie in Hofmannsthals 'Jedermann' (vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.3, S . l l ) wäre als 'Protagonist' zwar der zweiten Ebene zuzuordnen; er übernimmt aber Funktionen der ersten.
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nen wird deshalb - soweit es sinnvoll zu realisieren ist - auf lyrische und dramatische Situationen übertragen werden85; gattungsspezifische Differenzierungen sind dabei selbstverständlich notwendig. Es ergeben sich demnach zwei typologische Zugänge: Im Bereich der 'Points of view' werden zwei 'Ebenen' unterschieden: zur 'ersten Ebene'86 wären Landschaftsrealisierungen des Erzählers, die Entfaltung der lyrischen Situation und Bühnenanweisungen zu rechnen. Auf der 'zweiten' - durch eine weitere Instanz vermittelten - 'Ebene' finden sich Wahrnehmungsbeschreibungen von Protagonisten oder 'lyrischen Subjekten'.87 Im Bereich der Darstellungssituationen ergeben sich drei Möglichkeiten: auktoriale und personale Situationen, sowie Darstellungen in der ersten Person ('Ich-Erzählungen' etc.). Anhand der einzelnen typologischen Unterscheidungen sollen nun kurz typische literarische Darstellungsformen von Räumen und Landschaften der Wiener Moderne herauspräpariert werden.
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Natürlich gibt es im Drama keine 'Erzähler'-Funktion im eigentlichen Sinn und auch in der Lyrik kann man nicht einfach von Erzählsituationen sprechen. Insofern soll mit der erweiterten Fassung der Erzählsituationen als 'Darstellungssituationen', in denen Räume und Landschaften präsentiert werden können, keine Gattungsgrenzen verwischt werden. Vielmehr soll damit auf - bei allen Unterschieden - analoge und gattungsüberschreitende Erscheinungen in den verschiedenen Gattungen hingewiesen werden. Hierzu finden sich auch in der traditionellen Forschung Hinweise: vgl. Hamburger 3 1977, S. 154-159, Heinz Schlaffer: Lyrik im Realismus. Studien über Raum und Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste und Liliencrons. Bonn 21973. S.l, 7, 12 und Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 5 1988. S.20, 23f, 41-45, vor allem 103-123 ('Epische Kommunikationsstrukturen im Drama').
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Die Begriffe 'erste' und 'zweite Ebene' sind hier unter Umständen mißverständlich: Eine vom 'Erzähler' vermittelte Landschaft ist natürlich kaum mit dem weniger vermittelten Bühnenbild im Drama - wenn das Drama nicht gelesen, sondern aufgeführt wird - zu vergleichen. Allerdings enthält (gerade das moderne) Drama auch 'epische' Elemente im Bühnenbild, aus denen deutlich wird: das Bühnenbild ist nicht der fiktionale Raum, es stellt ihn nur dar. Zur Problematik vgl. Pfister 5 1988, S.103-123 und Beer-Hofmanns 'Ariadne'-Prolog (vgl. Beer-Hofmann 1963, S.657f.). Der Raum der 'ersten Ebene' ist um eine Instanz weniger 'vermittelt' als eine Landschaftsschilderung eines Protagonisten, die ein 'Erzähler' 'vermittelt' oder eines 'Berichts' eines Protagonisten auf der Bühne. Insofern wird hier verkürzt von einer ersten und einer zweiten Ebene geredet, wohlwissend, daß zwischen Leser und erzählendem Text ja die eigentlich erste Vermittlungsebene anzusetzen wäre. Zum Begriff der 'Mittelbarkeit' vgl. Stanzel 4 1989, S.15-67. Zum Begriff 'lyrisches Subjekt' vgl. Schlaffer 2 1973, S.12.
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'Points of view' Eine Landschaftsschilderung auf der 'ersten Ebene' kann als traditionelles Verfahren der Raumkonstitution angesehen werden. Der 'Erzähler' entwirft den Raum, in dem die Erzählung 'spielt': Im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts war der Vintschgau ein nicht viel einsameres und karger bevölkertes Tal als heute. Die begrenzenden Bergwände sind steil und waldlos; durch die zahlreichen Seitentäler blicken hochgetürmte Gipfel: Mut- und Rötelspitze, Texel, Schwarz- und Trübwand, Lodner und Tschigat und der majestätische Laaser Stock. Braunes und gelbes Felsgestein ist allenthalben emporgezackt, auf den Hangwiesen leuchten die Blumensterne alpiner Flora. 88
Jacob Wassermanns Erzählung 'Die Pest im Vintschgau' von 1911 beginnt mit einer geradezu 'klassischen' Schilderung der Örtlichkeit, wo die Ereignisse der folgenden Erzählung stattfinden. Durch den Hinweis, die Landschaft des Vintschgaus weise heute ähnliche Merkmale auf wie im 17. Jahrhundert, wird ein interessanter Aspekt deutlich: offenbar stimmen die erzählte Zeit und der Augenblick der Erzählung nicht überein. In der Hervorhebung der Zeitlosigkeit der Landschaft, die dem Leser die Atmosphäre der Erzählung näher bringen soll, offenbart sich ein Erzähler als Landschaftsbeschreiber. Ganz anders erscheint die Räumlichkeit aus der Perspektive des Protagonisten Franz. Am Ende der Erzählung auf dem Weg zu einem Nachbarhaus wird die Beschränktheit der Wahrnehmung des Helden betont: Die Dunkelheit war längst eingebrochen, als er über die Brücke ging [...]. Noch sah er die Fackel [, mit der Romild vom Nachbarhaus aus leuchten sollte,] nicht, so daß er wähnte, die nahen Häuser des Dorfes entzögen sie seinem Auge. Aber plötzlich flammte sie auf; die Straße noch, der Platz, und nun das Haus. 89
Die Erzählung gibt an dieser Stelle nur sukzessive die Blicke wieder, die von Franz stammen könnten. So steigert die Erzählung die Spannung, und die unverhoffte Wendung - Franz begegnet im Nachbarhaus nicht Romild, sondern der pestkranken »Gorilla-Äffin«90 - wirkt überraschender. Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten zitierten Landschaft aus Wassermanns 'Die Pest im Vintschgau' illustriert die Differenz zweier 'Points of view'. Beschreibungen auf der 'ersten Ebene'
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Jacob Wassermann: Schläfst du Mutter? Meistererzählungen. Nachwort v. Charles Wassermann. München, Wien 1984. S.71. A.a.O., S.79. A.a.O.
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können als typisch 'realistische' Landschaften angesehen werden, während die Wiedergabe der Perspektive des Helden als bewußt moderner Realisierungsversuch, wie er zunehmend im Jungen Wien zu finden ist91, bezeichnet werden kann. Die gezielte Inanspruchnahme der 'zweiten Ebene' für Landschaftsdarstellungen soll - so kann man thesenhaft formulieren - den Blick auf Wahrnehmungsbedingungen und wahrnehmungspsychologische Vorgänge eröffnen. Durch solche Realisierungen wird der Aspekt der 'Mittelbarkeit' literarischer Landschaften thematisch, indem eine Diskrepanz zwischen der Situierung einer Landschaft auf der zweiten Ebene der 'Points of view' und dem Einsatz von sprachlichen Mitteln, die die Distanz zwischen Leser und Text verringern sollen (Personale Erzählweise, Erlebte Rede, Innerer Monolog), deutlich wird. Raumvorstellungen der 'zweiten Ebene', die durch Funktionen innerhalb der literarischen Fiktion vermittelt sind, gibt es nicht nur in Prosatexten, sondern auch in der Lyrik und im Drama. Es macht einen Unterschied, ob ein Gedicht direkt eine Landschaft beschreibt, ohne eine vermittelnde Instanz zu setzen wie Beer-Hofmanns 'Strom vom Berge' -
Es springen junge Quellen Von Fels zu Fels, zerschellen Weiß schäumend, und gesellen Im Tal sich Bächen zu. 92 -
oder ob eine Landschaft in Bezug auf eine im Text genannte Person entfaltet wird. Ein Beispiel hierfür findet sich in Hofmannsthals Gedicht 'Der Jüngling in der Landschaft'. Eine bestimmte Empfindung und Auslegung der Landschaft wird an den 'Jüngling' geknüpft: Die Gärtner legten ihre Beete frei, Und viele Bettler waren überall Mit schwarzverbundnen Augen und mit Krücken Doch auch mit Harfen und den neuen Blumen, Dem starken Duft der schwachen Frühlingsblumen. Die nackten Bäume ließen alles frei: Man sah den Fluß hinab und sah den Markt, Und viele Kinder spielen längst den Teichen.
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Es ist ein bekannter Forschungstopos, daß eine Erzählweise, in der der Erzähler nicht mehr weiß als der Protagonist, »besonders häufig in der Moderne angewandt« wird (Zitat: Tzvetan Todorov: Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972. S.282). Beer-Hofmann 1963, S.655.
Durch diese Landschaft ging er langsam hin Und fühlte ihre Macht und wußte - daß Auf ihn die Weltgeschicke sich bezogen. 93
Die Landschaftsbeschreibung mutet zwar anfangs durch die allgemeinen Formulierungen und den lapidaren Tonfall94 - zuletzt durch das »Man sah« - 'auktorial' an, die Bezogenheit des Landschaftsbildes auf den Jüngling wird aber mit den letzten Zeilen der zweiten Strophe deutlich: er gestaltet - wie Richard Alewyn bemerkt - seine »Mitte«.95 Martin Stern weist darauf hin, daß in der zweiten Hälfte des Gedichts das »Verhältnis von Sprecher (lyrischem Ich) und Figur« komplexer wird; ein 'personaler* »Innensichtstandpunkt des Berichterstatters«96 sei jetzt konstatierbar, wobei sich in der dritten Strophe allerdings - mit der Wendung »ihm fiel nicht ein«97 - noch einmal eine 'auktoriale' Sprechergeste andeutet. Am Ende des Gedichts verschwindet die 'auktoriale' Geste des Anfangs vollständig hinter der dominanten Perspektive des Jünglings. Die 'Landschaft' wird zum Teil seines »Bewußtseins«.98 Der Duft der Blumen redete ihm nur Von fremder Schönheit - und die neue Luft Nahm er stillatmend ein, doch ohne Sehnsucht: Nur daß er dienen durfte, freute ihn. 99
Der »Duft der Blumen« weist zurück auf die Realisierung der fremden ästhetizistischen Landschaft im 'auktorialen' Bild der ersten Strophe. Der Einsatz zweier 'Points of view' legt so verschiedene Blicke auf die Landschaft frei. Im besonderen Blick des Jünglings zeigt sich seine »Metanoia«100: »fremder Schönheit« kann jetzt ein individueller Bezug zu den Elementen der Landschaft - ein Interesse an den 'Weltgeschicken' - entgegengesetzt werden.
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Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.43. Martin Stern spricht in diesem Zusammenhang von einer »parlandomäßigen Diktion«, die am Anfang des Gedichts »Leichtigkeit vortäuscht« (Martin Stem: Der Jüngling in der Landschaft. In: Margit Resch (Hg.): Seltene Augenblicke: Interpretations of Poems by Hugo ν. Hofmannsthal. Columbia/South Carolina 1989. S.201. Richard Alewyn: Hofmannsthals 'Der Jüngling in der Landschaft'. In: Alexander v. Bormann et al. (Hg.): Wissen aus Erfahrung. Werkbegriff und Interpretation heute. FS Hermann Meyer. Tübingen 1976. S.645. Stern 1989, S.201. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.43. Alewyn 1976, S.645. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.43. Stern 1989, S.2I6.
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Auch in dramatischen Texten der Jahrhundertwende kann man auf verschiedenste Weise vermittelte Landschaften konstatieren: Hofmannsthals 'Die Frau am Fenster' bietet die Möglichkeit, dieselbe Landschaft durch Regieanweisungen und durch die Beschreibung der Protagonistin Dianora vermittelt zu bekommen. Beim Vergleich der beiden Landschaftsentwürfe kann man bemerken, daß in der zweiten 'vermitteiteren' - Darstellungsebene die Interpretation der Landschaft als 'subjektives' Erlebnis in die Beschreibung hineingetragen wird, während die Regieanweisungen einen 'objektiven' Duktus weitestgehend bewahren. Die Szenerie der 'Frau am Fenster' entwirft der Dramentext so: Die Gartenseite eines ernsten lombardischen Palastes. Rechts die Wand des Hauses, welche einen stumpfen Winkel mit der den Hintergrund bildenden mäßig hohen Gartenmauer umschließt. [...] Man sieht zwei Fenster, jedes hat einen kleinen eckigen Balkon, dessen Steingeländer nach vorne Spalten hat, so daß man die Füße der Menschen sieht [...]. Der Garten ist nur ein Rasenplatz mit ungeordneten Obstbäumen. [...] Die linke Seite der Bühne bildet eine dichte Weinlaube, von Kastanienbäumen getragen.101
In den Regieanweisungen finden sich selbstverständlich bewertende man möchte sagen typisch 'epische' - Epitheta, wie 'ernst' oder 'mäßig'; später wird dort sogar die Abhängigkeit des Raumeindrucks vom Betrachterstandpunkt, von der Perspektive vermerkt und so der Aspekt der Relativität von Raumeindrücken thematisiert. Hinter der rückwärtigen Mauer befindet sich (für den Zuschauer auf der Galerie) ein schmaler Weg. 102
Dianoras Beschreibung der gleichen Szenerie setzt aber ganz andere Akzente. In ihren Wahrnehmungen wird der Schauplatz zur narzißtischen Landschaft, zur Landschaft ihrer Seele. Die Landschaft erhält damit eine Dimension, die auf der ersten Ebene nur schwer darstellbar wäre103: Wie abgespiegelt in den stillsten Teich liegt alles da, gefangen in sich selber. Der Efeu rankt sich in den Dämmer hin und hält die Mauer tausendfach umklommen, hoch ragt ein Lebensbaum, zu seinen Füßen steht still ein Wasser, spiegelt, was es sieht,
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Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.342. Vgl. auch: Dorothea Kuhn et al. (Hg.): Auch ich in Arcadien. Kunstreisen nach Italien 1600-1900. Sonderausstellung des SchillerNationalmuseums Marbach. Katalog Nr.16/1966. Marbach 3 1986. S.265f. 102 Hofmannsthal 1979, a.a.O. 103 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.b).
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und aus dem Fenster über diesen Rand von kühlen, festen Steinen beug ich mich und strecke meine Arme nach dem Boden. Mir ist, als war ich doppelt, könnte selber mir zusehn, wissend, daß ichs selber bin - 1 0 4
Nicht indem das Wasser als Metapher des Ineinanderübergehenden, des Fluiden schlechthin genutzt wird, erfaßt die Beschreibung die sich auflösende menschliche Gestalt, vermittelt sich die Auflösung des Subjekts in der Landschaft, wie Hanspeter Zürcher es an anderen Beispielen aus Hofmannsthals Werk nachweist.105 Vielmehr gebraucht Dianora das statische Bild des stillen Wassers, das 'Narziß'-Motiv, um das Widerspiegeln des Ichs in der Landschaft und damit eine vorbehaltlos subjektivistische Landschaftssicht zu vermitteln. Die Landschaft ist wie das stille Wasser Spiegel des Ichs. In Beer-Hofmanns Prolog-Entwurf zu einer 'Ariadne auf Kreta' tritt ein Sprecher durch den geteilten Vorhang in die »Mitte der Bühne«, »stößt den Stab«, den er in Händen hält, »zu Boden«106 und behauptet: Dies - nenn ich: Kretas Boden! Uns umgürtet Meer; Hoch über uns der Himmel; um uns, salzige Luft Vom Meer her, diese Mauem überquillt der Duft Von vieler Bäume rot- und weißem Blühen, Den Engpaß dort - seht ihr zum Meer sichziehn. Von dort kommt Theseus den Zuschauem zulächelnd - ist er erst gelandet. 107
Beer-Hofmanns 'Ariadne'-Fragment steht durchaus in der Tradition einer ganzen Reihe von Prologen um 1900. Sein Inhalt ist wie Hofmannsthals 'Einleitung' zu Schnitzlers 'Anatol' der Spielcharakter108 des kommenden Stückes, also eine Art poetologische Selbstreflexion. Zum Bestandteil dieser reflexiven Bewegung macht der Text seine eigene Raumillusion: Zwar sei die Zeit begrenzt und der Raum beengt109, in dem das Drama der 'Ariadne auf Kreta' als Spiel zu realisieren sei, der
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Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.352. Vgl. Hanspeter Zürcher: Stilles Wasser. Narziß und Ophelia in der Dichtung und Malerei um 1900. Bonn 1975. S.53-71. Beer-Hofmann 1963, S.657. A.a.O., S.658. Zur Charakterisierung des 'Spielcharakters' gehört auch in Beer-Hofmanns 'Ariadne'Prolog - wie in Hofmannsthals 'Anatol'-Einleitung (vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.60) - der Hinweis auf den Spielcharakter des Lebens: »Spiel ist euer Leben« (BeerHofmann 1963, S.658). Beer-Hofmann 1963, S.658.
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Zuschauer - der Prolog wendet sich ausdrücklich ad spectatores - möge die gegebene Räumlichkeit aber als spielerische Realität nehmen. Zwar scheint der Bezug auf die fiktionale Landschaft der Illumination der erwünschten Theaterrealität zu dienen, doch gerade die Beschreibung eines nicht vorhandenen Raums auf dem Theater bewirkt ein Gegenteiliges: sie macht erst den vermittelten Charakter des Spiels deutlich. Die Landschaft, die der Prolog beschreibt, existiert nicht einmal als Bühnenbild, als - übliche - dramatische Raumfiktion, sondern bloß in der Vorstellung: »Dies - nenn ich: Kretas Boden!«110 Zwar ist die Raumsituation so als durch Personen auf der Bühne vermittelte gekennzeichnet, doch bewirkt die Logik des Theaters, daß mit der Aufführung des Stückes eben auch die Räumlichkeit der vorgestellten Szene inszeniert ist und damit zu neuer Realität gelangt; auch das reflektiert der Prolog. »Was einst geschah«, sagt er, »wird wieder heut geschehn.« Im Drama sind die Theaterbretter Kretas Boden, ist »um uns [...] salzige Luft« und der »Engpaß dort«111 der Weg, den Theseus geht.
Darstellungssituationen Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß 'auktoriale' Erzählweisen von verschiedenen 'Points of view' aus gestaltet werden können: der 'Erzähler' auf der Bühne in Beer-Hofmanns 'Ariadne' wäre ein solcher Fall. In der Regel fällt allerdings jdie 'auktoriale' Darstellungssituation mit der 'ersten Ebene' zusammen. Die Unterscheidung zwischen 'auktorialer', 'personaler' Erzählsituation112 und der 'Ich'-Erzählung zielt
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A.a.O. Juliane Vogel (Wien) verdanke ich den Hinweis, daß Beer-Hofmann hier Motive der Prologe zu Shakespeares 'King Henry the Fifth' aufgreift. A.a.O. Die Differenzierung zwischen 'auktorialen' und 'personalen' Darstellungssituationen, sowie Darstellungen in 'Ich'-Form kann - wenn auch problematischer - auf die Lyrik, vielleicht sogar aufs Drama angewendet werden. Der in 'Ich'-Form wiedergegebene erträumte Raum in Paul Wilhelms 'Traumgewalt' (vgl. Paul Wilhelm: Traumgewalt. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.371f.) unterscheidet sich allein hinsichtlich der Darstellungssituation von der 'auktorialen' Beschreibung der Frühlingslandschaft in Hofmannsthals 'Vorgefühl' (Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.107). Auch 'personale' Landschaftsdarstellungen sind - wenn auch selten - in Gedichten der Wiener Moderne zu finden; in Dörmanns 'Sensationen'-Gedicht 'Sturm' werden beispielsweise die zum Teil unbewußten und nicht nur visuellen Wahrnehmungen eines Menschen wiedergegeben, der später direkt in der 2.Person Singular angesprochen wird (vgl. Dörmann 1892, S.33). Das Gedicht nutzt die Möglichkeit der 'personalen' Perspektive, wenn es später darauf verweist, daß die Wahrnehmungen des auf der Bank sitzenden Protagonisten nur den Hintergrund seiner Träumereien bilden, diese eigentlich nur als Assoziationsauslöser dienen. Bei der späteren (auktorialen) Wiedergabe der Träume wird der tatsächlich herannahende 'Sturm' als Metapher für seelische Zustände genutzt. Vgl. hierzu ausfürlicher Kapitel 3.a). Innerhalb des Dramas
zwar auf ein ähnliches Problem wie die Untersuchung der 'Points of view', sie »heben«, wie Stanzel bemerkt, »jedoch jeweils einen Aspekt dieses Sachverhaltes stärker hervor«.113 Beide Typologien sind, wie das Beispiel auch zeigt, nicht deckungsgleich. Kann der oben zitierte Anfang der Erzählung 'Die Pest in Vintschgau' von Jacob Wassermann als für diesen Autor durchaus typische 'auktoriale' Landschaftsbeschreibung angesehen werden, so finden sich in Arthur Schnitzlers Prosa in aller Regel 'personale' Landschaftskonstitutionen oder - als Ausnahmen - 'Beschreibungen' in der Ich-Form. Die Wiener Moderne - so kann man den oben formulierten Gedanken fortführen - sucht für die Darstellung vermittelter Landschaften in der von ihr bevorzugten personalen Darstellungssituation nach neuen Präsentationstechniken. Die wichtigsten dieser Darstellungstechnikeri sind die Erlebte Rede und der Innere Monolog; hier kann zwar Landschaft in der Regel nur mit kurzen, semiotisch oder assoziativ gebrauchten Stichworten evoziert werden, die Textfunktion eines so evozierten Raums geht aber über die reine Illustration des Erzählten - die primäre Funktion traditioneller Landschaft - hinaus; verschiedene (psychologische oder technische) Momente der Wahrnehmung werden darstellbar. In Arthur Schnitzlers Erzählung 'Frau Berta Garlan', die 1901 veröffentlicht wird, findet sich die Beschreibung einer Landschaftswahrnehmung aus dem fahrenden Zug. Diese 'vermittelte Landschaft' wird in personaler Erzählweise - wie sie sich seit Flauberts 'Madame Bovary' zunehmend in der erzählenden Prosa findet - präsentiert: Berta sah durch das offene Kupeefenster in die Landschaft hinaus [.] [...] Bald begannen die wechselnden Bilder vor dem Fenster sie angenehm zu zerstreuen. Während sie auf die Geleise schaute, die ihr entgegenzulaufen schienen, auf die Hecken und Telegraphenstangen, die an ihr vorbeischwebten und -sprangen, erinnerte sie sich der paar
macht es an sich wenig Sinn, von verschiedenen 'Darstellungssituationen' zu sprechen, wenn auch solche unterschieden werden könnten. Die Grenze der typologischen Unterscheidung verschiedener 'Darstellungssituationen' wird hier evident. Wenn Hofmannsthals 'Gestern' Andrea von sich als visionärer Figur sprechen läßt, die bestimmte Wahrnehmungen hat, könnte man einen solchen Wahrnehmungsbericht sicher als 'Ich'-Darstellung bezeichnen (Vgl.Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.227f.), während der Spielansager im 'Jedermann' und der Prolog in Beer-Hofmanns 'Ariadne'-Fragment eher 'auktorial' berichten. Ercole in Schnitzlers 'Der Schleier der Beatrice' berichtet von Gerüchten zur Situation der Stadt Bologna. In dieser Szene könnte man sogar eine 'personale' Erzähl- und Beschreibungssituation konstatieren (Vgl. Schnitzler 1977-1979[a), Bd.3, S.52). Mit der 'personalen' Wiedergabe der Situation Bolognas macht Ercole deutlich, daß hier - ein Hauptthema des Stückes zwischen Sein und Schein kaum zu unterscheiden ist. Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 2.b). 113
Stanzel "1989, S.37.
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kurzen Reisen ins Salzkammergut [...]· Dann blickte sie ins Weite, freute sich am Leuchten des Flusses, an den gefälligen Windungen der Hügel und Wiesen, am Blau des Himmels und an den weißen Wolken. 114
Das Zitat zeigt, wie die Erzählung die Innenperspektive der Protagonistin Berta annimmt; sie verfolgt ihren Blick aus dem Zugfenster, indem sie nur berichet, was Berta sehen kann. Dadurch werden die besonderen Wahrnehmungsbedingungen der Landschaft freilgelegt. Die Erzählung konstituiert keinen Erzählraum an sich, sondern verschiedene Perspektiven, verschieden empfundene Räume. Mit einer durchgängig 'auktorialen' Landschaftsbeschreibung könnte die Relativität der Landschaftswahrnehmung Bertas so nicht vermittelt werden. Eine solche 'personale' Darstellung von Landschaften macht deutlich, daß die Unterscheidung von 'Erzählerebene' und 'erzählter Ebene', wie sie eine strikt angewandte 'Point of view'-Typologie nahelegen würde, Probleme bereitet. Die Landschaft wird zwar auf der 'Erzählerebene' beschrieben, sie wird aber als 'vermittelte', aus der Sicht der Protagonistin präsentiert. Eine Beschreibungssituation, in der sich die Diskrepanz zwischen inhaltlich Beschriebenem und formalem 'Point of view' noch krasser zeigt, ist die Landschaftsbeschreibung in 'erlebter Rede'; diese konsequente Fortführung der personalen Erzählsituation115 findet sich in der Wiener Moderne bekanntlich sehr häufig. In Schnitzlers 'Die Toten schweigen' findet sich ein interessantes Beispiel für eine solche Schreibform. Die Erzählung wechselt bei Beginn der Erlebten Rede ins Präsens: Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. [...] Und sie begreift nicht, daß sie so lange schon dagestanden ist wie angewurzelt ... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht
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Schnitzler 1977-1979[b], Bd.2, S.94f. Als ein typisches Merkmal der 'Erlebten Rede' muß gelten, daß Räume oder Landschaften oft nur durch wenige Hinweise realisiert werden. Manchmal reichen Stichworte, um an eine bestimmte Raumsituation zu erinnern, wie hier in der Novelle 'Camelias' von Richard Beer-Hofmann: »Er hob den Kopf. Der 'schöne Freddy!' Wie weich, wie kosend das heute geklungen hatte, und dann im Wintergarten, und dann gestern [...] ... und dann vorgestern ... und dann neulich in der Loge ... und dann ...« (Beer-Hofmann 1893, S.95). Hier liegt die klassische Form der 'erlebten Rede' vor. 'Personal' werden Gedankengänge Freddys in der dritten Person Singular im epischen Präteritum berichtet. Grammatisch ist die Zuordnung des Gesagten eindeutig: hier wird erzählt, wenn auch Modus und Wortstellung durchaus an die 'direkte Rede' erinnern (vgl. dazu: Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Düsseldorf 1972. S.74 und Werner Hoffmeister: Studien zur erlebten Rede bei Thomas Mann und Robert Musil. Den Haag 1965. S.22). Inhaltlich werden Raumerinnerungen Freddys wiedergegeben.
einen Schritt ... Vorsichtig ... sie muß durch den Straßengraben ... hinüber ... einen Schritt hinauf - oh, er ist so seicht! - und noch zwei Schritte, bis sie in der Mitte der Straße ist... und dann steht sie einen Augenblick still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein verfolgen. Dort - dort ist die Stadt. 116
Auch hier ist die Erzählsituation 'personal'. Der Text berichtet über jene Räumlichkeit, die eine Figur der Erzählung wahrnimmt, und er bemerkt Vorgänge, die sich innerhalb der Protagonistin Emma abspielen. Sie »begreift« etwas nicht; die Erzählung schildert schließlich ihre und nur ihre Raumerfahrungen. Das im Leser evozierte Raumgefühl ist, im Vergleich zur bloßen Raumbeschreibung aus der Sicht des Erzählers, deutlich vermittelt: er liest, was der Text berichtet; dieser berichtet, was Emma erfahrt, ihre Raumwahrnehmung. Und doch hat es den Anschein, als erfahre der Leser 'unmittelbar' die Angstsituation Emmas: Schaut man sich Emmas 'Beschreibung' des Weges aus dem Graben genauer an, so stellt man neben dem Präsens, das Schnitzler wohl verwendet, um die Spannung der Situation, die Angst und Hektik der Protagonistin sprachlich zu verdeutlichen, auch Formen direkter Rede - also Formulierungen, die in der ersten Person Singular sprechbar sind - fest. Man könnte also bei Sätzen wie »Dort ist die Stadt.« oder »Oh, er ist so seicht!« von Ansätzen zum 'Inneren Monolog'117 sprechen. Hier vermittelt der Text
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Schnitzler 1977-1979[b], Bd.2, S.34f. Die frühesten Beispiele für einen 'Inneren Monolog' in deutscher Sprache sind Hermann Conradis 'Adam Mensch' (1889), Arthur Schnitzlers 'Erbschaft' (1887), 'Der Andere' (1889) und 'Sterben' (1892). Theodore W.Alexander (Schnitzler and the Inner Monologue: Α Study in Technique. In: Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 6,2-1967) sieht in 'Erbschaft' »the earliest example of a direct inner monologue« (S.5). Vgl. auch Worbs 1988, S.240 und Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.19. Das bekannteste Beispiel für den 'Inneren Monolog' ist Arthur Schnitzlers 'Leutnant Gustl'. Auch hier finden sich im Text indirekt wiedergegebene Raumerfahrungen in den direkt wiedergebenen Gedanken Gustls. »Ist das ein Gedränge! Lassen wir die Leute lieber vorbeipassieren ... [...] So, jetzt die Treppen hinunter ... [...] Wo ist denn das hübsche Mädel? Ah, dort... am Geländer steht sie ... So, jetzt heißt's noch zur Garderobe ... Daß mir die Kleine nicht auskommt ... [...] Herrgott ist das ein Gedränge bei der Garderobe!« (Schnitzler 1977-1979[b], S.212f.). Ohne daß die Räumlichkeit näher beschrieben wird, gelingt durch wenige in den Gedankengang eingefügte Ortsangaben die Evokation einer relativ plastischen Raumsituation. Zwar wäre auch hier die Kenntnis der Räumlichkeiten des Musikvereinsgebäudes an der Dumbagasse hilfreich, die Schnitzler bei den Lesern der 'Neuen Freien Presse' (Erstveröffentlichung von 'L(i)eut(e)nant Gustl' dort am 25.12.1900) voraussetzen konnte, aber im Grunde setzen Schnitzlers Andeutungen über ein Gedränge am Ausgang und an der Gaderobe des Konzertsaals nicht viel Phantasie voraus, um sich die räumliche Situation zu imaginieren, wo die entscheidende Szene des 'Leutnant Gustl' spielen könnte; dazu reichen unpräzise Hinweise. Wichtig für die Szene an der Garderobe zwischen dem Bäckermeister und Gustl sind die vielen Leute,
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Augenblicke höchster Erregtheit. Beide Mittel - präsentische Formulierungen und die Ansätze zum 'Inneren Monolog' - geben Emmas Raumerfahrung einen hohen Grad an vermeintlicher Authentizität, die die Identifikation des Lesers mit der Protagonistin fördert und die Prosa 'psychologisch' lesbar macht. Der Text spricht plötzlich mit den Worten seiner Heldin, so daß die Erzählsituation völlig aus dem Blickfeld gerät. c) Ausschnitt und Perspektive Als letzter Aspekt der Beschreibung typischer Realisierungsformen soll die stärker inhaltlich1^ bestimmte Frage nach Ausschnitt und Perspektive der Räume und Landschaften gestellt werden. Räume und Landschaften sind in der Literatur - wie in der bildenden Kunst, in der Fotografie oder im Film - durch die Wahl bestimmter Ausschnitte und Wahrnehmungsperspektiven gekennzeichnet, die hier allerdings sprachlich 'nachgezeichnet' werden. Im Zentrum., der letzten beiden Kapitel stand das Verfahren, wie ein Raum im Text zu vermitteln sei und die Instanz, die ihn vermitteln kann. Hier richtet sich nun das Augenmerk auf Form und Gestalt des Gegenstandes, auf seine Profilierung im Text. Vier Aspekte werden in diesem Zusammenhang behandelt: der Blickwinkel, aus dem ein Raum gesehen wird, der Ausschnitt, den ein Text wählt, die Dimensionalität des realisierten Raums und die Möglichkeit der polyperspektivischen Darstellung. Relativ einfach erscheint die Unterscheidung verschiedener Blickwinkel. Die häufigste Ansicht einer Landschaft wird vermutlich auch in der Literatur der Blick von einem erhöhten Standpunkt auf ein Panorama sein. Richard Schaukai liefert dafür in seinem oben erwähnten Buch 'Grossmutter' ein 'klassisches' Beispiel; die von oben betrachtete Vorstadt-Landschaft ist allerdings auch für die Wiener Moderne ein eher ungewöhnliches Objekt. Die Beschreibung stammt aus der Feder des fiktiven Verfassers Conrad F.: Wenn man vom Johanniesberge niedersteigt [...], blickt man über eine rote Einfassungsmauer aus Ziegelsteinen hinaus ins flache Land, wo abends die Signalfeuer grün und rot aufleuchten und einsame Schlote rauchen. [...] Man sieht über Dächer, sieht eiserne Hangegänge an den Haushofwänden, wo Wäsche schlapp niederbaumelt und Katzen schleichen. Dann kommen wieder ein paar magere Bäume, dann die Strasse, die
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das fast hektische Gedränge und der öffentliche Charakter dieses Ortes. Der 'Major', den Leutnant Gustl wahrnimmt, und den er bei dem Zwischenfall hinter sich wähnt, charakterisiert gewissermaßen in nuce die öffentliche Stellung des Offiziers. Die fatale Szene setzt eine solche Örtlichkeit, die im Text angedeutet wird, voraus. Das Kapitel interessiert sich für Raum- und Landschafts/örmen; ausgegrenzt werden die spezifischeren inhaltlichen Konnotationen von Räumen. Vgl. dazu Abschnitt 3.
zu dem Vororte führt, und weiter rückwärts beginnt das Gehege der Bahndämme. Dort ist die grosse Feme. Dort wohnt eine graue Sehnsucht. 119
Die Weite des Landschaftsblicks wird durch abgestuft hintereinanderliegende Bildelemente verdeutlicht. Im Vordergrund sind Dächer, über die hinweg man auf Bäume, die Straße und schließlich im Hintergrund auf die weiter entfernt liegenden Bahndämme sieht. Den Blick über »eine rote Einfassungsmauer« auf die Dächer und in die Ferne ermöglicht der erhöhte Standpunkt während des Abstiegs vom »Stadthügel«.120 »Das ist alles nur so, wenn man hinuntersteigt«121, konstatiert Conrad; anders zeigt sich die Landschaft beim Hinaufsteigen: Schaukai liefert im selben Kapitel ein Beispiel für einen eingeschränkten Blick von unten nach oben: Geht man hinauf, [...] dann steigt hinter Gebüsch der Himmel auf, und man nähert sich der Region der Kinder. Sie spielen in der Obhut von Mädchen [...]. Ueber dem Getriebe, das wie ein Mückenschwarm summt, erhebt sich emst und feierlich der Obelisk aus den Zeiten der Siege Österreichs. 122
Die Landschaft, die beim Aufstieg erfaßt wird, beschränkt sich zuerst auf die Büsche und den Himmel. Erst als man die »Region der Kinder« erreicht, wird auch der Obelisk sichtbar. Schließlich kann der Erzähler »im Schatten dichter Bäume« den alten »Brunnen unter der Kolonade«123 entdecken. Ein deutlich verändertes Beschreibungsverfahren setzt also mit der gewandelten Perspektive ein. Die sukzessive Beschreibung verläuft parallel zum Aufstieg und erläutert nicht mehr ausführlich einzelne Elemente eines 'totalen' Bildeindrucks. Die jeweiligen Blicke erscheinen für sich genommen offenbar weniger vielfältig. Neben dem möglichst breiten Erfassen eines Raumpanoramas hat um 1900 das Hervorheben einzelner Ausschnitte eine wahre Konjunktur. Wolfgang Iskra konstatiert, daß »in der deutschen Prosa um 1900 [...] ein bewußt gehandhabtes Ausschnittverfahren in einer vorher unbekannten Auffälligkeit«124 begegnet. Die Beispiele, die Iskra anführt, entstammen
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Schaukal 2 1911, S.48. A.a.O. (Kapitelüberschrift). A.a.O., S.48f. A.a.O., S.49. A.a.O. Iskra 1967, S.25f. Vgl. auch Susanne Hausers kürzlich vorgebrachte Kritik an Iskras Thesen. Viele der von Iskra konstatierten literarischen Wahrnehmungsphänomene wie »synästhetische Wahrnehmungen, Auflösungen der Umrisse von Gegenständen, Farbspiele« - seien »bereits aus der Literatur der Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert bekannt« (vgl. Hauser 1990, S.157).
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überwiegend der Wiener Moderne. Eine »Überbelichtung des Details«125 sieht er an verschiedenen Stellen in Beer-Hofmanns 'Tod Georgs' verwirklicht. In der Beschreibung des Sterbezimmers der von Paul imaginierten Frau isoliert und exponiert die Partikel 'nur' die Hand der sterbenden Frau; die Hand der Frau wird - um einen Begriff der Fotografie zu verwenden - 'gezoomt' und nun detailliert beschrieben: Eine plumpe spanische Wand, beklebt mit alten kolorierten Modekupfem, stand an der Längsseite des Bettes, so daß er nur [Hervoih.d.V.] die Hand der Kranken sah. Der dünne Batistärmel war nach oben geschoben; hart traten die Knöchel an dem schmalen Gelenk vor, der Handrücken sank spitz in die weiche Seide der Decke, und die innere Fläche der offenen Hand war fleischlos und voll schlaffer Falten. [...] An den mageren Fingern hingen zu groß gewordene Ringe. 126
An diese Beschreibung der Hand schließen sich weitere Ausschnittvergrößerungen an; zuerst werden die Ringe, dann die Steine der Ringe beschrieben.127 Ähnliche, wenn auch nicht so extrem ausgeführte Ausschnittvergrößerungen, finden sich in der Wiener Moderne allenthalben.128 Das sukzessive 'Zoomen' von Details ist im Grunde ein filmisches Mittel und kann von den (älteren) 'optischen' Medien Malerei und Photographie so nicht nachvollzogen werden; umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß sich ein solches Herantasten an den Gegenstand schon in der Literatur der Wiener Moderne findet. Offensichtlich nutzt hier die Literatur das ihr oft als Nachteil ausgelegte - sukzessive Verfahren für eine bis dahin singulär erscheinende Möglichkeit der Raumwiedergabe. Daß das gehäufte Vorkommen solcher Beschreibungstechniken im Fin de siecle mit
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Iskra 1967, S.27. Beer-Hofmann 1980, S.37f. Als weiteres gutes Beispiel für dieses Phänomen vgl. S.72: die weißen Bartstoppeln auf dem Gesicht der Bauern, die Paul vom Zug aus sieht. Vgl. a.a.O., S.38. Ein weiteres Beispiel für die Hervorhebung eines 'Ausschnitts' findet sich in Hofmannsthals 'Erlebnis des Marschalls von Bassompierre'. Zweimal erscheint die »kleine Laterne« (Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.136) der Totengräber in der Erzählung: sie scheint durchs Fenster der Kupplerin als semiotische Vorausdeutung des Todes und erleuchtet schließlich das Anlitz des Marschalls auf der Treppe im Haus der an der Pest gestorbenen Geliebten (vgl. a.a.O., S.142). Eine geradezu klassische sukzessive Ausschnittvergrößerung findet sich am Anfang der 'Verwirrungen des Zöglings Törless' von Robert Musil. Während der erste elliptisch formulierte Satz der Landschaftsbeschreibung lapidar den Ort der 'kleinen Station' im europäischen Eisenbahnnetz festschreibt, rückt am Ende dieser Beschreibung die 'Taschenuhr' in den Händen des Bahnhofsvorstandes in den Blickpunkt (vgl. Musil 1983, PS, S.7).
der Entwicklung des Films (seit etwa 1890) zusammenfällt, ist für die Erforschung des Raumbewußtseins ein sicherlich interessanter Aspekt. Wenn man an die Maler des Wiener Jugendstils denkt, erscheint es vollkommen einleuchtend, daß man eine neuartige Handhabung der Dimensionalität - nämlich eine Betonung von Flächenhaftigkeit und geschwungenen Linien - als Hauptmerkmale ihrer Kunst festmacht. Klimts Hauptwerk 'Der Kuß', die 'dekorativen' Landschaften Böhms oder Alfred Rollers Plakat zur 14. Ausstellung der Secession129 zeigen beispielhaft, daß mit dem Gestalten zweidimensionaler Bilder um 1900 - ein mehr oder minder bewußter Rückgriff auf die Malerei vor, " der Renaissance (in diesem Sinne: 'prä'-raffaelitisch) - eine Alternative zur Zentralperspektive gesucht wird. Auch im ästhetischen Diskurs der Wiener Moderne spielen die Stichworte 'Fläche' und 'Linie' eine große Solle. Anton Lindner rechtfertigt beispielsweise in dem ausführlichen, am 1.1.1900 in der Wiener Rundschau erschienenen ersten Teil seines ästhetischen Essays 'Farbe und Linie' eine Kunst, die Räume 'innerlich' und nicht perspektivisch konstruiert: Perspectivische Raumwirkung im wörtlichen Sinne dieses Terminus scheint mir eben mit Unrecht als Specificum des Bildhaften zu gelten.130
Die »psychische Raumwirkung« hebe »das decorative Element der Farbenflächen, Flecken und Punkte«131 hervor. Die psychische Raumwirkung der neuen Kunst sei das Resultat eines 'abstrakten', nicht 'realistischen' Zusammenspiels von »Flächen und Linien«: Flächen und Linien, sich selbst überlassen, formen sich im Auge des Beschauers zu rhythmischen Visionen [...] (für die ein Terminus noch nicht gefunden ist, die aber den 'Klangfiguren' in der Schwesterkunst Musik analog sein mögen), verdichten sich zu Rundungen und Kanten, dehnen sich, strecken sich nach allen Keilrichtungen [...] und fügen sich in der Seele des Betrachters zu perspectivischen Raumverhältnissen, die [...] äußerlich nicht existent sind.132
Die bildende Kunst (zumindest der Wiener Moderne) bleibt zwar noch weitestgehend hinter dieser Forderung nach einer 'abstrakten' Kunst
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Gustav Klimt: 'Der Kuß', 1908, Österreichische Galerie, Wien; Adolf Böhm: 'Decorative Landschaft', Ver Sacrum 1-1898, Heft 7 und 'Landschaft', 1901, Historisches Museum der Stadt Wien (vgl. Abb.); Alfred Roller: 'Plakat der 14. Ausstellung der Wiener Secession', 1902, Historisches Museum der Stadt Wien. Lindner 1976, S.1041. A.a.O. A.a.O., S.1042.
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zurück, die auch Hermann Bahr zur gleichen Zeit zu fordern beginnt133 ; sie zeigt aber ähnliche neue Ansätze zu einer zweidimensionalen Bildgestaltung, die, wie Lindner bemerkt, auf die 'äußere' Perspektivengestaltung verzichtet. Es verwundert deshalb kaum, daß auch in der Raum- und Landschaftsdarstellung der Wiener Literatur dieser Zeit die 'Zentralperspektive' - soweit man überhaupt bei literarischen Landschaften davon sprechen kann - in Frage gestellt wird, zumindest aber die Dimensionalität der Darstellungen neu überdacht wird. Deutlich von den Vorstellungen der bildenden Kunst um 1900 scheint eine Landschaft Beer-Hofmanns im 'Tod Georgs' geprägt zu sein. Hier sind - wie Iskra darlegt - »die optischen Valenzen unabhängig von der wirklichen Plastizität der [...] Raumtiefe auf ein streng zweidimensionales Bildgefüge«134 bezogen. Paul, der Betrachter dieses Bildes, »steht vor der Landschaft wie vor einem Gobelin«135: Im Dämmern stand er ihr gegenüber; am Wiesenhang, zwischen hohen weißen Narzissen, die so dicht wuchsen, daß jeder Schritt die schlanken Stiele zu knicken drohte. Hinter ihr stieß der Saum der Wiese an den lichten Abendhimmel, und scharf grenzten sich von ihm ab die dichtgedrängten duftenden Blumen und ihre schmächtige weiße Gestalt. [...] Und wie sie langsam bergab schritt, glitt ihr Umriß vom lichten Himmel ab auf den weißblühenden Wiesenhang, der steil wie eine Wand hinter ihr emporstieg. Fast körperlos schien sie; nur ihr eignes weißes Bild, das sich in fremden Linien von den Blüten und Stengelgewirr der narzissenübersäten Tapete hob. 136
Rainer Hank sieht in dieser Landschaftsbeschreibung eine »Rückverwandlung von Natur in Kunst«.137 Das »ornamentale Gewebe« erinnere an »Bildmaterial von Darstellungen der femme fragile, etwa bei den in Wien damals hochmodernen Präraffaeliten«.138 Jacques Le Rider bemerkt außerdem »charakteristische Züge des Jugendstils«: das »Fehlen einer Tiefe und einer Perspektive, das dichte ineinandergewobene Liniengeflecht, die Idylle eines durch Unsicherheit bedrohten locus amoenus«.m
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Vgl. Bahr 1912, S.175; dazu: Kapitel l.b) und 2.b). Iskra 1967, S.9. A.a.O. Beer-Hofmann 1980, S.15f. Rainer Hank: »Sanfte Apokalypse«. Untergangsvisionen in der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende. In: Literatur und Kritik 241,242-1990. S.62. A.a.O. Zur Relevanz der präraffaelitischen Ikonographie in Wien um 1900 vgl. Kapitel 2.b). Jacques Le Rider: Narziß und das Ornament. Anmerkungen zur Literatur und Kunst um 1900 (Lou Andreas-Salome, Gustav Klimt und Richard Beer-Hofmann). In: Cornelia Klinger, Ruthard Stäblein (Hg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Frankfurt, New York 1989. S.205; vgl.
Neben Raumdarstellungen aus der Sicht eines Standpunkts finden sich in der Wiener Moderne häufig auch polyperspektivische Darstellungen. Pauls Wahrnehmung einer Landschaft in Beer-Hofmanns 'Tod Georgs' wird durch sein Wissen vom gleichzeitigen Blick seiner erträumten Frau in die Landschaft dominiert. Die Landschaftsdarstellung enthält dadurch zwei Perspektiven: Sie [neigte] sich weit über die Brüstung und sah auf die Landschaft. Er sah nur die graue steinerne Masse der Brustwehr, und von ihr bis zu den weiten Bergen [...]. Die aber über die Brustwehr sich neigte, sah alles was dazwischen lag. Unter ihr Felsen und Baumwipfel und die Dächer der Häuser und Brunnen und weiße breite Wege zu Schlössern zwischen Gärten. 140
Die Landschaftsbeschreibung setzt sich zusammen aus dem, was Paul sieht und jenem, was nur die Frau wahrnehmen kann. Dieses aber - weil es sich um eine Erinnerung Pauls handelt - ist aus seiner Perspektive rekonstruiert. Die polyperspektivisch wahrgenommene Berglandschaft ist also auch ein Resultat von Pauls imaginierender Erinnerung. Ahnliche Phänomene sind durchaus typisch für moderne Landschaftswahrnehmungen.141 Nicht immer vermitteln wahrnehmende Personen die verschiedenen Perspektiven; in Andrians Gedicht 'Der früheste Morgen' stellt das lyrische Ich eine Perspektive dar, während der erwachenden Stadt eine andere Perspektive gegeben wird: Die Häuser aber blicken auf die welke Pracht So wie auf Schmerzen, die man nicht begreift,
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auch: Le Rider 1990, S.392f. Als weiteres Beispiel könnte man vielleicht Hofmannsthals schon zitiertes Gedicht 'Der Jüngling in der Landschaft' nennen. Richard Alewyn sieht dort am Anfang »eine Landschaft ohne Horizont und ohne Mitte« (Alewyn 1976, S.644) verwirklicht, deren Sätze »fast ausnahmslos parataktisch aneinandergereiht« (a. a.O.) seien. Weder ein Betrachterstandpunkt - und damit die Möglichkeit Vorder- und Hintergrund zu unterscheiden - noch eine Beziehung der wahrgenommenen Landschaftselemente zueinander kann der Leser konstatieren. Erst als der Jüngling durch die Landschaft schreitet »erhält [...] die [...] Landschaft auf einmal, was ihr fehlte: eine Mitte« (S.645). Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.43 und Kapitel l.b). Beer-Hofmann 1980, S.65f. Ein typisches Beispiel findet sich auch in Hofmannsthals Erzählung 'Das Dorf im Gebirge'. Der Erzähler realisiert hier mehrere Perspektiven: eine »von weitem« auf eine Wiese, in der Tennisplätze aufgebaut worden sind und weitere durch die Netze der Tennisplätze hindurch auf die landschaftliche Umgebung: »der blaugriine See, der weiße Uferstreif, der Fichtenwald, die Felsen drüber und zuoberst der Himmel von der zarten Farbe wie die blassen Blüten von Heidekraut, alles das trägt die grauen feinen Vierecke des Netzes auf sich« (Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.102).
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Sie haben die erstorbne Nacht Wie einen Mantel abgestreift. 142
Daß als Skopus des Gedichts der Zustand des Erwachens und nicht die Beschreibung eines Morgens in der Stadt zu sehen ist, wird erst deutlich, wenn der Text eine anthropogene Perspektive in die Beschreibung einbringt: »So wacht man auf der Reise auf.«143 Das im Plural sprechende lyrische Ich zeigt dann eine ganz andere Beziehung zur Nacht als »die Häuser«; ihm ist die Nacht präsent. Diese zwei Perspektiven bestimmen das Gedicht, ungeachtet der interpretatorischen Möglichkeit, die Perspektive der »Häuser« als Projektion dps lyrischen Ichs zu deuten. Die Polyperspektive, die durch verschiedene Wahrnehmungssubjekte erreicht wird, ist von jener zu unterscheiden, die durch einen zeitlichen Abstand zwischen zwei Wahrnehmungen einer Person möglich ist. Ein Beispiel hierfür wäre Pauls Wahrnehmung einer Seelandschaft aus dem Krankenzimmer seiner Frau im 'Tod Georgs', deren früheres »Bild verloren«144 geht und sich nun ganz anders offenbart. Auch Peter Altenberg spielt in seiner Skizze 'Baden bei Wien im Frühling' mit der Möglichkeit, eine Landschaft in zeitlichem Abstand jeweils anders zu sehen. Traditionell an den Jahreszeiten orientiert, unterscheidet er zwischen der Saison - dem Sommer - in Baden und der stillen Zeit im Frühling oder Spätherbst. Die »von Kastanienblüten strotzenden stillen Gärten«145 können von den 'Hausbesitzern', aber nicht von den Sommergästen wahrgenommen werden. Diese »genießen phantasielos das Sein, wollen sich ä tout prix Gesundheit und Frieden herausschlagen für ihre Sommermiete«; während gerade in der Zeit, wo noch Täfelchen »Zu vermieten« an den Häusern hängen, »ein Hauch von kühlem Frieden durch die Landschaft«146 streicht. Zusammenfassung Will man die in den letzten drei Kapiteln entwickelten Gedanken zu Realisierungsformen von Räumen und Landschaften resümieren, so läßt sich hervorheben, daß viele der von den Jung-Wienern angewandten Verfahren und verwirklichten Formen in der Regel eine primär moderne Sehweise illustrieren sollen. Offensichtliche Beispiele sind der Innere Monolog in Erzählungen Schnitzlers, die 'Description en mouvement' und polyperspektivische Landschaftsbeschreibungen in Beer-Hofmanns
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Andrian 4,5 1919, S.70. A.a.O. Beer-Hofmann 1980, S.46f. Altenberg 1977, S.384. Alle Zitate: a.a.O.
Werken oder die vielen, oft nur im Kontext der Moderne zu verstehenden semiotischen und assoziativen Referenzen. Die Auflösung eindeutiger semiotischer Beziehungen und die Aufhebung eines syntagmatischen Kontextes lassen Tendenzen der semantischen Isolierung einzelner Lexeme deutlich werden, die manche textuellen Raumevokationen hermetisch verschlüsseln, im Grunde 'unverständlich' erscheinen lassen; zu nennen wäre hier Hofmannsthals 'Lebenslied' oder Kokoschkas 'Die träumenden Knaben'. Das vielleicht interessanteste Phänomen der literarischen Realisierungsformen ist ihr expliziter Bezug auf zentrale Komplexe der Moderne, vor allem auf das Problem der adäquaten sprachlichen Vermittlung jener anderen - 'neuen' - Raumwahrnehmungen und Situationen, die die Diskurse der Moderne vorschreiben. Altenbergs 'Akole's Gesang' zeigt, daß unter Umständen zwar eine für das Wien um 1900 'neue', aber nicht unbedingt durch die Modernität der Lebenswelt bedingte Reaktion auf Landschaft vorgeführt werden soll. Daß sogar ein historischer Stoff von den Autoren des Jungen Wien aufgegriffen werden kann, um eine 'moderne' Raumkonstellation zu erreichen, zeigt sich beispielhaft an der semiotischen Raumentfaltung in Schnitzlers 'Der grüne Kakadu'. Ein wesentliches inhaltliches Merkmal der Raumdarstellung in der Wiener Moderne - die Evokation ästhetizistisch erlebter Abgeschlossenheit gegenüber einer profan oder sogar bedrohlich empfundenen Welt - wird dort gerade durch die Wahl eines historischen Ortes (Paris 1789) erreicht. Das Ambiente der französischen Revolution wird nur mit wenigen Stichworten angedeutet, ohne historistisch überstrapaziert zu werden. Das Vermittlungsproblem von Räumen und Landschaften wird oft von den Texten selbst thematisiert; die Reflexion der Wahrnehmungsbedingungen geht in die Darstellung der Wahrnehmungen ein. BeerHofmanns 'Ariadne'-Prolog kann hierfür als bemerkenswertes Beispiel dienen. Die Realisierungsformen von Räumen in der Wiener Moderne - das wurde auch deutlich - erreichen allerdings keineswegs das experimentelle Niveau, das die Texte Kafkas, des späten Musils oder des Expressionismus prägt; die Literatur Jung-Wiens ist insofern repräsentativ für den »Aufbruch in die Moderne«.
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2. 'Historistische' Referenzen: Kulturparadigmen in Landschaften Jede literarische Landschaft verfährt in gewisser Weise 'historistisch'. Sie dokumentiert ein bestimmtes Raumverhältnis als historisch bedingtes und 'bewahrt' durch seine semiotische Struktur geschichtliche Bezüge der jeweiligen Landschaft im Augenblick des Beschreibens.1 Die literarische Landschaft ist folglich weder eigentlich 'historisch' noch 'zeitlos': sie enthält Hinweise auf Vergangenes, die eingebunden sind in einen gegenwärtigen Kontext. Die Landschaften der Wiener Moderne konstituieren sich wesentlich durch solche 'historistischen' Referenzen. Diese Bezüge sind nicht an sich in den Räumen und Landschaften auffindbar, sondern stehen im Kontext kultureller - vor allem ästhetischer - Diskurse. Die Überlegungen zu den Realisierungsformen der Räume und Landschaften ließen die Frage nach den Diskursen, die sich in die Landschafts- und Raumvorstellungen 'einschreiben', weitestgehend offen, wenn auch gelegentlich auf die Rezeption literarischer Motive und die Wiederaufnahme oder Variation von ikonogräphischen Mustern für die Raum- und Landschaftskonstitution hingewiesen wurde. Nicht nur die oben beschriebene Verwendung literarischer Formen der Raum- und Landschaftsdarstellung läßt aber auf die Schwellensituation der Literatur des Jungen Wien zwischen Tradition und Moderne schließen, sondern auch die Kulturparadigmen, die den Raumevokationen zugrunde liegen, ihre intertextuellen und ikonogräphischen Bezüge. Nun soll hier nicht summarisch irgendwelchen Vorlagen für literarische Deskriptionen im Sinne einer bloßen Einflußforschung nachgegangen werden; vielmehr steht im Zentrum des folgenden - allgemeiner die Frage nach den ATw/tarparadigmen, auf die die Landschafts- und Raumdarstellungen des sich primär in gemeinsamen ästhetischen Diskursen konstituierenden Jung-Wien zu beziehen sind, auf die diese Literatur ganz selbstverständlich rekurriert. Auf die politischen und psychologischen Diskurse soll hier nicht noch einmal gesondert eingegangen werden.2 Besonders jene Texte werden eingehender betrachtet, die Elemente
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Vgl. Reichel 1987, S.7-9 und Helmuth J. Schneider: Erinnerte Natur. Einleitende Bemerkungen zur poetischen Geschichte deutscher Landschaft. In: Helmuth J. Schneider (Hg.): Deutsche Landschaften. Frankfurt 1981. Besonders: S.XVf. Wichtige politische Diskurse wurden - soweit sie für die Raum- und Landschaftsdarstellungen relevant waren - in den 'Voraussetzungen' entfaltet. Weitere Anmerkungen zur Relevanz politischer Diskurse vgl. Kapitel 3.c). Zum psychologischen Diskurs vgl. Kapitel 3.b).
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verschiedener Diskurse nicht bloß übernehmen, sondern - ein typisches Phänomen des Jungen Wien - produktiv rezipieren. Solche Bezüge erscheinen zwar als spezifisch neu konstituierte Zeichenkomplexe in der inhaltlichen und formalen Struktur der Texte; die Paradigmen, auf die die Texte beziehbar sind, bleiben aber als, wenn auch variierte, Referenzsysteme präsent, obgleich sie diese - inhaltlich und formal - in einen gänzlich anderen - modernen - Kontext inaugurieren. In dem Moment, in dem ein Zeichenkomplex des rezipierten Kunstwerks Bestandteil des neuen Textes geworden ist, gewinnen die Zeichen eine neue Semantik, ohne ihren bisherigen Bedeutungshof gänzlich zu verlieren. Insofern enthält der Landschafts- oder Raumentwurf prinzipiell 'ungleichzeitige' Elemente. Die Hinweise auf intertextuelle und ikonographische Bezüge eines Entwurfs und seine Stellung innerhalb des jeweiligen Diskurses sollen auch den (literatur-geschichtlichen Ort des Textes - in der Verbindung synchroner und diachroner Perspektiven - eröffnen. 3 Auf die komplizierten Rezeptionsbedingungen der Texte im einzelnen kann nicht eingegangen werden. Der hier eingeführte Begriff der 'Ungleichzeitigkeit' geht auf Gerard Raulet zurück, der eine im Landschaftsbild präsent werdende Diskrepanz zwischen »historisch Noch-nicht-Gleichzeitige[m]« sieht4, die »von der geschichtlichen Praxis aufgehoben werden kann«.5 Die Landschaften der Wiener Moderne zielen nicht unbedingt auf Veränderungen. Deshalb ist dort eine projektierte Harmonisierung des Ungleichzeitigen in der gesellschaftlichen Praxis weitestgehend irrelevant. Trotzdem enthält das auf vorgängiges Zeichenrepertoire referierende Landschaftsbild häufig den Charakter einer utopischen Vorstellung, eines Gegenbildes. Man kann sagen, die im Landschaftsbild nebeneinander erhaltenen - aber keineswegs überwundenen - antagonistischen Elemente sind typisch für die Wiener Moderne. Die von Dörmanns Palmenhaus-Gedicht aufgegriffene Insel- und Südsee-Metaphorik, auf die später noch näher einzugehen sein wird, ist ein gutes Beispiel für eine solche Verwendung rezipierter Elemente.6 Ein wesendicher Aspekt der Literatur der Wiener Moderne, der ganz zentral für die Raum- und Landschaftskonstitution ist, »leitet sich aus dem Bewußtsein« der Jung-Wiener »ab, über nicht weniger als die gesamte abendländische Kultur seit der Antike verfügen zu können«.7 Die
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Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970. S. 171ff. Raulet 1987[a], S.45. Zum Begriff des 'Ungleichzeitigen' vgl. auch Foucaults Begriff der 'Diskontinuität'. Dazu vgl. Foucault 1991, S.34ff. und Frank 1988, S.35f. Raulet 1987[a], a.a.O. Vgl. Kapitel 3.a) und 3.c). Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.61 ('Einleitung').
Möglichkeit des freien Zugriffs auf frühere Epochen - die historistische Situation - prägt wesentlich den Umgang dieser Moderne mit der vergangenen Zeit; gerade das Bewußtsein, Spätgeborene zu sein, lassen die Jung-Wiener die Literatur und Kunst vergangener Zeit für ihre Moderne nutzen, ohne daß sich ihnen das Problem der Epigonalität in gleicher Weise stellt, wie der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Natürlich gibt es Ausnahmen, findet man epigonale Adaptationen vorgängiger Kunst und Literatur auch in der Wiener Moderne. Hier allerdings soll auf den produktiv praktizierten Umgang mit der Tradition hinsichtlich der Raum- und Landschaftserfahrung verwiesen werden, der durchaus nicht die Ausnahme ist. Der Gedanke einer solchen 'produktiven' Nutzung der historistischen Situation wird ausführlich im dritten Teil dieses Kapitels (nach der Erläuterung paradigmatischer intertextueller und ikonographischer Bezüge) ausgeführt und am Beispiel des ersten 'D'Annunzio'-Essays von Hofmannsthal erläutert. Das Stichwort, das diesen speziellen Umgang mit historistischen Bezügen kennzeichnen soll, heißt: 'produktiver' Historismus. Darunter ist das (scheinbar) souveräne ästhetische Verfügen über ein historistisch vertraut gewordenes, historisch durchaus aber entferntes - und d.h. 'fremdes' - Zeichenrepertoire zu verstehen, mit dem auf eine sich krisenhaft zeigende Moderne in Kunstwerken reagiert wird. a) Intertextuelle Bezüge Im folgenden sollen also intertextuelle Bezüge der Raum- und Landschaftsrealisierungen herausgearbeitet werden, die die Diskurse der Wiener Moderne entscheidend prägen, ohne daß das historisch Entfernte vollkommen adaptiert worden ist. Solche Bezüge erscheinen aus zwei Gründen interessant: Entweder dienen sie dazu, die modernen Raum- und Landschaftserfahrungen, die in den Texten vorgeführt werden, von zentralen Paradigmen der Tradition abzusetzen (gezeigt wird dieser Bezug anhand der Antike, der Goethezeit und der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts) oder sie werden mit affirmativem Duktus in die Raum- und Landschaftsdarstellungen einbezogen (solche 'Belegfunktionen' werden anhand der Rezeption Nietzsches und der französischsprachigen Literatur des späten 19. Jahrhunderts gezeigt). Auch im zweiten Fall bleiben Ungleichzeitigkeiten zwischen dem Text und seinem intertextuellen Bezugspunkt sichtbar; die Textfunktion - und nicht die Struktur des Bezugs - ist eine andere als im ersten Fall. Hermann Bahr, den Maximilian Harden bekanntlich als »den Mann von übermorgen«8 tituliert hat und der, wegen seines dynamischen Mo-
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Hermann Bahr: Selbstbildnis. Berlin 1923. S.2.
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derneverständnisses9, damit durchaus treffend charakterisiert scheint, begreift sich in seinem »Selbstbildnis« programmatisch als »Mann von vorgestern«10: Mein Zukunft mit Ungeduld verlangender Blick kehrt seit je doch am liebsten bei längst entschwundenen Vergangenheiten ein, da hole ich mir die Zukunft. 11
Hermann Bahr ist fiir die Wiener Moderne in mehrfacher Hinsicht ein Mittler. Er ist der Promotor eines modernen Selbstbewußtseins und ein Vermittler (vormoderner) Literatur und Kunst in dieser Moderne. Donald G. Daviau hebt besonders Bahrs »Förderung von Goethe, Grillparzer, Stifter und der [österreichischen] Barocktradition«12 hervor. Daneben ist Bahrs Vermitdung des französischen Naturalismus und der decadence für Jung-Wien von zentraler Bedeutung. Die Forschungsliteratur verweist außerdem auf seine Beziehungen zur Wiener Secession, zum Impressionismus und zur 'spanischen Geisteswelt'.13 Immer gilt Bahr als wichtiges Bindeglied zwischen den entsprechenden Kunstrichtungen und Jung-Wien. Er hat keine Scheu, die jeweils wiederentdeckten Kunstwerke für seine Zwecke zu instrumentalisieren, für das Projekt Moderne zu vereinnahmen. So macht Bahr Wilhelm Heinse zum Paradigma 'impressionistischer' Raumaneignung; sein 'Ardinghello' lese sich »überhaupt an manchen Stellen«, sagt Bahr, »daß man im Ver sacrum zu sein glaubt.«14 Für die skandinavische Literatur tritt besonders Marie Herzfeld als Übersetzerin und - in ihren Essays - als Vermittlerin auf15; auch Hugo von Hofmannsthal setzt sich in seinen Essays mit der zeitgenössischen ausländischen Literatur, mit Barrls, Bourget, Ibsen, D'Annunzio oder Swinburne, aber auch mit dem österreichischen Realismus, mit Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar oder Eduard von Bauernfeld auseinander.
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Vgl. hierzu Wunberg 1987[a], S.15-23. Bahr 1923, S.2. " A.a.O. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Donald G.Daviau: Hermann Bahr und die Tradition. In: Dietrich (Hg.) 1987, S.33 -50. 12 Daviau 1987, S.33. 13 Vgl. Georg Rudolf Lind: Hermann Bahr und die spanische Geisteswelt. In: Dietrich (Hg.) 1987, S.59-64, Roger Bauer: Hermann Bahr und die 'ddcadence'. In: Dietrich (Hg.) 1987, S.25-31, Patrick Werkner: Hermann Bahr und seine Rezeption Gustav Klimts: Österreichertum, 'sinnliches Chaos' und Monismus. In: Dietrich (Hg.) 1987, S.65-76. 14 Bahr 1912, S.164 ('Impressionismus'). 15 Vgl. etwa Marie Herzfeld: Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.736-751 (T 97.36). 10
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Für die Formation des literarischen 'Archivs' der Wiener Moderne sind die hier mit den Namen Bahr, Hofmannsthal und Herzfeld angedeuteten Wege der Vermittlung von Bedeutung. Ein Text, der auf die nun genannten Kunstparadigmen zu beziehen ist, wird immer als einer verstanden werden müssen, der die Strukturen der spezifischen Vermittlungsstränge der Wiener Moderne (sozusagen als 'zweiten' intertextuellen Bezugspunkt) noch enthält. Wenn in einem Text der Wiener Moderne zum Beispiel von einem intertextuellen Bezug auf die skandinavische Literatur geredet werden kann, müssen die Schriften Marie Herzfelds als weitere Bezugsebene mitgedacht werden. In der Literatur der Jahrhundertwende kann man eine »große Anzahl der Bezugnahmen auf antike Literatur, Philosophie und Kunst«16 feststellen. Hofmannsthals Wort von der Antike als einem »magischen Spiegel, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen«17, charakterisiert das Verhältnis der Modernen zur Antike sehr gut: Die Antike 'schreibt' sich in das Archiv dieser Zeit als etwas vertrautes Fremdes 'ein'; im Diskurs des Fremden teilt sich dem Modernen das eigentliche Eigene mit. Das bekannteste Beispiel einer solchen Antikenadaptation in Wien um 1900 mit unbestrittenem »Repräsentanzcharakter«18 ist Freuds ÖdipusKomplex. Seine erste wichtige Deutung des Ödipus-Mythos findet sich in der 'Traumdeutung'. Die dort vorgeschlagene Interpretation ist eine unverblümt moderne Aneignung des Stoffes, die Freud aus der Universalität der Ödipus-Konstellation begründet. Die »kunstvoll verzögerten Enthüllungen« der Schuld des Protagonisten in der Sophokleischen Tragödie findet Freud »der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar«19, und zwar auf zwei Ebenen, innerhalb des Schauspiels und als Erkenntnisprozeß im Zuschauer: »Während [Sophokles] [...] die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern.«20 Ödipus wird zur Chiffre einer unbewußten - aber 'eigentlichen', im Traum erschließbaren - Triebwelt. Theben, König Lai'os, die Rätsel der Sphinx und Jokaste sind nur fremde Namen eigener Erfahrungen, einer eigenen Traumwelt.
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Wendelin Schmidt-Dengler: Das Fin de sifccle - Ende eines Bildungsideals? Zur Antiken-Rezeption im Kreis des 'Jung Wien'. In: Neohelikon 9-1982. S.61. Vgl. auch Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt 1988. S.256-342. Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.265. Wunberg 1989[a],S.196. Freud 1940ff„ Bd.IIJII, S.268. A.a.O., Bd.n,m, S.269.
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Nicht immer wird der Skopus der Antikenrezeption so unmittelbar deutlich wie bei Freud: Hermann Bahrs Feuilleton über das 'Gehen'21 erweist sich bei genauerem Lesen als Entwurf einer »Poetik des Spaziergangs«22, der sich in vieler Hinsicht von jenen Texten abhebt, die Kurt Wölfel in seiner Studie über das 'Spazieren' untersucht.23 Wenn auch Wölfel in Kafkas Motto zur 'Beschreibung eines Kampfes'24 »unverkennbar« die »Sprachgebärde [...] [des] Wiener fm de si£cle«25 herausliest, so ist Bahrs Text 'Vom Gehen' doch weit paradigmatischer für diese Literatur und seine Vorstellung der Raumerkundung interessanter für die hier untersuchte Problematik. Sein Text ist eine »Poetik des Spaziergangs« als ästhetizistische Feier des Solipsismus. Gewährsmann und gleichzeitig polemisches Gegenüber ist ihm bemerkenswerterweise Horaz. Die Auseinandersetzung mit der Horazschen Ästhetik macht seinen Text über das Spazierengehen im hier diskutierten Zusammenhang relevant. Gleich zu Anfang nennt Bahr den römischen Dichter: Und so kann man mich jetzt gegen meine sonstige, lieber sitzende, meditativ herumliegende Art fleißig in unserer lieben Stadt spazieren sehen, getreu mein Pensum abgehend, ganz wie der Vater Horaz sich gerne schildert, behaglich schlendernd. Schwanke im Sinn, ohne Plan. 26
Zuerst einmal mag es erstaunen, daß Bahr Horaz nennt, wenn er eine typisch moderne Art und Weise der Raumokkupation favorisiert: das Flanieren.27 Er bezieht sich hierbei auf verschiedene Stellen im Werk des römischen Dichters, deren bekannteste vielleicht der Anfang der neunten Satire aus dem ersten Buch der 'Sermones' ist:
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Vgl. Hermann Bahr: Vom Gehen. In: Hans Bender (Hg.): Klassiker des Feuilletons. Stuttgart 1965. S. 100-105. (Erste Buchveröffentlichung in: Hermann Bahr: Renaissance. Neue Studien zur Kritik der Moderne. Berlin 1897. S.28-33). Zu Bahrs Text vgl. auch Severin 1988, S.l 13f. Kurt Wölfel: Andeutende Materialien zu einer Poetik des Spaziergangs. Von Kafkas Frühwerk zu Goethes 'Weither'. In: Theo Elm, Gerd Hemmerich (Hg.): Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung. FS Ulrich Fülleborn. München 1982. S.69. Wölfel untersucht Texte von Karl Philipp Moritz, Goethe, Jean Paul, Walter Benjamin und Kafka. Der Text von Franz Kafka lautet: »Und die Menschen gehen in Kleidern / Schwankend auf dem Kies spazieren / Unter diesem großen Himmel, / Der von Hügeln in der Ferne / Sich zu fernen Hügeln breitet.« (Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hg.v. Paul Raabe. Frankfurt 1970. S.197). Vgl. auch die - von Wölfel nicht interpretierte - erste Strophe des Gedichts. Sie ist abgedruckt in: Hartmut Binder: Kafka Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 3 1983. S.49. Wölfel 1982, S.69. Bahr 1965, S. 100. Vgl. die Ausführungen zum Phänomen des Flanierens in den 'Voraussetzungen'.
Ibam forte via sacra, sicut meus est mos nescio quid meditans nugarum, totus in illis. 28
Von Horaz übernimmt Bahfr die inspiratorische Wirkung des Gehens.29 Während der Dichter Horaz in der Regel das Land für seine Spaziergänge bevorzugt - hier unterscheiden sich die beiden ist der Satiriker Horaz wie Bahr - sehr wohl auf das Leben, auf die Straßen der Großstadt (die via sacra etwa) angewiesen. Scriptorum chorus omnis amat nemus et fugit urbem, rite cliens Bacchi somno gaudentis et umbra: tu me inter strepitus noctumos atque diurnos vis canere et contracts sequi vestigia vatum. 30
Wenn Bahr sich bei seinem Gehen »in unserer lieben Stadt« auf den »Vater Horaz«31 beruft, verkehrt er in jenem wichtigen Punkt also dessen Auffassung vom rechten Ort poetischer Inspiration absichtlich in eine moderne. Allerdings verliert sich die Spur des Römers im vorliegenden Text noch nicht mit dieser scheinbar peripheren Nennung. Das Gehen durch Wien wird Bahr zum Schreiten über den Horazschen Parnaß, der 'Gang' zur Metapher für das Ästhetische. Einerseits entspricht dabei seine Charakterisierung dieser Tätigkeit den ästhetischen Anforderungen der ars poetica in wichtigen Aspekten. Die Attribute, die Bahr dem 'Gang' zuschreibt - er »scheint eine besondere Gedanken schaffende, Gefühle wirkende Kraft in sich zu tragen: er kann Trauer bannen, Leidenschaften mäßigen, Würde geben«32 - , könnten als poetische Maxime bei Horaz stehen; ihm genügt bekanntlich auch keine bloß schöne Dichtung: »dulcia sunto / et quocumque volent animum auditoris agunto«.33 Andererseits wendet Bahr auch diesen Gedanken von Horaz zu einem Element seiner Fin de siecle-Poetik. Denn das 'Gehen' dient Bahr nicht der Sichtung einer Außenwelt, auch nicht im Sinne einer 'Stadtlektüre', wie sie die Berufsflaneure Hessel oder Benjamin34 beschreiben. Schon eher trifft hier
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Quintus Horatius Flaccus [Horaz]: Sermones. Satiren. Übers, und hg. v. Karl Büchner. Stuttgart 1972. S.72 (22). Vgl. etwa Quintus Horatius Flaccus [Horaz]: Epistulae. Briefe. Hg. u. übers.v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 1986. S.18ff. (1,4) oder S.104ff.(2,2). A.a.O., S.106. Bahr 1965, S. 100. A.a.O., S. 101. Quintus Horatius Flaccus [Horaz]: Ars Poetica. Die Dichtkunst [= Epistula ad Pisones. De Arte Poetica]. Hg.u.übers.v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1984. S.10. Vgl. auch S.24. Vgl. Hessel 1984, S.145 und Benjamin 1983, S.525, 528 und 540.
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Wölfeis 'Poetik des Spaziergangs' auf Bahrs Ausführungen 'Vom Gehen' zu. Der Gang ist auch ihm eine »Handlung, in welcher sich der innere Zustand eines Subjekts äußert«35: Das Gehen scheint aus dem Tiefsten des Menschen zu kommen. Was hinter allen Taten oder Worten im Grunde eines Menschen liegt, was er sonst verhehlt, was er kaum vor sich selber bekennen mag, wird im Gang vernehmlich. Der Gang ist ein Verräter unserer Essenz.36
Bahr deutet das 'Gehen' zum Psychogramm, zur Introspektion um; dies entspricht genau seiner poetischen Doktrin der 'Überwindung des Naturalismus', der Abkehr von den etats de choses und der Hinwendung zu den etats d'ämes?1 Auch die weiteren Aspekte, die Hermann Bahr im 'Gehen' entdeckt, machen deutlich, daß es ihm eher um ästhetische, denn um anthropologische Ausführungen geht, daß die Metapher 'Gehen' für die ästhetische Praxis steht und nicht für eine Beschäftigung, die vom Arzt verordnet wird, wie es der Anfang des Essays suggeriert: 'Gehen' in dem hier erörterten Sinn ist ohne Zweck38; es dient dem Amüsement.39 Dieser Hinweis auf den Unterhaltungswert der ästhetischen Tätigkeit scheint nur im Widerspruch zu der oben erwähnten Kraft zur psychischen Erkenntnis zu stehen, die dem Gehen inhärent sei. »Aut prodesse volunt aut delectare poeta«40, heißt bekanntlich der populärste Satz der Horazschen Ästhetik. Die Vorstellung, die die Jung-Wiener von der Kunst haben, vereinigt auch zwei Aspekte, die Hofmannsthal als »Zergliederung einer Laune, eines Seufzers [...] und [als] fast somnambule Hingabe an jede Offenbarung des Schöne«41 apostrophiert. Ahnliches hat hier Bahr im Sinn: Das Horazsche Verdikt der Nützlichkeit, der Belehrung deutet er zur Seelenarbeit um, die Freude an der Kunst zum spielerischen Amüsement. Schließlich entfaltet Bahr in seinem Essay das spielerische Moment des 'Gehens', bei dem »zugleich auch meine Seele andere Stimmungen bekommt«42, noch deutlicher. Mit den Stichworten 'Seele' und 'Stimmung' greift er nun explizit poetologische 'Merkworte' seiner Zeit auf.
