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German Pages [402] Year 2017
Montafoner Gipfeltreffen Band 2 Herausgegeben von Michael Kasper, Martin Korenjak, Robert Rollinger und Andreas Rudigier
Michael Kasper, Martin Korenjak, Robert Rollinger, Andreas Rudigier (Hg.)
Entdeckungen der Landschaft Raum und Kultur in Geschichte und Gegenwart
2017 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch: Amt der Vorarlberger Landesregierung Stand Montafon Ludwig Boltzmann Institut für neulateinische Studien vorarlberg museum Montafoner Museen Montafon Tourismus Gemeinde Gaschurn Universität Innsbruck
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Abbildung auf dem Umschlag: Bielerhöhe (Silvretta). © vorarlberg museum
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20567-8
Vorwort Die Entdeckung der Landschaft gilt gemeinhin als Errungenschaft der westlichen Moderne. Tatsächlich wird das Konzept der Landschaft in Europa seit dem 18. Jahrhundert in großem Stil Gegenstand theoretischer Reflexion und entfaltet eine ungeahnte Breitenwirkung. Das Phänomen als solches – die Aufmerksamkeit für das Land und seine im weitesten Sinne ästhetischen Qualitäten – ist aber viel älter und beschränkt sich nicht auf Europa. Von den Landmarken megalithischer Monumentalarchitektur bis zu den Hängenden Gärten der Semiramis, von der Malerei der chinesischen Tang-Dynastie bis zu den Künstlern der Donauschule, vom locus amoenus der antiken Dichtung bis zur Reiseliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit lassen Menschen einen wachen Sinn für und einen bewussten Umgang mit Landschaft erkennen. Damit ist auch schon angedeutet, dass man sich mit Landschaft in den verschiedensten Medien und mit den unterschiedlichsten Zielen auseinandersetzen kann: Landschaft wird in Malerei, Fotografie, Literatur, Musik und Film zum Gegenstand künstlerischer Gestaltung. Architektur, Landschaftsarchitektur und Gartenkunst greifen in sie ein und bringen Ensembles aus natürlichen und künstlichen Elementen hervor. Viele Menschen genießen es, sich in ihrer Freizeit in schöner Landschaft aufzuhalten und zu bewegen. Landschaft wird wirtschaftlich genutzt, ideologisch überhöht und politisch instrumentalisiert. Und last but not least haben sich Generationen von Denkern den Kopf darüber zerbrochen, was man unter dem rätselhaften Konzept „Landschaft“ genau zu verstehen hat – eine physische Gegebenheit, ein mentales Konstrukt oder eine Art Mischung aus beidem? Im Anschluss an die zu Beginn genannte Vorstellung führen einschlägige Kongresse und Publikationen gerne die Entdeckung der Landschaft im Titel. Dagegen sollte das zweite Montafoner Gipfeltreffen, das vom 15. bis 19. Juni 2015 in Partenen (Gemeinde Gaschurn) stattfand, gerade ins Bewusstsein rufen, dass Landschaft seit ältester Zeit an den verschiedensten Orten und unter mannigfachen Vorzeichen immer wieder neu entdeckt worden ist. Um diese Vielfalt abzubilden, war die Tagung, wie schon das erste Gipfeltreffen, dessen Thema – der Mensch und die Berge – sie aufnahm und erweiterte, nach drei ineinandergreifenden Prinzipien organisiert: Interdisziplinarität – Geschichte, Archäologie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Architektur, Denkmalpflege, Museumspädagogik und eine Reihe weiterer Disziplinen kamen gleichberechtigt zu Wort; zeitliche Universalität – der chronologische Rahmen spannte sich von den frühen Hochkulturen bis zur Gegenwart; und Zusammenspiel von Global und Regional – Entwicklungen auf der ganzen Welt und solche im Mikrokosmos Montafon sollten sich gegenseitig erhellen.
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Vorwort
Den vorliegenden Band, der die Ergebnisse der Tagung in Schrift und Bild festhält, eröffnen zwei ganz unterschiedliche Beiträge zur grundlegenden Frage, was Landschaft eigentlich ist und wie man sich ihr nähern kann. Bernhard Tschofen führt anhand von Beispielen aus dem Montafon und der Silvretta kenntnisreich durch das Labyrinth der modernen Landschaftstheorien und plädiert für ein Landschaftsverständnis, das sich nicht auf die optische Wahrnehmung beschränkt, sondern alle Sinne und den ganzen Körper des Menschen miteinbezieht. Bert Fragner kontrastiert westliche Vorstellungen mit der Landschaftserfahrung des Handelsreisenden im iranischen Hochland und entlang der Seidenstraße: In ihrer pragmatischen Kargheit zunächst bestenfalls wie eine Schwundstufe unseres Landschaftskonzepts erscheinend, wird sie in Bewegungen wie dem Sufismus zum Ausgangspunkt einer religiös-mystischen Metaphorik, die menschliche Grundbefindlichkeiten zum Ausdruck bringt. Nach diesem sozusagen überzeitlichen Einstieg ins Thema sind die restlichen Beiträge chronologisch angeordnet. Sie führen von den ältesten Hochkulturen über Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit bis zur Moderne und schließlich bis in die unmittelbare Gegenwart. Orell Witthuhn zeigt in seinem Beitrag zum Alten Ägypten anhand zahlreicher schriftlicher und bildlicher Zeugnisse, wie sich die Landschaftsdarstellung dort von den knappen Abbreviaturen des ausgehenden 4. Jahrtausends bis zum Neuen Reich vielfältig entfaltet. Im Neuassyrischen Reich werden die gleichzeitig fremdartig-furchteinflößenden und wirtschaftlich wie politisch bedeutsamen Randgebirge der mesopotamischen Tiefebene intensiv erkundet, ideologisch vereinnahmt und sogar in ‚botanischen Gärten‘ nachgebaut, wie Silvia Balatti demonstriert. Martin Lang legt dar, dass der Landschaft im Alten Testament gerade deshalb eine wichtige Rolle zukommt, weil die traumatische Erfahrung des Landverlustes dort leitmotivartig immer wiederkehrt – nicht umsonst steht an seinem Beginn die Vertreibung aus dem Paradies. Der Aufsatz von Simon Zuenelli, der erste der Beiträge zur griechisch-römischen Antike, zeigt auf, wie griechische Autoren seit Homer Landschaft im modernen Sinn des Wortes zur Darstellung bringen: Sie lassen den Leser eine Örtlichkeit perspektivisch durch die Augen der handelnden Personen sehen. Mit der literarischen Imagination von Landschaften befasst sich auch Kai Ruffing, wenn er darlegt, wie Herodot und andere sich die nie gesehenen Gegenden am Rande der bewohnten Welt vorstellen. Einen besonderen Aspekt der antiken Landschaftsbetrachtung arbeitet Oliver Stoll heraus. Er beschäftigt sich mit den aus der griechisch-römischen Welt erhaltenen Militärfachschriftstellern, für die ,Landschaft‘ keine ästhetische, sondern eine praktische, den Belangen der Kriegsführung dienende Dimension hatte. Dass antike Architekten bei der Planung diverser Bau-
Vorwort
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ten von griechischen Tempeln bis römischen Villen oft auf deren landschaftliches Umfeld Bezug nehmen, weist Torsten Mattern nach. Mit Sabine Müllers Aufsatz zum Alexanderroman kehren wir nochmals zur antiken Literatur zurück. In der mit phantastischen Elementen durchsetzten Fiktionalisierung des Alexanderzuges spiegelt Landschaft zum einen die Entwicklung des Helden wider und evoziert zum anderen das Bildungswissen der Leserschaft. Thomas Steppan führt uns weiter ins Mittelalter, dem der Bezug zur Landschaft oft pauschal abgesprochen wird. Sein Überblick über die früh- und mittelbyzantische Landschaftsmalerei, die sich ausgehend von antiken Traditionen in der Makedonischen Renaissance zu hoher Blüte entwickelt und Bilder von großer technischer Perfektion und atmosphärischer Dichte hervorbringt, widerlegt dieses Vorurteil schlagend. Was Mittel- und Westeuropa betrifft, so legt Lukas Madersbacher dar, dass bereits das ausgehende Mittelalter den als neuzeitliche Erfindung geltenden Bildtypus der Weltlandschaft kannte. An der Wende zur Frühen Neuzeit stehen wir mit dem Beitrag von Ulrich Eigler, der sich einem besonderen Aspekt des in den betreffenden Jahrhunderten vielfältig thematisierten Verhältnisses zwischen Landschaft und geistiger Arbeit widmet: Er untersucht, wie Francesco Petrarca und andere Humanisten sich die Landschaft sozusagen durchs Fenster in ihr Arbeitszimmer hereinholen. Johanna Luggin analysiert am Beispiel britischer Landesbeschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts, wie man damals beginnt, Landschaft als Ausdruck nationaler Identität aufzufassen und darzustellen. Dass der erste terminologisch fixierte Begriff, den man als ein Äquivalent unseres Wortes „Landschaft“ in seinem ästhetischen Sinn ansehen kann, nämlich das Wort prospectus, nicht der volkssprachlichen, sondern der lateinischen Literatur der Epoche entstammt, belegt William Barton. Andreas Rudigier eröffnet mit seinem Überblick über die Montafoner Landschaftsmalerei im 19. und 20. Jahrhundert den der Moderne gewidmeten Abschnitt des Bandes. Anschließend illustriert Susanne Gurschler am Beispiel der Innsbrucker Schlacht am Bergisel eine besonders spektakuläre Weise, Landschaft in Szene zu setzen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreut, nämlich das monumentale Rundgemälde. Die Gebirgskulisse der Schlacht am Bergisel bedient, wie sie erklärt, gleichermaßen den Tiroler Patriotismus und die Bedürfnisse des aufstrebenden Fremdenverkehrs. Ähnliches lässt sich auch von den im Beitrag von Wido Sieberer diskutierten Landschaftsgemälden des Kitzbühelers Alfons Walde sagen, die das Bild vor allem des winterlichen Tirol bis heute mitprägen. Doris Hallama konzentriert sich dann ganz auf die Landschaft der alpinen Tourismuswerbung. Anhand von reichem Anschauungsmaterial aus dem Montafon behandelt sie unter anderem die Frage, inwiefern das touristische Bild der Berglandschaft österreichweit einheitlich ist und inwiefern es für regionale Besonderheiten Raum lässt.