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Wülfel 1982, S.86. Bahr 1965, S. 101. Vgl. Hermann Bahr: Die Moderne. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.189-191 und Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.199-205. Bahr 1965, S. 102. Vgl. a.a.O. Horaz 1984, S.24. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.176. Bahr 1965, S. 103.
Daß der Essay mit Ausführungen über die Schauspielkunst endet, erscheint nur folgerichtig.43 Auch in Hofmannsthals Texten finden sich weitreichende Bezüge auf die Antike: In seinem Prosatext 'Augenblicke in Griechenland' beispielsweise ist seine Landschaftswahrnehmung wesentlich durch das Wissen um den antiken Mythos präformiert. Wo der Abendstem stand, dort glänzte unsichtbar hinter dunklen Bergen der Parnaß. Dort, in der Flanke des Berges, lag Delphi. Wo die heilige Stadt war, unter dem Tempel des Gottes, da ist heute ein tausendjähriger Ölwald, und Trümmer von Säulen liegen zwischen den Stämmen. [...] Man blickt ihre Jahrhunderte hinab wie in eine Zisterne, und in Traumtiefen unten liegt das Unerreichliche.44
Das Wissen um die poetische und mythologische Bedeutung des nördlich von Delphi aufsteigenden Gebirges läßt die Reisenden den 'unsichtbar glänzenden' Parnaß in den Ruinen des Apollon-Heiligtums wahrnehmen. Die Säulentrümmer liegen als Zeichen einer früheren Welt, aber auch als Hinweise auf einen fortdauernden Diskurs, der es vermag, die Wahrnehmung noch immer zu steuern, neben den Zeichen einer neuen, gleichfalls ewigen Natur. Die Stämme stehen, wie einstmals die Säulen, aufrecht als Signaturen einer neuen Zeit. Die Antike ist der Urgrund, der - die Deutung des Ödipus-Mythos' von Freud funktioniert, wie gezeigt, nach dem gleichen Muster - nur traumhaft rekonstruiert werden kann; dies gleichwohl aber mit einer realitätsnahen Präzision. Wie bei Freuds Deutung gewinnt der traumhaft rekonstruierte Mythos einen auf tieferer Ebene situierten Wahrheitsgehalt. Goethe und die lange Tradition der Arkadienidyllen stehen hierbei als Vermittler zur Verfügung. Hofmannsthal fährt fort: Aber hier ist es nah. Unter diesen Sternen, in diesem Tal, wo Hirten und Herden schlafen, hier ist es nah, wie nie. Der gleiche Boden, die gleichen Lüfte, das gleiche Tun, das gleiche Ruhn. [...] Hier ist Delphi und die delphische Flur, Heiligtum und Hirten, hier ist das Arkadien vieler Träume, und es ist kein Traum 4 5
Die durch eine Alliteration poetisch aneinandergebundenen unter Sternen schlafenden Hirten und Herden eröffnen das literarisch transportierte Arkadienidyll. Viermal wird das Adjektiv 'gleich' wiederholt; das Motiv
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Wie sehr Bahr auch hier die Worte von Horaz im Ohr hat, zeigt sein kritischer Hinweis auf jene Künstler, die sich »den Bart [...] wachsen« (Bahr 1965, S.105) lassen. Die ars poetica verweist bekanntlich darauf, daß ein Bart noch kein Genie macht (Horaz 1984, S.22). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.608. A.a.O. 113
der ungestörten ewig gleichen Naivität des Hirtenidylls wird so sprachlich umgesetzt. Der Binnenreim 'Tun' und 'Ruhn', die abermals verwendete Alliteration 'Heiligtum' und 'Hirten' vermitteln das Bild eines nochmals schriftgewordenen Arkadientraums. Die Reisebeschreibung wird zum modernen - in der Textbewegung reflexiv sichtbar gemachten Palimpsest einer antiken Idylle. In das Ende dieser Passage schreibt sich Goethes Italienerfahrung ein; und zwar nicht nur durch das Stichwort 'Arkadien'. Hofmannsthals Diktum »es ist kein Traum«46 läßt an die Manifestation eines ähnlich 'realen' Antikeerlebnisses denken, wie es Goethe in seiner 'Italienischen Reise' paradigmatisch vorführt. In Italien ist die vergangene Antike alles andere als fremd. Dadurch, daß in der Landschaft die Antike wiedergelesen wird, wird sie erst eigentlich verstanden; sie wird lebendig: »Ich habe viel gesehen und noch mehr gedacht: die Welt eröffnet sich mehr und mehr, auch alles , was ich schon lange weiß, wird mir erst eigen.«47 Deshalb ist auch Hofmannsthals Arkadienidyll letztlich »kein Traum«, sondern ein - durch die Antikerezeption präformiertes - Realitätserlebnis, vermittelt durch den stilisierten Text der 'Augenblicke in Griechenland', in den sich die rezipierte Antike als intertextuelles Ereignis einschreibt. Schaukais Eintragung in sein fingiertes Tagebuch der 90er Jahre »Täglich Goethe«48 - veranschaulicht beispielhaft die Präsenz der Weimarer Klassik, besonders Goethes, um 1900; die Präsenz Goethes und seiner Zeit in der Wiener Moderne ist vielfältig und kaum überschaubar. Dies gilt gleichfalls natürlich für die Raum- und Landschaftsdarstellungen. Hermann Bahrs Beschäftigung mit Goethe reicht von vielen Erwähnungen in frühen Essays, seinem Sammelband 'Um Goethe' von 1917, der Premiere der 'Natürlichen Tochter' unter seiner Leitung im Burgtheater 1918 und zahlreichen Zitaten in seiner Autobiographie bis zu seiner späten Abhandlung 'Goethedämmerung'.49 Die für die Landschafts- und Raumwahrnehmung interessantesten Nennungen Goethes finden sich in
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A.a.O. Goethe HA 121982, Bd.ll, S.210. Vgl. auch S.298f„ 323f. und 352f. Möglicherweise deutet schon der Untertitel der 'Italienischen Reise' die Antike als 'reales' Erlebnis. Zur Deutungsmöglichkeit von 'Auch ich in Arkadien' vgl. besonders die Anmerkungen in: Goethe HA 121982, Bd.12, S.581ff. und Erwin Panofsky: Et in Arcadia ego. On the Conception of the Transience in Poussin and Watteau. In: Raymond Klibansky et al. (Hg.): Philosophy and History. Essays presented to Emst Cassirer. Oxford 1936. S.223-254. Richard von Schaukai: Um die Jahrhundertwende. Hg.v. Lotte von Schaukal, Joachim Schondorff. München, Wien o.J. [um 1965]. S.155 ('Intirieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen. Aus einem Tagebuche 189...'). Vgl. hierzu und zum folgenden: Daviau 1987, S.33-37.
seinem Essay 'Natur' von 1912. Hier schlägt Bahr ein Verständnis der Natur vor, das sich an den Monisten Haeckel und Bölsche, besonders aber auch - zum Teil durch diese beiden Denker vermittelt - an Goethes naturwissenschaftlichem Denken orientiert. In einer für Bahr typischen Manier - mehr den Anforderungen einer Conference als eines Essays gehorchend50 - tauchen dort nicht gekennzeichnete Zitatfiragmente aus Goethes Werken neben Berufungen auf den Weimarer Geheimrat auf, bei denen dieser bestenfalls den Kopf geschüttelt hätte. Aber gerade ein solcher Umgang mit dem Klassiker, der eher im Sinne Goethes zu verfahren meint, ohne diesem gerecht zu werden, ist durchaus typisch für die Rezeption Goethes, speziell auch zur Zeit der Jahrhundertwende.51 Die Berufung auf Goethe in Bahrs Text nimmt dann besonders groteske Formen an, wenn er sein an Rousseau orientiertes 'Zurück in die Natur'52 mit Goethe an die jüngste Geschichte anbindet: Was können die alten Städte mich lehren? Ein Sumpffalke in meiner Au sagt mir mehr als der Einmarsch der Verbündeten in Paris. 'Unnützes Erinnern' hat's Goethe genannt. 53
Geschichte begegnet Bahr hier - wie es sein monistischer Ansatz durchaus nahelegt - anti-historistisch. Seine Rhetorik gipfelt in einer Frage, die die Relevanz der historischen Bedingtheit des Menschen anzweifelt: »Was soll uns Vergangenheit, der wir froh sind entkommen zu sein?«54 In der Natur und ihrer Geschichte findet der Mensch zu sich selbst - Bahr im Ton von 'Faust II': »zu den Müttern steigen sie hier hinab, Urwesens geheimer Anfang wird hell.«55 Und doch führt der Weg in die Natur für Bahr durch die Zivilisation, ist der Weg dorthin nur möglich durch die Errungenschaften neuester Technologie:
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Vgl. Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.31 ('Einleitung'). Die Rezeption Goethes im Bereich der konservativen Kulturkritik ist hierfür ein prägnantes Beispiel. Zu nennen wären Tönnies 'Gemeinschaft und Gesellschaft' von 1887, Julius Langbehns 'Rembrandt als Erzieher' von 1890, Rudolf Steiners Mitarbeit an der Weimarer Goethe-Ausgabe, Houston Stewart Chamberlains 'Goethe' von 1912 und Oswald Spenglers 'Untergang des Abendlandes* von 1918. Vgl. dazu: Karl Robert Mandelkow (Hg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil ΙΠ: 1870-1918. München 1979. In Bahrs Text heißt es: »In die Natur müssen wir zurück, um uns zu finden.« (Bahr 1912, S.132 ('Natur'). A.a.O. A.a.O. A.a.O., S. 133.
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Und als das Leben dann doch anders wurde, da war das nicht durch Gedanken geschehen, sondern Erfindungen brachen das Leben der Menschen um: das Rad, die elektrische Bahn, das Automobil. Sie haben die Stadt zerstört, in der der Mensch wie hinter einem Wall lag, um nur zuweilen einmal in die Natur auszufallen. Jetzt ist die Stadt bloß noch sein Markt, für das Geschäft. Jetzt erst kann der Städter mit der Natur beisammen sein. Und da es doch immer der Städter ist, der den Geist im Leben der Menschen bestimmt, beginnt jetzt erst der Mensch wieder mit der Natur zu leben, wie mit einem Angehörigen.56
Erst die Technik ermöglicht ein dem Städter adäquates Naturerlebnis, das die (ökonomische) Abhängigkeit des Menschen von der Natur ausklammert: ein Landschaftscrlebnis. Auf ein anderes Beispiel für eine von Goethe geprägte Landschaftswahrnehmung wurde oben schon eingegangen, auf Hofmannsthals späten Text 'Sizilien und Wir'.57 Ihm dient Goethe allerdings nicht - wie Bahr der Rechtfertigung einer monistisch begründeten anti-historistischen und insofern modernen Wahrnehmungsweise, sondern der Verdeudichung einer spezifischen Differenz zwischen den Modernen und dem Klassiker. Den »Deutsche[n]«, die »dieses Inselland betreten, scheint sich«, für Hofmannsthal, »unablehnbar Goethes Genius als Begleiter anzubieten«; dieser »hat uns die Gestaltung der Landschaft überliefert mit der Genauigkeit eines Erdkundigen und ihre Färbungen und Belichtungen mit dem Auge eines Malers.«58 Goethes symbolisches Sehen entdeckt Hofmannsthal in seinen Wahrnehmungen der italienischen Landschaft. Gemäß dessen wohl bekanntesten Maximen59 entfalte sich in der Erfahrung des Besonderen einer Landschaft das Allgemeine: Uneingeschränkt gewährt er sich die Lust der Hingabe an das Einzelne, in der unser Geist sich erneuert, und die höhere der ordnenden Zusammenfassung. [...] Jedes Einzelne, das ihm vor Augen tritt, scheint von gleicher Wichtigkeit; aber kraft des Gedächtnisses, die Formen nebeneinander zu tragen, erhebt er sich [...] und schwebt auf ins Gesetzmäßige, Allgemeine.60
Goethe gelinge die Rezeption der Landschaft als Modalität der Wirklichkeit, die er sich ohne Scheu anzueignen vermag, weil er sie noch in seiner
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A.a.O., S.130f. Für die Jung-Wiener bedeutete - wie gesagt - das Rad, das Automobil und die Eisenbahnverbindung zu den umliegenden Erholungsgebieten in der Tat eine vielgenutzte Möglichkeit der Begegnung mit der Natur; vgl. Kapitel 1 der 'Voraussetzungen'. Vgl. Kapitel 1 der 'Voraussetzungen'. Alle Zitate: Hofinannsthal 1979, Bd.7, S.658. Vgl. Goethe HA 12 1982, Bd. 12, S.471 (Maxime 751 und 752). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.659.
Ganzheit begreifen kann.61 Und dieses Bild der im Sinne Goethes symbolisch verstandenen Wirklichkeit schiebt sich dem Nachgeborenen, dem Modernen als Folie vor die tatsächliche Landschaft. Kein Objekt sei »zu wirklich, daß er sich nicht mit ihm vereinige«.62 Plötzlich vergesse dann der moderne Reisende die Anwesenheit Goethescher Vorstellungen in den stilisierten Landschaften: »Mit einem Male ist nur mehr das Bild da. Er [Goethe] ist vor unsern Augen in sein [Hervorhebung v.V.] Bild hineingegangen und uns entschwunden.«63 Wird dem Modernen diese Herkunft der »gemalten Tafel« bewußt, bleibt ihm nur ein »Schauder«; er wendet sich von ihr ab und »der Wirklichkeit zu [...], die unvertrauter, weniger spiegelhaft gerundet, gefährlicher - aber unser ist.«64 Hofmannsthals 'Sizilien und Wir' erweist sich als essayistische Auseinandersetzung mit der präformierten Landschaftssicht spätgeborener Moderner; diese zwingt zwar zur Einsicht, daß das Aufgeben der Goetheschen Wirklichkeitssicht den Verlust symbolischer und damit ganzheitlicher Wahrnehmung impliziert, das Wissen um diesen Verlust ermöglicht aber, die Landschaft doppelt wahrzunehmen: stilisiert, historistisch überformt z.B. als goethische65 und »weniger spiegelhaft gerundet«66, weniger narzißtisch erfahrbar also, weil sie nicht mehr bloß schon Gewußtes reproduziert, als eine, die »an die tiefste Seele« rührt.67 Damit beschreibt Hofmannsthal zwei 'modern' apostrophierbare Wahrnehmungsformen von Landschaft: jene, die das historistische Wissen als Spielmöglichkeit mit der Landschaft begreift, und jene, die um neue Authentizität ringt und die Landschaft in neuer Weise als unvertrautes Gegenüber erblicken will. In Hofmannsthals Text werden beide Wahrnehmungsversuche in eine ästhetische Auseinandersetzung mit der sizilianischen Landschaft eingebunden; der spielerische Wechsel zwischen historistischer Vergewisserung präformierter Landschaft und der Ahnung des 'Ungeheuren'68 denkt
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Vgl. a.a.O., S.659: »Auf seinem Bilde ist alles zugleich: die ganze Landschaft, das ganze Tun, der Mensch, das Wachstum der Pflanzen, ja das Werden der Gesteine.« A.a.O., S.660. A.a.O. A.a.O. Oder aber wie Piaton, die Karthager, Byzantiner, Staufer, wie Platen oder Hannibal (vgl. a.a.O., S.661). A.a.O., S.660. A.a.O., S.661. Eine Landschaft, die an die tiefste Seele rührt, die zwar dem Subjekt gefahrlich wird, aber doch beeindruckt, kann vielleicht am besten mit Kants Begriff des Erhabenen bestimmt werden. Die Art und Weise, wie Hofmannsthal diese Seite der Landschaft in seinen Text einbindet, erinnert allerdings eher an postmoderne Konzepte einer ästhetisch gemilderten Erhabenheit im Sinne Lyotards: vgl. etwa Jean-Franfois Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Jean-Franfois Lyotard:
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das gleichfalls äquivoke Konzept des Ästhetizismus, das der frühe Hofmannsthal in seinem ersten 'D'Annunzio'-Essay entwickelt, zu Ende: »den Spätgeborenen«, heißt es dort, seien »zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven«69; Kunstgenuß sei deshalb die Liebe zu diesen 'alten Möbeln' und die Zergliederung der eigenen Seele.70 Beide ästhetischen Konzepte bestimmen sich als doppeltes Spiel der Anfechtung und des Genusses. Die historistisch geprägte Landschaftserfahrung entspricht den 'schönen Möbeln', die Erfahrung der Landschaft als psychische Anfechtung der lustvollen 'Seelenzergliederung' . Beide Rezeptionsarten der Landschaft sind nur zwei Seiten eines ästhetischen Spiels, wie die beiden Lebenserfahrungen71 der Modernen im 'D'Annunzio'-Essay nur zwei Facetten eines spielerischen Ästhetizismus sind.
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Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Hg.v.Peter Engelmann. Übers.v.Dorothea Schmidt. Wien 1987. S.29. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.174. Vgl. a.a.O.,S. 176. Auch in Leopold Andrians 'Der Garten der Erkenntnis' wird das Verhältnis des Protagonisten zum Leben anhand einer italienischen Landschaft entfaltet. Auch hier linden sich in einer Landschaftsbeschreibung Bezüge zu Goethes 'Italienischer Reise': »Einmal gingen sie gegen Abend durch die sanfte und festliche Anmut der italienischen Landschaft. Die Pappeln zu beiden Seiten des Weges wurden zu einer Triumphpforte durch das farbige Weinlaub, das ihre Kronen reicher machte und sie in lässigen Ketten verband.« (Andrian 1990, S.49) Die Triumphpforte aus Pappeln läßt an antike Triumphbögen und damit an das 'Geschichtliche' der Landschaft denken; ähnlich hat Goethe die italienische Landschaft begriffen. Die 'Ketten farbigen Weinlaubs', die Andrian erwähnt, zeigen, daß sich hier tatsächlich wohl das bekannteste Italienbuch deutscher Sprache in den Text eingeschrieben haben mag. Bei Goethe heißt es: »Die Chaussee geht breit zwischen grünen Weizenfeldern durch [...]. Pappeln sind reihenweis auf den Feldern gepflanzt, hoch ausgezweigt und Wein hinangezogen. [...] Die Weinstöcke von ungewöhnlicher Stärke und Höhe, die Ranken von Pappel zu Pappel schwebend.« (Goethe HA 121982, Bd.ll, S.183; vgl. auch S.52 und die Goethe-Zeichnung 'Weingirlanden' von 1887) Die an sich etwas kuriose Beschreibung Andrians, die, um eine (längere) Allee zu kennzeichnen, auf das Bild einer (kürzeren) Pforte zurückgreift, erhält eine interessante semiotische Konnotation: Die Landschaftsbeschreibung ist die Einleitung - die 'Pforte' gewissermaßen - zu einem Gespräch zwischen Mutter und Sohn. In dieser Unterredung in der Landschaft wird dann ein Landschaftsbild zum Bild der Lebenssituation, zum Bild der Fremdheit des Lebens: »Wir gehen durch unser Leben wie durch Lustgärten fremder Schlösser, von fremden Dienern geführt; wir behalten und lieben die Schönheiten, die sie uns gezeigt haben, aber zu welchen sie uns führen und wie schnell sie uns vorbeiführen, hängt von ihnen ab.« (Andrian 1990, S.50) Diese Lebenssituation zeichnet sich durch Fremdheit aus, die vermittelt werden muß. Das Leben ist wie die Landschaft der durchschrittenen italienischen Gegend ein vermitteltes. Die Diener der Bildlandschaft entsprechen den Klassikern als 'Führer' durch die italienische Landschaft.
Auch in Schnitzlers Novelle 'Sterben' finden sich Bezüge zu zentralen Texten der Italiendichtung des 19. Jahrhunderts, besonders zu Goethes 'Italienische Reise' und Eichendorffs 'Das Marmorbild'. Schnitzlers Text gewinnt gerade aus seiner impliziten Auseinandersetzung mit der klassischen und romantischen Italienmotivik seinen Reiz. Marie und Felix, die Protagonisten der Novelle, gehen nach Italien, weil »hier, in den neuen Verhältnissen, [...] nichts mehr von dem [gilt], was in der anderen Welt über sie verhängt worden«72 ist. Die Reisemotivation entspricht im Wesentlichen also dem klassischen Motiv der Italienreise: Goethes »Flucht [...] vor all den Unbilden«73 in Deutschland oder Karl Philipp Moritz* Italienfahrt, der dort »das Joch abgeschüttelt« und sich dem »Schulkerker entflohen«74 wähnte, klingen an. Noch einmal findet das Motiv der Fahrt in den Süden als Flucht bei der zweiten hoffnungsbeladenen Fahrt der beiden Protagonisten aus Schnitzlers Novelle eine deutliche Erwähnung, als Felix »über die vielen Maler, die man in Italien träfe, über die Sehnsucht, die so viele Künstler und Könige nach Rom getrieben«75 hat, spricht. Ahnlich wie in Goethes 'Italienischer Reise' ist die Fahrt nach Italien bestimmt durch die Nacht vor den Fenstern des Reisecoupös, durch das Ausblenden erster Landschaftseindrücke bis zur erwartungsvollen Ankunft am frühen Morgen; für die Reise nach Italien finden Goethe und Schnitzler die gleichen Motive: Und draußen vor den Fenstern Nacht, Nacht! Es war, als führen sie durch einen langen Tunnel. 76
Goethe gewinnt diesem Ausblenden fremder Eindrücke etwas Positives ab. Ihn freut die entsetzliche Schnelle der Fahrt bei Nacht.77 Die Konzentration auf Rom verlangt geradezu die gleichsam unterirdische Reise78 dorthin. Bei Goethe und Moritz verbindet sich mit Italien die Hoffnung auf das eigentliche Leben. In Schnitzers 'Sterben' steht Italien für eine vergebliche letzte Hoffnung auf das Leben überhaupt. Der Tod von Felix wendet diese Hoffnung auf das Glück (= Felix) in Italien schließlich zum Gegenteil. Auch in die Italienlandschaft Schnitzlers drängt sich schließlich
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Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.l 10. Goethe HA 121982, Bd.l 1.S.18. Brief von Karl Philipp Moritz an K.F.Klischnig. [Salzdahlen, August 1786]. In: Karl Philipp Moritz: Werke. Hg.v.Horst Günther. Frankfurt 1981. Band 2. S.853. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.161. A.a.O.,S. 162. Goethe HA 121982, B d . l l , S.23. A.a.O., S. 125.
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also jenes Vergil-Wort, das Goethe zum viel interpretierten Motto seiner Italienreise macht und Poussin in seinem bekannten Landschaftsbild79 bedeutungsvoll auf einen Sarkophag schreibt, der von Hirten betrachtet wird: Et in arcadia ego. Auch eine Parallele zu Nietzsches Italienreise drängt sich auf. Wie Felix sieht Nietzsche - in einem Brief an Richard Wagner - Italien »als ein Land [...] des Endes meiner Leiden. [...] Völlige Ruhe, milde Luft, Spaziergänge, dunkle Zimmer - das erwarte ich von Italien.«.80 Auch für den Philosophen wird Italien später - wie für Felix - zum Ort der Krankheit, die zum Tode führt. Davon konnte Schnitzler freilich noch nichts wissen. Felix erwähnt Nietzsche - neben Schopenhauer - als Kronzeugen pessimistischer Todesverachtung. Dieser Haltung und dem zur Geste erstarrten Motto Goethes hält der Text das gequälte Denken blankliegender Nerven eines Todkranken entgegen; Felix' Worte begreifen das Memento mori des Et in arcadia ego als entsetzliche Wahrheit: Das Leben verachten, wenn man gesund ist wie ein Gott, und dem Tod ruhig ins Auge schauen, wenn man in Italien spazieren fahrt und das Dasein in den buntesten Farben ringsum blüht, - das nenn ich ganz einfach Pose. Man sperre einmal so einen Herren in eine Kammer, verurteile ihn zu Fieber und Atemnot, sage ihm, zwischen dem 1 Januar und 1.Februar nächsten Jahres werden Sie begraben sein, und lasse sich dann etwas von ihm vorphilosophieren.81
Allerdings finden sich bis zum Schluß dieses fast endlos in die Länge sich ziehenden 'Sterbens' des Protagonisten Momente der Zuversicht; die Erzählung ist bestimmt durch einen stetigen Wechsel illusionistischer Hoffnungen und ernüchternder Bilder. Noch im Augenblick des Todes hat Felix die Vision einer herrlichen - einer arkadischen - Landschaft, deren Gaukelspiel sich wie eine Replik auf ästhetizistische Lebensvisionen liest. Synästhetisch meint Felix den heilbringenden Frühling - das Motiv des 'Ver sacrum' klingt an - in den tanzenden Bäumen und Gräsern der nächtlichen Gartenlandschaft wahrzunehmen.82 Der sterbende
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Nicolas Poussin 'Die Hirten von Arkadien', 1650-55, Paris, Musee National du Louvre. Vgl. dazu Panofsky 1936. Friedrich Nietzsche: Brief an Richard Wagner vom 27.9.1876. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München 1986. Bd.5. S.191. Vgl. zu Nietzsches Italienreise: Walter Erhart: 'Gott ist tot' - 'Es lebe der Gott Italiens'. Friedrich Nietzsches Metaphysik des Südens. In: Gunter E. Grimm, Ursula Breymayer, Walter Erhart: 'Ein Gefühl von freierem Leben'. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990. S. 189-206. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.143 (Nietzsches und Schopenhauers Erwähnungen finden sich auf S.142). Vgl. a.a.O., S.174.
Protagonist schaut - ganz wie Tischbeins Goethe83 - mit dem Rücken zum Zimmer, den Blick dem Fenster zugewandt, in eine italienische Landschaft, die ihre Motive fast vollständig dem Herzstück der Italiennovelle Eichendorffs entlehnt zu haben scheint: der Schloßszene im 'Marmorbild'.84 Auch dort sieht der Protagonist in einen Frühlingsgarten voller traumhafter Trugbilder; die bläuliche schwüle Nacht, weiße schimmernde Steine, die tanzenden Bewegungen, das Gartengitter als Begrenzung und Einlaß in den Lustgarten mit seinen eigentümlichen Bäumen und seinen bleichen Gesichtern, die leichte Luftbewegung und die Wege im wechselnden trügerischen Mondlicht - all das findet sich sowohl in der Schloßszene als auch im Schlußbild von Schnitzlers Novelle. Die Hoffnungen, die Felix hegt, brechen mit ihm zusammen. Der trügerische Mondglanz85 läßt ihn ein letztes Mal lächeln. Mit seinem 'Sterben' verdunkelt*6 sich auch der Flucht(t)raum der verfügbarsten aller Landschaftsillusionen, das Bild einer ganzheitlichen italienischen Gartenlandschaft, der Künstlertraum vom glücklichen Italien. In den Tanzbewegungen der Gegenstände, die Felix in seinem Todeswahn entdeckt, beginnt die arkadische Landschaft - in der stilisiertesten Motivik, die Schnitzler zur Verfügung stand: dem spätromantischen Repertoire Eichendorffs - zu wanken; das »Tönen und Klingen und Singen«87 entlarvt sich als entsetzliche Agonie.88
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Vgl. Wilhelm Tischbein, 'Goethe am Fenster', 1787, Frankfurt, Goethe-Museum. Vgl. Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. Das SchloB Dürande. Novellen. Stuttgart 1985. S.20ff. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.175. Vgl. a.a.O.: »Und es wurde dunkel.-« A.a.O. Die träumerische Atmosphäre romantischer Prosa wird in vielen Garten- und Landschaftsszenen weniger bekannter Autoren dieser Zeit beschworen, ohne allerdings eine so prägnant moderne Umdeutung zu gewinnen, wie in Schnitzlers 'Sterben'. Deutlich wird dies etwa in Felix Saltens märchenhaften Novellen 'Der Schrei der Liebe' und 'Die Gedenktafel der Prinzessin Anna' (vgl. Felix Saiten: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Wien 1928ff. Der Schrei der Liebe. Novellen. S.11-183). 'Modern' scheint in diesen Novellen des mutmaßlichen Autors des berühmtesten Dirnenromans Wiens einzig der etwas schwül-erotische Plot zu sein. Auch in Saltens Österreich-Feuilletons dient das Romantische zur Auszeichnung des Idyllischen. In einem Essay über 'Mauerbach' und die Landschaft des Wienerwalds zitiert Felix Saiten sogar ausdrücklich Joseph von Eichendorff: »Man blickt zurück und findet sich völlig eingeschlossen von der Lieblichkeit der Wienerwald-Landschaft, in der so viel Eichendorffsche Stimmung ruht. Ο Täler weit, ο Höhen! Wie nah ist man hier der Stadt, oder wie fern von ihr?« (Vgl. Felix Saiten: Das Österreichische Anlitz. Berlin o.J. [1909]. S.173.) Das Motiv der 'gemäßigten' Einsamkeit nicht weit von Wien (vgl. Kapitel l.b) der 'Voraussetzungen'), das zum Beispiel die Landschaftsbeschreibung in der 'Kleinen Komödie' von Schnitzler bestimmt, klingt hier an. Der Text Eichendorffs, auf den Saiten hier anspielt, ist das bekannte 'Lubowitz'-
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Von besonderer Bedeutung für die Wiener Moderne ist die österreichische Literatur des 19. Jahrhunderts89; wichtig sind Grillparzer, Raimund, Nestroy, und - ganz besonders - Anzengruber, Stifter, Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar. Die Texte der letzten beiden Autoren stellen, in ihrem eigenen Bewußtsein und dem Denken ihrer Zeit90, den Übergang zur literarischen Moderne dar. Sie sind den meisten der Jung-Wiener persönlich bekannt. Saar und andere Dichter der älteren Generation wie Eduard von Bauernfeld verkehren nicht nur wie der junge Hofmannsthal - im Salon der Josephine Wertheimstein, sondern beteiligen sich gelegentlich auch mit durchaus avantgardistisch gestalteten Texten an den spezifischen Diskursen des 'Jungen Wien'. Auf das bekannteste Beispiel - Ferdinand von Saars 'Ver sacrum'-Gedicht wird im Zusammenhang utopischer Konnotationen von Landschaftsevokationen noch eingegangen.91 Möglicherweise erklärt zum Teil diese persönliche Bekanntschaft, daß es kaum ein Auflehnen der Jungen gegen die Alten in Österreich gibt, daß sich die Wiener Moderne zwar von der österreichischen Literatur des
Gedicht 'Abschied': » O Täler weit, ο Höhen, / Ο schöner, grüner Wald, / Du meiner Lust und Wehen / Andächtiger Aufenthalt!« (Joseph Freiherr von Eichendorff. Gedichte. Ahnung und Gegenwart. Hg.v. Werner Bergengruen. Zürich 1955. S.24). Zu Saltens Essay vgl. auch die Interpretation in Kapitel 3.a). 89
Zur Relevanz der Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. [Oscar Bie] O.B.: Österreichische Kunst. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 14,2-1903, etwa S.781: »In Wien breitet sich die öde Kunst der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Anspruchsfülle aus, daß wir erstaunen.« Wichtig für die Dramatik der Wiener Moderne, besonders für Hofmannsthal (man denke an das 'Kleine Welttheater') und Hermann Bahr, ist auch die österreichische Barocktradition, die, weil sie für die Raumerfahrung in der Literatur zweitrangig ist, hier vernachlässigt wird. Vgl. zur Rezeption der Barocktradition in der Wiener Moderne: Roger Bauer: Die Wiederkunft des Barock und das Ende des Ästhetizismus. In: Roger Bauer (Hg.): Fin de sifecle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt 1977. S. 206-222. Für die Architektur der Wiener Moderne ist das Barock von immenser Bedeutung: Otto Wagners 'Kirche am Steinhof ist ohne sein barockes Vor- und Gegenbild, die 'Karlskirche' Fischers von Erlach, nicht begreifbar.
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Vgl. etwa den Brief Ferdinand v.Saars an Marie von Ebner-Eschenbach vom 20.Januar 1905. Teilabdruck in: Hansres Jacobi: Nachwort. In: Ferdinand v. Saar: Meisternovellen. Zürich 1982. S.403. Vgl. auch: Norbert Gabriel: Ferdinand von Saar. In: Gunter E.Grimm, Frank Rainer Max (Hg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Stuttgart 1989. Bd.6. S.219-227; Burkhard Bittrich: Nachwort. In: Ferdinand von Saar: Mährische Novellen. Hg.v. Burkhard Bittrich. Berlin 1989. S.151-174 und den Sammelband: Karl Konrad Polheim (Hg.): Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der literarischen Moderne. FS zum 150.Geburtstag. Bonn 1985.
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Vgl. Kapitel 3.c).
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19. Jahrhunderts absetzt, sie aber als ihre eigene Tradition ansieht.92 Es gibt aber noch einen anderen - im strengeren Sinne literaturgeschichtlichen - Grund, der im spezifischen Verhältnis der nationalen österreichischen zur deutschen Literatur liegt: Der Hauptgrund für das traditionsbewußte Verhältnis der Wiener Moderne zur österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts dürfte vor allem im Fehlen einer echten österreichischen 'Klassik' zu suchen sein. In der österreichischen Literatur gibt es keine für das 19. Jahrhundert so dominanten Erscheinungen, wie sie Goethe und Schiller für Deutschland bedeuten. In einem Essay mit dem bemerkenswerten Titel 'Das junge Österreich' von 1893 faßt Hermann Bahr die Wiener Moderne als nationale Bewegung, die vom 'Jüngsten Deutschland' abzusetzen sei. Aus der nationalen Einschätzung, die Bahr in seinem Essay vom Wiener Fin de siöcle gibt, kann man Hinweise auf das besondere Selbstverständnis dieser Literatur ableiten: Sie [die österreichischen Modernen] verehren die Tradition. Sie wollen nicht gegen sie treten. Sie wollen nur auf ihr stehen. Sie möchten das alte Werk der Vorfahren für ihre neuen Zeiten richten. Sie möchten es auf die letzte Stunde bringen. Sie wollen, wie Jene, österreichisch sein, aber österreichisch von 1890.93
Infolgedessen stellt sich in Österreich das Problem des Epigonalen, das entscheidend die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts von Immermann bis Geibel prägt, auch völlig anders. Das bemerkt auch Bahr, wenn er das Traditionsbewußtsein des 'Jungen Österreich' gegen jenen Hass der jüngsten Deutschen gegen die Vergangenheit94 absetzt. Das EpigonenProblem ist in Österreich - wenn überhaupt vorhanden - gleichzeitig ein 'nationales' Problem. Nicht so sehr das Wissen um eine übermächtige Literaturtradition prägt das Gefühl des 'Jungen Österreich', vielmehr kann man das Motiv des 'Nachholens', des 'Aufholens' von nationalem 'Rückstand'95 beobachten. Dieses Motiv sieht Wilfried Barner allerdings in drei Beispielen aus der deutschen Literaturgeschichte mit einer radika-
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Vgl. etwa Hugo von Hofmannsthals Äußerungen über die österreichische Literatur in seinem Essay 'Ferdinand von Saar, "Schloss Kostenitz"' (In: Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.139-142) und Daviau 1987, S.37. Hermann Bahr: Das Junge Österreich. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.366 (T 93.2)(Zuerst in: Deutsche Zeitung, Wien 1893). A.a.O. Vgl. Wilfried Barner: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik XII. München 1987. S.40. Neben dem 'nationalen Konkurrenzdenken' ist - wie Barner bemerkt - auch die spezifisch deutsche Situation seiner Beispiele mitzudenken (vgl. a.a.O., S.41).
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len Traditionsnegierung96 verbunden. Der Fall liegt hier etwas anders97: die eigene österreichische Tradition muß nicht negiert werden, weil sie aus der Sicht der Jung-Wiener bisher zu viel und zu Unrecht mißachtet worden ist, sie quasi einer ständigen Negation von deutscher Seite ausgesetzt war. Hier handelt es sich also nicht um einen programmatischen Neuanfang aufgrund einer notwendigen und radikalen Abkehr von der eigenen abgelehnten Vergangenheit; vielmehr stehe die österreichische Kultur im Bewußtsein der Zeit immer noch - und zu Unrecht - im Schatten der übermächtigen deutschen Tradition. Die Negation dieser Situation ist der 'Negations-Impetus' des 'Jungen Österreich'. Die Emanzipation der eigenständigen österreichischen Moderne - gegen die übermächtige Literaturtradition Deutschlands, speziell auch gegen das naturalistische Berlin - verlangt die Bezugnahme auf die eigene Tradition. Die von Bahr formelhaft ausgegebene Losung der 'Überwindung' (und nicht bloß 'Negation') der naturalistischen 'deutschen' Kunst98 bei gleichzeitiger Bejahung der eigenen Tradition ist der spezifisch österreichische Ausdruck epochalen Bewußtseins. Wie wichtig den Jung-Wienern gerade die Raum- und Landschaftserfahrungen der älteren österreichischen Dichter gewesen sind, zeigen beispielhaft Hofmannsthals Essays. Er lobt Ferdinand Raimunds Genredarstellungen Wiener Träumereien, dessen 'visionäres' Theater99, und bei Stifter hebt er - obwohl er glaubt, daß die Zeit »um 1890 oder 1900 [...] der Stifterschen Welt am fernsten war«100 - die Darstellungen des überschaubar Privaten, die Atmosphäre seiner Texte hervor. Ferdinand von Saar widmet er schon 1892 ein Essay. Wichtig ist ihm dort Saars Evokation der »sehr österreichische[n] Stimmung«101; diese hätten auch Stifter und Grillparzer »sehr deutlich gefühlt und ausgesprochen«.102 Eine »konventionelle Anmut« spürt Hofmannsthal in dem »schönen Leben« der Personen in Saars Novelle 'Schloß Kostenitz', »diesem herzlichen stillen Gartenleben, zwischen halben und beruhigenden Farben der Natur, zwischen leisem Blühen und Duften und Dämmern«.103 Als typisch für das oben beschriebene Verhältnis von Jung-Wien und Österreichischem
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Vgl. a.a.O., S.40. Zum Verhältnis des deutschen Naturalismus zur Wiener Moderne vgl. besonders: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.35-37 ('Einleitung') und Gotthart Wunberg: Deutscher Naturalismus und Österreichische Moderne. Thesen zur Wiener Literatur um 1900. In: Raulet, Le Rider, (Hg.) 1987, S.91-116. Vgl. Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.199-205. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.9, S.l 17-122. Vgl. a.a.O., S.226. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.139. A.a.O. Alle Zitate: a.a.O., S. 141.
Realismus muß in Hofmannsthals Essays über die ältere austriazistische Literatur sein Lob für Schilderungen der Stimmung des vergangenen Lebens, des Idyllischen, der unaufdringlichen 'Stille' angesehen werden. Dieses Lob, das er im 'Raimund'- und im 'Saar'-Essay bemerkenswerterweise an Bildern festmacht, impliziert eine Abgrenzung der modernen Raum- und Landschaftserfahrung; ganz deutlich in seinem Essay Uber Saars 'Schloß Kostenitz': Es ist die schönste Idylle [...]. Wir sehnen uns immer nach ihr: wenn wir in alten Büchern blättern, wenn wir durch alte, enge Gassen gehen; dann weht es uns wie eine flüchtige Ahnung davon an. 104
Für Hofmannsthal stellt sich dieses Idyll als Fata morgana dar, als ruhige Dämmerung gegenüber den ruhelosen grellen Tagen105 der Moderne. Das Landschaftsidyll der älteren österreichischen Dichter wird zum Schibboleth einer anderen Zeit; es ist notwendig, um die eigene Situation ex negativo zu konturieren oder um die Vorstellungen dieser Zeit in der dialektischen Bewegung eines Textes zu entfalten. Schnitzlers ßne/-Erzählung 'Die kleine Komödie' ist hierfür ein Beispiel; sie ist kurz nach Erscheinen des 'Kostenitz'-Essays abgefaßt worden.106 Der Protagonist der Erzählung berichtet in einem Brief an einen Freund in Neapel von einer idyllischen Landschaft vor den Toren Wiens, die er in der Larve eines armen Poeten zusammen mit einem vemeintlichen 'Vorstadtmädl' erlebt: Ein gemütliches Gasthaus, seitab von der Landstraße, im Wald; eigentlich zu einer Mühle gehörend. Einsam, Leute vom Land kehren zuweilen ein. [...] Wir stehen in aller Gottesfrühe auf (hier kann man 'Gottesfrühe' sagen!), und da kommt vom Wald, der gleich hinter dem Hause anfängt, der ganze herrliche Morgenduft herein. 107
Der »süße Frieden«108 dieser »Waldeinsamkeit«109 kann nur im Maskenspiel erlebt werden. Die Annahme einer einfacheren Identität ermöglicht spielerisch das Erlebnis einer vergangenen Idylle. Die Ferientage im Wienerwald, der Gasthofaufenthalt, schließlich der schwermütige Abschied werden als »Genre«110 erlebt. Zu diesem »Genre« gehört der
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A.a.O. A.a.O. 106 Ygj Reinhard Urbach: Schnitzler Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974. S.96ff. 107 Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.200. 108 A.a.O. 109 A.a.O., S.201. 110 A.a.O., S.202. 105
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»Dichter«, der die »Waldeinsamkeit« zur Inspiration braucht" 1 ; hier spielt Schnitzler auf die Heimatdichtung des 19. Jahrhunderts an, vielleicht besonders auf Peter Roseggers 'Waldheimat' von 1877, aber auch auf die großen Landschaftsdichtungen Österreichs, auf Stifter112 und Ferdinand von Saar. Auch in Hofmannsthals Erzählungen finden sich landschaftliche Bilder, die an Darstellungen Ferdinand von Saars oder Marie von EbnerEschenbachs erinnern. Vor allem in der Beschreibung von ländlichen Soldatesken scheint Hofmannsthal die bekannten und verbreiteten Erzählungen der älteren Österreicher im Ohr gehabt zu haben: So findet sich das Bild der »Dragoner der Schwadron«, die »auf dem langen Holzbalken, der längs der Hinterwand des Stalles hinläuft«113 aus seiner 'Soldatengeschichte' ganz ähnlich in Saars 'Kostenitz'-Novelle; dort entdeckt der Schloßherr Reitknecht und Wachtmeister eines einquartierten Dragonerregiments »auf einer Stallbänke«.114 Eine müde, melancholische Stimmung ist beiden Darstellungen eigen. Natürlich darf nicht verkannt werden, daß Hofmannsthal - die Wiener Moderne überhaupt - zwar in einigen Fällen ähnliche Landschaftsdarstellungen benutzt wie die- österreichische Literatur des 19. Jahrhunderts, sie aber bei den Modernen ganz andere Funktionen bekommen. Die »unbeschreibliche Stille« über der »freien, glänzenden Landschaft«115 aus Hofmannsthals 'Reitergeschichte' könnte zwar auch in einer Novelle Saars beschrieben werden, sie dient in der - nach Otto Brahm »kleistisierend«116 anmutenden Erzählung Hofmannsthals aber nur dazu, durch Kampfhandlungen zerstört zu werden, die den Auftakt bilden zur Skizzierung psychischer Situationen des Wachtmeisters Anton Lerch während eines Feldzugs. Wie ein hors-d'oeuvre steigert die landschaftliche Situation die Erwartung auf das Kommende, das fortan alle Raumdeskriptionen nur noch für die Beschreibung psychischer Vorgänge nutzt,
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Vgl. a.a.O., S.198ff. Vgl. Luciano Zagari: Landschafts- und Naturdichtung. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Reinbek 1982. Bd.7. S.255-261. Auch auf Peter Altenbergs Nähe zur älteren österreichischen Literatur weist die Forschung hin, besonders auf seinen »Rückgriff auf die melancholische Poesie des österreichischen Biedermeiers« (Hans Dieter Schäfer: Peter Altenberg und die Wiener 'Belle Epoque'. In: Peter Altenberg: Sonnenuntergang im Prater. Hg. v. Hans Dieter Schäfer. Stuttgart 1968. S.81) und auf sein Verhältnis zum alt-wiener Feuilleton (vgl. dazu: Adalbert Stifters 'Wien und die Wiener' von 1844, Friedrich Schlögels 'Wienerisches von 1883' oder Daniel Spitzers Feuilleton-'Spaziergänge' in verschiedenen Wiener Zeitungen). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.67. Ferdinand v. Saar: Meistemovellen. Hg. v. Hansres Jacobi. Zürich 1982. S.352. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.120. Otto Brahm, nach: Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.668.
als »Landschaften der Seele«.117 Carl E. Schorske faßt solche Umdeutungen der Landschaft als »Verwandlung des Gartens«: »Stifter's 'Garden of Virtue' became transformed into a 'Garden of Narcissus'.«118 Für die Landschafts- und Raumwahrnehmung - besonders aber auch für das Verhältnis des modernen Menschen zur Natur - ist Friedrich Nietzsche von Bedeutung, obwohl sich bei den »Autoren des 'Jungen Wien' [...] die Nietzsche-Begeisterung in Grenzen« hält, »verglichen mit dem Interesse, das in deutschen Zirkeln zu finden ist«.119 So veröffentlicht Friedrich M. Fels in der 'Neuen Revue' von 1894 einen Essay über 'Nietzsche und die Nietzscheaner', nach dessen Lektüre Jens Malte Fischer »nicht den Eindruck« hat, »daß Fels eine Zeile von Nietzsche selbst gelesen hat.«.120 Für Fels ist besonders der späte Nietzsche nichts weiter als ein »Pubertätsphilosoph«, der die »Bürde eines Systems«121 abgelegt hat und in der Musikalität seiner Worte schwelgt; der Klang der Worte, der musikalische Stil sei das, was von Nietzsche weiterwirke: Hier, fühlte die Jugend zum ersten Male: das ist Fleisch von Deinem Fleische, Bein von Deinem Beine und Schloß sich mit ihrem ganzen Feuer, ihrer Begeisterung ihm an. 122
Fels hat mit seiner Behauptung nicht unrecht, die Sprache, die Musikalität der Worte Nietzsches habe eine größere Wirkung auf seine Zeitgenossen gehabt als explizite Gedanken des Philosophen. Als - wie Wunberg formuliert - »unausgesprochene Voraussetzung ihres gesamten Denkens«123 darf Nietzsche allerdings nicht unterschätzt werden. Wenn auch Bruno Hillebrands Bemerkung, Hofmannsthal habe sich »am kongenialsten, vielleicht in der offensten Weise, vor der Jahrhundertwende mit Nietzsche auseinandergesetzt«124, etwas übertrieben
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Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.509. Carl E.Schorske: The Transformation of the Garden. In: American Historical Review. 72,2. 1966-67. S.1303 (=• Schorske 1982, Kapitel VI: 'Die Verwandlung des Gartens', S.287). Beide Zitate: Jens Malte Fischer 1978, S.39. A.a.O., S.40. Beide Zitate: Friedrich M[ichael] Fels: Nietzsche und die Nietzscheaner. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.448 (T 94.12). A.a.O. Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.134. Bruno Hillebrand: Einführung. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Tübingen 1978. Bd.l. S.25. Vgl. zur Nietzsche-Rezeption Hofmannsthals auch a.a. O. Bd.l, S.21-25 und Hans Steffen: Hofmannsthal und Nietzsche. In: Hillebrand (Hg.) 1978, Bd.2, S.4-11; H. Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Darmstadt 1973. Besonders S.35-39 und 140-149) und als neueren Beitrag: Adrian del Caro: Hofmannsthal as paradigma
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scheint, ist doch bemerkenswert, wie früh Hofmannsthal, oft zwar eher implizit, Gedanken und Motive Nietzsches aufnimmt. Schon 1891 in den Entwurfsblättern zum 'Tod des Tizian'125 werden Zarathustra, der »dionysische Pessimismus« der Tragödienschrift und die »fröhl[iche] Wissenschaft«126 zur Charakterisierung der Bühnenstimmung des Dramas und als Sentenzen der Protagonisten zitiert. In den Briefwechseln mit Schnitzler und Beer-Hofmann aus der gleichen Zeit ist von der Lektüre der Bücher 'Menschliches, Allzumenschliches' und 'Jenseits von Gut und Böse' die Rede127; im 'Bourget'-Essay - auch 1891 - vom »Individuum Nietzsches«, dessen Gedanken »in der Luft«128 lägen. Wieder, nur diesmal als Gewährstext, als Bestätigung und nicht als Objekt der Abgrenzung, wie die idyllische Landschaft der österreichischen Realisten, dienen die Worte Nietzsches zur Charakterisierung der eigenen modernen Position: Sie helfen die eigenen Gedanken zu »crystallisieren«.129 Hofmannsthals Metapher von der »hellen Luft der Cordilleren«130 in einem bekannten Brief an Schnitzler für Nietzsches innovatorische Gedankenklarheit liest dieser offensichtlich als Anspielung auf das letzte Kapitel und das Schlußgedicht von 'Jenseits von Gut und Böse', an den 'Nachgesang' »Aus hohen Bergen«.131 Zentrale Motive gerade dieser beiden Texte tauchen auffällig häufig in Hofmannsthals Werken der neunziger Jahre auf, insbesondere auch bei der Gestaltung von Landschaften, Räumen und Stimmungen. In den oben erwähnten 'Entwurfsblättern' zum 'Tizian' steht Nietzsche sogar ausdrücklich für die Charakterisierung von Stimmungen132, die Hofmannsthal aus Motiven des 'Nachgesangs' komponiert: Zarathustra, das »Indiviuum Nietzsches«133, stellt er in die Einsamkeit des Gebirges.134 Einsam, »kalt
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of Nietzschean influence on the Austrianfinde siecle. In: Modem Austrian Literature 22-1989, 3-4. S.81-95. Abgedruckt in: Hillebrand (Hg.) 1978, Bd.l, S.78-80. A.a.O., S.78. Vgl. Hofmannsthal, Schnitzler 1983, S.7-10 (Juli 1891) und Hofmannsthal, BeerHofmann 1972, S. 3-5 (8. Juli 1891). Beide Zitate: Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.96. Hofmannsthal, Schnitzler 1983, S.7 (13Juli 1891) und S.323 (Briefentwurf dazu). A.a.O. Vgl. a.a.O., S.9 (27.Juli 1891). Vgl. Hillebrand (Hg.) 1978, Bd.l, S.78. Der Ausdruck vom neuen Individuum Nietzsches steht an zentraler Stelle im 'Bourget-Essay' (vgl.Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.96. Vom menschlichen Individuum sagt Nietzsche in 'Jenseits von Gut und Böse' bekanntlich, es sei unmoralisch wie die Natur (vgl. Nietzsche 1984, Bd.3, S.572ff.). Vgl. Hillebrand (Hg.) 1978, Bd.l, S.78.
und klar und klug«135 erkennt Andrea, der Protagonist des Dramas 'Gestern', in der letzten Szene Lüge und Selbstbetrug. An dieser Szene arbeitet Hofmannsthal noch im Juli 1891, wie er in jenem oben erwähnten Brief an Schnitzler, in dem von der »kalten Klarheit«136 der Gedanken Nietzsches die Rede ist, schreibt. Im dialektischen Verhältnis zur kalten und kühlen Höhe der Gedankenwelt sieht Hofmannsthal im selben Brief den Brunnen. Er steht für eine narzißtisch geprägte Kunstauffassung, die - wie es in 'Gestern' heißt - die »ganze ewige Natur / nur [als] ein Symbol für unsre Seelen Launen«, als »Gleichnisbronnen« interpretiert.137 Aber die Natur ist - mit Nietzsche - »wie sie ist«138, kein Gleichnis139, wenn sie auch als »Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele zu sehen ist«.140 Dieser ganze Motivkomplex - Gebirge, Brunnen, Landschaft - taucht einige Jahre später in Hofmannsthals 'Reiselied' wieder auf. Nimmt man die »kalte Klarheit« der Gebirgsluft, die bei Hofmannsthal - durch die Nietzsche-Lektüre motiviert - als Zeichen künstlerischer Erkenntnis steht, als interpretatorischen Zugang zu diesem Gedicht, kommt man zu einer anders akzentuierten Deutung, als Paul Hoffmann sie vor einigen Jahren vorlegte.141 Übernehmen muß man allerdings seine Erläuterung des für das Gedicht zentralen Vogelmotivs. Die Vögel »erlösen [...] aus einem Zustand extremer seelischer Not«142; sie 'tragen' »uns«143 'fort' und geben einen Blick frei über eine südliche Kunstlandschaft. Hoffmann weist mit Recht darauf hin, daß Hofmannsthal im 'Andreas-Roman' das Vogelmotiv wieder aufnimmt und weiter ausformt.144 Er sieht allerdings in den Terzetten des Gedichts »die Landschaft« als »Zeichen des Endes, der Erfüllung«, als Steigerung »zur Szenerie klassischer Kunst«.145 Diese Teleologie der Kunst müßte, wenn man Hofmannsthals Nietzsche-Lektüre hinzunimmt, relativiert werden: Die Landschaftswahrnehmung aus der Vogelperspektive nimmt auch hier ein Motiv aus dem Schlußkapitel und dem 'Nachgesang' von Nietzsches 'Jenseits von Gut und Böse' auf, das dort allerdings - eben genau anders als offenbar
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Hofmannsthal 1979, Bd.l,S.241. Hofmannsthal, Schnitzler 1983, S.7 (13Juli 1891) und S.323 (Briefentwurf dazu). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.232. Vgl. auch Hofmannsthals Gedicht 'Weltgeheimnis', a.a.O., S.20. Dazu außerdem: Zürcher 1975, S.53-71. Nietzsche 1984, Bd.3, S.646. Vgl. a.a.O., Bd.l,S. 451. A.a.O., S.522. Vgl. Paul Hoffmann: Symbolismus. München 1987. S.209-221 und Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.238f. Paul Hoffmann 1987, S.211. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.35. Hierzu vgl. auch Goethe, HA 12 1982, Bd.7, S.83. Vgl. Paul Hoffmann 1987, S.211. Beide Zitate: Paul Hoffmann 1987, S.212.
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im 'Reiselied' - als Metapher verbrauchter Kunst dient, die an dem festhält, »was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen«; sie beschreibt »immer nur Vögel, die sich müde flogen [...] und sich nun mit der Hand haschen lassen - mit unserer Hand«.146 Wenn man, wie Hoffmann, eine poetologische Ebene des Gedichts konstatiert, darf deshalb nicht die aus der Vogelperspektive beschriebene Landschaft als Bild vollendeter Form, als Kunstutopie gelesen werden. Vielmehr muß man die in der Vogelperspektive liegende Distanz zur Landschaft bemerken. Dann ergibt sich folgende These: Die Vogelperspektive dient im 'Reiselied' der Gestaltung des zugleich prinzipiell affirmativen und distanzierten Verhältnis der Spätgeborenen zur klassischen Kunst als einer vergangenen. Hier tragen die Vögel mit »starken Schwingen«147 einer gesunden Kunst, die aber nicht mit der Landschaft unten gleichzusetzen ist. Oben herrscht die 'helle Luft der Cordilleren', um nochmals den Hofmannsthal-Brief zu zitieren, während unten »der Brunnen plätschert und es nach reinlichen kleinen Kindern riecht«.148 So schön die Kunstwelt der »alterslosen« Klassiker ist, sie ist nicht unmittelbar erreichbar für die Modernen; trotzdem so zu dichten, wäre ästhetizistische Spielerei. Darauf verweist auch das Spiegelmotiv im Text selbst. Die unvollendete Sonettform, die wohlgesetzten Worte, die nur Fragmente einer Landschaft evozieren, zeugen von dieser modernen Distanz. Auch im 'Reiselied' verschränkt sich der Zweifel an der Möglichkeit eines modernen Ästhetizismus mit seiner paradigmatisch vorgeführten Praktizierung: Aber unten liegt ein Land, Früchte spiegelnd ohne Ende In den alterslosen Seen. Marmorstirn und Brunnenrand Steigt aus blumigem Gelände, Und die leichten Winde wehn. 149
In seinem 'Gespräch über Gedichte' sieht Hofmannsthal im »Sommerabendwind [...] zugleich einfen] Hauch von Tod und Leben [...], eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens, ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits«.150 Ähnlich könnte man auch den »leichten Wind«
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Nietzsche 1984, Bd.3, S.756; vgl. auch S.757: »Sind Wind und Wolken höher heut ins Blau, / Nach euch zu spähn aus ferner Vogel-Schau.« Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.35. Hofmannsthal, Schnitzler 1983, S.7 (13.Juli 1891). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.35 ('Reiselied'). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.507.
im 'Reiselied' interpretieren: Er vermittelt eine Ahnung des lieblichen Vergangenen und gemahnt zugleich an die klare Luft der Moderne, »wo der Wind am schärfsten weht«151 - wie Nietzsche sagt. Ohne im Einzelnen auf das höchst komplexe Verhältnis der Wiener Moderne zur romanischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts eingehen zu wollen, sei hier doch an zwei repräsentativen Fällen ausgeführt, wie intertextuelle Bezüge zu dieser Literatur die Realisierungen von Raum- und Landschaftswahrnehmungen der Jung-Wiener prägen. Auf die Relevanz des romanischen Fin de sifecle, besonders Maeterlincks, Huysmans und Baudelaires für das Verhältnis von Künstlichkeit und Natürlichkeit in der Wiener Moderne wird an späterer Stelle152 eingegangen. Weitere für die Wiener wichtige Autoren aus der romanischen Literatur dieser Zeit, die auch für diesen zentralen Diskurs der decadence stehen, sind Barrls, Bourget und D'Annunzio.153 Im folgenden soll zuerst die Signalwirkung des Namens 'Bourget' in einer Passage des 'Gartens der Erkenntnis' von Leopold Andrian untersucht werden. Als zweites Beispiel für die Relevanz des romanischen Fin de sifecle wird ein Gedicht Dörmanns aus den 'Neurotica' herangezogen; hier sollen intertextuelle Bezüge zu den 'Fleurs du Mal' von Baudelaire gezeigt werden. Der Skopus dieser kurzen Analysen ist die Herausarbeitung bestimmter Nuancierungen landschaftlicher Vorstellungen durch den Rekurs auf diese im Grunde ikonographisch zu verstehenden Gestalten der romanischen Moderne und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen. Die Nennung Bourgets in Andrians 'Garten der Erkenntnis' ist eine explizite Bezugnahme auf die französische Decadence-Bewegung; Erwin, der Protagonist der Erzählung, spricht Verse von Paul Bourget. Wichtig für das Verständnis dieser Stelle sind erstens die Situation, in der Andrian seinen Helden die Verse rezitieren läßt, und zweitens dasjenige, was diesen an der Dichtung Bourgets berührt: Im zweiten Teil des Frühlings, in dem die Gärten schön sind, ging er nach Schönbrunn oder Laxenburg oder in den Volksgarten, aber immer allein. Dann sprach er Verse, deren Inhalt mit ihm nichts zu schaffen hatte, aber deren Klang ihn bewegte. Und in diesen kraftlosen Versen Bourgets kamen zwei Worte immer wieder und gaben ihm immer wieder einen Schauer, in dem jetzt vereinigt das Versprechen aller Hoheit und aller
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Nietzsche 1984, Bd.3, S.758. Vgl. Kapitel 3.a). Zur Rezeption der französischsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Manfred Gsteiger: Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869-1914). München 1971. Dort findet sich auch eine umfangreiche Aufstellung deutscher Übersetzungen (vgl. S.301-315). Zur Bedeutung D'Annunzios für die Wiener Moderne vgl. Kapitel 2.c).
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Niedrigkeit lag, die er früher getrennt gesucht hatte. Das waren die Worte 'Die Frau' und 'das Leben'. 154
Ursula Renner interpretiert die namentliche Nennung Bourgets (sie ist die einzige im 'Garten der Erkenntnis') als Legitimierung eigener Konflikte im Rückgriff auf ebenfalls 'moderne Autoritäten'.155 Erwin scheint einerseits der 'Klang' der Worte bedeutender als deren Inhalt; andererseits hebt er aber gerade zwei Begriffe156 aus dem Kontext der Verse Bourgets isolierend hervor, die während des ganzen Buches - noch mehr: im ganzen Fin de sifecle - eine wichtige leitmotivische Funktion haben: die Frau und das Leben. Diese offensichtlich gegenläufigen Aussagen des kurzen Textabschnitts - sowohl inhaltlich bestimmbare Worte als auch der nicht inhaltlich faßbare Klang der Verse wirken auf Erwin vermittelt ein für die Literatur der Wiener Moderne durchaus typisches Verfahren, das nicht an die Stimmigkeit eines logisch aufgebauten Realismus gebunden ist, sondern einzig an Assoziationen und bestimmte 'Merkworte', die die Teilhabe an den 'obligatorischen' Diskursen der Wiener Moderne bestätigen. Bis ins Detail vollzieht die Textstelle viele Geräusche dieser Diskurse als nur unspezifisches Anklingen einzelner Motive - ganz so, wie der 'Klang' der Verse Bourgets wichtiger ist als ihr 'Inhalt': der '$päte Frühling' als ver sacrum, die Müdigkeit Erwins157 und die Kraftlosigkeit der Verse als Fin de siücle-Stimmung einer jungen, aber dennoch überlebten Generation, die schönen (Schloß-) Gärten158 als
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Andrian 1990, S.26; vgl. zu dieser Stelle auch S.66 ('Nachwort' v. Iris Paetzke) und besonders: Ursula Renner: Leopold Andrians 'Garten der Erkenntnis'. Literarisches Paradigma einer Identitätskrise in Wien um 1900. Frankfurt, Bern 1981 S. 125-131. Renner 1981, S.130. Daß Bourget nicht nur in den literarischen Texten der Wiener Moderne präsent ist, sondern lebendiger Teil des Kunstdiskurses der GriensteidlLiteraten war, zeigen beispielsweise Briefstellen des Malers und späteren Schwagers von Hugo von Hofmannsthal, Hans Schlesinger, an Andrian und dessen Tagebucheintragungen. Schlesinger erinnert den Dichter im Oktober 1894 an eine Nacht »in der Maturazeit«, in der Leopold Andrian »laut Bourget in die Nacht geschrien« habe (Hans Schlesinger an Leopold von Andrian (24.10.94). In: [Leopold Andrian]: Correspondenzen. Briefe an Leopold von Andrian 1894-1950. Hg.v. Ferruccio Delle Cave. Marbach 1989. S.16). Das Erlebnis Erwins findet übrigens auch »kurz vor Erwins Matura« (Andrian 1990, S.26) statt. Im Tagebuch beschreibt Andrian, wie man Bourget in den Schulstunden gelesen habe (vgl. [Andrian] 1989, S.l 14 [Zitat aus den Tagebüchern 1923/24]). A.a.O., S. 125. Vgl. Andrian 1990, S.26: »Dann kam die Zeit des ersten Frühlings, die den Erwin immer müde machte.« Der 'Volksgarten', der im Zitat noch genannt wird, ist bekanntlich der Repräsentationsgarten der Hofburg; er ist in gewisser Weise also auch ein 'Schloßgarten', der mit Theseus-Tempel, Grillparzer-Denkmal, Rosengarten, Cortischem Kaffehaus und -
ästhetizistische loci amoeni, das Klangliche, der Schauer, die Vereinigung von Hoheit und Niedrigkeit (kostbarem Material und Kunstgewerbe, Ausschmückung und Schlichtheit etc.) als Elemente ästhetizistischer Kunst um 1900, die intensiv erlebte Einsamkeit Erwins schließlich als narzißtisches Motiv. Insofern gehören die entworfene Räumlichkeit der bekannten Wiener (Schloß-)Gärten und die Nennung Bourgets zusammen; sie entwerfen das moderne Ambiente für Erwins Identitätskonflikte159 als »Teil einer Alchemie [...] von Farben und Tönen und Worten«.160 Der Tonfall der Texte Baudelaires ist es auch, der Felix Dörmann fasziniert hat. Er ist nicht nur der wichtigste Übersetzer Baudelaires in der Wiener Moderne, sondern auch deijenige, der in seinen eigenen Gedichten der romanischen decadence klanglich am nächsten war. Jens Malte Fischer weist eine oft frappierende Nähe zu Texten von Huysmans, Albert Giraud und eben Baudelaire nach.161 Obwohl sich, etwa an der Nachdichtung des 'Epigraphe pour un livre condamne' in Otto Julius Bierbaums 'Modernem Musenalmanach', zeigen ließe, wie Dörmann das Vokabular des französischen Fin de sfecle in 'Merkworte' der Wiener Moderne transformiert - das Adjektiv »hysterique« übersetzt er beispielsweise mit »nervenkrank«162 - , sind die Interieurs und Landschaften, die Dörmann in seinen eigenen Gedichten entwirft, dem Ambiente der 'Fleurs du Mal' erstaunlich nahe. Zwar kann man in Dörmanns Gedichten auch ganz direkte Adaptationen aus Baudelaires Werken finden163, interessanter als diese (nicht kenntlich gemachten, aber auch nie bestrittenen) wörtlichen Übernahmen ist aber die Imitation der Sprechweise Baudelaires. Allein diese Sprechweise - so lautet die These der folgenden kurzen Analyse einiger Gedichtzeilen von Dörmann - konstituiert, wie der Name 'Bourget' in Andrians 'Garten der Erkenntnis', eine bestimmte Raumvorstellung. Am Gedicht 'Herbstschauer' läßt sich Dörmanns Sprechweise zeigen: Hinter fernen dunklen Häuserraassen, Versinkt die Sonne,
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seit 1907 - dem Jugendstil-Denkmal für die Kaiserin Elisabeth von Ohmann und Bitterlich reich ausgestattet ist. Zur Identitätskrise Erwins vgl. Renner 1981. Gottfried Six: Leopold von Andrian und die Krise des Fin de sifecle. In: Giuseppe Farese (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums 'Arthur Schnitzler und seine Zeit' (Jb. f. int. Germanistik A - Bd.13). Frankfurt 1985. S.287. Vgl. Jens Malte Fischer 1978, S.l 14-124. Franz [d.i. Felix] Dörmann: Motto für ein verdammtes Buch. Nach Baudelaire. In: Modemer Musenalmanach 2-1894. S.123. Vgl. Charles Baudelaire: ipigraphe pour un livre condamni. In: Baudelaire 1980, S.284. Vgl. Jens Malte Fischer 1978, S.121-124 und Jens Rieckmann 2 1986, S.l 14-120.
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Ein tränenverschleiertes, Müdegeweintes, Riesengroßes Menschenauge. [.·•] Es klingt so schaurig Wie Krankenstöhnen Durch kahle Bäume Das Aechzen des Windes Und gelbe, dürre, verfaulende Blätter Sie tanzen mit ihm einen taumelnden Reigen Und flüstern und rauschen Geschichten sich zu, Sterbenstraurig, Verwesungsduftig Und todtentanzlustig.164
Man muß davon ausgehen, daß die Verse der 'Fleurs du Mal' in der Wiener Moderne sehr genau gekannt werden; ausdrückliche Hinweise auf Baudelaire sind deshalb überflüssig: Hofmannsthal kann zum Beispiel »wie selbstverständlich«165 in seinem frühen Prosastück 'Age of Innocence' zwei Verse aus Ά une Passante' zitieren, ohne den großen französischen decadent zu nennen.166 Die Assoziationen einzelner Raumvorstellungen aus den 'Fleurs du mal' werden in Dörmanns 'Neurotica'-Gedichten von 1891 oft nur durch wenige Lexeme hervorgerufen; eine längere Beschreibung der Räume und Landschaften scheint offensichtlich unnötig. Die herbstlich-melancholische Stimmung der Großstadt, die schon mit der ersten Ortsangabe des oben zitierten Gedichts evoziert wird, erinnert an Baudelairs 'Chant d'automne'167; die Motive (Abend-)Sonne, Blut, Tod und Arbeit, die in den folgenden Versen die Stimmung der Stadtbetrachtung erfassen sollen, bestätigen die erste Assoziation. Sie finden sich in beiden Gedichten, wenn auch in unterschiedlichen Kontexten. Die Metapher 'tränenverschleiertes Auge' kann man dort allerdings vergeblich suchen; der Insider wird sie indes wahrscheinlich als Allusion auf ein anderes Gedicht, auf 'Ciel brouille'168 lesen. Ähnliches gilt für das Totentanzmotiv, das wohl an Baudelaires 'Danse macabre'169 erinnern wird. Durch die vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten entsteht eine 'Baudelaire'sche Welt': die 'dunklen Häusermassen', die Herbststimmung, die kahlen Bäume und
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Dörmann 1891, S.105. Vgl. Gsteiger 1971, S.40. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.25. Vgl. Baudelaire 1980, S. 114ff. Vgl. a.a.O., S.98ff. Vgl. a.a.O., S.200ff.
verwesenden Blätter in Dörmanns Gedicht beschreiben eine Stadtlandschaft, die 'Paris' - das Paris der belle epoque - heißen könnte. Die Relevanz älterer oder fremdsprachiger Literatur (zu erwähnen wären freilich neben den genannten Texten auch einige skandinavische170
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Auch die skandinavische Moderne schreibt sich in die Raumerfahrungen der JungWiener Literatur ein: Die vielleicht wichtigsten skandinavischen Autoren dabei sind Ibsen, Strindberg, Georg Brandes, Arne Garborg - sein paradigmatischer Fin de sifecle-Roman 'Müde Seelen' besonders, den Marie Herzfeld übersetzt (Vgl. Arne Garborg: Müde Seelen [Tratte Msend, 1891], Übers, v. Marie Herzfeld. Berlin 1893) - und vor allem Jens Peter Jacobsen. (Hierzu vgl. Jens Malte Fischer 1978, S.29f. Zur Jens Peter Jacobsen-Rezeption um 1900 vgl.: Conny Bauer: Die Rezeption Jens Peter Jacobsens in der deutschsprachigen Kritik 1890 - 1910. In: Klaus Bohnen et al.: Fin de sifccle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutschskandinavischen Kontext. Kopenhagen, München 1984. S. 128-146). Wie wichtig die skandinavische Literatur für die Wiener Moderne war, zeigt sich übrigens auch am gefeierten Auftritt Ibsens in Wien (vgl. Wunberg, Braakenbyrg (Hg.) 1981, S.37-41; dazu: Hermann Bahr: Henrik Ibsen. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.l-17 (T 87.1); Julius Kulka: [Henrik Ibsen weilt in unserer Mitte ...]. In: a.a.O., S.197-200 (T 91.20) und [Anonym]: Nachtrag. In: a.a.O., S. 200-201 (T 91.21)). Wie hoch um 1900 die plastischen Raumdarstellungen Jacobsens geschätzt werden, wird in dem 1910 erschienen Werk 'Die Rolle des Erzählers in der Epik' der Germanistin Käte Friedemann deutlich. Sie hält Jacobsens phantasievolle Landschaftsschildeningen in 'Frau Marie Grubbe' für paradigmatisch (Vgl. Friedemann 1965, S.182f.). Marie Herzfeld glaubt, daß die »zauberhaft durchseelte[n] Bilder« Jacobsens - in anderer Weise als die Realisten - »eine ungeheure Naturtreue« evozieren, die sie »modern« nennt: »Die Landschaft mit ihren lichtdurchtränkten Lüften, die Pflanzenwelt nach Zeit und Himmel, das Menschenwesen in seiner Besonderheit ist aufs Individuellste und Nuancirteste gesehen und geschildert. Denn dieser Träumer ist mit dem Wissen seiner Epoche saturirt; ja, seine Intuition eilt diesem Wissen sogar noch voraus.« (Alle Zitate: Marie Herzfeld 1976, S.740) Friedrich Michael Fels reichen für die Landschaftsschilderungen des Dänen nur noch Superlative: »Jacobsen ist der Naturschilderer par excellence« (Friedrich Michael Fels: Jens Peter Jacobsen. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.344). Auch Hofmannsthal sieht schließlich einen großen »Vorzug von Jacobsen« in dessen Art der Raumgestaltung, in seiner Fähigkeit »kondensiert Stimmung« (Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.359; das Zitat stammt aus dem Jahre 1893) darzustellen. Robert Musil, der Marie Herzfelds Übersetzung benutzt, hebt in einem etwa 1905 (vgl. Musil 1983, ER, S.1889) geschriebenen Entwurf einer Kritik zu Jacobsens Novelle 'Morgens' die technisch geschickt verwendeten »Naturbeschreibungen, die er überall einschiebt« (a.a.O., S.1728) hervor. In einem weiteren Fragment, das Musil wahrscheinlich 1910 verfaßt, streicht er dann nochmals die Einzigartigkeit der Landschaften des Dänen heraus, fragt aber auch nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Darstellungen in der Moderne: »Merkt niemand, daß sagen: die Natur ist schön noch keine Dichtung von der Natur ist? Fühlt niemand, daß auch eine bessere Schilderung der Natur nichts wäre? Darf man Jacobsen wiederholen?« (A.a.O., S.1302).
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und englischsprachigen171 Werke) für die Raum- und Landschaftsdarstellungen der Wiener Moderne ist höchst unterschiedlich. Zu unterscheiden wären bloß intertextuelle Bezüge über Stichworte (mit Hofmannsthal: 'Merkworte') von der Rezeption einzelner Motive oder Bilder und der Übernahme ganzer Textpartien. Hofmannsthals 'Erlebnis des Marschalls von Bassompiere' etwa übernimmt - wie gesagt - wörtlich ganze Passagen des gleichlautenden Textes aus Goethes 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten'172, während Andrian in seinem 'Garten der Erkenntnis' allein das Stichwort 'Bourget' genügt, um bestimmte Assoziationen zu wecken. Die adaptierten 'fremden' Diskurselemente, inkorporierten Texte und Motive behalten zwar eine eigenständige (Rest-)Semantik, sie werden aber dem neuen Kontext akkomodiert und erhalten dort neue Textfunktionen. Für die hier interpretierten Raum- und Landschaftsevokationen der Wiener Moderne gilt: Durch die intertextuellen Bezüge akzentuieren die Texte ihre eigene Modernität entweder, indem sie sich bewußt von jenen Texten und Paradigmen absetzen, auf die intertextuell verwiesen wurde - wie etwa Schnitzlers 'Sterben' von der Tradition der Italienreise und Hofmannsthal von den idyllischen Landschaften Stifters - oder, indem sie sich auf andere Texte
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Aus der neueren englischsprachigen Literatur werden besonders Edgar Allan Poe, Algernon Swinburne und Oscar Wilde gelesen. (Vgl. dazu etwa: Richard von Schaukai: Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser. Stuttgart 1986 1907]. S.102: »Ich rate ihm zu Geschichten von E.A.Poe (deutsch natürlich), er aber fragt, mißtrauisch blätternd: Ist das nicht wieder so etwas Fades wie neulich die russische Geschichte (Turgenjew)? Und ich empfehle ihm tatsächlich Poe, und er 'will's also probieren'.«) Die englische Literatur gilt im Wien der Jahrhundertwende nicht wegen den Naturschilderungen als wichtig, sondern wegen ihrer Darstellung des Künstlichen. In den Augen Hofmannsthals »gehen« die Texte dieser Generation englischer Künstler, »nicht von der Natur zur Kunst, sondern umgekehrt.« (Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.143). Maßgebend für dieses Urteil Hofmannsthals wird das bekannte Verdikt Oscar Wildes gewesen sein, daß die »Natur [...] eine Nachbildung der Kunst« (Oscar Wilde 1970, Bd.l, S.417) sei. Wildes Argument, »die Natur« verblasse »vor den Zimmereinrichtungen« (a.a.O., S.394), hat Hofmannsthal vielleicht im Ohr gehabt, als er von der englischen Moderne in seinem 'Swinburne'-Essay behauptet, sie hätten »öfter Wachskerzen gesehen, die sich in einem venizianischen Glas spiegeln, als Sterne in einem stillen See« (Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.143). Für eine solche Natursicht galten die Engländer durchaus als wohlverstandenes Stichwort. Bei Dörmann, der schon seinen Zeitgenossen als Dichter der künstlichen Paradiese und der unechten Gefühle galt, diagnostiziert schon Hermann Bahr in seinem Essay 'Das junge Österreich' von 1893 »Wünsche«, die dieser »von Swinburne« (Bahr 1976[c], S.374) entlehnt habe. Zur Swinburne-Rezeption vgl.: Karl Günther Just: Übergänge - Probleme und Gestalten der Literatur. Bern, München 1966. S.209-228 ('Formen der Rezeption. Algernon Charles Swinburne und die deutsche Literatur der Jahrhundertwende').
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Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.132-142 und Goethe HA l 2 1982, Bd.6, S.161-165.
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als Argumentationshilfen beziehen und diese im modernen Sinn umschreiben; gute Beispiele dafür sind Freuds Ödipus-Interpretation, die Nietzsche-Adaptationen Hofmannsthals oder die Baudelaire-'Landschaften' in Dörmanns Gedichten. b) Ikonographische Bezüge Nicht nur die intertextuellen Bezüge zwischen der Wiener Moderne und anderen Literaturen konstituieren die Kunstparadigmen, auf die die Raum- und Landschaftsdarstellungen der Jung-Wiener Literatur beziehbar sind; vielmehr prägt ganz entscheidend auch eine vornehmlich aus der bildenden Kunst und Architektur entlehnte (»implizite«173) Ikonographie die den Darstellungen zugrundeliegenden Vorstellungen. Das ikonographische Material findet auf recht unterschiedliche Weise Eingang in die Texte. Oft genug sind die Rezeptionswege mehrfach vermittelt und die Ikonographie wichtiger Kunstwerke und Kunstströmungen ein eher informeller Teil des Diskurses.174 Die ikonographischen Muster, die in der Wiener Moderne für ein bestimmtes Kulturparadigma
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Wiethölter 1990, S.12. Zum Kontext der folgenden Ausführungen vgl. auch die seit kurzem vorliegende Untersuchung einiger repräsentativer Beispiele von Heide Ellert (Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991) und das jetzt erschienene Handbuch, das Ulrich Weisstein herausgegeben hat (Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1992). Der Begriff 'Ikonographie' geht auf Panofsky zurück; seine (später eingeführte) Trennung der Begriffe 'Ikonologie' und 'Ikonographie' ist für den hier diskutierten Zusammenhang nicht relevant. Vgl. Erwin Panofsky: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance ( = Studies in Iconology). Köln 1980. Besonders S.30-54. Neben Bahr und Hofmannsthal, die durch zahlreiche Kunstbesprechungen die Beziehung der jungen österreichischen Literatur zur Kunst ihrer Zeit prägen, müssen als weitere wichtige Vermittler für die bildende Kunst der Kunstkritiker Ludwig Hevesi und für das Kunstgewerbe Bertha Zuckerkandl genannt werden. Oft ergeben sich Berührungen mit der bildenden Kunst über persönliche Kontakte. Arthur Schnitzlers Rezeption der modernen Kunst, um ein Beispiel solcher 'Vermitteltheit' zu nennen, ist geprägt durch eine lose Beziehung zu Gustav Klimt, dem er auch zwei Bilder abkauft. Vgl. dazu: Heinrich Schnitzler, Christian Brandstätter und Reinhard Urbach (Hg.): Arthur Schnitzler. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. Frankfurt 1981. S.105. Zu Hofmannsthals Kunstinteresse vgl.: Wiethölter 1990; Ursula Renner: Der Augen-Blick - Kunstrezeption und Fensterschau bei Hofmannsthal. In: Wolfram Mauser, Ursula Renner, Walter Schönau (Hg.): Phantasie und Deutung. Psychologisches Verstehen von Literatur und Film. FS Frederick Wyatt. Würzburg 1986. S.138151 und Ursula Renner: Das Erlebnis des Sehens. Zu Hofmannsthals produktiver Rezeption bildender Kunst. In: Ursula Renner, G. Bärbel Schmid (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Würzburg 1991. S.285-305; dazu auch: Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.380. Zu methodischen Problemen in diesem Zusammenhang vgl. Weisstein (Hg.) 1992, S.29.
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stehen, stammen zum Beispiel nicht immer aus konkreten Werken der bildenden Kunst, Architektur und Literatur. Oft dominiert eine diskursabhängige Vorstellung von einer Epoche das ikonographische Denken. Ein gutes Beispiel hierfür ist der 'Renaissance-Kult' des Fin de sifecle. Außer der Vermittlung ikonographischer Muster durch Kritiker, Ausstellungen und gesellschaftliche Vorlieben, ist auch die spezifische Sozialisation der Jung-Wiener, ihre Konfrontation mit den Bildkonzeptionen der Elterngeneration - besonders dem Wiener 'Biedermeier', den Veduten der alten Kaiserstadt und den Bildern der Makart-Zeit - von erheblichem Belang für die Ikonographie der Raum- und Landschaftsdarstellungen. Hierbei ist nicht immer der tatsächliche Gehalt der Bilder wichtig, sondern das, was mit diesen innerhalb einer oft weniger kunstinteressierten Umgebung assoziiert und was als ikonographisches Material übernommen wird.175 Die Auswahl der hier erläuterten Kulturparadigmen, auf die ikonographisch in Raum- und Landschaftsbildern Bezug genommen wird, richtet sich - wie im vorherigen Kapitel - nach ihrer Relevanz für die Formation der spezifischen Diskurse der Wiener Moderne. Die ikonographischen Bezüge zur Renaissance, zum Barock und zur Kunst des 19. Jahrhunderts dienen der Charakterisierung unterschiedlicher Aspekte der eigenen Modernität. Während die Jung-Wiener aus ihren Vorstellungen von der Renaissance und dem Barock vor allem Modelle für die Situation der ästhetizistischen Kunst ihrer Zeit entlehnen, die in den Räumen und Landschaften zu analysieren sind, haben die Referenzen auf die Kunst des 19. Jahrhunderts verschiedene andere - für die Untersuchung relevante - Aufgaben: einmal ist die Vermittlungsfunktion der klassizistischen Kunst (besonders Böcklins), die ein ganz spezifisches Bild von Antike und Renaissance transportiert, zu betrachten; dann sind Traditionslinien aufzuzeigen, die die Wiener Moderne zum Teil recht spielerisch wieder aufnimmt (wie die Ikonographie ,des 'Wiener Biedermeiers'); schließlich soll kurz das Verhältnis der Wiener Moderne zum Impressionismus angesprochen und auf Realisierungen 'impressionistischer Bilder' in der Literatur hingewiesen werden.176 Als extrem vermittelt und durch ihre Rezeptionswege bestimmt stellt sich um 1900 die Adaptation der (italienischen) Renaissance dar. Um den 'ReaissanceKult' der Wiener Moderne zu verstehen, muß man sich einige 'Quellen' ihrer Renaissance-Kenntnis und -Euphorie ins Gedächnis rufen: Jacob
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Arthur Schnitzler etwa sieht sein Makart-Bild bestimmt durch einen Besuch im Atelier des Meisters zusammen mit seinem Lieblingsonkel Felix und nicht so sehr durch dessen Bilder. Seine »Erinnerung an Hans Makart« verknüpfe sich »mit dem Bild«, das sein Onkel bestellen sollte »und dem Duft einer brennenden Havannazigarre« (Schnitzler 1981, S.59) im Mund des Malers. Vgl. hierzu auch Kapitel l.a).
Burckhardts 'Kultur der Renaissance in Italien', Arthur Comte de Gobineaus 'La Renaissance', Walter Paters 'The Renaissance. Studies in Art and Poetry', dann vor allem die Bilder Arnold Böcklins und Hans Makarts177 oder die Neorenaissance-Bauten der Ringstraße.178 Von einer distanzierten und adäquaten Vorstellung dieser Epoche kann schon aufgrund dieser 'Quellen' nicht die Rede sein. Das Bild der Renaissance in der Wiener Moderne will bewußt schemenhaft bleiben und keineswegs konkret sein; wichtig sind Stimmungen, Staffagen, Dekorationen - kurz: die stilisierte Atmosphäre einer artifiziell vorgestellten Kunstepoche im doppelten Sinn des Wortes. Aus diesem spezifischen Verständnis der Renaissance ergibt sich die ikonographische Gestaltung von 'Renaissance'Räumen in der Wiener Moderne. Fast jeder Dichter des Jungen Wien variiert Renaissance-Motive, benutzt die Ikonographie dieser Epoche für seinen Beitrag zum ästhetischen Diskurs oder staffiert seine Werke mit Bildern und Bildelementen der Renaissance aus. Eduard Hüttinger bemerkt in Hofmannsthals 'Der Tor und der Tod' eine deutliche Wirkung der Renaissance-Schrift Walter Paters; er sieht dessen Mowa-Lisa-Beschreibung als »ein 'Pater'sches' Gedicht auf die Gioconda«.179 Das Bild gehört, neben »Stukkatur und Gold«180, sowie
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Zur Renaissance-Rezeption um 1900 vgl.: Eduard Hüttinger: Leonardo- und Giorgione-Kult. Materialien zu einem Thema des Fin de sifecle. In: Bauer (Hg.) 1977, S.143-169; Lea Ritter Santini: Maniera Grande. Über italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende. In: Bauer (Hg.), 1977, S.170-205 und Jürgen Wertheimer: Die 'Neue Renaissance': Mythos oder Mode? Eine literarische Chiffre im Bedeutungswandel. In: Neohelicon VI,2-1979, S.251-271; auch: Walter Rehm: Das Wesen des Renaissancebildes in der deutschen Dichtung vom Rationalismus bis zum Realismus. München 1924. Wenn von den 'neobarocken' Bildern Makarts und dem Klassizismus Böcklins gesagt wird, sie hätten auch der Vermittlung der - vom Wiener Fin de siicle so verstandenen - 'Renaissance'-Ikonographie gedient, so ist natürlich noch zu erwähnen, daß Makart und Böcklin durchaus auch unmittelbar auf die Raum- und Landschaftsgestaltung in der Literatur gewirkt haben. Auf die makartsche Gestaltung der Interieurs in Bahrs 'Vier Interieurs' und in Hofmannsthals 'Märchen' wird in Kapitel 3.a) eingegangen; an ein weiteres eindrückliches Beispiel sei hier aber schon jetzt erinnert: Felix Dörmanns 'Interieur'-Gedichte (auch dazu: Kapitel 3.a).): Nicht nur die Üppigkeit des Dekors, die Farbgebung, die kostbaren Materialien und exotischen Elemente lehnen sich in Dörmanns Gedichten an Makart an, sondern auch das Motiv der liegenden Frau als Element des Interieurs. Makarts Bild 'Der Tod der Kleopatra', das damals bei Baron Leitenberger in Wien hing (heute in Kassel) und das Anlitz der Schauspielerin Charlotte Wolter trägt, könnte sogar ausdrücklich die Ausstattung des zweiten 'Interieur'-Gedichts beeinflußt haben. Hüttinger 1977, S.149. Zu den Raumvorstellungen in Hofmannsthals 'Der Tor und der Tod' vgl. auch: Heinrich C. Seeba: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik
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weiteren »Altertümern«181 zum ikonographisch deutbaren Zeichenrepertoire des Bühnenbild-Interieurs, das es an zentraler Textstelle charakterisiert. Das Bild ist selbst hervorgehoben als Ikone der Renaissance und damit der Kunstverehrung überhaupt. Obwohl es »schwarzgedunkelt« ist und als Werk eines nicht bestimmten »italienischen Meisters« vorgestellt wird182, läßt seine Beschreibung erkennen, daß das Bild der italienischen Renaissance gemeint ist. »All the thoughts and experience of the world«183 enthält es, sofern der Betrachter sie »einzuweben« vermag184; Hofmannsthal reflektiert die Renaissance-Rezeption seiner Epoche in der Bildbeschreibung einer auf ihr Lächeln und ihre Augen reduzierten Mona Lisa: Vor einem alten Bild Gioconda, du, aus wundervollem Grund Herleuchtend mit dem Glanz durchseelter Glieder, Dem rätselhaften, süßen, herben Mund, Dem Prunk der träumeschweren Augenlider: Gerad so viel verrietest du mir Leben, Als fragend ich vermocht dir einzuweben! 185
Diese Art der Vereinnahmung der Renaissance entspricht dem eingangs erwähnten Umgang der modernen Generation mit der historistisch zur Verfügung stehenden Vergangenheit.186 Sie akzentuiert hier eine Variante
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und Moral in Hofmannsthals 'Der Tor und der Tod'. Bad Homburg, Berlin 1970. Besonders S.98-lol. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.281. A.a.O. Beide Zitate: a.a.O. Walter Pater: The Renaissance. Studies in Art and Poetry. London 1925 [Nachdruck der Ausgabe v. 1910], S.125. Vgl. hierzu auch Hüttinger 1977, S.148. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.284. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.284. Zur 'Gioconda'-Beschreibung vgl. auch Renner 1986, S.142. Die Illustrationen Angelo Janks zur Wiederveröffentlichung von 'Der Tor und der Tod' in der Zeitschrift 'Jugend' (6-1899) heben zwar die Wichtigkeit des Interieurs im Drama hervor, orientieren sich aber in der Ausstattung am 19. Jahrhundert. Die 'Mona Lisa' ist nicht wiedelzuerkennen. Die Illustrationen begründen sich aus der Angabe »Kostüm der zwanziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts« (Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.280); damit verlegt er die Handlung ans Ende der deutschen Kunstepoche, einer »Zeitangabe, die in Hofmannsthals lyrischen Dramen fortan mit der Renaissance konkurriert« (Jens Malte Fischer 1978, S.180). Hofmannsthal profiliert hier exemplarisch die Haltung des 'produktiven' Historismus (vgl. dazu Kapitel 2.c).); Hofmannsthal sagt im 'D'Annunzio'-Essay: »Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht; alles, was sie haben, haben sie von uns.« (Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.174) Auf Hofmannsthals zur gleichen Zeit entstandenen 'D'Annunzio'-Essay geht die Arbeit ausführlich in Kapitel 2.c) ein.
des Hauptmotivs des Dramas: der Protagonist erscheint als 'lebendiger Toter', der sich mit Hilfe eines selbst erschaffenen Lebensraums eine lebensferne - tote - Welt konstruiert. Am Ende des Dramas zeigt dieser Ästhetizismus seine Schrecken. Das Motiv der Gioconda wird zum Bild der verlassenen Freundin, die »am lichten Tage ging«.187 In der Interpretation des als lebendige Gestalt auftretenden toten Freundes Claudio erscheint die ehemalige Geliebte des Protagonisten als »Puppe« und »Larve«, deren »Bild vom Überdruß entstellt, so fürchterlich verzerrt, des wundervollen Zaubers so entblößt«188 ist, weil ihre »rätselhaften süßen Reize« durch sein Spiel, seine »widerliche [...] Kunst«189 unwiederbringlich verloren sind. Die anderen Elemente des Bühnenbildes sind gleichfalls ikonographisch als Zeichen eines ausgedörrten historistischen Ästhetizismus' deutbar. Die Truhe - für Claudio nur Hort einer bizarren, aber längst entfremdeten, toten Fülle mythologischen Bilderwerks190 - ist allein für die tote Mutter lebendiges Erinnerungsstück191; das Blumenfenster, die Liebesbriefe, der Glaskasten mit Altertümern - »Dürr, alles dürr!«192 werden zu Zeichen eines nicht gelebten Lebens, zu 'Ikonen' des Historismus. Bahr schmückt ein imaginäres Interieur mit »Copien nach Tizian und Giorgione«193; Schaukai macht seine Gedanken zur Malerei, zur künstlerischen Gestaltung des Raumes und der Landschaft am Unterschied zwischen diesen beiden Malern fest.194 Hofmannsthal rekurriert in zahlreichen Essays, Operntexten, Pantomimen, Dramen195 und Reiseskizzen auf Kunstwerke der Renaissance, obwohl er sich in einem Brief an Richard Strauss schon 1906 ganz anders äußert: »Keine Epoche« schreibt er, sei »in ihrem Lebensinhalt« der Moderne »so fern [...] als diese«.196 Noch in der 'Sommerreise' von 1903 glaubt Hofmannsthal allerdings, in der Landschaft ein Renaissance-Gemälde wahrzunehmen: »Dies ist eine
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A.a.O., S.294. Alle Zitate: a.a.O., S.296. Beide Zitate: a.a.O. Vgl. a.a.O., S.284. Vgl. a.a.O., S.292. A.a.O., S.293, vgl. auch S.291. Hermann Bahr: Secession. Wien 1900. S.251 ('Vier Interieurs. Weihnachten 1899'). Vgl. Richard von Schaukai: Giorgione oder Gespräche über die Kunst. München, Leipzig 1907. Besonders S.[131-109], Vgl. auch Hüttinger 1977, S.157. Vgl. etwa das Dramenfragment 'Ascanio und Gioconda' (In: Hofmannsthal 1979, Bd.2, S.9-46. Dazu vgl. Rieckmann 2 1986, S.159ff.) oder die Pantomime 'Josephslegende' »in der Art der Cartons des Veronese« (In: Hofmannsthal 1979, Bd.6, S. 90-123. Zitat: S.91.). Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Hg.v. Willi Schuh. München 1990. S.20 (Brief Hofmannsthals an Strauss, Rodaun, 27.4, 1906).
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Landschaft des Giorgione«197 ruft er angesichts eines Blicks auf Castelfranco, den Geburtsort des Malers, aus. Hier entdeckt er jenes 'Concert Champetre', das lange Zeit für ein Werk des Italieners gehalten wurde, und erhebt es zur Ikone der Landschaftsverehrung: Die Gestalten des 'ländlichen Konzerts' »tun nichts anderes, als die unsägliche Süßigkeit der Landschaft auskosten«.198 Doch auch andere Kunstwerke der Renaissance bestimmen die Wahrnehmung der Orte, lassen den Erzähler die Landschaften seiner Reise in ihrem Glanz erleben: Paolo Veronese, und Pordenone, und Bassano [...]: so wohnt in jeder dieser halbzerbrochenen Städte ein Ruhm wie eine leuchtende, nackte Dryade im Strunk des halbvermorschten Baumes. 199
Die Namen der Renaissance-Künstler repräsentieren den 'kunstgeschichtlichen' Blick auf die Landschaft; sie formieren das literarische Landschaftsbild in seiner ikonographischen Gestalt als Renaissance-Bild.
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Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.600. A.a.O., S.599. Vgl. hierzu: Giorgione: Ländliches Konzert (Concert champetre), Paris, Louvre und Werner Vordtriede: Das schöpferische Auge: Zu Hugo von Hofmannsthals Beschreibung eines Bildes von Giorgione. In: Monatsschrift fiir deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 48-1956. S.161-168; zur 'Sommerreise' außerdem: Renner 1991, S.295-297. A.a.O., S.598. Ein weiteres Beispiel aus dem Kreise der Jung-Wiener wäre Felix Saltens späte Novelle 'Der Hund von Florenz'. Dort reist der arme Wienei; Maler Lukas - wie unzählige Vorbilder vor ihm: von 'Franz Sternbald' bis zum 'Taugenichts' - nach Italien, um an der Kunst der Renaissance seine Fertigkeiten zu verbessern. Als dieser in das Atelier des angesehenen Malers Cesare Bandini in Florenz tritt, eröffnet sich ihm eine Vielzahl von Renaissance-Kunstwerken, die oft nur auf wenige Teileindrücke reduziert sind; diese Fülle von Bildern und Bildfragmenten, die natürlich auch an Hans Makart und Rudolf von Alts Bild 'Das Atelier Makarts' von 1885 erinnert, illustriert die Atmosphäre produktiven Kunstschaffens, die für den aus dem Norden kommenden Protagonisten völlig neu ist; die Überladenheit des Ateliers steigert noch einmal in nuce die Eindrücke, die Lukas bei seiner Ankunft in der Kunststadt Florenz zum Staunen bringen konnten: »Als Lukas eintrat, war er beinahe blind vor Erregung. [...] Von den Wänden hob sich aus vielen gerahmten und ungerahmten Bildern farbenleuchtend ein Getümmel menschlicher Gestalten. Frauenleiber traten blendend hervor in großbewegten Gebärden hochgehobener winkender Arme, geschwungener Hüften, üppiger Schultern, stolzgebäumter Nacken und steilgewölbter Brüste. Kraftstrotzende Männer und Jünglinge, helmbuschüberweht, schimmerten in goldenen Rüstungen; Landschaften weiteten sich mit Baumwipfeln, Felsgebirgen, grünen Wassern und blauen Firmamenten.« (Felix Saiten: Der Hund von Florenz. Stuttgart 1985. S.89) Auch in Saltens schon erwähnten Novellen 'Der Schrei der Liebe' und 'Die Gedenktafel der Prinzessin Anna' finden sich immer wieder Szenen und Eindrücke, die an die italienische Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts erinnern, an die Bilder von Paolo Veronese, Tintoretto, Tizian oder Giorgione, die um 1900 im Wiener Kunsthistorischen Museum zu bewundern sind.
Die Renaissance-Ikonographie in der Wiener Moderne dient - so kann man thesenhaft formulieren - vor allem der Gestaltung einer ästhetizistischen Lebenswelt, die im Maskenspiel wirklichkeitsfremde Genüsse erlaubt. Ihr Zeichenrepertoire interessiert nicht als spezifischer Ausdruck einer Epoche, sondern nur als Spielmaterial, um ein modernes Phänomen zu verdeutlichen: die ästhetische Gestaltung einer eigenen Welt, die mit aller Gewalt die Augen verschließt vor der Gefahr, die außerhalb der gezogenen Grenzen liegt.200 Der so oft für das Wien des Fin de Steele benutzte Begriff 'Phäakenstadt' charakterisiert diese Situation sehr gut; er könnte genausogut die in Schnitzlers Drama 'Der Schleier der Beatrice' dargestellte Situation Bolognas beschreiben. Die Verarbeitung ikonographischer Elemente der Renaissance in diesem Schauspiel Schnitzlers ist für viele Werke der Wiener Moderne paradigmatisch. Der »Shawl«201, wie Schnitzler dieses Drama in seinen Tagebüchern noch nennt, wird erst später, offensichtlich unter dem Eindruck einer Reise durch Norditalien, die ihn auch nach Bologna, dem Handlungsort des Stückes führt202, und der Lektüre der Renaissance-Bücher Ludwig Geigers und Jacob Burckhardts203 zum 'Renaissance'-Drama umgearbeitet.204 Der ursprüngliche Entwurf des Stückes sah als Protagonisten noch den griechischen Bankier Nikolaus Dumba vor, der »in jenen Jahren in seinem Palais mit dem von Makart bemalten Bacchantenzug im Arbeitszimmer am Wiener Parkring«205 lebte. Daß Schnitzler ohne weiteres Dumba durch den Herzog von Bologna Bentivoglio ersetzen, gleichzeitig aber Motive der Makart-Fresken in sein Stück - als bacchantische Gartenszenen im Fackellicht, die wiederum dort als »Maskenfest«206
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Vgl. dazu: Wertheimer 1979, S.264. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893-1902. Hg.v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1989. S.293 (14.9.1898). Vgl. a.a.O., S.292. (30. und 31. 8. 1898). Vgl. Urbach 1974, S.167f. Vgl. Lea Ritter Santini 1977, S.189f„ Schnitzler 1989, S.288 (5.7.98), S.293 (14.9.98) und Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hg.v. Robert O.Weiss. Frankfurt 1977 [a], S.379-383 ('Zur Physiologie des Schaffens'). Zum Aspekt des Historismus vgl. auch: Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler. Reinbek 1976. S.71. Daß Schnitz'er während der Arbeit an der 'Beatrice' in Wien eine Revue - 'Venedig in Wien' - besucht, die die Zeit der Renaissance als bunten Bilderbogen vorführt, dürfte auch nicht unerheblich für die Umarbeitung des 'Shawls' gewesen sein (vgl. Schnitzler 1989 (15.5.1898). Die Revue wird auch in Peter Altenbergs Prosaskizze 'Newsky Roussotine-Truppe' erwähnt (vgl. Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 1901. S.156). Lea Ritter Santini 1977, S.190. Vgl. auch Hans Makarts Bild 'Das Fest im Park', 1863-1865. Schnitzler 1977-1979[a], Bd.3, S.141.
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bezeichnet werden - integrieren kann, zeigt, wie unwichtig dem Autor offensichtlich die exakte Gestaltung des Renaissance-Interieurs 5st, wie wichtig ihm indes die Selbstentlarvung des Schauspiels als Spiel mit Renaissance-Insignien wird. Durch die Umgestaltung des Stoffes zum 'Renaissance'-Drama finden die Figuren nicht zu ihrer Eigentlichkeit, werfen nicht die Maske ab, wie es Schnitzler in seiner 'Physiologie des Schaffens'207 vom Herzog behauptet, sondern sie setzen Masken auf, um auf einer entsprechend im Renaissance-Stil gestalteten Bühne (Garten, Saal eines Schlosses mit Blick auf den Garten, Schlafgemach) die Fiktion eines ausgesprochen artifiziellen Spiels zu vermitteln. Das 'Beatrice'-Drama will nicht einen historischen Stoff nachspielen und den Geschehnissen um 1500 in Bologna gerecht werden. Es will das sein, was Arlotti im Drama selbst von der Hochzeit des Herzogs behauptet: »Das Ganze [ist], wie ich schon sagte, ein Maskenfest«208, das - der Logik des Stückes folgend - den Sommernachtstraum209 vor der vermeintlich vernichtenden Schlacht legitimiert. Der Spielcharakter der Situation im belagerten Bologna gilt in Schnitzlers Stück als Parabel für den 'fiktionalen' Status des Stückes selbst, für das Renaissance-Bild um 1900 und für die ästhetizistisch verstandene Kunst überhaupt. Zur Ikonographie der Renaissance - wie sie im Drama exemplifiziert wird - gehören neben dem Spielerischen die inszenierten Feste210, die kostbaren Materialien211, die in den Bühnenbildern präsentierte Architektur, der müßige Kunstgenuß212 und vor allem die fiktionale Situation zu Beginn des Dramas. Eine unter extremen Bedingungen in einen begrenzten Raum eingeschlossene und durch den drohenden Untergang geprägte Gesellschaft, in der viele Gesetze zugunsten eines freieren und künstlerischen Lebens außer Kraft gesetzt werden, wird in Kunst und Literatur immer wieder mit der italienischen Renaissance in Verbindung gebracht: Das 'Dekamerone' von Boccaccio, Edgar Allan Poes 'The Mask/Masque of the Red Death', Hans Makarts Bild 'Die Pest in Florenz' von' 1868, Hofmannsthals 'Der Tod des Tizian', Oskar
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Vgl. Schnitzler 1977[a], S.383. A.a.O. Vgl. den Hinweis Schnitzlers auf Shakespeare in: Schnitzler 1977[a], S.383. Vgl. hierzu: Burckhardt 101976, S.377-400; zur Bedeutung des Festes um 1900 auch: Ursula Kirchhoff: Die Darstellung des Festes im Roman um 1900. Ihre thematische und funktionale Bedeutung. Münster 1969. Vgl. etwa Schnitzler 1977-1979[a], Bd.3, S.104f. und allgemein zum Motiv des Kostbaren: Heide Ellert: Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de sifecle. In: Bauer (Hg.) 1977, S.421-441. Vgl. etwa Schnitzler 1977-1979[a], Bd.3, S.48.
Panizzas Skandalstück 'Das Liebeskonzil' von 1893 oder Felix Rappaports Gedicht 'Übergänge' von 1897213 sind hierfür Beispiele. Schnitzler variiert im 'Beatrice'-Drama das Renaissance-Motiv des durch eine räumliche Konstellation legitimierten spielerischen Lebens, indem er bewußt einen historischen Stoff wählt. Er hält sich zwar nicht sklavisch an die geschichtlichen Vorgänge in Bologna um 1500, sie bleiben aber dennoch allein durch das Personenarsenal präsent. Die Handlung des Stückes ist bestimmt durch die insulare Situation, in der das Außergewöhnliche erlaubt scheint; doch gerade die Legitimation dieses Spiels erweist sich durch die Wahl des historischen Stoffes als spielerisch gesetzt. Schnitzler denunziert so die Handlungen der Protagonisten als Spiel im Spiel.214 Die Angst, die die Protagonisten zu exzesshaften Selbstinszenierungen treibt - man könnte den theatralischen Selbstmord Filippos nennen, die immer wieder verworfenen Fluchtversuche, die 'letzte Nacht' des Bentivoglio oder das bacchantische Maskenfest im Schloß - erweist sich vor dem Hintergrund der geschichtlichen Geschehnisse als unsinniges Spiel. Denn: gerade Bologna hält der Belagerung durch Cesare Borgia stand; es überlebt den drohenden Untergang. Daß dieser Aspekt Schnitzler nur zu gut bekannt ist, kann man aus seinem Besuch in Bologna, bei dem er auch verschiedene Museen besucht hat, schließen.215 Einzig Beatrice, die gerade des ewigen Spiels216 gescholten wird, zeigt sich durch ihren bedingungslosen Willen zum Leben als diejenige, die an die - das Spiel legitimierende - Apokalypse am nächsten Morgen nicht so recht zu glauben scheint. Sie kann deshalb als einzige wirklich psychologisch und pragmatisch motiviert handelnde Protagonistin des Dramas bezeichnet werden, die sich selbst nicht durch die inszenierte insulare Situation zum spielerischen Handeln gezwungen sieht. Zur Charakterisierung des Ästhetizistischen in Wien um 1900 wird von der Wiener Moderne auch die barocke Malerei und eine aus ihr abgeleitete Ikonographie herangezogen. Die bekannteste Formulierung, die auf ein Gemälde des 18. Jahrhunderts rekurriert, stammt aus Hofmannsthals Prolog zu Schnitzlers 'Anatol':
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Vgl. Rappaport 1897, S.376: »Drei Fackeln an des Parkes Gitter brannten, / darin er schritt in weissem Seidenkleid [...] / Die Stille wuchs wie ein verhalt'nes Schrein, / Pest zog und Irrsinn durch die Abendstunde.« Zum Motiv des 'Spiels im Spiel' vgl.: Alfred Doppler: Dramatische Formen bei Arthur Schnitzler. In: Beiträge zur Dramatik Österreichs im 20.Jahrhundert. Hg. v. Institut für Österreichkunde. Wien 1968. S.25ff. Vgl. Schnitzler 1989, S.292 (30.8.-31.8.98). Vgl. Schnitzler 1977-1979[a], Bd.3, S.166f.
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Seht... das Wien des Canaletto, Wien von siebzehnhundertsechzig... ... Grüne, braune stille Teiche, Glatt und marmorweiß umrandet, [...] Auf dem glattgeschornen Rasen Liegen zierlich gleiche Schatten Schlanker Oleanderstämme; Zweige wölben sich zur Kuppel, Zweige neigen sich zur Nische Für die steifen Liebespaare.217
Es verwundert, daß die umfangreiche Hofmannsthal-Forschung noch nicht darauf hingewiesen hat, daß die hier beschriebene Landschaft des Belvedere-Gartens bis ins Detail auf ein im Kunsthistorischen Museum in Wien hängendes Bild von Bernardo Bellotto gen. Canaletto218 beziehbar ist. Dieses Gemälde gehört zu einer Serie von Wien-Ansichten, die Bellotto um 1760 - wie im Prolog erwähnt - bei seinem Aufenthalt in der Kaiserstadt fertigt. Die 'Bildbeschreibung' Hofmannsthals nennt nicht nur die 'braune' und 'grüne' Farbe der 'stillen Teiche', deren 'marmorweiße Umrandung', 'Nischen' und 'Kuppeln', sondern auch die sich auf dem 'glattgeschornen Rasen' abbildenden Schatten - das wohl auffälligste Motiv des 'Canaletto'-Bildes. Die evozierte Gartenlandschaft hinter hohen Gittern und Taxushecken entspricht der oben erwähnten insularen Situation als Metapher für eine ästhetizistisch verstandene Kunst. In dieser weitabgewandten Atmosphäre errichten die AvantgardeKünstler des Jungen Wien ihre Kunstra«me. Denn sie und nicht die
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Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.59. Vgl. auch Ferdinand von Saars Programmgedicht 'Ver sacrum' (Ferdinand v.Saar 1898), das für die Beschreibung des ästhetizistischen Spiels typische Motive des Belvedere-Gartens im Wiener Fin de sifecle (Gitter, Rasen, Sphinx) verwendet. Wie Hofmannsthal sieht er in den »geheimnisvoll umzirkten Zaubergärten« der Canaletto-Welt die feme Kunst zarter Menschen blühen. Zu den Landschaftsdarstellungen im 'Ver sacrum'-Gedicht vgl. Kapitel 3.c). Bernardo Bellotto gen. Canaletto: 'Wien, vom Belvedere aus gesehen', um 1760, Wien, Kunsthistorisches Museum (vgl. Abb.). Vgl. auch Nethersoles allerdings leicht irreführenden allgemeinen Hinweis: »In the 'Prolog' this reference [, die der Garten statt eines 'panoramic-view' aufweise,] is a double one since it alludes to another text and to an existing painting; but its references to Schnitzler and Canaletto are overshadowed by those to Watteau's Landscapes. Like the Embarcation to Cythera.« (Reingard Nethersole: Enchanted Gardens: Landscape Imagery in the Works of Hofmannsthal and Klimt. In: MAL 22,3,4-1989. S.114). Durch die dominierende Allusion auf Bellottos Vedute entsteht - im Gegensatz zu Nethersoles Ansicht geradezu ein 'panoramic-view'. Der von Hofmannsthal entworfene Garten wird automatisch durch das Bild Bellottos (und den tatsächlichen Belvedere-Garten) 'ergänzt' bzw. erst vervollständigt.
barocken Heroinen und Heroen219 des 'Canaletto'-Bildes sind die eigentlichen Bewohner dieses Gartens, deren Kostüme 220 ihnen als Larve ihres Spiels dienen: Eine Laube statt der Bühne, Sommersonne statt der Lampen. Also spielen wir Theater, Spielen unsre eigenen Stücke, Frühgereift und zart und traurig 2 2 1
Dieses 'Wien um 1760' wird fortan so sehr zum Synonym für die ästhetizistische Kunst der Wiener Moderne, daß das alte Wien des Canaletto Karl Kraus durch die häufige literarische Verwendung dieses Malers unsympathisch wurde.222 Auch Arthur Schnitzler denkt an das 'Wien des Canaletto', wenn er in seinem Feuilleton 'Spaziergang' einen der Teilnehmer sagen läßt, es käme nicht einmal darauf an, das zu schätzen, was tatsächlich vorhanden ist, denn er habe die Häuser von 1760 gem. 223 Aber Stefan, der diese Äußerung zum Besten gibt, sieht sich selbst nicht einfach als sentimentalen Liebhaber des alten barocken Wien, sondern wie es Maximilian Harden von Hermann Bahr gesagt hat - als 'Mann von Übermorgen': Wenn er über die historistisch ausgestaltete Ringstraße flaniere, merke er, daß er eigentlich ein Herr von 1970 sei 224 : »Und ich sehe alle Leute, wie ich sie auf Bildern nach vielen Jahren sehen würde.«225
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Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.59. Historische Kostüme dienen in der Wiener Moderne nicht nur der möglichst werkgetreuen Aufrechterhaltung der Fiktion; sie sind verfremdende Larven; als solche drücken sie eine lebensferne Haltung aus. Für das ganze Fin de sifecle vermitteln die Portraits von Veläzquez eine Atmosphäre höchst sublimer Künstlichkeit. Carl E. Schorske berichtet von einer Aufführung des 'Geburtstags der Infantin' von Oscar Wilde im Gartentheater der Wiener Kunstschau 1908, deren Bühnenbild und Kostüme »ganz im Stil von Veläzquez« (Schorske 1982, S.309 und Abb. 57) gestaltet gewesen seien. Zu dieser Aufführung und den Kostümen vgl. Altenberg 1977, S.321f. Dem »Porträt eines spanischen Infanten von Diego Velasquez« widmet übrigens Richard Schaukai ein Gedicht (vgl. Hans Bethge (Hg.): Deutsche Lyrik seit Liliencron. Leipzig 1910 ['1905]. S.246). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.60. Karl Kraus: Mona Lisa und der Sieger. In: Die Fackel ΧΙΠ, 331,332-1911, S.3; vgl. auch Bab, Handl 1926, S.87 und S.263; Bahr 1906, S.48ff. Alle Zitate: Arthur Schnitzler: Entworfenes und Verworfenes. Aus dem Nachlaß. Hg.v. Reinhard Urbach. Frankfurt 1977 [b], S.153. ('Spaziergang'; Erstveröffentlichung: Deutsche Zeitung [Morgenausgabe], Wien 6.12.1893. S.lf). A.a.O. A.a.O.
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Gerade der antizipierende Bezug auf das Wien um 1970, der ja nur die 'ästhetisierende' Historisierung der eigenen Epoche fortsetzt, erlaubt dem Betrachter eine Distanz zur tatsächlichen Stadt und läßt ihn diese nun als barocken Bilderbogen sehen. Dieser spielerische Umgang mit den »Stimmungen vergangener Jahrhunderte, die durch unsere Seele gehen«226, wird von den fiktiven Gesprächspartnern Stefans - ebenso spielerisch kritisiert und der Blick als ästhetizistischer entlarvt: Und gar du, Stefan! - Für dich sind überall Komödianten, die dir ahnungslos was vorspielen müssen. Manchmal hast du die Güte, zu applaudieren, öfters aber bist du zerstreut oder nicht in der Laune, hinzuhorchen. 227
Max, der 'realistisch' denkende Widerpart Stefans, erklärt schließlich den Verzicht auf den spielerischen Umgang mit der Welt als Akt der Reifung; er jedenfalls verzichte »darauf, die hundert Spiele mit der Welt zu spielen, denen ihr die schönen Namen gebt.«228 Doch nicht nur die Ikonographie des Canaletto dient der Wiener Moderne zur Charakterisierung spielerisch-weltabgewandter Raumerfahrung. In Hofmannsthals Prolog zum 'Anatol'-Zyklus wird ein weiterer Maler des frühen 18. Jahrhunderts genannt, dessen Bilder für diese von den Jung-Wienern geschätzte 'Stimmung' stehen: Watteau. Dessen 'Schäferszenen' interpretieren die Texte Hofmannsthals nicht als sentimentalische Idyllen, sondern der Name Watteau verleiht der weitabgewandten Gartenszenerie den Hauch zauberhafter Zurückgezogenheit in eine Welt »mit Nymphen, Springbrunnen und vergoldeten Schaukeln«229, wie es im 'Swinburne'-Essay heißt. Dieser »Garten des Watteau«230 hat nur noch wenig mit der traditionellen bukolischen Ikonographie, allerdings aber mit der Idee eines Fin de siöcle-Gartens zu tun. In seinem ersten Feuilleton über 'D'Annunzio' ordnet Hofmannsthal deshalb den »Schäferinnen des Watteau«231 das Epitheton 'mondän' zu. Diese Nennung Watteaus soll im nächsten Kapitel - als charakteristisches Exempel eines 'produktiv' verwendeten historistischen Verfahrens in der Literatur - näher und im Zusammenhang untersucht werden.
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A.a.O., S. 154. A.a.O. A.a.O., S. 156. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.144. A.a.O. Schaukai nimmt in seinem 'Giorgione'-Buch das 'Watteau'-Motiv des Prologs (bzw. des 'D'Annunzio'-Essays) auf, um eine »hinter Gittern gefangene [ästhetizistische] Kultur« zu beschreiben (vgl. Schaukai 1907 S.[241]). Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.174.
Von der Malerei des 19. Jahrhunderts232, die besonders die Ikonographie der Räume und Landschaften im Jungen Wien prägt, sind neben der klassizistischen Kunst, vor allem Böcklins, die österreichische Landschaftsmalerei des Biedermeier und die impressionistische Kunst zu nennen. Daneben sind, besonders für die Frauengestalten der Wiener Moderne,- die englischen Präraffaeliten und der österreichische Jugendstil relevant. Beispiele für Böcklinsche Motive in Landschaftsbildern der Wiener Moderne finden sich ausgesprochen häufig. Seine Ikonographie gehört zum Einmaleins sehnsüchtig-melancholischen Sprechens im Fin de siöcle. Als den bekanntesten literarischen Bezug der Jahrhundertwende auf Böcklin, auf sein oft variiertes Motiv 'Villa am Meer'233, kann man sicher Rilkes 'Weiße Fürstin' bezeichnen.234 Doch allein, daß der 'Tod des Tizian' als »Totenfeier für Arnold Böcklin in München«235 aufgeführt wird, zeigt, wie wichtig auch für Hofmannsthal der Maler Böcklin ist. In seinem Essay 'Die Malerei in Wien' von 1893 - also kurz nach Abfassung des 'Tizian' - schwärmt er von Böcklins »traumtiefen Bilder[n]«, die »heidnisch seien wie Hymnen des Orpheus.«236 Ein Jahr später hebt er dessen 'Villa am Meer', die »Verherrlichungen der dunklen Flut, der schwarzen Pinien, der weißleuchtenden Marmortreppen in der dunkelblau webenden südlichen Nacht«237 hervor. Wenn man sich die Bühnenbilder der lyrischen Dramen - besonders natürlich des 'Tizian' und die Gedichte Hofmannsthals aus den neunziger Jahren ansieht, kann man deutlich Böcklinsche Motive entdecken: immer wieder finden sich dessen Villen, Freitreppen, Loggien, Altane, Terassen oder Gärten an »steilen Ufern«238 mit schwarzen hohen Bäumen. Die Ausstattung des Dramoletts 'Idylle' von 1893 schreibt sogar ausdrücklich einen
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Zum folgenden vgl. auch: Werner Hofmann: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 2 1974 und Werner Hofmann (Hg.): Experiment Weltuntergang. Wien um 1900. München 1981. Vgl. etwa Arnold Böcklin: 'Villa am Meer', um 1877, Staatsgalerie Stuttgart. Vgl. Rilke 1987, Bd.l. S.203; dazu: Lea Ritter Santini 1977, S.183f. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.261; vgl. auch: Bd.10, S.364. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.525. A.a.O., S.557. Zu Hofmannsthals Böcklin-Rezeption vgl. Renner 1991. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.149. Die Gedichte 'Leben, Traum und Tod' (S.149) und 'Besitz' (S.157) gehören zu jenen Gedichten, die am deutlichsten Motive der Bilder Böcklins enthalten: vgl. zu diesen Gedichten Böcklins 'Toteninsel' von 1880 und 'Überfall von Seeräubern (Heroische Landschaft)' von 1886 (Wallraf-RichartzMuseum, Museum Ludwig, Köln). In Böcklins 'Selbstbildnis mit fiedelndem Tod' von 1872, das Hofmannsthal in Berlin sehen konnte, findet sich das - freilich weit ältere - (Totentanz-)Motiv des Dramas 'Der Tor und der Tod' variiert.
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»Schauplatz im Böcklinschen Stil«239 vor. Zwar orientiert sich das Stück - nach Hofmannsthals Aussage - an »einem antiken Vasenbild: Zentauer mit verwundeter Frau am Rand eines Flusses«240, doch trägt nicht nur das Schlußbild die Farben und Motive bekannter 'Kentauren'-Bilder Arnold Böcklins241: Eben stürzt sich der Zentaur in das aufrauschende Wasser des Flusses. Sein bronzener Oberkörper und die Gestalt der Frau zeichnen sich scharf auf der abendlich vergoldeten Wasserfläche ab 2 4 2
Daß Hofmannsthal für seine Idylle nicht die Schlichtheit eines antiken Vasenbildes wählt, sondern die 'antike' Idylle mit den deutlichen Farben und der Lebendigkeit der Bilder Böcklins illustriert, zeigt die Vermitteltheit seiner Antikenvorstellung und die Irrelevanz jeglicher Ansprüche auf Authentizität. Zwar ist das Figurenarsenal der Idylle 'antik' - Zentaur, Schmied, Frau, Kind - , doch die im Dramolett entworfene abendlich glänzende Meeresidylle trägt die Spuren einer klassizistischen Landschaft des 19. Jahrhunderts.243 Peter Altenbergs Rezeption der Kunst des (späten) 19. Jahrhunderts ist von ganz anderer Art. Bilder sind für ihn vor allem 'Erinnerungsprospekte'. In seiner Skizze 'Kunst' findet sich ein für heutige Leser höchst paradox formuliertes Votum für die Natur:
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Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.273. A.a.O., S.271. Vgl. besonders: Arnold Böcklin: 'Meeresidylle', 1887, Kunsthistorisches Museum Wien; 'Spiel der Wellen', 1883, Neue Pinakothek, München; 'Triton und Nereide' 1875, verschollen; 'Triton, eine Nereide auf dem Rücken tragend', 1875, verschollen; 'Kentaur in der Dorfschmiede', 1888, Szipmiiviszeti Museum Budapest. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.278. Ein beliebiges weiteres Beispiel ist die Gartenlandschaft, die Hermann Ubells 'Römische Villa' entwirft: »Über schwebenden Pinien / Und steilen Zypressen / Im blaßblauen Himmel hängt / Die weiße Maske des Mondes.« (Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.369) Die »Brunnendelphine« und die »weißen Göttinnen« (A.a.O., S.370) vervollständigen eine klassizistische Landschaft, deren - für Böcklin typische - dunkle Gesamtstimmung durch helle Akzente unterbrochen wird. Vgl. etwa auch: Elsa Zimmermanns Gedicht 'Im stillen Land': »So ragend Zypressen in dem Tal, / So seltsam still die Luft, so schwarz der Teich, / So drohend stehn die Felsen steil und kahl, / Und Hände winken nieder weiß und bleich. / [...] Und meine Seele tanzt nun, weiß und schmal, / Ein irres Licht am dunkeln Märchenstrand.« (Adolph Donath (Hg.): Österreichische Dichter zum 60. Geburtstage Detlev von Liliencrons. Wien 1904. S.164) Hartmut Scheible weist darauf hin, daß »noch Schnitzlers Fräulein Else - hier allerdings ist das Bild als Klischee gekennzeichnet - [davon] träumt [...] zu Füßen einer luxuriösen Villa auf Marmortreppen sich des Meeres und der Liebe Wellen hinzugeben« (Scheible 1984, S.56; vgl. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.5, S.209f.).
Die größte Künstlerin vor allem ist die Natur, und mit einem Kodak in einer wirklich menschlich-zärtlichen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze. 244
Altenberg würde den Einwand, gerade die fotografische Kunst verändere, zumal um 1900, entscheidend das tatsächliche Bild der Natur, nicht verstehen, weil er alle Bilder zuerst einmal als Erinnerungsmedien sieht. Davon zeugt seine große Sammlung verschiedenster Postkarten und Fotos, die er häufig durch eigene Beschriftungen und Datierungen - teils für sich, teils für andere - umgestaltet und katalogisiert.245 Diese Veränderungen und der Hinweis, die Fotografie müsse mit 'menschlichzärtlicher Hand' ausgeführt werden, zeigen, daß es Altenberg nicht um eine fotorealistische Wiedergabe der Wirklichkeit geht. Viel wichtiger ist ihm die gefühlvolle und nuancierte Darstellung wieder erinnerbarer Szenen, Landschaften und Personen. Diese - nicht eigentlich 'ästhetischen' - Ansprüche erklären auch die Nähe der Landschafts- und Raumerfahrungen in Altenbergs Texten zu den Kunstwerken des Wiener Biedermeier und den eher traditionellen Stadtansichten zeitgenössischer Maler. Diese Kunst wird in den Texten Peter Altenbergs aber nicht einfach versprachlicht. Fragmentarisch angedeutet erscheinen bekannte Ansichten oder beliebte - in Veduten und Postkarten häufig wiederkehrende - Blicke der Kaiserstadt, des Salzkammergutes und des Semmerings. Die Praterbilder unzähliger österreichischer Maler des 19. Jahrhunderts von Waldmüller bis Tina Blau246 malen - wenn man so will jene Szenerie aus, die Altenbergs »abgekürzte[s] Verfahren« sein
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Altenberg 1977, S.367. Vgl. Altenberg 1977, S.61: »Wer meine 10000 Ansichtskarten [...] mit und ohne Text, versteht, lieb hat, der braucht eigentlich nicht mehr in die 'berühmten' Gemäldesammlungen mühselig zu pilgern, er bekommt alles 'im Extrakte'.« Vgl. dazu die Reproduktionen in: Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg: Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt 1984 und Hans Bisanz (Hg.): Peter Altenberg: Mein äusserstes Ideal. Altenbergs Photosammlung von geliebten Frauen, Freunden und Orten. Wien, München 1987; vgl. auch Alban Berg: Altenberg-Lieder. Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg, op.4, 1912, Uraufführung: 1913 (nach Texten aus: Peter Altenberg: Neues Altes. Berlin 1911). Zum Sammeln von Ansichtskarten um 1900 vgl. auch: Otto Stoessl: Ansichtskarten. In: Die Wage. 2,29-1899. S. 505-506. 246 Yg| e t w a : Ferdinand Georg Waldmüller: 'Große Praterlandschaft', 1849, Österreichische Galerie, Wien (vgl. Abb.), und 'Wiese mit Bäumen im Prater', 1831, Hamburg; Tina Blau[-Lang]: 'Frühling im Prater', 1882, Österreichische Galerie, Wien (vgl. Abb.) und 'In der Krieau im Prater', 1882, Historisches Museum der Stadt Wien; Emil Jakob Schindler: 'Aus dem Prater', 1879, Österreichische Galerie, Wien (vgl. Abb.). Vgl. auch [Bie] 1903, 781-784. 245
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»Telegramm-Sri/ der Seele«247 in seiner Skizze 'Cafe de l'Opera (Im Prater)' folgendermaßen auf den Punkt bringt: Herr; Dame; Mandolinengezirpe; Birke, Platane, Esche; weiße Bogenlampe; und kühler Auen süßer Nachtduft. 248
Altenbergs Skizzen und Beobachtungen im Prater und anderen Wiener Stadtparks setzten gewissermaßen die idyllischen Szenen der Vedutenmaler und die Ansichtskarten-Prospekte seiner Zeit voraus. Diese sind 'mit einer wirklich menschlich-zärtlichen Hand' geschönte Erinnerungsbilder, auf die sich Altenbergs Texte beziehen lassen. Dabei drängen sich nicht nur die Landschaftsbilder Tina Blaus, Ferdinand Georg Waldmüllers, Olga Wisinger-Florians, Emil Jakob Schindlers oder Rudolf und Jacob Alts auf, sondern durchaus auch die moderneren Stadtansichten Carl Molls oder Egon Schieies. Folgende Beschreibung einer Industrie- und Vorstadtlandschaft in Wien-Simmering, die - auch geographisch - hinter der Idylle des Praters liegt, läßt an Bilder wie Molls wenige Jahre früher gemalte 'Stadtrandlandschaft'249 denken. Links war der Winterhafen, rechts ein erhöhtes Plateau aus Donausand und Donaukieselsteinen errichtet, bespickt mit jungen Birken. Da hatte man einen Rundblick auf bleigraue Hügel, schwarze Fabrikschornsteine und die Glut des Sonnenunterganges.250
Diese Landschaftsbeschreibung aus Altenbergs Skizze 'Sonnenuntergang im Prater' beschreibt den ästhetisierenden Blick zweier reicher Freunde. Der Kontrast zur idyllischen Praterlandschaft wird zwar bemerkt, die Schornsteine und Gebäude der Lederfabrik - »ein schwarzes Ungeheuer«251 - aber nur als leicht 'gruselndes' Schauspiel wahrgenommen. Altenberg denunziert den 'sozialkritischen' Blick der beiden Dandys als voyeuristischen. Die beiden Freunde sagten: 'Nun gibt es nichts mehr zu schauen. Das Stück ist zu Ende.' Sie bestiegen daher das rote Automobil und sagten zu dem Chauffeur: 'Geschwindigkeit vier, bitte '2S2
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Altenberg 1901, S.2 ('Selbstbiographie'). Peter Altenberg: Sonnenuntergang im Prater. Fünfundfünfzig Prosastücke. Ausgew.v. Hans Dieter Schäfer. Stuttgart 1968. S.52 ('Caf6 de L'Opera (im Prater)'; auch in: Altenberg 1901, S.201). Carl Moll: 'Stadtrandlandschaft', 1906/07, Wien, Sammlung Dr.Franz Sobek. Altenberg 1968, S.5. A.a.O. A.a.O., S.6.
Deutlich ist die Nähe der Wiener Landschaftsmalerei des späten 19. Jahrhunderts - besonders auch der Veduten und Milieuidyllen der neunziger Jahre - zu Arthur Schnitzlers Werken. Kaum belegbar und wenig sinnvoll erscheint es, hier nach Einflüssen zu fragen, wenn auch anhand seiner Tagebücher nachweisbar ist, daß Schnitzler diese Malerei kennt und wohl auch schätzt.253 Es läßt sich festhalten, daß er die städtischen Idyllen weit ironischer und gebrochener darstellt als die eher trivialen Maler seiner Zeit. Im 1901 für die Wochenzeitschrift 'Die Zeit' geschriebenen Dialog 'Abendspaziergang' interpretiert Schnitzler in der ironischen Manier des 'Anatol'-Zyklus den - in der eleganten Öffentlichkeit bestens bekannten - Treffpunkt verschwiegener Rendezvous, die breite Praterallee zwischen Lusthaus und Donauauen. Seine Beschreibung des herbstlich-melancholischen Spazierganges eines Paares, das sich - anläßlich einer Generalabrechnung - seines ersten Zusammentreffens im Frühling erinnert, läßt an verschiedene Freilichtgemälde der traditionelleren österreichischen Künstler denken, besonders vielleicht an Olga Wisinger-Florians 'Fallendes Laub' von 1899, aber - vom Motiv her - auch an Tina Blaus 'Frühling im Prater' von 1882254: Im Prater. Die breite Allee, die vom Lusthaus nach den Auen der Donau führt. Ein Oktobernachmittag von milder Wärme; der mattblaue Himmel leuchtet durch das dünn gewordene Laub, welke Blätter liegen auf der bräunlichen Erde. Verflogene Krähenschreie tönen aus dem Wald. [·..] ER Und du wirst nicht am Fenster stehen, mir nachschauen, zum letzten Mal? SIE Nein. Aus ist aus. ER Denke doch: Wir gehen hier zum letzten Mal mit einander spazieren, auf dem gleichen Wege, den wir im Frühling so oft gewandelt sind - und nun nach wenigen Minuten, wird man einander die Hand reichen [...]. Macht dich das nicht ein wenig erschauern? SIE Nein. Sie schweigen.255
Das Motiv des 'Süßen Mädels', das - wie im Zitat oben - versonnen am Fenster seiner Vorstadtwohnung steht, ist übrigens auch ein Motiv, das sowohl die Wiener Moderne als auch die Maler des späteren 19. Jahrhunderts immer wieder aufgreifen. Das Motiv der sehnsuchtsvoll am
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Am 6.4.1894 besucht Schnitzler etwa das Münchener Atelier von Tina Blau; vgl. Schnitzler 1989, S.78. Tina Blau hatte übrigens im Wiener Prater ein zweites Atelier. Tina Blau: 'Frühling im Prater', 1882 (vgl. Abb.), Olga Wisinger-Florian: 'Fallendes Laub', 1899, Österreichische Galerie, Wien. Schnitzler 1977[b], S.186 ('Abendspaziergang'). Ähnliche Situationen finden sich auch in 'Die kleine Komödie' und in 'Der Weg ins Freie'; vgl. Schnitzler 19771979[b], Bd.l, S. 205f. und Bd.4, S.36, 38ff„ 227.
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Fenster stehenden Frau selbst ist natürlich schon weit älter; man denke etwa an die 'Klärchen'-Szene im ersten Aufzug von Goethes 'Egmont'. Seit Schnitzlers 'Anatol'-Zyklus aber verstehen die Jung-Wiener »das kleine Zimmer und das süße Mädl«256 am Fenster geradezu als feste ikonographische Verbindung, die die Diskrepanz zwischen den Gefühlen und Hoffnungen der Geliebten und denen des großstädtischen Dandys auf den Punkt bringt. Hofmannsthal erinnert anläßlich einer Besprechung des 'Anatol' nicht zufallig an die »schüchtern-sensitive« Stimmung des »Alt'schen Aquarells«.257 Denn das bekannteste österreichische Gemälde mit dem Fenster-Motiv ist neben Moritz von Schwinds 'Morgenstunde' von 1860 Rudolf von Alts 'Blick aus dem Fenster' von 1872.258 Während im engeren Sinne bei den erwähnten Bildern vom 'Süßen Mädel' noch nicht gesprochen werden kann, wird es in trivialeren Milieu-Idyllen zum stehenden Topos - wie etwa in Felician von Myrbachs Aquarell 'Süßes Mädel und Soldat beim Heurigen' von 1896259, das sofort an die zweite Szene aus Schnitzlers 'Reigen' erinnert. Ikonographisch vermittelt sind auch zwei weitere Frauengestalten des Wiener Fin de sifecle, die zumindest erwähnt werden sollten: Das Bild der femme fatale ist durch die Bilder Gustave Moreaus, Hans Makarts und nicht zuletzt durch die Frauenportraits des österreichischen Jugendstils wesentlich vermittelt. Dort (oder auch in den wenigen Beispielen spätimpressionistischer Malerei in Österreich) setzt sich als vielleicht wichtigstes Motiv neben dem 'Süßen Mädel' das Damenbildnis durch, das schon den etablierten akademischen Malern ein beliebter Gegenstand war. Besonders bevorzugt werden dabei vornehme Damen der Wiener Gesellschaft. Klimts Bildnisse von 'Baronin Bachofen', 'Adele Bloch-Bauer', 'Gertha Felsövänyi' und 'Emilie Flöge' sind vielleicht die bekanntesten Beispiele. Von ihnen sagt Peter Altenberg, sie seien »wie Endgebilde der zartesten Romantik der Natur selbst«; sie seien Ausdruck einer anderen, einer besseren Welt: »Alle befinden sich außerhalb der Erdenschwere, wie sie sich auch sonst stellen mögen im realen Leben des Tages und der Stunde. Alle sind Prinzessinnen für bessere zartere Welten.« 260 Jacques Le Rider weist mit Recht auf die zentrale Stellung des Weiblichen in der Moderne - besonders aber im Werk Klimts hin. Selbst in Klimts Landschaftsmalerei dominiere »die weibliche Note.« 261 Charakte-
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Schnitzler 1977-1979[a], Bd.l, S.49; vgl. auch S.47, Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.196 ('Die kleine Komödie') und Beer-Hofmann 1893, S.28f. Schnitzler dreht die Situation in 'Komödiantinnen' einmal um: vgl. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.214. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S. 161. Moritz v. Schwind: 'Morgenstunde', 1860, Neue Pinakothek, München; Rudolf v. Alt: 'Blick aus dem Fenster in die Alservorstadt', 1872 (Ausgestellt u.a. in der Secession von 1912). Felician Frti. v. Myrbach: 'Süßes Mädel und Soldat beim Heurigen', 1896, Historisches Museum der Stadt Wien. Alle Zitate: Altenberg 1977, S.369. Jacques Le Rider: Modernismus, Feminismus - Modernität, Virilität. Otto Weininger und die asketische Moderne. In: Pfabigan (Hg.) 1985, S.248.
ristisch für diese Art der Portraitmalerei (zu nennen wären vor allem noch Max Kurzweil, Anton Romako und Egon Schiele) ist das zum Ausdruck kommende SelbstbewuBtsein der Frauen, das dennoch nicht ihre gesellschaftliche Situation verbirgt. Diese Frauen sind eingebunden in komplizierte Konventionen, die weitestgehend ihre freie Emanzipation behindern. Dessen ungeachtet drückt sich im Verhältnis der Frauen zur evozierten Räumlichkeit ein neues Selbstbewußtsein aus. Eindrucksvoll festgehalten wird dieses Moment in dem Ölgemälde 'Dame in gelbem Kleid' von Max Kurzweil. 262 Das Bild erschließt sich dem Betrachter durch eine spezifische Bildkomposition und eine interessante Raumerfassung: Während das überaus leuchtende Kleid, das symmetrisch über ein Sofa ausgebreitet worden ist, die gesamte Fläche des Bildes - und damit gewissermaßen den gemalten und vorgestellten Raum samt Interieur - dominiert, ist der Körper der Frau auf einen schmalen mittleren Streifen zurückgenommen, der sich auf Höhe der Taille nochmals verengt. Das Zwingende des Korsetts ist geradezu spürbar. Oberhalb dieses Bildmittelpunktes bilden die weit ausgebreiteten Arme, die kokett aufgestützte linke Hand und der leicht zur Seite geneigte Kopf eine kontrapunktische Bewegung. Das leicht geschminkte ernste Gesicht strahlt eine gewisse Überheblichkeit aus, die die Raumokkupation des gelben Kleides unterstützt; der Blick der Frau erschließt den imaginierten Raum, den Ort des Betrachters; die Augen sind direkt auf den Betrachter gerichtet: ein Blick der femme fatale, der kann man sagen - spätestens durch Diotimas Fixierung Ulrichs bei ihrer ersten Begegnung in Musils 'Mann ohne Eigenschaften' Weltliteratur geworden ist. 263 Die präraffaelitischen Frauengestalten werden in der Forschung immer wieder als Vorbild für einen weiteren Frauentyp angesehen, für die femme fragile.26* Richard von Schaukais Ausruf »Burne-Jones!« 2 6 5 innerhalb der fiktiven Tagebücher in den 'Int6rieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen' impliziert genau diese Assoziation. Dabei ist der Titel des Werks für die Interpretation des Stichworts 'Burne-Jones' durchaus prägnant: die präraffaelitische femme fragile gehört zum stilisierten 'Int6rieur' der Fin de sifecle-Lebenswelt. Mit ihr wird ein Interieur assoziiert und sie kann nicht anders gedacht werden, als innerhalb eines bestimmten Ambientes: »Die Geliebte«, schreibt Hofmansthal über einen solchen Frauentyp in den Werken Swinburnes, »steht im Dunkel, wie die weißen Frauen des Burne-Jones, mit blasser Stirn und opalinen Augen. Und der Hintergrund erinnert an phönikische Gewebe.« 266 Edward BurneJones, William Morris, aber auch die erste Generation der Präraffaeliten um Dante Gabriel Rossetti sind Maler, die innerhalb der Wiener Moderne paradigmatisch für eine moderne Wiederbelebung alter einfacher Kunst stehen. Deshalb ist der »phönikische
262
Max Kurzweil: 'Dame in gelbem Kleid', 1899, Historisches Museum der Stadt Wien (vgl. Abb.). 263 Vgl. Musil 1983, MoE, S.93. Zur Stellung der Frau im Wien der Jahrhundertwende vgl.: Die Frau im Korsett. Wiener Frauenalltag zwischen Klischee und Wirklichkeit 1848-1920. Katalog zur 88. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien 1984 und Irmgard Roebling (Hg.): Lulu, Lilith, Mona Lisa ... Frauenbilder der Jahrhundertwende. Pfaffenweiler 1989. 264 y g j hierzu allgemein: Hans Hinterhäuser: Präraffaelitische Frauengestalten in romanischer Prosa. In: Bauer (Hg.) 1977, S.250-282; Ariane Thomalla: Die 'femme fragile'. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf 1972; Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik. München 1963. 265 Schaukai o.J. [um 1965], S.147. 266 Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.147.
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Hintergrund« der Bume-Jones-Figur für Hofmannsthal kein Widerspruch; vielmehr entwerfe diese Malerei »eine Welt die gleichzeitig antik, ja mythisch und doch durch und durch christlich, ja englisch« 267 anmute. Die Kunst der Präraffaeliten zeige mit ihren historisierenden Interieurs auf das Innere des modernen Menschen - auf seine Situation im relativistischen Historismus, könnte man ergänzen; sie entfalte - wie Hofmannsthal ausführt - jene »mythische Gestalt, deren Traumleben und Irrfahrten und Metamorphosen jeder in sich unaufhörlich ausspinnt: Psyche, meine Seele.« 268 Alle drei Frauengestalten wirken als ikonographische Elemente in Raum- und Landschaftsdarstellungen. 269
Hermann Bahrs Behauptung, »daß die Entwicklung unserer Kunst vom Impressionismus beherrscht wird«270, mag zwar nicht ohne weiteres auf die Literatur seiner Zeit anwendbar sein, von der Wichtigkeit des Impressionismus für die Wiener Moderne gibt sie aber Zeugnis. Die impressionistische Sehweise eröffnet für Bahr eine neue - eine zweite Ansicht der Dinge jenseits einer durch den Verstand 'kolportierten' Wahrnehmung. Das ist das Komische: daß wir in der Wirklichkeit kein Ding jemals so sehen können, wie der Verstand uns sagt, daß es wirklich ist. Wir trauen unserem Verstände mehr als den Sinnen. 271
Gilt in der traditionellen Wahrnehmung der Verstand noch als Korrektiv des visuell Wahrgenommenen, gelingt durch die impressionistische Sehweise dazu eine visuelle Wahrnehmung ohne »Berichtigung.«272 Jetzt habe ich zwei Dinge: den 'Eindruck' einer Sache, den sie auf mein Auge macht, und dazu noch eine Kenntnis, die ich mir durch ein anderes Mittel verschafft habe. 273
Diese neue Sehweise der Dinge, die eigentlich die ursprünglichere ist, vermitteln die Maler des französischen Impressionismus; der Impressionist vermeide, was man Komponieren nennt, er 'arrangiert' nichts, er klatscht das Leben ab.274 Hermann Bahr geht in seinem 'Impressionismus'-Essay von 1903 sogar noch einen Schritt weiter: Er schlägt vor, die impressionistische Abhängigkeit von der Wirklichkeit, die er noch bei
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A.a.O. S.546. A.a.O., S.547. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.a). Bahr 1912, S.163 ('Impressionismus'); vgl. zum Folgenden auch: Diersch 1977, besonders S.46-82. Bahr 1912, S. 166. A.a.O. A.a.O., S.166f. A.a.O., S.172.
den französischen Malern zu entdecken glaubt, zu überwinden·, Bahr entwirft Gedanken einer abstrakten Komposition von Farben.275 Wenn dies auch noch kein »Programm impressionistischer Literatur«276 darstellt, hat die Beschäftigung mit dem französischen Impressionismus nicht nur auf Bahr einen erheblichen Einfluß, sondern wirkt auf die gesamte literarische Moderne in Wien. Seine Forderung nach einer Ersetzung der etats des choses durch die etats d'ämes in der Literatur seine 'Überwindung des Naturalismus' - impliziert eine Abkehr von der 'äußeren' Wirklichkeit und eine Reduzierung des Dargestellten auf seelische Vorgänge. Dem entspricht zwar die Reduzierung auf Farben, die bloß »durch ihre eigene Kraft Gefühle und Stimmungen erregen sollen«, nicht vollständig, das polemische Gegenüber - die, wie auch immer vorgenommene, Abbildung der Wirklichkeit - ist aber immerhin identisch. Auch die Hinwendung zu weniger deutlich darstellbaren Gefühlen und Stimmungen paßt zu den etats d'ämes seiner Literaturästhetik, wenn auch die Seele im Falle der Malerei erst 'erregt', in der Literatur aber sogar ihre Vorgänge dargestellt werden sollen. Bahr zieht die Parallele zwischen impressionistischer Malerei und seinen Forderungen nach einer neuen Literatur in seinem Essay 'Wahrheit! Wahrheit!' von 1891 selbst: Es wird dann aber auch das Prinzip der Wahrheit in der Litteratur erledigt sein, ausgesungen und abgethan [...]. Ganz wie in der Malerei, die auch mit festlichem Mute erst auf Eroberung der Wirklichkeit auszog, um niedergeschlagen und verzagt bald nach dem Schein im Auge retieren und vor lauter Farbflecken am Ende die Form zu verlieren, wie jene vor lauter Sensationen das Ich verlor: denn Ich und Form sind nimmermehr erweisbar 277
Nach dem Gesagten verwundert es kaum, wenn man in der Literatur der Wiener Moderne 'impressionistische' Raum- und Landschaftserfahrungen findet. Der Protagonist in Hermann Bahrs 'Die gute Schule' - der Roman trägt den Untertitel »Seelenstände« - ist ein in Paris lebender junger Maler aus Niederösterreich. Zwar läßt sich, wie Jens Malte Fischer bemerkt, dessen »Stellenwert in der zeitgenössischen Kunstentwicklung«278 kaum exakt bestimmen, doch ist seine Nähe zur impressionistischen Malerei und deren Problemen'Offenkundig:
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276 277
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Vgl. a.a.O., S.175: »So läßt sich auch wohl ein Bild denken, das durchaus 'sinnlos' wäre, das heißt: das durchaus keine Beziehung zur Wirklichkeit hätte.« Vgl. auch Kapitel l.b). Diersch 1977, S.66. Hermann Bahr: Wahrheit! Wahrheit!. In: Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Hg.v. Gotthart Wunberg. Stuttgart 1968. S.84. Jens Malte Fischer 1978, S.107.
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Jetzt malte er nur noch in engem Rahmen, bescheidene Farbenprobleme, ganz einfache und schülerhafte: Die Sonne über die hohe Wiese, welche der Wind bauscht, oder femme de brasserie, zwei Brüste im gelben qualmigen Lichte, und den flackernden Schatten dahinter auf der schmierigen Wand, im Dampfe der Zigaretten.279
Regelrecht impressionistische Wahrnehmungen, die als 'Partikularisierung' einzelner Elemente, als Isolierung von Färb- und Lichteindrücken beschrieben werden, finden sich relativ häufig in der Literatur um 1900. Georgs Wahrnehmung seiner Geliebten Anna »unter dem Birnbaum auf der weißen Bank«280 in Schnitzlers 'Weg ins Freie' ist das fast 'klassische' Motiv impressionistischer Malerei: Die Wahrnehmung 'zitternder' »Sonnenkringel [...] auf dem Kies zu ihren Füßen«281 verwundert kaum. Im 'Garten der Erkenntnis' von Leopold Andrian sind - für den Protagonisten - solche Wahrnehmungen sogar an die Örtlichkeiten Wiens gebunden, die einen »anmutigen, stets lockenden Reiz eines Lichts zu haben [scheinen], von dem man nicht weiß, ob zwei Farben in ihm sind, die beständig ineinander gleiten, oder eine Farbe, die in allen ihren Tönen schillert«.282 Ein geradezu 'klassisches' Beispiel 'impressionistischer' Landschaftswahrnehmung ist in Schaukais Gedicht 'Plein-air' von 1894 verwirklicht: Lilaglocken auf moosigem Steingeranke Und darüber verzitternde Kiefernzweige. Vorne der Hund der rosaohrige, schlanke, Blinzelnd hinüberblickend zur Sonnenneige. Vogelzwitschern vereint zu preisendem Sommerdanke. Und ein Wipfelrieseln und Stengelgegeige. Hinten verblaut der Himmel, der abendblanke, In die schwarzverwitterten Wolkensteige 283
Die Farbenspiele, die fließend begrenzten Gegenstände des Landschaftsbildes, die an sich alltäglich, im Bild aber herausgehoben sind, und schließlich die Lichteindrücke lassen an impressionistische Freilichtmalerei denken; darauf verweist auch der Titel: 'Plein-air'. Die Angaben zu Vorder- und Hintergrund vervollständigen den Eindruck, man habe es
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Hermann Bahr: Die gute Schule. Seelenstände. Berlin 1890. S.8. Zur Interpretation des Romans vgl. neben Jens Malte Fischer 1978, S. 100-114 auch Marion Busch, Gerhard Müller: Dekadente Erotik in Hermann Bahrs Roman 'Die gute Schule'. In: Dieter Kafitz (Hg.): Dekadenz in Deutschland. Beiträge zur Erforschung der Romanliteratur um die Jahrhundertwende. Frankfurt 1987. S.218-228. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.4, S.210. A.a.O. Andrian 1990, S.22. Richard Schaukai: Plein-air. In: Moderner Musenalmanach 2-1894. S.181.
hier mit einer lyrischen Bildbeschreibung ('ut pictura poesis') zu tun. Auffällig sind die experimentellen Wortschöpfungen und Komposita »abendblanke«, »Wipfelrieseln«, »Steingeranke«, »Stengelgegeige«, mit denen nicht nur auf ein synästhetisches Wahrnehmungserlebnis hingewiesen werden soll, sondern auch die neuartige Farbigkeit der impressionistischen Malerei sprachlich nachgezeichnet wird. An ein bekanntes impressionistisches Bild erinnert auch Felix Dörmanns Gedicht 'Im Palmenhaus'. In Edouard Manets Gemälde 'Dans la Serre' von 1879 genießen - wie in Dörmanns Gedicht - eine Frau und ein Mann »die feuchte Luft« des Glashauses.284 Manet greift das Glashausmotiv nochmals in 'Mme Manet dans la Serre'285 auf. Folgendes läßt sich festhalten: Die Aufnahme von Motiven oder ikonographischen Strukturen aus Werken der bildenden Kunst in Texte der Wiener Moderne verlangt schon deshalb eine radikale Neuformung der 'Vorlagen' , weil es sich hierbei um eine Übertragung in ein anderes Medium handelt. Beobachtbar ist, neben der Rezeption einzelner Bilder eine von den Vorstellungen der Moderne abhängige Interpretation von Bildkonzepten ganzer Epochen. So sieht die Wiener Moderne in der Renaissance und in der Malerei des frühen 18. Jahrhunderts - besonders Canalettos und Watteaus - wichtige Aspekte ihrer eigenen Zeit, ihres eigenen modernen Lebensgefühls ikonographisch bezeichnet: hier ist das Spielerische, das Ästhetische im Bild festgehalten; hier scheint die Distanz der modernen Künstlergeneration zum eigentlichen Leben beispielhaft vorgezeichnet, geradezu dokumentiert. Auch die Malerei des Klassizismus kennzeichnet für die Jung-Wiener Elemente ihrer Moderne. Vor allem Böcklins antikisierende Bilder sind wichtige Bestandteile ihrer ästhetischen Welt; sie gewinnen in der Wiener Moderne einen ikonographischen Wert, der über ihren kunstgeschichtlichen Status hinausreicht, diesem allerdings auch nicht gerecht werden will. Während die Sehweisen des Impressionismus unmittelbar auf die Raum- und Landschaftserfahrungen des Wiener Fin de sifecle Einfluß haben, muß die eher traditionelle österreichische Malerei des 19. Jahrhunderts - die Veduten und Landschaftsbilder der alten Kaiserstadt, die Postkartenbilder wenig herausragender Künstler - als eine die Sehgewohnheiten bestimmende Voraussetzung der Wiener Moderne verstanden werden. Dieser Kunst begegnen die Jung-Wiener alltäglich: im Elternhaus, als Kunstbeigaben in Zeitschriften, auf Postkarten, in Salons der besseren Gesellschaft. Die Malerei der italienischen Renaissance ist hingegen in aller Regel nur in Museen oder wenigen Galerien zu erfahren. Zum Verständnis der Texte der Wiener Moderne sind die
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285
Dörmann 1892, S.34; vgl. Edouard Manet: 'Dans la Serre' ('Im Wintergarten'), 1879, Staatliche Museen, Berlin. Üdouard Manet: 'Mme Manet dans la Serre', 1879, Oslo.