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Vorwort
Die letzten drei Beiträge, die sich mit der Landschaft in der Gegenwart befassen, widmen sich aktuellen Fragen der Landschaftsdokumentation, -erhaltung und -vermittlung. Monika Gärtner gibt aus der Perspektive der Praktikerin Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten, Landschaft ins Museum hereinzuholen und umgekehrt mit diesem in die Landschaft hinauszugehen. Anita Drexel stellt das Projekt Inventar Natursteinmauern Vorarlberg vor, das versucht, ein wenig beachtetes und akut von Zerstörung bedrohtes Element bäuerlicher Kulturlandschaft ins Bewusstsein zu rufen und sachkundig zu erhalten. Marion Ebster führt in ihrem Schlussbeitrag nochmals ins Montafon zurück: Sie stellt die für das Tal typische Siedlungsform des Maisäß vor und diskutiert die zahlreichen Fragen, die der Umgang mit der über Jahrhunderte gewachsenen Maisäßlandschaft aufwirft. Zu guter Letzt bleibt uns die schöne Pflicht des Dankens. An erster Stelle seien diesbezüglich die Referentinnen und Referenten genannt, deren Vorträge uns gezeigt haben, dass unser Thema noch vielfältiger ist als anfangs gedacht, und die bei der Abfassung der schriftlichen Beiträge stets verständnisvoll auf unsere Anliegen eingegangen sind. Für die finanzielle Unterstützung, ohne die das zweite Montafoner Gipfeltreffen nicht hätte zustande kommen können, danken wir dem vorarlberg museum, dem Land Vorarlberg, dem Stand Montafon und der Gemeinde Gaschurn. Sandra Kraft hat sich im Namen der Montafoner Museen der Organisation vor Ort angenommen. Landesrätin Dr. Bernadette Mennel, Standesrepräsentant Bgm. Herbert Bitschnau und Bgm. Martin Netzer waren so freundlich, die Tagung im Namen des Landes Vorarlberg, des Standes Montafon und der Gemeinde Gaschurn zu eröffnen. Lois Hechenblaikner hat in seinem eindrucksvoll bebilderten Eröffnungsvortrag demonstriert, was für ein wertvolles Gut Landschaft insbesondere in einer Tourismusregion darstellt und welchen Preis man zu zahlen hat, wenn man das vergisst. Souverän moderiert hat die Eröffnung wie schon im Falle des ersten Gipfeltreffens Manfred Welte. Dem Verein bewusstmontafon sei herzlich für die zu diesem Anlass aufgetischten Köstlichkeiten gedankt, ebenso dem Montafon Tourismus und seinem Geschäftsführer Manuel Bitschnau für die großzügige Einladung in den Gasthof Adler (St. Gallenkirch) an einem der folgenden Abende. An einem weiteren Abend hat Hermann Kuprian uns mit Karl Hartls und Luis Trenkers Berge in Flammen (1931) ein eindrucksvolles Beispiel für die filmische Inszenierung von Landschaft nahegebracht. Bei Dolores Dollnig und Julian Degen bedanken wir uns für ihre Hilfe bei der formalen Gestaltung der Manuskripte. Die Zusammenarbeit mit dem Böhlau Verlag, insbesondere mit Johannes van Ooyen, war auch diesmal wieder ein Vergnügen. Bregenz, Innsbruck und Schruns im Frühjahr 2017 Michael Kasper, Martin Korenjak, Robert Rollinger, Andreas Rudigier
Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einstieg Bernhard Tschofen Was ist Landschaft? Plädoyer für Konzepte jenseits der Anschauung.. . . . . 13 Bert G. Fragner Iran. Landschaften vor dem Auge – Landschaften in der Seele . . . . . . . . . 33 Orell Witthuhn Landschaft im Weltbild der alten Ägypter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Silvia Balatti Berglandschaft bei den Assyrern (9.–7. Jh. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . 61 Martin Lang Die Vorstellungen von Landschaft im Alten Testament. . . . . . . . . . . . . 81 Klassische Antike Simon Zuenelli Landschaft betrachten. Beispiele aus der griechischen Literatur.. . . . . . . . 95 Kai Ruffing Landschaft und die Grenzen der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Oliver Stoll „Mehr nutzt der Ort als Tapferkeit“ (Veg.mil. III 26,11). Vorstellungen von Landschaft bei den antiken Militärfachschriftstellern. . . 119 Torsten Mattern Antike Architektur und Landschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
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Inhalt
Sabine Müller Landschaft in den antiken Quellen zu Alexander. Der griechische Alexanderroman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Mittelalter Thomas Steppan Landschaftsdarstellungen der byzantinischen Malerei. Von den Anfängen bis zur Makedonischen Renaissance . . . . . . . . . . . 173 Lukas Madersbacher Erfindung der Landschaft? Zur mittelalterlichen Vorgeschichte der frühneuzeitlichen Weltlandschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Ulrich Eigler Natur auf Distanz. Die Landschaft im Arbeitszimmer . . . . . . . . . . . . 213 Johanna Luggin Britannia illustrata. Die Konzeptualisierung eines vereinten Großbritannien in Landesbeschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 235 William M. Barton Der Landschaftsbegriff in der neulateinischen Literatur . . . . . . . . . . . 251 Moderne Andreas Rudigier Das Montafon in der Landschaftsmalerei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Susanne Gurschler Die Landschaft im Rundumblick. Zu den Panoramen des 19. Jahrhunderts und der Landschaftsdarstellung im Innsbrucker Riesenrundgemälde Schlacht am Bergisel von Michael Zeno Diemer . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Wido Sieberer Landschaft bei Alfons Walde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Inhalt
Doris Hallama Von koketten Städtchen und Staumauern. Die Landschaft des Montafon in der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gegenwart Monika Gärtner „Drinnen und draußen“. Museum, Landschaft und Pädagogik . . . . . . . .
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Anita Drexel Kulturlandschaft als Archiv der Nutzungsgeschichte und Idee Das Inventar Natursteinmauern Vorarlberg.. . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Marion Ebster Maisäßlandschaften Montafon. Entdeckungsreise durch eine Kulturlandschaft und ihre Handlungsräume aus der Perspektive der Regionalentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
Bernhard Tschofen
Was ist Landschaft? Plädoyer für Konzepte jenseits der Anschauung
„[I]in einer urnenartigen Mulde zwischen den Bergen“: Über Landschaften reden in Partenen In seinem Roman La Müdada (dt. Die Wende) lässt der rätoromanische Schriftsteller Cla Biert (1920–1981) den jungen und weltläufigen Bauernsohn Tumasch Tach aus seinem Engadiner Dorf nach Partenen aufbrechen, um dort Karin, seine dänische Ferienbekanntschaft, für eine Skitour über die Silvretta abzuholen. In Erwartung der mit Bahn und Postbus anreisenden Geliebten geht Tumasch durch das „Dörfchen mit Bauernhäusern, Pensionen und einem Hotel, das in einer urnenartigen Mulde zwischen den Bergen zuhinterst im Montafon liegt.“1 Doch Tumasch – der vor einer großen Entscheidung steht – kommt ins Sinnieren: Er steckt alles in die Tasche, geht hinaus und die Straße hinauf zum Coiffeur, um sich rasieren zu lassen. […] Nachher geht er noch ein paar Schritte zum Dorf hinaus. Nach einer Weile bleibt er stehen: vier Möglichkeiten also. Schön. Er geht etwas weiter und bleibt wieder stehen: Karin wäre die Frau für mich. Doch ich weiß nicht, ob sie mit mir nach Paris kommen würde, um dort zu leben, Karin als Frau eines Hoteliers? Als Frau eines Bergbauern? Tumasch schaut die steilen, felsigen Hänge hoch: In diesem Loch wird man erdrückt.2
„In diesem Loch wird man erdrückt“ – kann man sich einen passenderen Einstieg in einen Beitrag wünschen, der in diesem Partenen als Vortrag gehalten worden ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, Landschaft jenseits ihrer Anschauung als Thema der Kulturwissenschaft zu befragen? Nicht weil mit solchen Bildern bestimmte Vorstellungen bestätigt werden sollen, steht dieses Zitat am Beginn, sondern weil die „urnenartige Mulde“ und das „Loch“ als Hinweise darauf fungieren mögen, dass Landschaften mit uns etwas anstellen und dass es 1 2
Biert 1984, 364; vgl. Tschofen 2015, 212–225. Biert 1984, 373.
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Bernhard Tschofen
vielleicht auch einen Unterschied macht, wo über Landschaften gesprochen und nachgedacht wird. Das zweite Montafoner Gipfeltreffen hat sich „Die Entdeckungen der Landschaft“ zum Thema gemacht und dafür einen Ort gewählt, von dem nicht nur kaum Gipfel zu sehen sind, sondern an dem auch im übertragenen Sinne ein ganz spezifischer Blick auf den Gegenstand eingenommen werden kann. Ich möchte die Wahl des Tagungsorts und das Zusammenfallen des Tagungstermins mit dem Sommer der 150. Wiederkehr der Erstbesteigung des Piz Buin3 zum Anlass nehmen, im Folgenden eine doppelte Intention zu verfolgen. Zum einen möchte die Abhandlung einen Beitrag zur Diskussion des kulturwissenschaftlichen Landschaftskonzepts leisten, und zum anderen soll dies exemplarisch an Texten aus 150 Jahren Beschäftigung mit dem am 14. Juli 1865 erstmals bestiegenen höchsten Berg Vorarlbergs geschehen.4 Die dabei verfolgte These ist, dass sich gerade auch an der funktionalen und populären Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aktuelle Positionen einer Theorie der Landschaft nachvollziehen lassen und diese Ansätze uns daher auch helfen, ältere Zeugnisse in den Kontext einer Anthropologie der Mensch-Umweltbeziehungen zu rücken. Der Titel und das Programm der in diesem Band dokumentierten Tagung „Entdeckungen der Landschaft“ bedienen sich mit Bedacht des Plurals – jedenfalls sofern von Entdeckungen die Rede ist. Damit wird deutlich, und dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Begegnung historischer und gegenwarts orientierter Perspektiven, dass die Entdeckung der Landschaft weder ein Privileg der europäischen Moderne noch eine einmal vollzogene Universalie homogenen Bedeutungsgehalts ist. Im Gegenteil, so ließe sich ungeachtet der Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses und seiner medialen Vermittlung für Wahrnehmung und Empfindung vorab formulieren, kann ein Einlassen auf mehr oder weniger triviale Quellen gerade die Hervorbringung von Landschaft in der jeweiligen Praxis und in ihrer Tradierung in Schrift und Bild sichtbar machen. Anders gesagt, als sich um 1865 Exponenten der bürgerlichen Elite aufmachten, um die heimischen Berge zu erkunden, trugen sie in ihrem geistigen Gepäck durchaus das Vorbild des internationalen Alpinismus und wohl auch ein ganzes Bündel romantisch imprägnierter Ideen mit sich, aber sie betraten dabei dennoch mitunter befremdliches Neuland – und zwar sowohl in naturräumlicher als vor allem auch in kultureller Hinsicht, wie die kleine Episode aus dem Bericht über die erste Vorarlberger Besteigung des Berges im Jahr 1866 nachvollziehen lässt. Auch Gastgeber und Touristen mussten in diesem Prozess ihre Rollen finden: 3 4
Kasper 2015. Tschofen 2015.
Was ist Landschaft?
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Einige Bauern, die uns [auf dem Weg durch Partenen, B.T.] beobachtet hatten, kamen an den Weg, der unfern ihren Häusern sich vorbeizog und trösteten uns mit der frohen Aussicht, daß morgen wahrscheinlich schönes Wetter sein werde; auch verhehlten sie uns nicht ihre Meinung, Herr Essig [Wirt zur ‚Sonne‘, B.T.] werde nicht versäumen, vor unserm Aufbruche eine lange Stange Kreide zu nehmen und damit so lange zu rechnen, bis sie fertig sei. Ziemlich mißmutig erreichten wir unter solchen Umständen das Hotel zur Sonne. Allein auch hier lehrte die Erfahrung, daß ein Uebel, wenn man ihm kühn in die Augen blickt, oft lange nicht so groß ist, als es von ferne scheint. Wir erhielten eine geheizte Stube und guten Kaffee und ergötzten uns an heiterem Kartenspiel, bis die Zeit zum Souper herannahte.5
Konstruktion und Erfahrung: Wege zu einer symmetrischen Theorie der Landschaft Auf die Frage „Was ist Landschaft?“ scheint es eine recht eindeutige Antwort zu geben. Jedenfalls, wenn man der gängigen Erzählung einer Geschichte und Theorie der Landschaft folgt, die schon für sich genommen auch als Versuch rationaler Naturbeherrschung gelesen werden könnte. Das Narrativ ist so eindeutig, wie es im Grunde auch richtig ist: Es besagt, dass uns erst die Moderne gelehrt hat, Landschaft als geordnete und bearbeitete Natur zu verstehen, als Ausschnitt aus dem Naturganzen mit verbindenden und unverwechselbaren Zügen – und als Metapher für im Raum organisierte Kultur. So vermittelt sich Landschaft heute über Wirtschaftssektoren und über die Medien der Artikulation hinweg: Planung und Vermarktung von Landwirtschaft bis Tourismus folgen etwa diesem Konzept.6 Und auch in der Regionenpolitik der Europäischen Union ist die Idee von Landschaft eine zentrale Größe der Planung und Argumentation. Die Agrarpolitik sieht Landschaft gar als das zukunftsweisende Produkt des Agrarsektors, ein öffentliches Gut wie Umwelt und natürliche Lebensräume.7 Schließlich zeigt die enge Verbindung, die Landschaft und Kultur im europäischen Gedächtnis, seinem Denkmalkonzept respektive in der Repräsentation von Kulturgütern (z. B. Weltkulturerbe-Regionen) eingehen,8 welche zentrale Rolle „Landschaft“ in gegenwärtigen Identitäts- und Alteritätsprozessen spielt. Grund genug also, über Landschaft nachzudenken, die gegenwärti-
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Sander 1866, 7; vgl. Tschofen 2015, 65–87. May/Sidali/Spiller/Tschofen 2016. Johler 2001. Tschofen 2007.
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Bernhard Tschofen
ge Dynamik zum Anlass zu nehmen, Landschaft der kulturwissenschaftlichen Befragung auszusetzen. Begriff und Sache der Landschaft haben ihre Ursprünge im Mittelalter, und das Wort bezog sich damals auf einen ländlichen Grundbesitz im Rahmen des Feudalsystems – meist klein und überschaubar. Es ging dabei also um einen Ausschnitt Landes, das als „zusammenhängendes Ganzes“, als „Gegend“ verstanden wurde und rechtlich unterlegt war: Landschaft bezeichnete in diesem Sinne, so heißt es u. a. im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, das Land, so weit die Herrschaft einer Stadt oder eines Herrn reicht („landtschaft, als weit ein statt oder herr zů regieren und ze bieten hat“).9 Dieser Begriff übertrug sich dann auch auf die Bewohner und Vertreter eines Territoriums, ein Gebrauch von „Landschaft“, der in der Neuzeit weitgehend verschwand und nur in manchen europäischen Regionen in Begriffen der politischen und administrativen Praxis überlebte (man denke etwa an die Landschaftsverbände in Westfalen). Als das Wort Landschaft im 17. und 18. Jahrhundert zu neuen Ehren kam, geschah das mit verändertem Sinn und neuer Bedeutung: Jetzt bezog es sich auf etwas überschaubar Vertrautes und verband sich mit einer neuen Weltsicht. Der ästhetisch-philosophische Begriff von Landschaft begann den geographischen zu durchdringen, und die Art, wie die Moderne Landschaft aufzufassen begann, war Teil von Differenzierungsprozessen im weiteren Sinn: Sie spiegelte die Trennung von Natur und Kultur und den Vergeschlechtlichungsprozess (wenn man so sagen will), das gendering, von Natur als weiblich und Kultur als männlich. Außerdem wurde „Landschaft“ jetzt zusehends von „Land“ abgesetzt bzw. wurde das Begriffspaar in eine bestimmte Beziehung zueinander gesetzt: Während Landschaft den bürgerlichen Blick aufs Land zu bezeichnen begann, wurde dem (landbauenden) „Volk“ der Sinn für Landschaft lange abgesprochen. Diese Dichotomie durchzieht in Modifikationen die Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts bis in unsere Zeit und macht sich, wie wir sehen werden, besonders in den Zeugnissen des historischen Alpinismus bemerkbar. Von nun an hatten Landschaften etwas mit Schauen zu tun: Sie waren distanziert, entrückt, dazu da, angesehen oder überblickt zu werden. „Zum Sehen von Natur als L[andschaft] gehört so korrelativ ein Subjekt, das Natur in einem besonderen Akt des Sehens zur Landschaft macht.“10 Dieser klassenprivilegierte westliche Blickwinkel erscheint uns bis heute als Selbstverständlichkeit, so sehr, dass wir manchmal vergessen, dass in anderen, parallelen, Modernen andere Konzepte von Landschaft existieren. Sie treten dann etwa in den rasch als ethnisch 9 Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 132. 10 Piepmeier 1980, Sp. 17.
Was ist Landschaft?
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gedeuteten Interessenskonflikten um Landschaftsnutzung und Naturauffassung zutage, wie sie durch Migration, Tourismus und globalen Austausch immer häufiger werden. Oder sie bekommen das andere Differenz schaffende Etikett verliehen und erscheinen uns dann als vormodern und traditionell. Dieser Gegensatz bestimmt auch die kulturkritische Landschaftsauffassung, nach der Landschaft eine notwendige Projektion der zivilisationsgeschädigten Moderne ist. Der Landschaftsdiskurs ist von Anbeginn an reflexiv und bedient sich dieser Opposition zur Legitimierung eigener, je zeitgenössischer Praxis. Das ist unter anderem auch den für die vergangenen Jahrzehnte so maßgeblich gewordenen kompensationstheoretischen Erklärungsansätzen zur Kritik gemacht geworden, wie sie von Joachim Ritter mit zunächst großer Plausibilität in die Diskussion eingebracht worden sind: Ritter, für den Landschaft die dem fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtige Natur ist, geht davon aus, dass die „Entfremdung der modernen Welt von der Natur, die die Bedingung unserer Freiheit sei, ästhetisch aufgehoben werden kann in der Zuwendung zur Natur als Landschaft“.11 Ein Ansatz, der ob seines affirmativen (und Natur als notwendigerweise ausbeutbare Ressource legitimierenden) Charakters vor allem in einer ökologisch orientierten Philosophie und Kulturwissenschaft in den letzten Jahren zusehends auf Ablehnung gestoßen ist. Rückt man die Geschichte der Landschaft in den Kontext der Geschichte der Moderne, so hilft das, Landschaft schon einmal als etwas zu verstehen, was nicht einfach gegeben oder ‚natürlich‘ ist, sondern als offene soziale Konstruktion verstanden werden will. Das heißt gleichzeitig auch, dass Landschaft veränderbar und gestaltbar ist. Menschen verändern Landschaften nicht nur im Sinne konstruierter mental scapes, sondern die Konstruktionen beginnen in der Praxis konkret zu werden und sich zu materialisieren. Dazu gehört die Verwandlung von Landschaft entlang literarischer Fiktionen. Um nur ein Beispiel aus der alpinen Nachbarschaft zu nennen: Dem „Heidiland“ ist die literarische Fiktion längst eingeschrieben worden und ist als handlungsanleitende Benutzeroberfläche unhintergehbar präsent.12 Als historisch-soziale Konstruktion ist Landschaft also in der geteilten Geschichte der Kulturen und Regionen situiert: selbst einsame und augenscheinlich abgelegene, rückständige Landschaften sind interdependent mit anderen.13 Edward Said hat in seinen Studien zu Raumbeziehungen und kulturellen Figurationen des imperialen Zeitalters ein gutes Beispiel gegeben: Jane Austens Erzählung der Idylle englischen Landlebens ist ohne die Erwähnung der überseeischen 11 Piepmeier 1980, Sp. 26. 12 Leimgruber 2005. 13 Bender 2002, 135.
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Bernhard Tschofen
Plantagen nicht vollständig, sagt er, weil das eine das andere bedingt und das Leben im Hier anders aussehen würde, wenn es im Dort nicht ein dialektisches Pendant besäße.14 Oder um in unserem Raum zu bleiben, Geschichte und Gegenwart alpiner Landschaften sind – wie ich in meinem Buch Berg – Kultur – Moderne zu zeigen versucht habe – nicht zu denken ohne ihr städtisches europäisches Gegenüber, seine Projektionen und Abhängigkeiten.15 Versteht man nun Kultur und Raum als einen offenen Prozess, so erscheint Landschaft als Summe der Projektionen und Konstruktionen, die zu einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte Gegend gemünzt waren. Und das heißt auch, dass Konstruktionen nichts Stabiles sind, wie die britische Archäoanthropologin Barbara Bender das formuliert: Landscapes can never stay still […]. People sometimes talk about the landscape as ‘palimpsest’, meaning by this that past activities leave their signature upon the land. But this suggests that elements of the past are simply left ‘in place’. In reality things are more complicated: people invest these elements with new meaning, the re-use them literally or figuratively. Or they neglect or forget them. What is left out of the story is often as interesting as what left in.16
Auch Landschaften besitzen ihr Imaginäres, das durch Selektionsprozesse geformt wird und zu ihrem Habitus im Sinne einer „strukturierten und strukturierenden Struktur“ wird, wie das von dem Urbananthropologen Rolf Lindner in Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitus-Konzept für die kulturwissenschaftliche Raumforschung formuliert worden ist.17 Gegenüber solchen Macht und Raum thematisierenden Neuerungen verbindet sich mit dem oben skizzierten kompensationstheoretisch gestützten Konzept von Landschaft als einer ästhetischen Ressource für eine vom Prozess der Zivilisation als beschädigt wahrgenommene Lebensweise allerdings eine nicht unproblematische Beschränkung. Diese Perspektive neigt dazu, die kognitive und reflektierte, auf das sogenannte Naturschöne fokussierende Wahrnehmung über andere Verständnisse und Umgangsweisen zu stellen. Sie schreibt damit, wie oben angedeutet, selbst an der Veränderung mit, die sie zu beobachten und zu interpretieren vorgibt. Dementsprechend zentriert sie in ihrem Narrativ Wahrnehmungsweisen und deren Repräsentationen, also kulturelle Manifestationen, wie sie nicht von al-
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Said 1993. Tschofen 1999. Bender 2002, 138–139. Lindner 2003.