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'trivialeren' Werke des (späten) 19. Jahrhunderts wichtig, weil sie als 'Erinnerungsbilder' gemalt und - etwa von Peter Altenberg - als solche verstanden werden.286 Diese Bilder wollen charakteristische Orte und Situationen des Wiener Lebens primär 'festhalten', weniger künstlerisch gestalten. Sie zeigen z.B., wie sehr das süße Mädel oder die Praterschaukel zum festen Bestandteil des Wiener Lebensgefühls gehört hat. Oft ist der Umgang mit diesen im Wien der Jahrhundertwende bestens bekannten Motiven deshalb so spielerisch und ironisch, wie in den Werken Schnitzlers. c) 'Produktiver' Historismus So kommen Bilder, Bilder gehen, verschwimmen, Und alles ist vertraut und fremd und hübsch. Hofmannsthal 287
Die Ausführungen zu den intertextuellen und ikonographischen Bezügen haben gezeigt, daß die Raum- und Landschaftskonstitution der Wiener Moderne wesentlich bestimmt wird durch die Aneignung und Variation historisch entfernter Stoffe, Motive und ikonographischer Muster. Das Aneignungsverfahren und seine poetologischen Voraussetzungen sollen hier, als Fortführung der theoretischen Ausführungen zum modernen Raum- und Landschaftsverständnis im zweiten Kapitel der 'Voraussetzungen' und der Typologisierung verschiedener literarischer Formen der Raum- und Landschaftsrealisierung in Kapitel 1, zusammenfassend erläutert werden. Exemplarisch wird dazu Hofmannsthals erster 'D'Annunzio'-Essay herangezogen. Das aus den fremden Stoffen herausdestillierte Zeichenrepertoire erhält im Kontext der modernen Raumaneignung einen neuen Assoziationshof, ohne seine traditionellen Bedeutungen gänzlich zu verlieren. Dieses Verfahren verfolgt also nicht eine identische Übernahme, sondern eine Aufnahme des fremden Materials in eigene Zusammenhänge und Diskurse. Die - bewußte oder unbewußte - Akkomodation des fremden Zeichenmaterials an moderne Diskurse hat eine äquivoke Zielrichtung. Sie soll erstens die spezifisch modernen Implikationen der Raum- und Landschaftswahrnehmungen akzentuieren und plaubsibel erscheinen lassen; sie soll zweitens die mit den modernen Wahrnehmungsmodi und
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160
Vgl. Altenberg 1977, S.60-62. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.66.
der historistischen Situation des wahrnehmenden Subjekts verbundenen Anfechtungen bewältigen helfen. Der Rekurs auf die entfernte, auf die fremde Zeit will die eigene Raum- und Landschaftswahrnehmung deshalb als 'vertraute' konturieren. Dies kann nur deshalb gelingen, weil sich das fremde Material als ein im Grunde schon vertrautes darstellt: es erscheint sowohl als fremd, weil es historisch entfernt, moderner Raum- und Landschaftserfahrung entgegensteht, aber auch als vertraut, weil es den Jung-Wienern, nicht zuletzt durch ihre umfassende Bildung, zum bekannten und selbstverständlichen Teil ihres Kunstdiskurses geworden ist. Dieser Bezug auf die historische Kunst - dieser 'produktive' Historismus - suggeriert einen souveränen Umgang mit der in der Moderae sich wandelnden und deshalb aus den verschiedensten Gründen problematisch werdenden Raum- und Landschaftserfahrung.288 Ein solches Verfahren der Raum- und Landschaftskonstitution steht im Zusammenhang eines auch in anderen Bereichen beobachtbaren Rückbezugs auf historistische Zeichensysteme; der an die modernen Diskurse angepaßte Bezug gehört zu den zentralen Bewältigungsversuchen krisenhaft erlebter Modernität. Einen solchen modernen Umgang mit dem historistischen Zeichenmaterial praktiziert und thematisiert Hofmannsthal in seinem ersten 'D'Annunzio'-Essay. Er reflektiert die historistische Situation als essentielle Voraussetzung der Moderne und seines eigenen Verfahrens. Der im 'D'Annunzio'-Essay 'produktiv' praktizierte Historismus kann als zwar extreme, dennoch aber für die Wiener Moderne typische Ausformung von Intertextualität und Bildsemiotik angesehen werden. Zum Verfahren des Textes selbst: Der Essay läßt sich in zwei Textteile gliedern: in allgemeinere Ausführungen über die 'Moderne' ist eine längere Passage eingefügt, die sich vor allem mit den Werken des italienischen Dichters befaßt. Die »Formulierungen am Beginn und am Schluß des Aufsatzes« bezeichnet Aspetsberger zurecht als »Rahmen [...], der zeigt, daß [...] D'Annunzio als ein Exponent der Zeit« zu sehen sei.289 Der Titel des Essays heißt zwar 'Gabriele D'Annunzio'; der Skopus ist aber die Beschreibung der Moderne. Der italienische Dichter ist dafür lediglich ein - wenn auch wichtiger - Gewährsmann unter anderen. Der Text liest sich auf den ersten Blick wie eine fast willkürliche Spielerei mit historistischen Versatzstücken, der es nicht darum geht, irgendwelchen der vielen genannten Kunstwerke, Künstlernamen oder Motiven - auch nicht D'Annunzio selbst - gerecht zu werden. Leopardi wird neben Offenbach, Bourget neben Tizian, Goethe neben Spenser,
288 289
hierzu den Abschnitt 'Voraussetzungen'. Aspetsberger 1987, S.47 ('Hofmannsthal und D'Annunzio. Formen des späten Historismus').
Vgl
161
Homer neben Machiavelli oder Botticelli neben Brandes genannt. Alles scheint sich mit allem zu vertragen; an alles scheint erinnert werden zu können, egal in welchem Kontext. Ein Beispiel: Ja alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag, und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins, mit den schlanken Engeln und Pagen des Fiesole, mit den Gassenbuben des Murillo und den mondänen Schäferinnen des Watteau. 290
Das ästhetische Empfinden seiner Moderne erfaßt Hofmannsthal hier mit für sich genommen gänzlich unterschiedlichen Gestalten aus der Malerei verschiedener Zeiten und Stile. Die zierlich-gestaltlosen Engel und Heiligenminiaturen auf den Bildern des spätmittelalterlichen Fra Angelico aus Fiesole, die lebensfrohen Kinderdarstellungen auf den Werken des spanischen Malers Bartolome Murillo und die 'galanten' Gestalten in den Landschaften und Theaterszenen des französischen Barockmalers Antoine Watteau haben so gut wie nichts gemein.
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162
Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.174. Für die Vermittlung der Werke Gabriele D'Annunzios in der Wiener Moderne sind Hugo von Hofmannsthals Essays von großer Bedeutung (zu Hofmannsthals höchst problematischem Verhältnis zu möglichen Lesern vgl. Hanna Weischedel: Autor und Publikum. Bemerkungen zu Hofmannsthals essayistischer Prosa. In: Winfried Hellmann, Eckehard Catholy: Festschrift für Klaus Ziegler. Tübingen 1968. S.291-321). Sein 1893 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichter erster Aufsatz über den italienischen Dichter und Politiker ist deshalb für den diskutierten Zusammenhang so interessant, weil er neben den schon oben erwähnten Aussagen über die äquivoke Ausrichtung der Moderne »hübsche Möbel und überfeine Nerven« (S.174) - auch die hier erläuterten, bisher kaum beachteten Ausführungen über den Umgang mit historistisch erschlossenem Material enthält. Hierfür ist Hofmannsthals Text zwar besonders gut geeignet, er ist aber nicht der einzige Text, an dem sich diese Phänomene zeigen ließen. Ein anderes Beispiel wäre sein Brief vom 6.9.1892 an Edgar Karg von Bebenburg. Dort findet sich ein ähnlicher Zusammenhang von historistischem Denken und poetischer Tätigkeit wie im 'D'Annunzio'-Essay: »Ich sehe mir selbst leben zu und was ich erlebe ist mir wie aus einem Buch gelesen; erst die Vergangenheit verklärt mir die Dinge und gibt ihnen Farbe und Duft. Das hat mich wohl auch zum 'Dichter' gemacht.« (Hugo von Hofmannsthal, Edgar Karg von Bebenburg: Briefwechsel. Hg.v. Mary E. Gilbert. Frankfurt 1966. S.19). Auch die 'Lanckoronski'-Ansprache macht auf die historistische Situation in einem poetologischen Kontext aufmerksam: »Und so tritt eine unendliche Forderung an uns heran, dem inneren Gleichgewicht höchst bedrohlich: die Forderung, mit tausendfachen Phantomen der Vergangenheit uns abzufinden, die von uns genährt sein wollen.« (Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.24; vgl. S.20-25) In Felix Rappapoits Gartengedicht 'Übergänge' finden sich zum Beispiel folgende poetologisch deutbaren Gedichtzeilen: »Die Zeiten die gewesen weckt sein Wort, / Dir Duften kreist um ihn ihm tönt ihr Klingen.« (In: Wiener Rundschau 1-1987, S.276).
Hofmannsthals Zuordnung recht befremdlicher Epitheta und die Auswahl nicht gerade zentraler Bildmotive der Maler verringert die Distanz der genannten Werke nicht - wie man meinen könnte sondern vergrößert sie: Fra Angelicos Heilige bezeichnet der Text mit dem Begriff 'Pagen', den man gewöhnlich nicht für Heilige verwendet, sondern den Figuren auf profanen Bildern zuordnen würde, die als Staffage der Zentralfiguration dienen. Die schlanken Engel Angelicos werden zwar in der Kunstwissenschaft immer wieder gelobt, können aber kaum als Hauptmotiv des Malers bezeichnet werden. Die 'Gassenbuben' sind in Murillos Gemälden trotz seiner steten Verbindung von Alltäglichem und Heiligem die Ausnahme. Der Text bezieht sich hier wahrscheinlich auf das Bild 'Trauben und Melonenesser', das Hofmannsthal aus München kennt.291 Die galanten Damen und Herren auf Watteaus Bildern könnte man schließlich viel eher weitabgewandt als mondän nennen. Fast alle Gestalten Watteaus flüchten: in eine Kunst- und Theaterwelt, in die Musik oder - worauf Hofmannsthal hier wohl auch anspielt - nach Kythera.292 Hätten Weltflüchtige, Kinder und Heilige vielleicht noch etwas Verbindendes, besonders wenn man bedenkt, daß es in der zitierten Passage durchaus um das Motiv des Flüchtens aus dem Alltäglichen in eine Glücks- und Schönheitswelt geht, so wird mit den charakterisierenden Begriffen Engel, Pagen, Gassenbuben und mondäne Schäferinnen etwas unwiederbringlich Trennendes betont. Erst die Hofmannsthalsche Akzentuierung der an sich gar nicht so fernen Signifikanten forciert also ihre syntagmatische Isolierung und damit die semantische Unklarheit der Passage. Der einzige konstatierbare 'gemeinsame Nenner' der unüblichen Begrifflichkeit des Textes ist der Wandel der zentralen religiösen Thematik in den Bildern Murillos und Fra Angelicos in eine profane: Fra Angelico wird Fiesole genannt, die Gassenbuben werden zum Hauptmotiv Murillos. Es gibt im 'D'Annunzio'-Essay viele Beispiele einer ähnlichen Schreibweise, insbesondere auch im Zusammenhang der Raumevokationen. Das Überangebot an - von ihren Signifikaten in wichtigen Nuancen gelösten - Signifikanten, die in scheinbar willkürlich zusammengesetzten Kontexten stehen, ergeben eigenartige, kaum überschaubare Mosaikteppiche, aus denen sich verschiedene Raumentwürfe kaum bemerkbar herausheben. In D'Annunzios 'Römischen Elegien' finden sich Landschaftsbeschreibungen, die Hofmannsthal als komplexe Referenzsysteme liest: Goethes 'Erotica Romana' gestalten diese »fast Tischbeinsche
291
292
Bartolomd Esteban Perez, gen. Murillo: 'Trauben und Melonenesser', 1645-55, Alte Pinakothek, München. Vgl. auch Bartolom6 Esteban Perez, gen. Murillo: 'Würfelspielende Buben', 1670-75, Akademie der bildenden Künste, Wien. Antoine Watteau: 'Einschiffung nach Kythera', 1717, Louvre, Paris (vgl. Abb.) und 1717, Staatliche Museen, Berlin.
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Landschaft« unter der »Sonne Homers«, die an das »Gärtchen des Horaz, die Hütte des Tibull [...] und die Spatzen des Properz« erinnert; diese Landschaft Goethes nehme D'Annunzio und male sie mit den Farben Tizians, so daß die Gestalten der Elegien »durch die Laubengänge der mediceischen und farnesischen Villen« wandeln, während »weiße Frauen im Stil des Botticelli auf langen Harfen« 293 musizieren. Auch hier gleichen sich die zur Charakterisierung der Landschaft inflationär evozierten Namen an; der Unterschied zwischen 'Tibull' und 'Horaz' scheint fast nur noch klanglich zu bestehen, ihre Semantik ist wesentlich reduziert. D'Annunzios Landschaften werden in Hofmannsthals Essay neu erfahren. Sie verändern sich in der Schilderung des Wieners zum übervollen Inventar eigener Assoziationen und Stimmungen; in der Interpretation der Landschaftsbeschreibungen D'Annunzios durch Hofmannsthal entsteht eine Räumlichkeit, die die Akzente der Hofmannsthalschen 'Möbelpoesie' trägt. Hofmannsthals Beschreibung der Raumgestaltungen in den Werken D'Annunzios entspricht seinem eigenen Umgang mit den Texten des Italieners und einer unübersehbaren Fülle weiterer Bildungsstoffe. Der Text D'Annunzios lasse die »faszinierenden Abenteuer der Vergangenheit [...] aus einem tiefen Brunnen [...] aufschweben« und mache sie zu modern interpretierten Akzenten der eigenen Textur, zu einer »Märchenwelt« 294 , die außer einer vagen Assoziation nur wenig mit der Intention des Ursprungstextes zu tun hat. Dieser von Hofmannsthal aus den Texten des Italieners herausgelesene 'produktive' Historismus ist ein ästhetizistisches Verfahren, das mit dem Bezug auf das vertraute Fremde einer unvertrauten Moderne begegnet, in der »alle Sicherheit und Herrschaft über das Leben rätselhaft vermindert [ist] bei immerwährendem Anwachsen des Problematischen und Inkommensurablen«.295 Folgendes läßt sich bisher also sagen: Die inflationäre Häufung von Signifikanten ruft nur höchst vage und unstabile Assoziationen hervor. Kaum hat man den Vergleichspunkt des einen Signifikanten begriffen, muß man nach dem Bezugspunkt des nächsten verzweifelt suchen. Oft ist es nur der Klang der Worte, der einzelne Lexeme oder Lexemgruppen in den Text eingeschrieben hat: »Tanagrafigürchen und Terrakottareliefs«. 296 Mal ist es der Nimbus einer Zeit, einer Epoche: wenn etwa das
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Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.180. Beide Zitate: a.a.O., S.182.
295
A.a.O., S.181. Als weiteres Beispiel kann die Beschreibung der Frau eines Kindermörders aus D'Annunzios 'Innocente' zitiert werden; sie ist gleichzeitig »graziöse Märtyrerin« (S.179), eine »Traumgestalt« des Fin de siöcle-Malers Gabriel Ritter von Max und Hysterikerin.
296
A.a.O., S. 183.
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»Plätschern der Renaissancefontänen«297 anzitiert wird. Auffällig ist, daß durch die ungebremste Flut von Signifikanten, die an sich nach spezifischen Assoziationen, unter Umständen nach ganzen Referenzsystemen rufen, ein merkwürdiger Effekt auftritt: Unterschiede zwischen den einzelnen Lexemen werden - wie in Hofmannsthals Blick auf die Landschaftsbeschreibung D'Annunzios - nivelliert; Unterschiedliches kann plötzlich in einem Stimmungskontext (mehr gehört als) verstanden werden. Mit Hofmannsthals eigener Metapher könnte man diesen Effekt als »Technik des Weiß auf Weiß«298 zu fassen suchen. Die Begriffe werden 'fast durchsichtig', so daß ihre Bedeutungen farblos werden und ein kaum zu fassendes Allgemeines durchzuschimmern scheint; einzelne Nuancen verschwimmen zu weichen Wortgemälden. Es ist - mit Hofmannsthal - ein gleichklingendes »Singen und Plaudern«.299 Damit ist nicht gesagt, daß die Beziehungsgeflechte, die Hofmannsthals Verfahren neu entstehen läßt, auf die traditionellen Verweissysteme gänzlich verzichten könnten. Im Gegenteil: Die traditionellen Referenzsysteme der historistisch verwendeten Zeichen bleiben als assoziierte Konnotation des in moderne Kontexte eingebetteten und deshalb veränderten Zeichens rudimentär erhalten. Gerade solche Konnotationen garantieren eben oft einen assoziativ erfahrbaren Zusammenhang zwischen einzelnen Lexemen und Lexemgruppen, der den Text in gewisser Weise erst verständlich macht; die Assoziationen verklammern Passagen und stellen Verbindungen her, die bei einem Lesen, das nur logische und grammatikalische Gesetze kennen würde, verlorenging. Auch hierzu ein Beispiel: Es gibt unzählige Dinge, die für uns nichts sind als [...] Schäferspiele der Schönheit, [...], die wir herbeirufen, wenn unsere Gedanken nicht stark genug sind, die Schönheit des Lebens zu finden. [...] Dann ist uns ein Antiquitätenladen die rechte Insel Cythera; wie andere Generationen sich [...] ins goldene Zeitalter zurückgeträumt haben, so träumen wir uns auf gemalte Fächer. 300
297 298
299 300
A.a.O., S.180. A.a.O., S.179. Dieser Begriff hat in der Kunstgeschichte zwar eine spezifische Bedeutung, er eignet sich deshalb aber durchaus für das hier beschriebene moderne Textverfahren: Er beschreibt eigentlich eine Maltechnik des 'Suprematismus' in Rußland seit 1915, einer frühen Form abstrakter Kunst, als dessen Hauptvertreter Kasimir Malewitsch gilt. Vgl. dessen 'Suprematistische Komposition: Weiß auf Weiß', Museum of Modern Art, New York 1918 [?]. Hofmannsthal wendet den Begriff »Technik des Weiß auf Weiß« zugleich auf das Beschreibungsverfahren von 'Innocente' von D'Annunzio und auf Märtyrerinnendarstellungen auf den Gemälden von Gabriel Max an. A.a.O., S.184. A.a.O., S.183.
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Wenn man den Antiquitätenladen als Raritätenladen und 'Cythera' bloß als ägäische Insel liest, hat man wenig von Hofmannsthals Text begriffen. 'Cythera' steht im Zentrum eines textimmanenten Verweissystems und verschiedener intertextueller bzw. ikonographischer Bezüge: Zuerst ist an das Homerische 'edle Kythera'301 zu denken, an jene antike Insel fern der Heimat, wo Wein und Honig fließen, an die Insel der Aphrodite. Die Vorstellung von Kythera läßt dann an den schon vorher erwähnten Watteau und dessen Gemälde 'Einschiffung nach Kythera' denken; der »Antiquitätenladen« aus obigem Zitat an dessen Bild 'Gersaints Ladenschild'302, das die Verkaufsgalerie seines Kunsthändlers und Historiographen Gersaint mit vornehmlich antikisierend-erotischen (an Watteaus Gemälde erinnernden) Bildmotiven darstellt. Die dort ausgestellten Bilder, die Motivik des Kythera-Bildes und die Assoziation der antiken Bedeutung Kytheras als Liebesinsel schlagen eine Brücke zu den erwähnten 'Erotica Romana' Goethes und D'Annunzios. Die wenig früher von Hofmannsthal erwähnten galanten »Schäferspiele der Schönheit«303, die an den Kontext der ersten Nennung Watteaus denken lassen, erhalten so ihre sinnlich-bukolische Variante. Daß »in diesem Sinn das 'Isotteo'« - die Geschichte einer Liebe - »das schönste Buch«304 D'Annunzios ist, wie Hofmannsthal im Anschluß an die oben zitierte Stelle sagt, verwundert nun nicht mehr. Ein 'Antiquitätenladen als Insel Kythera' klingt so kaum widersprüchlich: Die konsumierbar gewordene, sinnliche Schönheit der Vergangenheit liegt zum wohlfeilen Preis bereit, wie die Bilder in 'Gersaints Laden'. Der 'Antiquitätenladen' wäre wie der 'Laden' Gersaints als Galerie oder Kunstkabinett zu verstehen, in dem die »künstliche Schönheit der Träume«305 auf unzählige Bilder gebannt ist. Die semantische Sinnstruktur der Passage wird hier über ein Assoziationsgeflecht aus verschiedenen Lexemgruppen bemerkbar, die ihrerseits nun aus ihrem syntagmatischen Umfeld herausgelöst werden. Die tendenziell sich andeutende Autonomie der Lexeme erschließt im 'D'Annunzio'-Essay also eine andere - natürlich weitestgehend unkonkrete, eher spürbare als nachweisbare - 'Sinn'-Struktur, die man vorerst mit dem Fin de sifecle-Modebegriff 'Stimmung' qualifizieren kann. Die Kombination verschiedener Lexeme - Hofmannsthal selbst spricht
301 Vgl. etwa Homer, Ilias, 15.Gesang, v. 431. 302 Antoine Watteau: 'Gersaints Ladenschild', 1720, Berlin, Staatliche Museen; 'Einschiffung nach Kythera', 1717, Paris, Mus6e du Louvre (und 1717, Berlin, Staatliche Museen). 303 Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.183. 304 A.a.O. 305 A.a.O.
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einmal von der »Kombination von Elementen«306 - evoziert ein Tableau aus unterschiedlichen Bildelementen. Das Assoziationsgeflecht macht deutlich, daß hier etwas - kaum bemerkbar - zusammengehört. Was polyphon spricht, klingt so nach einer Stimme. Das Konzept 'Stimmung' versucht - zugegeben bewußt ungenau und vage - einen Zusammenhang zu suggerieren, der vom historistischen Verfahren und seinen sublimen Assoziationen an eine Überfülle von Einzeldetails ständig konterkariert wird. Dieser spielerisch labile Zusammenhang aber ist das Altemativmodell dieser Modernen zu den Einheitsentwürfen des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit kommt darauf zurück. Zu den Reflexionen auf das Phänomen des Historismus im Text: Hofmannsthals Essay entwickelt einen Begriff von Moderne, der sich nicht aus einer Abgrenzung zur Tradition, sondern aus deren spezifischer Rezeption herleitet. Sein Begriff 'Moderne' setzt den Historismus des 19. Jahrhunderts - formal und inhaltlich - voraus. Das oben skizzierte historistische Verfahren und damit zusammenhängende Probleme des Historismus thematisiert Hofmannsthal in seinen Reflexionen auf die 'Moderne' innerhalb des Essays. Das Verfahren des Textes zielt auf die Evokation eines als 'modern' apostrophierten Stimmungskontextes. Dieser wird nicht dazu benutzt, die Thesen zur Moderne, die sich in Hofmannsthals Text finden, argumentativ zu unterstützen, sondern sie assoziativ plausibel zu machen, sie innerhalb des Kontextes als nachvollziehbar zu zeigen. Das Kriterium für die Verwendung vieler Lexeme in Hofmannsthals Text heißt nicht 'logisch notwendig', sondern 'assoziativ verwendbar'. Hofmannsthal beharrt deshalb nicht auf dem konkreten traditionellen Sinngehalt der Worte. Seine Poetik will »Namen, die nicht nach schalem Alltag und rauher Wirklichkeit klingen.«307 Der Tonfall und der Kontext des Lexems - wenn man will, das 'Ensemble' - und nicht die traditionelle Bedeutung ist das primär Relevante. Diese - im Sinne des historischen Gegenstandes und auch des eigentlichen historistischen Gedankens - inadäquate Aneignung der fremden Elemente und Bilder wird im Text selbst reflektiert: Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht; alles, was sie haben, haben sie von uns; wir haben ihnen unser bestes Blut in die Adern geleitet; wir haben diese Schatten
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Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.569: »Jeder schafft sich das Instrument seiner Kunst selbst, indem er von Eindrücken und Halluzinationen ausgeht, die dem Eros unterstehen, und damit das von Überliefertem verbindet, was er erfassen kann. Er schafft immer eine Pluralität: Landschaft, Zeitgeist, Volksgeist. Ich habe mich immer um das Ausdrucksmaterial alter Meister bekümmert - 'die kubistisch futuristische Infektion'. Kombination von Elementen.« ('Aufzeichnungen aus dem Nachlass 1922'). Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.184.
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umgürtet mit höherer Schönheit und wundervollerer Kraft als das Leben erträgt; mit der Schönheit unserer Sehnsucht und der Kraft unserer Träume. 308
Die Jungen tragen nicht - wie das gewohnte Bild es nahelegt - das Blut ihrer Ahnen in ihren Körpern, sondern haben sich das Vergangene angeeignet, indem sie ihren 'Toten' modernes Blut injizieren, sie diese als Gestalten ihrer Träume lebendig machen, verschönen. Eine solche angleichende Aneignung impliziert »im Besitz« der historistisch zur Verfügung stehenden Stoffe auch den »Verlust« ihrer spezifischen Qualitäten, »im Erleben« des ästhetizistischen Spiels mit dem Material »das stete Versäumen«309 der eigentümlichen Valenz der älteren Kunstwerke und auch der Moderne außerhalb der historistischen Träumereien. Dieser Umgang mit dem historistischen Material hat nichts mit Epigonentum zu tun; allerdings mit einer Auseinandersetzung mit dem Problem der Epigonalität. Weil im Grunde jeglicher Bezug auf Historie für den Augenblick literarischer Realisierung instrumentalisiert werden kann und zwar unabhängig von einer allgemeingültigen Bewertung (die es vielleicht gibt, die hier aber jedenfalls unwichtig ist310), wird - ganz anders als im 19. Jahrhundert und seinem Epigonentum - für Hofmannsthal und mit ihm für die so verfahrende Wiener Moderne das 'Spätgeborensein'311 zur Möglichkeit expliziter Modernität. 'Modern' ist so die bewußte vorbehaltlose Bejahung dieses historistischen Verfahrens, das sich alles, wie es will, verfügbar machen kann und deshalb auch vergessen kann, was es will.312 Den so entstehenden Jargon »dieser geistigen Freimaurerei« bezeichnet der Text selbst als avant-
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A.a.O., S.174. Alle Zitate: a.a.O., S. 175. Vgl. a.a.O., S.183f. Hofmannsthal spricht am Anfang des Essays von den Modemen - durchaus programmatisch - als 'Spätgeborenen': vgl. a.a.O., S.174. Rainer Dittrichs kürzlich vorgelegte Interpretation des Essays verkennt den programmatischen Charakter des 'Spätgeborenseins'. Hofmannsthal denkt nicht an einen bloßen »Ausgleich zwischen Tradition und Moderne« (Rainer Dittrich: Die literarische Moderne der Jahrhundertwende im Urteil der österreichischen Kritik. Untersuchungen zu Karl Kraus, Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal. Frankfurt 1988. S.181), sondern eher an eine 'Instrumentalisierung' der Tradition. Zwar sieht Robert Mühlher in seiner Abhandlung über 'Das 'Historische' als Baustein der österreichischen Moderne' eine Wandlung des Bewußtseins der Modernen gegenüber historischen Denkweisen (vgl. Mühlher 1970, S.94ff.); er verkennt möglicherweise aber den Skopus der Umbewertung des historistischen Bezugs der Dichtung: Nicht zum »Wahren, Echten und Neuen« (S.95) soll der 'neue' Historismus der Modernen führen, sondern zu einem neuen Umgang mit historistisch erschlossenem Zeichenmaterial. An einer 'gerechten' Neubewertung des Alten ist der 'produktive' Historismus nicht interessiert. Vgl. a.a.O., S.176: »Trieb [...] nach Vergessen«.
gardistisches »Rotwelsch«, dessen »Seltsamkeiten«313 kaum jemand versteht. Die historistische Situation liefert dem Text die Lizenz zu partieller Unverständlichkeit für nicht Eingeweihte, die sein oben beschriebenes Verfahren ja in der Tat mit sich bringt. Hofmannsthals Beschreibung des Historismus in dem zwei Jahre früher erschienenen 'Bourget'-Essay kann als die Beschreibung seines eigenen Verfahrens moderner Aneigung vergangener, fremder - und durch die Art der Rezeption zugleich höchst vertrauter - Stoffe gelesen werden: Wenn man heute, nachdem die Epidemie des Historismus so ziemlich großen epochemachenden Bücher der Bewegung durchblättert [...], was anderes als diese Sehnsucht, hinauszuflüchten aus der verknöcherten denschaft der Gegenwart, Menschen, versunkene Geschlechter, lieben hören, rauschendes, lebendes Blut zu fühlen. 314
vorüber ist, die durchströmt sie Schablonenleiund fluchen zu
Einen solchen Historismus 'nach der Epidemie des Historismus', der hier 'produktiver' Historismus genannt wird, muß man unterscheiden von den zwei Verfallsformen historischen Denkens im 19. Jahrhundert, die die Historismus-Forschung analysiert hat und auf die sich der im zweiten Kapitel skizzierte 'Historismus'-Begriff dieser Arbeit stützt, wenngleich sich der 'produktive' Historismus durchaus genetisch aus jenen beiden Historismen herleiten läßt.315 Er ist eine Verfahrensweise, eine Schreibform, die die Ehrfurcht vor den historischen Größen offensichtlich gänzlich verloren hat und sie deshalb zum Interieur (mit Hofmannsthal: zum »Möbel«) ihrer Moderne macht. Dieses Verfahren setzt die Einsicht voraus, daß das historistische Denken nicht einfach 'überwunden' werden kann, weil das Weltbild der eigenen Generation nicht von den Ergebnissen des Historismus zu lösen ist und weil er das gesamte späte 19. Jahrhundert - und damit die eigene Sozialisation - entscheidend prägt. Der 'produktive' Historismus des 'D'Annunzio-Essays' überwindet also nicht die historistische Situation. Er nutzt sie, indem er das mit allem Ernst und allem optimistischen Pathos vorgetragene Interesse am historischen Stoff, wie es der traditionelle Historismus favorisiert, in ein Spiel mit historischen Partikeln umwandelt, das von dem, fast pessimistischen
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A.a.O., S.175. A.a.O., S.97 ('Zur Physiologie der modernen Liebe'). Vgl. die Ausführungen zum 'Positivismus' im Kontext des »Historismusi« und zum 'Relativismus' des »Historismusz« in Kapitel 2 der 'Voraussetzungen'; vgl. auch Wunberg 1990 und Schnädelbach 1983, S.51.
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Gedanken getragen wird, »nichts als ein sentimentales Gedächtnis«316 zu haben. Ein solches Gedächtnis ermöglicht erst das beschriebene Textverfahren, es ermöglicht erst den 'produktiven' Historismus. Das ist es, was ich den Triumph der Möbelpoesie genannt habe, den Zauberreigen dieser Wesen, von denen nichts als Namen und der berückende Refrain von Schönheit und Liebe zurückgeblieben ist. 317
Trotz aller Souveränität, die dieser 'produktive' Historismus offensichtlich voraussetzt, scheint allerdings die relativistische Anfechtung des Subjekts - die Situation des Historismus* also - nicht umgangen zu sein318; das wird, allerdings eher implizit, ebenfalls im 'D'Annunzio'Essay evident. Wenn auch das Verhältnis der Wiener Avantgarde zur Überfülle des Vergangenen kein melancholisches ist319, sie also nicht vor der Masse des historischen Stoffes kapituliert, so impliziert jenes moderne Verfahren doch die Gefahr der Auflösung des - scheinbar - souverän agierenden Subjekts zugunsten eines vervielfachten, sich im historistisch erworbenen Material (schließlich unendlich) widerspiegelnden Ich; das Subjekt scheint sich mehr und mehr spielerisch zum zufälligen Ort historistischer Präsenz zu reduzieren. Ein Ich, das sich in einer Sprache auszudrücken sucht, die sich aus historistisch gebrauchten, zunehmend sinnentleerten Signifikanten konstituiert, verliert sein stabilisierendes Gegenüber.320 »Die übereinandergetürmten Schichten der aufgestapelten überindividuellen Erfahrung«321 okkupieren die sprachlichen Repräsentationsmöglichkeiten des spätgeborenen Subjekts. Der Preis für die Möglichkeit historistischer Vervielfältigung ist der Verlust der Verläßlichkeit der Sprache; das Subjekt verspielt so die Chance sich dort sinnstiftend auszudrücken, wo traditionell sein - zumindest literarischer - 'Ort' zu suchen war: in der Sprache.322
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Hofmannsthal 1979, Bd.8, S. 174. A.a.O., S.183. Auf den Zusammenhang von 'poetischem Historismus' und Subjekt-Krise macht Christa Bürger in einem kürzlich erschienenen Beitrag aufmerksam: vgl. Christa Bürger: Hofmannsthal und das mimetische Erbe. In: Pfister (Hg.) 1989, S.218-228 (besonders S.218f.). Vgl. dazu Wunberg 1983, S.137. Vgl. hierzu Lacan 1973-1975,1, S.61-70; Wiethölter 1990 und Renner 1986, S.144f. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.25 ('Ansprache im Hause des Grafen Lanckoronski'), vgl. auch S.24. Vgl. Wiethölter 1990, S.9 und S. 17ff.
Die in der Wiener Moderne immer wieder formulierte Ansicht der unrettbaren Einheit des Ichs323 zeigt sich deshalb in extenso in der Konstitution modernen Selbstbewußtseins über das historistisch erschlossene Material, das nicht als authentisches Element der eigenen Historie angesehen wird. Die »unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung«324, von der Hofmannsthal in seinem Essay spricht, charakterisiert genau diesen Verlust der Existenz eines einheitlichen Ichs, das auch historisch zuverlässig begründbar wäre und von dort Geltungsansprüche ableiten könnte. Während eine Verwurzelung in der Historie nicht vorhanden ist, weil das Verhältnis zur Geschichte aus der - wie oben gezeigt - subjektiven Interpretation der im Sinne wissenschaftlich historischen Denkens kontingent ausgewählten geschichtlichen Einzelelemente resultiert, ist durch die ästhetizistische Überbewertung des so erworbenen historischen Materials die Verwurzelung im Leben ebenfalls verlorengegangen: »Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, [...] umher.«325 Das folgende Zitat aus Hofmannsthals 1893 an Edgar Karg von Bebenburg geschriebenem Brief faßt den doppelten 'uneigentlichen' Bezug zum historischen Material und zum 'authentischen Leben' zusafnmen; die 'Schleier'-Metapher - Nietzsches bekannte Beschreibung des apollinischen Ästhetizismus aus der 'Geburt der Tragödie'326 kann man aus den Worten Hofmannsthals heraushören - versucht den Fin de sifecleModebegriff 'Stimmung' deutlicher zu gestalten, den Hofmannsthal, wie seine Zeitgenossen, als 'Surrogat' gebraucht, das den nur vage bestimmbaren historistisch produzierten 'Moderne'-Zusammenhang repräsentieren soll:
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Wie - nach Ernst Mach - »das Ding, der Körper, die Materie [...] nichts außer dem Zusammenhang der Elemente« (Mach 1987, S.5) ist, sind auch die menschlichen »Wahrnehmungen sowie die Vorstellungen, der Wille, die Gefühle [...] aus einer geringen Zahl von gleichwertigen Elementen in bald flüchtiger, bald fester Verbindung« zusammengesetzt (a.a.O., S.17.): »Die Elemente bilden das Ich.« (A.a.O., S.19.) Dem Gedanken Emst Machs folgend, bedeutet die Konstitution des Ichs eine kontingente Zusammenfassung verschiedener Einzelelemente; das souverän verfahrende »Ich ist unrettbar« (a.a. O., S.20). Vgl. hierzu auch Kapitel 3.b) und c). Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.175. A.a.O. Vgl. Nietzsche 1984, Bd.l, S.23 und 28; vgl. auch Oscar A.H. Schmitz 1897, S.259: »Die Natur ist uns weiblicher Art, wir wollen nicht ihre unbedingte Nacktheit schauen, viel mehr lieben wir sie, wenn sie der Schleier der Maja noch halb verhüllt.«
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Man ist wie ein Gespenst bei hellem Tage, fremde Gedanken denken in einem, alte, tote, künstliche Stimmungen leben in einem, man sieht die Dinge wie durch einen Schleier, wie fremd und ausgeschlossen geht man im Leben herum. 327
Der labile Stimmungszusammenhang ersetzt die verlorenen (und wohl auch als obsolet erachteten) authentischen Bezüge zum Leben und zum historischen Gegenstand. Das Verhältnis zu diesen Gegenständen bestimmt sich als ein 'Gefühl eines Gefühls' einer früheren Zeit: ä sentir sentir328, wie Hofmannsthal im 'Bourget'-Essay formuliert. Die im zweiten Kapitel dieser Arbeit eingeführte Kategorie 'Vermitteltheit' gilt auch hier als bestimmendes Merkmal.329 Zum Surrogat-Begriff 'Stimmung': 'Stimmung' wird als ein wichtiges 'Merkwort der Epoche' in relativ vielen ästhetischen Äußerungen der Moderne benutzt. Zwar sind die Konnotationen dieses bewußt vage gehaltenen Begriffes recht unterschiedlich, man kann aber trotzdem einige Eigenschaften der 'Stimmung' bestimmen, die für die meisten Äußerungen gelten. Die wichtigste Qualität der 'Stimmung' ist ihre bewußte Unbestimmtheit. Sie leitet sich schon aus der Herkunft des Wortes ab. 'Stimmung' wird seit dem 16. Jahrhundert für Musikinstrumente, seit dem 18. Jahrhundert für menschliche Gemütszustände und dann erst für Landschaften oder Kunstwerke benutzt. In diesen Bedeutungen bezeichnet 'Stimmung' schwer beschreibbare Eigenschaften, die bewertet oder verglichen werden sollen. Im Fin de sifecle verliert der Begriff weitestgehend die wertende oder vergleichende Konnotation; er generiert ausdrücklich zum Gegenbegriff zu klar definierbaren Qualitäten. 'Stimmung' bezeichnet einen diffusen - mit Bahr »bloß ungefähr[en]«330 aber wichtigen Bereich ihrer Ästhetik. Julius Pap reflektiert in seinem Essay 'Unsere Jugend' von 1894 nicht nur den häufigen Gebrauch des Wortes 'Stimmung' - »'Stimmung' und 'Psychologie': in den beiden magischen Worten scheinen sich überhaupt [...] die zwei Seelen in der Brust des modernen Jünglings zu ver-
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Hofmannsthal, Karg von Bebenburg 1966, S.32 (Hofmannsthal an Karg von Bebenburg, 30.5.1893). Vgl. den gesamten Brief, besonders auch S.31. 328 Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.97. Paul Bourgets eigene Essais sind für den anhand des 'Bourget'-Essays von Hofmannsthal konstatierten Zusammenhang von Subjektkrise und Historismus durchaus einschlägig: vgl. dazu Ulrich Schulz-Buschhaus: Bourget und die 'multiplied du moi'. In: Pfister (Hg.) 1989, besonders S.54-56. 329 vgl. den Abschnitt 'Voraussetzungen'. 330 Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.204. Die Vagheit (und auch Verbrauchtheit) des Begriffs wird zum Beispiel auch in Hofmannsthals Gedicht 'Verse, auf eine Banknote geschrieben' angedeutet: »Was ihr so Stimmung nennt, das kenn ich nicht / Und schweige still, wenn einer davon spricht.« (Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.94).
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kündigen.«331 er bindet die 'Stimmung' auch an die Raumerfahrungen des 'modernen Jünglings' an, die dieser kaum mitzuteilen vermöge. 'Stimmung' wird zum Surrogat für ein nicht zu fassendes Objekt. Der Rekurs auf vergangene 'Zeichen' (»ein altes Portrait, ein Musikstück«332) liefere nur höchst allgemeine Hinweise auf die wahre Stimmung des Raumes, die nicht beschrieben, nur angedeutet werden könne. Der 'realen' Morphologie der Erscheinung stehe die extrem nuancenreiche Empfindung des Jung-Wieners entgegen: Alles, was er empfindet, ist unaussprechlich, ganz individuell, von einer Feinheit der Nuance, die sich nur in Symbolen andeuten, suggerieren, nicht mitteilen läßt [...] - Das ist Stimmung. 333
Der spätere Begründer der neueren zionistischen Bewegung Theodor Herzl widmet der 'Stimmung' 1893 einen Artikel. Ähnlich wie die Ausführungen Paps sieht auch sein Text vage Andeutungen, die sowohl ein ungenaues »Traumbild«334 entwerfen, als auch auf höchst sublime Empfindungen verweisen, als Kennzeichen der 'Stimmung'. Der Grund für die Notwendigkeit solcher Stimmungsbilder läge in der Einsicht, »wie wenig Deutlichkeit das Gefühl wiederzugeben«335 vermag. Das Fin de siecle-Konzept der 'Stimmung' enthält noch eine weitere wichtige Qualität: Es ersetzt eine verlorengegangene Einheitlichkeit der ästhetischen Erfahrung. Es sucht - zwar bewußt ungenau und vage - jene Einheit zu ersetzen, die die Wahrnehmung nuancenreicher Elemente nicht herzustellen vermag, die - im Sinne dieser Moderne - nicht wiederhergestellt werden soll; Herzl: »Die einheitlichen Seelenergüsse [...] reizen nicht mehr«.336 Im Postulat einer 'Stimmung', deren Nuancen durch eine Vielzahl historistischer Verweise und anderer Zeichen angedeutet werden kann, ist die Möglichkeit, »sie zu zergliedern, in ihre Elemente aufzulösen«337 angelegt. Sie stellt zugleich eine gewisse Einheit und eine nicht schilderbare Summe von Einzelempfindungen dar. An der 'Stimmung' interessiert allerdings »nicht das Detail der Empfindung,
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Julius Pap: Unsere Jugend. In: Wunberg (Hg.), Das Junge Wien, S.438 (T 94.7). Der Hinweis auf das Bild bezieht sich wahrscheinlich auf die 'Gioconda'-Beschreibung in Hofmannsthals 'Der Tor und der Tod'. Vgl. Kapitel 2.b). A.a.O. A.a.O.; vgl. hierzu die Beschreibung eines Zimmers in der Abenddämmerung nach dem Eintritt eines jungen Mannes in Felix Saltens Novelle 'Nuance' (in: Moderne Rundschau 3-1891. S.283). Herzl 1976, S.415 ('Stimmung. Bemerkungen'). A.a.O. A.a.O. A.a.O.
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sondern ihre Vollschwingung«338, die Ahnung jener Einheit, die nicht herzustellen, höchstens anzudeuten ist. So ist Jakob Wassermanns Interpretation des »Erzähltons« in Flauberts 'Salammbö' zu verstehen, die er programmatisch an den Anfang seines Essays 'Die Kunst der Erzählung' stellt: Der »Erzählton« schaffe eine »Stimmungseinheit« ungeachtet der »Genialität der Details«.339 Diese poetologische Verwendung des Begriffs 'Stimmung' ist durchaus typisch für die Jahrhundertwende. Auch innerhalb poetologischer Argumentationen hat 'Stimmung' eine Surrogatfunktion. Sie ersetzt die Konsistenz der Erzählung. Mit ihr wird - vielleicht erstmalig in der deutschen Literatur - das 'Ende der Erzählungen' konstatiert; Stefan George fordert in seinen 'Merksprüchen' der 'Blätter für die Kunst': »Wir wollen keine erfindungen von geschichten sondern wiedergäbe von Stimmungen.«340 Ähnlich auch Stanislaw Przybyszewski: er kann sich eine »Kunst« vorstellen, die »nur durch Wortklang, der eine Stimmung ausdrückt«, wirkt »oder durch eine Reihe von Bildern, welche diese Stimmung durch Anspielungen und Andeutungen suggerieren«.341 Auch in bezug auf die ästhetische Konstitution von Landschaft ersetzt 'Stimmung' im Fin de si5cle die traditionelle Kategorie 'Einheit'. Georg Simmeis 'Philosophie der Landschaft' bringt beide Begriffe - Einheit und Stimmung - sogar unmittelbar zur Deckung: So sind die Einheit, die die Landschaft als solche zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt und mit der wir sie umgreifen, nur nachträgliche Zerlegungen eines und desselben seelischen Aktes. 342
Die ästhetische Kategorie 'Einheit' wird auf einen psychologisch konnotierten - und deshalb von vornherein schwer bestimmbaren - Begriff der 'Stimmung' reduziert. Spätestens bei der Verwendung des Begriffs 'Stimmung' bei der Erklärung landschaftlicher Eindrücke wird deutlich, daß der Begriff vor allem ein Vermittlungsproblem deutlich macht: Es geht um die konkretbegriffliche Beschreibung eines Zusammenhangs unkonkreter, bewußt verschleierter, an sich disparater Signifikanten und Eindrücke.343 Wird ihr diffuser Zusammenhang in den Texten der Wiener Moderne häufig durch
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A.a.O. Wassermann 1901, S.82. [Stefan George]: Blätter für die Kunst [Einleitung und Merksprüche]. In: Mathes (Hg.) 1984, S. 122. Vgl. auch Rilke 1987, Bd. V, S.240f. (XXVII). Przybyszewski 1894, S. 156. Simmel 1984[b], S.137. Vgl. Oscar A.H. Schmitz 1897, S.259, Rilke 1987, Bd. V, S.240f. und Herzl 1976, S.415.
das oben beschriebene Verfahren des 'produktiven' Historismus hergestellt, soll der Begriff 'Stimmung' die Einheitlichkeit auf quasi 'theoretischer' Ebene ersetzen. So läßt sich das Verfahren des 'produktiven' Historismus 'theoretisch' durch eine grundsätzliche Sprachskepsis rechtfertigen. Das, was in der modernen Kunst ausgedrückt werden soll, sei nicht unmittelbar zu benennen und in eine geschlossene Form zu gießen: »Genau um das, was sich nicht ausdrücken läßt, geht es« um das, »was zwischen den Worten schwingt«344 - postuliert Beer-Hofmann. Um »Unsagbares, Letztes, ahnen zu lassen«345, begnügt sich diese Kunst mit der Andeutung, mit dem klangvollen Namen, dem um Nuancen variierten Zeichen vergangener Kunst, mit der Kombination historistischen Materials. Wie aber Worte und Sätze ihre Antlitze einander zuneigen, oder sich von einander abwenden [...] das läßt Gebirge, Schluchten, Hänge und Täler werden - eine namenlose schwebende Landschaft, duich die das fühlbar, dämonisch geisternd weht, was [...] dem Ausdruck sich entzieht.34®
Der 'produktive Historismus' weicht in gewisser Weise so jeder möglichen Kritik aus,- weil er von vornherein klarstellt, die historistische Anspielung stelle niemals die Sache selbst dar, sei bestenfalls ein vager Hinweis, ein Mosaiksteinchen, das die gemeinte 'Stimmung' vielleicht andeuten könne. Trotzdem mangelt es in der Wiener Moderne nicht an kritischen oder parodistischen - Stimmen zu einem 'produktiven' Historismus, der das historistische Material bloß nutzt, um 'Stimmungen' zu evozieren, die keine Ansprüche auf Konsistenz und dauerhafte Existenz stellen. Die Kritik am Modewort 'Stimmung' wertet im Grunde die Momente des 'produktiven' Historismus negativ: Das diffuse Wort 'Stimmung' rechtfertige ein Verfahren, das mit entlehntem, umgedeutetem Material nur vage andeutet, ohne auch nur den Anspruch zu haben, das Eigentliche sprachlich zu fassen. Das Gespräch in Schnitzlers schon zitiertem 'Spaziergang' birgt etwa eine - mit den Mitteln der Parodie angedeutete - Kritik am 'Stimmungskult' der Jung-Wiener, die auch auf den oben erörterten Gegensatz von Einzelbeobachtung und Stimmung eingeht; die Stimmung des heimadichen Wien ist hier das belächelte Surrogat verlorener konkreter Bestimmbarkeit:
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Beide Zitate: Beer-Hofmann 1963, S.627 ('Was sich nicht ausdrücken lässt' [1922]). A.a.O. A.a.O.
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'Daß ich es [Wien] liebe, gebe ich zu, daß ich es kenne, nicht! [...] Was den Duft dieser Dinge macht, und wieso es eigentlich kommt, daß uns oft in einem stillen Praterspaziergange, oder auf dem alten Platz vor der Minoritenkirche, oder aus einem Worte eines süßen Wiener Mädels die ganze rührende und reiche Seele der Stadt entgegenflutet, das, möcht' ich wissen!' 'Nun ja', sagte Hans, 'Das ist das Geheimnis der Stimmung!' 347
Die jeweils angedeuteten Örtlichkeiten werden als Zeichen der 'unerklärlichen' Stimmung Wiens interpretiert. Hierbei stehen so disparate Eindrücke wie das 'süße Mädel' und die Minoritenkirche unverbunden nebeneinander. Daß Schnitzler mit dieser durchaus parodistisch gemeinten Passage - unausgesprochen - auch das 'Historismus'-Phänomen im Auge hatte, zeigt der Fortgang des Dialogs noch deutlicher; dort wird gemutmaßt, die Zeichen der Stadt könnten »in manchen Stunden [...] vielleicht Stimmungen vergangener Jahrhunderte«348 in die Seelen der Betrachter einlassen, die dann diese »Träume nicht als die unserer Ahnen«349 identifizieren könnten. Auch Richard Schaukai parodiert das Verfahren des 'produktiven' Historismus; er verweist auf den oft willkürlich scheinenden Kontext historistischer Elemente: Der Literat: Mir fällt ein Vers von Carducci ein ... Der Künstler: Erlassen Sie ihn mir! Es ist grausam, da Sie ihn längst anzubringen ungeduldig sind. 350
Schließlich läßt Schaukai vom 'Künstler' mit durchaus selbstkritischem Ernst »das Surrogathafte, Unechte des Materials, das 'Vorläufige' dieser [...] Oberflächengleitekunst, besser -künstelei«351 kritisieren; jene Literatur reihe bloß »Schnörkel an Schnörkel« und wende sich nur »scheinbar an das tiefste 'Musikanten'gefühl des künstlerisch erzogenen Lesers«.352 Dabei werde »das Vage, das alle Grenzen Verwischende [...] mit Bewußtsein angestrebt.«353 Die Vokabel 'Musikantengefühl' läßt noch den älteren Bedeutungshof des Wortes 'Stimmung' durchhören.
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Schnitzler 1977[b], S.154 ('Spaziergang'). A.a.O. A.a.O., S. 155. Richard Schaukai: Der Literat und der Künstler. Ein Dialog [1905]. In: Mathes (Hg.) 1984, S.185. A.a.O., S.189f. Beide Zitate: a.a.O., S.190. Interessanterweise äußert der 'Künstler' seine 'Literaten'Kritik im Zusammenhang des »Clichö-Typus des feuilletonistischen Essays 'neuer' Prägung« (S.188). Mit diesem Essay-Typ könnte Schaukai auch auf die Essays des jungen Hofmannsthals und Hermann Bahrs anspielen. A.a.O., S. 189.
3. Konnotative Strukturen: Landschaft als 'Sekundärtext' Im dritten und letzten größeren Abschnitt des Hauptteils soll die realisierte Landschaft selbst als 'Text' gelesen werden. Sie stellt sich als deutbare Verbindung von Signifikanten - neben der sprachlichen Form des Kunstwerks - als eine Art 'Sekundärtext' dar, deren 'Sinn' erst 'verstanden' werden muß. Als Beispiel für einen 'Sekundärtext' wäre etwa die psychologisch lesbare Landschaft zu verstehen: sie existiert als sprachlich entworfener Raum und als deutbare psychologische Struktur. Im folgenden sollen inhaltliche Funktionen von Räumen und Landschaften im Text erläutert werden. Diese über die bloß illustrative Darstellung einer Örtlichkeit hinausreichenden Textfunktionen der Raumund Landschaftsrealisierungen werden als 'konnotative Strukturen' bezeichnet, um deutlich zu machen, daß Räume und Landschaften durchaus auch ein ästhetisches - man möchte sagen 'dekoratives' - Eigengewicht innerhalb der Texte haben; dies gilt besonders für die Wiener Moderne. Die inhaltlich-strukturelle Nutzung von Räumen und Landschaften widerspricht nicht ihrer ästhetischen Selbstständigkeit, die auch in inhaltsökonomisch kaum zu rechtfertigenden intertextuellen und ikonographischen Bezügen deutlich wird. Die konnotativen Strukturen werden in drei Kapiteln behandelt. Im ersten Kapitel soll die Verwirklichung inhaltlicher Funktionalisierung von Landschaft anhand typischer Gegensatzpaare entfaltet werden. Die beiden folgenden Kapitel beschäftigen sich mit jeweils einem typischen Bereich konnotativer Strukturen: Das zweite Kapitel arbeitet die Verwendung von Raum- und Landschaftsrealisierungen für die Darstellung psychischer Vorgänge auf. Die These, die diesem Kapitel zugrunde liegt, geht davon aus, daß die Gestalt von Räumern und Landschaften der Wiener Moderne genetisch aus psychischen Vorgängen abgeleitet werden kann, die in literarischen Texten dargestellt werden. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Vorstellungen eines glücklichen oder besseren Lebens als konnotativen Strukturen der Raum- und Landschaftsevokationen. Das Kapitel bearbeitet drei Vorstellungsbereiche in jeweils einem Unterkapitel: Raum und Landschaft als Heimat, Fluchtraum und Utopie.
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a) Antagonistische Tableaus Aprfcs les fleurs factices singeant les νέιίtables fleurs, il voulait des fleurs naturelles imitant des fleurs fausses. 1
Dieses kurze (und bekannte) Zitat aus Joris K. Huysmans Fin de sifecle'Kultbuch' Ά Rebours' macht deutlich, worum es im folgenden Kapitel im wesentlichen gehen wird: um die Nutzung von zentralen Antagonismen in literarischen Texten. Huysmans Protagonist 'Des Esseintes' gilt zwar als ostentativer Naturfeind, seine Naturfeindschaft kann er aber nur über das Spiel mit der Gegensätzlichkeit von Natur und Kunst akzentuieren. Dieses Spiel mit antagonistischen Elementen ist ein wesentliches Moment der Konstitution und inhaltlichen Konnotation räumlicher und landschaftlicher Tableaus. Die Arbeit untersucht zwei zentrale Antagonismen der Wiener Moderne hinsichtlich ihrer Relevanz für die Raum- und Landschaftsrealisierungen: Natürlichkeit und Künstlichkeit, Interieurs und Exterieurs. Als Ergänzung der Ausführungen über den ersten Gegensatz widmet sich ein eigener Abschnitt dem für die gesamte europäische Literatur der Jahrhundertwende wichtigen Motiv der 'toten Stadt'. Als vorläufige These kann man festhalten: Die antagonistischen Tableaus bestimmen^ strukturell die Einbindung von Räumen und Landschaften in die Literatur der Wiener Moderne. Sind - durch die textuelle Realisierung der Antagonismen - die Räume und Landschaften schon konnotativ genutzt, werden die Antagonismen selbst häufig wieder mehr oder weniger Bestandteil weiterer inhaltlicher Strukturen, erhalten also im Text oft weitere Bedeutungen. Eine solche weitergehende Nutzung der Antagonismen ist aber durchaus nicht der Regelfall. Oft finden sich Texte, die sich mit der Evokation solcher antagonistisch gedachten Tableaus zufriedengeben. Die in der Forschung konstatierte Nähe der Wiener Literatur der Jahrhundertwende zum Kunstgewerbe ihrer Zeit2 hat hier ihren systematischen Ort. Natürlichkeit und Künstlichkeit Als charakteristisch für die Literatur der Decadence wird in der Forschung im allgemeinen deren Neigung zur Künstlichkeit, deren Vorliebe für »das absolute Schöne, das jenseits liegt von Natur, Gesundheit und
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Joris-Karl Huysmans: Α Rebours. Hg.v. Marc Fumaroli. [Paris]: Gallimard 2 1989. S.187. Vgl. etwa Simon 1976.
gesellschaftlicher Norm«3 angesehen. Kennzeichnend sei die Bevorzugung der Kunst gegenüber der Natur; Hermann Bahr - in seinem 'Decadence'-Essay von 1894 - kann hierfür als Kronzeuge gelten: »Die Natur ist häßlich. Die Kunst ist Flucht aus der Natur«.4 Übersehen werden allerdings häufig die von Jens Malte Fischer eingeklagten »Unterschiede [...] der deutschsprachigen Decadence im Vergleich zur französischen«5 - ganz besonders hinsichtlich des Verhältnisses von Kunst und Natur.6 Von einer generellen Naturfeindlichkeit, für die Oscar Wilde oder auch Des Esseintes aus Huysmans Ά Rebours' steht, kann bei der deutschsprachigen Decadence und bei der Wiener Moderne nicht die Rede sein. Es läßt sich vielmehr formulieren: Die Bereiche des Künstlichen und des Natürlichen sind in der Wiener Moderne nicht strikt getrennt. Gerade das Spiel mit der 'Übergänglichkeit' beider Bereiche fällt als zentrales Moment dieser Literatur auf. Sie verwendet Zeichen aus der 'natürlichen' Welt im Kontext phantasievoller Künstlichkeit und spielt mit Verweisen auf eine den Landschaftsbeschreibungen und Naturschilderungen inhärente Künstlichkeit, um das dialektische Verhältnis von Natur und Kunst auf verschiedenste
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Roger Bauer: Das Treibhaus oder der Garten des Bösen. Ursprung und Wandlung eines Motivs der Dekadenzliteratur. Mainz 1979. S.3; vgl. auch Wolfdietrich Rasch: Die literarische D6cadence um 1900. München 1986. Besonders S.47-54; Ulrike Weinhold: Künstlichkeit und Kunst in der deutschsprachigen Dekadenz-Literatur. Frankfurt, Bern, U s Vegas 1977. Besonders S.14, 119-122, 133-135; Kafitz (Hg.) 1987, S.11-13 ('Einführung des Herausgebers'); zur Decadence im allgemeinen vgl. in diesem Zusammenhang besonders: Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de sifccle. Berlin 1973. Hermann Bahr: Ddcadence [1894], In: Wunberg (Hg.) 1976, S.463 (T 94,17; auch in: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.237). Hermann Bahrs frühe Vorliebe für die Welt des Künstlichen begründet er selbst aus der von ihm immer wieder rezensierten französischsprachigen Dekadenzliteratur, deren »Natur« es sei, »unnatürlich zu sein« (Bahr 1976[d], S.461). Barrfes zitiert er mit dem Ruf: »Retrons dans l'artificiel!« (a.a. O.). Roger Bauer und Karl Johann Müller weisen darauf hin, daß sich Bahr keineswegs »ganz und dauerhaft« mit der französischen Decadence »identifiziert« habe (Roger Bauer 1987, S.25.; vgl. auch Karl Johann Müller: Das Dekadenzproblem in der österreichischen Literatur um die Jahrhundertwende, dargelegt an Texten von Hermann Bahr, Richard von Schaukai, Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian. Stuttgart 1977. S.29). Zu unterscheiden seien vielmehr verschiedene Stadien der Beziehung Bahrs zur Dekadenz-Bewegung. Schon seit 1892 beginne Bahr mit dem »progressiven Sichabsetzen von der Dicadence« (a.a.O., S.29). Einen Grund seiner Abwendung von der französischen Dicadence sieht Karl Johann Müller mit Recht in der Wiederentdeckung der eigenen österreichischen Kultur (vgl. Karl Johann Müller 1977, S.37); dazu vgl. auch die Kapitel 2.a) und 3.c). Jens Malte Fischer 1978, S.80. Vgl. etwa Rasch 1986, S.47-54.
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Weise zu nutzen; sie interessiert sich für künstlich geschaffene 'natürliche' und von der Natur zurückeroberte 'künstliche' Areale. Nicht das Bekenntnis zur Künstlichkeit ist typisch für das Wiener Fin de Steele, sondern der ambivalente Zugriff auf Natur und Kunst, wobei das Künstliche mit dem Toten und das Natürliche mit dem Lebendigen korrespondiert.7 Diese Handhabung natürlicher und künstlicher Motive in der Literatur der Wiener Moderne steht im Kontext ambivalenter Phänomene im Fin de sifecle.8 Weder die wilde, unbezwungene Natur, noch die zivilisationskranken Korridore der Metropolen können als wichtigste Gegenstände der Raumund Landschaftsbeschreibung ausgemacht werden, sondern gerade solche Orte, wo Natürliches und Künstliches miteinander verwoben sind: der Garten, der (Stadt-)Park, das Treibhaus, die Landstraße, der künstlich angelegte See. In seinem Gedicht »Abend« zeichnet Richard Schaukai eine traumhafte Parklandschaft, die typisch für den literarischen Jugendstil ist9: Weiße Schwäne senken ihre schmalen, Schlanken Hälse in den schilfdurchragten, Stillen, grünen Weiher, plätschern leise, Ziehen weiter ihre stillen Kreise ...10
Die Jugendstil-Motive 'Schwäne' und 'Weiher' erhalten ihre Wirkung aus der Verbindung künstlicher und natürlicher Assoziationen; die Epitheta 'weiß', 'still', 'schlank' und 'schmal' schaffen eine lautlose Bildhaftigkeit, eine artifiziell anmutende Atmosphäre, während die Tiere,
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Vgl. hierzu vor allem den Abschnitt »Das Motiv der 'toten Stadt'«. Hermann Glaser glaubt in der 'Doppelwertigkeit' ein Prinzip sehen zu können, »das die Fülle der vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzutreffenden Phänomene zu gliedern vermag« (Psychodrom und ver-rückter Garten. In: Götz Grossklaus und Eberhard Lämmert (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur. Stuttgart 1989. S.264). J. Adolf Schmoll gen. Eisenwerth weist in seinem Vorwort zum Sammelband 'Fin de sifecle' auf »das Janusköpfige des Fin de siöcle-Phänomens« hin (In: Bauer et al. (Hg.) 1977, S.Xf.), Johnston schließlich auf die »Doppeldeutigkeit oder Doppelzügigkeit« als »Grundhaltung« der Wiener Moderne (William M. Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938. Wien, Köln, Graz 1974. S.398). Die ambivalente Aufnahme künstlicher und natürlicher Elemente in die Raum- und Landschaftskonstitution des Jungen Wien könnte in diesem Rahmen interpretiert werden. Vgl. Jost Hermand: Nachwort. In: Jost Hermand (Hg.): Lyrik des Jugendstils. Eine Anthologie. Stuttgart 1964. S.72. Richard Schaukai: Abend. In: Hermand (Hg.) 1964, S.41.
die Pflanzen und der Weiher11 auf die Lebendigkeit der Szenerie verweisen. Das aufeinander bezogene Nebeneinander künstlicher und natürlicher Elemente setzt sich im Laufe des Gedichts fort; ein 'müder, hochbetagter' - also dem Tode naher - Schloßherr steht neben seiner weiß gekleideten Gemahlin, die sich nach dem Leben sehnt: Ihre flügelstarken Flucht-Gedanken Zittern vor den roten Lebensblitzen. 12
Das für die Wiener Moderne zentrale Gefühl, als 'lebendige Tote' (noch) nicht gelebt zu haben13, wird durch diese Motivkombination vermittelt: die Gemahlin ist eingefangen durch die morbide Aura an der Seite des alten Schloßherrn, aus der allein eine Flucht ins Leben befreien würde.14 Oft können solche Verweise auf etwas Krankes oder Totes in den Landschaften der Wiener Moderne als deutliches Memento mori gelesen werden.15 »Seitdem die schweigsame Kaiserin starb« sind in einem Jugendstil-Gedicht Camill Hoffmanns etwa »die Schwäne krank«, die »kauernd am toten Gestad'« schlummern.16 Fast immer finden sich auch in der künstlichen Welt Relikte der verdrängten Natur oder besser: gerade der Hinweis auf das fremde Element expliziert das typische Fin de sifecle-Phänomen. Eine 'lebendig' werdende Rose steht in einem 'Prosagedicht' Hofmannsthals neben einer »Porzellanrose des alt-wiener Tintenzeugs«17 auf einem Schreibtisch. Die gefroren aufgefundene Blume braucht das warme Zimmer, um ihren Duft verströmen zu lassen, und der Duft der Rose ist notwendig, um den Gegensatz zur Porzellanrose, zur künstlichen Welt des Interieurs zur Erscheinung zu bringen. Das natürliche Element macht die künstliche Welt erst sichtbar - und umgekehrt.
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Weiher: mhd. wi(w)oere, ahd. wi(w)ari von lat. vivarium (= Behälter, Bassin für lebendige Tiere oder Fische). Vgl. Duden. Band 7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Neu bearb.v. Günther Drosdowsky. Mannheim 2 1989. S.805. Schaukai 1964, S.42. Vgl. Schmidt-Dengler 2 1985, S.305. Wichtige Beispiele für dieses Motiv sind Hofmannsthals 'Der Tor und der Tod', Schnitzlers Novelle 'Sterben', Beer-Hofmanns 'Tod Georgs' und Felix Saltens Erzählung 'Der Hinterbliebene'. Auch die Verbindung 'alter' Schloßherr und 'junge' Gemahlin in 'weltfremder' Umgebung ist ein bedeutendes Motiv um 1900: vgl. Ferdinand von Saars Novelle 'Schloß Kostenitz' (und Hugo von Hofmannsthals Essay dazu (Ferdinand von Saar 1982, S.303-382 und Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.139-142). Vgl. hierzu: Koebner 1978, S.160. Camill Hoffmann: Die Schwäne. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.369. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.443. Vgl. hierzu: Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg - Hofmannsthal - Polgar. Berlin, New York 1986. S.143-146. 181
Thomas Koebner verweist auf das häufige Vorkommen der Motive Garten und Park um die Jahrhundertwende. Beide Motive könne man »von ungefähr 1890 bis 1914 als eine bevorzugte Szenerie«18 betrachten, die sich für das l'art pour l'art der Fin de stec/e-Kunst besonders gut eigne. In Wien um 1900 sind die Parks und Gartenanlagen in die Urbanen Lebensabläufe integriert. Als die typische Form des Gartenmotivs in der Wiener Moderne kann das künstlich gestaltete Naturreservoir in oder nahe der Stadt gesehen werden. Hugo von Hofmannsthal beschreibt in seinem Essay »Gärten« das Gebiet Groß-Wiens - »von Baden im Süden bis zu jener Donauecke im Norden, auf der Klosterneuburg thront« - als »ungeheure[n] Garten, zusammengesetzt aus Tausenden von kleinen Gärten und aus wilden, aber gartenhaften Hügeln.«19 Ein gutes Beispiel für das Spiel mit künstlichen Elementen in natürlicher Umgebung und das Ineinandergreifen von Natürlichem und Künstlichem findet sich in Richard Beer-Hofmanns 'Tod Georgs'. Die hier beschriebenen Eindrücke eines Spaziergangs im Schloßpark von Schönbrunn verdeutlichen, wie zentral beide Bereiche für die Evokation einer typischen Fin de sifecle-Stimmung sind: In fahlem Gelb zog sich der steile Wiesenhang herab, jäh abgeschnitten durch die steinerne modergrüne Rückwand des Neptunbrunnens. 20
Mit der Brunnenrückwand wird ein künstliches Element in die Landschaftsbeschreibung eingeführt, das sich, weil es schon von grünem Moos überzogen ist, in die Endzeitstimmung des Parks einfügt. Die Metamorphose des künstlichen Materials verweist auf die Vergänglichkeit des Brunnes; dieser wird, weil er ein Beispiel, allerdings früherer, ästhetizistischer Kunst21 ist, zum Symbol für die Situation solcher Kunst in der Moderne. Außerdem schmückt er - als Ikone vergangener Schönheit - die Aura, in der Paul, der Protagonist der Erzählung, melancholisch
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Koebner 1978, S.141. Vgl. Schorske 1982, S.286 (= Schorske 1966-67, S.1303) und Nethersole 1989, S.109ff. Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.577. Zum Vordringen der Stadt in die Natur vgl. folgendes Zitat aus dem gleichen Essay; bemerkenswert ist, daß das Paradigma einer künstlichen Welt in den Augen der Decadence, die Großstadt, hier Natürliches - in Form von Gärten - konservatorisch in sich aufnimmt: »Die große Stadt entledigt sich nicht mürrisch und amtsmäßig der hygienischen Verpflichtung, kleine Flecke von Grün in ihren graugelben Gesamtaspekt aufzunehemen, sondern sie wühlt ihre Ränder mit Lust in das Bett von endlosen natürlichen Gärten und gartenhaften Hügeln, in denen sie liegt, und ist entzückt, wenn an zwanzig Stellen in ihr neue Büschel von Grün und Farbe aufbrechen.« (a.a.O.). Beer-Hofmann 1980, S.94. Es handelt sich um den 'Neptunbrunnen' (1780) von Franz Anton Zauner.
seinen Erinnerungen nachsinnt. Die unwiederbringliche Welt des josephinischen Wiens korrespondiert mit der nicht rekonstruierbaren Erinnerungswelt Pauls, in der er sich solipsistisch bewegt. Die Zukunftslosigkeit des Ästhetizismus verweist ihrerseits auf die Perspektivlosigkeit der egomanischen Gedankenwelt des melancholischen Spaziergängers. Die ganze Beschreibung der Parkimpressionen lebt vom Dialog artifizieller und natürlicher, toter und lebendiger Insignien, die zusammen diese melancholische Aura herstellen: der dunkle »Tannenhintergrund« wird durch »Hippocampen gesprengt«, und »braune Blätter« schwimmen in einem Wasserbecken mit »großen Goldfischen«22, in dem der Held narzißtisch nach seinem alter ego sucht.23 Das zweite wichtige Refugium künstlich angelegter Natur innerhalb der Wiener Moderne - der Moderne überhaupt - ist das Treibhaus24: Ort der Sehnsucht nach exotischer Natur jenseits der Alltäglichkeit (paradis exotique) und künstliches Paradies {paradis artificiel). Das häufige Vorkommen von Glashäusern in der europäischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht deutlich, daß sich die Wiener Moderne bei der Aufnahme dieses Motivs innerhalb eines durchaus nicht neu initiierten Diskurses befindet. Baudelaire in den 'Fleurs du mal', Huysmans in Ά rebours', Fontane in 'L'Adultera' und Mathilde Wesendonk in dem von Richard Wagner als Vorstudie zu 'Tristan und Isolde' vertonten Gedicht 'Im Treibhaus' errichten ein Ambiente »unter Palmen«25, das die Literatur der Wiener Moderne aufgreift und umgestaltet. Im Jahr 1898 erschienen in der Wiener Rundschau Maurice Maeterlincks Gedichte 'Treibhaus' und 'Taucherglocke' in der Übersetzung von Lothar Ammer.26 Gleich ist in beiden Gedichten ein bemerkenswertes Verhältnis des Beschreibenden zu sich selbst und einer verdoppelten Umwelt innerhalb und außerhalb des Glashauses. Diese Verhältnisse lassen drei Ebenen entstehen: das Innenleben desjenigen, der beschreibt, den Innenraum der gläsernen Behausung und die Außenwelt.
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Alle Zitate: Beer-Hofmann 1980, S.94. Zum Narziß-Motiv bei Beer-Hofmann vgl: Kapitel 3.c) und Hank 1984; zum gleichen Motiv um 1900 allgemein vgl.: Zürcher 1975 und Wunberg 1986, S.109ff. Zum Motiv 'Treibhaus' vgl.: Bauer 1979 und Heide Ellert: 'Im Treibhaus'. Motive der europäischen Dicadence in Theodor Fontanes Roman 'L'Adultera'. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 1978. S.496-517. Theodor Fontane: Nymphenburger Taschenbuchausgabe in 15 Bänden. München Neuausgabe 1978. Bd.6. S.67. Vgl. Baudelaire 1980, S.232 ('Une Martyre'); Huysmans 2 1989, S.185ff.; Mathilde Wesendonk: Im Treibhaus. Abgedruckt in: Richard Wagner: Richard Wagner an Mathilde Wesendonk. Tagebuchblätter und Briefe 18531871. Hg.v. Wolfgang Golther. Leipzig 1918. S.14-19 (auch in: Jens Malte Fischer 1978, S.117). Maurice Maeterlinck: Gedichte in Prosa. Übersetzt von Lothar Ammer. In: Wiener Rundschau 3.1898-99. S.537f.
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Beim Gedicht 'Taucherglocke' tritt - wenn man will - als vierte Ebene noch die Landschaft außerhalb des Meeres hinzu. Diese Ebenen werden von Maeterlinck genutzt, um Reflexionsvorgänge zu zeichnen. Ο Treibhaus inmitten des Waldes mit deinen stets geschlossnen Thüren ... Und was deine Kuppel Alles birgt! Dinge, die mich an meine Seele mahnen:27
Das Glashaus reproduziert die Sehnsüchte und Ängste einer kranken Seele; es wird zum Synonym für Morbidität und Ausweglosigkeit. Hoffnung bietet die Öffnung des Glashauses: Mein Gott, mein Gott, wann kommt Regen, Schnee und Wind in das Treibhaus!28
Ähnliches gilt für den Taucher: das, was er sieht, ist nicht das Eigentliche; er ist »gebannt [...] in dieses Meer von ewig warmem Glas«, während »draussen im klaren Wasser [...] so reges Leben«29 herrscht. Die Taucherglocke grenzt die Schrecken draußen aus, die Wahrnehmungen deijenigen, die der Ohnmacht oder dem Tode nahe sind. Der Taucher sieht nicht die trostlose »Landschaft, die der Kindheit einer Waise gleicht«. Er kann vielmehr, abgeschirmt durch Glas, eine traumhafte Welt der »unterseeischen Wälder«, der »Wale«, der »blauen Asphodelen und violetten Albuminen«30 wahrnehmen; in seinen Unterwasser-Wahrnehmungen gibt es keine »Gärten des Hospitals«, keinen »Garten des Gefängnisses«.31 Die Landschaft in vitro entspricht nicht der 'Realität' des Lebens draußen. Sie ist mit einem 'Kunsterlebnis' vergleichbar, weil sie nur als künstlich vermittelter Lebensraum aus geschönter Distanz für den Tau-
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A.a.O., S.537. Die nächsten Strophen des Gedichts lauten: »Die Gedanken einer Prinzessin, die Hunger quält, / die Verzweiflung eines Seemanns in öder Wüste / Trompetenmusik an den Fenstern von unheilbar Kranken. // Geht in die schwülsten Winkel! / Dort meint man, es liege ein Weib in Ohnmacht an einem heissen Schnittertag, / Postilions durchlaufen den Hof des Hospizes; / fem geht ein Krankenwärter vorbei. // Ο seht, seht im Mondlicht! / »Nichts ist an seinem Platze!« / Man meint, eine Wahnsinnige steht vor den Richtern, / ein Kriegsschiff passiert, die Segel gebläht, den Canal, / Nachtvögel wiegen auf Lilien, / ein Todtenglockenschlag um Mittag, / ein Krankenzug in der Wüste, / ein Ätherduft an einem Tag voll brennender Sonnenglut ...«(a.a.O.) A.a.O. (Zitat schließt als letzte Strophe an Text in Anm. 27 an.) A.a.O., S.538. A.a.O. vgl. a.a.O.
eher erfahrbar ist. Der begrenzte Raum der Taucherglocke, der eine Welt der unbegrenzten 'natürlichen' Schönheit sichtbar machen kann genauso wie das Treibhaus - , läßt für Augenblicke die begrenzten Räume der Welt 'draußen* vergessen. Das Treibhaus und die Taucherglocke können so - wie das belagerte Bologna in Schnitzlers 'Schleier der Beatrice' oder wie der Garten des Tizian-Hauses in Hofmannsthals 'Der Tod des Tizian'32 - als Metapher für die Kunst des l'artpour l'art, für das ästhetizistische Gebaren der avantgardistischen Fin de siöcle-Künstler gelesen werden. Auch in Hofmannsthals 'Märchen der 672.Nacht' steht das Glashaus für den ästhetizistischen Solipsismus des Protagonisten, dessen Blick egomanisch alles zu 'verschönen' sucht, wie Lawrence O. Frye kürzlich bemerkt hat.33 Beim Spazieren durch die Treibhäuser der Gärtner am Ufer eines Flusses sucht der »Kaufmannssohn« nach einer Blume, die ihm einen ähnlichen Reiz geben könnte, wie »die Schönheit seiner Dienerin«. Was er in den exotischen Blumen schließlich findet, ist nicht das sehnsuchtsvoll erhoffte Antlitz der jungen Frau; er erinnert sich vielmehr an Verse eines Dichters, die offenbar seine Situation beschreiben: In den Stielen der Nelken [...] erregtest du meine Sehnsucht; aber als ich dich fand, warst du es nicht, die ich gesucht hatte, sondern die Schwestern deiner Seele. 34
In der ästhetizistisch erfahrenen Schönheit der Blumen im Glashaus offenbaren sich nur die Abgründe der eigenen Seele, der 'Schwester deiner Seele'. Das Motiv des Glashauses wird später wieder als Spiegelmetapher aufgegriffen. Bei seinem 'traumatischen' Gang durch fremde Stadtteile besichtigt der Protagonist stille Glashäuser in einem kleinen Garten hinter einer kleinen »Gittertür«; er erblickt in dieser ästhetizistischen Kunstwelt par exellence eine »Fülle merkwürdiger Narzissen und Anemonen«35 - Blumen, die einerseits auf seinen eigenen Narzißmus, andererseits auf sein exotistisches Schönheitsverlangen verweisen. In diesen Glashäusern sieht der Kaufmannssohn dann - hinter Glas, also wie in einem Spiegel - ein blasses Kindergesicht, ein »kleines Mädchen«.36 Diese Szene spielt auf seine Sehnsucht nach der schönen Dienerin an, die
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Vgl. dazu Kapitel 2.b). Vgl. Lawrence O. Frye: 'Das Märchen der 672.Nacht' von Hofmannsthal. Todesgang als Kunstmärchen und Kunstkritik. In: ZfDPh 108,4-1989. S.538f. Vgl. auch die Interpretation von Waltraud Wiethölter (Wiethölter 1990, S.23-46). Zum künstlichen Lebensraum des Kaufmannssohns vgl. auch Weinhold 1977, S. 19-21 und den Abschnitt 'Interieurs und Exterieurs'. Alle Zitate: Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.51. A.a.O., S.55. A.a.O., S.56.