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len Gruppen historischer Gesellschaften hinterlassen werden konnten und daher nur begrenzte Wirklichkeitsausschnitte einer Geschichte der ästhetischen Anschauung abzubilden vermögen. Zugleich handelt es sich dabei um ein Konzept, das sowohl die innere als auch die äußere Natur zurückdrängt, indem es einen anthropozentrischen Standpunkt einnimmt und keinen Platz lässt für eine nicht intelligible Wahrnehmung. Die physisch-leibliche Dimension gerät dabei ebenso in den Hintergrund wie alle nicht expliziten oder generell im Vorsprachlichen verbleibenden Erfahrungen. Dagegen stellt die jüngere Phänomenologie ein Konzept, das weniger die geistige Erfassung natürlicher Umwelt, sondern gerade den Körper – das missing link ästhetischer Landschaftsauffassungen – als Medium der Erfahrung ins Zentrum rückt. Sie verbindet damit – beispielhaft etwa in den Arbeiten des britischen Anthropologen Christopher Tilley18 – eine neue Aufmerksamkeit für die materielle und sinnliche Dimension, für den bewegten Körper und nicht zuletzt für Bedeutungen jenseits der Konstruktion, ohne dabei, wie das mitunter kritisiert wird, in eine Essentialisierung zurückzufallen. So gesehen geht es dabei auch nicht um eine Ablehnung konstruktivistischer Konzepte, die ohne Zweifel für die gegenwärtigen Diskussionen die entscheidenden Grundlagen geschaffen haben. Vielmehr geht es um ein konsequentes Weiterdenken des Konstruktivismus durch relationale Verständnisse, die nicht nur menschliche Konstruktionsleistungen adressieren, sondern Mensch-Umweltbeziehungen in ihrer gegenseitigen Interdependenz oder als zirkuläre Referenz zu verstehen versuchen.19 So zielt etwa die jüngere Diskussion einer „materiellen Hermeneutik“ auf die Beteiligung der Dinge und Orte an der Ko-Konstituierung von Erkenntnis.20 Bezogen auf Landschaft heißt das mit Tim Ingold formuliert, dass diese Beziehung für Erscheinung und Bedeutung gleichermaßen bedeutend ist, sich Menschen und Landschaften unvermeidlich gegenseitig formen: „Landscapes take on meanings and appearances in relation to people, and people develop skills, knowledge and identities in relation to the landscape in which they find themselves.“21 In einer solchermaßen symmetrisch konzipierten Anthropologie der Landschaft wird dieser, wenn sie mit der Konsequenz der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours gedacht wird, nicht zuletzt Handlungsmacht im Netz der Akteure und Vorstellungen zugeschrieben.22 Das mag vielleicht immer noch schwer vorstellbar sein, weil wir gewohnt sind, solches am menschlichen Handeln zu messen, 18 19 20 21 22
Tilley 1994. Tilley 2004, 12–13. Ihde 2004. Ingold 2011, 129. Vgl. Latour 1998.
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und soll daher hier auch nicht weiter diskutiert werden. Wesentlicher erscheint mir die mit den skizzierten Ansätzen gewonnene Möglichkeit, körperliches und sinnliches Erleben einerseits als Konstituens, andererseits als von der Unmittelbarkeit physischer Qualitäten durchdrungene Dimension von Landschaft zu begreifen. In methodischer Hinsicht heißt das freilich, auch bewusst nach verkörperten und materialisierten Wissenspraktiken zu fragen, ein Zugang, der für die ethnographische Arbeit auf den ersten Blick näher liegen mag als für die Befragung historischer Quellen. Sharon Macdonald, die in Berlin lehrende und forschende Vertreterin einer mit ähnlichen Fragen konfrontierten anthropologischen Kulturerbeforschung, plädiert daher für mehr Interesse an „bodily and sensory experience“, verstanden als „experience […] going beyond that which people might verbally articulate“.23 Zugleich warnt sie aber davor, zu glauben, „that domains of experience ‚beyond discourse‘ are somehow more ‚real‘ or ‚authentic‘ than those expressed in words“.24 Dieser Hinweis ist wichtig, weil es hier nicht um die Prolongierung vitalistischer Konzepte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gehen kann, sondern um ein Verständnis, das weniger die Unmittelbarkeit als solche herausstellt als vielmehr die Möglichkeiten, durch physisch-sinnliches Erleben von Landschaft Präsenz zu erfahren.
Nur die Aussicht? Beispiele multisensualer Landschaftspraxis aus der Geschichte des Piz Buin In einem zweiten größeren Abschnitt möchte ich einige der oben theoretisch markierten Fragen anhand von Beispielen aus der gut 150-jährigen Wahrnehmungsgeschichte des Piz Buin diskutieren. Das erfordert etwas längere Zitate, als man sie in einem Beitrag dieser Art gewohnt sein mag. Ich lege aber Wert auf eine zumindest ansatzweise Wiedergabe des narrativen Kontextes und möchte vermeiden, nur einzelne signifikante Passagen aus dem Zusammenhang zu nehmen und aneinanderzureihen. Dennoch sind die Texte naturgemäß ungebührlich gekürzt, für längere Einblicke verweise ich auf die von mir herausgegebene Anthologie resp. die mittlerweile zum größeren Teil gut zugänglichen Originale.25 In den Darstellungen einer Kulturgeschichte des Alpinismus ist traditionell sehr viel von der Ästhetik der schönen Aussicht die Rede. Die anderen menschlichen Sinne, der Körper als in seiner Bewegung die Erfahrung alpiner Landschaft 23 Macdonald 2013, 82. 24 Macdonald 2013, 81. 25 Tschofen 2015, 315 (Veröffentlichungshinweise im Anhang).
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erst ermöglichendes Medium wird hingegen wenig thematisiert.26 Das stützt die These von der Überhand des Gesichtssinns als des vornehmsten Sinns nach der seit dem 18. Jahrhundert verstärkt verhandelten Hierarchie der Sinne.27 Es gehört zu meinen wichtigsten Erfahrungen bei der Zusammenstellung der genannten Anthologie, dass die historischen Texte ein weit größeres Spektrum von Sinneseindrücken thematisieren, als dies das vorherrschende Narrativ vermuten lässt. Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht freilich ein Zeugnis, das noch vor die Erstbesteigung zurückreicht. Der Beitrag des Bündner reformierten Pfarrers Peter Justus Andeer aus dem Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft in Graubünden markiert eine wichtige Schwelle. Er versucht den Alpinisten, die sich im Schweizer Alpenclub zusammengetan und schon in einem der ersten Jahre des Vereins die Silvretta zum sogenannten Exkursionsgebiet erhoben hatten, durch die Bereitstellung möglichst umfangreichen Wissens den Weg zu ebnen. Andeer verbindet dabei das eigene Wissen des Einheimischen mit topografischen und historischen Informationen und dokumentiert damit ein Zeitalter, dem es allein um Passübergänge ging und dem die nun das Interesse der Bergsteiger findenden Gipfel oft nur Wegmarken waren – an denen man sich nicht zuletzt akustisch orientieren konnte: Nach den zuverlässigen Zeugnissen erprobter Gletscherfahrer verhält sich die Sache nämlich so. Am Ausgange des Gletschers, auf der nordöstlichen Seite ist eine Felsenwand, die nach ihrer Farbe C r a p a l p (Weisser Stein) genannt wird und ein schönes lautes Echo bildet. Das Gleiche ist auch der Fall beim P. Buin. Ruft man in seiner Nähe und in gewisser Entfernung „Crap alb“ und erhält man den Ruf zurück, so ist man auf sicherer Fährte und braucht nicht wegen der gähnenden Abgründe in der Nähe besorgt zu sein. Nähert man sich dann Crap alb – von einem Berg zum andern ist eine Diagonale – und schallt dort der Ruf „Piz Buin“ zurück, so hat man darin eine Gewähr die Gefahr überstanden zu haben.28
Es wäre auf jeden Fall vermessen, das Jahr 1865 als Epochenschwelle kollektiver Gebirgswahrnehmung zu markieren, dagegen sprechen allein schon die unterschiedliche Situiertheit der Quellen und die milieuabhängigen Hintergründe ihrer Urheber. Dennoch liest sich die in der Geschichte des Alpinismus viel gerühmte Veröffentlichung des unter den vier Erstbesteigern auch deswegen sichtbarsten Johann Jakob Weilenmann (1819–1896) so ganz anders als der gelehrte Text des 26 Eine wichtige Ausnahme für die Zeit vor 1850 bildet hier Scharfe 2008. 27 Für unseren Zusammenhang aufschlussreich Bayertz 2012. 28 Andeer 1865, 115; vgl. Tschofen 2015, 30–35.
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Pfarrers Andeer. Weilenmanns Veröffentlichung im Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs wurde besonders wegen seiner seitenlangen und sprachlich anspruchsvollen Schilderung der Aussicht bekannt, ein Topos, auf den spätere Autoren dann sogar gerne verweisen: Die Umschau übertraf in jeder Hinsieht unsere Erwartungen […]. Denn nicht nur ist sie von gewaltiger Ausdehnung, nicht nur reicht der Blick in endlose Weiten, sondern (was von den umfassendsten Panoramen oft nicht gesagt werden kann) auch für malerische Ausstattung, insoweit eine Gipfelausschau das Malerische zulässt, ist darin gesorgt. Begünstigt von einem Himmel, wie er uns heute lächelt, verfehlt wohl kaum eine Rundschau ihren günstigen Eindruck. Das Auge schwelgt im Anblick der rings am Himmelssaum funkelnden Firne, das Herz fühlt sich ergriffen von der feierlichen Stimmung, die durch den unermesslichen Raum weht, indess bei weniger günstiger Beleuchtung die reich ausgestattete Rundsicht dich kalt lässt.29
Kulminieren bei Weilenmann Tour und Veröffentlichung tatsächlich in der Gipfelschau, so heißt das nicht, dass der mit einem guten Blick für kulturelle Unterschiede – etwa zwischen einheimischen Führern und dem Milieu der bürgerlichen hochgebildeten Alpinisten, dem er selbst angehörte – ausgestattete gelernte Textilkaufmann und Privatier nicht auch das intensive sinnliche Erleben der Besteigung zu würdigen wüsste: […] als wir um 2 Uhr frühe des 14. Juli die ostwärts sich dehnende Weide und das wasserreiche Moor überschritten. Die wenigen Laute, die durch die feierliche Stille dringen, hier das leise Klingeln einer einsamen Glocke, von einem wiederkäuenden Rinde bewegt, das auf dem bereiften Rasen liegt, dort ein murmelnder Quell, weiterhin verschwommenes Rauschen der Bäche, sind in harmonischem Einklang mit dem ergreifenden Nachtbilde. Du wagst es nicht, mit trivialem Geplauder so viel Weihe zu stören.30
Geschah die Erstbesteigung des Piz Buin eigentlich quasi en passant, so glich die zweite dokumentierte Besteigung, die erste von Vorarlberger Seite unternommene, einer regelrechten Expedition, begleitet von Schreiber und Maler. Und sie geschah vor allem im Bewusstsein ihrer Bedeutung, denn nunmehr war der Gipfel Teil des kulturellen Gedächtnisses des Landes und ein wichtiges Symbol in der Repräsentation des Territoriums des um seine Unabhängigkeit bemühten Landes. 29 Weilenmann 1866, 73; vgl. Tschofen 2015, 40–64. 30 Weilenmann 1866, 69.
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Bereits eine 1866 unter dem Pseudonym Max Vermunt erschienene Veröffentlichung des Juristen und Politikers Carl von Seyffertitz (1825–1900) hatte dies unmissverständlich zu markieren gewusst: Thaleinwärts gegen das Joch zu gehen diese Zacken und vergletscherten Gräte in den Hauptgletscher über, der dann in einer fast horizontalen Linie bis zur diesseitigen Thalwand, der gleichfalls vergletscherten Radspitze, vom blauen Hintergrunde sich abhebt. Fast in der Mitte dieser Linie erhebt sich – und dies ist der zweite fesselnde Punkt, – ein riesiger schwarzer mit einzelnen Schneerunsen gezierter Felskopf wol über die 1000 Fuss noch in die Höhe, hinter ihm versteckt ein niedrigerer zweiter. Dieser Kogel ist der Piz Buin, oder Albuinkopf, die höchste Spitze des Landes Vorarlberg, (denn die Grenze geht gerade über ihn weg) mit nahezu 10500 W. F. Meereshöhe.31
Ungeachtet all der Bedeutung, die der Vorarlberger Expedition unter der Leitung des Feldkircher Unternehmers und liberalen Politikers Josef Andreas Tschavoll in der Veröffentlichung des damals jungen Landeshistorikers Hermann Sander (1840–1918) zugeschrieben wurde, lässt der Bericht auf eine recht vergnügliche Herrenpartie schließen. Dabei wird deutlich, wie intensiv das bis dahin unvertraute Terrain der Gipfel und Gletscher auch körperlich erlebt worden ist. Am Seil des Führers werden die städtischen Herren schließlich geradezu wagemutig: Da das Abrutschen vom Buin herunter den vollen Beifall Nachbaur’s gefunden hatte, so wandelte ihn, als er an den Rand des Absturzes kam und gerade eine Lawine sich losgelöst hatte, die Lust an, derselben nachzufahren. […] Dann kamen ich, Tschavoll und Pöll, welcher uns beide mit aller Kraft am Seile hielt, worauf wir der bedenklichen Klippe auch glücklich entrannen. Einen heiteren Anblick für Nachbaur und Zudrell, die uns von unten beobachteten, bot unsere weitere Abfahrt; denn nachdem Pöll unser Seil losgelassen hatte, fuhren wir in ziemlicher Geschwindigkeit hinunter; während aber ich ursprünglich etwa zwölf Fuß vor Tschavoll angebunden war, geschah es, daß dieser auf einem Haufen Schnee über mich hinausfuhr und bald ebenso weit vor mir war, als ich früher vor ihm.32
Es geht um neue Erfahrungen, und wo diese nicht mehr möglich sind – weil die Berge bestiegen und die Berichte längst veröffentlicht sind –, sucht der Alpinismus nach neuen Herausforderungen. Der Bericht des Feldkircher Spinnereidirektors und begeisterten Bergsteigers Josef Welpe (1867–1953) über eine frühe 31 Vermunt 1866, 99; vgl. Tschofen 2015, 90–105. 32 Sander 1866, 18–19; vgl. Tschofen 2015, 65–87.
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Winterbesteigung des Piz Buin im Jahr 1913 ist ein Dokument dafür. Es zeigt nicht zuletzt, wie sehr das Erleben von Landschaft trotz all der vermittelten Bilder im Sprachlichen seine Zeitlichkeit besitzt und von den Formen und Techniken der Bewegung im Raum abhängig ist. Welpe und seine Begleiter befuhren 1913 den zerklüfteten Ochsentaler- und Vermuntgletscher: Daß ich es gleich im Voraus sage: Der Schnee auf dem ganzen Vermuntferner war fast durchwegs tadellos. Also ließen wir unsere Skier sausen, wir umfahren in einem einzigen, mächtigen Bogen den ganzen obersten Kessel des größten unserer heimischen Gletscher bis an dessen westlichen Rand. War das oberste Feld bis hierher anscheinend spaltenlos, so ändert sich nun das Bild. Unser Eisbecken stürzte in seiner ganzen Breite auf den unteren Teil des mächtigen Eisfeldes ab, ein Bild gewaltiger Wucht und erhabener Größe. Zur Rechten soweit das Auge reicht, Spalte an Spalte und hausgroße Löcher mit eingekeilten Firnklötzen, zur Linken, vom nahen Silvrettahorn abstürzend, uns dicht zu Häupten auf senkrechter Felswand ein mindestens zehn Meter hoher grüner Eisüberhang, der seine vorgeschobenen Glasschollen in allen Größen auf unsere steile und ziemlich schmale Rampe herabschleudert.33
Solche Texte machen bewusst, dass trotz der bildhaften Sprache, aus der der gesichtssinndominierte Kanon der Naturästhetik spricht, Wahrnehmung und Präsenz in der Landschaft auf synästhetischer Körperpraxis beruhen. Die dabei erlebten Gefühle – im Sinne eines multisensorischen ‚Spürens‘ der naturräumlichen Besonderheiten und ihrer Atmosphären – sind aber nicht einfach nur Reaktionen des Körpers, sondern sie gründen in den kulturellen Repertoires der Akteure, sind erlernt und werden vor allem auch gezielt herbeigeführt.34 Ein herausragendes Beispiel für jene oft beschriebene körperliche Überwältigung durch besondere Naturerfahrungen ist der bislang unbekannt gebliebene Bericht einer herbstlichen Schlittenfahrt über den Silvrettagletscher aus der Hand der englischen Autorin Margaret Symonds (1869–1925). Sie war als junges Mädchen mit ihrem Vater, dem wegen eines Lungenleidens als Kurist in die Schweiz gezogenen Renaissanceforscher John Addington Symonds, nach Davos gekommen und hatte dort das Schlitteln als junges Vergnügen der britischen leisure class kennengelernt. Ich kann mich nur auf meine eigenen Erfahrungen dieser bemerkenswerten Fahrt beziehen. Sanft und sehr langsam zuerst; dann aber, wie plötzlich, glitten die Kufen meines Schlittens besser und drängten vorwärts. […] Unter mir lag die wogende 33 Welpe 1922, 3; vgl. Tschofen 2015, 194–203. 34 Vgl. Gammerl 2012.
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See von unendlichem Weiß, dahinter wieder Bruchstücke der Moränen […] Ich riss lediglich meinen Hut herunter, lehnte mich zurück, hob meine Füße an und hatte das Gefühl, mein Schlitten schnelle ins All hinaus. Es folgte der atemloseste Flug, den ich je unternommen hatte. Der frische Schnee stäubte in mein Gesicht, er füllte meine Ohren, meine Augenlider, meinen Mund und meine Nasenlöcher und legte sich wie Putz auf meinen Brustkorb.35
Sinnliche Wahrnehmung von und in Landschaft sucht nach Analogien, und sie bemüht sich, damit das Unvertraute oder auch regelrecht Beängstigende in einen vertrauten Rahmen zu setzen. Zahlreiche Zeugnisse aus der Geschichte des Piz Buin lassen aber auch erkennen, wie mit Gefühlen umgegangen wird. Ein wiederkehrendes Motiv in Texten aus dem 19. Jahrhundert ist dabei das später kaum noch dokumentierte ‚Ansingens‘ gegen die bei zahlreichen Autoren erwähnten furchteinflößenden Geräusche der Gletscher. So bedient sich der anonyme Verfasser eines frühen Besteigungsberichts aus dem Vorarlberger Volks-Blatt – vermutlich ein Geistlicher aus der Region – einer vielleicht bezeichnenden mehrfachen Taktik: Er stattet mit Goethe- und Bibelworten seinen Dank ab, rationalisiert die seltsamen Geräusche und singt dennoch gegen die Angst an: Hier ist die Aussicht frei Der Blick gehoben Faust 2. Theil
und: …Altar des lieblichsten Dankes Wird ihm des erhabenen Berges Schneebehangener Scheitel, Den mit Geisterreichen kränzten Ahnende Völker Aus der „Harzreise.“
Endlich aus dem 94. Psalm: Venite exultemus Domino Quoniam altitudines montium Ipse conspicit. Kommet laßt uns frohlocken dem Herrn … denn er schaut die Höhen der Berge. 35 Symonds 1892, 246 (Übersetzung von B.T.); vgl. Tschofen 2015, 170–179.
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Ich gestehe, daß mir neben dem „lieblichsten Dank“ noch eine andere Anwandlung kam, nämlich die des Grauens wegen der Gewalt des Windes, der auch hier stoßweise tobte, wobei von Zeit zu Zeit ein donner- oder schußähnliches Krachen uns erschreckte […]. Nachher erklärte mir der Führer deutlicher, wie dieses Krachen, das oft bis in die Alpe hinaus gehört werde, vom Zerspringen der Gletschermasse herrühre, was allerdings oft vom Winde verursacht werde. So entständen dann jene Riße und Klüfte, welche so oft die Gestalt eines Gletschers verändern. Beim Andrange des Windes wurde mir beinahe schwindlig und ich mußte mich ein wenig beschäftigen. Wir sangen auch ein paar Lieder „Der Knab vom Berge“ und „Wenn weit in den Landen“.36
Man könnte solche Muster als Ausdruck differenter Ontologien werten, und es spricht viel dafür, die in den Quellen zwar stets sprachlich reflektierte Erfahrung auch als Ausdruck ihrer lebensweltlichen Situiertheit zu verstehen. Nicht nur die Metaphern, über die Autoren und Akteure verfügen, lassen das erkennen, auch das Hineinstellen des Geschehenen in eigene Werte und Erwartungen sind ein Indiz dafür, dass physische Qualitäten und das Materielle zwar als Affordanzen fungieren, aber damit je unterschiedliche Praktiken und Auslegungen evozieren. Zwei Beispiele, die rund sechs Jahrzehnte voneinander trennen, mögen das belegen: zum einen die Mitteilung eines das heimische Pferd zum Maßstab von alpinen Schwierigkeiten machenden prosaischen Vergleichs bei Otto Welter, einem Kölner Advokaten und Bergsteiger (1839–1880), zum anderen die Zeilen der nationalbewegten Vorarlberger Dichterin Natalie Beer (1903–1987), die noch das Prosaische einer Kraftwerksanlage in eine Hymne der Heimat und des Fortschritts zu transzendieren weiß. Auch die Anderen kamen, von Pseyrer vorn und Pöll rückwärts gestützt, ohne Anstand hinüber. Diese kurze Stelle von etwa 10 Schritt ausgenommen, bietet der Piz Buin gar kein Bedenken, auch für minder geübte Steiger, und ein halbwegs ordentlicher Führer wird ihnen mit Sicherheit darüberhelfen. Nun ward es so eben, daß man, wie der Pseyrer sich ausdrückte, „bereits ein Roß hinauf bringen könnte.“ Gewaltige Felsblöcke und Platten umlagerten die Höhe, über die man hinweg zur eigentlichen, mit einem Steinmannl gezierten Spitze schritt.37 So bin auch ich emporgestiegen, begleitet vom Singen der gewaltigen Turbinen des Vermuntwerkes, das die Naturkräfte sammelt und wandelt in elektrischen Strom, 36 Ein Ausflug, 404–405; vgl. Tschofen 2015, 106–119. 37 Welter 1872, 166–167; vgl. Tschofen 2015, 130–151.