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er ausdrücklich abhebt von jeglichem erotischem »Verlangen«. Es wundert deshalb kaum, daß er im Kindergesicht schließlich gleichzeitig auf seine Kindheit, »sein tückisches Ebenbild«37 und antizipatorisch auf seinen Tod blickt.38 Hofmannsthals 'Märchen' weist in vielen Punkten Ähnlichkeiten mit Des Esseintes Treibhauserfahrungen und seinem 'Blumen'-Traum im achten Kapitel von Ά Rebours' auf. Auch er besucht außerhalb liegende Glashäuser von Blumenzüchtern - zuerst, um ungewöhnliche Blumen, dann, um Vorbilder für seine 'fleurs factices' zu finden. Blumen erinnern auch den 'klassischen' Decadent an die »horreurs«39 seiner Kindheit; er sucht auch in ihnen die ästhetizistische Erfahrung weiblicher Schönheit jenseits körperlicher Unreinheit, die hier durch die Schreckensvisionen der personifizierten Syphilis40 symbolisiert wird. Auch Des Esseintes flüchtet angsterfüllt durch verschiedene wie in einer Traumsequenz aneinander sich anschließende Räume. Bei Hofmannsthal und bei Huysmans werden schließlich die Hufe eines Pferdes zum zentralen Symbol von Sexualität und Tod.41 Im bekanntesten 'Treibhaus'-Gedicht der Wiener Moderne, Felix Dörmanns 'Im Palmenhaus', ist von einer Reflexion auf die ästhetizistische Existenz, wie man sie implizit in Huysmans Ά Rebours' und Hofmannsthals 'Märchen' findet, nichts zu spüren. Trotzdem ist es interessant: es zeigt - wie schon erwähnt - sehr deutlich die Abhängigkeit der Wiener Moderne von vorgegebenem Bildmaterial und evoziert in bemerkenswerter Weise die schwüle Stimmung der Decadence. Aber auch in Dörmanns Gedicht ist das Treibhaus kein Ort einer verherrlichten Künstlichkeit, sondern Anlaß für Sehnsüchte und Träume. Es war im Palmenhaus; die feuchte Luft, Von Blumendiinsten schwer, umspielte laulich In weichen Wellen unser beider Haupt. [...] Und leise rauschten dann die Fächerpalmen, Und Asiens wunderliche Riesenblumen, Von dunkelgrünem, satten Laub umspielt, Sie nickten langsam, wie Pagodenhäupter, Und schwergewürzte Glutarome rannen In die europamüden Schwärmerseelen ,.. 42
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A.a.O., S.62. Vgl. a.a.O. S.56ff. Huysmans 2 1989, S.192. Vgl. a.a.O., S.196: »Et aussitdt il comprit le sens de l'6pouvantable vision. II avait devant les yeux l'image de la Grande V6role.« Vgl. Huysmans 2 1989, S.195-197, Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.61. Dörmann 1892, S.34 ('Im Palmenhaus')
Dörmanns Gedicht auf ein Palmenhaus - gemeint ist wohl das 1883 eröffnete 'große Palmenhaus' in Schönbrunn - formuliert gerade nicht die Freude an der lebensfremden Künstlichkeit, die Richard Wagner anspricht, wenn er ein »tropisches Gewächs im Wintergarten« als Paradigma eines sich gegen die »Athmosphäre der Wirklichkeit abschliessend[en]«43 Kunst-Lebens ansieht; für ihn ist die Vorliebe für Künstlichkeit Teil seines ästhetizistischen Lebenskonzepts. Dörmann sieht im Palmenhaus zuerst einmal die Pflanzen, die schweren Düfte, das leise Rauschen der Blätter und die lauen Winde, einen Ort also, der alle Sinne mit fremden, aber nicht artifiziellen Erfahrungen berauscht. Er greift mit dem 'Palmenhaus' - einem beliebten Gegenstand der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts44 - auch ein durchaus bekanntes literarisches Sujet auf. Jens Malte Fischer weist »Übereinstimmungen«45 mit Mathilde Wesendonks 'Treibhaus'-Gedicht nach. Die »Fächerpalmen« und fremdartigen Blumen könnten Hans Makarts Atelier oder den großbürgerlichen Salons entstammen.46 Sein Gewächshaus ist aber kein paradis artificiel im eigentlichen Sinn, sondern ein Refugium exotischer Träumereien. Seine Landschaft hinter Glas meint den Traum einer neuen unmittelbaren Natürlichkeit, die ihrerseits allerdings - mitten in Wien - naturfremd erdacht ist: nichts anderes also als den Traum des Exotismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eine offensichtlich sehnsüchtig gestellte Frage beendet das Gedicht des Jung-Wieners: »Wo bist du, meine ferne Südseeinsel?«47 Das Possessivpronomen 'mein' und das Adjektiv 'fern' kennzeichnen die Irrealität dieser Naturutopie. Der Südseetraum Dörmanns bleibt Zitat jener insularen Wunschlandschaft, die seit Johann Gottfried Schnabels 'Insel Felsenburg', Forsters Ό-Tahiti'-Reise und zahlreichen Robinsonaden Eingang in die deutsche Literatur gefunden hat.48 In diesem Gedicht wird das Glashaus nicht als Ort verbotener Sehnsucht beschrieben, als - mit Roger Bauer - »Garten des Bösen«49 oder als »Bild und Zeichen für seltne
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Richard Wagner: Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882. Hg.v. Joachim Bergfeld. München, Zürich 1988 ['1975]. S.44 (Eintragung vom 19.8.1865). Vgl. etwa Karl Blechen: 'Das Palmenhaus auf der Pfaueninsel', Berlin, um 1832 und Kapitel 2.b). Jens Malte Fischer 1978, S. 117. Vgl. a.a.O., S.118. Vgl. dazu: Rudolf v. Alt: 'Das Atelier Makarts', 1885 und Werner Hofmann 2 1974, S.98ff. Dörmann 1892, S.35 (= Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S. 361). Hierzu vgl. Kapitel 2.a), 2.c) und Ralph-Rainer Wuthenow: Das Bild und der Spiegel. Europäische Literatur im 18.Jahrhundert. München 1984. S.25-39 u. S.210-211 ('Inselglück. Reise und Utopie in der Literatur des 18.Jahrhunderts'). Bauer 1979, S.3. Bauer weist darauf hin, daß das Treibhaus »keine ursprünglich negative Chiffre« (S.4) ist.
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Wollust, frevlen Traum«50, wie es 1904 in einem Gedicht des Elsässers Ernst Stadler heißt, sondern mit, wenn auch etwas naiven, positiven Konnotationen belegt: als Fluchtraum vor dem Leben.51 Neben der Naturerfahrung »comme en une serre«52 bietet sich für die Wiener Moderne auch die ländliche Umgebung selbst als Refugium der Erholung an. »Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos«53 erhält ihren Reiz durch die eigentümliche Melange aus landschaftlichen Reizen und Urbanen Verhaltensformen.54 Als das Besondere einer Landpartie kann man die spielerische und durch vorgegebene Normen kanalisierte Aneignung der Natur ansehen. Man hat es hier also ebenfalls wenn auch auf andere Weise als bei Glashaus, Park und Garten - mit einem Ineinandergreifen künstlicher und natürlicher Bereiche zu tun. Das Landschaftserlebnis selbst ist dabei nicht ausschließlich dem Gebiet des Natürlichen zuzuschlagen, ist es doch ein primär ästhetisches Produkt und enthält - im Rahmen einer typischen Landpartie - Zeichen distinguierter Künstlichkeit. Peter Altenbergs Skizze 'Landpartie' von 1898 verdeutlicht das: Dann stiegen sie in den Wagen und fuhren in den frischen Morgen hinein . Frisch war der Morgen, frisch . Der junge Mann sang: 'Den Finken des Waldes die Nachtigall ruft — , von Geigenstrich hallt es goldrein durch die Luft - ' [...]'Singen Sie die letzte Strophe: 'Auf blumiger Höh' .' Er schwieg und blickte in dieses süße, geliebte Anlitz . Sie lächelte — . Dann sah sie gleichgültig in die Natur. Mit der konnte man nicht spie55 len. Die war kalt gelassen und lächelte selbst
Das Sprechen über die Landschaft, das Singen von der schönen Natur gehört zum 'Spiel', zum Diskurs 'Landpartie'. Die tatsächlich wahrgenommene Landschaft findet nur über den Erzähler Eingang in den Text, ist aber für die Protagonisten zweitrangig; ihnen geht es um ihr Verhältnis
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Emst Stadler: Im Treibhaus. In: Emst Stadler: Der Aufbruch und ausgewählte Gedichte. Auswahl v. Heinz Rölleke. Stuttgart 1981. S.64. Auch Peter Altenbergs Prosaskizze 'Frühlingsanfang' faßt das Schönbrunner Glashaus als Ort südlicher Sehnsucht; allerdings ersetzten ihm die »tropischen Wälder« des Treibhauses die tatsächliche Reise; es wird zum vollendeten Surrogat: »Hier befindet man sich im 'tropischen Amerika.'« (Peter Altenberg: Frühlingsanfang. In: Kosler (Hg.) 1984, S.29) Baudelaire 1980, S.232. Dieter Mayer: Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos bei Fontane und nach der Jahrhundertwende. In: Michael Krejci et al. (Hg.): Literatur, Sprache, Unterricht. FS Jacob Lehmann. Bamberg 1984. S.63. Vgl. a.a.O., S.65. Altenberg 1977, S.230 ('Landpartie').
zueinander, um das Inszenieren eines konventionsgebundenen Spiels. Die brüchige Kommunikation der Wiener society - Hauptthema etwa von Hofmannsthals spätem Drama 'Der Schwierige'56 - wird zum zentralen Skopus des Textes. Die Landschaft wird in dieses 'Gesellschaftsspiel', in die »liebenswürdige Konversation«57 miteinbezogen: Nicht die Beeren allein sind schön, sondern die Beeren und ihre Namen, so wie sie der junge Mann ausspricht: »Berberitzen, Weinscharl —«, 5 8 Der Text skizziert die Landschaft stichwortartig, um zu charakterisieren, wie sie den Reisenden vielleicht für kurze Augenblicke erscheinen mag, und er konfrontiert sie mit den dekadenten Attitüden dieser großbürgerlichen Welt, mit ihrer Sprache, ihrer Wahrnehmungsweise und ihrem Verhalten. Diese Leute sind in Wien geblieben - die Landpartie ist eine »Reise am Ort«59, wie Gisela von Wysocki bemerkt. Dabei hegt der Text keinen Anspruch auf Plastizität oder Vollständigkeit; impressionistisch werden Erlebnismomente aneinander gereiht: Wiesen, Wiesen . Irgendwo begann ein Zaun und grenzte Sumpf ab . Plötzlich lag der See da, milchblau, mare austriacum Man stieg aus. Man badete im See und dinierte auf der Terrasse . Spätabends war die Rückfahrt. Alle nahmen Plaids. 60
Auch Arthur Schnitzler thematisiert die »Partie«.61 In seinem Roman 'Der Weg ins Freie' schildert er eine Radtour der jungen Intellektuellen Georg, Heinrich und Leo, bei der sie zur Rast an ein Wirtshaus kommen. Ironisch beschreibt er einen alldeutschen Radklub, der sich dort, in einer Mischung aus früher Jugendbewegung und Burschenherrlichkeit, der Natur hingibt: Mächtig, aber nicht sehr rein tönte ein Chorlied zum Himmel auf: 'Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.' 62
Hier ist es nicht, wie bei Altenberg, die society, die sich das Naturerlebnis inszeniert, sondern ein 'vaterländischer' Verein. Das »zum Himmel« tönende Lied von Ernst Moritz Arndt über Gottesfurcht und Kameradschaft vollendet die körperliche Ertüchtigung der jungen Männer, die
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Vgl. etwa Hofmannsthal 1979, Bd.4, S.437. Altenberg 1977, S.231. A.a.O. Gisela von Wysocki: Peter Altenberg. Bilder und Geschichten des befreiten Lebens. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt 1986. [München '1976] S.14. Altenberg 1977, S.231. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.4 ('Der Weg ins Freie'), S.87. A.a.O., S.86.
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»nach Wolle und Schweiß«63 duften und als Boten einer 'anderen' Moderne, einer fremden Welt Rastplatz und Landschaft in ihrer Weise okkupieren: »Der Radfahrklub sauste über die nahe Straße [...] und ein rohes Lachen schallte über die Wiese.«64 Dieses, aus der Sicht des Radklubs, unmittelbare, heimatliche Naturerlebnis konfrontiert Schnitzler mit einer Diskussion zwischen Heinrich und Leo über das Verhältnis der Juden zu Heimat und Vaterland. Trotz heftiger sachlicher Kontroversen endet der Tag harmonisch. Die Landschaft strahlt eine friedliche Ruhe aus.65 Als Ausgangspunkte der Beschreibungen, sofern sie als Erfahrungen der Protagonisten gekennzeichnet sind, können häufig Orte ausgemacht werden, die sich als Grenze zwischen einer natürlichen und einer künstlichen Umgebung charakterisieren lassen: der Blick von der Terrasse, wie in der eben erwähnten Passage aus Schnitzlers Roman, durch ein Tor, wie zu Beginn von Hofmannsthals Prolog zu Schnitzlers 'Anatol66 oder in Beer-Hofmanns früher Novelle 'Das Kind' während Pauls Aufenthalt im Landgasthaus67, aus dem fahrenden Zug wie in Beer-Hofmanns späterem Roman 'DerTod Georgs'68 oder durch ein'Fenster.69 In Max Messers Erzählung 'Fanny' erscheint das Fenster zwischen dem Schlafzimmer der Protagonistin und dem Garten als der zentrale Bezugspunkt. Es bezeichnet die Grenze zwischen quälenden Erinnerungen, die an das Bett, die Hitze und die Nähe des Ehemannes gebunden sind, und Sehnsüchten, die Fanny mit der kühlen Gartenluft verbindet: Sie konnte nicht schlafen. Hätte sie sich [...] abkühlen oder sich am halboffenen Fenster hinauslehnen [dürfen]: Es war ja eine warme Sommernacht. Sie erschrak vor dem Gedanken ... 70
Als Fanny schließlich doch zum Fenster geht und den Garten mehr spürt als sieht, gleicht der Blick hinaus einer Befreiung. Interessant an dieser wenig bekannten Erzählung Messers ist die Handhabung des style indirect libre. Die Thematik erinnert an das - gleichwohl grandiosere Schlußkapitel des 'Ulysses' von James Joyce, an Molly Blooms Inneren Monolog:
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A.a.O. A.a.O., S.91. Vgl. a.a.O., S.95f. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.59. Vgl. Beer-Hofmann 1893, S.73ff. ('Das Kind'). Vgl. Beer-Hofmann 1980, S.55ff. Zum Motiv des 'Fensterblicks' vgl. Brüggemann 1989. Max Messer: Fanny. In: Wiener Rundschau 2.1898. S.307.
Mit ein paar Schritten war sie dort und öffnete das Fenster ganz. Da knackte es. Ihre Seele schrie vor Angst. Wie hatte sie das wagen können? Was für Tollheiten fielen ihr heute ein? Wenn, wenn ... Aber der Mann hörte nichts, heute schlief er fest und gut. Sie lehnte sich aus dem Fenster. Die Nacht war so dicht, dass sie nichts vom Garten wahrnehmen konnte. Durch das schwarze Laub der Bäume glitzerten ein paar gelbe Funken. Ihr Hemd war wie ein grauer Schatten um sie. Die Luft war weich und kühlte ihre heisse Haut langsam. Es schien ihr, als könnte sie ihren Kopf an sie lehnen. Ah--.71
Die Unterdrückung durch ihren Mann - sie muß ihn zum Beispiel anund auskleiden, »als wäre sie sein Stiefelknecht«72 - parallelisiert der Text mit der drückenden Enge im gemeinsamen Schlafzimmer, den Blick aus dem Fenster mit möglichen Perspektiven der Protagonistin. Tatsächliche Erleichterungen im physischen Bereich (ihre Abkühlung) entsprechen solchen im psychischen. Durch die ganze Erzählung zieht sich das Motiv des Gartens als Hort der Sehnsüchte Fannys. Ihr Aufenthalt dort führt sogar zu Auseinandersetzungen mit ihrem Mann, von denen in den Erinnerungen während der durchwachten Nacht berichtet wird. In Max Messers Erzählung geht es aber nicht nur um eine Reformulierung des romantischen Motivs von der 'freien' Natur, obwohl darauf sicherlich auch angespielt wird, sondern auch um eine - textimmanent begründbare - psychologisch notwendig aufgebaute Gegenwelt73 und als solche wirkt sie interessanterweise viel eher konstruiert oder 'künstlich' als das Schlafzimmer Fannys; auch das »rührselige Motiv vom 'Trost in der Natur' klingt [...] nicht auf«.74 Alfred Polgars Satz über Peter Altenberg gilt für Messers 'Fanny' und viele Werke der Wiener Moderne. Festhalten kann man, daß die Jung-Wiener vornehmlich solche Raumtableaus entwerfen, die das Spiel mit natürlichen und künstlichen Elementen erlauben oder zumindest die Künstlichkeit der Naturrezeption - die 'Inszenierung', die oft das zentrale Anliegen ist - freilegen. Trotzdem drückt ein so in Szene gesetztes Naturerlebnis ein vorhandenes Bedürfnis nach Natur aus; es handelt sich hierbei weder um dekadente Naturfeindlichkeit noch um ein neuromantisches 'Zurück zur Natur' im Sinne der kulturkritischen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, die von den Jung-Wienern noch nicht zur Kenntnis genommen werden konnten und später nur sehr marginal rezipiert wurden.75 Durch eine
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A.a.O., S.309. A.a.O., S.308. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.b) und c) dieser Arbeit. Alfred Polgar: Peter Altenberg [Nachruf Π]. In: Alfred Polgar: Kleine Schriften. Hg.v. Marcel Reich-Ranicki. Reinbek 1984. Bd.4. S.U. Vgl. hierzu Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegung nach der Jahrhundertwende. München 1987. Eine Nähe zur Reformbewegung
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»raffinierte Kombinatorik von Natürlichkeit und Künstlichkeit«76 schafft die Wiener Fin de sifecle-Literatur auf verschiedenen Ebenen deutbare Räume für ihre zentralen Probleme: Ästhetizismus, Leben und Tod, Psychologie und Sprache. Auf einige dieser Konnotationen kommt die Arbeit in den nächsten Kapiteln zurück. Die Sensibilität der Wiener Moderne für eine solche Interpretierbarkeit der Räume wird bemerkbar im Fin de izecfe-Diskurs über Exterieurs und Interieurs, für den die Wahrnehmung von Räumlichkeit in ihrer bewußten ästhetischen Ausgestaltung und deren von gleichen Kriterien geleitete Einbindung in größere Zusammenhänge zentral wird. Das Motiv der 'toten Stadt' Im Rahmen der Interpretierbarkeit von Räumen mit Hilfe der Antagonismen Künstlichkeit und Natürlichkeit ist auch das Fin de sidcle-Motiv der 'toten Stadt' zu diskutieren.77 Anhand der Verwendung dieses Motivs in der Wiener Moderne kann noch einmal exemplarisch die ambivalente Bestimmung von natürlichen und künstlichen Elementen in Raumevokationen verdeutlicht und auf den Zusammenhang mit der oben ausgeführten Historismus-Problematik hingewiesen werden. Die Wahrnehmung eines Ortes als 'tote Stadt' impliziert den Gegensatz zwischen einem lebendigen Wahrnehmenden und der als tot diagnostizierten Räumlichkeit. Eine 'tote Stadt' existiert nicht an sich. Sie wird innerhalb des Fin de siecle-Diskurses über künstliche - lebensferne - Welten betrachtet, oder besser: 'gelesen'. Die Entschlüsselung ihrer Signifikanten ist dabei auffällig negativ bestimmt: das Motiv der 'toten Stadt' schreibt sich vor allem über antivitalistisch und antimodern apostrophierte Tableaus in die Literatur der Jahrhundertwende ein. Die Gestaltung des Motivs der 'toten Stadt' setzt den Blick in etwas Fremdes, nur fremd Erlebbares voraus; es dient eo ipso der Abgrenzung und damit häufig der Konturierung einer modern verstandenen eigenen Welt oder umgekehrt - wie es Johnston formuliert - der Konstruktion eines »Bollwerk[s] gegen Veränderungen«.78 Das Motiv der 'toten Stadt' in der Wiener Moderne kann deshalb auch im Zusammenhang der HistorismusProblematik interpretiert werden.
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bestand allenfalls bei Altenberg, Herzl, beim Kreis um Schönberg und um die Zeitschrift 'Ver Sacrum'. Haupt 1983, S.23. Zum Motiv der 'toten Stadt' vgl. besonders: Hans Hinterhäuser: Fin de Sifecle. Gestalten und Mythen. München 1977. S.45-76 ('Tote Städte') und Koppen 1973, S.214-247 ('Tödliches Venedig'); zum geistesgeschichtlichen Kontext vgl. vor allem Praz 1963. Johnston 1974, S.175.
Für die hier diskutierten Texte gilt dabei folgender allgemeiner Befund: Zwei Formen des Motivs der 'toten Stadt' sind unterscheidbar; es finden sich erstens Evokationen sterbender, d.h. verfallender, ihrer Funktion beraubter Räume und zweitens Darstellungen von Räumen für Sterbende bzw. im Grunde schon Gestorbener (Fin de sifecle-Stichwort: 'lebendige Tote'). Aus dieser Bestimmung wird ersichtlich, daß dem Motiv 'tote Stadt' durchaus ein prozeßhaftes Moment inhärent ist. Die 'tote Stadt' ist eigentlich oft eine 'sterbende Stadt'. Die beiden Formen des Motivs vermitteln räumlich in verschiedenen Facetten eine historistische Situation79: im Arrangement der 'toten Stadt' zeigt sich zum einen die Relativität der eigenen Situation, weil im Blick auf den toten Lebensraum oder die 'lebendig-gestorbenen' Bewohner die modernen Lebensverhältnisse in ihrer Bedingtheit deutlich werden; zum anderen offenbart die 'tote Stadt' einen obsolet gewordenen Raum, der, im Extremfall, seiner Funktion als lebendiges Zentrum beraubt und bloß um seiner selbst willen als an sich vergangener konserviert ist 'konserviert', wie die 'lebendig-gestorbenen' Bewohner einer 'toten Stadt'. Diese entspricht als Örtlichkeit, die ihrer Funktion, dem Garanten für ihre Lebendigkeit, beraubt ist, strukturell dem aus bloßem historischem Selbstzweck erforschten und historistisch konservierten Gegenstand. Weiterreichende Konnotationen der 'toten Stadt' verweisen, wenn die historistische Referenz auf Vergangenes genutzt wird, auch auf das oben beschriebene Phänomen des 'produktiven Historismus'; das Motiv verweist in diesem Kontext auch auf grundsätzliche ästhetische Fragen. Die Literatur des europäischen Fin de sifecle kennt zwei Paradigmen der 'toten Stadt', die von den Autoren des Jungen Wien aufgegriffen werden: Brügge und Venedig. Die Spuren beider Paradigmen in der Literatur der Wiener Moderne80 sollen im folgenden nacheinander ver-
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Der Fin de sifecle-Antagonismus 'Natürlichkeit-Künstlichkeit' kann flir die Beschreibung des krisenhaft erlebten Relativismus und einer sich krisenhaft zeigenden 'Konservierungsmanie' insofern variiert werden, als an die Stelle der 'Künstlichkeit' das verwandte Phänomen 'tote Stadt' tritt, das - wie die Antagonismen selbst - konnotativ genutzt werden kann. Zum Historismus-Problem vgl. Kapitel 2 der 'Voraussetzungen' (Klärung des hier verwendeten Begriffs 'Historismus') und 2.c) in Teil II ('Produktiver* Historismus). In der Wiener Moderne scheinen die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme des Motivs der 'toten Stadt' besonders günstig gewesen zu sein. Das Inszenieren von Begräbnissen, Fronleichnamsfestzügen und Gedenktagen, ja die (rituelle) Beschäftigung mit dem Tod überhaupt gehört zu den bevorzugten Tätigkeiten der Wiener Gesellschaft im Fin de siöcle. Um 1900 »hegte und pflegte der Österreicher eine barocke Vision vom Tode als der Erfüllung des Lebens« (Johnston 1974, S.175; vgl. auch S.175-183). Das Reden über den Tod ist ein zentraler Diskurs der Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende, auch der Künstler der Wiener Mo-
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folgt werden. Abschließend wird das Motiv der 'toten Stadt' in Kubins phantastischem Roman 'Die andere Seite' erörtert. Die bekannteste Hommage an die 'tote Stadt' Brügge ist Georges Rodenbachs 'Bruges-la-Morte' von 1892, die Geschichte eines vereinsamten jungen Witwers mit dem Namen Hugo Viane. Dieser beschäftigt sich vornehmlich mit melancholischen Erinnerungen an seine verstorbene Frau. Hugos Wahrnehmung des toten Brügge als Mischung eines in das Stadtbild projizierten subjektiv empfundenen Verlustschmerzes und der im trüben Herbstlicht gezeichneten Stadt selbst kann als Prototyp der 'toten Stadt' gelesen werden; deshalb sei auf diesen Text vorab eingegangen: So verkörperte die Stadt, die einst auch schön und geliebt gewesen war, den Gegenstand seiner Sehnsucht. Brügge war seine Tote. Und die Tote war Brügge. Ein gleiches Schicksal vereinigte beide. Das tote Brügge war selbst bestattet im Grabe seiner steinernen Grachten, und erstarrt waren die Adem seiner Kanäle, verebbt der große Pulsschlag des Meeres. 81
Hugo bemerkt an anderer Stelle einen »unsichtbaren Zeichenaustausch zwischen seiner Seele und den ewig klagenden Türmen«82 von Brügge. Die Stadt ist für ihn ein lesbarer Text; sie wird als Spiegel seiner Seele und die Seele als Spiegel der trostlosen Türme, Gassen und Grachten Brügges lesbar. Eines Tages begegnet Hugo der Schauspielerin Jane Scott, die seiner verstorbenen Frau ähnlich sieht. Hugo entdeckt im Erscheinungsbild der Schauspielerin Signifikanten der toten Gattin. Jane wird - zur Entlastung seiner trauernden Seele - seine Geliebte, die er mehr und mehr der verstorbenen Frau anzugleichen sucht. Diese Bewältigungsarbeit läßt den Blick auf die tote Stadt in den Hintergrund treten. Er bleibt zwar der
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derne (vgl. etwa Alfred Gold: Aestetik des Sterbens. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.10781082). Die Stadt selbst offenbart dem Betrachter an den verschiedensten Stellen ihre Affinität zum Überlebten, zum Morbiden und zum inszenierten Tod; die monumentale Kapuzinergruft, der riesige Zentralfriedhof, die unzähligen Denkmäler, die gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um 1900 entstehen (bestes Beispiel ist vielleicht das 1907 errichtete Elisabeth-Denkmal im Volksgarten von Ohmann und Bitterlich) und schließlich der unübersehbar 'museale' Chrakter Wiens (vgl. hierzu Kapitel l.b) der 'Voraussetzungen') belegen beispielhaft die Omnipräsenz des Todes im Stadtbild. Interessanterweise ist aber nicht Wien die 'tote Stadt' der Wiener Moderne. Wien ist es bestenfalls indirekt, wenn Orte innerhalb der Stadt oder in der näheren Umgebung stilisiert werden und wenn auf Wien über die Beschreibung klassischer oder phantastisch erdachter 'toter Städte' referiert wird. Rodenbach 1966, S.9 (zeitgenössische Übersetzung von Friedrich v. OppelnBronikowski). A.a.O., S.31.
gleiche, wird aber fortan weniger wichtig.83 Als die Schauspielerin schließlich in der mit Erinnerungsstücken überfüllten Wohnung Hugos das Andenken an seine Frau stört, indem sie sich - die wichtigste Reliquie profanisierend - deren abgeschnittene Haarflechte »wie die Boa eines goldenen Vogels« 84 um den Hals legt, wird sie von Hugo erdrosselt. Von nun an ist »die Stadt [...] wieder verödet«.85 Und Hugo sprach immerfort vor sich hin: 'Tot, tot... Tote Stadt...' Er sagte es mechanisch, mit markloser Stimme. 86
In die Geschichte ist die Beschreibung des »allmählich aussterbenden Beginenklosters«87 eingebettet, das Barbe, die alte Magd Hugos, besucht. Dieser Ort am Rande Brügges ist gleichsam das Herz der 'toten Stadt'. Das von niedrigen Mauern umschlossene Kloster ist eine kleine Stadt für sich in der anderen Stadt, die noch erstorbener ist als jene, so stumm und leer, so ansteckend in ihrer Lautlosigkeit, daß man nur leise den Fuß aufsetzt, nur leise zu sprechen wagt, wie in der Umgebung eines Kranken.88
Diese beiden Blicke auf 'Bruges-la-Morte' - auf die 'tote Stadt' aus den Augen Hugos und auf das 'tote' Beginenkloster als heimliches Zentrum des 'toten' Brügge aus den Augen der alten Barbe - entsprechen grob den zwei Formen der 'toten Stadt', die oben beschrieben wurden. Hugo Viane sieht die Stadt, wie auch seine mit Reliquien an die verstorbene Gattin überfüllte Wohnung, als Hort der Erinnerung, als Anhäufung von Zeichen, die auf eine vergangene (bessere) Welt verweisen. Dies gilt übrigens auch für Jane Scott; sie ist nur als Stellvertreterin seine Geliebte. Die Stadt hat in den Augen Hugos vor allein als konservieren-
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Vgl. a.a.O., S.32. A.a.O., S.85. A.a.O., S.87. A.a.O. A.a.O., S.43. A.a.O., S,42. Dieses eigentliche Zentrum des toten Brügge hebt auch Maurice Barr&s Erzählung 'Les deux femmes du bourgeois des Bruges' ('Die zwei Frauen des Bürgers von Brügge') heraus. Allein der »Klang des Wortes 'Begine'« rufe »das Bild der schlammgetrübten Gewässer hervor [...], diese entlaubten Weiden, den blassen Sonnenschein, der das grelle Rot der Ziegel dämpft, [...] den sanften Hauch des Meeres und die Verlassenheit dieses umfriedeten Asyls«. Auch bei ihm ist die 'tote Stadt' Brügge motivisch verbunden mit der Trauer um eine geliebte Person. Zitiert wurde: Maurice Barres: Vom Blute, von der Wollust und dem Tode. Übers.v. A.v. Kühlmann. Berlin o.J. [1907] S.57f. Die Erzählung 'Les deux femmes du bourgeois des Bruges' erschien zuerst in 'Du sang, de la volupt6 et de la mort' (Paris 1893). Vgl. auch Maurice Barrös: L'CEuvre de Maurice Barrls. Paris 1965-1968. Bd.2. S.50-55.
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des Ensemble Sinn.89 Weil auch er seine Existenz primär aus Erinnerungen rechtfertigt90, kann sie der Spiegel seiner Seele sein. Die Bewohner interessieren ihn im Grunde nicht. Anders ist der Blick der alten Magd (bzw. des Erzählers, wenn er Barbes Besuch der Beguinage verfolgt): Im Kloster finden sich abgeschirmt von der Außenwelt Nonnen und Greise, auch Kinder und arme Familien, die in den leeren Räumen der Anlage in aller Stille leben.91 Nicht die äußere Gestalt des Beginen-Klosters scheint hier die Vorstellung einer 'toten Stadt' nahezulegen, sondern seine Bewohner, die abseits vom 'wirklichen' Leben mehr auf den Tod warten als leben.92 Die Wirkung der romanischen Decadence auf das Motiv der 'toten Stadt' in der Wiener Moderne ist unübersehbar; ein gutes Beispiel hierfür ist Stefan Zweigs 'Brügge'-Feuilleton aus dem Jahr 1904. »Rodenbachs Wirken« hat sich für Zweig »so ganz mit Brügge verknüpft«.93 Er hebt deshalb - wie Rodenbach, aber auch wie Barrls 94 - neben den Grachten, den engen Gassen und dem nicht mehr vorhandenen Hafen, das Beginenkloster als eigentlichen Kern der 'toten Stadt' Brügge hervor. Hier konzentriert sich das »uferlose Meer rätselhafter Erinnerungen«95, von dem die hinsterbende, der Vergangenheit zugewandte Stadt bestimmt wird: Und keine Stadt gibt es wohl, die die Tragik des Todes und des noch mehr Furchtbaren, des Sterbens, mit so zwingender Kraft in ein Symbol gepreßt hat, wie Brügge. Dies fühlt man in den Halbklöstern, den Beguinagen, dahin viele alte Leute sterben gehen, denn was einen die herben Konturen der Straßen am Abend nur ahnen lassen, das zeichnet sich hier in müden, stumpfen, vom Widerglanz des Lebens nur matt erhellten Blicken: daß es ein Leben ohne Hoffnung [...] gibt, ganz versunken in gleichgültiges Zunickstarren zur Vergangenheit.96
Beide Formen der 'toten Stadt' sind auch in Zweigs Charakterisierung von Brügge enthalten: die Beginenklöster als Wohnstätte der Sterbenden auf der einen Seite, das Stadtbild und dessen Zeichen auf der anderen
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Vgl. Rodenbach 1966, S. 3,8, 56. Schon auf der ersten Seite wird Hugo als jemand beschrieben, der »bei trübem Wetter zum offenen Fenster hinaus« träumte, »ganz in Erinnerungen verloren« (a.a.O., S.3). Vgl. a.a.O., S.42f. Auch die alte Magd möchte »ihre Tage im Beginenklöster [...] beschließen« (a.a.O., S.47). Stefan Zweig: Brügge. In: Stefan Zweig: Länder, Städte, Landschaften. Zusammengestellt v. Knut Beck. Frankfurt 1981. S.26. Vgl. auch Zweigs Gedicht 'Brügge' (in: Bethge (Hg.) 1910, S.304). Vgl. hierzu Anm. (88). A.a.O., S.23. A.a.O.
Seite. Beide Formen vermitteln einen 'gleichgültigen' Blick in die Vergangenheit, an der nichts mehr zu ändern ist. Dieser Blick relativiert den Standpunkt und die Bedeutung des Betrachters, er erzeugt - das traditionelle Vanitas-Motiv variierend - ein Gefühl des »Ephemeren und Unbeständigen«.97 Aber er erschließt auch die »großen Vergangenheiten«98, die die Stadt konserviert und die sie auch zu einer »Stadt der Träume«99 werden lassen. Insofern enthält der Blick auf die vergangene Größe auch den Impetus eines 'produktiven Historismus'. Eine interessante Aufnahme des Motivs der 'toten Stadt' findet sich im 'Mauerbach'-Essay von Felix Saiten. Seine Beschreibungen der Klosteranlagen in Mauerbach lassen aus verschiedenen Gründen an die Beginenklöster in Brügge denken. Der Essay beginnt mit der Ortsbestimmung Mauerbachs am Rande Wiens. Durch den Laudoner Wald »führt die schöne, sanft ansteigende Waldstraße nach Mauerbach«.100 Der Wald bezeichnet die Grenze zwischen Weltstadt und Land; beides gehört zum 'Antlitz'101 Wiens. Die Beschreibung des 'Laudonparks' und seines Wasserschlosses, eines schon damals beliebten Ausflugsziels bei Mariabrunn an der Wien, die Saiten dem eigentlichen Thema seines Essays voranstellt, ist deutlich durch Fin de sifccle-Motive geprägt. Schwäne, die sich übrigens auch immer wieder in Brügge-Beschreibungen finden102, Weiden und Weiher konstituieren ein klassisches Jugendstil-Entree. Dieses LandschaftsEnsemble erfährt durch die Beschreibung der 'toten Stadt' (besser: 'Stätte') Mauerbach in gewisser Weise eine Steigerung. Mauerbach ist in Saltens Essay ein einsamer Ort in unmittelbarer Nähe zur Weltstadt, der durch Morbidität und Zerfall bestimmt ist. In Mauerbach, »das jetzt so hübsch außer der Welt liegt«103, teilt sich dem Betrachter die eigenartige Dialektik von Endzeitstimmung ('Fin de siecle') und Veränderung visuell, als Gegensatz von Weitabgewandtheit und immer näher rückender Moderne unmittelbar mit; die städtische Moderne ist, repräsentiert durch die projektierte »'Wienerwald'-Bahn«104, noch nicht bis Mauerbach vorgedrungen. Deshalb findet sich, durch den Wald geschützt, »ein seltsamer und sehenswerter Ort«: das »alte
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A.a.O., S.25. A.a.O. A.a.O., S.27: »Stadt der Träume und des Todes«. Felix Saiten: Mauerbach. In: Saiten [1909], S.171. Die Essaysammlung von 1909, in der 'Mauerbach' zu finden ist, heißt 'Das österreichische Anlitz'. Vgl. hierzu auch Kapitel l.b) der 'Voraussetzungen'. Vgl. a.a.O., S.171. Vgl. auch Rodenbach 1966, S.32 oder Zweig 1910, S.304. Saiten [1909], S.173. A.a.O.
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Karthäuserkloster«.105 Daß Saiten selbst den Vergleich zu den BeginenKlöstern Brügges zieht, verwundert kaum: Und man wird bemerken, daß Mauerbach geradeso schön ist, wie die vielgerühmte Beguinage in Brügge, und ebenso vom Zauber einer wunderbaren, wehmütig lieblichen Stimmung Übergossen, wie die stillen Stätten verrastender Greise in Holland.10*
Auch in Saltens Mauerbach finden sich die beiden oben beschriebenen Formen der 'toten Stadt'. Das Klostergemäuer trägt unübersehbare Signifikanten des Verfalls; wie eine 'gerahmte' Vedute zeichnet es sich selbst als sterbenden Ort: Verwachsene Fresken zieren den kühnen Steinbogen dieses Durchlasses, der eine Vedute auf den weiten Vorhof eröffnet. 107
Im Hof finden sich die betagten Bewohner des Klosters. Mauerbach ist ein Sterbeort: »Wie nah am Tode und am Ende aller Dinge fühlt man sich hier!«108 Saiten bemerkt sowohl an den Gebäuden als auch im Verhalten der Menschen, die dort wohnen, daß Mauerbach zwar ein stiller, vom Tode gezeichneter Ort ist, daß er aber gerade deshalb Geschichte, ja Geschichten konserviert; Mauerbach lebt von seinen Erzählungen, denen seiner alten Bewohner und denen, die sich als Zeichen in die verfallenen Mauern eingegraben haben. Mit einem Hinweis darauf schließt der Essay: Ein paar Schritte weiter hinauf, und man überblickt die Karthause, wie sie eingebettet, im tiefen Wald, mitten in den Bergen hier einsam liegt. Da glaubt man, hier ist Ruhe, und hier steht alles Leben und alles Geschehen stille. Und auf einmal sagt jemand: 'Was man da alles hört!' In Mauerbach ... 109
Landschaft und Bewohner repräsentieren für den Betrachter Vergangenes: individuell erzählte Geschichten und Historisches. Saltens Essay geht es aber nicht um eine möglichst authentische Geschichtsrekonstruktion oder um eine adäquate Beschreibung der Lebensumstände in der Beguinage 'Mauerbach'; das deutet die Formulierung 'was man da alles hört' auch an. Wichtig ist ihm vielmehr, wie er selbst sagt, die »ergreifende Atmosphäre«110, der »Zauber einer wunderbaren, wehmütig
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Alle Zitate: a.a.O., S. 174. A.a.O. A.a.O. A.a.O., S.177. A.a.O., S. 179. A.a.O., S.177.
lieblichen Stimmung«.1" Der Evokation der Stimmung einer 'toten Stadt' dienen letztlich die zahlreichen Hinweise auf die Entstehung des Klosters, auf das noch rekonstruierbare ehemalige Aussehen der Anlage und die heutige Lebensweise der betagten Bewohner. Saltens Blick nutzt diese Referenzen durchaus im Sinn eines 'produktiven Historismus'. Die Novelle 'Die Nächste' von Arthur Schnitzler erzählt - nach Wien versetzt - fast genau die gleiche Geschichte wie Rodenbachs 'Bruges-laMortes': Die junge Therese läßt, als sie in den letzten Oktobertagen stirbt, Gustav, den Protagonisten der Erzählung, vereinsamt zurück. Im Frühjahr, als »oft ein leiser Wind [...] vom Stadtpark den kühlen Duft der ersten Blüten«112 in die enge Wohnung Gustavs trägt, begegnet er »in der Nähe des Volksgartens«113 einer Frau, die »eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte, daß er beinahe erschrocken war«.114 Diese Frau, die auch Therese heißt, entweiht durch ihr Verhalten das Andenken an die Tote: Sie ist eine Dirne. Wie in Rodenbachs Prosa bezeichnet der Beruf die Doppelgängerin schonungslos als schlechtes Plagiat. Auch Gustav ermordet schließlich die zweite Frau, um sich das Andenken an die erste ungetrübt zu erhalten. Das Motiv der 'toten Stadt' ist in Schnitzlers Erzählung allerdings eher indirekt als Gegenbild zu den im Frühjahr lebendig werdenden öffentlichen Gärten Wiens zu eruieren. Am Todestag Thereses im Oktober regnet es. Darauf folgt ein 'fürchterlicher Winter', der Gustav im nachhinein wie »eine lange schwere, dumpfe Nacht«115 erscheint. Von dieser Zeit wird nur berichtet, die 'tot' erlebte Stadt nicht beschrieben. Erst im Frühjahr »fühlte« Gustav, »daß er wieder am Leben war«.116 Dann geht er in den Straßen Wiens, in den öffentlichen Gärten und später sogar auf dem Lande spazieren. Die Enge seiner Wohnung in den einsamen, gedankenschweren Nächten erlebt Gustav immer noch mit einer qualvollen Ängstlichkeit. Die Antagonismen Draußen und Drinnen, Frühling und Winter bestimmen Gustavs Wahrnehmungen. Das Motiv der 'toten Stadt' wird ex negativo mitgeteilt, ohne ausführlich beschrieben zu werden; im Moment der Wiedergeburt in der lebendigen Stadt im Frühjahr erscheint die 'tote Stadt' als Bild einer kaum bewußt erlebten früheren Zeit, als andere Welt oder als dunkle Bedrohung, die in bestimmten Momenten auftaucht. Anklänge an das Motiv der 'toten Stadt' tauchen ein einziges Mal in einer Beschreibung auf interessanterweise kurz nachdem von Gustavs Gedanken berichtet wird,
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A.a.O., S. 174. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.2, S.48. A.a.O., S.55. A.a.O., S.56. A.a.O., S.50. A.a.O.
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sich von der lebendigen Stadt zu entfernen, sich »von allen Freuden der Welt zu verabschieden und [...] in ein Kloster zu treten«.117 Als Gustav Thereses Doppelgängerin am Mordtag besucht, erscheint eine Straße in Wiens Innenstadt als trostloser Ort: Als er in die Wollzeile kam, wehte ihm eine kühlere Luft entgegen. Die Straße, in der ihr Haus stand, lag im tiefsten Schatten und war menschenleer. 118
Diese Anspielung auf das Motiv der 'toten Stadt' verdeutlicht die Hoffnungslosigkeit Gustavs, seine verstorbene Frau durch die Dirne ersetzen zu können, und sie bezeichnet den Ort seiner Mordtat. Hier wird Gustav Therese ermorden, um sich die Erinnerungen an die echte Therese zu erhalten. Auch in Schnitzlers Erzählung ist also das Motiv der 'toten Stadt' mit der Erinnerung an Vergangenes, mit dem Kult um etwas Verlorenes verbunden. Es bezeichnet räumlich die Unwiederbringlichkeit der Zeit mit der Verstorbenen. Die lebendige Stadt im Frühjahr erhält durch den impliziten Bezug auf das Motiv der 'toten Stadt' einen bloß scheinhaften Charakter. Gustavs öffentliches Geständnis am Ende der Erzählung verbaut schließlich endgültig den Weg zurück in die lebendige Stadt; es wird ihn, zwar nicht ins Kloster, aber ins Gefängnis bringen. Bei keinem anderen Ort ist das Motiv der 'toten', der sterbenden Stadt so zum Allgemeingut geworden wie bei Venedig. Die literarischen Beispiele des Fin de Steele für dieses Motiv sind ungeheuer zahlreich und ausgesprochen populär; Rilkes 'Venedig'-Gedichte muß man nennen, dann 'Der Tod in Venedig' von Thomas Mann oder verschiedene Worte Nietzsches zur Musik- und Lagunenstadt. Borchardt, Isolde Kurz ('Nekropolis'), Heinrich Mann, Richard Wagner - die Liste könnte fortgeführt werden.119 Als exemplarisches Werk der romanischen Literatur der Decadence sollte wenigstens Maurice B a n t s 'La mort de Venise' von 1903 genannt werden. Erwin Koppen sieht in Barres' Reisebildern von Vendig »jene Sympathie für Regression, hinfällige Schönheit und Tod gegenwärtig, die für den Decadent typisch ist«.120 Von Hugo von Hofmannsthal stammt das bekannteste Venedig-Bild der Wiener Moderne. Im 'Tod des Tizian' steht das Stichwort Venedig für zwei Welten: für die ästhetizistische des Tizian-Kreises, der von einer Gartenvilla am Stadtrand auf die Lagunenstadt herabblickt, und für eine
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A.a.O., S.62f. A.a.O., S.63. Vgl. hierzu u.a. die Arbeit von Christiane Schenk (Venedig im Spiegel der D6cadence-Literatur des Fin de siecle. Frankfurt 1987), Hinterhäuser 1977, S.51-56 und Koppen 1973, S.214-247. Koppen 1973, S.221; vgl. auch Hinterhäuser 1977, S.51. Vgl. Maurice Barrfcs: La mort de Venise. In: Barres 1965-1968, Bd.7, S.11-59.
Welt aus »Häßlichkeit und Gemeinheit« in Venedig, für Menschen, »die die Schönheit nicht erkennen«. Der Reiz Venedigs liegt für die TizianSchüler in der lebensfremden, ästhetisierenden Betrachtung aus der Ferne; dann gewinnt die von »schwarzer Schatten Blau« umgebene Stadt - gemeint ist das dunkle Wasser der Kanäle - eine eigentümlich stille Schönheit. Ihr Blick macht Venedig zur 'toten Stadt'. Auch für die Bewohner trägt ihre Stadt das Stigma des Todes; allerdings in ganz anderer Weise: in Venedig herrscht der frivole Taumel untergehenden Lebens. Die Pest der Bewohner eröffnet - wie in Poes 'The Masque of the Red Death' - einen letzten, »bacchantisch wilden Reigen«121, ein sterbendes Leben, von dem die Tizian-Schüler zwar wissen, das ihnen aber verschlossen bleibt: Und schwindelnd überkams mich auf einmal: Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die Qual, Der Haß, der Geist, das Blut: das Leben wacht. Das Leben, das lebendige, allmächtge Man kann es haben und doch sein vergessen! 122
Venedig ist im 'Tod des Tizian' nicht nur von 'lebendigen Toten' bewohnt, sondern wird auch von solchen betrachtet. In den Blicken der Tizian-Schüler spiegelt sich verzerrt das Schicksal der Venezianer. Die bloß ästhetisierend distanzierte Betrachtung des Venedig-Bildes »in halbem Traum«123 macht die Lebensferne der Ästheten deutlich. Ihr Venedig-Bild ist das eigentlich 'tote'; für die Bewohner der verfallenden Stadt aber ist Venedig Ort letzter konzentrierter - wenngleich vom Tode gezeichneter - Lebensnähe.124
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Alle Zitate: Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.253. Zum Venedig-Bild Hofmannsthals vgl. zuletzt: Ursula Breymayer: 'Es regt sich ein Heimweh nach Märchenpracht ... ' Venedig-Impressionen um 1900 und in der Dichtung Hugo von Hofmannsthals. In: Grimm, Breymayer, Erhart 1990, S.206-219. Zu dieser Stelle aus dem 'Tod des Tizian' vgl. auch Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.92 ('Siehst du die Stadt?'); dazu zuletzt: Rudolf Schier: Hofmannsthals 'Siehst du die Stadt?' und Wordsworths 'Composed upon Westminster Bridge, September 3, 1802'. In: Resch (Hg.) 1989, S. 139-148. Von Schiers Interpretation ausgehend könnte man auch die Venedig-Bilder im 'Tod des Tizian' als Anklänge an die Verdammnis der Hure Babylon aus der Johannes-Offenbarung lesen (vgl. Schier 1989, S.144). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.253. A.a.O. Ursprünglich sollten die Tizian-Schüler am Ende des Dramas in die von der Pest verseuchte Stadt herabsteigen, um dort »das Leben in der höchsten Zusammendrängung« zu erleben; diese »Lebenserhöhung« ergreift »durch den Tod (die Pest) die ganze Stadt« (Zitate: Hugo v.Hofmannsthal: Brief an Walter Brecht vom 20.2.1929. In: Hugo v. Hofmannsthal, Stefan George: Briefwechsel. München, Düsseldorf 2 1953. S.234). Vgl. hierzu auch Breymayer 1990, S.212.
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Spielten in Hofmannsthals 'Tod des Tizian' beide Formen der 'toten Stadt' - Stadt der Sterbenden und als 'tot' betrachtete Stadt - eine Rolle für die Konstituierung des doppelten Venedig-Bildes, so tritt bei Felix Rappaports 'Venedig'-Gedicht von 1897 das ästhetizistische Bild der 'tot' wahrgenommenen Stadt ganz in den Vordergrund. Venedigs Reiz liegt - für den Betrachter - in der (bloß ästhetischen) Möglichkeit des eigenen Überdauerns: Aus vergessenen Gärten schwül und schwer Ziehen die Düfte, die welken Blüthen entschwellen. Längst gestorben ragt die Stadt aus dem Meer, Weisse Paläste, umklagt von den wiegenden Wellen. - 1 2 5
Durch die Ästhetisierung erhält Venedig eine neue Bedeutung: als ästhetisches Objekt überlebt die 'tote Stadt'. Der ästhetizistische Genuß konserviert 'historistisch' das sonst .Vergessene, das als zweckloses - als 'totes' - Schönes bestehen bleibt. Keine versteckte Energie erhält Venedig am Leben, sondern einzig seine ästhetische Struktur: Nicht die Stürme, die nachts um die Ufer toben, Die versunkenen Dome, du kennst sie nicht. Längst ist aller Wille zum Kampf zerstoben, Kaum ein Laut, der die fluthende Stille durchbricht Aus deiner Tiefen smaragdenem Glanz gewoben, Ragt in steinernen Rhythmen das Gedicht ,.. 126
Nur wenn Venedig als ästhetische Struktur gelesen werden kann, gewinnt es als 'tote Stadt' Leben. Felix Rappaports 'Venedig'-Verse setzten radikal das oben beschriebene Programm eines 'produktiven Historismus' voraus. Die »versunkenen Dome« an sich bleiben für den Betrachter vergessen; als Dome 'kennt er sie nicht'. Nur wenn - mit Hofmmansthals 'D'Annunzio'-Essay - »die Toten unsere Abgötter« werden, wenn man sie durch modernes 'Blut' zum Leben erweckt hat, können sie der Vergessenheit entrissen werden. Für Venedig heißt das: nur wer die Stadt
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Felix Rappaport: Venedig. In: Wiener Rundschau 1-1897. S. 140. A.a.O.
rücksichtslos als ästhetische Struktur, als »Gedicht« liest, kann sie vor der 'fluthenden Stille', vor dem Untergang bewahren. Daß eine solche 'Lesart' der Stadt auch umgekehrt den - fiktional vermittelten Untergang implizieren kann, zeigt das folgende Beispiel. Auch in Alfred Kubins Roman 'Die andere Seite' geht es um die Frage der historistischen Konservierbarkeit einer 'toten Stadt'. Kubins Prosa beschreibt das Leben in der von Patera, einem geheimnisvollen Millionär, verwirklichten Traumstadt, die im letzten Drittel des Buchs in aufeinanderfolgenden 'Apokalypsen' untergeht.127 Doch schon mit ihrer Entstehung trägt die Stadt 'Perle' Zeichen des Verfalls. Sie wird als 'tote Stadt' gegründet. In der Traumstadt soll, durch die radikale urbane und legislative Verwirklichung historistischer Relativität eine »Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen«128 geschaffen werden. Die historistische Idee der 'toten Stadt' Perle ist - noch einmal mit Johnston als »Bollwerk gegen Veränderungen«129 gedacht: Patera hegt einen außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche im allgemeinen. Ich sage nochmals, gegen alles Fortschrittliche, namentlich auf wissenschaftlichem Gebiete. Bitte meine Worte hier möglichst buchstäblich aufzufassen, denn in ihnen liegt der Hauptgedanke des Traumreiches. Das Reich wird durch eine Umfassungsmauer von der Umwelt abgegrenzt. [...] Unsere Leute erleben nur Stimmungen, besser noch, sie leben nur in Stimmungen; alles äußere Sein [...] gibt gewissermaßen nur den Rohstoff.130
In der Beschreibung Perles wird die Rückwärtsgewandtheit der Stadtidee sichtbar. Durch und durch historistisch entworfen, erscheinen alle Signifikanten der Stadtstruktur austauschbar. In der Stadt ist - wie bei ihren Bewohnern131 - eine fehlende Identität durch kontingent aneinandergereihte historistische Surrogate ersetzt: Unter einem Himmel, der »ewig trübe« ist, an dem »gleichmäßig [...] die Wolken bis tief zur Erde herabfhängen]«132, breiten sich willkürlich und ungeordnet nebeneinan-
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Zu Kubins 'Die andere Seite' vgl. Hank 1990, S.64-67, Koppen 1973, S.256-258 und Werner Hofmann: Über einige Motive des Romans 'Die andere Seite', 1909. In: Annegret Hoberg (Hg.): Alfred Kubin 1877-1959. Katalog anläßlich der Ausstellung in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München 3.10.-2.12.1990 und in der Hamburger Kunsthalle 14.12.1990-27.1.1991. o.O. o.J. [München 1990]. Zum Motiv der 'toten Stadt' in Kubins Roman vgl. Hinterhäuser 1977, S.63-68. Kubin 1975 [1909], S.9. Johnston 1974, S.175. Auf die Nähe der Traumstadt zum Wien »der K. und K. Monarchie im späten 19. Jahrhundert« weist Hank hin (vgl. Hank 1990, S.65). Kubin 1975 [1909], S.9f. Vgl. a.a.O. S.276: »Ich verlor in ihnen [meinen Träumen] meine Identität, sie griffen oft in historische Perioden zurück.« Vgl. auch S.121, 148. Beide Zitate: a.a.O., S.48.
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dergestellt Gebäude verschiedener Stile und unterschiedlicher Regionen aus, ohne daß sich eine Richtung erkennen ließe: »Keine schreienden Neubauten waren hier errichtet worden«; Patera »ließ sich seine alten Häuser aus allen Teilen Europas senden«.133 Der »offizielle Sitz der Regierung« ist das »Archiv«134, der Herrscher lebt in einem Palast, »der »mindestens zwanzig Stilarten mühelos zusammenkleistert«.135 Das Leben in Perle, soweit es nicht völlig verödet ist, richtet sich ganz auf Vergangenes; »die Kleidung der Traummenschen [...] war gänzlich veraltet«.136 Es gibt überhaupt nur Altes, man lebt wie Großvater im Vormärz und pfeift auf den Fortschritt [...] In jedem fünften Haus ein Antiquitätenladen; hier lebt man vom Trödel. 137
Die Philosophie des Traumreichs ist ein Konglomerat aus grundsätzlichem Nihilismus und »Schopenhauerschem Idealismus«138: »die Welt ist Einbildungskraft«.139 Der Untergang des Traumreichs beginnt mit dem Einzug des modernen Erfolgsmenschen Hercules Bell aus Amerika, der auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet den Fortschritt einführen will. Das Motiv der 'toten Stadt' wird im Roman nicht nur beschrieben, sondern auch benannt: »die Stadt war [...] gewöhnlich tot, leer, träge«.140 Die radikale Hinwendung zur Vergangenheit läßt ein eigentliches Leben in Perle gar nicht erst entstehen. In einem Kapitel, das mit »Die Klärung der Erkenntnis«141 überschrieben ist, wird das Erlebnis eines nicht lebendigen Zustande - der durch die Stadtlandschaft repräsentiert wird ausdrücklich gefordert:
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A.a.O., S.50; vgl. auch S.74: »diese Stadt ist geradezu ein Museum.« A.a.O., S.55f. A.a.O., S.74. A.a.O., S.57. A.a.O., S.74. Hinterhäuser 1977, S.68. Kubins Roman ist - wie Hinterhäuser richtig bemerkt - »ein Text von gleitendem Sinngehalt« (S.66). Hank findet im Text ein »mehrfach überdeterminiert[es] ikonographisches Material« (Hank 1990, S.65). Verallgemeinernde Aussagen sind deshalb von vornherein problematisch zu lesen. Sie deuten nicht mehr als eine Richtung an. Kubin 1975 [1909], S.147. A.a.O., S.90. A.a.O., S.146ff.
Eine nicht immer lebendige Welt mußte nach und nach geschaffen werden und zwar immer neu. 142
Kubins Roman läßt schließlich in den aufeinanderfolgenden Apokalypsen »immer neu« die Vision einer sterbenden, einer 'toten Stadt' entstehen, deren Bewohner aber weiter vor sich hindämmern, während ihre Bauten unaufhaltsam verfallen. Das Unheimlichste war ein räselhafter Prozeß, der [...] die Ursache zum völligen Untergange des Traumreichs wurde - Die Zerbröckelung. - Sie ergriff alles. 143
Perle faßt beide oben beschriebenen Formen der 'toten Stadt' idealtypisch zusammen: die Bewohner, die tatsächlich bis zum Ende des Romans mit wenigen Ausnahmen umkommen, sind 'lebendige Tote', die Stadt selbst von Anfang an eine verfallen(d)e Stadt. Weder die Bewohner, noch die Gebäude haben in der Stadt ernstzunehmende Funktionen. Alles ist Surrogat; wirtschaftliche, politische und religiöse Abläufe werden bis zum Auftauchen des Amerikaners Hercules Bell nur gespielt, um den Anschein von Lebendigkeit zu bewahren. Die Allmacht der Figur Pateras, des »ungeheuren Meister[s]«144 dieses Spiels, legt eine Deutung der Stadt aus seiner Sicht nahe. Begreift man ihn als allegorisch zu verstehenden ästhetischen Schöpfer der Traumstadt, findet man auch in Kubins Roman Hinweise auf einen 'produktiv' verstandenen Historismus. Patera steht alles zur Verfügung, nur seine Einbildungskraft 'produziert' - außerhalb seines 'Bannkreises' allerdings sinnlose, widersprüchliche145 - Sinnstrukturen. »Der rhythmische Pulsschlag Pateras« ist in Perle »allgegenwärtig«146; er bildet die ästhetische - und ansonsten sinn- und funktionslose Struktur - der 'toten Stadt'.
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A.a.O., S.147. A.a.O., S. 187. A.a.O., S. 147. Deshalb steht die Außenwelt der Traumstadt fremd gegenüber; die Bewohner Perles haben aus dem gleichen Grund auch kein Interesse mehr für die Außenwelt. Zur Widersprüchlichkeit der Sinnstrukturen Perles vgl. a.a.O., S.148: »er wollte [...] immer alles zugleich, die Sache - und ihr Gegenteil.« Auch eine Deutung Pateras im Sinne zeitgenössischer monistischer Ideen liegt bei solchen Formulierungen natürlich nahe. Vgl. dazu Kapitel 2 der 'Voraussetzungen'. A.a.O., S.148.
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Interieurs und Exterieurs Die Diskussion um die Ästhetik des Interieurs und die Beschäftigung mit der Frage nach der ornamentalen Gestaltung der Exterieurs werden immer wieder genannt, wenn das Wiener Fin de siecle charakterisiert werden soll. Die Entdeckung der Formung des Lebensraums als künstlerische Tätigkeit, die Fassadenkunst des Jugendstils als Reaktion auf den Historismus in der Architektur, wie Uberhaupt die Blüte des Kunstgewerbes - Wiener Werkstätten, art deco sind hier die Stichworte - begünstigen eine bislang nicht dagewesene Beachtung ästhetischer Fragestellungen besonderer Art auch in der Literatur: Interieur und Exterieur gewinnen als Beschreibungs- und Darstellungsgegenstände ein neues Gewicht und zwar durchaus unabhängig von ihrer im engeren Sinne inhaltlichen und erzählökonomischen Bedeutung. Der Diskurs147 über die Ausgestaltungen von Interieur und Exterieur geht insofern in die literarischen Texte der Wiener Moderne ein, als die Beschreibung des Dekors ein zentrales Mittel zur Erzeugung von Atmosphäre und 'Stimmung' sein kann. Die Sensibilität für die ästhetische Gestaltung von Räumlichkeit in dieser Zeit begünstigt die Darstellung der Interieurs. Darüber hinaus kommen der Ausgestaltung der Innenräume, der Aussenwelt und der kontrastiven Beschreibung beider Sphären Bedeutungen zu, die die kunstgewerbliche Ebene übersteigen: der Gegensatz von Innenraum und Fassade, von Innenwelt und Außenwelt, von Drinnen und Draußen kann als psychologisches, semiotisches und kunsttheoretisches Problem in den Texten auftauchen. Wichtig wird der Dualismus Interieur und Exterieur vor allem für die Darstellung und Problematisierung des für die Wiener Moderne zentralen Gegensatzes von Sein und Schein oder mit Nietzsches 'Geburt der Tragödie' von Schein und »Schein des Scheins«.148 Im folgenden wird es zuerst um den von der Literatur, besonders im Essay, aber auch in anderen Gattungen, aufgenommenen Diskurs über die Ästhetik von Interieur und Exterieur gehen. Dann wird die kunsttheoretische, symbolische und psychologische Einbindung dieses Gegensatzpaares in die Texte erläutert. Die Frage nach der ästhetischen Ausstattung des Lebensraums wird im Wien der Jahrhundertwende eng verknüpft mit der Frage nach der Rolle des Ornaments in der Kunst und im Kunstgewerbe. In den 'Voraussetzungen' wurde schon auf die Ornament-Diskussion hingewiesen. Der
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Ein wichtiges Medium dieses Diskurses ist in jener Zeit die Wiener Zeitschrift 'Das Interieur'. Nietzsche 1984, Bd.l, S.33.
Höhepunkt dieser Debatte ist zweifellos in dem »widerwärtigen Zank«149 um das Haus am Michaelerplatz, um den »Fall Adolf Loos«150 zu sehen. Interessant sind die Argumentationsweisen der einzelnen Positionen zu diesem Thema. Das Votum für das Haus am Michaelerplatz, für die 'Ornament-Freiheit' ist ein Votum für Modernität und gegen die vermeintlichen »selbstlosen Hüter der Vergangenheit, die sich lieber unter dem Schutt baufälliger Häuser begraben sehen als in neuen leben möchten«151, wie Karl Kraus bemerkt. Andererseits argumentieren die Modernen mit der Schönheit der Loos'schen Fassade, mit der Stimmigkeit von Funktion und Ausschmückung, mit der Harmonie von Innen und Außen, die diesem Haus eigen sei. Otto Stoessel räumt in seinem Essay zum Thema der Beschreibung der Fassade großen Platz ein. Dabei verfällt er einer Argumentationsstruktur seiner Gegner, indem er - ohne es freilich so zu benennen - das ornamental Gegliederte und nicht die Ornamentfreiheit der Fassade hervorhebt; die Abhängigkeit auch der Ornamentgegner von traditionellen ästhetischen Begründungsstrategien ist in Stoessels Verteidigung unüberhörbar: Dreifrontig beherrscht das Haus den Eingang des Kohlmarktes, der Herrengasse und durch eine ebenso sinnreiche, wie einfache Abschrägung den Michaelerplatz, welche verhältnismäßig schmale Seite gleichwohl die dominierende bleibt, indem das umlaufende, zweiteilige, hohe Untergeschoß - es nimmt nahezu die Hälfte der ganzen Mauerhöhe ein - mit grauem, bunt durchzogenem hellenischem Marmor umkleidet, gerade hier von vier mächtigen, freien, tragenden Säulen gewichtig verstärkt, geschmückt, belebt wird.152
Eine solche Beschreibung der 'geschmückten' Fassade des Hauses am Michaelerplatz, hindert Stoessel nicht daran, das Diktum aufzustellen, ein Gebäude solle »nicht mehr bedeuten [...], als es eben darstellt: ein großstädtisches Geschäftshaus [...] [ist] wegen seiner Einfachheit willkommen.«153 Die Forderung nach einer Übereinstimmung von Funktion und Fassade kann als bloße Weiterführung der Forderung der »moderne[n] ornamentiker«154 nach einer sinnvoll gestalteten Form, nach sinnvoll gesetzten Ornamenten gelesen werden: Selbst der von Adolf Loos am
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Otto Stoessl: Das Haus am Michaelerplatz. In: Die Fackel ΧΠ, 317/318-1911, S.13. Karl Kraus: Das Haus am Michaelerplatz. In: Die Fackel ΧΠ, 313/314-1910, S.6; vgl. auch Hermann Broch: Ornamente (Der Fall Loos). In: Broch 1977, Bd.10,1. S.32-33. Karl Kraus, Die Fackel ΧΠ, 313/314-1910, S.5. Stoessel 1911, S.14f. A.a.O., S.16. Loos 1982, S.84 ('Ornament und Verbrechen').
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heftigsten angegriffene Jugendstil-Künstler Henry van de Velde glaubt, »daß das Ornament kein eigenes Leben für sich hat, sondern vom Gegenstande selbst [...] den organisch richtigen Platz erhält.«155 Auch für den Jugendstil ist eine willkürlich benutzte 'Zierkunst' nicht tragbar156; davon hebt sich Van de Velde deutlich ab: ein Ornament habe sich »dem Zweck und der Gestalt der Objekte«157 anzugliedern. Auch Hermann Bahr greift das Argument von der Übereinstimmung von Innen und Außen anläßlich einer Besprechung des neuen Wiener Secessions-Gebäudes von Joseph Maria Olbrich auf: »Die Fa9ade [...] soll uns das Wesen des Inneren auf eine kurze und faßliche Art [...] erkennen lassen.«158 In der Ablehnung historistischer Verfahrensweisen sind sich die Jugendstil-Künstler - glaubt man ihren theoretischen Äußerungen - und die Loos-Gruppe einig. Beide polemisieren gegen historistische Fassadenkunst (und damit gegen die Trennung von Schein und Sein) und eine gleichfalls historistische Stilpluralität, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts etwa der Gründer der bis heute bedeutenden 'Deutschen Bauzeitung' Karl Emil Otto Fritsch praktiziert sehen will: Werfen wir auch den letzten Rest des Vorurtheils von uns ab, als sei irgend ein [...] Stil besser und berechtigter als die anderen. Es hat jeder derselben seine Licht- und seine Schattenseiten. Verzichten wir namentlich darauf, gewissen Stilen ein Vorrecht auf gewisse Gebäude-Gattungen zuzuerkennen. 159
Von diesem historistischen Anything goes setzen sich beide Parteien der Ornament-Diskussion entschieden ab. So gesehen kann man deshalb beide Positionen als Teil jenes Moderne-Diskurses, der sich gegen den Historismus wendet, begreifen. Loos macht seinen anti-historistischen Standpunkt explizit deutlich, wenn er sich darüber beklagt, daß »jeder Schmarren, der auch nur das kleinste ornament aufwies, [...] gesammelt [...] [und] in prunkpaläste«160 gestellt wurde. Georg Hirth, Gründer und Herausgeber der 'Jugend', wähnt für den Jugendstil die antihistoristische Ausrichtung sogar bedeutender als dessen neue Ornamentik:
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Henry van de Velde 1984, S.109; vgl. dazu die Skizze 'An den Ulk' von Adolf Loos (in: Loos 1982, S.89). Vgl. Henry van de Velde 1984, S.108f. und Schorske 1985, S.53. Henry van de Velde 1984, S.108. Hermann Bahr: Meister Olbricht. Über das Gebäude der Secession 1898. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.513. Vgl. Kfarl] E[mil] 0[tto] Fritsch: Stil-Betrachtung (1890). In: Hammer-Schenk (Hg.) 1985, S.116. Loos 1982, S.79.
Das Neue ist nicht sowohl in der Richtung der tektonischen, ornamentalen und koloristischen Erfindung als vielmehr in der modernen Befreiung der dekorativen Stimmung von antiquarischen Rücksichten zu suchen.161
Die unterschiedlichen Positionen von Loos und den Ornamentikern beziehen sich vor allem auf die Herkunft des Ornaments. Glauben die Jugendstil-Künstler - getreu den Anschauungen Ernst Haeckels - an die »Kunstformen der Natur«162, an eine Ableitung der Ornamentik aus der Natur, verwirft Loos' bekannter Essay 'Ornament und Verbrechen' für die Moderne die Möglichkeit, Ornamente genetisch aus der Natur abzuleiten; er bestreitet allerdings nicht, daß das Ornament entwicklungsgeschichtlich eine besondere ästhetische Bedeutung hatte: Was aber beim papua und beim kinde natürlich ist, ist beim modernen menschen eine degenerationserscheinung. Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der weit geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande,163
Man kann also festhalten: Ornament-Verfechter und Ornament-Feinde polemisieren nicht nur mit ähnlichen Argumenten gegen den Historismus, sondern haben auch ein ähnliches Hauptanliegen: sie wollen die Fassade an den Innenraum, das Exterieur an das Interieur anbinden. Die Ornamentiker verfolgen diese Anbindung über ein organologisch begründetes und aus Funktion und Gestalt abgeleitetes Ornament, während die Loos-Gruppe in der Sachlichkeit des Objekts dessen Funktion hervorheben will; die sachliche Gestalt sei 'Ornament' genug. Die Ornament-Diskussion ist eingebettet in den Diskurs über den Scheincharakter der Kunst und des Lebens.164 Die zentrale Frage dieses Diskurses ist jene nach der Möglichkeit einer Verbindung von Kunst und Leben. Die Literatur der Wiener Moderne greift das Motiv der problematischen Beziehung von Fassade und Innenraum immer wieder auf, um ihre Varianten dieses Diskurses vorzuführen: den Spielcharakter des Lebens,
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Georg Hirth: Der sogenannte Jugendstil. In: Walter Schmitz (Hg.): Die Münchner Moderne. Die literarische Szene in der 'Kunststadt' um die Jahrhundertwende. Stuttgart 1990. S. 250. Emst Haeckel: Vorwort. In: Kunstformen der Natur. Erste Sammlung. Erste Lieferung. Leipzig, Wien 1899. Unpaginiert [S.I] (Auch in: Mathes (Hg.) 1984, S.48). Loos 1982, S.79. In diesem Zusammenhang sei auf Sigmund Freud und dessen Beschreibung des Unbewußten als des eigentlichen Ortes psychischer Vorgänge hinter der 'Fassade' des Bewußtseins verwiesen. Nietzsches Wort vom »Schein des Scheins« in der Kunst als Möglichkeit der traumhaften Näherung an das »Wahrhaft-Seinde« ( Nietzsche 1984, Bd.l, S.32f.) gehört ebenfalls in den Kontext dieses Diskurses.
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das Motiv des lebendigen Toten, die Frage nach der ästhetizistischen Existenz. Die bekannteste Metapher für das surrogathafte Leben der ästhetizistischen Künstler des Jungen Wien nimmt - wen mag es wundern - das uneigentliche Interieur der Vergangenheit als Vergleichspunkt. Hofmannsthals erster 'D'Annunzio'-Essay faßt das Moderne der Avantgarde als zurückgewandtes Hinwegträumen aus dem Leben: »Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten«.165 Das Fassadenhafte dieser dichterisch entworfenen Existenz beschreibt Hartmut Scheible treffend mit dem von Hofmannsthal in einem Brief an Beer-Hofmann 1895 eingeführten und von Adolf Loos später polemisch aufgegriffenen Begriff 'Potemkinsche Dörfer': Die »Allmachtsphantasie« dieses Ichs sei »reduziert auf die Errichtung von Potemkinschen Dörfern, auf planmäßig inszenierten Selbstbetrug«.166 In der Wiener Moderne wird die Beschreibung von Interieurs und Exterieurs oft explizit für kunsttheoretische Auseinandersetzungen genutzt: besonders dann, wenn diese über die Ausstattung zum zentralen ästhetischen Problem erhoben, zur Frage nach der Kunst, ja der Kultur überhaupt, umformuliert wird. Das kann ganz offensichtlich werden, wie zum Beispiel in den Essays zur »ästhetischen Wohnungsnot«167 von Richard Schaukai, der die »Mietwohnungsmisere« als »Kulturmisstand« klassifiziert.168 Seine Kritik der Wohnsituation muß als grundsätzliche Kulturkritik gelesen werden. Die Beschreibungen von Interieurs und Exterieurs sind polemische Auseinandersetzungen mit dem bürgerlichen Wohnen: Die ungelüftete 'gute Stube' mit ihren den gepressten Samt der Möbel hütenden Überzügen und dem wandhohen Spiegel, vor dem die Viktualienhändlersgattin die neue 'Toilette' seidenrauschend spazieren führt, ist das grauenhafte Symbol eines Kulturdebacles.169
Die Partizipation an der ästhetischen Diskussion kann sich aber auch eher implizit andeuten, wie in Peter Altenbergs Prosaskizze 'At Home', auf die im Zusammenhang erträumter Fluchtwelten noch eingegangen
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Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.179. Scheible 1984, S.30; vgl. auch: Hofmannsthal, Beer-Hofmann 1972, S.47 (Brief von Hofmannsthal an Beer-Hofmann vom 13.5.1895) und Adolf Loos: Die potemkin'sche Stadt. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.870-872 (T 98.27; Erstdruck: Ver sacrum, 1-1898, S.15-17): »Die Potemkin'sche Stadt, von der ich hier sprechen will, ist unser liebes Wien selber.« (S.870). Schaukai [1909] ('Bemerkungen zur ästhetischen Wohnungsnot'). A.a.O., S. 19. Schaukai [1909] ('Die Wohnung'), S.52.
wird.170 In Altenbergs Skizze dient die ironische Beschreibung des Interieurs und des Verhaltens der gerade vom Lande zurückgekehrten großstädtischen Bewohner u.a. dazu, die Vorliebe der ästhetizistischen Lebensform für künstliche und kostbare Gegenstände zu karikieren: Vor »dunkelbraunen Tapeten mit den tausend gepreßten goldenen Chrysanthemen und dem staubigen hellbraunen Tonofen mit den Goldlinien« verspeist als »edle stille Orgie der Geschmacksnerven« eine junge Dame eine »auf ein weißes Tellerchen« gelegte »Isenbartbirne«.171 Nicht immer wird in der Wiener Moderne das Problematische der ästhetizistischen Selbstinszenierung mitreflektiert, wenngleich das Fassadenhafte des inszenierten Interieurs bemerkt wird. Oft wird der EmpireSalon oder das Renaissance-Zimmer zur bunt geschmückten Bühne der Welt des Boheme. Die Ornament-Diskussion findet hier nur indirekt statt; trotzdem ist der Diskurs für den Zeitgenossen bemerkbar. Überall sieht man altertümliche Fremdkörper, Versatzstücke verschiedenster Stile und dekadente Überfülle: Ein hoher Saal in einem vagen venetianischen Stil. Die vemummten Fenster lassen den Tag nicht herein. Ein Widerschein von tiefem Roth auf gebräuntem Gelb. [...] Eine riesige Fächerpalme [...], alte Waffen, [...] alte Geigen, alter Schmuck. Roth der Teppich, rothe Stoffe auf dem ungeheuren Divan ausgebreitet [...]. Auf einem maurischen Gestell ein Durcheinander von schwerem Silber, Cigarren, grünen Römern [...]. Als Supraport eine nackte Frau auf einem Throne ein rothes Tuch unter den Füßen. 172
Diese - ironische - Beschreibung eines mit »Makart-Rot«173 ausgekleideten Salons von Hermann Bahr beschreibt »ein Wiener Interieur Weihnachten 1885«.174 Das verdunkelte Licht, rote und braungelbe Farben, historistischer Nippes und auch die entkleidete Frau auf dem Divan sind
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173 174
Vgl. Kapitel 3.c). Alle Zitate: Altenberg 1968, S.23 ('At Home'). Bahr 1900, S.251. Ein anderes Beispiel 'historistischer' Ausstattung findet sich in Dörmajnns Novelle 'Die geliebte Wohnung' (in: Felix Dörmann: Alle guten Dinge. Novellen. Wien, Leipzig 1906): »Gelbe Damaste aus einem alten Schloß hatte er erworben, bauchige Barockkasten, alte Wandleuchter aus Dorfkirchen, deren Metallschilder den Kerzenarm trugen, verräucherte, dunkle Figuren von Heiligen mit süßer Ekstase in den hageren Zügen; verblichene Meßgewänder bekleideten die Wände und vor den Türen hing schwarzer Samt mit breiten Silberborten. Eine alte Kopie des Konzerts von Giorgione hing als einziges Bild in dem stillosen und doch so reizenden Raum, und das hagere Anlitz des jungen Mönches, dessen Hände die Tasten rührten, schien sich zu seinem Nachbar zu wenden mit der Frage: Glaubst du nicht, daß es unserem wunderlichen Zimmergenossen wohltut, wenn ich ihm was ganz Leises, Zärtliches spiele, daß er vergißt und träumt vom ungelebten Leben seiner Sehnsucht?« (S.86). Lea Ritter Santini 1977, S.171. A.a.O.