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der über gewaltige Masten weit hinausgeführt wird ins Land. Gebändigte Bergkraft, wilde Wasser aus hundert Rinnen, brausend durch Schluchten über polterndes Gestein, gesammelt im Stausee, durch Eisenröhren zu Tal schnellend in das Vermuntwerk, wo technische Hochleistung das Wunder vollbracht hat.38
Trotz aller Unmittelbarkeit des Landschaftserlebens wissen wir natürlich mit solchen Beispielen auch um seine geschichtliche und technische Bedingtheit. Landschaft als Beziehungskategorie, die somit nur relational zu denken ist, ist nicht nur nicht statisch, sondern darüber hinaus immer auch von den sich wandelnden technosozialen Einschreibungen geprägt. Zwei in unmittelbaren Kontrast gestellte Textauszüge, beide aus der Nachkriegszeit, doch aus konträren Gattungen, können das abschließend anzeigen. Der Beitrag des Volkskundlers und Schriftstellers Richard Beitl (1900–1982) für das Buch zur Eröffnung der Silvretta-Hochalpenstraße demonstriert das Arrangement von Landschaft im technischen Zeitalter. Erkennbar wird dabei ein Prozess, der mit Infrastrukturen wie Straßen- und Hotelbauten auch andere Voraussetzungen für das In-der-Landschaft-Sein schafft und unser Beispiel Piz Buin schließlich nachhaltig verändert – nicht zuletzt, was dessen nunmehr dominante Ausrichtung nach Norden und die bevorzugten Blickregimes anlangt. Das Silvrettasee-Hotel wird im Sommer dem Autotouristen und dem Bergsteiger, aber auch solchen Gästen dienen, die einige Tage der Ruhe und Erholung im Anblick der Berge und Gletscher verbringen wollen. Im Winter, etwa von Mitte Februar bis Ende Mai wird das Hotel den Schisportler aufnehmen und so die stets überfüllten Schutzhütten entlasten. Für die im Hotel wohnenden Gäste hat das Hotel mehrere gemütliche Gaststuben, die sich dem alpinen Stil der Gegend anpassen, daneben geräumige Aufenthaltshallen und eine Bar. Alle Gasträume geben den Blick nach Süden auf den etwa 2,5 km langen und bis 800 m breiten Stausee und auf die Bergriesen der Silvretta frei.39
Und wenn zum Schluss hier nochmals der eingangs zitierte Cla Biert zu Wort kommt, so lässt sich an dem Ausschnitt auch erkennen, wie die Berge immer wieder als Projektionsfläche für Zivilisationskritik fungieren. Biert legt dabei in seine Erzählung eine große Portion heimat- resp. namenkundliches Wissen, um am Ende seines Buches den unglücklichen Tumasch und die bergverliebte Karin doch noch zusammenfinden zu lassen. 38 Beer 1936, 522; vgl. Tschofen 2015, 234–243. 39 Beitl 1956, 52–53; vgl. Tschofen 2015, 204–211.
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„Wie heißt der Gipfel dort?“ fragt Karin. „Das ist der Piz Fliana.“ „Was bedeutet Fliana?“ „Fliana war ein Pflug, eine Pflugschar, die unsere Vorfahren noch brauchten. Die Form ist ganz ähnlich.“ „Möchtest nicht auch du den Pflug führen, Tumasch?“ Lange schaut er sie an. Dann sagt er: „Würde es dich freuen?“ „Ich bin eine Bäuerin, Tumasch, und die Verlobte eines Bauern!“40
Perspektiven kulturwissenschaftlicher Landschaftsforschung Auf den vorstehenden Seiten ist der Versuch unternommen worden, eine theoretische Diskussion relationaler Landschaftskonzepte mit einem close reading von Quellen zur Wahrnehmungsgeschichte eines einzigen Berges zu verbinden. Dies ist – das ist mir bewusst – ein etwas riskantes Unterfangen, weil der Abstand zwischen theoretischer Abstraktion und einem so heterogenen Textkorpus, der vor allem durch seine nicht einmal immer intendierte räumliche Bezugnahme auf den Piz Buin zusammengehalten wird, nicht zu unterschätzen ist. Zudem wurden hier vorrangig anthropologische, also vor allem auf die Analyse gegenwärtiger Alltage fokussierende Konzepte vorgestellt, deren Relevanz für einerseits historische Erfahrungen, andererseits die literarische Reflexion vergangener Praxis noch nicht ausreichend vermessen ist und auch hier nicht ausführlich thematisiert werden konnte. Doch scheint mir gerade in dieser Beziehung eine der wesentlichsten Herausforderungen kulturwissenschaftlicher Landschaftsforschung zu liegen. Die Rekonstruktion der Verhältnisse, in die Handeln und Fühlen einerseits, Diskurs und Erkennen andererseits gesetzt werden, verlangt nach Analysen, die sowohl das Exemplarische als auch dessen Kontext im Auge behalten. Der Situierung der Quellen kommt dabei eine zentrale Rolle zu, sie ist Voraussetzung für das Freilegen von Erfahrungen und für das Verstehen ihres Eingebettetseins in ein Umfeld expliziter Wissensbestände und Gefühlstraditionen bis hin zum topischen Abgleich des Erlebten mit Referenzen an die Klassiker. Vor allem die alpinistische Literatur des 19. Jahrhunderts, mehrheitlich aus dessen letztem Drittel, ist voll von solchen gelehrten Verweisen. Auch das Messen an den Vorbildern gehört dabei zum gängigen Repertoire. So heißt es etwa bei Hermann Sander 1866 über die Aussicht im Aufstieg zum Piz Buin: „Davon hebt sich ein so tiefblauer, mildglänzender Himmel ab, wie ihn nur selten zu schauen vergönnt ist im nebelreichen 40 Biert 1984, 383.
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Nordlande und den nur eines Humboldt unsterbliche Feder in seiner ganzen Schöne zu schildern vermöchte.“41 Ein wichtiger Zugang liegt dabei in der Rekonstruktion der Stellung von Wissensmedien, die in ihren jeweiligen Kontexten Erfahrungen dokumentiert und zur Rahmung der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung anderer Akteure gemacht haben. Sie stehen nicht außerhalb von Landschaft oder verfälschen deren vermeintlich authentische Erfahrung, sondern gehören zu einem als Figuration – Assoziierung im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie – verstandenen Komplex Landschaft, in dem Mensch, Umwelt und Wissen miteinander in Beziehung treten. Wir wissen wenig über die Praktiken der Vor- und Nachbereitung von alpinen Touren, wie wir generell wenig wissen über die Rolle von Medien im Verwalten der notwendigen Stimmungen. Denn nach dem Verständnis noch des 19. Jahrhunderts lag Stimmung nicht unmittelbar in den Orten und Dingen, sondern sie bedurfte einer entsprechenden Gestimmtheit, der gerade auch Medien zuarbeiten sollten. Gefühlsgeschichte, Medien- und Literaturwissenschaft haben sich dieser aktiven Dimension von Stimmung42 in den vergangenen Jahren verstärkt zugewandt und dabei vor allem das – wie der Germanist und Medientheoretiker Jochen Hörisch formuliert – „mood-and-mind-management“43 fokussiert. Eine weitere fruchtbare Perspektive scheint mir in der Ausweitung der Methoden kulturwissenschaftlicher Landschaftsforschung zu liegen. Gerade für die massenhaften Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts könnten dabei die Digital Humanities Möglichkeiten erschließen, neben dem qualitativen close reading exemplarischer Zeugnisse auch ein komplementäres, quantitativ gestütztes distant reading im Sinne des italienisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Franco Moretti zu unternehmen.44 Doch so vielversprechend die Verlockung großer Datenmengen etwa für eine Analyse der Stimmungen (sentiment analysis) ist, muss zugleich immer bewusst sein, dass solche Zugänge qualifizierte Fragestellungen nicht ersetzen und wohl auch nicht die hochaufgelöste Analyse exemplarischer Quellen und Situationen. Um nochmals die Piz-Buin-Literatur sprechen zu lassen: Wir kennen heute vor allem Praktiken der medialen Konservierung und Kommunikation von individuellen Erfahrungen, etwa durch Fotografie und Neue Medien. Und wir haben immer schon kursierende Bilder mit in unserem mentalen Gepäck, wenn 41 Sander 1866, 14; Sander nimmt hier vermutlich Bezug auf Alexander von Humboldts Ansichten der Natur (erstmals erschienen Stuttgart/Tübingen 1808), das Buch, das im 19. Jahrhundert für Generationen zum Maßstab einer sinnliches Erleben und wissenschaftliches Erkennen verbindenden Naturanschauung geworden ist. Weitere Hinweise in Tschofen 2015, 61, 117, 122, 295. 42 Vgl. Gumbrecht 2011. 43 Hörisch 2011. 44 Moretti 2013.
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wir uns ins Gebirge begeben. Dass es – jedenfalls historisch – auch die komplementäre Praxis gab, sich ‚Naturbilder‘ in situ einzuprägen und dann an der medialen Repräsentation zu überprüfen, erfahren wir dagegen nur aus der Analyse der intermedialen Bezüge in der populären Alpenliteratur: Gemüthlich schaute ich zu, wie mein Freund B. mit Kaspar die Schneehalde herunterkamen, und bald verfolgten wir unseren Weg gemeinsam über den Gletscher und über die steile Moräne ins weidenreiche, blumige Thal Tuoi. Bei der Alphütte Sott machten wir Halt, um einen Rückblick auf die beiden Piz Buin zu werfen und uns deren Form möglichst einzuprägen. Es freute mich nachher sehr, sie so naturgetreu im Jahrbuch 1871–72 des S. A. C. von Hrn. Müller-Wegmann skizzirt zu finden.45
Literatur Andeer, P. J.: Der Fermunt-Pass, Jahrbuch der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens NF 10 (1865) 112–118 Bayertz, K.: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012 Beer, N.: Kleines Erlebnis um den Piz Buin, Feierabend. Wochenbeilage zum Vorarlberger Tagblatt 18/45 (1936) 522–524 Beitl, R.: An der Silvretta-Hochalpenstraße. Land und Leute, Geschichte und Technik, Dornbirn 1956 Bender, B.: Landscape and Politics, in: Buchli, V. (Hg.): The Material Culture Reader, Oxford/London 2002, 135–174 Biert, C.: Über der Grenze, in: ders.: Die Wende. Aus dem Ladinischen von Silvia Lieberherr, Zürich/Köln 1984, 364–385 (zuerst als La müdada, Thusis 1962) Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854–1961 Ein Ausflug auf den Albuinkopf, Vorarlberger Volks-Blatt Nr. 63 vom 6. August 1869, 395–398 und Nr. 64 vom 10. August 1869, 403–406 Gammerl, B.: Emotional Styles – Concepts and Challenges, Rethinking History 16.2 (2012) 161–175 Gumbrecht, H. U.: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011 Hörisch, J.: Sich in Stimmung bringen. Über poetisches und mediales Mood-and-MindManagement, in: Gisbertz, A.-K. (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, Paderborn 2011, 33–43 Ihde, D.: More Material Hermeneutics, Yearbook of the Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society 4 (2004) 341–350 45 Zollinger 1873, 99; vgl. Tschofen 2015, 152–167.
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Ingold, T.: Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, London 2011 Ireton, S./Schaumann, C. (Hg.): Heights of Reflection: Mountains in the German Imagination from the Middle Ages to the Twenty-First Century, Rochester, NY 2012 Johler, R.: Wir müssen Landschaft produzieren: Die Europäische Union und ihre Politics of Landscape and Nature, in: Brednich, R.W./Schneider, A./Werner, U. (Hg.): Natur Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, New York/ München/Berlin 2001, 77–90 Kasper, M. (Hg.): Mythos Piz Buin. Kulturgeschichte eines Berges, Innsbruck/Wien 2015 Latour, B.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1998 Leimgruber, W.: Heidiland: Vom literarischen Branding einer Landschaft, in: Mathieu, J./Boscani Leone, S. (Hg.): Die Alpen! Les Alpes! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance. Pour une histoire de la perception européenne depuis la Renaissance, Bern 2005, 429–440 Lindner, R.: Der Habitus der Stadt – ein kulturgeographischer Versuch, Petermanns Geographische Mitteilungen 147/2 (2003) 46–53 Macdonald, Sh.: Memorylands. Heritage and Identity in Europe Today, London/New York 2013 May, S./Sidali, K./Spiller, A./Tschofen, B. (Hg.): Taste – Power – Tradition. Geographical Indications as Cultural Property, Göttingen 2016 Moretti, F.: Distant Reading, London/New York 2013 Piepmeier, R.: Landschaft, III. Der ästhetisch-philosophische Begriff, in: Ritter, J. u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 15–28 Said, E. W.: Jane Austen and Empire, in: ders.: Culture and Imperialism, New York 1993, 80–96 Sander, H.: Eine Besteigung des Piz Buin, Feldkirch 1866 Scharfe, M.: Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750–1850, Wien/Köln/Weimar 2008 Symonds, M.: Tobogganing on a Glacier, in: Symonds, J. A./Symonds, M.: Our Life in the Swiss Highlands, London/Edinburgh 1892, 240–247 Tilley, Ch.: A Phenomenology of Landscape: Places, Paths and Monuments, Oxford 1994 Tilley, Ch.: The Materiality of Stone. Explorations in Landscape Phenomenology, Oxford 2004 Tschofen, B.: Berg – Kultur – Moderne. Volkskundliches aus den Alpen, Wien 1999 Tschofen, B.: Antreten, ablehnen, verwalten? Was der Heritage-Boom den Kulturwissenschaften aufträgt, in: Hemme, D./Tauschek, M./Bendix, R. (Hg.): Prädikat „Heritage“. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen, Münster u. a. 2007, 19–32 Tschofen, B.: [3312] Piz Buin. Literarische Erkundungen 1865–2015, Bregenz 2015 Vermunt, M. (d.i. Karl von Seyffertitz): Auf Vermunt, Jahrbuch des Österreichischen Alpenvereins 2 (1866) 3–23
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Bert G. Fragner
Iran Landschaften vor dem Auge – Landschaften in der Seele
In der einleitenden Beschreibung des 2. Montafoner Gipfeltreffens wird das übergreifende Thema „Die Entdeckungen der Landschaft“ unter anderem mit dem Satz vorgestellt: „Ihre – der Landschaft – Entdeckung gilt gemeinhin als Errungenschaft der westlichen Moderne.“ Die Formulierung legt die Vermutung nahe, dass eine Entgegnung auf diese Aussage die Teilnehmenden an diesem Gipfeltreffen nicht überraschen, schon gar nicht in Harnisch bringen würde. Heißt es doch alsbald: Das Phänomen […], die Aufmerksamkeit für das Land und seine Qualitäten […], ist aber viel älter und beschränkt sich nicht auf Europa. Von den Landmarken megalithischer Monumentalarchitektur […] bis […] zur Reiseliteratur des Mittelalters und der frühen Neuzeit lassen Menschen einen wachen Sinn für und einen bewussten Umgang mit Landschaft erkennen […].
Seit der Tang-Periode ist etwa in China ein raffiniertes Genre von Landschaftsmalerei bekannt, dessen Bezeichnung übersetzt ungefähr „Berg-und-Wasser-Malerei“ bedeutet und damit diese Wahrnehmung schon Jahrhunderte vor Europas Einstieg in die frühe Moderne als strukturiert und modularisiert erkennen lässt.1 Die Anlagen lamaistischer Klöster und Heiligtümer in Tibet und der Mongolei waren stets reaktive Noten menschlichen Seins im Angesicht von überwältigenden Gebirgs- und Steppenlandschaften, die solcherart mit vergleichsweise minimalen Mitteln als nicht mehr natürlich, sondern menschlich gestaltet vermittelt werden konnten und damit ein allgemeines Landschaftserlebnis dort lebender Menschen spirituell überhöhten. Ähnliches gilt für das mittelalterliche Hochland von Iran und vergleichbare Landschaften entlang der zentralasiatischen Seidenstraße: Landschaften, die zunächst als menschenfeindlich, leer, gefährlich und vor allem Menschen überwältigend erscheinen mochten, konnten durch menschliche Kulturtätigkeit strukturiert und in Einzelelemente aufgelöst gestaltet – und vor allem: gedacht – werden.
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Dietz 1943.
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Der Versuch, solchen gestalteten Imaginationen von Landschaften in der vormodernen iranischen Kulturwelt auf die Spur zu kommen, fällt zunächst sehr schwer: Landschaftsbeschreibungen finden wir weder in literarischen oder sachlichen Texten noch in bildhafter Darstellung – zumindest scheint das auf den ersten (und auch noch auf den zweiten) Blick der Fall zu sein. Immerhin finden wir auf den vorislamischen Felsenreliefs des Wasserheiligtums von Tâq-e Bustân aus der Sasanidenzeit (3. bis 7. Jahrhundert) Darstellungen von Sumpf-, Wasser und Waldlandschaften – es handelt sich dabei jedoch um künstliche, also gärtnerisch gestaltete Landschaften:2 Inmitten wasserarmer oder -loser Steppen- und Wüstengebiete werden auf der Grundlage artifizieller Wasserzufuhr großräumige quadratische Territorien ummauert, die in der Mitte kreuzförmig von künstlichen Bächen durchschnitten und üppig bewachsen sind. Diese Areale sind groß genug, dass in den solcherart geschaffenen vier Zonen unterschiedliche Biotope eingerichtet wurden: So konnte etwa im Schilfbereich gefischt werden, im Dickicht waren Wildschweine zu jagen und im Waldstück warteten jagdbare mesopotamische Damhirsche auf den Abschuss. Derartige Landschaften entstanden üblicherweise auf fürstliches oder gar imperiales Geheiß und dienten hochgestellten Persönlichkeiten, oft den Herrschern selbst, als umfängliche Jagdgärten. Der Name für solche Einrichtungen geht auf das altpersische Wort paradaisa zurück (mittelpersisch pardês oder fardês, neupersisch fardis, arabisiert firdaus/ferdous), aus dem über griechische Vermittlung schließlich unser „Paradies“ wurde.3 Ein solches ‚Paradies‘ erwies sich aber konsequent besehen als eine Antilandschaft, ein menschlich-künstlerischer Entwurf von etwas, was im Iranischen Hochland in der Regel als landschaftsprägend gar nicht vorkam! Wir werden auf dieses Produkt kreativer Einbildung noch einmal zurückkommen. Zunächst ist eine Frage zu beantworten: Wer nahm in vormodernen Gesellschaften auf dem Iranischen Hochland überhaupt bewusst Landschaften wahr? Das waren in allererster Linie Reisende, darunter nicht nur, aber doch überwiegend Kaufleute, die entlang dessen, was wir seit dem 19. Jahrhundert populärerweise „die Seidenstraße“ nennen, in exakt organisierten Karawanenzügen große Distanzen zu überwinden hatten. Neben den Kaufleuten gehörten auch oft in großer Zahl reisende Pilger (etwa Muslime, die alljährlich nach Mekka und Medina auf der arabischen Halbinsel oder zu anderen heiligmäßigen Stätten reisten) zu dieser Gruppe. Einer anderen Kulturform der Landschaftswahrnehmung gehörten transhumante Viehzüchter an, die ihre Herden mit ihren weitläufigen Familienverbänden gleichfalls über große Distanzen von Weidestelle zu Weide2 3
Ghirshman 1962, 199. Galter/Käppel 2000.