211
die 'Ausstattung* des dekadenten Salons zwischen belle epoque und Moderne. Das Interieur der Villa Stuck in München, das römische Atelier Franz Lenbachs, D'Annunzios Anwesen bei Gardone Riviera oder auch Richard und Cosima Wagners Haus in Tribschen entsprachen in vieler Hinsicht diesem Ideal eines inszenierten Salons, jener Mischung aus schwüler Erotik und historistischer Vielzahl.175 In Wien war das Atelier von Hans Makart in der Gußhausstraße die bekannteste Realisierung dieser Vorstellung von Raumausstattung.176 Die beiden mit 'Intörieur' überschriebenen Gedichte von Felix Dörmann, in seinen 'Sensationen' von 1892 auf einer Doppelseite nebeneinander abgedruckt, sind Beispiele für eine vornehmlich ästhetisch orientierte Inszenierung einer »Fin de si£cle-Szenerie par excellence«.177 Auch hier mischen sich schwüle Erotik, gedämpfte Atmosphäre und verschwenderische Accessoires. Ein Int6rieur von lichter Scharlachseide, Ein wohldurchwärmtes, traulich-enges Heim. Aus schlankgeformten Ständerlampen quillt, Von buntgefärbten Abas-jours gedämpft,Ein rosig Lichtstrom zitternd nieder.178
In den folgenden Zeilen dieses ersten Gedichts spielt Dörmann mit dem alle Sinne ergreifenden Eindruck des Interieurs. Die 'Abas-jours' (wörtlich: 'Nieder mit dem Tage') korrespondieren mit dem 'tiefen Schweigen' ; die stille Atmosphäre mit dem gedämpften Licht. Auffällig sind die dominanten Gerüche, die von Huysmans 'Des Esseintes' bis zu Prousts 'Recherche' das Fin de siecle prägen.179
175
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212
Vgl. a.a.O. und Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. München 1981. Bd.l. S.300-303 ('Richard Wagner in Tribschen'). Vgl. die Abbildung in: Traum und Wirklichkeit 2 1985, S.43. Jens Malte Fischer 1978, S.120. Das vielleicht bekanneste 'Interieur'-Gedicht der Jahrhundertwende steht im Abschnitt 'Landschaft' der Sammlung 'Mir zur Feier' von Rainer Maria Rilke (Vgl. Rilke 1987, Bd.3, S.227); dazu vgl. Rüdiger Campe: Ästhetische Utopie - Jugendstil in lyrischen Verfahrensweisen der Jahrhundertwende. In: Victor 2megac (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. K.önigstein/Ts. 1981. S.232f. Campe sieht in Rilkes Gedicht paradigmatisch die Schreibart des literarischen Jugendstils verwirklicht. Das Gedicht entwerfe ein »Interieur als Panoptikum verfügbarer Gefühlsattrappen« (S.233); die ästhetische Präsentation sei wichtiger als Erlebnisschilderungen des lyrischen Subjekts. Rilkes Gedicht weist damit durchaus Ähnlichkeiten zu Dörmanns einige Jahre älteren Gedichten auf. Vgl. auch das 'Intdrieur'-Gedicht Paul Verlaines und Stefan Zweigs Übertragung. Dörmann 1892, S.32. Vgl. Jens Malte Fischer 1978, S.l 18.
Orangen und Narzissen hauchen träumend Die duftig-schweren Bliithenseelen aus Und tiefes, tiefes Schweigen.- 180
Das 'schlanke Weib* auf den »üppig weichen Eisbärfellen«181, das dieses Interieur in Dörmanns Gedicht vollendet, träumt von erotischen Eskapaden, von letzten Reizungen der »abgestumpften, wurzelwelken Nerven«.182 Der Rekurs auf die unheilbar kranken Nerven, die durch keine noch so starke Empfindung gereizt werden können, ist typisch für das Junge Wien, für die Jahrhundertwende überhaupt. Ein zeitgenössischer Kritiker der Wiener Moderne, der Österreicher Ottokar Stauf von der March, sieht gerade in Dörmanns Beschreibungen dekadenter Atmosphäre ein Beispiel für den Niedergang dieser »Nervenkunst«183: »Die Folge ist Effemination, Verweibsung des Geistes [...] - der Zersetzungsprozeß schreitet stetig vor.«184 Dabei bleiben gerade Dörmanns 'Interieur'-Gedichte an der Oberfläche und sind keineswegs »derb [...], überdeutlich« oder »inbrünstig«185, wie Alfred Gold in einer Rezension in der Wiener »Zeit« bemerkt, sondern spulen nur die Stichworte des Diskurses einer dekadenten Kunst ab. Dafür ist auch das zweite 'Interieur'-Gedicht beispielhaft: Verdunkelt war Dein weites Schlafgemach, So ganz wie damals, und ein schwerer Hauch Von welkem Lorbeer, Veilchen und Lavendel, Erstickend, süß-betäubend koste, ganz Wie damals, um die wonnig müden Nerven. 186
Einerseits erweckt der gleiche Titel, die Plazierung des Gedichts und die wiederholte Modalangabe »ganz wie damals« eine Fortsetzung des ersten Gedichts. Doch das genaue Hinschauen macht die Differenzen deutlich187: das Licht ist nicht mehr 'warm', sondern 'fahl'; die Gerüche sind nicht mehr 'duftig-schwer', sondern 'süß-betäubend', ja, 'erstickend'.
180 181 182 183 184
185 186 187
Dörmann 1892, S.32. A.a.O. A.a.O. Worbs 1988. Ottokar Stauf von der March: Die Neurotischen. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.241. Alfred Gold: Dörmann und Baudelaire. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.363. Dörmann 1892, S.33. Jens Rieckmann, der von »der Beschreibung desselben Int6rieurs im zweiten Gedicht« (Rieckmann 2 1986, S. 118) spricht, irrt hier. Neben den genannten Differenzen findet sich auch eine unterschiedliche Ausstattung: Dem 'weichen Eisbärfell' im ersten Gedicht entspricht im zweiten die »üppig-weiße Schillerseide« (Dörmann 1892, S.33).
213
Die Stimmung des ersten Gedichts hat sich um eine Nuance verschoben. Die träumerische 'Wonne' des ersten Gedichts ist fremd, fast bedrohlich geworden. Der Blick des Betrachters wird nun in das Gedicht hineingenommen; die angegriffenen Nerven gehören nicht mehr einer zu beschreibenden Frau, sondern dem lyrischen Ich. Mit schwanken Schritten trat ich ein bei Dir. Ein schlankes Wachslicht schüttet fahlen Schein [..·] Um deines breiten Lagers üppig-weiße Geraffte Schillerseide - um Dich selbst, Die nackt und reglos ruht wie ein Gebilde Von Künstlerhand, aus dunklem Erz getrieben. 188
Auch zu diesem Interieur gehört die entkleidete Frau auf dem Diwan, gehört eine teure Ausstattung. Noch mehr: die im Gedicht angeredete Frau wird als fester Bestandteil des ästhetisch drapierten Arrangements gezeichnet.189 Erst die weiteren Verse des zweiten 'Interieur'-Gedichts von Dörmann machen deutlich, was der Skopus dessen ist, was die gegenüber dem ersten Gedicht gewandelte Stimmung eigentlich bewirkt: das Auffinden der (vielleicht gewaltsam ermordeten ?) Toten durch das lyrische Ich. Der traumhaften Atmosphäre im ersten Gedicht steht das ästhetisch durchkomponierte Szenario eines Todes im zweiten gegenüber. Der Betrachter wird zum Voyeur, zum Eindringling in ein totales Interieur, das die gemordete Frau zum erotischen Möbel umschreibt. Man kann - wie Jens Malte Fischer - das Gedicht als Abfolge von Blicken zusammenfassen: »Der Blick des Eintretenden gleitet von den Leuchtkörpern zum Bett der Toten, deren schwarzes Blut dekorativ auf die weiße Seide des Bettes rieselt.«190 Beide 'Interieur'-Gedichte können 'wie Bilder' gelesen werden. Es gibt, außer dem Eintritt in das Schlafgemach im zweiten Gedicht, der den Blick auf das Interieur freigibt, keine Handlung und auch keine symbolischen Verweise. Die Sprache ist nur beschreibend, die Perspektive frontal auf das Bild gerichtet. Beide Gedichte verzichten auf die Darstellung
188 189
190
214
Dörmann 1892, S.33. Hartmut Scheible (Vgl. Scheible 1984, S.107 ) macht darauf aufmerksam, daß auch Paul, der Protagonist in Richard Beer-Hofmanns 'Tod Georgs', seine imaginierte Frau ins ästhetisch gesehene Interieur integriert (vgl. Beer-Hofmann 1980, S.37ff.). Dieser Vorgang wird, allerdings ganz anders als bei Dörmann, weil er als Phantasmagorie apostrophiert wird, als ästhetizistisches Spiel entlarvt: »Es gab ja keine, die er gehebt hatte [...]. Das war nur ein Traum gewesen; und der war zu Ende.« (a.a.O., S.55). Jens Malte Fischet 1978, S.121.
von Entfernungen und näheren Ortsangeben, die sich bei solchen Raumbeschreibungen anbieten würden, so daß der bildhafte, zweidimensionale Charakter der Tableaus noch verstärkt wird. Zu wesentlichen über die bloße Beschreibung hinausreichenden Aussagen kommt Dörmann auch in einem weiteren Gedicht der 'Sensationen' nicht, das wie die 'Int6rieur'-Gedichte und das oben zitierte 'Im Palmenhaus' unter der Überschrift »Farbenträume«191 abgedruckt ist. In 'Sturm' wird das Naturschauspiel einer von Wind und Wasser gepeitschten Küste vollendet durch eine Betrachtende, die »auf marmornem Gestühl«192 'ruht' und »in gierig langen Athemzügen [...] [an] goldig-blassen Rosen«193 'saugt'. Obwohl die Natur nur als Hintergrund zu dieser Szene gezeichnet scheint, der 'Sturm' offensichtlich nur als Bild für erhoffte Leidenschaften dient, nimmt die Beschreibung dieses Naturambientes zwei Drittel des Gedichts ein. Die oben beschriebene - für das Wiener Fin de sifccle typische - Grenzsituation zwischen der Natur und einer künstlichen Welt wird hier deutlich. Die 'Ruhe' auf der Terrasse kontrastiert mit dem Sturm draußen. Zu erwähnen sind schließlich die unübersehbaren Motivanklänge des Gedichts an Baudelaires 'L'Homme et la mer'194 und an Passagen aus Heines 'Nordsee'-Zyklen. Das Innere eines Palmenhauses, eines Schlafgemachs, eines Salons, das Interieur der freien Natur am Meer oder, wie in 'Geträume', dem letzten Werk dieses Gedicht-Zyklus, auf dem Friedhof sind nur Variationen für »Farbenträume«195, für Tableaus, zu deren Vollendung eine erotisch drapierte Frau genauso gehört wie wertvolles Geschmeide und ein schwerer Duft. Diese Gedichte Dörmanns sind Beispiele einer regelrechten Ausstattungskunst. Die Differenz von Draußen und Drinnen, von gestalteten Innenräumen - im weitesten Sinne - und der Außenwelt, verweist in der Literatur des Jungen Wien auf den schon oben beschriebenen Inselcharakter der ästhetizistischen Lebensweise. Zum Insel-Motiv gehört, wie in Defoes 'Robinson Crusoe', das Eindringen der störenden Außenwelt in das Idyll und damit dessen Relativierung.
191
192 193 194 195
Dörmann 1892, S.27-35. Außer den genannten Werken gehört noch das Gedicht 'Geträume' in diese Ilma Seiler-Willbom 'zugeschriebene' Abteilung der Sensationen. A.a.O., S.31. A.a.O. Vgl. Baudelaire 1980, S.34ff. Dörmann 1892, S.28.
215
Zu den markantesten Beispielen der Wiener Moderne196 gehören die lyrischen Dramen 'Gestern' und 'Der Tod des Tizian' von Hofmannsthal. Der »Gartensaal [...] [in] der Architektur der sinkenden Renaissance«197 ist der Schauplatz von 'Gestern'. »Türen und Fenster« dieser Szenerie sind »verhängt«.198 Die Bühne erlaubt zwar den Blick auf eine Terrasse hinter der Mitteltür, die aber »rückwärts mit vergoldeten Efeugittern abgeschlossen ist«.199 Die ästhetizistische, der Außenwelt entfremdete Situation wird schon durch das Bühnenbild unmittelbar evident. Die Protagonisten des Dramas - »ein blutleer Volk von Gegenwartsverächtern«200 - liefern dazu die passenden Stichworte: »Lust am Spiel«201, »Augenblick«202, »Träume«203, »Lüge«.204 Im 'Tod des Tizian' thematisiert Hofmannsthal - wie erwähnt - explizit das Verhältnis von Draußen und Drinnen. Über die entfernte Stadt Venedig heißt es dort: Siehst du die Stadt, wie sie jetzt drunten ruht? Gehüllt in Duft und goldne Abendglut 205
Die (Duft-)Aura der Stadt erweist sich allerdings als ästhetizistisch verklärter simulacre; denn Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen, Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit.206
Und deshalb begnügen sich auch die Jünger des verstorbenen Tizian mit dem Blick auf die Stadt und konstruieren ihre Welt, in die die Außenwelt bestenfalls als ästhetisches Material integriert ist: Darum umgeben Gitter, hohe, schlanke, Den Garten, den der Meister ließ erbauen,
196
197
198 199 200 201 202 203 204 205 206
216
Vgl. auch die Ausführungen zu Schnitzlers Drama 'Der Schleier der Beatrice' in Kapitel 2.b). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.212 ('Gestern'). Als anderes Beispiel mit ähnlichen Motiven vgl. Felix Rappaports Gedicht 'Übergänge' (Rappaport 1897, S.376). Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.212. A.a.O. A.a.O., S.235. A.a.O., S.243. A.a.O., S.218, 231, 238. A.a.O., S.227. A.a.O., S.224, 225. A.a.O., S.253 ('Tod des Tizian'). A.a.O.
Darum durch üppig bhimendes Geranke soll man das Außen ahnen mehr als schauen.207
Häufig wird der Gegensatz von Interieur und Exterieur für die Darstellung von Aspekten genutzt, für die die kunsttheoretische Diskussion über Innenraum-Ausstattung und Fassade uninteressant ist. Die Antagonismen Interieur und Exterieur sind in den folgenden Beispielen als Tableaus für inhaltliche Textbewegungen genutzt; sie dienen der symbolischen Präsentation von oft psychologischen Vorgängen. Maurice Maeterlincks 1895 im Theatre de L'CEuvre in Paris uraufgeführtes Stück 'Int6rieur' wurde um 1900 gleich zweimal ins Deutsche übersetzt: 1899 von George Stockhausen und 1901 von OppelnBronikowski.208 Interessant sind beide Arbeiten hinsichtlich der Übersetzungen des Titels; Stockhausen übersetzt mit 'Daheim', während die Übertragung von 1901 den Titel 'Zu Hause' trägt. In beiden Fällen wurde der Aspekt der Ausgestaltung, der ja gerade um 1900 nicht unbedeutend gewesen ist, zugunsten des Wohnlichkeitsaspekts vernachläßigt. Es gibt im Deutschen keine Vokabel, die die um 1900 gängigen Bedeutungen des französischen Wortes interieur impliziert, das interieur confortable und das Innnere eines Hauses. Angesichts des Stückes selbst verwundert die Entscheidung der beiden Übersetzer allerdings'kaum, geht es dort doch um die Darstellungen zweier Sphären, deren 'Sprachspiele' divergieren: innen im Haus - »daheim« also - kann die glückliche aber unwissende Familie gesehen werden, draußen vor dem Fenster stehen 'der Alte' und 'der Fremde' und kennen das auf dieses Idyll zukommende Unglück. Von außen kann in das Haus hineingesehen werden, während keiner der Bewohner seine Beobachter wahrnehmen kann. Vor dem Haus befinden sich also gewissermaßen auf die Bühne gebrachte Zuschauer, die zwar nicht die 'Handlungsträger' des Stückes, aber doch die sprachlichen Vermittler und Kommentatoren der Handlung sind. Maeterlincks Stück kann als konsequente Realisierung der für das Fin de sifecle konstitutiven Dichotomie von Interieur und Exterieur gesehen werden. Es macht deutlich, daß es bei diesem Gegensatzpaar nicht nur um bloße Ausstattungsfragen gehen muß, nicht nur um die ornamentale Gestaltung von Oberfläche und Wohnraum. Interieur gilt darüber hinaus als Metapher, Bild oder Symbol für das Innere, die Seele des Menschen, für Gefühle der Protagonisten und Stimmungen des Textes. Zwar meinen in Maeterlincks Stück die beiden Personen der Vorderbühne »in eine Seele [...] nicht wie in dieses Zimmer sehen«209 zu können, aber sie
207
208 209
A.a.O., S.254. Maurice Maeterlinck: Die frühen Stücke. Übers, und hg. v. Stefan Gross. München 1983 [a], Bd.2. S.174. A.a.O., S.40.
Vgl
217
analysieren geradezu scharfsinnig das »oberflächliche«210 und ahnungslose Gespräch im Zimmer, spekulieren über den Seelenzustand der Bewohner und deren scheinhaftes Glück. Das Innen ist die Scheinwelt, von außen wird die Realität sichtbar. Schnitzlers Novelle 'Sterben'211 zeichnet in gewisser Weise ein umgekehrtes Verhältnis von Interieur und Exterieur, von Innenraum und äußerer Welt. Über lange Passagen der Erzählung wird berichtet, daß Marie, die Protagonistin, im Zimmer ihres todkranken Mannes Felix ausharrt. Besonders während ihres zweiten Wien-Aufenthalts und in Meran wird deutlich, daß das Grauen der Krankheit mit dem Innern des Zimmers verbunden wird. Die mit der Krankheit zusammenhängenden psychischen Spannungen zwischen Felix und Marie spiegeln sich in einer wiederkehrenden und oft variierten räumlichen Konstellation; die Landschaft draußen und die Enge des Zimmers werden zu antagonistischen Perspektiven. Immer wieder befindet sich eine der Personen auf der Grenze zwischen beiden Bereichen: auf der Terrasse212, auf dem Balkon213, am Fenster.214 Der Blick hinaus offenbart dabei das Innere215 der Protagonisten, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen, ihre Ängste.
210 211
212 213
214
215
218
A.a.O. Für Hubert Ohl gehört Schnitzlers Novelle 'Sterben', »entgegen ihrer späteren Einschätzung durch den Autor, zu seinen bedeutenden Arbeiten« (Hubert Ohl: D6cadence und Barbarei. Arthur Schnitzlers Erzählung Sterben. In: ZfdPh 108,41989, S.552). Die »überzeugende Kunstgestalt« (S.553), die Ohl in diesem frühen Werk Schnitzlers sieht, macht er an den Erzählformen, an dem durchkomponierten Aufbau und der frühen kritischen Verwendung von Dekadenz-Motiven fest. Zu Schnitzlers 'Sterben' vgl. auch Kapitel 2.a). Die Erzählung ist durch einen Mittelteil und zwei parallel aufgebaute Teile gegliedert, die jeweils wieder aus einer kürzeren ersten und einer längeren zweiten Passage bestehen. Die Teile sind bestimmt durch den Aufenthaltsort der Protagonisten. Er bestimmt nicht nur ihre Hoffnungen, sondern kennzeichnet auch das Stadium der Krankheit von Felix, weil die Ortswechsel durch sie motiviert sind. Aus der Sicht der Protagonisten - und das ist die augenfälligste Perspektive des Textes, weil der »Erzähler nur selten durch auktoriale Eingriffe hervortritt« (Ohl 1989, S.552) - scheint jeder Ortswechsel unbedingt erforderlich, impliziert jeder Wechsel letzte Hoffnungen auf eine Genesung; so ist der Gang ins Gebirge motiviert; die Fahrt über Salzburg - dem Mittelteil der Erzählung - nach Wien kann nur gemacht werden, weil sich Felix besser fühlt. An den Aufenthalt in Wien nach dem Sommer werden dann genauso Hoffnungen geknüpft wie an die Reise in den Süden im letzten Teil der Erzählung. Vgl. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.119. Vgl. a.a.O., S.122. Zum Motiv des Balkons in diesem Zusammenhang vgl. auch Baudelaires 'Le Balcon', das Felix Dörmann in der Modemen Rundschau übersetzt ('Am Balkon', in: Moderne Rundschau 3-1891, S.148: »Wie stark das Herz ist, wie die Räume fliehen - «). Vgl. a.a.O., S.134 und 144. Zum Fensterblick allgemein vgl. Brüggemann 1989, zum Fensterblick bei Hofmannsthal vgl. Renner 1986, S,146-151. Vgl. Brüggemann 1989, S.12.
Marie erinnert sich, den Blick einer Berglandschaft zugewendet, des »engen dunstigen Zimmerfs]«, in dem der todkranke Felix noch schläft. »Sie war gern von seiner Seite aufgestanden«.216 In Salzburg kehrt sich dieses Motiv um. Marie schläft und Felix wacht; er horcht auf die Geräusche, die durch das Fenster schallen. Doch die Landschaft, in der diese Geräusche zu hören sind, bietet keine Hoffnungsperspektive, keine Befreiung wie Maries Blick in die Berglandschaft, sondern wird zum Ausdruck seiner melancholischen Bedrücktheit: Auch die letzten Stimmen verklangen endlich vollends, und nun hörte er nur mehr das klagende Rauschen des Flusses. - Ja, noch ein paar Tage und Nächte und dann - 2 1 7
Als beide in Wien sind, kehrt das Motiv noch einmal variiert an exponierter Stelle wieder. »Felix schlummerte«, während Marie sich entschließt, »auf eine Stunde ins Freie zu gehen«.218 Draußen spürt Marie ein »Wohlbehagen, das allmählich in sie zu dringen begann«219; indem sie die Möglichkeit nutzt, das Krankenbett von Felix für kurze Zeit zu verlassen, treten psychologische Mechanismen in den Vordergrund, die deutlich den Fortgang der Novelle bestimmen. Es zeigt sich, um Hans Posers Worte zu benutzen, »wie der Vorgang des Sterbens die menschliche Persönlichkeit zerstört und sich Freundschaft und Liebe in Entfremdung und schließlich in Haß verwandeln.«220 Maries Spaziergang in den Volksgarten kann man als Flucht vor der bedrückenden Enge im Krankenzimmer des von ihr zusehends entfremdeten Mannes lesen, an den sie sich gekettet sieht. Sie flüchtet in eine Welt der Harmonie, in die Parklandschaft mit ihrem Duft und Kindertreiben.221 Hier erweist sich aber das Draußen als trügerisch, die Harmonie als Fiktion; die 'Häßlichkeit' der Krankheit222 schiebt sich immer wieder vor die illusionären Hoffnungen, die Marie außerhalb des Zimmers hegt. Im Freien scheint der Blick 'ungestört'223; und doch wird gerade an diesem Blick deutlich, wie sehr Marie unter der Krankheit, wie sehr sie unter Felix leidet: »Sie beneidete alle Menschen, alle waren glücklicher als sie.«224
216 217 218 219 220
221 222 223 224
Beide Zitate: Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.119. A.a.O., S.135. A.a.O., S.149. A.a.O., S. 150. Hans Poser: Schnitzlers Erzählung 'Sterben' - eine Diagnose ohne Therapie. In: Literatur für Leser 1-1980. S.248. Vgl. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.l, S.148ff. Vgl. a.a.O., S.150. Vgl. a.a.O., S.149. A.a.O., S. 145.
219
An den mitleidigen Gesichtern der Frauen, die, kurz vor der Abreise nach Meran, aus dem Fenster gegenüber schauen225, wird schließlich evident, wie es um Felix steht. Ihr Blick ist tatsächlich 'ungestört'. Auch die Bedeutung des Interieurs in Hofmannsthals, 'Märchen der 672. Nacht' reicht über die bloße Gestaltung von Stimmungsbildern hinaus. Hier wird die Beschreibung des Interieurs zur Charakterisierung des Protagonisten; das Interieur ist als Spiegel des Kaufmannssohns symbolisch und psychologisch deutbar. Viele Interpretationen heben den Traumcharakter dieser Erzählung, die psychologisch deutbaren Traumsymbole hervor und verweisen auf die dem Traum analoge Erzählökonomie.226 Als Gewährsmann kann man Hofmannsthal selbst in einer Äußerung aus dem Jahr 1894 zitieren, wo er das analoge Verhältnis des »Traumes zum Kunstwerk«227 herausstellt. Auch Schnitzler weist in einem Brief an den Dichter auf das »fahle Licht des Traums«228 in der Erzählung hin. Die 'traumhafte' Erzählweise läßt die Raumdarstellungen symbolisch erscheinen und ermöglicht oder erfordert sogar eine psychologische Deutung.229 Die Beschreibung der Einrichtung des Kaufmannssohns zeichnet zugleich seine ästhetizistische Existenz. Die »Schönheit der Wohnung«230 ist sein Anliegen; sie gewinnt für ihn eine zentrale Bedeutung. Sie wird zum »Bild der verschlungenen Wunder der Welt«231: Ja die Schönheit der Teppiche und Gewebe und Seiden, der geschnitzten und getäfelten Wände, der Leuchter und Becken aus Metall, der gläsernen und irdenen Gefäße wurde ihm so bedeutungsvoll, wie er es nie geahnt hatte. Allmählich wurde er sehend dafür, wie alle Formen und Farben der Welt in seinen Geräten lebten. 232
Kontrastiv dazu gestaltet Hofmannsthal das Sterbezimmer des Kaufmannssohns. Die Schönheit ist der Trostlosigkeit gewichen: Noch mehr aber erschreckte und ängstigte ihn; allein zu sein in diesem trostlosen Raum. Mühsam drehte er die Augen in den schmerzenden Höhlen gegen die Wand und gewahrte auf einem Brett drei Laibe von [...] Brot [...]. Sonst war nichts in dem Zimmer
225 226
227 228 229 230 231 232
220
Vgl. a.a.O., S.160. Vgl. den Forschungsbericht von Hans-Albrecht Koch (Hugo von Hofmannsthal. Erträge der Forschung. Darmstadt 1989. S.39ff. und 122ff.) Zuletzt hat Jens Rieckmann (Rieckmann 2 1986, S.177) auf die Analogie von Traum und Erzählung verwiesen. Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.377. Hofmannsthal, Schnitzler 1983, S.63 (Brief Schnitzlers vom 26.11.95). Hofmannsthal 1979, Bd.7. S.45. Vgl. Kapitel 3.b). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.45. A.a.O. Vgl. hierzu auch Weinhold 1977, S.19.
als harte, niedrige Betten und der Geruch von trockenem Schilf, womit die Betten gefüllt waren, und jener andere trostlose, dumpfe Geruch. 233
Schon das bloße Durchlesen dieser Passage macht deutlich, daß der Hofmannsthalsche Text nicht - wie Dörmanns ' Int6rieur' -Gedichte - in der ästhetisch orientierten Schilderung aufgeht. Allein die kontrastive Gestaltung dieser zwei beschriebenen Räume fordert einen hermeneutischen Umgang mit dem Text, der hier nur angedeutet werden soll: Zwar »verhilft« erst Freuds 'Traumdeutung' »dem Traum« endgültig »zur Sprache«234, wie Gotthart Wunberg formuliert, aber die Semantik des Traumes ist im Wiener Fin de siöcle zweifellos schon vorher en vogue; der 'psychoanalytische' Diskurs ist zwar mit den 'Studien über Hysterie' nicht etabliert, aber eröffnet. Die kahlen, trostlosen Wände in Hofmannsthals Erzählung von 1895 bezeichnen nicht nur das Milieu, in dem der Kaufmannssohn 'gelandet' ist, sondern charakterisieren seine Situation als eine total vereinsamte und von jeglicher (Lebens-)Perspektive abgeschnittene. Die Wände schließen ihn gegen alle Hilfe von außen ab; die fehlenden Ornamente verweisen auf die - innnerhalb der Fiktion der Erzählung - tatsächliche Situation. Kein Schmuck, kein Blendwerk aus ästhetisch interpretierbaren Gegenständen kann seine Vereinsamung kaschieren, 'schönen', kann helfen sie zu 'verdrängen'. Mit Freud gesprochen, enthält das trostlose Sterbezimmer 'verdichtet'235 die psychische Situation des Kaufmannssohns: die ungeschminkte semiotische 'Rekonstruktion' seiner 'Seele'. Seine Agonie stellt sich als letzter Ausbruchsversuch aus der Vereinsamung seiner narzißtischen Existenz dar, auf die mit Spiegelmetaphern innerhalb der Erzählung immer wieder verwiesen wird.236 Wenn man die Evokation eines Zimmers im Traum mit Freud als 'Mutterleib', als Hort der Geborgenheit, aber auch als Ort der Lustentfaltung lesen kann237, wird das Sterbezimmer des Kaufmannssohns zugleich zum Bild der fehlenden elterlichen Fürsorge - er ist ja »vater und mutterlos«238 - und des Scheiterns seiner Initiationsversuche in die Erwachsenenwelt. Es bleibt ihm nur, »wie ein Kind« zu wimmern, »nicht
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236 237 238
Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.62. Alle Zitate: Gotthart Wunberg: Wiener Perspektiven im Werk von Schnitzler, Hofmannsthal und Freud. In: Literatur und Kritik 1985. S.36. Vgl. etwa Freud 1940ff„ Bd. XI, S.174ff„ ΙΙ,ΙΠ, S.284ff. und J[ean] Laplanche, J[eanBertrand] Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Übers.v. Emma Moersch. Frankfurt 1972. Bd.2. S.580ff. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.50, 54ff. Vgl. Freud 1940ff., Bd.XI, S.157f„ 160f., auch: Bd.II.III, S. 90. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.64. ('Erster Entwurf zum 'Märchen').
221
vor Schmerz, sondern vor Leid«.239 Das Pferd, das ihn erschlägt, wäre dann - wieder mit Freuds 'Traumdeutung' - als Sexualsymbol, die Todesszene als libidinöses Scheitern und deshalb als narzißtische Bedrohung240 zu deuten. Sein gescheitertes Verlangen nach Sexualität und - dadurch - nach Mündigkeit wird offenbar; so bleibt er Kind: Kaufmannsjo/in. Zusammenfassend kann man bemerken, daß die Darstellungen von Interieurs und Exterieurs einerseits der Evokation von vagen 'Stimmungen' dienen, andererseits aber auch genutzt werden, um darüber hinaus Inhalte zu vermitteln: sie erhalten symbolische oder psychologische Bedeutungen und werden in kunsttheoretische Diskussionen eingebunden. Oft wird der Gegensatz von Innenraum und Fassade, von Drinnen und Draußen 'produktiv' genutzt. Der Frage nach dem Vorkommen und der Verwendung des für die Wiener Moderne konstitutiven Gegensatzpaares von Interieur und Exterieur und von künstlichen und natürlichen Lebensräumen, sowie des Motivs der 'toten Stadt' folgt nun die am Beispiel des 'Märchens' von Hofmannsthal schon angedeutete Erörterung psychischer Konnotationen von Raum- und Landschaftsdarstellungen. b) Psychogene Strukturen Mit Gabriels letzter Äußerung in Hofmannsthals 'Gespräch über Gedichte' von 1903 läßt sich jener Gedanke charakterisieren, der einer Erörterung psychogener Strukturen in Raum- und Landschaftsrealisierungen zugrunde liegt. Der sensitiven Intensität des Goethe-Textes 'Selige Sehnsucht' nachgehend, bemerkt Gabriel, »daß es Zusammenstellungen von Worten gibt, aus welchen, wie der Funke aus dem geschlagenen dunklen Stein, die Landschaften der Seele hervorbrechen, die unermeßlich sind wie der gestirnte Himmel«.241 Aus der Zusammenstellung von Worten entsteht im Text eine Landschaft, die als sekundärer Text lesbar wird. Dieser 'Sekundärtext' referiert auf psychische Vorgänge im Betrachter
239 240
241
222
A.a.O., S.62. Vgl. Freud 1940ff„ Bd.XI, S.158, 167, Π,ΠΙ, S.383ff., 400f„ 414 und Wilhelm Stekel: Die Sprache des Traumes. Eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes in der Beziehung zur kranken und gesunden Seele für Ärzte und Psychologen. Wiesbaden 1911. S. 123-147. Waltraud Wiethölter interpretiert das Pferd auch als Symbol des Weiblichen bzw. Mütterlichen. »Daß dabei erotische und sexuelle, vor allem aber Inszestwünsche im Spiel sind, wird unter Psychologen nicht mehr diskutiert.« Vgl. Wiethölter 1990, S.44f., Zitat: S.45. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.509; vgl. auch Bd.l, S.32: »da wir redend / Die Landschaft uns vor Augen in ein Reich / Der Seele wandelten.«
der Landschaft; anders ausgedrückt: die im Text realisierte Landschaft ist auch als psychisch konnotierte lesbar. Viele Raum- und Landschaftsrealisierungen der Wiener Moderne - so lautet die These der folgenden Ausführungen - enthalten Signifikanten, die auf psychogene Strukturen beziehbar sind. Die sprachlich realisierte Landschaft stellt sich als analysierbarer Text psychischer Vorgänge dar, die Teil des fiktionalen Geschehens sind. Voraussetzung einer Untersuchung von Räumen und Landschaften als psychologisch analysierbare 'Sekundärtexte' ist - in Anlehnung an Jacques Lacan - die Annahme einer »konstituierende[n] Rolle des Signifikanten im Status des Unbewußten«242: die Signifikanten der Landschaft verweisen, metonymisch oder metaphorisch, auf innerhalb des Textes konstituierbare psychische Sinnstrukturen; psychologische Erkenntnisse über den Autor der Texte interessieren dabei nicht. Der Interpretation obliegt es, in »Zusammenstellungen von Worten« psychogene Strukturen - »Landschaften der Seele« - freizulegen, die auf andere Signifikantenketten innerhalb des Textes und darüber hinaus des jeweiligen Diskurses referieren. Insofern beruht die Beschreibung psychogener Strukturen von Raum- und Landschaftsrealisierungen auch auf intertextuellen und ikonographischen Beobachtungen. Das Paradigma eines psychisch strukturierten Raums in der Literatur ist die narzißtisch wahrgenommene Landschaft, die Landschaft, die nichts anderes erzählt als dasjenige, was der Betrachter in sie hineinliest. Der Narziß-Mythos gehört neben 'Ödipus' und 'Elektra' zu den mythologischen Modethemen der Jahrhundertwende. Kaum ein anderes mythologisches Konstrukt kann besser das für die Wiener Moderne so zentrale Problem der Ich-Dissoziation und -Konstitution veranschaulichen. Daß dieser Mythos, der im Grunde schon eine ganz spezifische Landschaftswahrnehmung voraussetzt, dazu dienen kann, psychische Strukturen, die sich in Landschaftsbilder dieser Zeit 'einschreiben', zu verdeutlichen, verwundert deshalb kaum. Der vielleicht wichtigste Text über den Narziß-Mythos um 1900 ist Andr£ Gides 'Tractat von Narciss', der 1901 in der Übersetzung von Emil Rudolf Weiß als Leitartikel in der Wiener Rundschau erscheint.243 Es ist die erste deutsche Übersetzung des 'Traite du Narcisse' von 1891. Interessanterweise enthält Gides Text neben mythologischen Visionen auch Landschaftsbilder, die seine 'Theorie des Symbols' - so der Untertitel des Tractats - erhärten sollen.
242
243
Lacan 1973-1975, Bd.II, S.38 ('Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud'). Andr6 Gide: Der Tractat von Narciss (Theorie des Symbols). Deutsch von E.R.Weiß. In: Wiener Rundschau. 5,7-1901. S.141-146. Zum 'Narziß'-Mythos um 1900 vgl. auch: Zürcher 1975.
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Den Eingang des Textes bildet die Erzählung des bekannten Mythos, an die sich eine Rechtfertigung der modernen Neuformulierung mythologischer Rede anschließt. Diese geht insofern von der historistischen Situation der Moderne aus, als sie annimmt, daß nicht nur alles schon gesagt wurde, sondern auch vieles davon - wie sich zeigen wird - unmittelbar zur Textproduktion zur Verfügung steht. Die Rechtfertigung selbst bleibt in der Tradition mythentheoretischer Überlegungen: Die Wiederholung des prinzipiell Gewußten ist konstitutiver Bestandteil mythologischer Rede. Narciss war vollkommen, schön. [...] Er verschmähte die Nymphen, weil er verliebt war in sich selbst. Kein Hauch störte die Quelle, in der er, ruhig und gebeugt, sein Bild bewunderte ... - Ihr kennt die Erzählung. Trotzdem werden wir sie weiter sagen. Alle Dinge sind schon gesagt. Aber da niemand zuhört, muss man immer wieder von vom anfangen. Keinen Uferhang und keine Quelle gibt's mehr. Keine Verwandlung und keine bewunderte Blume. Nichts, als den einzigen Narciss, den Träumer und sich in Grisaillen Isolierenden. 244
Aus dem Grau einer »Landschaft ohne Linien, die ihren Flächen nicht widerspricht«245, sucht, so berichtet der Text, Narziß auszubrechen, um zu erfahren, »was für eine Form seine Seele hat.«246 In der Tristesse eines Ufers »des Flusses der Zeit«247 zeigt sich ihm schließlich vielfarbig »eine kleine Erscheinung«248: Uferblumen, Baumäste, Stücke blauen Himmels, gespiegelt, eine ganze Flucht schneller Bilder, die nur auf ihn warteten, um zu sein, und die unter seinem Auge sich färben. Dann öffnen sich Hügel, und Wälder ziehen längs den Thalhängen. 249
Diese Landschaftserscheinungen sind »Gesichte die nach dem Lauf der Wellen wogen und welche die Fluten verschieden zeigen.«250 Narziß
244 245 246 247 248 249 250
224
A.a.O., S.141. A.a.O. A.a.O. A.a.O., S. 142. A.a.O. A.a.O. A.a.O. Vgl. zur Interpretation dieser narzißtischen Landschaftsvision auch: Le Rider 1989, S. 199-200. Le Rider interpretiert die Landschafts Wahrnehmung von Gides Narziß als Wahrnehmung der »gesamte[n] Natur« (S.199), einer »im Spiegel entstehende[n] Weltschöpfung« (a.a.O.). Dieser 'doppelte' Narzißmus, der neben der Ich-Imago auch den ursprünglichen Weltzusammenhang sehe, weise Parallelen zu Lou Andreas-Salomds Narzißmus-Theorie auf. Vgl. dazu: Lou Andreas-Salomd: Narzißmus als Doppelrichtung. In: Imago 7,4-1921. S.361-386.
betrachtet sie »in Verwunderung, aber begreift [sie noch] nicht gut«251, weil er das Prinzip noch nicht verstanden hat, nach dem sie aufgebaut sind. Die narzißtische Landschaft enthält nämlich alles, was der Betrachter in sie (unbewußt) hineinliest. Am Ende des Textes zeigt sich: nur wenn er die Landschaft nicht 'begreift', bleibt sie schön. Die Betrachtungsweise, die selbst das scheinbar Vergessene als (unbewußte) Erinnerungsspur im 'Fluß der Zeit' wahrnimmt, macht der Text zu seinem Prinzip als er eine 'Paradies-Landschaft', die Narziß träumt, entwirft. Sie steht damit im bewußt inszenierten Gegensatz zur Sehweise des Melancholikers, der dem Unwiederbringlichen verzweifelt nachschaut; die Tristesse am Ufer des 'Lethe'-Flusses spielt auf diesen Topos an. Die sich im Fluß spiegelnde schöne Landschaft erzeugt keine defizitären Gefühle, weil sie alles spiegelt, was in sie projiziert wird und weil sie im 'schönen Schein' der Landschaft tiefere Strukturen verbirgt. Den Mythos benutzt Gide als Medium, seine Symboltheorie zu entwickeln. Dabei gleiten verschiedene Mythologeme, philosophische Gedanken und moderne Psychologie synkretistisch ineinander. Der antike Mythos von Narziß wird zum modernen, indem er historistisch weitererzählt und poetologisch ausgedeutet wird. Narziß träumt am Flußufer vom biblischen Paradies, von der germanischen Weltesche Yggdrasil, von 'Elohim, dem verborgenen Gott, vom Teufel, von Thüle, von Christus, der Offenbarung und der Apokalypse. Das synkretistische Verfahren, das sich durch ständige Wiederholungen eben derselben Aussagen unter Verwendung variierter, an sich unvereinbarer, mythologischer und philosophischer Bilder selbst als 'mythologisches' ausweisen will, rechtfertigt sich offensichtlich durch die vom Text entworfene 'Theorie des Symbols'. Ziel der Ausführung ist die Realisierung eines textuellen mythologischen Verfahrens, in dem Theoreme über das Symbol vermittelt werden sollen, die Gide selbst in folgenden zwei Sätzen seiner Anmerkungen (!) zum Text zusammenfaßt. Die Wahrheiten bleiben hinter den symbolischen Formen. Jedes Phänomen ist das Symbol einer Wahrheit.252
Da die Wahrheiten 'hinter' den Symbolen liegen, scheinen die evozierten Bilder beliebig. Sie können gemeinsam eine 'dahinter liegende' Theorie 'entwerfen'. Die oben zitierte Uferlandschaft taucht beispielsweise als Variation des platonischen Höhlengleichnisses wieder auf. Auch mit der Reformulierung der Landschaft als platonisches Tableau trägt der Text sein
251 252
Gide 1901, S. 142. A.a.O., S. 144, Anmerkung.
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symbolistisches Credo vor: die Wahrheit liegt hinter den Phänomenen, die Phänomene spiegeln, d.h. symbolisieren sie nur. Wenn Narciss sich umdrehte, sähe er, denke ich, einen grünen Uferhang, einen Himmel vielleicht, den Baum, die Blume, irgendetwas Beständiges schließlich, das dauert, dessen Reflex aber auf das Wasser fallt und sich bricht.253
Gides Variationen über den Narziß-Mythos wären für den hier diskutierten Zusammenhang vielleicht weniger interessant, wenn nicht in ihnen das Moderne narzißtisch gesehener Landschaft paradigmatisch sichtbar würde. Narziß sieht in der Quelle nicht nur sich selbst, sondern auch Landschaften, die symbolisch auf einen eigentlichen Bereich jenseits des Spiegelbildes weisen sollen. Der Dichter ist der, der betrachtet. Und was sieht er: das Paradies. Denn das Paradies ist überall.«254
In dieser poetologisch formulierten Aussage des Textes verbirgt sich die psychogene Struktur narzißtisch gesehener Landschaft. Narziß sieht sich und eine Wunschlandschaft, oder besser: eine Wunschlandschaft, die symbolisch verschlüsselt die Konturen seiner Seele trägt. Die Struktur der landschaftlichen Ich-Imago enthält verborgen die Sprache des Unbewußten. Als sich Narziß dem Landschaftsbild nähert, sieht er »plötzlich nichts mehr als zwei Lippen vor den seinen, die sich strecken, zwei Augen, die seinen, die ihn betrachten.« Bei näherem Hinsehen »versteht« Narziß, »dass er das ist - dass er allein ist - und dass er sich verliebt in sein Gesicht.«255 Gide formuliert den 'hermeneutischen' Ansatz der einige Jahre später sich etablierenden Psychoanalyse. Im näheren, tieferen Betrachten kommt Narziß zum schmerzlichen Verständnis seiner selbst. Das ist der eigentliche Skopus des Textes. Narziß, im Betrachten seiner Phantasmagorien verharrend, wird am Ende des Tractats zum »wachsenden Symbol«256 einer Betrachtungsweise und damit eines poetischen Verfahrens. Im Zurückweichen von der Bildfläche erscheint die ruhige Schönheit der »Vision«257 wieder, die narzißtische Landschaft, die die häßlichen Strukturen der Seele verdeckt, aber nicht beseitigt.
253 254 255 256 257
226
A.a.O., S. 143. A.a.O., S.145. Alle Zitate: a.a.O., S. 146. A.a.O. A.a.O.
In Hofmannsthals 'Andreas'-Roman258 findet sich am Ende einer Binnenerzählung des Helden eine narzißtisch gesehene Landschaft: Andreas war zumut wie noch nie in der Natur. Ihm war, als wäre dies mit einem Schlag aus ihm selber hervorgestiegen: diese Macht, dies Empordrängen, diese Reinheit zuoberst. Der herrliche Vogel schwebte oben allein noch im Licht, mit ausgebreiteten Fittichen zog er langsame Kreise, der sah alles dort, wo er schwebte, sah noch ins Finazzertal hinein, und der Hof, das Dorf, die Gräber von Romanas Geschwistern waren seinem durchdringenden Blick nahe wie diese Bergschluchten, in deren bläuliche Schatten er hinabäugte, nach einem jungen Reh oder einer verlaufenen Ziege. Andreas umfing den Vogel, ja er schwang sich auf zu ihm mit einem beseligten Gefühl. [...] Des Tieres höchste Gewalt und Gabe fühlte er auch in seine Seele fließen. 259
Paul Hoffmann interpretiert diese Landschaftsszene als »Offenbarungsaugenblick«, als Moment, der dem Helden eine »blitzartige Selbsterkenntnis gewährt«.260 Die Wahrnehmung des göttlichen Symbols eines aufsteigenden Adlers »kommt« - wie Wiethölter sagt - »dem Akt einer Bevollmächtigung gleich«.261 Die Erscheinung des Vogels »markiert die Schwelle, an der das aktive und selbstbewußte Leben endlich beginnt«.262 Andreas entdeckt aus der fiktiven Vogelperspektive seine Möglichkeit, räumliche (und psychisch bedingte) Grenzen zu überschreiten. Insofern erfährt Andreas durch die gesehene Landschaft ein Stück seiner selbst, besser: seiner Mächtigkeit über sich selbst - aber er 'erkennt' sich nicht. Seine Erinnerung - und nicht die natürliche Welt um ihn herum konstruiert die Landschaft, die er als Vogel wahrzunehmen meint; sie projiziert psychogene Bilder, die sich ihm eher 'aufdrängen', als daß er sie 'bewußt' wahrnimmt. Genau das macht der Text deutlich, wenn er später davon spricht, daß Andreas Romana jenseits der Berge »niederknien und beten« sieht, und »daß der Berg nichts anderes war als sein Gebet«.263 Andreas sieht nicht auf die Landschaft; »er sah in sich
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Zum folgenden vgl. auch die kürzlich erschienene Interpretation von Waltraud Wiethölter (in: Wiethölter 1990, besonders S.162-167). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.238. Vgl. hierzu auch: Hugo v. Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Hg. v. Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Heinz Rölleke, Ernst Zinn. Frankfurt 1982. Bd. XXX. Besonders S.75-76. Paul Hoffmann 1987, S.211. Wiethölter 1990, S.163. Der 'Adler' ist als vitalistisches oder göttliches Symbol zu lesen; vgl. auch Lurker 1988, S.6f. Wiethölter 1990, S.164. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.239. Unverständlich ist, warum Paul Hoffmann in diesem Zusammenhang davon spricht, daß der »plötzliche Anblick eines Adlers, der hoch über den Abgriinden der Gebirgslandschaft schwebt, [Andreas] [...] aus seiner dumpfen Ichbefangenheit« (Paul Hoffmann 1987, S.211) »befreit« (a.a.O.). Dieser Landschaftsblick aus der Vogelperspektive spricht eher für den Solipsismus des
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hinein«.264 Die Möglichkeit, so zu sehen, rettet den Helden aber vor den Selbstzweifeln, die er angesichts einer Verfehlung hegt, welche ihn mit dem in der Landschaft vorkommenden Dorf verbindet, und sie läßt ihn schließlich auch hoffen, jene Liebe - zu der in der Beschreibung erwähnten Romana - nicht zu verlieren. Das Glück und die »unsagbare Sicherheit«265, die Andreas nach dieser Landschaftsimagination spürt, entspricht dem Gefühl des Narziß, als er sich selbstverliebt über die Quelle beugt, sein Bild zu bewundern. Die Landschaft enthält - wie das Gesicht des Narziß in der Quelle - Momente des Helden; sie ist aber nicht mehr als sein imaginäres Wunschbild, das ihm hilft seine »Torheiten« zu verdrängen, wegen deren sich Andreas »schämte«.266 An diesem Punkt des Romans, dem Ende der Erinnerungen des Helden, geht es nicht um Selbsterkenntnis, sondern bloß darum, an jene »drei Tage in Kärnten nicht [zu] denken«267, das zu bewältigen, was »jeden Tag einmal« 'über ihn kam'.268 Deshalb ist die Imagination der Landschaft aus der Vogelperspektive keine »Erhebung des verstörten Ich zu seinem wesentlichen Selbst«269, wie Hoffmann sagt, sondern der narzißtische Blick in eine selbst geschaffene Welt, die wie das Spiegelbild des Narziß als Wunschbild eigener Möglichkeiten ein nicht verwirklichtes Ich präfiguriert. Damit, so könnte man mit Lacan formulieren, wird im Landschaftsbild ein Sprung »von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation«270 eines imaginären Ichs deutlich. Der »lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation« mit dieser Imago erliegt die Psyche von Andreas, die immer neue »Phantasmen ausheckt«271, um dem Ich vorerst jenes neue 'Selbstbewußtsein' zu geben, mit dem Andreas seine Reise fortsetzen kann. Aus dem im imaginären Landschaftsblick vorgeführten narzißtischen Solipsismus des Helden sollen die späteren Begegnungen in Venedig befreien. Dort erst soll er durch die Erfahrung der bewußten 'objektivierenden' Selbstdoppelung im Gespräch mit dem Malteser »nur durch einen Bezug auf diesen, verfeinert und sammelt sich Andreas' Existenz«272 - und der Wahrnehmung der Spaltung Marias zu sich selbst finden. Die imaginierte Landschaft, das Schlußbild seiner Erinnerungen
264 265 266 267 268 269 270 271 272
228
Protagonisten. Vgl. hierzu auch meine Interpretation des 'Reiselieds' von Hofmannsthal in Kapitel 2.a). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.239. A.a.O. A.a.O. S.205. A.a.O. A.a.O. Paul Hoffmann 1987, S.211. Lacan 1973-1975, Bd.I, S.67 ('Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion'). A.a.O. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.272.
zu Beginn seines Venedig-Aufenthalts, steht am Anfang von »Andreas' Weg«.273 Die 'Seele' ist in der Wiener Moderne nicht erst seit Sigmund Freud en vogue. »In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand in Literatur wie medizinischer Wissenschaft gleichermaßen ein starkes Interesse an der Psychopathologie.«274 Abhandlungen der Psychiatrie, Psychopathologie und Vulgärpsychologie werden nicht nur von der Literatur des ausgehenden Jahrhunderts rezipiert; sie wird schließlich selbst Gegenstand durchaus populärer psychologischer und psychopathologischer Untersuchungen: etwa in Max Nordaus Anfang der neunziger Jahre erstmals erscheinendem Werk 'Entartung' oder in Wilhelm Stekels 'Dichtung und Neurose' von 1909.275 Die Beziehung zwischen Psychologie, Psychiatrie und Psychopathologie auf der einen Seite und Kunst und Literatur auf der anderen Seite sind vielfältig und oft beschrieben worden.276 Otto Wagners Architektur-Entwürfe für die Wiener Psychiatrie in 'Steinhof, Gustav Klimts Universitätsbild 'Medizin', Arthur Schnitzlers Aufzeichnungen 'Über Psychoanalyse' oder Sigmund Freuds Literatur- und Kunstinterpretationen gehören in diesen Kontext. Der wichtige Hinweis von Michael Worbs, der »Einfluß Freuds« auf die Wiener Moderne setze »erst um die Jahrhundertwende ein« und ihre »Entwicklung« verliefe zu »den Entdeckungen Freuds parallel«277, sowie die unübersehbare Relevanz der französischen und deutschen Psychiatrie und Psychologie des 19. Jahrhunderts (besonders: Jean-Martin Charcot und Johann Friedrich Herbart und ihre Schulen278 ) für die Wiener Geisteswelt der Moderne legen nahe, von einer (oberflächlichen) Feststellung der Wirkung der Freudschen Psychoanalyse auf die Literatur des Jungen Wien Abstand zu nehmen. Vielmehr läßt sich konstatieren, daß in Wien um 1900 Literatur, Kunst und Psychoanalyse zum Teil am gleichen Diskurs partizipieren, daß die Erörterung gleicher Phänomene in allen Sparten möglich ist und daß diese zu verblüffend ähnlichen Ergebnissen kommt. Sigmund Freud bemerkt selbst bekanntlich erst relativ spät in der Wiener Literatur um 1900 »die nämlichen Voraussetzungen, Interessen 273 274 275
276 277 278
A.a.O., S.291. Worbs 1988, S.57. Vgl. Max Nordau: Entartung. Berlin 1892, 1893 und Wilhelm Stekel: Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerks. Wiesbaden 1909 (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Heft 65). Vgl. vor allem: Worbs 1988, S.47-121. Worbs 1988, S.62. Zur Bedeutung der psychologischen Lehren Johann Friedrich Herbarts und seiner Schule für die Wiener Moderne vgl. Johnston 1974, S.285-291 und vor allem: Wilhelm W. Hemecker: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse. München 1991.
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und Ergebnisse«279, ein ähnliches Denken über psychische Dinge, speziell bei Arthur Schnitzler und Popper-Lynkeus. In seiner Schrift 'Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus' hebt Freud die Behandlung und innertextliche Interpretation der Träume in Poppers Erzählung 'Träumen wie Wachen' hervor. Diese Erzählung erscheint im gleichen Jahr wie Freuds 'Traumdeutung' im zweiten Teil des Erzählungsbandes 'Phantasien eines Realisten'. Der Protagonist der Erzählung behauptet, Träumen und Wachen seien »zwei Zweige eines Stammes«280 und führt vor, wie im Traum die Ereignisse des Tages - etwa die Erzählung eines Freundes - verarbeitet werden. Wie Freud sieht er die Mechanismen des Unbewußten im Traum walten, wenn er in den Träumen des Freundes »etwas Verstecktes [...], etwas Unkeusches eigener und höherer Art, eine gewisse Heimlichkeit«281 entdeckt. Sigmund Freud interpretiert diese Stelle der Erzählung als zeitgleiche Formulierung seiner eigenen Position: Dies aber war unter Verzicht auf psychologische Terminologie dieselbe Erklärung der Traumentstellung, die ich aus meinen Arbeiten über den Traum entnommen hatte. Die Entstellung war ein Kompromiß [...] zwischen Bewußtem und Unbewußtem 2 8 2
Für den hier diskutierten Zusammenhang ist die Erzählung 'Träumen wie Wachen' von Josef Popper-Lynkeus interessant, weil sich in ihr paradigmatisch psychisch strukturierte Traum-Landschaften vorführen lassen. Dabei sind - der Erzählung Poppers und der Interpretation Freuds folgend - die Träume des Protagonisten als Sprechweisen des Unbewußten anzusehen, so daß die in den Träumen vorkommenden Landschaften wie die 'narzißtisch' wahrgenommenen Räume als psychische Diagramme gelesen werden können. Jeder Traum des Protagonisten in 'Träumen wie Wachen' entwirft zuerst den Ort, in dem die Handlung des Traumes zu situieren ist. Diese vorgeschalteten Landschaften enthalten psychisch verdichtet und symbolisch verschlüsselt - in nuce den später erzählten und interpretierten Trauminhalt, wobei die Interpretation seiner Träume durch den Protagonisten selbst nur als signifikante Verschiebung der Trauminhalte zu verstehen wäre: als weitere metonymische Struktur der Sprache seines Unbewußten. Der Beginn der ersten »Reise«283 in die Traumwelt des Protagonisten entwirft folgende Landschaft:
279 280
281 282 283
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Sigmund Freud: Briefe an Arthur Schnitzler. In: Neue Rundschau 66-1955. S.97. Lynkeus [Josef Popper]: Phantasieen eines Realisten. Dresden und Leipzig 21900. Zweiter Theil. S.138. A.a.O., S. 149. Freud 1940ff. Bd.XVI, S.265 ('Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus'). Lynkeus 2 1900, Π, S.139.
Einige Augenblicke danach sah er sich in einer ihm ganz fremden Gegend. Er stand mitten in einem frisch gepflügten Ackerfelde; die Landschaft war weithin ganz eben, nur am fernen Horizont erhoben sich niedrige Hügel und waren freundliche Dörfer zu sehen; und über dem Ganzen ging eben die Sonne auf. 284
Deutlich geht schon in dieses erste Traumbild das Geschehen des Tages, soweit der Text darüber berichtet, ein. Die Aussage des Protagonisten vor dem Schlafengehen, »gegen sechs Uhr Morgens«285 könne sein Diener wieder mit ihm rechnen, findet sich als Zeit- und Lichtbestimmung im Landschaftsbild; »eben« geht dort »die Sonne auf«. Das Motiv der »Reise«, mit dem der Protagonist metaphorisch sein Zubettgehen umschreibt und seine Erwartung, im Traum »heute Neues [zu] erfahren«286, kehren als fremde Landschaft wieder. Die Traumlandschaft liest sich hier - ganz freudianisch - als Wunscherfüllung. Der frisch gepflügte Acker als Fruchtbarkeitssymbol steht für das lebensfrohe Moment, das den »munter wie immer«287 zu Bett Gehenden begleitet. Die niedrigen Hügel und die freundlichen Dörfer in der Ferne schließlich charakterisieren seine »Begabung [...], im Traume das Wachen harmonisch zu ergänzen«288 - mit Freud: unangenehme Disharmonien mit Hilfe der »Traumzensur«289 zu bereinigen. So zeigt die Traumlandschaft die vom Protagonisten beschriebene und auch verfolgte Traumarbeit, die von seinem Freund nicht verstanden wird. Diesem erscheint nämlich der Träumer nur deshalb »in der Harmonie [seines] [...] ganzen Wesens«290, weil er nicht sieht, daß der Traum das Wachen verarbeitet und die Interpretation im Wachen den Sinn des Traums ein weiteres Mal verschiebt. Als Analytiker würde der Freund jenen »Widersinn«291 in den Träumen des Protagonisten lesen, den die Harmonie der Bilder verdeckt, würde er entdecken, was »im tiefsten Grunde durchaus nicht so« ist292, wie es sich darstellt. Der Fortgang der Traumerzählung bestätigt einerseits, daß dieser Traum als Wunscherfüllung interpretiert werden kann und andererseits, daß der Träumer im Erzählen die dem Traum zugrunde liegenden Widersprüche harmonisieren will. Auch das ist anhand der Landschaftsbilder im Traum erkennbar:
284 285 286 287 288 289 290 291 292
A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O., S.149. Freud 1940ff., Bd. XVI, S.264; vgl. auch Bd. Π/ΙΠ, S.283-512. Lynkeus 2 1900, Π, S.149. A.a.O. A.a.O.
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'Diese Ackerfurchen finde ich sehr tief, viel tiefer, als sonst,' sagte der Träumer. 'So ist es auch!' erwiderte der Genius. 'Jetzt sieh doch aber, was da heran kömmt.' Und während er das sagte, kam ein Vogel hergehüpft, nicht besonders schön oder glänzend von Gefieder, sondern gleichmäßig grau von Farbe und genau so wie eine Feldlerche gebaut, jedoch von außerordentlichem Umfang. 293
Der Traum des Protagonisten ist von zwei Abspaltungen seines Ichs beherrscht: seinem Genius und der eigenen erträumten Gestalt. Der Genius bekleidet auf einer ersten Ebene ganz traditionell die Funktion des Schutzgeistes, des Lebensbegleiters, der sich im Traum zeigt. Ihm fällt aber auch die Macht zu, jene Visionen zu erschaffen, die die Gestalt des Träumers sieht. Er ist es, der die Wunschbilder des Traumes produziert. Insofern figuriert der Genius auf einer zweiten Ebene »als Imago des eigenen Körpers«294, dem zweiten Teil des Spiegeltableaus im Sinne Lacans. Lynkeus' Erzählung gelingt es, mit dieser Duplizierung des Ichs die doppelte Funktion des Traums als Wunscherfüllung und Verarbeitung des Geschehenen zu thematisieren: der Träumer zeigt sich genau deshalb als unzufrieden, weil er jede Vision seines Genius schon kennt und deshalb mit den Worten reagiert: »Es erinnert mich an das und das!«295 Die Macht der Genius-Imago reicht nicht aus, den ständigen Ansprüchen des Ichs gerecht zu werden. Im Verhältnis des Produzenten der Wunschbilder zum unzufriedenen Rezipienten zeigen sich jene Differenzen, »in denen sich psychische Realitäten manifestieren«.296 Auch im oben angeführten Beispiel ist diese Differenz zwischen Genius und Träumer bemerkbar. Die Hypertrophie der Landschaft beeindruckt den Träumer keineswegs. Mit Hilfe der Erinnerung gelingt die Einordnung des Ungeheuren; sie hält ihn zu neuen Forderungen an: 'Eigentlich eine riesige Lerche,' sagte der Mann zu seinem Führer, ' - vorausgesetzt, daß dieser Vogel singen kann.' Der Genius lächelte zu diesen Worten, und in demselben Augenblick begann das Thier einige Schritte zu laufen, wobei es [...] den Eindruck eines rechten alten Pedanten von Vogel machte; dann flog er auf, immer höher und höher, und nun sang er von oben herab ein Lied von solcher Schönheit und mit solcher Kraft, daß es schien, die ganze Landschaft würde in Musik getaucht. Der ganze Erdboden, die Thäler und die fernen Berge zitterten vor Freude, so durchdringend schmetterte die Riesenlerche ihr Lied vom Firmament herab. 297
Auch mit dieser Landschaft ist weder das Träumer-Ich noch der Erwachende zufrieden. Der Vision einer umfassenden natürlichen Harmonie,
293 294 295 296 297
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A.a.O., S. 140. Lacan 1973-1975, Bd.I, S.65 ('Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion'). Lynkeus 21900, Π, S.140. Lacan 1973-1975, Bd.I, S.65. Lynkeus 2 1900, Π, S.141.
die durch das klingende Landschaftsbild symbolisiert wird, hält der Träumer die Errungenschaften der Kultur entgegen.298 Die Unzufriedenheit des Träumers mit den Visionen seines Genius' verweist keineswegs auf ein harmonisches, »vollkommen friedliches Wesen«299, wie der zuhörende Freund glaubt, sondern auf die essentielle Spaltung menschlicher Existenz in Wunschbild und Realität.300 Daß die im oben zitierten Landschaftsbild deutlich werdende Differenz zwischen Naturharmonie und Kultur zentral auf das Problem der Ichbildung verweist, zeigt der zweite Traum des Protagonisten, der deutlich sexuell konnotiert ist. Als Skopus dieses Traums zeigt sich ein indifferentes Gefühl des Traumprotagonisten. Dieser begegnet im »Halbdunkel der Landstraße«301 seinem späteren Mörder, der mit Freud als triebhafte Abspaltung des Träumer-Ichs zu verstehen wäre. Das TräumerIch sieht sich bald von dieser zweiten, leger gekleideten Gestalt mit dicken wulstigen Lippen, aus denen Speichel tritt, umkreist und von dessen Lanze bedroht. Das Berühren der Lanzenspitze im Nacken empfindet der Träumer dabei nicht als bedrohlich; er »fühlte [...] hinter seinem Rockkragen ein Hin- und Herreiben des Lanzeneisens, und es war ihm das gar nicht unangenehm.«302 Im Moment des höchsten Genusses wird der Träumer von seinem Begleiter mit der Lanze ermordet. Das Träumer-Ich erliegt seinen einerseits als lustvoll, andererseits als bedrohlich empfundenen Trieben. Die entsetzte Sprachlosigkeit einer weiteren Abspaltung des Ichs, die nach dem Mord als Zeuge aus dem Wald tritt, zeigt die Unfähigkeit des Träumers, sich selbst zu begreifen und seine Spaltung in Kultur- und Triebwesen, Realitäts- und Lustprinzip, Imaginäres und Reales303 narrativ zu harmonisieren; es gibt nichts zu erklären, der Versuch der verbalen Bewältigung stirbt in seiner Personifizierung. »Wir fühlen eben«, berichtet der Träumer seinem Freund, »daß wir in den geheimsten Winkel des menschlichen Herzens geblickt.«304 Psychogene Strukturen in Raum- und Landschaftsbildern findet man nicht nur in Traumpassagen wie jenen in Josef Poppers Erzählung. In Hofmannsthals 'Reitergeschichte' können praktisch alle beschriebenen Räume und Landschaften als psychische Diagramme des Protagonisten
298 vgl. a.a.O.: »Wir haben aber auch den Johann Sebastian Bach ... [...] Und er hat's vielleicht noch besser gemacht!« 299 A.a.O., S. 149. 300 Lacan bezeichnet diese beiden Formen des Ich mit 'moi' bzw. 'je'. Sie sind die beiden Seiten des Spiegelstadiums. Vgl. Lacan 1973-1975, Bd.I, S.61-70. 301 Lynkeus 2 1900, II, S.143. 302 A.a.O. 303 Nach Lacan ist das Materiell-Naturhafte das Reale, während das Imaginäre dem Spiegelentwurf des Ichs entspricht. Vgl. Lacan 1973-1975, Bd.I, S.61-70. 304 Lynkeus 2 1900, Π, S. 144.
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gelesen werden. Betrachtet man diesen Text hinsichtlich seiner psychogenen Struktur, dann erscheinen die Signifikanten der aus der Sicht des Protagonisten geschilderten Räume und Landschaften analog zu denen des Traums als sprachlich vermittelte Äußerungen seines Unbewußten. Seine selektiven Wahrnehmungen strukturieren die Textbewegungen. »The text takes on the character of a manifest dream that symbolically refers to a latent psychic significance«305 - wie Richard T.Gray bemerkt. Die beschriebenen Räume und Landschaften haben in der 'Reitergeschichte' deshalb nur eine bedingte Gültigkeit außerhalb der Psyche ihres Protagonisten. Die Relativität der realen Orientierungszeichen des Raumes ist eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der Erzählung. Sie wäre überhaupt nicht verstehbar, wenn man - innerhalb der Fiktion - von bloß 'realen' Räumen in der 'Reitergeschichte' ausgehen würde. Peter Mollenhauer weist darauf hin, daß gerade in der 'Reitergeschichte' verschiedene Wahrnehmungsweisen ein unterschiedliches 'Wirklichkeitsbewußtsein' evozieren. Er zeigt, daß es einen Unterschied macht, ob ein Raum bewußt und zielgerichtet wahrgenommen wird oder ob sich bloß einzelne Eindrücke aufdrängen.306 Der Blick Lerchs in das Interieur der vermeintlichen Bekanntschaft aus Wien, einer jungen Frau, während des Aufenthalts in Mailand wäre in Mollenhauers Augen eine Wahrnehmung der zweiten Art.307 Die Flüchtigkeit des Raumeindrucks, die Mollenhauer konstatiert, ist offensichtlich, auch wenn Lerchs »scharfem Blick«308 ein Spiegelbild nicht entgeht, in dem er ein großes weißes Bett und einen älteren Mann gewahr werden kann. Nachdem Lerch sich der jungen Frau zu erinnern glaubt, beansprucht er genau dieses Haus als Quartier für eine bevorstehende Rückkehr. Zwischen dieser Szene in Mailand, Lerchs Ritt durch das trostlose Dorf und der anschließenden Doppelgänger-Passage an der Brücke besteht ein struktureller Zusammenhang, der für das Verständnis der Erzählung relevant ist. Alle drei Raumwahrnehmungen korrespondieren miteinander.309 Das wird schon durch die Motive sichtbar, die den Mai-
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Richard T. Gray: The Hermeneut(r)ic(k) of the Psychic Narrative: Freud's 'Das Unheimliche' and Hofmannsthal's Reitergeschichte. In: German Quarterly 62.4-1989. S.474. Richard T. Gray verdanke ich auch manchen mündlichen Hinweis zur Interpretation der 'Reitergeschichte'. 306 V g l p e t e r Mollenhauer: Wahrnehmung und Wirklichkeitsbewußtsein in Hofmannsthals Reitergeschichte. In: German Quarterly 50-1977. S.284. 307 Ygj a a o . , S.288: Aus den Wahrnehmungsverben könne man auf die 'niedrige Wahmehmungsstufe' schließen. Die Bewertung der Wahrnehmung ist im hier diskutierten Zusammenhang uninteressant. 308 Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.123. 309 Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.123f., 125ff. und 128. Die Interepretation dieser drei zentralen Raumwahrnehmungen wird schließlich auch Aufschlüsse über die - zuerst
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land-Aufenthalt einerseits und den Ritt durch das Dorf und die anschließende Doppelgänger-Szene andererseits miteinander verbinden: Sowohl in Mailand als auch im abgelegenen Dorf kann Lerch augenblickhaft in Zimmer sehen und Gestalten erblicken. In beiden Orten vervollständigt eine Frau den Gesamteindruck. Einmal schiebt sie den Kopf in den Nacken, einmal ist der Nacken entblößt. In Mailand und im Dorf wendet sich der Wachtmeister zum genaueren Hinsehen um. Hier und dort überprüft er die Beschläge seines Pferdes. Der im Spiegel wahrgenommene ältere Mann, den Mollenhauer mit Recht als im Wunschtraum stilisiertes alter ego Lerchs interpretiert310, korrespondiert mit dem Spiegelbild, das Lerch jenseits des Grabens wahrnimmt. Dem prächtigen Einzug in Mailand, der von staunenden und schauenden Menschen gesäumt wird, entsprechen im 'verlockend-verdächtigen'311 Dorf die abgewandten Gesichter, die Tiere, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, die »kläglichen Augen«312 einer zur Schlachtbank getriebenen Kuh. John Botterman spricht in seiner Interpretation der 'Reitergeschichte' von einer realistischen und einer symbolischen Ebene.313 Wenn auch die
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von Richard Alewyn gestellten - zentralen Fragen des Textes geben: »Warum muß der Wachtmeister Anton Lerch sterben ? Warum mußte er so sterben ?« Vgl. Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal. 41967. S.79 ('Zwei Novellen'). Vgl. Mollenhauer 1977, S.287-289. Mollenhauer sieht in der Verdoppelung des Ichs übrigens keine schizophrenen Anklänge wie Wunberg, sondern eine Bewußtseinslähmung, die aus dem mangelnden Wahrnehmungsvermögen Lerchs resultiere (S.284). Vgl. auch Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965. S.57-67. Auch Wunberg sieht in der Dorfszene »zweifellos« den »Beging des 'irrealen' und letztlich fatalen Erlebnisses des Wachtmeisters« (S.61), deren Höhepunkt allerdings die 'Doppelgänger-Szene' sei. Die Unsicherheit Lerchs gegenüber seiner Umwelt werde bei seinem Ritt durch das Dorf bemerkbar. Allerdings erhält - für ihn - die Landschaft in der sich anschließenden DoppelgängerSzene erst eine andere Qualität. Während das Dorf im ganzen doch 'real' erscheine, sei hier die »Landschaft [...] symbolisch ausgenutzt« (S.63): Die eigentlich überflüssige Brücke über einen trockenen Graben, die zwischen den beiden Gestalten Lerchs steht, könne als Ausdruck der Unmöglichkeit der Vereinigung des Zusammengehörigen gesehen werden. Lerchs Konfrontation mit seinem Ich, seine Ich-Spaltung, die in dieser Szene deutlich wird, sei aber an sich nicht der Grund für Lerchs Tod. Dieser liege vielmehr im Sträuben Lerchs gegen die schizophrene Situation. Lerch sterbe, »weil er seine Ich-Spaltung nicht akzeptiert« (S.67). Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.125. A.a.O., S.127. Vgl. John Botterman: History and Metaphysics. Hofmannsthal's Reitergeschichte as a Realistic and Symbolic Novella. In: Modern Austrian Literature 21,1-1988. S.l-15. John Bottermans Interpretation sieht eine realistische und eine symbolische Ebene der 'Reitergeschichte'. Während die realistische auf Geschehnisse habsburgisch-italienischer Auseinandersetzungen referiere, verweise die symbolische Ebene auf die sozialpsychologische Situation Lerchs: Die Dorflandschaft »represents Lerch's
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'realistischen' Korrespondenzen, die Botterman sieht, für den hier diskutierten Zusammenhang irrelevant sind, so scheinen die von ihm bemerkten zwei Ebenen doch ein Schlüssel zum Verständnis der Landschaften in der 'Reitergeschichte' zu sein. Lerchs Ritt durch das abgelegene Dorf zeigt einerseits soziales Elend in ausgesprochen drastischer Weise, so daß man ohne weiteres von einer Art Hyperrealistik sprechen könnte. Andererseits spiegelt die Dorflandschaft - wie Botterman sagt - die Gemütssituation des Wachtmeisters Lerch.314 Daß die trostlose Situation im Dorf auch hinsichtlich der Psyche Lerchs lesbar ist, läßt nicht zuletzt die Verbindung dieser Szene mit der sich anschließenden 'DoppelgängerSzene' vermuten; beide Sequenzen der Erzählung sind nur zusammen verstehbar. Die Mauern, zwischen denen Lerch reitet, führen ihn unausweichlich vom Dorf zu der schon von weitem erkennbaren Brücke; sie zeigen auch an, daß sich der Wachtmeister offensichtlich noch in unmittelbarer Nähe des Dorfes befindet; sie leiten ihn schließlich zu sich selbst als gespiegelter Gestalt. Die aufeinanderfolgenden Räume der Erzählung, die 'real' nur die Reise Lerchs am 22. Juli 1848 nachzeichnen, verengen sich also bis zum vorläufigen Höhepunkt der Geschichte: der 'DoppelgängerSzene' am Ende des schmalen Gangs. Von der »freien, glänzenden Landschaft«315 über die »Stadt Mailand«316 und ihr Glacis gelangt Lerch im Dorf durch eine Straße, an der »rechts und links [...] schmutzige kleine Häuser«317 stehen. Hinter dem 'letzten Haus des Dorfes' beginnt dann der Gang »zwischen zwei niedrigen, abgebröckelten Mauern«.318 Der Weg zwischen den Mauern scheint unendlich lang, so daß Lerch »jeden Fußbreit«319 hiervon, selbst die Tausendfüßler und Asseln die dort sitzen, erblicken kann. Dieser Weg zeigt sich als eine - fast körperlich
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projection of his symbolically concentrated state of mind« (S.128). Sie zeige symbolisch die typische psychische Situation des geistig verarmten Soldaten. Vgl. a.a.O., S.9. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.121. A.a.O., S.122. A.a.O., S. 126. A.a.O., S.127. Eine ähnliche Situation findet sich übrigens auch im 'Märchen der 672.Nacht' und im 'Andreas'-Fragment: im 'Märchen' befindet sich der Kaufmannssohn nach dem Verlassen des Glashauses »in einem schmalen gemauerten Gange« (a.a.O., S.58). Auch dort steht am Ende eine Brücke - ein Brett wie eine Enterbrücke« (a.a.O.) - , über die der Held gehen muß. Auch dort deutet diese Szene bereits auf den Tod des Protagonisten am Ende der Erzählung. Im 'Andreas'-Roman erreicht der Protagonist am »Ende der ziemlich engen Gasse« (a.a.O., S.250) eine »Steinbrücke« (a.a.O.) die ihn auf jenen Platz vor der Kirche führt, auf dem er seiner »geheimnisvolle[n] Feindin und Freundin« (S.2S6), der Doppelgestalt Maria-Mariquita begegnet. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.128.
spürbare - psychische Qual Lerchs, die ihren Ausgangspunkt im Dorf hat und sich hier gewissermaßen zuspitzt.320 Die unermeßlich lange Zeit in dem 'widerwärtigen' unsauberen Dorf, die ihm hier im engen, mit Ungeziefer besetzten Gang bewußt wird und sich über Gebühr zu verlängern scheint, steht im krassen Gegensatz zu den weiten Räumen der glänzenden Landschaft am Anfang der Erzählung und das Glacis an der Porta Ticinese in Mailand, wo Lerch in einem neu gebauten Haus jene vermeintliche Bekanntschaft aus Rom entdeckt. Die weißen Linnen, Mahagonimöbel, das Basilikumtöpfchen - die Symbole seiner 'Wünsche und Begierden'321 nach einer zivilen Existenz - stehen dem unsauberen Interieur der einfachen Behausungen, der Enge und dem Dreck des Dorfes, »der Bestialität des kriegerischen Lebens«322, wie Exner bemerkt, stehen der 'Realität' seines militärischen Dienstes entgegen. Die Vision einer zivilen Existenz ist ganz wesentlich auch durch sexuelle Wunschvorstellungen323 bestimmt. Ausdrücklich erwähnt der Text in Mailand die leichtbekleidete »üppige, beinahe noch junge Frau«324, die Lerch »Vuic«325 nennt. Auch die Raumwahrnehmungen Lerchs enthalten Hinweise auf einen sexuell geprägten Vorstellungsbereich: etwa das große weiße Bett, das durch einen 'Pfeilerspiegel' sichtbar wird, oder seine Vision einer »Existenz in Hausschuhen«326 und Schlafrock, durch dessen Tasche der Korb seines Säbels gesteckt ist. Im Dorf hingegen dominieren solche Signifikanten, die Sexualität negativ konnotieren, der Realität der Soldateska aber eher entsprechen. Lerch sieht »faule, halbnackte Gestalten auf einer Bettstatt lungern«327 oder eine »weiße unreine Hündin«.328 Verweisen die Vorstellung »angenehmer Gewalttätigkeit«329, die phallisch verstehbaren Bildkomponenten 'Pfeilerspiegel' und 'Säbelkorb' in Mailand auf eine 'potente' Männlichkeit in geordneten 'ehelichen' Verhältnissen, ist das ausrutschende Pferd und die »misfiring pistol as a symbol of Lerch's [...] sexual
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Hierzu vgl. Freud 1940ff., Bd. Π/ΙΙΙ, S.400-403 und XI, S.92. Der 'Steingang' legt, nach Freud, auch eine Deutung als Sexualsymbol nahe. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.125. Richard Exner: Ordnung und Chaos in Hugo v. Hofmannsthals Reitergeschichte. Strukturelle und semiotische Möglichkeiten der Interpretation. In: Roland Jost, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, (Hg.): Im Dialog mit der Moderne. Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. FS Jacob Steiner. Frankfurt 1986. S.52f. Zu den sexuellen Konnotationen vgl. auch Wiethölter 1990, S.72ff. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.123. A.a.O., S. 124. A.a.O., S.125. A.a.O., S.126. A.a.O. A.a.O., S.124f.
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impotence«330 deutbar. Auch die libidinösen Signifikanten veranschaulichen die Trostlosigkeit der militärischen Existenz Lerchs die nach der Mailand-Erfahrung im weit abgelegenen Dorf sichtbar wird. Die Doppelgänger-Gestalt am Ende des Steinweges bedeutet nun zweierlei331: sie ist zuerst Symbol der Hoffnung auf eine kathartische Befreiung aus dieser bedrückenden Enge, für die der Steingang als landschaftliches Symbol steht; sie verheißt zuerst einmal Rettung. Deshalb treibt Lerch sein Pferd »zu einem sehr lebhaften Trab«332 an. Als dann aber Lerch sich selbst erkennt, dominiert die zweite Bedeutung, dominiert seine abwehrende Haltung gegenüber dieser Erscheinung, weil sie ihm anzeigt, daß sich nichts geändert hat. Der ihm Entgegenreitende ist nämlich sein Spiegelbild und kein besserer Doppelgänger, keine verheißungsvolle Wunschexistenz. »Mit stierem Blick in der Erscheinung sich selber erkennend«333 reißt Lerch die Zügel herum, weil er im 'Traumbild' die 'Realität' entdeckt. Das 'Imaginäre' seines Daseins erkennt er als das, was es ist, als Simulacre, weil er im Spiegelbild sich selbst erblickt. Damit greift der Text die Ikonographie des 'Narrenspiegels' auf, der ja gerade nicht ein Gaukelbild zurückwirft, sondern die ernste Gestalt des Gegenübers in seiner eigentlichen Gestalt zeigt und das 'Imaginäre' seiner vermeintlichen Existenz als armselige Gaukelei entlarvt. Lerch hat deshalb zwar in diesem Augenblick die Selbsttäuschungen, die Lacan als Spiegelstadium beschreibt, überwunden334, er bleibt dieser Erkenntnis aber unwiederbringlich ausgeliefert. Deshalb ist das, was in der Erzählung dann folgt, eine kämpferische Auseinandersetzung, eine »Melee«335, aus der etwas Neues hervorgehen könnte. Der Gegner Lerchs, ein junger bleicher Offizier, repräsentiert wie in der Schlußszene der 'Reitergeschichte' der adelige Vorgesetzte zwar auch eine militärische Existenz, aber eine, mit der sich leben ließe: sozusagen den dritten, gleichwohl unerreichbaren Weg. Das erbeutete Pferd und die Pistole des Offiziers, der nicht zum Schuß kommt, enthalten wieder sexuelle Konnotationen. War es in dem schmutzigen Dorf noch Lerchs Pferd, das ausrutschte und seine Pistole, die »versagte«336, dienen sie nun Lerch als Insignien seines Sieges über den Offizier, den er
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Gray 1989, S.484. Gray weist zu Recht auf das zentrale Motiv der 'Ambivalenz' als durchgängige Charakterisierung Lerchs hin: vgl. a.a.O., S.486. Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.128. A.a.O. Lacan 1973-1975, Bd.I, S.61-70 ('Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion'). Vgl. auch den an Lacan orientierten Essay von Francoise Meitzer zur 'Reitergeschichte' (Reiter- (Writer- Reader-) Geschichte. In: Monatshefte 77,1-1985. S.3846). Hofmannsthal 1979, Bd.7, S.129. A.a.O., S.127.
- psychoanalytisch folgerichtig - mit einem Säbelstoß erringt. Daß Lerch nur einen scheinbaren Sieg über diese Existenzform davongetragen hat, zeigt der Fortgang der Geschichte. Wieder weist eine Folge sich sukzessive verengender Räume auf die eigentliche Situation Lerchs und reduziert - gleichsam 'optisch wahrnehmbar' - das durch den Sieg wiedergewonnene Selbstwertgefühl des einfachen Mannes. Das Gefecht findet auf einer breiteren Hutweide statt; der »Aufstellungsraum« nach der Schlacht scheint dann der formierten Eskadron »zu enge«.337 Lerch fallt schließlich, vom Schuß des adeligen Offiziers getroffen, zwischen seine beiden Pferde. Der Gang hinter dem Dorf, an dessen Ende er des Doppelgängers gewahr wurde, entspricht, so gesehen, dem Raum zwischen den Leibern der Pferde. Im vorgesetzten Offizier, der, als ob er jeden Ausweg verstopfen wollte, »regungslos vor ihm im Sattel saß«338, verdeutlicht sich ihm ein zweites Mal die Unausweichlichkeit seiner Situation. Nochmals demonstriert die Pistole, die in den Händen des Rittmeisters funktioniert, die Macht der anderen - oder, wenn man will: deren Potenz. Sie ist Ausdruck der überlegenen Stellung des adeligen Offiziers, die für Lerch prinzipiell unerreichbar ist. Die Erkenntnis der 'Doppelgängerszene' erhält hier eine deutliche, eine endgültige Bestätigung. Lerchs Tod ist so gesehen faktisch ein Selbstmord, der die Befreiung aus der Enge des militärischen Lebens nachholt. Gegen die kakulierbare Bestrafung durch seinen Vorgesetzten wehrt sich Lerch nicht; er provoziert sie geradezu. Mit der Weigerung seine Beute freizulasen, verweigert er die Gesetze seiner einfachen militärischen Existenz. Sein Tod ist 'überschwemmt' »von vielfältigen Bildern einer fremdartigen Behaglichkeit.«339 Sein unbändiger Zorn gegen den Rittmeister erweist sich als Zorn gegen sein bisheriges unterprivilegiertes Leben, gegen diese Realität und das Imaginäre seiner bisherigen Existenz. Zwei Sequenzen verschieden konnotierter Räume - so kann man zusammenfassen - legen die psychische Situation des Wachtmeisters Lerch frei. In die im Text entworfenen Raumfolgen 'schreibt' sich die Realität seiner militärischen Existenz, wie sie sich ihm symbolisch in der Trostlosigkeit des Dorfes zeigt, genauso 'ein', wie die real unerreichbare Möglichkeit bürgerlichen Lebens, so wie sie sich im Mailänder Interieur symbolisiert. Daß sich die Räume der 'Reitergeschichte' aus Lerchs Sicht symbolisch lesen lassen, heißt noch nicht, daß dies die einzige Perspektive des Textes ist. Das zeigt nicht zuletzt die Forschungsliteratur, die -
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A.a.O., S. 130. A.a.O., S.131. A.a.O.
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wie bei kaum einem anderen Werk der 'klassischen Moderne' - unterschiedlichste Lesarten sichtbar machen konnte.340 Auch in lyrischen und dramatischen Werken kann es sich anbieten, psychogene Strukturen der Raumevokationen herauszuarbeiten. In Hofmannsthals 'Elektra' etwa wird - wie im schon erwähnten 'Interieur' von Maurice Maeterlinck341 - die Bühne als Seelenlandschaft vorgeführt. Die Analyse des Bühnenraums der 'Elektra' kann sich auf zwei Texte Hofmannsthals stützen, die etwa zur gleichen Zeit entstanden sind: auf »Szenische Vorschriften zu 'Elektra'« und auf »Die Bühne als Traumbild«, die beide 1903 in der Zeitschrift 'Das Theater' veröffentlicht worden sind.342 'Elektra' ist im gleichen Jahr in Berlin uraufgeführt worden. Das Drama 'Elektra' ist nicht nur ein auf die Bühne gebrachter mythologischer Stoff, es ist auch die psychopathologische Geschichte seiner Heldin, einer Hysterikerin im Sinne der 'Studien über Hysterie' von Sigmund Freud und Josef Breuer. »Daß Psychoanalytisches in das Drama eingeflossen war«, berichtet Michael Worbs, »ist bereits zeitgenössischen Rezensionen bewußt gewesen.«343 Theodor Gomperz, Samuel Lublinski, Maximilian Harden, Alfred Kerr und andere sahen die 'Elektra' genau deshalb als moderne Bearbeitung der sophokleischen Tragödie.344 Auffällig ist, daß in Hofmannsthals Stück die eigentlichen mythologischen Handlungsmomente, die Umstände der Heimkehr des Orest und die Ausführung der Rache an Klytämnestra in den Hintergrund treten, während Elektra, die die ganze Zeit auf der Bühne zu sehen ist, in den Vordergrund tritt. Sie kann als Filter des Geschehens gesehen werden. Ihre Sprache, ihre Dialoge, ihr Verhalten (eine Vokabel, die hier präziser scheint als 'Handlung') und die verschiedenen Effekte des Bühnenbilds präsentieren zusammen das Geschehen: das Drama ihrer Psyche. Deshalb erscheint es folgerichtig, daß Hofmannsthal alle »antikisierenden Banalitäten«345 im Bühnenaufbau und »jedes falsche
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Martin Stern weist daraufhin, daß die 'Reitergeschichte' »wie kaum ein anderes Werk dieses Dichters ausgeleuchtet worden« ist (Martin Stern: Die verschwiegene Hälfte von Hofmannsthals Reitergeschichte. In: Roland Jost, Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Im Dialog mit der Moderne. Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. FS Jacob Steiner. Frankfurt 1986. S.41). Er schlägt deshalb sogar eine »Reflexionspause« (a.a.O.) vor. Vgl. Kapitel 3.a). Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.2, S.240-242 (Erstdruck: Das Theater 1,3-1903) und Bd.8, S.490-493 (Erstdruck: Das Theater 1,1-1903). Worbs 1988, S.270. Vgl. Gotthart Wunberg (Hg.): Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Hugo von Hofmannsthals in Deutschland. Frankfurt 1972. S.7786. Vgl. auch: Wunberg 1989[a], S.193. Hofmannsthal 1979, Bd.2, S.240.
Antikisieren sowie jede ethnographische Tendenz«346 bei den Kostümen aufgibt. Der Theaterraum soll - nach den 'Szenischen Vorschriften zu Elektra' - »suggestiv [...] wirken«347, einen ganz spezifischen »Charakter«348 ausdrücken, der mit »Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit«349 näher bestimmt wird. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß hier das Bühnenbild genau die psychische Verfassung Elektras nachzeichnen will. Für Worbs sind »das Gedrückte, die Enge, das Lauernde [...] Sinnbilder für die psychische Situation der Titelheldin, für ihre Isolierung und Einsamkeit, aber auch für die Unheimlichkeit ihrer Neurose.«350 Isolation, Angstzustände, Kommunikationlosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Erinnerung - diese psychischen Symptome der 'Elektra', die nicht zuletzt durch das Bühnenbild sichtbar werden, beschreiben Josef Breuer und Sigmund Freud in ihren Fallstudien zur Hysterie. Auf die verblüffende Ähnlichkeit des Falles der Patientin Anna O. mit Hofmannsthals Elektra wurde schon verschiedentlich hingewiesen.351 Die einzelnen Mittel, die Hofmannsthal nun zur visuellen Präsentation der psychischen Zustände Elektras verwendet sehen will, sind vielfältig. Der Bühnenraum wird von Gebäuden umringt und scheint nur vom Zuschauerraum einsehbar. Hofmannsthal selbst vergleicht den so geschaffenen Raum mit dem »Hof eines Stadthauses«.352 Die isolierte, kaum zugängliche Persönlichkeit Elektras wird so räumlich spürbar. Innerhalb der Mauern finden sich Türöffnungen, Hausflure und Mauerecken, von denen während des Dramas als »Schlupfwinkel«353 Elektras, als ihre »Mauerwinkel«354 gesprochen wird. Diese Orte bezeichnen die Nischen, die Rückzugspunkte Elektras. Sie dienen ihr als Hort ihrer Geheimnisse; hier führt sie die Selbstgespräche mit ihrem Vater. Licht fällt nur gelegentlich durch verschiedene Fensteröffnungen oder durch einen Feigenbaum hindurch, der über einem der Gebäude zu sehen ist, auf die Bühne. Zum Teil ist sie nur durch flackerndes Fackellicht beleuchtet, das die verwirrten Gesichtszüge und Gedanken, die Seelenkämpfe der Protagonistin hervorhebt. Rote Lichtflecken suggerieren während Elektras erstem Monolog das vermeintliche Blut, das sie noch zu sehen glaubt und das nun zum Leitmotiv ihrer Anklage gegen die
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A.a.O., S.242. A.a.O., S.240. A.a.O. A.a.O. Worbs 1988, S.279. Vgl. etwa a.a.O., S.280-298 und Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Frankfurt 1970. S.20-40. Der Fall 'Frl. Anna O. ...' wird von Josef Breuer beschrieben. Ein Exemplar der 'Studien' fand sich in Hofmannsthals Rodauner Bibliothek. Hofmannsthal 1979, Bd.2, S.240. A.a.O., S.187. A.a.O., S.191.
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Mörder ihres Vaters wird. Gleichzeitig sieht sie in ihm den »Purpur«355 königlicher Auszeichnung. Das blutrote Licht wird ihr zum geheimen Zeichen. Aus dem Hause tritt Elektro. Sie ist allein mit den Flecken roten Lichtes, die aus den Zweigen des Feigenbaumes schräg über den Boden und auf die Mauern fallen, wie Blutflecke. ELEKTRA Allein! [...] Der Vater fort, hinabgescheucht in seine kalten Klüfte. Gegen den Boden Wo bist du, Vater? [...] Es ist die Stunde, unsere Stunde ists!356
Die Fenster der Szenerie gleichen mal 'unheimlichen schwarzen Höhlen'357, mal haben sie etwas 'Lauerndes, Verstecktes'.358 Sie scheinen Elektra fortwährend zu beobachten und zu bedrohen. Hinter einem dieser Fenster erscheint schließlich »die Gestalt der Klytämnestra«, »ihr fahles, gedunsenes Gesicht«359 - der materiale Ausdruck ihres Hasses und ihrer Angst. Auf der Bühne befindet sich nichts Zufälliges, nichts Unbeabsichtigtes; jeder Lichteinfall schließlich scheint das Entscheidende der Szene, die Nuancen der psychischen Situation Elektras beleuchten zu wollen.360 Genau das kann als Intention jener Bühnenästhetik angesehen werden, die Hofmannsthal in seinem Text 'Die Bühne als Traumbild' konzipiert. Schon der Titel des Essays macht deutlich, daß der Theaterraum »die Ufer der Realität hinter sich lassend«361 eine Welt erschafft, die nur symbolisch lesbar wird, verstehbar als »Traum der Träume«362, wie es dort heißt: als Zeichensystem, das die Zeichenwelt der Psyche wiederzugeben vermag.
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A.a.O., S. 190. A.a.O. Vgl. außerdem S.191: »Sie sagte: keinen Hund kann man erniedern, / wozu man uns hat abgerichtet: daß wir / mit Wasser und mit immer frischem Wasser / das ewige Blut des Mordes von der Diele / abspülen - «. 357 Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.2, S.241. 358 A.a.O., S.240. 359 Beide Zitate: a.a.O., S.198. Vgl. hierzu auch die Bedeutung eines Fensterblicks im Fall 'Katharina', den Freud in den 'Studien zur Hysterie' beschreibt (Freud, Breuer 1970, S. 102f.; Freud 1940ff„ Bd.I, S.187f.). 360 Ygj e t w a (j as Erscheinen von Orest und die Regieanmerkungen in den 'Szenischen Vorschriften': Hofmannsthal 1979, Bd.2, S.219 und S.241f. 361 Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.491. 362 A.a.O., S.490. 356
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Es muß die Magie kommen, mit welcher der aus der Seele hervorbrechende Blick begabt ist: einen Lichtstrahl, der von oben her auf die dunkle Bühne fallt, muß er in sich mit dem Blick vorzustellen vermögen, mit dem der Gefangene den einen goldenen Lichtstrahl auffängt, der von oben her durch einen Mauerspalt in seine Nacht fällt, einziger Bote der Welt. 363
Der hier beschriebene Lichtstrahl, der auf die Bühne fällt - wie der, der blutrot getränkt den Monolog der Elektra zum Alptraum ihrer Erinnerung stilisiert - hat nichts mit einer 'realistischen' Ausleuchtung der Bühne gemein; hier geht es offensichtlich um die Inszenierung psychischer Empfindungen, um die Darstellung einer Innenwelt. Der Lichtstrahl, der einzige Hoffnungsschimmer, den der dunkle Bühnenraum zuläßt, wird zur imaginierten Brücke aus der solipsistischen Existenz heraus. Auch in Schnitzlers Erzählung 'Frau Beate und ihr Sohn', die 1912 in der 'Neuen Rundschau' erscheint, steht die Psyche einer Frau im Mittelpunkt eines literarischen Textes. Schnitzler entfaltet dort die Geschichte der Beziehung einer jüngeren Witwe zu ihrem Sohn. Diese ÖdipusKonstellation ist im Zusammenhang verschiedener Interpretationen dieses Mythos' in der Wiener Moderne von Freuds 'Traumdeutung' bis zu Hofmannsthals 'Ödipus'-Dramen zu sehen. Bevor auf die für den hier diskutierten Zusammenhang relevanten Landschaftserfahrungen Beates eingegangen wird, sollen einige Anmerkungen zur Interpretation des Textes vorgeschaltet werden. Der auffälligste Unterschied zwischen Schnitzlers und Freuds Ödipus-Interpretation betrifft die Perspektive364: 'Frau Beate und ihr Sohn' ist - anders als die Charakterisierung des 'Ödipus-Komplexes' in Freuds Darstellung - aus der Sicht der Mutter geschrieben; der Sohn ist das libidinös besetzte Objekt, die Mutter erleidet die Qual des Inzesttabus. Das psychische Problem Beates ist eigentlich nicht ihre Neigung zu Hugo, ihrem Sohn, sondern der 'sexuelle Diskurs' und seine Restriktionen, die Thematisierung von Sexualität in der Gesellschaft, in der sie sich bewegt. Diese gestattet einer Frau offensichtlich gelegentliche Seitensprünge und auch jüngere Liebhaber, aber keinen Inzest. So kommen Doktor Bertram oder Direktor Welponer durchaus als Partner für Beate in Betracht, während sie das Gerede um ihre Beziehung zu Fritz, dem Freund und 'Stellvertreter' ihres Sohnes, belastet. Um zu verstehen, warum die »Worte«, die Fritz gebraucht, als er vor einem Dritten von seiner Beziehung zu Frau Beate erzählt, »auf sie niedersausen wie Peitschenhiebe«365, muß man die Identifikationen sehen, die der Text implizit vornimmt. Worbs
363 364 365
A.a.O., S.491. Vgl. Michaela L. Perlmann: Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987. S.152. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.235.
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weist zurecht darauf hin, daß Fritz stellvertretend für Hugo geliebt wird.366 Es kam ein Augenblick, da sie, wie oft in früherer Zeit, den Arm um Hugos Sohultern geschlungen hielt und mit den Fingern in seinen Haaren spielte, zu gleicher Zeit aber Fritz zärtlich lockend in die Augen sah. 367
Wenn hier davon gesprochen wird, daß die »Diskursivierung des Sexes«368 den offenen Inzest verbietet, so ist damit keineswegs gemeint, das Inzestverbot werde offen gegenüber Beate ausgesprochen. Alle Gebote und Regeln dieses 'Diskurses' - besonders unter den Kurgästen der Wiener society - leben vielmehr von der bewußt unklaren Andeutung, vom nicht ausgesprochenen Wort. Beates Anmerkung »Man hört ja auch allerlei!«369 mag hierfür als symptomatisch gelten. Als Teil dieses 'Diskurses' muß man auch das Rollenspiel sehen, das »allen diesen Menschen zur Selbstverständlichkeit geworden ist«.370 Allerdissen spricht zurecht davon, daß es »im Umgang mit anderen Menschen als bewußtes, die Kommunikation« beeinflussendes »Mittel eingesetzt«371 wird. Das Versteckspiel mit der eigenen Identität, das Spiel mit immer neuen Rollen geht so weit, daß Beate sich schließlich bewußt wird, jede authentische Beziehung zu ihrem verstorbenen Mann schon lange verloren zu haben. Der, den sie liebte, war nicht Ferdinand Heinold gewesen; Hamlet war es, und Cyrano und der königliche Richard. 372
Dies gilt insbesondere für die Stimme, die Sprache ihres Mannes. Der gesellschaftliche Austausch, der es notwendig macht, in verschiedenen Rollen zu sprechen, verdeckt das Authentische der Sprache. Ferdinand spricht - wie die ganze society - auch außerhalb der Bühne mit 'fremder' Stimme.
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367 368
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244
Vgl. Worbs 1988, S.251 und Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.226: Das »Kosewort« kennzeichnet »verräterisch« Hugo und Fritz. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.222. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd.l: Der Wille zum Wissen. Übers.v. Ulrich Raulf und Walter Seitter. Frankfurt 1983. S.21. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.228. Rolf Allerdissen: Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. Bonn 1985. S.256. A.a.O. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.230.
Und jetzt, da Beate in der Dämmerstille einer einsamen Stunde sich der wahren Stimme ihres Gatten erinnern wollte, gelang es ihr nicht. 373
In dieser Welt des Unauthentischen, die den Inzest zwischen Mutter und Sohn nicht erlaubt, gewinnen die von Beate imaginierten »phantastischen Landschaft[en]«374 eine besondere Bedeutung. In der Phantasie kann sie ihre authentischen Neigungen zu ihrem Sohn ausleben. Daß diese Neigungen Beates in der Landschaft, die in erlebter Rede geschildert wird, verschlüsselt vorkommen, liegt an der - schon oben an anderen Beispielen entfalteten - Vermittlerfunktion der Sprache im Unbewußten. Auch im Traum kann Beate die Schranken des 'sexuellen Diskurses' der Gesellschaft nicht brechen; sie kann nur Formulierungen hervorbringen, die ihre Neigungen trotzdem deutlich machen. Selbst wenn irgendeinmal ein dunkles Gerücht an sein Ohr dringt, er wird es nicht glauben. Nie wird er so etwas von seiner Mutter glauben. Darüber kann sie ganz beruhigt sein. Und sie sieht sich mit ihm [Hugo] wandeln in irgendeiner phantastischen Landschaft, wie sie sich ihrer wohl von einem Bild her erinnert, auf einer graugelben Straße - und in der Ferne ganz im Blau schwimmt eine Stadt mit vielen Türmen. Und dann wieder gehen sie auf einem großen Platz herum unter Bogengängen, unbekannte Menschen begegnen ihr und sehen sie an, sie und ihren Sohn. So merkwürdig sehen sie sie an, mit frechem, zähneblitzendem Lachen und denken sich: Ah, die hat sich da einen hübschen Burschen auf die Reise mitgenommen. Seine Mutter könnte sie sein. Wie? Die Leute halten sie für ein Liebespaar? Nun, warum nicht. Die können ja nicht wissen, daß der Bursch da ihr Sohn ist; - und ihr merken sie wohl an, daß sie eine von den überreifen Frauen ist, denen die Laune nach so jungem Blute steht. 375
Auslöser der Imagination ist die Angst der Mutter vor dem 'sexuellen Diskurs' und dessen Sanktionen: sie hat Angst, daß Hugo von ihrer Beziehung zu Fritz erfährt. Diese Gefahr besteht nicht, wenn sie sich mit Hugo in einer Landschaft aufhält, wo die Ressentiments der Wiener Gesellschaft nicht gelten und Hugo nicht gezwungen wäre, auf etwaige Gerüchte einzugehen. Dort würde er dem Gerede nicht glauben müssen. Aber auch in der imaginierten Landschaft herrscht ein 'sexueller Diskurs' : unbekannte Menschen schauen sie an und bemerken offensichtlich den Altersunterschied zwischen Beate und ihrem Sohn, der in der personal erzählten Traumlandschaft allerdings zur Auszeichnung der Mutter umgedeutet wird. Beate erfährt sich in den bedeutenden Blicken der Unbekannten als attraktive »überreife Frau«, ja als femme fatale, die unabhängig von gesellschaftlichen Sanktionen leben kann. Beates Imago berührt sich hier plötzlich mit jener Frau, der vorher ihr ganzer Haß zu
373 374 375
A.a.O., S.223. A.a.O., S.226. A.a.O., S.225f.
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gelten schien: der in ihren Gedanken als Nebenbuhlerin um ihren Sohn auftretenden Fortunata. Die Konstituenten der imaginierten Stadtlandschaft haben deutliche sexuelle Konnotationen: die phallischen Türme, die Bogengänge. Die Blicke der Fremden, ihr freches Lachen, ihr Zähneblecken verweisen auf das Verbotene der sexuellen Phantasie, die die Landschaft formt. Mit Wilhelm Stekels Traumbuch von 1911 könnte man - diesen Gedanken fortführend - die 'phantastische Landschaft', die aus einer im Wasser 'schwimmenden', offensichtlich großen Stadt besteht, als »'Sumpf der Großstadt«376, als paradigmatischen Ort des 'Lasters* begreifen. Diesen Ort erreichen Beate und Hugo im Traum plötzlich, während sie ihn anfangs erst aus der Ferne - wie eine ferne Bedrohung - wahrgenommen haben. Daß Beate wenig später »verräterisch« das Kosewort für Fritz »über die Lippen« kommt, »mit dem sie ihn heute nacht erst zärtlich am Busen hielt«377, spricht einerseits für die Idenfikation der beiden Knaben, andererseits zeigt sich auch hierin die sexuelle Konnotation des vorangegangenen Landschaftstraums. Beate träumt »das Bild jener phantastischen Landschaft«378 später noch einmal, und zwar in jener Szene, die dem gemeinsamen Selbstmord auf dem See vorhergeht, in der Hugo der Mutter zu Füßen liegt »den Kopf in ihrem Schoß und [...] bitterlich«379 weint. Im Augenblick dieser 'symbolischen' Wiedervereinigung von Mutter und Sohn gilt die phantastische Landschaft Beate als Vision dauerhaften und repressionsfreien Zusammenseins. »In der Fremde, fern von allen Menschen, die wir gekannt haben, in einer reinen Luft«380 hat der 'sexuelle Diskurs' der Wiener society keine Geltung. Wichtige Motive der »phantastischen Landschaft« werden bei der Beschreibung des gemeinsamen Selbstmords wieder aufgenommen. Hugo und Beate unternehmen die 'Reise' mit dem Kahn allein. Sie scheint ihnen »Trost und Frieden«381 zu bieten. Auf dem See erfahrt Beate schließlich, daß nicht Hugos Beziehung zu Fortunata der Grund für das Verzweifeln des Sohnes ist; vielmehr lösen die Dinge, die der Sohn in der Gesellschaft über seine Mutter erfahren muß, die Krise aus. Der Ausweg aus der Macht des 'sexuellen Diskurses' ist - mit Worbs - die »Regression«382, die Flucht in eine Landschaft, in der die Vereinigung von Mutter und Sohn existent ist, in der folglich von sexuellen
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246
Stekel 1911, S.64. Vgl. auch: S.257-273. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.226. A.a.O., S.240. A.a.O., S.239. A.a.O., S.240. A.a.O., S.244. Worbs 1988, S.251.
Ausschweifungen der Mutter nicht die Rede sein kann. Insofern bedeutet das gemeinsame »Eintauchen in das Wasser«, um ein Wort Michaela Perlmanns aufzugreifen, die »Befreiung von einer Welt«383, die weder den Inzest, noch Ersatzhandlungen - die Beziehung Beates zu Fritz erlaubt; der Selbstmord ist eine Flucht in eine 'Landschaft', die, wie die Traumlandschaft, nicht von dieser Welt ist. Der 'schwimmenden' Stadt, als phantastischem Ort des ungestörten Zusammenseins in der Traumlandschaft, entspricht der Kahn auf dem See; und wieder ist die 'Ferne' das Symbol gemeinsamen Ausbruchs: Und im verführerischen Vorgefühl der ewigen Nacht gaben sie die vergehenden Lippen einander hin. Ruderlos glitt der Kahn fort, nach fernsten Ufern.384
Der Kahn der beiden Reisenden wird zum Nachen des Charon, der See zum Unterweltsstrom, die im »drohenden Dämmer aufsteigenden grauen Ufer«385 zum letzten Gruß »der verlöschenden Welt.«386 Faßt man das, was hier über die psychogenen Strukturen der Landschaftsbilder gesagt wurde, zusammen, so wird man feststellen, daß der Sprache als Vermittlerin dieser Strukturen in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bedeutung zukommt. Sie enthält das zu dekuvrierende Material; sie gestaltet die Diskurse, die den psychogenen Strukturen der Landschafts- und Raumerfahrungen zugrundeliegen: den 'sexuellen Diskurs' in 'Beate und ihr Sohn', den militärischen in der 'Reitergeschichte' oder den mythologischen, der sich, wie gezeigt, nicht nur in 'Elektra' findet. Die Sprache ist es schließlich auch, die die Träume vermittelt, in denen in der Regel Landschaften und Räume eine zentrale Rolle spielen. Die Traumerzählungen in 'Träumen wie Wachen' gleichen geradezu der von Freud und Breuer beschriebenen talking cure. In der sprachlich rekonstituierten Traumlandschaft werden psychische Vorgänge erträglich. Ähnliches gilt für die imaginäre Landschaft im 'Andreas'-Roman. In der Selbstinterpretation der Landschaft durch den Helden entledigt sich dieser psychischer Qualen. Auch Beate interpretiert ihre Wunschlandschaft und mißversteht die Landschaft der condition seconde als reale Möglichkeit, den sexuellen Diskurs samt seinen Sanktionen zu umgehen. Die Unterscheidung zweier Realisierungsebenen von Landschaft - und damit die Bedingung der Möglichkeit, psychogene Strukturen in Landschaftsbildern zu dekuvrieren - ist das zentrale Moment in Andre Gides
383 384 385 386
Perlmann 1987, S.153. Schnitzler 1977-1979[b], Bd.3, S.247. A.a.O., S.248. A.a.O.
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Narziß-Text. Deutlich wird dort die Vielstimmigkeit psychogen geprägter Rede; sie zeigt sich sowohl als synkretistisches mythologisches, philosophisches und ästhetisches Sprechen, als auch als Erlebnisschilderung. Trotzdem liefert der Text ein hermeneutisches Modell, psychogene Strukturen in Landschaftsbildern zu sehen: Landschaft in Texten kann meist nicht nur als die verstanden werden, als die sie sich - 'oberflächlich' - zeigt. c) Imaginationen eines anderen Lebens Ein wichtiger Bereich, auf den Räumlichkeit verweisen kann, ist die Vorstellung eines anderen, eines glücklichen oder besseren Lebens. Dieser Referenzbereich soll typologisch mit drei Begriffen charakterisiert werden, die jeweils eine Möglichkeit einer solchen Lebensvorstellung repräsentieren: Heimat, Fluchtraum und Utopie. Heimat erfaßt die Vorstellung eines vertrauten Hortes, eines zufriedenen, sicheren Lebens, Utopie den imaginierten Ort eines zukünftigen, zur Zeit nicht erreichten glücklichen Zustands; als Fluchtraum ist schließlich jene Örtlichkeit zu fassen, die der Unerträglichkeit des jetzigen Lebens eine Ausweichmöglichkeit bietet. Der 'Fluchtraum' soll im Gegensatz zum utopischen Raum keine ideelle Örtlichkeit bezeichnen, sondern aus der erdachten Negation einer aktuell erlebten resultieren. Allen drei vorgestellten Örtlichkeiten haftet ein fiktionaler Charakter an. Innerhalb eines Textes repräsentieren deshalb die Vorstellung von Heimat, die Evokation eines potentiellen Fluchtraums und die utopische Vorstellung eines Raums in der Regel eine weitere fiktionale Ebene. Die Begriffe Heimat, Fluchtraum und Utopie verbinden sich notwendig mit räumlichen Vorstellungen. Landschaft als Heimat Für Max, einen Protagonisten aus Schnitzlers schon zitiertem Prosastück 'Spaziergang', ist das »Gefühl der Heimat« verbunden mit einer »halb bewußte[n] Erinnerung, welche sich [für den Betrachter] [...] mit dieser Stelle verknüpft«.387 Diese Verbindung von 'halb bewußter' Erinnerung und Landschaft ist die wichtigste Konstituente von Heimat.
387
248
Schnitzler 1977[b], S.153 ('Spaziergang'). Die Verbindung von Erinnerung und Landschaft wird auch von neueren Forschungsarbeiten zum Problem 'Heimat' gesehen: vgl. etwa Rainer Piepmeier: »Heimat ist erlebter, gelebter Raum. [...] Heimat ist erlebte und gelebte Zeit. Heimat ist so und vor allem Erinnerung.« (Rainer Piepmeier: Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs [1982]. In: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Nr.294/I. Bonn 1990. S.97). Zur Heimat-Forschung in jüngster Zeit vgl. neben dem
In seinem Roman 'Der Weg ins Freie' läßt Schnitzler Heinrich, einen jüdischen Intellektuellen, mit dem gleichen Argument Wien als Heimat gegen eine fiktive Heimat Palästina verteidigen. Sein »Instinkt« sage ihm »untrüglich«, argumentiert Heinrich, »daß hier, gerade hier meine Heimat ist und nicht in irgend einem Land, das ich nicht kenne [...], und das mir gewisse Leute jetzt als Vaterland einreden wollen.«388 Auch Felix Saiten - Schnitzlers Kaffeehausfreund - erklärt in seiner Reiseerzählung 'Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt' die Erinnerung an die Länder ihrer Herkunft als das vielleicht größte Problem der Einwanderer bei der Konstituierung einer neuen Heimat 'Israel': Denn die Heimat, der sie suchend entgegenwanderten, kannten sie nicht mehr, und das Land, von dem sie ausgezogen waren, hatten sie noch nicht vergessen. 389
Deutlich hörbar ist der biblische Tonfall, mit dem das Motiv des Auszugs der Israeliten aus Ägypten aufgenommen wird, und die räumliche Vorstellung, die hinter dem Begriff Heimat steht. Die zionistischen Verfechter für die Rückkehr nach Israel berufen sich nicht primär auf die Erinnerung, sondern auf die religiös verbriefte Rückkehr aus der Diaspora, auf den vielleicht wichtigsten Gemeinschaftsgedanken des jüdischen Volkes also. Interessanterweise verbinden sich mit dieser religiösen Motivation die überaus rational vorgetragenen Argumente Herzls und seine Idee eines Judenstaates. Daß auch bei ihm die 'Erinnerung' letztlich eine zentrale Rolle für die Neukonstitution von Heimat in Israel spielt, zeigt ein Zitat aus dem Nachwort zum 'Judenstaat': Wir sollen endlich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat ruhig sterben. 390
388 389
390
zitierten, auch den zweiten umfangreichen Sammelband in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung: Heimat. Lehrpläne, Literatur, Filme. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Nr.294/II. Bonn 1990. Zur Heimatkunst um 1900 (und speziell dem Verhältnis der österreichischen Heimatkunst zum 'Jungen Wien') vgl. auch Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart 1975 und vom gleichen Autor: Provinzkunst. A Countermovement to Viennese Culture. In: Erika Nielsen (Hg.): Focus on Vienna 1900. Change and Continuity in Literature, Music, Art and Intellectual History. München 1982. S.23-31. Alle Zitate: Schnitzler 1977-1979[b], Bd.4, S.92. Saiten 1986, S.2 ('Neue Menschen auf alter Erde'). Zur Problematik der jüdischen Identität vgl.: Jens Malte Fischer: 'Jüdischer Selbsthass': Zur deutsch-jüdischen Pathologie. In: Pfister (Hg.) 1989, S.141-151. Herzl 1988, S.114f. ('Der Judenstaat').
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In der Heimat sterben und begraben werden, bedeutet nichts anderes als den Beginn einer durch Gedenk- und Grabsteine gesicherten Erinnerungskette an eine Ortlichkeit. Die Verbindung von Erinnerung und Landschaft (hier verstanden als eine durch Erinnerung stilisierte Räumlichkeit) gilt keineswegs nur für den jüdischen Heimatbegriff. Anton Wildgans etwa begreift in seiner 'Zueignung an die geliebte Landschaft' Heimat als Zeichenkomplex, der auf Erinnertes verweist: »Denn hier ist alles Zeichen und Erlebnis.«391 Und Richard Schaukai läßt seinen Ich-Erzähler, während er »durch die Gassen« seiner »Heimatstadt« wandelt, »liebe dumme Erinnerungen spinnen«.392 Erinnerung ermöglicht jenes Gefühl, das Jean Amery als zentrale Konnotation des Begriffs Heimat versteht: »Heimat ist, reduziert auf den positiv-psychologischen Grundgehalt des Begriffs, Sicherheit.«393 Diese Sicherheit drücke sich aus in der souveränen Beherrschung der »Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen«.394 Heimat ist sinnlich offenbar werdende Orientierung395 durch räumliche Konstanten. Sie bezeichnet vor allem eine Landschaft, aber mit ihr verweist sie auf eine Sprache, eine Kombination aus Zeichen, die die Landschaft als Heimat erlebbar macht. Hermann Bausinger sieht eine »Sicherheit in der Grammatik des Sprechens wie des Handelns«396 als Voraussetzung von 'Heimat'. In Hofmannsthals bekannten fersten Sätzen aus der umstrittenen Universitäts-Rede 'Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation' wird die wichtige Funktion der Sprache als Trägerin von Tradition und Erinnerung bei der Konstituierung von (gemeinsamer) Heimat hervorgehoben: Nicht durch unser Wohnen auf dem Heimatboden, [...] sondern durch ein geistiges Anhangen vor allem sind wir zur Gemeinschaft verbunden. [...] In einer Sprache finden wir zueinander. 397
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Anton Wildgans: Gesammelte Werke. Erster Band. Leipzig 1930. S . l l . Schaukai o.J., S. 160 ('Interieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen'). Jean Am6ry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Jean Amery: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1988 ['1966]. S.65. A.a.O. Vgl. a.a.O., S.76. Hermann Bausinger: Heimat zwischen Ideologie und Wirklichkeit. In: Cornelia Klinger, Ruthard Stablein (Hg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Frankfurt, New York 1989. S.268. Vgl. auch S.255 und Hermann Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Heimat 1990, S.79f. Zur kommunikativen Vergewisserung von 'Heimat' vgl. auch: Piepmeier 1990, S.97. Hofmannsthal 1979, Bd.lO,S.24.
Heimat ist - nach Alexander Mitscherlich - »gewiß kein objektiver Tatbestand«.398 Sie wird nur dann als 'Heimat' empfunden werden, wenn sie als solche wiedererkannt wird; das heißt, wenn die der entsprechenden Landschaft oder Stadt inhärenten Zeichen mit dem Entwurf von Heimat korrelieren, der sich im Laufe der Zeit im Bewußtsein eingegraben hat, oder besser: wenn eine Zeichenkombination - als Heimat - internalisiert wurde. Konstitution von Heimat ist deshalb nicht nur ein räumliches, sondern vor allem ein zeitliches und kommunikatives Problem: ein Problem der Erinnerung, des Austausches, der Stilisierung und Angleichung. Heimat kann nicht an einer Örtlichkeit 'dingfest' gemacht werden, obwohl sie nur räumlich gedacht werden kann. Sie ist ein auratisches Erlebnis, an das man sich immer wieder erinnern muß. Die Kindheit, die Augenblicke erster interaktiver Erkundung von Räumlichkeit - mit Hermann Bahr: »der erste Blick des erwachenden Kindes auf die Landschaft«399 - spielen dabei eine prägende Rolle. Das Wissen um diese Räumlichkeit und ihre kommunikative Vergewisserung gibt die von Amery hervorgehobene 'Sicherheit', die von Bausinger fokussierte 'Geborgenheit'.400 Die schon durch den zeitlichen Abstand bedingte Unwiederbringlichkeit der Räume dieser Kindheit evoziert jenes Gefühl, das man Heimatverlust nennen könnte. Das Bewußtwerden des Defizites dieser unmittelbaren Sicherheit erzeugt eine melancholisch-elegische Erinnerung an Heimat und die damit verbundenen Orientierungszeichen. Viele Phänomene begünstigen, daß der Heimatverlust in der Moderne besonders bemerkbar wird und als geradezu kennzeichnendes Raumgefühl Eingang in die Diskurse der Moderne findet. Zu nennen ist die gesteigerte Mobilität durch neue Verkehrsmittel, der rasche Umbau der Städte, die Urbanisierung, kosmopolitisches Denken, die Gleichrangigkeit der verschiedensten Lebensbereiche, die Verbesserung von Informationssystemen, so daß schon früh mehr als nur der engste Umkreis mental verfügbar ist, der multikulturelle Austausch und die Intemationalisierung der Kultur, des Handels und der Politik, die sukzessive Auflösung von Familienverbänden, die sogenannte transzendent(al)e Obdachlosigkeit und - später vor allem - die Zerstörungen durch den Krieg.401
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Alexander Mitscherlich 1983, Bd.VII, S.597. Hermann Bahr: Landschaft und Dichtung. In: Joseph Papesch (Hg.): Österreichisches Dichterbuch. Festgabe österreichischer Dichter an den Deutschen Schulverein Südmark. Graz 1927. S.26. Vgl. Am6ry 1988, S.65 und Bausinger 1989, S.268. Vgl. als Beispiel eines gewiß problematisch beschriebenen Heimatverlustes durch Krieg die Erzählung 'Verschüttete Wege' des Österreichers Karl Hans Strobl (Verschüttete Wege. In: Papesch (Hg.) 1927, S.95): »So war Stohansel in Heimat und
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Peter Altenbergs Prosaskizze 'Landstädtchen' thematisiert den modernen Heimatverlust als Gegensatz zwischen moderner Großstadt und dem Leben auf dem Lande. Die Sätze einer Frau, nach dem 'Servus' ihres in die Stadt abwandernden Mannes, das ihr »durch und durch gegangen [ist], wie eine Kugel«402, verdeutlichen die Diskrepanz zwischen heimatlicher Sicherheit und reizvoller Moderne; faktischer Heimatverlust muß nicht unbedingt negativ konnotiert sein: 'Ich habe es verstanden. Servus altes Elend, ich habe die Ehre! Es hat nicht geheißen: 'Servus, meine Heimat' 1' 4 0 3
Der Zusammenhang von moderner 'rationaler' Weltstadt und 'sentimental' erlebtem Heimatverlust wird immer wieder betont, auch vom 'Untergangspropheten' Oswald Spengler: Die Weltstadt bedeutet den Kosmopolitismus an Stelle der 'Heimat', den kühlen Tatsachensinn an Stelle der Ehrfurcht vor dem Überlieferten und Gewachsenen, die wissenschaftliche Irreligion als Petrefakt der voraufgegangenen Religion des Herzens. 404
Das grundlegende Problem von Heimat in der Moderne - das auch in Spenglers Sätzen deutlich wird - ist der Verlust eines Zeichensystems, das Orientierung und somit Sicherheit bieten würde. Diese Orientierungslosigkeit muß man im Kontext des Relativismus am Ende des 19. Jahrhunderts (Historismus2) sehen, auf den oben mit Schnädelbach verwiesen wurde. Heimat hat sich immer verändert; nur war sie durch das dichte Netz erhalten gebliebener Zeichen - und vor allem in der diskursiven Vervollständigung dieser Zeichen - rekonstruierbar; diese Zeichen waren in übergeordnete Systeme politischer, ästhetischer oder religiöser Art einfügbar. Diese Konstitution von Heimat über allgemeingültige Diskurse scheint in der Moderne nicht mehr gewährleistet zu sein.
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Arbeit, in Ehe und Vaterstolz ein ganz glücklicher Mensch, als eines Tages der berstende Bauch eines Ungeheuers die Dämonen des Krieges über die Welt schüttete. [...] Er verließ die Fabrik, küßte sein Weib auf Stirn und Mund, nahm seines Buben Händchen in die schwielige Faust und tröstete sich und die Seinen damit, daß es um die Heimat ging. Als aber der Krieg zu Ende gestritten war, da war die Heimat verloren.« Strobl, dessen 1920 erschienene Kindheits-Autobiographie den Titel 'Verlorene Heimat' trägt, verbindet in dieser Erzählung das Motiv der landschaftlichen Verbundenheit und Heimat mit deutlich rassistischen Tönen. Wie fatal diese Verbindung ist, zeigen nicht nur die literarischen Beispiele der folgenden Jahre. Altenberg 1977, S.226. A.a.O. Spengler 9 1988, S.46
Die Zeichen, die als Orientierungen innerhalb der Kindheitsräume Garanten für Sicherheit und Orientierung waren, sind Zeichen gewichen, die zweierlei zur Schau stellen: ihre historistische - und deshalb unspezifische, gleichrangige - Herkunft und ihre Funktionalität. Das Häusermeer der Metropole - die Stadt, traditionell Hort einer anonymen Moderne, als »Schalttafel und Informationsmaschine«405 - bietet keinen Platz für elegische Erinnerungen an die Kindheit. Ornamente der Heimat weichen historistischer Unterschiedslosigkeit, ökonomischer Geradlinigkeit und funktionaler Mobilität; der heimatliche Wohnraum ist auf Zeit gemietet und prinzipiell austauschbar. Die geballte historistische Erfahrung, der urbane Relativismus, zeigt sich, mit den Worten Klaus R. Scherpes, als »die von markanten Signifikanten ('Wahrzeichen') 'ausgeräumte' [...] und zur grauen Zeichenfläche eingeebnete Stadt.«406 Allerdings muß nicht immer die tatsächliche urbane Struktur das 'historistische' Stadtbild prägen; Leopold Andrians Wien-Beschreibung in seiner Prosa 'Der Garten der Erkenntnis' verdeutlicht etwa, daß allein ein durch den Relativismus bestimmtes Bewußtsein die Stadt zur 'historistischen' machen kann: In die Stadt zurückgekehrt, litt er unter Wien. Denn was immer zu Wien gehörte, empfand er jetzt als bedeutsam; [...] und so suchte er mühselig zusammenzuraffen, worauf sein Auge fiel, um es [...] aufzubewahren. 407
Erwin, der Protagonist der Prosa, leidet unter Wien, weil plötzlich alles seiner Orientierung dienen könnte. Deshalb versucht er alles gleichermaßen zu bewahren. Alles hatte seine sinnreiche Schönheit: die Kathedralen des Mittelalters und die großen gelben Barockkirchen [...] und die kleinen mittelalterlichen Kirchen im Gewirr der Häuser und die armen Kirchen der Zwanziger Jahre in der Vorstadt. Alle Heiligenbilder waren schön; [...] alle Häuser waren schön;[...] alle Gärten waren schön; [...] und alle Musik, von der die Stadt durchflossen war, hatte ihren Sinn. [...] Und alle Menschen hatten ihren Sinn. 408
Wenn alles in gleicher Weise 'Sinn' bekommt, verschwinden die Unterschiede zwischen den Zeichen der Stadt: die verschiedenen Kirchen, Häuser und Menschen können nur noch potentiell Orientierung bieten.
405 406 407 408
Scherpe 1988, S. 137. A.a.O., S.143. Andrian 1990, S.30. A.a.O., S.31.
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Der 'Reichtum' an Signifikanten schlägt in Armut um, in »Öde«: Erwin kommt es vor, als ob »die Dinge nichtssagend erschienen«.409 Urbane Isolierung und Anonymität schließlich, die der moderne Diskurs geradezu idealisiert, verhindern die diskursive Vergewisserung gemeinsamer Erinnerungen, machen es unmöglich, diskursiv die - relativistisch - verlorenen Zeichenhierarchien herzustellen, die eine orientierende Unterscheidung von Signifikanten ermöglichen würden. »Jede große Stadt hat ihren doppelten Aspekt darin«, schreibt Hofmannsthal in einem 'Wiener Brief von 1922, »daß sie je nach dem Blick, den man auf sie wirft, als eine Stätte der Geselligkeit und als eine Stätte der Einsamkeit erscheint.«410 Ja vielleicht ist der Hintergrund der Einsamkeit des modernen Menschen ganz unbedingt die sehr große Stadt 4 1 1
Der moderne Mensch träumt, wenn er seinen Traum von Heimat nicht melancholisch aufgibt, seiner vormodernen Kindheit nach, indem er den Zeichen dieses Traums eine fiktionale Gestalt gibt, die er in den HeimatDiskursen seiner Zeit findet. Elemente dieses Diskurses liefern vor allem die Politik, die Kolportage-Kunst, später das Kino, auch die Kultur. So findet der moderne Mensch zwar nicht seine, aber er findet eine mögliche Heimat, mit Bausinger: eine »Fassadenheimat«.412 Und in Ermangelung einer eigenen, eignet er sich diese als eigene an. Auf diese Weise kann er unter Umständen neben seiner rein funktionalisierten Umwelt so etwas wie eine heimatliche Landschaft erfahren, allerdings nur als »KolportageIllustration«413, um einen Begriff Benjamins aufzunehmen. Die neue Sicherheit bezieht er aus der Reproduzierbarkeit der Fiktionen und deren kollektiver Akzeptanz.414
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A.a.O., S.33. Zu Erwins Stadtsicht vgl. Hofmannsthals interessante Notiz zum 'Garten der Erkenntnis': »eine ganze Stadt [sei dort] vom Standpunkt eines einzelnen als Erlebnismöglichkeit gefaßt« (Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.398 [Nachlaß, 1895]). Hofmannsthal 1979, Bd.9,S.185. A.a.O. Bausinger 1989, S.264. Benjamin 1983, Bd.l,S.528. Eine ganz ähnliche Intention wird im Zusammenhang postmoderner Architektur verfolgt: durch die Wiederbelebung des Ornaments (Stichwort: 'kompensatorische Fassaden') soll die Anfechtung durch technokratische Bauweisen kaschiert werden. Vgl. dazu u.a. Kenneth Frampton: Kritischer Regionalismus - Thesen zu einer Architektur des Widerstands. In: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek 1986. S.155f. Ein anderes Projekt, Technik und Ornament in ein dialektisches - und damit aufklärerisch produktives Spiel einzubinden, wie Girard Raulet dies etwa fordert (Vgl. Raulet 1987[a], S.136),
Die extremen Ausformungen modernen Heimatverlustes, die erst nach dem ersten Weltkrieg viel deutlicher zu spüren sind, werden in der Wiener Moderne in der Regel nur wenig reflektiert, auch wenn sie direkt 'Heimat' thematisiert. Oft finden sich Hinweise auf den 'Heimat'Diskurs in den Raum- und Landschaftsdarstellungen nur sehr indirekt: als naives Gegenbild zur vermeintlichen Heimatlosigkeit der Decadence besonders in jener Literatur, die der Heimatkunst-Bewegung um 1900 nahe steht. Repräsentiert wird diese Kunst im Österreich der Jahrhundertwende durch Namen wie Richard von Kralik, Jacob Julius David, Marie Eugenie delle Grazie oder Alfred von Berger. Ein Vorbild der neuen 'Provinzkunst' ist der eine Generation ältere, überaus populäre und gesellschaftlich geachtete Peter Rosegger. Aber auch aus den Texten der im engeren Sinne als Jung-Wiener zu Bezeichnenden kann man den 'Heimat'-Diskurs herauslesen; er erscheint als sentimentale Landschaft der Kindheit oder als Beschreibung der spezifischen Spannung zwischen Heimat und Urbanität. Dieser oft indirekten Thematisierung von 'Heimat' in Raum- und Landschaftsdarstellungen wird nun anhand dreier Beispiele nachgegangen. Zuerst sollen, allerdings kurz, wichtige Elemente der Heimatkunst um 1900 vorgestellt werden, um im folgenden einen Text der so verstandenen heimatlichen Landschaft als Gegenentwurf zur 'dekadenten' Moderne analysieren zu können. Anhand eines Beispiels von Felix Saiten wird dann zu zeigen sein, wie sich die Spannung von Heimat und Urbanität in einem Text der Wiener Moderne manifestieren kann. Als dritter Text soll schließlich - als wichtiges Beispiel des weiteren Umfelds Franz Kafkas 'Heimkehr' und seine Referenzen auf das Problem Heimat interpretiert werden. Die österreichische Heimatkunst ist um 1900 weniger deutlich bestimmbar als die vergleichbare ältere Bewegung in Deutschland. Rudolf Lothar konstatiert in seinem 1902 im 'Litterarischen Echo' erschienenen 'Wien'-Essay, »daß unsere Kunst auf allen Wegen zur Heimatkunst strebt«.415 Etwas Ähnliches glaubt Hermann Bahr schon drei Jahre vorher in seinem Essay 'Die Entdeckung der Provinz' aufzuspüren. Das Programm einer neuen »Provinzkunst«416 wird von ihm geradezu euphorisch gefeiert. Sein Verlangen, daß die Jung-Wiener »den Zirkel der paar Literaten und Dilettanten verlassen und ins weite Land zum Volke gehen müssen, wenn sich der grosse Traum einer neuen
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soll zumindest erwähnt werden; ob damit so etwas wie Heimat rekonstruierbar ist, bleibt offen. Rudolf Lothar: Wien. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.1177 (T 02.2; Erstdruck: Das litterarische Echo, 4-1902, Heft 8, Sp.509-524). Hermann Bahr: Die Entdeckung der Provinz. In: Wunberg (Hg.) 1976, S.1011 (T 99.41; Erstdruck: Neues Wiener Tagblatt, 1.10.1899).
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österreichischen Kunst erfüllen soll«417, zeigt, als wie durchlässig die Grenze zwischen konservativer Heimatkunst und Wiener Moderne anzusehen ist. Bahrs Zusammenfassung des Programms der 'jungen' Provinzkunst läßt vor allem die Nähe zur deutschen Heimatkunstbewegung deutlich heraushören: Jene Jünglinge [...] denken an eine besondere Art von Kunst, die 'Provinzkunst' sein soll, nicht nur, indem ihre Künstler in der Provinz leben, sondern indem sie eben das Leben in der Provinz selbst zum Thema nehmen wird. Das ist ihr Programm. Es widert sie an, immer nur die Berliner und die Wiener copirend, die Epigonen von Mitlebenden zu sein. [...] Dasselbe Gefühl [...] redet in der Stadt anders als auf dem Lande. 418
Die Fiktionalisierung der Landschaft einer verlorenen ländlichen Welt ist das Angebot der Heimatkunst an die entwurzelte Moderne der Großstadt; es ist ihr Gegenentwurf zu einer sich selbst als 'modern' verstehenden Literatur. Denn jene Leute, die sich vorzugsweise die Gebildeten nennen, nämlich die Städter, leben vielfach noch unvernünftiger als der Landmann. [...] Wer sich wie der Bauer an die Natur hält, der kann wohl roh, sinnlich und eigennützig sein, nie aber in solcher Weise abirren von den gesunden Wegen, als es den Leuten im Bereiche der Überkultur möglich ist und geschieht. 419
Peter Roseggers 'Vorwort' zum Bauernroman 'Jakob der Letzte' von 1888 enthält schon das für die 'Heimatkunst' maßgebende polarisierende Modell von produktivem ursprünglichem Bauerntum und degenerierter Großstadt. Die archaische Kultur der 'Heimatkunst' steht der 'Überkultur' der dekadenten Intelligenz der Großstadt gegenüber. Die wichtigsten programmatischen Texte der Heimatkunstbewegung um 1900420 sind die Schriften von Friedrich Lienhard. Da seine Anschauungen den Diskurs der (österreichischen) Heimatkunst entscheidend prägen, seien seine Ideen und Theoreme hier kurz zusammengefaßt: Lienhards Konzept der Heimatkunst fußt auf einer ausschließlich inhaltlichen Kritik der modernen großstädtischen Kunst. Die Künstler dieser 'Moderne', zu denen ausdrücklich auch »Schnitzler und Hofmannsthal« 421 gehören,
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420
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A.a.O., S.1016. A.a.O., S.101 lf. P.K.[Peter] Rosegger: Jakob, der Letzte. Eine Waldbauerngeschichte aus unseren Tagen (Ausgewählte Schriften, Bd.16). Wien, Pest, Leipzig 21889. S.8 ('Vorwort'). Zur 'Heimatkunst' um 1900 vgl. u.a.: Peter Zimmermann: Heimatkunst. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd.8. Reinbek 1982. S.154-168. Friedrich Lienhard: Neue Ideale nebst Vorherrschaft Berlins. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 3 1920 [Erstdruck 1901]. S.180 ('Zwischen Demokratie und Imperialismus').
haben - in seinen Augen - letztlich nur ganz einseitig sich selbst und ihre kranken Nerven zum Gegenstand. Ihre Literatur beschäftigt sich nicht mit der Realität, sondern mit »konstruierten Problemen«. 422 Die Alternative zur »großstädtischen Problem-Tüftelei« 423 ist eine »wahrhaft moderne Heimatkunst« 424 oder - wie er sie auch nennt »Höhenkunst«. 425 Diese Kunst soll sich einerseits auf die geistige Tradition des deutschen Volkes, auf dessen 'innere Heimat', andererseits auf die sinnlich sichtbare 'äußere Heimat* beziehen 426 und von ihr lernen. Quellen der Heimatkunst sind die deutschen Klassiker und die deutsche Landschaft mit ihrer Volkskunst und ihren Volksbräuchen. Gegenstand dieser Kunst sind nicht die zivilisatorischen Probleme des Menschen, sondern dessen Würde und seine Verbundenheit mit seiner Landschaft. Der Gegenstand ist wichtiger als die Form; formale Experimente werden abgelehnt. Lienhards Entwurf einer Heimatkunst klammert bewußt das Problem der modernen Orientierungslosigkeit aus. Dem kranken Nervenkünstler als Protagonisten der Ddcadence stellt er »Männer und Helden« mit »Gemüt und Leidenschaft« 427 entgegen. Diese sind für ihn die dichterischen Persönlichkeiten im goetheschen Sinne 4 2 8 Das Programm einer neuen, einer modernen Schlichtheit gipfelt in der Forderung nach unbefangener Dichtung 429 , nach einer »Ursprünglichkeit«430, die merkwürdigerweise erst in einem Reifeprozeß erreicht wird. Erst muß der Künstler sich kosmopolitisch gebildet haben, um bewußt und sicher die wirklich schönen Gegenstände der Heimat zu finden. 431 Wahre Heimatkunst übersteigt das moderne Bewußtsein: »Wir wünschen nicht Flucht aus dem Modernen, sondern ein Durch, eine Ergänzung, eine Erweiterung und Vertiefung.« 432 Es erübrigt sich fast, auf den synkretistischen Charakter von Lienhards Entwurf einer Heimatliteratur hinzuweisen. Von Bartels hat er die Idee einer 'Heimatkunst', von Goethe den Natur- und Persönlichkeitsbegriff, von Carlyle Gedanken zur historischen Größe, zum Heldentum und zum Zauber der Landschaft und von Emerson schließlich den Gedanken des naiven ursprünglichen Verhältnisses zur Natur, von der man lernen kann, wenn man sich ihr schlicht und einfältig nähert. Lienhard geht nicht auf die Fiktionalität seines Entwurfs von Heimat ein und erkennt nicht, daß seine Vorstellung einer Heimat, die »ein fester Boden mit Wurzeln und
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A.a.O., S.92 ('Heimatkunst·). A.a.O., S.164 ('Vom Reichtum deutscher Landschaft'). A.a.O., S. 167. A.a.O., S.89 ('Heimatkunst'). Vgl. a.a.O. A.a.O., S.91. Vgl. a.a.O., S.85. Vgl. a.a.O., S.93. A.a.O., S.162 ('Vom Reichtum deutscher Landschaft'). Vgl.a.a.O., S.160. A.a.O., S.92 ('Heimatkunst'). Diese Erweiterung der Moderne schützt, nach Auffassung Lienhards, die Heimatkunst vor dem Angriff, sie sei reaktionär. Eine solche These vertritt um 1900 im Streit um die 'Heimatkunst' vor allem Samuel Lublinski. In fast jedem Text zu diesem Thema kommt Lienhard auf dessen These zu sprechen, Heimatkunst sei eine Reduzierung des Kunstinteresses auf eine haltlose romantische Sehnsucht. »In dieser Einseitigkeit«, so Lublinski, »bedeutet die Heimatkunst [...] eine Reaktion im schlimmsten Sinne des Wortes« (Samuel Lublinski: [Rudolf Huchs] 'Mehr Goethe'. In: Litterarisches Echo 2-1899/1900, Heft 11, 1.3.1900, Sp. 750).
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Knollen, mit Pflanzen und Leben, mit Organismen« 433 sei, längst in wesentlichen Zügen den Charakter eines Surrogats angenommen hat. Seine Idee von landschaftlicher Dichtung kaschiert deutlich die Widersprüche moderner Existenz. 434
Die österreichische Dichterin Marie Eugenie delle Grazie, gebürtig im deutschsprachigen Banat, hatte zeitweise sehr enge Kontakte zum Diskurs der literarischen Moderne in Wien, wovon ihre Beiträge zu verschiedenen literarischen Zeitschriften und einige ihrer Werke - ein Drama von 1906 trägt den Titel 'Ver sacrum' - ein deutliches Zeugnis geben. In ihrem Gedicht 'Heimat' finden sich viele schon angedeutete Aspekte des Vorstellungsbereichs 'Heimat' formuliert; die bewußt schlichte Konstruktion und die ideologischen Implikationen ihres Gedichts zeugen von einer nicht zu übersehenden Nähe zur Heimatkunst: O Heimatdorf, in grüner Berge Schoß, der Welt so klein - für mich so reich, so groß! Jahrzehnte sind's, daß dich mein Aug' nicht sah, nun bringt ein Bild dich meiner Seele nah: 43S
Heimat konstituiert sich auch hier über die Erinnerung, oder besser: über ein stilisiertes ErinnerungsMd. Der umtriebigen und unüberschaubaren Welt wird der übersichtliche Mikrokosmos, sozusagen die paysage intime des Heimatdorfes entgegengestellt. Geborgenheit und Sicherheit - die Konstituenten von Heimat, auf die Bausinger und Amery hinweisen vermittelt die Metapher 'in grüner Berge Schoß'. Die Verbindung von Landschaft und unwiederbringlicher Heimat soll in einer 'Stimmung' verwirklicht werden, die das Gedicht durch einen Bildvergleich auszudrücken sucht:
433 434
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Lienhard 3 1920, S.92 ('Heimatkunst'). Vgl. a.a.O., S.165f. ('Vom Reichtum deutscher Landschaft'). Am Ende seines wichtigen Essays 'Vom Reichtum deutscher Landschaft' findet sich sogar eine Passage, in der moderne Kriegsschiffe in landschaftliche Idyllen integriert werden: »Wenn ich auf einem sonnigen Felsen des Wasgaus so recht mit Behagen den Leib recke und die Seele träumen lasse, ein blühendes, atmendes, lebendes Sommerlaub zu Füßen; wenn du an der Kieler Förde, am Waldrand von Heikendorf, träumend unter breiten, stillen Buchen gehst und den stillen, steten Lauf einfahrender Kriegsschiffe schaust; wenn ihr in fröhlicher Waldfahrt in jener reizenden Schwabenecke, die wir aus Hauffs 'Lichtenstein' kennen, am Uracher Wasserfall lacht und spielt und singt; [...] - das sind Farbenblicke und Gemütsverfassungen so bunter Art, daß man sich nur immer aufs neue wundert, warum des Deutschen Reiches Dichter zusammengedrängt in Berlin sitzen und sorgenvoll nur 'Probleme lösen', als wäre dies die ganze Welt.« (A.a.O., S.165f)· Marie Eugenie delle Grazie: Heimat. In: Maximilian Bern (Hg.): Neue deutsche Lyrik. Berlin: Th. KnaurNachf. o.J. [1911], S.46.
Der Hirtenflöte melanchol'scher Klang, er schwebt wie einst das stille Tal entlang! 436
Das Hirtenmotiv verweist auf die vormoderne 'naive' Unschuld der bukolisch stilisierten heimatlichen Landschaft, an deren Stille man sich nur melancholisch erinnern kann. Zwar meint das 'lyrische Ich', »die Helden« seiner »Märchen«437 in der Tallandschaft wahrzunehmen, doch zeigen sich diese Erinnerungen schließlich als Zeichen einer verlorenen Welt, die es in seiner Heimat vergeblich zu finden hofft; dem fiktionalen Subjekt des Textes scheint es, »als müßt' [...] [es] ein Verlor'nes suchen gehn«.438 Das Gedicht endet mit einer Apotheose der glücklichen, aber verlorenen Kindheit, die sich mit der heimatlichen Landschaft verbindet: »Es war ein glücklich Kind - ich find's nicht mehr!«439 Weitaus komplizierter und reflektierter beschreibt der Jung-Wiener Felix Saiten in den 1909 erstmals unter dem Titel 'Das österreichische Anlitz' gesammelten Essays Landschaft und Heimat. Die Wiener Straßen, das Gesicht des Kaisers, ländliche Vororte, Lokale, Treffpunkte des Wiener Establishment und die Wiener Vorstadt kennzeichnen gleichermaßen die Heimat, die die Texte entwerfen. Aus den verschiedenen Blickwinkeln, die die Essays freilegen, ergibt sich so zwar kein geschlossenes Heimatbild, aber es entstehen verschiedene Vorstellungen von Heimat, oder besser: von Heimat-Nischen innerhalb einer modernen Weltstadt. Eine solche Nische erfährt man aus dem Text 'Spaziergang in der Vorstadt': sie heißt 'Währing', der heutige 18. Stadtbezirk Wiens. Mag es also auch nur Währing sein ... ist man da aufgewachsen, dann fragt man nicht viel, ob der Name des Ortes hinreichend prächtig sich anhört. 440
Saltens Text begreift den Zusammenhang von Kindheitserinnerung und Heimat. Die Vorstadt, die als Ort der Sozialisation, als Ort erster selbständiger Erkundungen geschildert wird, berührt den nach langer Zeit wiederkehrenden Spaziergänger mehr als die sich dem Modernen vielfältig erschließenden exotischen Welten, mehr als das - gleichwohl geheimnisvoller klingende - »Samarkand«.441 Ein Spaziergang dort wäre in der beginnenden Informationsgesellschaft vielleicht eher wert, der Gegenstand eines Essays zu werden; die Freude an Sensationen, der Hang
436 437 438 439 440 441
A.a.O. A.a.O. A.a.O., S.47. A.a.O. Saiten [1909], S.l 17 ('Spaziergang in der Vorstadt'). A.a.O.
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zum Exotismus, die Weltoffenheit der Metropole verlangt nach solchen Themen: Saiten stellt diesem fiktionalen Kosmopolitismus die Fremderfahrung der sich wandelnden, an sich bekannten Kindheitswelt entgegen. Heimat erfährt er als fremdes Vertrautes, während das Fremde »in Papier und Büchern eingefangen auf unserm Tisch«442 liegt; es ist das eigentlich Vertraute. Bausingers Satz, »Heimat« sei »Vertrautheit, die auch ein Stück ins Unbekannte [...] vorstößt«443, könnte man hier in gewisser Weise bestätigt finden. Alle Fernen zwingen wir uns herbei in unser Zimmer [...]. Aber es passiert uns, daß wir das Lebendigste versäumen, auch wenn, um es zu sehen, nicht mehr vonnöten ist als ein Spaziergang von einem Stadtviertel in das andere.444
Und diesen »Spaziergang« unternimmt Saltens Essay. Sein Text versucht das Vertraute in der sich wandelnden Vorstadt wiederzuentdecken, das Vertraute im Fremden, im Modernen zu beschreiben. Wie ein Spaziergang legt der Essay verschiedene - oft überraschende - Blickwinkel frei. Saltens Essay läßt deshalb an die oben erläuterte Poetik des Spazierens denken, die Hermann Bahr in seinem Feuilleton 'Vom Gehen' entwickelt.445 Die Moderne hält in »Währing 'bei' Wien«446 mit der »Tramway«447 Einzug. Die Vorstadt gleicht sich der Weltstadt an. Die Häuser werden höher, die Besiedlung wird dichter. Die »Stadtbahn«, Garant für schnelle Verbindungen in einer Welt, in der der Verkehr zunehmend wichtiger wird, ersetzt den »Linienwall«, die »einstige Grenzspur«448 zwischen Weltstadt und Vorstadt. Und doch finden sich Reste des alten Währing: Völlig schüchtern hält es sich verborgen, schweigt, weil es ja doch überschrien wird, und läßt das geschäftig eingedrungene Wesen schalten.449
Alte Häuser erscheinen plötzlich in »großstädtischer Eleganz«450, und nach bekannten Orten muß der Spaziergänger oft suchen. Im »alten Ostfriedhof«451 findet er schließlich einen 'unberührten' Platz: »Wie ein
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A.a.O., S.126; vgl. hierzu: Koschorke 1990, S.318. Bausinger 1989, S.268. Saiten [1909], S.126. Vgl. Kapitel 2.c). Saiten [1909], S.118. A.a.O., S.122. A.a.O. A.a.O., S. 123. A.a.O. A.a.O., S. 124.
wilder, verwunschener Garten liegt der Friedhof da.«452 Er ist eine Insel im »Brausen der jungen Tage«453 - eine Analogie zur Inselmetaphorik des ästhetizistisch gesehenen Gartens liegt auf der Hand. Die Phänomene der Moderne - »die ungeheure Bewegungsgewalt aller Entwicklungen«454 - drängen sich überall in das Wahrnehmungsfeld des Betrachters, der doch »nur an das Traumhafte dieses Spazierganges455 denkt: an die frühen Erinnerungen, die mit jedem Schritt erneut präsent werden. Heimat ist ihm der Traum einer Kindheitslandschaft, die es nicht mehr gibt, der er jetzt aber wieder nahe ist. Er ist für Augenblicke in den alten »Lebensbereich [...] zurückgekehrt«.456 Auch Franz Kafkas bekannter Text 'Heimkehr' handelt vom Zurückkehren in die Heimat. Anhand dieses Textes lassen sich viele der genannten Phänomene noch einmal zeigen. Auch dort identifiziert der Ich-Erzähler den Ort seiner Rückkehr als Raum seiner Kindheit. Die Zeichen dieser Kindheit fügen sich vage und labil zu einer heimatlichen Aura zusammen: Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind 457
Doch die Zeichen scheinen sich gegen eine allzu schnelle Vereinnahmung zu wehren; sie bieten niefit die Sicherheit, daß alles so ist, wie es war, daß alles am rechten Ort, daß man freudig empfangen, selbst von diesem Ort als 'Einheimischer' begrüßt wird. »Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.«458 Im folgenden wird deutlich, woher diese Unsicherheit rührt: Die Erinnerung an das väterliche Haus ist da. Aber der Ankommende vermag nicht die Elemente der Wahrnehmung mit der ganzheitlichen Aura seiner Erinnerung in Einklang zu bringen; der Erzähler ist dieser Disparatheit ausgeliefert. Teils hat er die Erinnerung an den Zusammenhang verloren, teils steht er einer realen Veränderung gegenüber. Seine Heimatvorstellung stimmt nicht mehr mit dem Wahrgenommenen überein; noch mehr: der Erzähler und seine Ansprüche scheinen nicht mehr hierher zu passen; er kann den Text dieser Welt nicht mehr lesen.
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A.a.O., S.125. A.a.O., S.124. A.a.O., S. 125. A.a.O. A.a.O. Kafka 1970, S.320f. A.a.O., S.231.
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Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kann-
Was dann im weiteren Verlauf der Erzählung thematisiert wird, ist die Frage nach der Neukonstitution von Heimat trotz veränderter Bedingungen. Da steht auf der einen Seite die Angst des Erzählers, das zu verlieren, was die Kindheitserinnerung noch immer an Sicherheit vermittelt. Man kann sie als jene Diskurselemente begreifen, die der Protagonist wahrnehmen will, ohne zu wissen, ob sie noch mit dem nun gültigen Diskurs zusammenstimmen. Auf der anderen Seite ist da das Bedürfnis an diesem neuen Diskurs teilzuhaben, d.h. mit den Anwesenden neue Gemeinsamkeiten zu gewinnen. Und das meint letztlich Orientierungen zu erhalten, die Heimat ersetzen oder neu konstituieren könnten. Die Erzählung endet merkwürdig: Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst einer, der sein Geheimnis wahren will.4*0
Das Geheimnis des Erzählers ist seine Kindheitserinnerung an diesen Ort, ist sein Heimatgefühl. Das Ende der Erzählung illustriert die elegische Erfahrung von Modernität als Erinnerung an Heimat. Diese melancholische Stimmung kann nicht teilbar, noch viel weniger mitteilbar sein. Sie will es auch nicht mehr sein. Das ist das Geheimnis des Erzählers, und das macht den Zauber dieses Ortes aus, der ihn daran hindert, an die Tür zu klopfen, in den neuen Diskurs einzusteigen und die Zeichen dieser Welt neu zu lernen. Würde er so verfahren, erreichte er bestenfalls jenen Grad an Sicherheit, der das juste-milieu auszeichnet, das überall zuhause sein kann, weil es überall die Kolportagen neuer Heimat lesen kann.461
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A.a.O. A.a.O. Die Ausführungen über Heimat machen letztlich vier Möglichkeiten, mit dem Problem Heimat umzugehen, deutlich: l.Man akzeptiert die neuen Rahmenbedingungen von Heimat und internalisiert die Möglichkeit, die verlorene Kindheit durch fast beliebige Heimatsurrogate zu ersetzen. 2. Man verzichtet auf Heimat. 3. Man verfallt in eine melancholische Stimmung und trauert dem nach, was man vielleicht nie besessen hat, jedenfalls nicht wiedererlangen kann; diese Art von Trauer versucht den letzten Rest Heimat, der noch übrig bleibt, zu bewahren - eine Sisyphosanstrengung. 4. Man glaubt an die Utopie einer Umgestaltung der unwirtlich gewordenen Moderne, an die Utopie neuer Heimat jenseits der Kolportage: »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit
Landschaft als Fluchtraum In den Diskursen der kriseologisch zu verstehenden Moderne finden sich immer wieder suggestive Illusionen verschiedener Fluchträume. Oberflächlich schillernde Alternativen erweisen sich nur zu oft als potemkinsche Fassaden; die Krise wird bei solchen literarischen Raum- und Landschaftserfahrungen eher implizit deutlich. 'Hofmannsthal und seiner Zeit' ist die Geisterhaftigkeit ihrer Phäakenkunst substantieller Bestandteil des ästhetischen Diskurses: Daß ihre Texte mit leichter Hand immer wieder die 'fiktiven' Fluchträume dem Sozialengagement vorziehen, gehört für Hermann Broch bekanntlich zur »Wiener Frivolität«.462 Die Ernsthaftigkeit dieser Fluchtversuche übersieht man mit einer solchen Interpretation in gewisser Weise; die Konnotation einer Landschaft als Fluchtraum setzt den problematisierenden gesellschaftlichen Diskurs mit anderer Sprache fort. Ich glaub immer noch, daß ich im Stand sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen. [...] Es handelt sich freilich immer nur darum [,] ringsum an den Grenzen des Gesichtskreises Potemkin'sche Dörfer aufzustellen, aber solche an die man selber glaubt. 463
Diese oft zitierte Briefstelle Hofmannsthals (aus einem Schreiben an Beer-Hofmann) entwirft die räumlich gedachte Idee des ästhetizistischen Surrogats als Schutz vor der Krise des Subjekts. Beer-Hofmanns Antwort nimmt nicht explizit auf die eigene Situation Bezug, sie ist aber leicht auf Hofmannsthals Äußerung beziehbar, zumal sie in einem der nächsten Briefe an seinen Freund zu finden ist. Die Beschreibung seiner 'Compagnie' in Czaslau zeigt, daß er die Sätze Hofmannsthals sehr wohl verstanden hat. Die eigene Identitätsproblematik ist in diesen Worten unüberhörbar; sie ist Bestandteil des Jung-Wiener Selbstbewußtseins, zu dem das Wissen um die eigene Krise gehört. Mit sehr wenigen Ausnahmen leben sie, nicht ihr, sondern fremde Leben, und man merkt die Pose ihres Seins, die sie hilflos, und wol auch vielfach unbewußt, sich zurecht gelegt. 464
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scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt 8 1982. Bd.3. S.1628). Broch 1974, S.69 ('Hofmannsthal und seine Zeit'). Hofmannsthal, Beer-Hofmann 1972, S.47 (Brief Hofmannsthals v. 13.5.1895). Vgl. auch Scheible 1984, S.28-31. A.a.O., S.51 (Brief Beer-Hofmanns v. 6.6.1895).
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Das fast allegorisch gebrauchte Bild des 'lebendigen Toten' - beispielhaft vorgeführt in Hofmannsthals 'Der Tor und der Tod' 465 - kann als Leitmotiv jener Identitätsproblematik gelten. Das zur 'Pose' abgestorbene Sein verbirgt die Krise des Subjekts; das 'fremde Leben' ist ein Surrogat, ähnlich der Ich-Imago des moi in Lacans Spiegeltheorie.466 Als eine zentrale Auswegmöglichkeit aus der Krise des Individuums stellt die Dichtung der Wiener Moderne die Flucht in eine andere Raumqualität zur Diskussion. In erdachten, erträumten oder - oft nur für Augenblicke - neu eroberten Räumen sollen die Grenzen der bislang erfahrenen Welt imaginativ überwunden werden, wobei die Dimensionen der Orte, in die geflüchtet wird, keineswegs neu sind. Gerade das Erlebnis des neuen Raums kann eine Erfahrung sein, die prinzipiell wiederholbar ist, so wie auch jeder weltanschauliche oder religiöse Ausweg nicht an den einmaligen Versuch der Internalisierung gebunden ist. Eine solche scheinbar neue Raumerfahrung, ein solches Surrogat, stellt die häufig thematisierte sommerliche Fahrt aufs Land oder in die Sommerfrische in den Skizzen von Peter Altenberg467 dar. Die immer wieder durchlebte 'Flucht' ist eine Perspektive der radikal begrenzten Zeit. Das Neue ist im Grunde die längst vertraute Abwechslung; sie stellt sich dar als »Spätsommer-Nachmittag« auf einer »feuchten Wiese« mit »Disteln, lila Blumen und Birken«, auf der man »Kaffee en grande societe«468 nimmt, wird mit den »Dampfschiffen« auf »den Salzkammergut-Seen« als »Wahrzeichen von Sommerfreiheit, Sommerfrieden«469 assoziiert oder als »Tanz [...] mit den Matrosen« auf »Helgoland«470 imaginiert. Oft ersetzen Namen ein ganzes Geflecht von Vorstellungen: man denkt an die »Haute-Saison [...] in Ostende oder Biarritz «,471 Im Laufe der Skizzen erweist sich der Illusionscharakter dieser Sommerträume; die Texte denunzieren die Vergänglichkeit und Diskursabhängigkeit der anderen, zeitlich begrenzten und trügerisch stilisierten Daseinsqualitäten.
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Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd.l, S.297: »Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!« Vgl. Lacan 1973-1975, I, S.64f. ('Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion'). Zum 'Surrogat'-Begriff in diesem Zusammenhang vgl. schon Schaukai 1986 ['1907], S.70: »Symptomatisch für die Kultur der Gegenwart ist die Vervollkommnung der Surrogate.« Das Motiv findet sich schon in den ersten Skizzen Altenbergs. Die folgenden Beispiele entstammen seinem ersten Buch (Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 1896), werden aber - soweit möglich - nach dem besser zugänglichen Sammelband 'Das Peter Altenberg Buch' (Altenberg 1977) zitiert. Altenberg 1977, S.232. A.a.O., S.379. A.a.O., S.301. Altenberg 1968, S.5 ('Sonnenuntergang im Prater').
Dies kann ironisch geschehen, wie in Altenbergs Prosastück 'Quartett-Soiree'. Die Tagträume eines »Fräulein[s] in maron püree«, die vor dem Konzert »zu Hause gebadet hatte«472, und einer jungen Frau sind dort nur allzu gut dem Ambiente der Halle angepaßt, in der ein Musikabend gegeben wird. In dem schneeweißen Konzertsaal, der wie eine riesige »Pappendeckelschachtel« wirkt, in dem das Licht »goldgrüne und weißgrüne Flecken [wirft], die wie glänzendes Wasser schimmern oder Öl, wie Milch im Mondschein«473, träumt die Frau von einem sommerlichen »Meerbad«, von einer »Herde gelber Schafe«, von Matrosen, aber auch vom »Duft von Kartoffelfeldern am Abend, wie HühnerBouillon, wenn man krank ist«474, während das Fräulein unter lauter Menschen ihre Einsamkeit spürt. Die ironische Beschreibung der durch Musik verzauberten Zuhörer gipfelt in der Schilderung des grotesk überzogen wirkenden Raumgefühls der ersten Reihe: Die ganze erste Reihe hält sich für König Ludwig, dem man extra vorspielt. Wirklich, die Töne fahren sonst in der Pappendeckelschachtel herum wie feine Schmetterlinge, zerstoßen sich an den goldgrünen Flecken der Lampen . Aber in der ersten Reihe schweben sie über den Cercle-Sitzen wie über Blumen. 475
Die Erzählperspektive des Textes ist hier nicht deutlich. Während auktorial das Raumgefühl der besseren Gesellschaft in der ersten Reihe wiedergegeben wird, greift der Text aber auch die Raummetaphern auf, die vorher im Zusammenhang der beiden weiblichen Zuhörer standen. Durch die Wiederverwendung dieser Raummetaphern und die Satzanbindungen 'wirklich' und 'aber' entsteht der Eindruck, die verschiedenen Tagträume und Assoziationen der Konzertbesucher würden miteinander kommunizieren. Eckardt Köhn sieht das »Besondere der [...] Wahrnehmungen« Altenbergs in einer »geradezu methodisch gehandhabten subjektiven Ausformung und Transformation der visuell erfaßten Phänomenwelt«.476 Die 'Quartett-Soiree' kann dafür sicher als Beispiel dienen. Allerdings handelt es sich hier offensichtlich nicht nur um eine subjektive Ausformung, sondern um mehrere gegeneinander gestellte Perspektiven des von Köhn analysierten »verwandelnden Sehens«.477 In Peter Altenbergs Prosastück 'At Home' wird der Gegensatz zwischen alltäglicher Befangenheit und erträumtem Ausbruch noch
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Altenberg 1977, S.301. A.a.O., S.300. A.a.O., S.303. A.a.O., S.302. Eckardt Köhn: Stenograph des Wiener Lebens. Großstadterfahrung im Werk Peter Altenbergs. In: Sprachkunst 17-1986. S.25. A.a.O., S.29.
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deutlicher; der Fluchtraum ist auch in dieser Skizze jenseits der Großstadt zu suchen. Der Text berichtet, daß die Stadt mit genauso »stupider Hoffnung«478 verlassen werde, wie man in den »Stadtkerker«479 nun zurückkehre, in der Hoffnung, die Wohnung von Tüchern und NaphthalinGeruch befreit, zu neuem Leben erwecken und etwas von der Frische der noch allzugut erinnerten Landschaft hier installieren zu können. Mit unnachgiebigem Blick notiert der Text, wie schnell das Gewohnte samt der Bequemlichkeit die ein hilfsbereites Zimmermädchen bietet, in die Räume des Stadtquartiers einzieht. Vom Leben auf dem Land bleibt nicht viel zurück: Von den Stadtgälten und Wiesen zieht ein matter Duft in die Straße herein - - . Wie Land-Melancholie, wie ein letzter Gruß vom Sommerfrieden ! 480
Der Duft erinnert zwar ein letztes Mal an den Sommer in belebender Landschaft, der aber ist unweigerlich vorbei; was bleibt, ist der entfremdete, dekadente Genuß künstlicher Natürlichkeiten: eine mit einem goldenen Messerchen zerteilte Isenbartbirne, das Licht englischer Straßenlampen, Polster und Plumeaus. Der Wunsch nach neuer einfacher Raumerfahrung existiert nur als ästhetizistisches Spiel inclusive Rückfahrkarte nach Wien und in die Lebenswelt der Ringstraße. Der Illusionscharakter der 'kleinen Fluchten' aus dem modernen Großstadtleben wird deutlich, wenn man bedenkt, wie schnell und selbstverständlich die Regeln der Wiener Kunstwelt in der Skizze 'At Home' akzeptiert werden, und wenn man sich ins Gedächnis ruft, daß die Träume vom Sommer, von Exklusivität und Melancholie in der Erzählung 'Quartett-Soirie' vor allem durch das Medium Musik evoziert werden konnten. In der frühen realistisch erzählten Novelle 'Flucht' von Felix Saiten findet sich der Fluchtraum als ständig präsentes Leitmotiv. Die mit der Flucht zusammenhängenden Vorstellungen des Protagonisten bestimmen jede Landschaftswahmehmung der Novelle. Zuerst ist die »helle Landschaft« hinter den »mächtigen Bogen der Ausfahrt«481 Symbol der Hoffnung auf Freiheit und Glück:
478 479 480 481
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Altenberg 1968, S.22 ('At Home'). A.a.O. A.a.O., S.23. Saiten 1900, S.38.
Dort lag die lichte Welt, und von der Frühsonne beschienen, glänzten die metallenen Wegspuren auf der Strecke, weit, weit hinaus, umschimmert von dem duftigen Schleier der Morgennebel, in denen die Ahnung aller Femen lag. 482
Obwohl die Zeichen dieser Landschaft eindeutig auf einen glücklichen Neubeginn zu weisen scheinen - die Morgensonne ist das klassische Aufbruch-Symbol - , enthält der Blick auch Hinweise auf die scheinhafte Qualität dieses Glücks. Der Nebel läßt die glücklicheren »Fernen« nur ahnen; er verhüllt ihre wahrhaften und sich im Laufe der Novelle zeigenden Schrecken. Nietzsches Wort, zum Handeln gehöre »das Umschleiertsein durch die Illusion«483, bezeichnet korrekt die psychologische Situation des Protagonisten. Im Laufe der Erzählung steigert sich dessen psychische Spannung. Überall schleichen sich semiotische Hinweise auf seine frevelhafte Tat - wohl ein Bankraub - in seine Wahrnehmungen ein484: ein Wachmann auf dem Bahnhof, »die Zeichen des Verkehrs, der Verständigung«485, »Warnungstafeln«486; schließlich scheinen sogar die »scharfen, schreienden Töne«487 der Stationsklingeln unmißverständlich auf seine Verfolgung hinzudeuten. Seine Angst läßt ihn »plötzlich mit scharfer Deutlichkeit« spüren, »daß sich nichts verheimlichen lasse«.488 Allein durch die sich ihm subjektiv offenbarenden Zeichen gedrängt, entschließt er sich zum Selbstmord als letzter Möglichkeit der Flucht: »Die dort sollten ihn nicht haben.«489 Aus einem fahrenden Zug stürzt er sich in die Landschaft, die ihm nun nicht mehr Symbol der Hoffnung, sondern der Hoffnungslosigkeit ist. Die rhetorische Hypertrophie des Ichs und das Sprechen über die manifeste Krise des Subjekts sind zwei Facetten des gleichen Diskurses. Das ist für die Wiener Moderne, für die Moderne überhaupt immer wieder betont worden, zuerst von ihr selbst. Max Stirners 'Der Einzige und sein Eigentum' von 1844 formuliert die für die folgenden Jahrzehnte relevante Einsicht säkularer Identitätsstiftung. Er liefert damit die diskursiven Voraussetzungen des modernen Ästhetizismus; mit dem Hinweis auf den Verlust der transzendenten - maßgebenden - Instanz antizipiert er gleichzeitig Voraussetzungen der Ich-Krise des relativistischen Historismus:
482 483 484 485 486 487 488 489
A.a.O., S.38f. Nietzsche 1984, Bd.l, S.48. Vgl. dazu auch Kapitel l.a). Saiten 1900, S.52. A.a.O., S.53. A.a.O., S.57. A.a.O., S.58. A.a.O., S.59.
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Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf Sich. Stelle Ich denn meine Sache gleichfalls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem Andern, der Ich mein Alles, der Ich der Einzige bin. [...] Mir geht nichts über Mich! 490
Ernst Machs Satz »Das Ich ist unrettbar«491, es sei nur einer der »Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung«492, 'schreibt' die nur dialektisch zu begreifende Krise des Ichs als unhintergehbare Kehrseite des ästhetizistischen Solipsismus in den Identitätsdiskurs der Modernen 'ein'. Selbst das Ich wird endgültig zum bloßen Surrogat für Orientierungen. Diese beiden Antworten auf die moderne Identitätsfrage - Hypertrophie und Krise des Ichs - sind in den Bewegungen der »psychischen Kreuz- und Querfahrten«493 Pauls, des Protagonisten von Beer-Hofmanns Prosa 'Der Tod Georgs' enthalten. Das ständige Oszillieren zwischen narzißtisch genossener Einsamkeit und erlittener Isolation, zwischen »Macht und Ohnmacht«494, bestimmt das Scheitern seiner Selbstvergewisserungsversuche. Ambivalenz wird zum bestimmenden Merkmal quasi aller Textbewegungen. Im wiederkehrenden Motiv imaginierter Fluchträume zeigt sich die Struktur dieser Ambivalenzen. Auf der einen Seite gelingt es Paul, sich durch seine Imaginationen und Träume eine eigene Welt zu evozieren, in der er allmächtig herrschen kann; auf der anderen Seite wird ihm die Ohnmächtigkeit gerade dieser Weltentwürfe, ihre Relativität bewußt. Dann erfährt er sich als scheiternden Träumer in einer kriseologisch erlebten Welt. Paul entwirft immer wieder seinen eigenen mächtigen 'Diskurs', den Monolog seiner Träume und Imaginationen. Zum ersten Fluchtraum wird das 'räumlich' vorgestellte Szenario seiner sterbenden Frau, dann träumt er das Erlebnis kollektiver Sexualität in einem syrisch-dionysischen Kultfest, und schließlich werden die allmächtigen Wahrnehmungsvisionen, die - mit Georg Lukäcs - auf einer »Metaphysik des Impressionismus«495 basieren, wird die Gleichzeitigkeit von detaillierter Momentaufnahme und globalem Sehen zur bestimmenden Auseinandersetzung mit sich selbst, zum solipsistischen Fluchtraum. Aber jenseits dieses narzißtischen culte du moi wird die Krise umso deutlicher: alle seine Versuche, den fatalen Zirkel von narzißtischen Hochgefühlen und Isolationsängsten,
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491 492 493
494 495
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Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Hg. v. Ahlrich Meyer. Stuttgart 1981 (Neuauflage). S.5. Mach 1987, S.20. A.a.O., S.lOf. Walter H. Sokel: Narzißmus und Judentum. Zu Richard Beer-Hofmanns 'Der Tod Georgs'. In: Literatur und Kritik 23-1988. S.8. Hank 1990, S.64. Georg Lukäcs: Der Augenblick und die Formen: Richard Beer-Hofmann. In: Georg Lukäcs: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied, Berlin 1971. S.162.
vom ästhetizistischem Spiel und der Zuriickgeworfenheit ins Leben zu durchbrechen, indem er versucht, seine Fluchtwelten zu institutionalisieren, sie als geltenden 'Diskurs' zu etablieren, scheitern. Pauls Traum des eskapistischen Kultfestes ist die Vision einer Flucht aus der Krise des Individuums als Auflösung des principium individuationis. Es erweist sich als chaotisches synkretistisches Tableau. Die Szenerie des Tempels von Hierapolis bietet Raum für höchst zweifelhafte Bilder, für eine Melange mächtiger, unbeherrschter 'Männerphantasien'496 und devoter Mutterrechtsorgien497, für Mythologeme und Ikonen verschiedenster Herkunft. Das Traum-Verfahren Pauls, dessen Scheitern der Text in reflektierenden Bewegungen im Anschluß an die Hierapolis-Vision nachzeichnet, entspricht bis zu den verwendeten Metaphern dem von Hofmannsthal in seinem 'D'Annunzio'-Essay durchaus positiv entfalteten 'produktiven' Historismus. Dort proklamiert - wie gezeigt - Hofmannsthal eine Moderne, die durch ihr eigenes 'Blut' und mit der 'Kraft eigener Träume' aus den 'Toten' lebendige 'Abgötter' ästhetizistischer Kunst macht498; hier konstatiert der Text zwar die Mächtigkeit Pauls:
496
Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd.2: Männerkörper - zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Reinbek 1980 1978). Besonders S.7-141. Es ist unsinnig, gerade bei Beer-Hofmann Hinweise auf 'faschistoide' Männerphantasien finden zu wollen; trotzdem weist die Motivik der Hierapolis-Phantasie durchaus eine mit Theweleit analysierbare Struktur auf. Die Spannung zwischen der ungebremsten Flut wollüstiger Leiber und den mächtigen, herausragenden Priestern ist unübersehbar. Theweleits Hinweis, das wilde Gebaren der Masse verkörpere die sonst kontrollierte Lust, sei das verdrängte Bild des »eigenen Inneren« (a.a.O., S.ll), ist auf Beer-Hofmanns Text durchaus anwendbar. Auch Jacques Le Rider hat jüngst das Ungehemmte, Unkontrollierte der Szene, die Herrschaft des Es, hervorgehoben: »Ich und Über-Ich üben keine Kontrolle mehr aus; und das Es übernimmt die Macht über den psychischen Apparat durch das Ideal-Ich. [...] Die Gruppenillusion enthebt das Subjekt der Kastrationsangst.« (Le Rider 1990, S.394) Diese Herrschaftsphantasien des 'Ideal-Ichs' sind natürlich vom Terror gegen die Menge als nicht akzeptierter Verkörperung des Es zu unterscheiden, die Theweleit analysiert (vgl. dort: S.ll). Über die sexuell konnotierte Sprache Beer-Hofmanns in der Beschreibung des Kultfestes besteht genausowenig ein Zweifel wie über die Verbindung von Sexualität und Macht innerhalb von Pauls Traum: »Dumpf erklang das gesprungene Fell einer einzigen Handpauke; dumpf und unablässig, wie hämmernder Pulsschlag in schmerzend geschwellten Schläfen. In kurzen Stößen quoll glühender Dampf aus der Kluft [...]. Aus dem verschlungenen Wirrsal erschlaffter Leiber reckten sich die steinernen Phallen; auf ihren Kuppen weißverhüllte Priester, regungslos im Gebet.« (Beer-Hofmann 1980, S.33). Die Hierapolis-Vision bezeichnet schon Oberholzer als sexuell konnotierten Wunschtraum (vgl. Oberholzer 1947, S.54).
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Vgl. Le Rider 1990, S.394. Vgl. Kapitel 2.c).
498
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So sah er den Tempel; und nicht den Tempel bloß. Denn allen Dingen, von denen er wußte, hatte er Leben gegeben. 499
Aber es wird ein Protagonist gezeichnet, der an seiner historistischen Macht, an den »Schatten«, die »trunken von seinem Blut [...] stärker als er«500 sind, verzweifelt: Denn wenn in anderen das Wissen wie Korn in trockenen Speichern lag - in ihm war es wie in tiefgepflügtes feuchtes Erdreich gefallen; aufwuchernd sog es alle Kraft aus ihm. 501
Sein historistisches Wissen ist kein frei verfügbares Engramm, keine logisch beherrschbare Folge codierter Bytes·, virulent< wuchernd erschöpft es die Speicherkapazität und Ordnungsfähigkeit seines gequälten Gehirns.502 Die abrupt endenden Visionen hinterlassen Paul jene Metaphern, die seine - im Grunde ohnmächtige - Situation für Augenblicke versprachlichen können, bevor er in die erträumte andere Fluchtwelt, das Leben mit seiner sterbenden Frau, in die das Kultfest gleichfalls als Traum eingeschaltet ist, eintaucht. Aus dem »verschlungenen Wirrsal erschlaffter Leiber«503 entsteht die Metapher des ambivalent erlebten VisionenNetzes: So flocht sich wundervoll und beängstigend ein Netz um ihn, engmaschig und alle Freiheit ihm nehmend. Alles war mit allem unlösbar verknotet, Gewesenes stand neben ihm aufrecht wie Lebendiges, und er lebte wie in dumpfen menschenüberfüllten Räumen. Alle Herrlichkeit der Welt war funkelnd aufgestapelt an den Wänden und hing in reichen Gewinden von der Decke herab, und er sah, daß es schön war und kannte seinen Wert. Aber fensterlos und versperrt engte sich der Raum, und alles [,] was in gepreßtem Gewühl sich um ihn drängte, nahm ihm selbst den Atem und stahl ihm seine Lebensluft. 504
Hier zeigt sich die fatale Ambivalenz dieser Träume: Pauls Allmachtsgefühl wird durch den an die Genesis erinnernden Tonfall der Beschreibung, seine Ohnmacht durch die unentrinnbare Raumsituation deutlich. Die historistische Raum-Vision der Hierapolis-Szenerie zeigt sich zwar
499 500 501 502
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Beer-Hofmann 1980, S.33. A.a.O., S.33f. A.a.O., S.34. Hierzu vgl. Friedrich Kittler: Die Welt des Symbolischen - eine Welt der Maschine. In: Götz Grossklaus, Eberhard Lämmert (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur. Stuttgart 1989, S.521-536; sowie: Kittler 1985 und Kittler 1986. Beer-Hofmann 1980, S.33. A.a.O., S.34f.
während des Traums als 'wundervoller' Fluchtraum; er hat aber - wie die Leibniz'sche Monade - keine Fenster. Aus diesem Raum »führt« - um ein Wort Hofmannsthals zu variieren - »kein direkter Weg ins Leben«505 und die verbleibende »Lebensluft« verbrauchen die zum Leben erweckten historistischen Gestalten. Die Verantwortlichkeit nur sich selbst gegenüber gibt Paul einerseits die Lizenz, alles, was ihm historistisch zur Verfügung steht, für seine Imaginationen zu nutzen; gleichzeitig liefert ihn dieser Narzißmus aber der Überfülle des zur Verfügung stehenden Materials aus: die Träume werden zu drückenden Alpträumen. Die »Herrlichkeit der Welt« ist in diesen Massen bloß relativ, der Fluchtraum dafür zu klein.506 Die Möglichkeit, unbegrenzt in narzißtische Visionen zu flüchten, die genossene Einsamkeit also, hat eine weitere negative Konsequenz: Pauls Isolierung. Auch sie wird räumlich sichtbar gemacht. Walter H. Sokel sieht die Macht und den Schrecken dieser Einsamkeit in der Ambivalenz des imaginativen Sehens des Protagonisten verdeutlicht: »Seine räumliche Erhebung über seine Umgebung, seine Aussicht aus dem Fenster seines Hauses oder des Eisenbahnzugs« interpretiert Sokel als »physisches Korrelat seiner hochmütigen Selbstabsonderung vom Alltagsleben seiner Mitmenschen«.507 Pauls Blick aus dem Zugfenster fungiere »als räumliche Entsprechung seines Erhabenseins über die Menschheit, wie das Bahngeieise auf dem Bahndamm über die Landschaft erhoben ist«.508 Diese räumliche Erhebung verleiht Paul das Gefühl grenzenloser Mächtigkeit: Und Glück war es, kühles Wasser zu fühlen, das aus Wolken vom Himmel herabfloß; wenn er vor den ferne aufleuchtenden Blitzen die Augen Schloß, fühlte er seine Macht. Denn rascher als das Bild des Blitzes seinen Augen entfloh, schuf er mit dem Senken seiner Lider tiefes Dunkel um sich und zerstörte eine Welt, die er mit jedem Augenaufschlag von neuem sich erschuf. 509
Hartmut Scheible weist darauf hin, daß die Wahrnehmungen510 während der Eisenbahnfahrt »durch das Bewußtsein vorstrukturiert«511 sind. Die Macht des Ästheten konstituiert erst die wahrgenommene Landschaft. 505 506
507 508 509 510 511
Hofmannsthal 1979, Bd.8, S.16 ('Poesie und Leben'). Die Vision einer Grenzen überschreitenden Allmächtigkeit wechselt mit dem Gefühl erdrückt zu werden: Die Vorliebe zumindest des späten Beer-Hofmann für Goethes Denken würde es vielleicht erlauben, dieses Schwanken mit den Begriffen Systsole und Diastole zu fassen. Sokel 1988, S.12. A.a.O. Beer-Hofmann 1980, S.75f. Zu Pauls Blick aus dem fahrenden Zug vgl. meine Analyse in Kapitel l.a). Scheible 1984, S.136.
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Durch die Erinnerung an Georgs Tod motiviert kommen Paul nur wenig später erhebliche Zweifel an seiner ästhetizistischen Souveränität. Die Worte »Ruhm, Macht, ein glückliches Alter« lassen ihn an der vielleicht wichtigsten Voraussetzung einer durch das Bewußtsein vorstrukturierten Konstitution von Landschaft zweifeln: der Sprache. Paul beginnt die Sätze zu segmentieren, einzelne Worte zu lösen und »prüfend an jedes«512 zu pochen. Dann zerfließt das Wort »in ein Dunkel, aus dem Seufzer und Fragen quollen«.513 Mit dem Sprachzweifel deutet sich wieder die Identitätskrise als Kehrseite der mächtigen Phantasien des Ichs an. Im letzten Kapitel des Romans entfaltet sich dann das, was in der Forschungsliteratur - zuletzt von Walter H.Sokel514 - nicht nur als neuer Fluchtraum, sondern als endgültiger Ausweg aus der Krise des narzißtischen Individuums gesehen wird. Die Rettung aus dem Netz des Narzißmus kommt buchstäblich von oben: unerwartet, wie ein deus ex machina, könnte man sagen.515 Paul eröffnet sich die Perspektive des jüdischen Glaubens als Weg aus der Orientierungslosigkeit. »Unbewußt in den schweren Takt ihrer Schritte fallend«516 reiht sich Paul - »Ruhe und Sicherheit«517 empfindend - in die Gesellschaft und ihre Geschichte ein. Der sich bietende Ausweg wird mehrfach an das vorher Explizierte angeschlossen: »Gleichgiltige Worte« bekommen nun wieder Sinn, sind »vollgesogen von Weisheit und Güte«.518 Pauls Raumwahrnehmungen stehen nun fast antipodisch zu seiner früheren Sehweise; die Partikularität scheint aufgehoben: Was ihn umgab, begriff er so, als übersähe er es aus der Ferne. Das Einzelne bestach nicht mehr. Gerechter als vorher, vermochte er im stillen klärenden Licht des Herbstes den stummen Willen der Landschaft zu erfassen, durch die er schritt, und ihr Gesetz.519
Pauls Denken beschäftigt sich explizit mit seiner Krise und formuliert präzise Erklärungsmuster.520 In der Rückbesinnung auf das scheinbar Abhandengekommene, fast Vergessene leuchtet dann - wie in der zitierten Stelle das 'Gesetz' - die Vorstellung einer neuen transzendenten
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516 517 518 519 520
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Beer-Hofmann 1980, S.76. A.a.O. Sokel glaubt, daß sich das »Judentum [...] hier als programmatische Überwindung des Narzißmus zu erkennen« gibt (Sokel 1988, S.8). Hinzuweisen ist allerdings auf eine motivische Verflechtung des letzten Kapitels mit dem übrigen Text: die Blut-Metapher und der Gemeinschaftsgedanke spielen zum Beispiel auch in der Hierapolis-Szene eine zentrale Rolle. Beer-Hofmann 1980, S.l 17. A.a.O. A.a.O., S. 116. A.a.O., S.90. Vgl. a.a.O., S.91f.
Ordnung auf. Der neue Diskurs sucht die Rückbesinnung, verlangt das Sich-Erinnern an die eigene Tradition und damit verbunden: die Einordnung. Dieser Ausweg verlangt ein Ausbrechen Pauls aus seiner 'monologischen' Existenz, eine Destruktion des Solipsismus und eine Öffnung für eine Haltung, die prinzipiell öffentlich ist, die in einer Tradition steht und die deshalb den eigenen Existenzentwurf überprüfbar macht, und zwar auch für das Individuum selbst.521 Ein »neues Leben«522, das aus dem 'Dunklen und Verworrenen' auftaucht, ist durch das Überschreiten der eigenen Ich-Grenze gekennzeichnet. Es ist die Einordnung in einen Traditionszusammenhang, in eine quasi religiöse Seinsweise. Unverhüllt aus nicht lügenden Augen, sah eine Erkenntnis ihn an. [...] Seine Gedanken [schlugen] [...] nach rückwärts Wurzeln in Vergangenes, und rankten zu Kommendem weit in die Zukunft.523
Die Proklamierung dieses Auswegs gipfelt in sentenzhaften Lehrsätzen, die an (alttestamentliche) Spruchsammlungen erinnern: Unauslöslich war ein jeder mit allem Früheren verflochten.524 Keiner durfte für sich allein sein Leben leben.525
In Beer-Hofmanns 'Tod Georgs' scheint das Überwinden jener fatalen Ambivalenz, die der ästhetizistische Solipsismus mit sich bringt, angelegt: »ein drittes Leben, das seiner Ahnungen«.526 Die bewußte Einordnung in einen geflihlten Traditionszusammenhang bietet sich als 'Ausweg' wie von selbst, an. Nicht nur die Art und Weise der Inszenierung dieses 'Auswegs' - das plötzlich einsetzende rationale Überdenken der eigenen Situation und das gleichzeitige fast 'religiöse' Erkennen ohne kommunikativen Austausch - , sondern auch der Schlußsatz des Textes lassen allerdings erhebliche Zweifel am Status der Rettungsperspektive aufkommen. Diesen könnte man, und mit ihm dann das ganze letzte
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Vgl. a.a.O., S.98. Bei der Überwindung des solipsistischen Existenzentwurfs greift der Text offenbar nicht nur auf jüdische Motive zurück; auch Goethes 'Wilhelm Meister' schreibt sich als Muster der neuen Selbstvergewisserung ein. Die Hingebung der 'Schönen Seele' an den Gekreuzigten - Goethes Palimnese pietistischer Selbstschau wird antagonistisch in jenen Frauen zitiert, deren Seelen sich dem Geliebten schenken (vgl. a.a.O., S.105 und Goethe HA 121982, Bd. 7, S.394). Beer-Hofmann 1980, S.107. A.a.O. A.a.O., S.109. A.a.O. A.a.O., S.111.
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Kapitel, im Sinne der Feuerbachschen Projektions-These interpretieren: »Aber was er [Paul] fühlte, war nur das Schlagen seines eigenen Bluts.«527 Der Ausweg wäre, so gesehen, dann nur ein weiterer narzißtischer Fluchtweg. Jacques Le Rider interpretiert die 'Wende' Pauls - ohne auf den Schlußsatz einzugehen - genau in dieser Weise. »Der Narzißmus« des Helden gelange im letzten Kapitel »so weit, eine religiöse Dimension einzubeziehen.« Ein Bruch zwischen den Passagen des Buches, die den Narzißmus Pauls entfalten, und dem letzten Kapitel wäre deshalb kaum zu konstatieren. Der religiöse 'Ausweg' sei die 'bruchlose' »Fortsetzung seines ursprünglichen Narzißmus«.528 Das hieße: Paul spürt letztlich nur sich selbst und keine leitende starke Hand, sein Blut und nicht das verbindende Blut des jüdischen Volkes. Tradition, Gesetzlichkeit und transzendente Ordnung - der Ordnungsdiskurs einer religiösen Welt - würden dann tatsächlich nicht aus der solitären Existenz befreien, sondern auf sie zurückweisen. Die ostentative Hinwendung zum jüdischen Ordnungsdenken wäre dann nur eine neue Spielart des Narzißmus.529 Allerdings: für Momente bietet es dem gequälten Subjekt einen Ausweg, vielleicht keine 'Lösung', keine Utopie, aber die Möglichkeit, den 'Raum', weiter zu leben. Hier unterscheidet sich Paul vom Protagonisten der oben besprochenen Novelle Saltens. Pauls Vision ist eine »Landschaft des Auswegs«530 - um einen Begriff Ernst Blochs zu benutzen, während sich der Protagonist aus Saltens 'Flucht'-Novelle verzweifelt in die 'todbringende' Landschaft hineinstürzt. Landschaft und Utopie In kaum einem anderen 'Archiv' scheint der Diskurs über Utopien so wenig Platz zu haben wie im Wiener Fin de si£cle. »Es ist hart«, schreibt Hofmannsthal, »sich mit einer herrschenden Gesellschaft herumzuschlagen, aber härter, eine nicht vorhandene postulieren zu müssen«.531 Carl E. Schorske, der dieses Zitat an den Anfang seines Aufsatzes 'The
527 528 529
530 531
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A.a.O., S. 117. Le Rider 1990, S.395. Rainer Hank sieht - wie beispielsweise auch Sokel (vgl. Sokel 1988, S.8) - in der Hinwendung Pauls »zur jüdischen Tradition, der er sich zugehörig weiß« (Hank 1984, S.155), die »egomane, alles auf sich selbst beziehende Problematik einer narzißtischen Disposition überwunden« (a.a.O.). Hank weist allerdings auf den »ambivalenten Eindruck« der »Lösung« (a.a.O., S.164) hin, während Sokel in der Hinwendung den 'konsequentesten Zielpunkt der Erzählung sieht' (Sokel 1988, S.8). Er meint, sie sei als »programmatische Überwindung des Narzißmus« (S.8) zu lesen. Ernst Bloch: Spuren. Frankfurt 1985. S.193. Hofmannsthal 1979, Bd.10, S.279.
Transformation of the Garden' stellt, glaubt hier ein Indiz für eine beginnende nicht-utopische Zeit zu finden.532 Diese Forschungsansicht steht nicht allein: auch Wunberg bemerkt, daß das Fin de sifecle sich mit »dem vergeblichen Warten auf den erwarteten Erlöser und literarischen Messias«533 abfindet; auch er sieht eine Abkehr der Wiener Moderne vom Utopiedenken des Naturalismus. Vieles spricht für diese Forschungsmeinung. Die Wiener Moderne interessiert sich nicht - oder nur am Rande - fiir soziale Probleme. Sie glaubt nicht an die Möglichkeit, mit Literatur eine Sozialutopie entwerfen zu können. Politik - im engeren Sinne - spielt in ihren Texten keine Rolle. Sie hat kein Interesse für die etats de choses des Naturalismus; ihre Gegenstände sind die schönen Dinge dieser Welt und die eigene Seele. Hofmannsthals paradigmatisch zu verstehendes Programm der 'Möbelpoesie', das dieses Verhältnis zur Utopie illustriert, wurde schon ausführlich besprochen. Wenn hier trotzdem von der Thematisierung utopischen Denkens in Räumen und Landschaften der Wiener Moderne gesprochen wird, so hat das seinen Grund in einem gegenüber den erwähnten Untersuchungen etwas erweiterten Utopie-Begriff. Die vorgeschlagene Verwendung des Begriffs Utopie orientiert sich dabei an Ernst Blochs 'Das Prinzip Hoffnung'. Utopisch sind demnach - ganz allgemein - »Träume vom besseren Leben«.534 Diese haben naturgemäß verschiedene Gestalten; nur die gängigste ist die der Sozialutopie. Blochs Bemerkung, bislang sei »nur bei den Sozialutopien selbstverständlich, daß sie - utopisch sind«535, charakterisiert recht gut jene eingeschränkte Utopie-Vorstellung, die hier nicht zugrunde gelegt werden soll. Auch »in den Situationen und Landschaften der Malerei und Poesie« findet sich »Utopisches«.536 Gerade in der Evokation von Räumen und Landschaften formuliert sich der »spezifische Vor-Schein, den Kunst zeigt«.537 Utopische Vorstellungen implizieren fast immer einen Ortswechsel oder eine Ortsveränderung. Eine solche bessere - utopisch zu verstehende Örtlichkeit ist traditionell durch räumliche Entwürfe, oft sogar explizit
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Vgl. Schorske 1966-1967, S. 1283f. Eine andere Ansicht vertritt Rüdiger Campe; auch er bezieht sich dabei auf Hofmannsthal: vgl. Campe 1981, S.217-241. Gotthart Wunberg: Utopie und fin de sifecle. Zur deutschen Literaturkritik vor der Jahrhundertwende. In: Gert Ueding (Hg.) Literatur ist Utopie. Frankfurt 1978. S.279. Bloch s 1982, S.9. A.a.O., S.13. A.a.O., S.14. Zur utopischen Konnotation von Landschaften vgl. außerdem: Brigitte Wormbs: News from Now here - Landschaften als konkrete Utopie. In: Zimmermann (Hg.) 1982, S.307-318 und Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion zur Überwindung der 'gedeuteten Welt'. Ein Interpretationsansatz für Rainer Maria Rilke. In: Jb.d. Freien Deutschen Hochstifts. Neue Folge 1990. S.253. Bloch 8 1982, S.14.
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durch eine Landschaft repräsentiert: der Garten Eden, Eldorado, Arkadien, das Schlaraffenland, die Insel Kythera, Utopia. Die Unzufriedenheit mit der Situation läßt das 'bessere Leben' oft nur implizit als momentane Glücksvorstellung antizipieren. Von einem konstruktiven Bewußtsein des Noch-Nicht kann deshalb kaum geredet, von eindeutigen utopischen Konnotationen nur gelegentlich gesprochen werden. Utopische Träume drücken sich in der Wiener Moderne eher implizit aus; sie stehen dem dominant erscheinenden, prinzipiell skeptischen Impetus, den diese eher auf den 'Augenblick' fixierte Literatur538 gegenüber zeitperspektivischem und sozialutopischem Denken hegt, entgegen. Solchen utopischen Spuren wird im folgenden nachgegangen. Anhand einiger Texte von Peter Altenberg soll zuerst ein für die Wiener Moderne typisch ambivalentes Verhältnis zur Utopie gezeigt werden. Traditionell utopisch zu verstehende Stichworte - wie 'Kythera' und 'Paradies' - bekommen in Altenbergs Prosa die Funktion, utopische Vorstellungen in ihrer Problematik vorzuführen. Einerseits desavouieren seine Texte in gewisser Weise die Leere utopischen Sprechens; andererseits aber findet man gerade bei Attenberg auch deutliche Spuren utopischen Denkens als Konnotationen seiner Raum- und Landschaftsdarstellungen, die anschließend herausgearbeitet werden sollen. Ein Beispiel dafür, daß die Verwendung utopisch konnotierter Landschaftsnamen dazu dienen kann, utopische Träume zu karikieren, ist Peter Altenbergs Prosaskizze 'Götzendämmerung', die vom Titel her an Nietzsches bekannte Philosophiekritik erinnert. Anita, die Protagonistin der Skizze, vergleicht der Erzähler mit der 'Venusinsel' Kythera: Schön war sie, schön wie Kytheria, die Meer-Entstiegene, die mit ihren weißen Fingern sanft den tropfenden Ozean aus ihrer blonden Haarflut ausdrückte.539
Im »Lächeln« der »Entgötterte[n]«54° zerfällt die Idee, nur »von Nektar und Ambrosia leben [zu] könne[n]«.541 Die nun verheiratete »Frau Anita T.« wird »eine Dame so und so, welche jeden Donnerstag Empfang hatte mit Souper, die Logen-Abende ausgenommen«.542 Die göttliche 'Kytherea' erweist sich als bloße 'Götzendämmerung'. Altenberg greift mit dieser Umbewertung des utopischen Kythera ein Motiv aus den 'Fleurs du Mal' von Charles Baudelaire auf:
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Vgl. Markus Fischer 1986. Altenberg 1977, S.243. A.a.O., S.245. A.a.O., S.244. A.a.O., S.245.
Quelle est cette tie triste et noire? - C'est Cytheire, Nous dit-on, un pays fameux dans les chansons, Eldorado banal de tous les vieux garijons. Regardez, apr£s tout, c'est une pauvre terre.S43
Schon bei Baudelaire verbindet sich mit dem modernen Kythera die Idee vergänglicher Schönheit und verlorener Unberührtheit. »Un gibet«544 schmückt nun die einst utopische Insel; diese wird zum Symbol für Tod und Vergänglichkeit. Zwar zeigen Altenbergs Texte eine tiefe - utopische - »Sehnsucht nach der unbeschädigten, entsühnten Natur mit ihrer harmonischen Zusammenfügung von Mensch, Tier und Pflanze«545, wie Jens Malte Fischer bemerkt, aber seine Vorstellung des Paradieses ist nicht naiv. In seinen auf den ersten Blick schlicht anmutenden Visionen scheinen immer wieder die Schrecken der Zivilisation durch. Altenbergs 'Ashantee'Texte von 1897 machen diese kritische Utopie-Vorstellung deutlich, besonders die Skizze 'Paradies': Paradies 'Was möchtest du am liebsten von der Welt, Tioko?!' 'Green bills cutted, Sir .' (Geschliffene grüne Glasperlen). 'Und?!' 'And lila bills cutted, Sir .' 'Und?!' 'And nothing, S i r - - . ' 5 4 6
Diese kleine Szene 'spielt' auf zwei Ebenen: auf der ersten Ebene zeichnet der Text die Begegnung des Protagonisten mit einer »femme enfant«547 aus einer »Völkerschau«548 im Schönbrunner Tiergarten. Die andere Ebene, auf die die Szene gleichermaßen referiert, ist das Modell einer Begegnung zwischen Kolonialmacht und 'unzivilisierten' Einheimischen, bei denen man sich für ein paar Glasperlen Liebe und devote Verehrung kaufen kann. Der Untertitel zum 'Ashantee'-Buch verrät die doppelte Referenz: die Texte beschreiben Begegnungen mit dem Leben der »Paradieses-Menschen« im »Wiener Thiergarten bei den Negern der Goldküste, Westafrika«.549 Der Name 'Wiener Tiergarten' steht für den Besuch der ethnologischen Präsentation und 'Goldküste,
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Baudelaire 1980, S.244, (CXVI, 'Un Voyage ä Cythfere'). A.a.O., S.246 u. 248. Jens Malte Fischer 1978, S.167. Altenberg 1977, S.73. Jens Malte Fischer 1978, S.165. Schäfer 1968, S.88. Altenberg 5 1910,S.295.
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Westafrika' für die Kolonialsituation. Der Beschreibung der inszenierten Welt einer Paradies-Oase mitten in der Großstadt - der Utopie problemlos-naiver Einfachheit - ist die groteske Herrschaftssituation, die dieses Paradies erst erlebbar macht, gegenübergestellt. Der Protagonist erscheine im Ashantee-Dorf, schreibt Hans Dieter Schäfer, »nicht als 'outsider', sondern als Aufgenommener«.550 Die Ashantee-Welt im heimatlichen Wien sei »das verlorene und wiedergefundene Paradies«.551 Zumindest wenn man die zweite Ebene mitdenkt, ist der Protagonist keineswegs ein »Aufgenommener«, wie Schäfer meint. Das fordernde Fragen, das durch die Kombination von Frage- und Ausrufezeichen in seiner Eindringlichkeit semiotisch verstärkt wird, die Anrede »Sir« hinter jeder Äußerung Tiokos und ihr durch Gedankenstriche gezeichnetes betretenes Schweigen sind als ernstzunehmende Hinweise auf ein kolonial geprägtes Herrschaftsverhältnis zu werten. Zudem nimmt Tioko in ihrem Sprechen deutlich die Satzmodelle des Fragenden auf; ihre Antworten beginnen - das 'Und' der Frage repetierend - immer mit 'and'. Auch im Sprachverhalten dominiert der Kolonialherr. Das vermeintliche 'Paradies' eröffnet sich ihm nur, weil er als Außenstehender die Struktur der Szene steuern kann. Die exotische Naivität der 'ParadiesesMenschen' ergibt sich erst aus der Begegnung mit dem zivilisierten 'outsider'. Die literarische Tradition einer solchen Szenerie ist lang: Robinsonaden, Reisebücher von exotischen Ländern und Berichte über Entdeckungsfahrten prägen die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Schon in Georg Forsters 'Reise um die Welt' können kleine wertlose Geschenke die Einwohner von Tahiti zu den verschiedensten Diensten motivieren, so daß der Berichterstatter daraus auf das »ungewöhnlich sanfte Wesen«552 der Bewohner schließen kann. Die lange Tradition dieses Schemas macht es unmöglich, Altenbergs Skizze als einfache Begegnung zwischen Zivilisation und naiver Ursprünglichkeit zu lesen. Ein Ort, in dem geschliffene bunte Glasperlen die Wünsche der Bewohner repräsentieren, ist um 1900 kein utopisches Paradies mehr. Die Bekanntheit des Schemas allein relativiert den utopischen Gehalt, den man der naiven Bescheidenheit unterlegen könnte. Diese Bescheidenheit der Bewohner gehört zur Fiktion der Kolonialshow mitten im hochzivilisierten Wien. Der Text desavouiert durch seine Dialoggestaltung koloniale Machtphantasien. Er thematisiert damit zwar ein zentrales utopisches Stichwort: das (exotisch-naive) Paradies; er führt aber keine Utopie vor. Utopische Konnotationen findet man aber in den Beschreibungen der Kulturlandschaft in der Nähe Wiens, die sich häufig in Altenberg-Texten
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Schäfer 1968, S.88. A.a.O. Georg Forster: Reise um die Welt. Hg.v. Gerhard Steiner. Frankfurt 1983. S.243.
finden. In diesen Fluchtlandschaften der Wiener society offenbaren sich plötzlich utopische Augenblicke. Gisela von Wysocki macht darauf aufmerksam, daß es in Altenbergs Prosa vor allem die Frauen sind, deren Leben durch so verstandene »kulturelle Zwischenbereich[e]«553 charakterisiert wird. Paradigmatisch seien die häufigen Beschreibungen von Seeufern. »Die Ränder des nicht überall befestigten Sees markieren die Ränder der Kultur.«554 Der feste Halt des Ufers - Symbol gesellschaftlicher Möglichkeiten und Grenzen - ist »die notwendige Basis für die wirkliche Entdeckung und Entfaltung« der eigenen »Natur«.555 Hier liegt semiotisch verschlüsselt im Landschaftsbild die utopische Perspektive. Wir, die nicht genug haben an den Taten des Alltags, wir Ungenügsamen der Seele, wir wollen unseren rastlosen, enttäuschten und irrenden Blick richten auf die Wellensymphonien des Sees, auf den Frieden überhängender Weidenbäume und die aus düsterem Grunde steil stehenden Wasserpflanzen!556
Der Anfang von Altenbergs Prosatext 'Sommerabend in Gmunden' beschreibt das - utopisch verstandene - Projekt der Selbsterfahrung in der Landschaft als einer Örtlichkeit jenseits alltäglicher Eingebundenheit und Entfremdung. Ohne auf Altenberg zu sprechen zu kommen, analysiert Georg Simmel in seinem bekannten Landschafts-Essay letztlich genau diese Intention ästhetischer Naturbetrachtung. Wir gehen in die Landschaft, um uns »jenseits des täglichen [...] Lebens«557 als »ganze Menschen«558 zu erfahren. 1897 fordert Oscar A.H. Schmitz in der Wiener Rundschau zwar keine neue Identitätsstiftung über die Landschaftswahrnehmung; er sieht aber - formuliert im Mode-Vokabular der Jung-Wiener - in der intensiven Landschaftswahrnehmung ein neues Nervenerlebnis: Wir suchen eigene Nervenreize, aus deren sinnlicher Ordnung wir, gleichsam aus Symbolen, ein tieferes, unbedingteres Leben ahnen.559
Altenbergs Protagonisten ahnen auch 'ein tieferes, unbedingteres Leben': sie suchen es in den Blicken der Menschen, in ihren »Gebärden und der
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Gisela von Wysocki 1986, S. 103. A.a.O., S.102. A.a.O., S.103. Diese Deutung der Landschaftswahmehmung als Blick auf die eigene Natur und ihre Möglichkeiten konstatiert Gisela von Wysocki für Frauen. Sie fuhrt als Beispiel die »See-Ufer«-Skizzen von Altenberg an; vgl. a.a.O., S.101-104. Altenberg 1977, S.386. Simmel 1984[b], S.133; vgl. auch S.131. A.a.O., S. 139. Oscar A.H. Schmitz 1897, S.258.
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Noblesse ihrer Ruhe«560 und vermissen es in der Hast der »Anderen«, die »enttäuschungsschwangeren Zwecken entgegen«561 stürmen. Aber erst abends auf dem See - inmitten einer Jugendstil-Landschaft par excellence mit Weiden, Schilf und alten Steinstufen - kommen sie selbst zur Ruhe: »Nebel zieht herüber, du lassest die Ruder sinken, und niemand, niemand stört dich.«562 Das utopische Projekt der Selbsterfahrung erstarrt zum oft gesehenen Jugendstilprospekt. Auch hier zeigt sich letztlich also das ambivalente Verhältnis der Altenberg-Texte zu den Fiktionen eines besseren Lebens.563 Als ein wichtiges Stichwort taucht im Umkreis des Jungen Wien immer wieder das Kunstprogramm 'Ver Sacrum' auf. Den utopischen Vorstellungen, die hinter diesem Jugendstil-Projekt564 stehen, soll im folgenden nachgegangen werden, um zu zeigen, daß auch in der Wiener Moderne eine allgemein akzeptierte utopische Idee präsent war. 'Ver Sacrum' ist zwar primär der Name des Organs der 'Vereinigung bildender Künstler Österreichs', der Wiener Secessionisten, er ist aber gleichzeitig ein zentrales Stichwort der Wiener Jugendstil-Künstler überhaupt, auch der Literaten. Allein dieser gattungsübergreifende Charakter dieser Kunst-Idee impliziert schon utopische Momente - wenn auch ganz anderer Art. Der Austausch und die gegenseitige Ergänzung der einzelnen Künste ist ausdrücklicher Bestandteil des 'Ver Sacrum'-Programms und der Praxis der 'Wiener Werkstätten', die dieser Idee verpflichtet sind. Die Zeitschrift 'Ver Sacrum', die bedeutende literarische Beiträge (Rilke, Hofmannsthal, Altenberg) mit Buchschmuck-Illustrationen wichtiger Jugendstil-Graphiker (Kolo Moser, Josef Hoffmann) veröffentlicht und Werke bekannter Jahrhundertwende-Künstler (Klimt, Khnopff, Segantini) enthält, kann als ein Versuch angesehen werden, die Idee gattungsübergreifender Kunst umzusetzen. Ludwig Hevesi hebt in seiner Rezension zur ersten
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Altenberg 1977, S.386. A.a.O. A.a.O. Altenbergs Prosaskizze 'Weshalb ich nicht aufs Land ziehen kann' (Altenberg 1977, S.397f.) thematisiert, wie wenig das Leben auf dem Land - die Erfahrung der (mit Joachim Ritter:) 'freien' Landschaft - eine utopische Alternative zur Stadt ist: »Ihr reist fort?! Wohin denn?! Von euch selbst weg vielleicht?! Wozu also?! [...] 'Raum ist in der kleinsten Hütte' Natur zu genießen.« (S.398). Ritters Verdikt, »die ästhetische Zuwendung zur Natur« setze »Freiheit« voraus, findet sich in seinem bekannten Landschafts-Essay (Joachim Ritter 1980, S.162). Vgl. hierzu auch die Abhandlung von Friedrich Sengle (Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. In: Studium Generale 16,101963, S.619-631. Auch Rüdiger Campe interpretiert die 'Jugendstil'-Literatur und ihre Verfahren als Formen 'ästhetischer Utopie', vgl. Campe 1981, S.217-241.
Nummer von 'Ver Sacrum', an der er durch einen längeren Beitrag über Rudolf Alt entscheidend beteiligt ist, diesen Aspekt hervor: Unser Publikum, das in dieser Art moderner Literatur noch wenig bewandert ist, kann mancherlei daraus lernen. Vor allem, wie eine künstlerisch illustrierte Textseite aussieht, wie sich Bild und Schrift zu einem bewegten, wenn auch streng in der Fläche lebenden Organismus aufbaut. 565
Auf die Raumpräsentation in der Literatur hat der Buchschmuck entscheidenden Einfluß. Schrift und Bild sind in den Beiträgen der Zeitschrift 'Ver Sacrum' zusammen zu analysieren. Ludwig Hevesi mutmaßt in der oben genannten Publikation, »der Titel 'Ver Sacrum'« gehe »wahrscheinlich auf Uhlands gleichnamiges Gedicht zurück, das den römischen 'Weihefrühling'« 566 schildere. Die von Hevesi erwähnte Ballade 'Ver sacrum' wurde im Gründungsjahr der Zeitschrift 1898 in der kritischen Ausgabe der Uhland-Gedichte von Erich Schmidt und Julius Hartmann wiederveröffentlicht. Sie enthält in der Tat Motive, die im Jugendstil - wenn auch modifiziert - wieder aufgenommen werden.567 In der von Hevesi zitierten letzten Strophe von Ludwig Uhlands 'Ver sacrum' heißt es: Ihr seid das Saatkorn einer neuen Welt. Das ist der Weihefrühling, den er [Gott] will. 568
Der Frühling wird - versteht man ihn mythologisch wie das Gedicht Uhlands - mit dem Beginn einer neuen Zeit zusammengebracht. Die Frühlingsfeste des alten Orients gelten dem Jahresgedächtnis des Weltbeginns. Mit der stärker scheinenden Sonne, mit dem Fruchtbarwerden der Felder setzt eine neue, Leben spendende und Kraft gebende Zeit ein; dafür wurde - oft mit geweihten Opfern - Gott gedankt.569 Auch in der Programmschrift des 'Ver Sacrum', dem anonym erschienenen Manifest 'Weshalb wir eine Zeitschrift herausgeben' - Nebehay sieht in Wilhelm Schölermann den Verfasser570 - steht, wie in Uhlands Gedichtzeile, der Begriff 'Frühling' für Aufbruch und Zukunft. Die
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Ludwig Hevesi: Ver Sacrum. In: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.533. A.a.O., S.532. Zu nennen wäre der Blütenkranz, der Altar, die Jugend oder die blühende Natur im Frühling. Vgl. Ludwig Uhland: Ver sacrum. In: Ludwig Uhland: Gedichte. Vollständige kritische Ausgabe auf Grund des handschriftlichen Nachlasses. Hg.v. Erich Schmidt und Julius Hartmann. Stuttgart 1898. Bd.l. S.297-301. A.a.O., S.301; vgl. auch: Hevesi, in: Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.532. Man denke etwa an das 'Passahfest'. Vgl. Christian M. Nebehay (Hg.): Ver Sacrum 1898-1903. Dortmund 1987. S.26.
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Herausgeber des 'Ver Sacrum' 'weihen' sich in diesem Manifest »mit unserer ganzen Kraft und Zukunft, mit allem was wir sind« dem »Heiligen Frühling«.511 'Ver Sacrum' meint jetzt das utopische Programm einer neuen Kunst. Der Name 'Ver Sacrum' taucht nicht nur in einer Reihe von Vignetten, Zeichnungen und Drucken dieser Zeit auf572, sondern auch in einigen literarischen Texten. Rilkes Prosaskizze von 1897 ist vielleicht der bekannteste.573 Das Motivgeflecht 'Frühling', 'Aufbruch', 'Jugend', 'Schönheit' und 'Weihe', das sich mit dem Begriff 'Ver Sacrum' verbindet, gehört zu den wichtigsten Elementen des Jugendstils, der Jahrhundertwende-Literatur überhaupt: Richard Schaukais 'Frühling', Stefan Georges 'Das Jahr der Seele' und die Frühlingsgedichte von Julius Hart, Christian Morgenstern, Otto Julius Bierbaum, Friedrich Perzynski und Richard Dehmel, sind einige Beispiele dieser Literatur. Ferdinand von Saar veröffentlicht 1898 im siebten Heft von 'Ver Sacrum' ein gleichnamiges Gedicht, dessen Jugendstil-Motivik durch den floralen Buchschmuck unterstützt wird. Der Titel des Gedichts und der Ort der Veröffentlichung verweisen auf den utopischen Charakter des Gedichts überhaupt und speziell der Raum- und Landschaftselemente, die es enthält. Der Anfang der Verse nimmt das oben erwähnte mythologische Motiv des Frühlingsfestes auf: Wieder draussen im weiten All Wird es Frühling. Mit dem blassen Gold Der Primeln schmückt sich die Flur; Der Weissdorn leuchtet, Es leuchtet die rosige Pfirsichblüte Und im ergrünenden Wald Singt die Drossel. 574
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Anonym [Ver sacrum]: Weshalb wir eine Zeitschrift herausgeben? In: Mathes (Hg.) 1984, S.78. Vgl. Rilke 1987, Bd. IV. S.485-496 ('Heiliger Frühling. Skizze' [1897]). Nebehay druckt mehrere Beispiele (zum Teil Titelblätter) von Johann Victor Krämer (Nebehay (Hg.) 1987, S.25), Kolomann Moser (S.18, 27), Alfred Roller (S.17) Gustav Klimt (S.36), Carl Müller (S.59) ab. Daneben existieren natürlich viele Werke der bildenden Kunst, die das Thema 'Frühling' und 'Frühlingsfest' abbilden ohne den Schriftzug 'Ver Sacrum' ins Bild zu integrieren. Nebehay druckt etwa die Zeichnung 'Frühlingstreiben' von Maximilian Lenz (S.19) und das Kalenderblatt 'Frühlingserwachen' von Friedrich König (S.182) ab. Ferdinand von Saar 1889, S.28 ('Ver Sacrum'; Wiederabdruck: Nebehay (Hg.) 1987, S.55). Vgl. zu Saars Gedicht auch die spätere Version 'Neue Kunst'. In: August
Die Jahreszeit Frühling läßt an die Erschaffung des Kosmos denken; sie symbolisiert einen 'weltbewegenden' Neuanfang. Nach einer kurzen Beschreibung der 'schmückenden' Naturphänomene des Frühlings (Gold, schmückende Primeln, leuchtende Blüten) kommt das Gedicht in seiner zweiten - längeren - Strophe zu seinem eigentlichen Skopus: der Entwicklung eines ästhetizistischen Kunstambientes. Die Beschreibung der Kunstlandschaft - gleichwohl eine blühende Frühlingslandschaft - hat als Raum des 'Ver Sacrum' vor der Folie des eben beschriebenen natürlichen Frühlings einen utopischen Charakter. Trotzdem ist der nun entworfene Raum geradezu emphatisch von der natürlichen Frühlingslandschaft unterschieden; er ist - im bildlichen Sinne - abgegrenzt: Aber in stillen, Geheimnisvoll umzirkten Zaubergärten Blüht die Kunst. Dort im ewigen Sonnenlicht, Schattenlos überwipfelt, Hauchen den schweren Duft, Leuchten in durchsichtiger Irispracht Weitkelchige Liliaceen und Tulipanen.575
Das 'ewige', 'schattenlose' Sonnenlicht, die bewußt befremdlich und exotisch gewählten Pflanzennamen - Lilienpflanzen und Tulpen sind gemeint - , sowie weitere im Laufe des Gedichts genannte typische Gartenelemente des Jugendstils wie blaue »Falter« und »weisse Pfauen«576 entwerfen eine künstlich-zeitlose Atmosphäre. Der utopische Kunstraum, den Saars Gedicht entwirft, wiederholt so gewissermaßen die Ansprüche des bekannten Leitspruchs der Secession, der über dem Eingang des weißen Secessions-Gebäudes an der Wien angebracht wurde: »Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit«.577 Kunst soll modern, zeitgemäß sein; sie soll sich aber - auch gegenüber ihrer Zeit einen Freiraum erhalten. Nur so kann sie 'modern', innovativ bleiben. Der zeitliche Aspekt, die 'Moderne', wird in Saars Gedicht durch den Frühling, die Freiheit der Kunst durch den 'Zaubergarten' repräsentiert.
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Renner (Hg.): Das lyrische Wien. Eine moderne Lese mit Dichtungen von Ferdinand v. Saar, Felix Dörmann et al. Wien 1899. S.lOf. Ferdinand v. Saar 1889, S.28. A.a.O. Die Inschrift stammt von Ludwig Hevesi. Vgl. Wunberg, Braakenburg (Hg.) 1981, S.500.
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In der dritten Strophe tauchen neben einem 'Menschenpaar' vor allem künstliche - für das Fin de sifccle typische578 - kostbare Materialien im Landschaftsbild auf: Traumhaft, In zarter, schimmernder Gliederhoheit, Die Häupter umkränzt mit Blumensternen, Wandelt ein Menschenpaar. Sanft aneinander geschmiegt, Wandelt es auf verschlungener Pfade Windungen Höher, immer höher hinan Bis zum achat'nen Säulenhalbrund, Das in den Azur des Himmels ragt. Rubine blitzen, Saphire und Opale An den gold'nen Capitälen Und an den goldnen Sockeln. 5 7 9
Gotthart Wunberg sieht in der katalogisierenden Häufung der fremden und erlesenen Gegenstände in Beschreibungen des Fin de sifccle einen Hinweis auf die - vom Textverfahren her - historistischen Wurzeln dieser Literatur.580 Die Schreibart Ferdinand von Saars in diesem Gedicht ist durch einen willkürlich wirkenden Einsatz von Kostbarkeits-Lexemen geprägt. Einen eindrücklichen Hinweis auf den relativen Status der einzelnen Lexeme, auf ihre prinzipielle Austauschbarkeit liefert ein Vergleich mit der zweiten Version dieses Gedichts, das unter dem Titel 'Neue Kunst' in August Renners Anthologie 'Das lyrische Wien' nur ein Jahr später - 1899 - erschienen ist; dort wird das 'achat'ne Säulenhalbrund' durch ein 'porphyrnes'581 ersetzt. Die Bezeichnung des Baustoffs hat keine spezifische semantische Relevanz; sie ist beliebig austauschbar. Während das 'Azur' des Himmels noch vermag, eine Farbnuance wiederzugeben, hat die Ausschmückung der Garten-Architektur offensichtlich nur noch kunstgewerblichen Charakter. Die Nähe dieser
578
Vgl. Ellert 1977, S.421-441. Ellert spricht in diesem Zusammenhang von einer »verkostbarten Natur« (S.431). Sie macht auf die »Tendenz zur Überladung der Natur mit kostbaren Schmuckgegenständen« im Fin de sifecle aufmerksam; darin liege ein »Wille zur Ästhetisierung und Stilisierung der kunstfernen Wirklichkeit« (S.432) und eine »Abwertung alles Naturhaften« (a.a.O.).
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Ferdinand v. Saar 1889, S.29.
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Vgl. Wunberg 1990, S.24. Zu Saars Geschichtsverständnis vgl. besonders sein Gedicht 'Erkenntnis'; deutlich wird dort die (kritische) Auseinandersetzung mit historistischen Positionen. »Erkenne vielmehr / Des Daseins tiefe Sinnlosigkeit, / Und erhabenen Gleichmuts schwebe / Lächelnd, / Über Vergangenheit, Mitwelt, Nachwelt.« (Ferdinand v. Saar: Erkenntnis. In: Renner (Hg.) 1899, S.10).
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Vgl. Ferdinand v. Saar 1899, S . l l ('Neue Kunst'): »Bis zum porphyrnen Säulenhalbrund, / Das in des Himmels Azur ragt.«
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Beschreibung zu Stefan Georges 'Algabal'-Zyklus oder Felix Dörmanns 'Interieur'-Gedichten ist unübersehbar.582 Ein solches Verfahren, das die Kostbarkeits-Lexeme als frei und gleichwertig verwendbares Baumaterial für literarische Räume verwendet, kann mit dem oben eingeführten Begriff durchaus als 'produktiver' Historismus bezeichnet werden. Das Menschenpaar, das in Saars Gedicht zu einer marmornen »Sphinx« aufsteigt, läßt an das biblische Paradies-Paar Adam und Eva denken, der 'geheimnisvoll umzirkte Zaubergarten' mit seinem 'ewigen Sonnenlicht' an einen ästhetizistisch gedachten Garten Eden; auch das sind utopische Hinweise. Auf die reine Unschuld des Menschenpaares weisen die im Gedicht erwähnten und im Buchschmuck hevorgehobenen Lilien. Das Ziel des 'Wandeins' ist das prächtig geschmückte Säulenhalbrund, wenn man so will: das Allerheiligste. Über eine Enträtselung der geheimnisvollen Schönheit, die die »ins Unendliche blickendfe]«583, den Raum beherrschende Sphinx repräsentiert, wird im Gedicht nichts gesagt; es wäre der 'Sündenfall', der jedenfalls einer Profanisierung, einer 'Entweihung' der Kunst gleich käme. Die Folge hieße: Vertreibung der Menschen aus dem Paradies rätselhafter Schönheit. Mit marmor'ner Brust, Doch den geschmeidigen Löwenleib In jeder Faser glutdurchzittert, Thront sie, Grossäugig ins Unendliche blickend, Über dem Räthselabgrund der Schönheit. 584
Die Häufung kostbarer Materialien hat auch eine inhaltliche Relevanz: der Raum, in dem sich die Menschen in Saars Text aufhalten, ist ein Kunstraum, der über alles verfügt; das Material dieses Raums wird nicht von den Menschen, die sich dort aufhalten beherrscht, sondern von der dem Menschen verschlossenen Kunst-Konzeption des Raums. Der Kunstraum ist ein heiliger Ort, der von einer über der Landschaft und dem Säulenhalbrund thronenden Sphinx bewacht wird; sie ist die Hüterin des quasi sakralen Kunst-Paradieses. Das bedeutet nun, daß die Kunst des 'Ver Sacrum' Schönheiten bewahrt, die im Frühling jenseits des Zaubergartens nicht erfahrbar sind; das Geheimnis dieser Schönheiten bleibt auch für den Menschen im
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Zu Dörmanns 'Interieur'-Gedichten vgl. den Abschnitt 'Interieurs und Exterieurs' (Kapitel 3.a)). Ein Zusammenhang von Wunschvorstellungen und kostbaren Materialien findet sich auch in Richard Schaukais Gedicht 'Wünsche' (in: Wiener Rundschau 1-1897, S.57f.). Das in Schaukais Gedicht entworfene Interieur erinnert an die Gedichte von Dörmann. Ferdinand v.Saar 1899, S.29. A.a.O.
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heiligen 'Zaubergarten' verschlossen. Die Rätselhaftigkeit des 'Ver Sacrum' ist ein konstituierendes Merkmal des utopisch verstandenen Kunstraums. Wenn man diese Interpretation nun noch einmal mit der Secessions-Inschrift Hevesis zusammenbringt, die schon oben als Interpretament herangezogen wurde, so heißt das: der Ästhetizismus des 'Ver Sacrum' ist keine Zeitkunst, obwohl sie 'modern' ist; sie bewahrt sich vielmehr ihre Schönheit, weil sie rätselhaft bleibt. Ihr Paradies ist ihr avantgardistischer Charakter, letztlich ihre Hermetik. Das 'Ver Sacrum'Gedicht bestätigt so - durch sein Verfahren und sein diskursiv reduzierbares 'Programm' - in wichtigen Punkten die Ableitbarkeit moderner Texthermetik aus historistischen Phänomenen, auf die Wunberg in seiner Untersuchung 'Historismus und Fin de sifccle' hingewiesen hat. Die Dekorationslust des Späthistorismus, die sich in der räumlichen Ausstattung des Gedichts spiegelt, findet ihr Pendant in der 'historistischen' Schreibart des Textes, die 'produktiv' genutzt wird, um eine bewußt 'hermetisch' sprechende Kunst zu produzieren. Die Sekundärliteratur zweifelt - und das, wenn man seine realistischen Erzählungen liest, mit gewissem Recht - am Moderne-Bewußtsein Ferdinand von Saars585; sein 'Ver Sacrum'-Gedicht zeigt, wie explizit der 65jährige Altmeister der österreichischen Literatur an der ModerneDiskussion teilnimmt. Neben der Kunst-Idee, die sich mit dem Stichwort 'Ver Sacrum' verbindet, finden sich im (eher weiten) Umfeld der Wiener Moderne noch drei bedeutende utopische Entwürfe, die hier zumindest erwähnt werden sollen: die Idee eines Judenstaates, die sich mit dem Namen des Zionisten Theodor Herzl verbindet, der österreichische Pazifismus, für den der 1889 erschienene Roman 'Die Waffen nieder!' der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner steht, und der Gedanke der modernen Rekonstitution eines alt-österreichischen Ständestaates, den Leopold Andrian in seinen späteren Schriften verfolgt. Wie alle Utopien sind auch diese drei Projekte nur räumlich denkbar. Herzls literarische Werke, besonders sein Roman 'Altneuland' und sein Drama 'Das neue Ghetto', leben geradezu vom Bekenntnis zu einer bestimmten utopisch gestalteten Räumlichkeit.586 Das gleiche gilt - wenn auch mit einem politisch reaktionären Impetus - für Andrians Österreich-Ideen. Bertha von Suttners 'Die Waffen nieder!' schließlich wird von dem Grenzen überschreitenden Gedanken des Pazifismus getragen. Wenn diese Utopien auch eher am Rande des 'Archivs' der Wiener Moderne zu lokalisieren wären - Bertha von Suttner, Herzl und Andrian denken eher an politische und gesellschaftliche als an literarische Pro-
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Vgl. etwa Jacobi 1982, S.383-404. Zu Herzls 'Das neue Ghetto' vgl. Le Rider 1990, S.285-317.
bleme, auch ihre Schreibweisen unterscheiden sich - , so zeigt sich doch, daß dieser Zeit utopisches Denken keineswegs fremd war. Auch im Wien der Jahrhundertwende hatten Utopien ihren Platz. Zusammenfassung Alle drei Vorstellungen vom besseren oder glücklichen Leben - Heimat, Fluchtraum, Utopie - strukturieren die Raumerfassung der Protagonisten stärker als ihre - fiktional vermittelten - Realitätswahrnehmungen. Allein diese Tatsache verdeutlicht den Zusammenhang von substantieller Ich-Krise und den konnotativen Strukturen Heimat, Fluchtraum und Utopie. Ein wichtiger Hinweis darauf ist der Verlust an Sicherheit bietenden Zeichensystemen in den als 'real' apostrophierten Raumwahrnehmungen, der zum Teil in den Texten selbst thematisiert wird. In den Raumwahrnehmungen moderner Texte äußern sich Krisenerscheinungen häufig als Heimatverlust, als Evokation kolportierter Fluchträume und schließlich in einem höchst ambivalenten Verhältnis zur Utopie. Die 'Entrealisierung' durch eine psychogene Strukturierung von Räumen, die im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde, findet hier ihre Entsprechung. Fiktional werden so zwei Raumebenen evoziert: ein 'realer' Raum, der häufig durch auktoriale Äußerungen, aber auch durch Aussagen der Protagonisten erfaßt wird, und ein 'entrealisierter' Raum, der die Hoffnungen, Antizipationen, Wahnvorstellungen, Fluchtmomente und Wünsche der Protagonisten repräsentiert. Auch im Bereich der Utopien, Fluchträume und Heimatvorstellungen erbrachte ein Rekurs auf historistische Phänomene Analysevorteile. Die Herkunft und die literarische Präsentation des Heimatverlustes, der Utopievorstellungen (besonders in Ferdinand von Saars 'Ver Sacrum'-Gedieht) und der Fluchträume (besonders in Beer-Hofmanns 'Tod Georgs') sind wenigstens zum Teil aus dem historistischen Denken erklärbar. Reste dieses Diskurses haben sich offensichtlich in den entsprechenden textuellen Raumdarstellungen niedergeschlagen. Auffällig ist, daß die hier besprochenen Konnotationen oft sehr 'diskret' zur Sprache gebracht werden. Man könnte fast von einer Tendenz zur verhaltenen, indirekten Thematisierung von Wünschen, Utopien, Hoffnungen und Heimatvorstellungen sprechen. Dieser 'diskrete', indirekte Umgang mit Raumkonnotationen paßt zum spielerischen Umgang des Ästhetizismus mit Sprache. Der Wiener Moderne ist die leichte Anspielung, die versteckt angedeutete Hoffnung offensichtlich näher als die offensiv vorgetragene Forderung oder Sozialkritik. Psychogene Strukturierungen der Raumevokationen sind dagegen deutlicher bemerkbar als die zuletzt untersuchten.
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III. Resümee
Was uns bleibt: der Ausdruck und die Erprobung von ein paar Gedanken. Maeterlinck1
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war, vor allem jene Raum- und Landschaftsrealisierungen der Wiener Moderne näher zu untersuchen, in denen sich die in den Diskursen ihrer Zeit formulierten Krisenerfahrungen der Moderne (Stichworte: 'Historismus', 'Relativismus', 'Ich'-Krise) wiederfinden. Die spezifisch modernen Wahrnehmungssituationen versucht die Wiener Literatur des Fin de si£cle mit neuen Textverfahren ('Innerer Monolog', semiotische Verfahren, 'Description en mouvement' etc.) zu realisieren. Das Problem der 'adäquaten' Vermittlung der durch die verschiedensten Phänomene der Moderne bestimmten Raumwahrnehmungen lösen die Texte durch zwei grundsätzlich unterschiedliche Techniken: moderne Wahrnehmungsbedingungen und neue landschaftliche Gegenstände (Stadtlandschaft, 'Landschaften der Seele' etc.) werden entweder durch längere Passagen beschrieben oder durch kurze semiotische oder assoziative Hinweise evoziert. Die realisierten Landschaften sind selbst als 'Sekundärtexte' lesbar und hinsichtlich ihrer textuellen und ikonographischen Bezüge analysierbar. Im Zentrum der intertextuellen und ikonographischen Analyse standen die Kulturparadigmen ('Renaissance' etc.), die - vermittelt und reformuliert durch die Diskurse ihrer Zeit - moderne Phänomene in den Räumen und Landschaften der Wiener Moderne exponieren können. Die Wiener Literatur der Jahrhundertwende bevorzugt solche Referenzen vor allem, um Aspekte der avantgardistisch verstandenen Moderne (Ästhetizismusproblem, Lebensferne etc.) zu konturieren; die Bezüge haben 'Belegfunktion' oder dienen der Abgrenzung. Der Zugriff auf die Kulturparadigmen ist ein 'historistischer': kulturhistorisch fremde, durch die Sozialisation aber vertraute Bildkonzepte, ikonographische Elemente, Motive, Topoi und Namen werden vorbehaltlos in die Raum- und Landschaftsrealisierungen integriert und den modernen Diskursen akkulturiert. Solche Rückgriffe auf historische Zeichensysteme, die die fremd gewordene moderne Raum- und Bilderfahrung zur vertrauten umgestalten, habe ich mit dem Ausdruck
1
Maurice Maeterlinck: Prosa und kritische Schriften 1886-1896. Übers, u. hg. v. Stefan Gross. Bad Wörishofen 1983. S.28. ('Das blaue Heft')·
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'produktiver' Historismus begrifflich zu fassen gesucht. Das Verfahren des 'produktiven' Historismus wird von einigen Texten der Wiener Moderne reflektiert. Es steht im Kontext moderner Bewältigungsversuche von Krisenphänomenen (Identitäts-, Sprachkrise etc.) über historische Fremdbilder seit Ende des 19. Jahrhunderts. Der Relativismus als Folge historistischer Konstellationen, der eine allgemeingültige transzendente Zeichenbelegung der Landschaft 'suspendiert', ermöglicht die freie Lesbarkeit von Landschaften als 'Sekundärtexte': diese erweisen sich als weitere fiktionale Ebene der Texte (psychogene Landschaften, Imaginationen eines anderen Lebens). Eine ästhetisch konstituierte Landschaft bietet seit dem Verlust jeder 'objektiven' Sinnbelegung zwar verstärkt Raum für beliebige Lesarten ihrer Zeichenstruktur, sie erhält gleichzeitig aber in der Moderne (besonders im Wiener Fin de sifccle) mehr und mehr die Aufgabe 'bloße' Dekoration zu sein; sie soll vage 'Stimmungen' ('Interieurs') realisieren, die nicht auf ein narratives Geschehen beziehbar sind. Beide Tendenzen verstärkte fiktionale Nutzung der 'Sekundärtexte' und die zunehmende Gestaltung der literarischen Räume und Landschaften als dekorative 'Bilder' - sind in der Wiener Moderne nebeneinander beobachtbar.
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ABBILDUNGEN
1. Das Südbahnhotel am Semmering (Foto v. Verf. 1991).
2. Antoine Watteau: 'Einschiffung nach Kythera', 1717, Musee du Louvre, Paris.
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3. Bemado Bellotto gen. Canaletto: 'Wien, von Belvedere aus gesehen', um 1760, Kunsthistorisches Museum, Wien.
4. Bernado Bellotto gen. Canaletto: 'Wien, von Belvedere aus gesehen', um 1760 (Ausschnitt), Kunsthistorisches Museum, Wien.
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5. Ferdinand Georg Waldmüller: 'Große Praterlandschaft', 1849, Österreichische Galerie Wien.
6. Emil Jacob Schindler: Aus dem Prater, 1879, Historisches Museum der Stadt Wien.
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7. Tina Blau: 'Frühling im Prater', 1882, Österreichische Galerie, Wien
8. Max Kurzweil: 'Dame in gelbem Kleid', 1899, Historisches Museum der Stadt Wien. 294
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