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stelle begleiteten. Mit solchen nomadischen Landschaftswahrnehmern waren in kultureller Hinsicht militante Kampfverbände, Armeen etc. eng verbunden, rekrutierten sich doch Kombattanten im Iranischen Hochland bis weit ins anrainende Zentralasien hinein überwiegend aus mobilen Stammesverbänden. Die überwiegend arabisch schreibenden Geographen des islamischen Mittelalters beschrieben in der Regel im Sinne der ersten Gruppe – der kollektiven Karawanenreisenden (Kaufleute und Pilger) – Landschaften im Stil von Reiseführern.4 Die Salz- und Sandwüsten des Iranischen Hochlandes wurden von ihnen pragmatisch als zu bewältigende Leerräume präsentiert. Oft erweisen sich ihre Beschreibungen als Navigationsanleitungen, anhand derer Karawanenführer – ähnlich Schiffskapitänen – von bekannten sicheren Punkten zu anderen solchen entlang bekannter Routen vordringen konnten. Siedlungen und Städte und ihre jeweiligen Umgebungen nehmen in diesem Bild den Charakter von Inseln an. Pässe und Routenbeschreibungen gleichen navigatorischen Angaben über Passagen durch Untiefen, Strömungen und Riffe. Wichtigstes Beschreibungsmittel sind jedoch Daten, die sich aus der Vermessung der Landschaft ergaben, und diese Vermessung ging stets mit der imaginierten Gestaltung der Landschaft Hand in Hand. Im gegenwärtigen Persischen bedeutet das aus dem Arabischen stammende Wort manzel etwa „Wohnung“, ursprünglich verwies es auf in bestimmten Abständen angelegte Unterkünfte für Mensch, Ware und Tier, bedeutete also etwa so viel wie eine befestigte, permanente Raststätte, entsprach also unserer eingedeutschten Vokabel „Karawanserei“.5 Ein manzel galt aber auch als die Maßeinheit in Zeit und Raum für eine Strecke, die innerhalb eines Tages im Durchschnitt mit einer Karawane zurückzulegen war. Die dazugehörige kurze Maßeinheit war die schon den Griechen aus dem alten Iran bekannte Parasange (persisch farsach oder farsang) – eine Strecke von ca. sechs Kilometern. Noch heute werden Distanzen entlang – vor allem unasphaltierter – Seitenstraßen in der nicht modernisierten Landschaft bei Nachfrage mündlich in farsach angegeben, im Gegensatz zu Strecken auf wohlgebauten Straßen, dort gilt das Maß des Kilometers. Landschaftsabhängig wurde ein manzel in so und so vielen farsach definiert. Die jeweiligen Herbergen waren mit als dazugehörig gedachten topographischen Besonderheiten, landmarks, verbunden. Das so berechnete und vermittelte Wegenetz war eingebettet in ein – ich nenne das einmal ein „Inselwerk“ – von Siedlungen, also von Dörfern, Heiligtümern, Oasen, Städten. Die Nichtgestaltung wie auch die Gestaltung von Landschaft hing bis ins frühe 20. Jahrhundert von einem entscheidenden Moment ab: der An- bzw. Abwesenheit von Wasser. Als landschaftsprägend wurden in diesem Zusammenhang 4 5
Schwarz 1969. Persisch: kârvân, „Karawane“; sarây, „Schloss, Palast, großes Haus“.
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weniger natürliche Wasservorkommen als entscheidend wahrgenommen, sondern vor allem Wasser aus künstlichen Bewässerungsanlagen. Im Iranischen Hochland waren das bis weit in das heutige Afghanistan hinein, ja sogar noch im einstigen „Ost-Turkestan“ (der heutigen chinesischen Provinz Xinjiang) weit weniger aus Flüssen oder Bächen hergeleitete oberirdische Anlagen, sondern solche, die seit dem Altertum auf einem klassischen unterirdischen System von artesischen Brunnen beruhten: den sogenannten karêz- oder qanât-Anlagen.6 Entlang hoher, flach abfallender Berghänge wurden diagonal unterirdische Bewässerungskanäle angelegt, die aus Distanzen von manchmal über vierzig Kilometern tiefes Grundwasser leicht abschüssig aus verzweigten Arealen sammelten, das oft erst am Auslauf dieser Hänge, wo das Bergland in Steppe oder Wüste überging, zur kontinuierlichen, ganzjährigen Bewässerung landwirtschaftlicher Anlagen, Plantagen, Gärten oder Siedlungen, sogar ganzer Städte genutzt wurde. Auch die oben erwähnten ‚Paradiesgärten‘ beruhten so gut wie immer auf dieser Bewässerungsmethode. Mit diesem Wissen vor Augen verstehen wir die traditionelle Wahrnehmung von Landschaft gleich viel besser. Es gibt mehrere Begriffspaare, die der Vergegenwärtigung der Landschaft und ihrer Beschreibung dienen. Ein solches Begriffspaar ist eher vertikaler Natur: kuhestân versus dasht. kuhestân (von kuh, „Berg“) bedeutet Bergland oder Gebirge, und dasht benennt Flachgebiete, Ebenen. Solche Ebenen trennen Gebirgsketten voneinander – es gibt Gegenden in Iran, in denen man bis zu acht oder neun Bergketten hintereinander kulissenartig gestaffelt sehen kann;7 im Vordergrund nehmen wir diverse Braun- und Gelbtöne wahr, die gegen den Hintergrund zu zunehmend ins Violette übergehen. Auf persischen Miniaturen früherer Zeiten werden grundsätzlich Landschaften nicht dargestellt. Berge muten eher als vordergründige, zu Felsen erstarrte, bizarre Formen an, sind aber in der Regel in bunten Tönen zwischen braun, rötlich, gelblich, blau und violett gehalten – ein Reflex der ins Flächige umgesetzten, farbigen Tiefe des Raumes.8 Dieser Raum gilt aus persischer Innensicht traditionell als bi-âbân, wörtlich: „wasserlos“ oder genauer gesagt „unbewässert“. Dem biâbân-Gelände gegenüber steht der Begriff âbân oder (meistens) âbâd: „bewässert“ und dadurch kultiviert. Der Schlüsselbegriff ist dabei âb, das persische Wort für Wasser. Eine Unzahl von persischen Orts- und Städtenamen enthalten das Element -âbâd, das aus dem engeren persischsprachigen Bereich längst bis nach Anatolien, Zentralasien und in den indischen Subkontinent vorgedrungen ist: durch gezielte Bewässerung fruchtbar, bewohnbar und kultiviert gemacht. 6 7 8
Wulff 1968. Vgl. Rollinger 2014, 615. Gray 1961; zahlreiche Abbildungen können als Belege dafür herangezogen werden.
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In der unbebauten dasht-Landschaft gibt es drei Typen von biâbân-Wahrnehmungen: zum namenloses biâbân, grundsätzlich potentielles Bewässerungsgebiet. Als Nächstes: kavir. Dieses Gebiet besteht aus im Winter sumpfigem, vor allem aber versalztem Boden. In die Tieflagen einsickerndes Schnee- und Regenwasser aus den Bergen lässt tiefer gelegene Areale versumpfen, das Wasser löst die dort seit dem Erdmittelalter im Boden erhaltenen Salzmassen auf, und im Frühling zeichnet sich im Zuge der saisonalen Austrocknung über viele Quadratkilometer die Bildung von Salzkrusten ab. Dadurch entsteht der Eindruck zum Teil großflächiger Salzseen, über denen im heißen Sommer vielfältige Luftspiegelungen – Fata Morganas (persisch: sarâb) – zu sehen sind. Ihre Durchquerung kann (konnte) – im Falle ganzjähriger Versumpfung – sehr gefährlich werden. Wer von einem markierten Karawanenweg erst einmal abgekommen war, riskierte unmittelbar, im Salzsumpf zu versinken. Der sumpfigen Salzwüste, der kavir, steht der Begriff lut gegenüber: die wasserlose Sandwüste. Eine Variante ist die in Afghanistan anzutreffende rigestân, die Kies-Wüste. Hier liefen und laufen Reisende nicht Gefahr, zu versinken, aber sehr wohl zu verdursten. Die lut ist oasen- und wasserlos. Die Hitze des Sonnenlichts wird abgelöst durch einen meistens sternenklaren, grandios funkelnden Sternenhimmel bei Nacht. Die sternglitzernde Schwärze des Nachthimmels wird daher zuweilen nicht als lichtlose Dunkelheit perzipiert: die Farbe „pechschwarz“ (wie es bei uns hieße) ist in der persischen Dichtung des Öfteren mit dem Begriff „glänzend“ oder „strahlend“ assoziiert. Ein in der persischen Epik berühmter Rappe namens Rakhsh (der Glänzende) wird auf Miniaturen immer wieder als gesprenkelter Schimmel oder jedenfalls als hellglänzendes Pferd dargestellt!9 biâbân wurde wie gesagt als wasser- und mithin auch als leblos erfahren. Es handelte sich um eine ‚Un-Landschaft‘, die jedoch genau ausgemessen und dimensioniert war. Naturgefahren bestanden in kavir- und lut-Gebieten. Mithilfe ertüftelt angelegter, zum Teil Hunderte von Jahren alter qanât- (oder karez-) Anlagen konnte das biâbân-Gebiet exakt durch professionelle Reiseherbergen (manzel, kârvânsarây oder robât) topographisch und zivilisatorisch gegliedert werden. Die Räume dazwischen mochten oft sicherheitspolitische Risiken aufgewiesen haben: hier waren die Zonen von Wegelagerern, räuberischen Stämmen etc., die den Reisenden zu schaffen machten. Deshalb reiste niemand allein – Karawanen waren sicherheitsbedingte Zweckgesellschaften, deren Organisation und Ausrüstung nicht nur einem straffen Schema folgten, sondern auch einem ganzen Berufszweig Existenzberechtigung und regelmäßige Einnahmen garantierten.10 Für den Reisenden war die Durchquerung der Un-Landschaft keineswegs langweilig, wohl 9 Siehe z. B. Gray 1961, 98. 10 Fragner 1990.
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aber eine permanente Stress-Quelle: Überfallsverdächtige Passagen wurden durch verirrungsgefährdete Salzsümpfe und Trockenstellen abgelöst; erst der abendliche Anblick einer rundum begrünten, bewachten und wasserhaltigen Raststation – manzel – bot den Reisenden Entspannung am Ende des Tages. Umso stärker ist die ästhetische Wirkung unterbrechender Landmarken inmitten des biâbân-Geländes: das mochten heilige Stätten mit dazugehörigen Gärten oder Plantagen, auch Friedhöfen, sein, wohl auch Plantagen und Gärten ohne heilige Stätten, oftmals quadratisch angelegte kleine ‚Paradiese‘, begleitet von kleinen Dörfern und kleinsten, durch Bewässerung frischgrünen Beeten und Feldern. Der Kontrast von frischem Grün, blauem Himmel und braunvioletter Landschaft, womöglich von einem kleinen Wasserlauf durchflossen, schafft für die Reisenden – wenn auch nur kurzfristig – extreme Emotionen von Entspannung und Erlösung von innerer Beklemmung. Einige gnostische Religionsgemeinschaften verehren einzelne auffällige Elemente in der Landschaft (etwa Bäume, Quellheiligtümer, bestimmte Felsen und dergleichen mehr) spirituell und entwickeln dadurch eine besonders innige kollektive Beziehung zu den jeweiligen Landschaften – hier sind wir der im Titel apostrophierten „Landschaft in der Seele“ schon ganz eng auf der Spur.11 Solche Empfindungsbündel werden auch manifest bei der Annäherung an Städte und städtische Siedlungen. Zunächst verdichten sich die grünen Anbauflächen, Obstbäume mischen sich darunter, Dörfer scheinen gewissermaßen in Rufnähe zueinander angelegt zu sein. Vermehrt sind Heiligengräber, Wallfahrtsstätten und dergleichen sichtbar, oft an Friedhöfen gelegen, bisweilen durch Minarette markiert. Oft ist die Pflege von derlei Anlagen durch Stiftungsverträge (vaqf, Plural: voquf) seit alters her abgesichert. Die Dichte der Siedlungen nimmt zu – nicht alle Gebäude sind neu, oft werden ältere Lehmbauten nicht mehr renoviert und verfallen zu Ruinen; hingegen treten neue hinzu, Siedlungshügel aus früheren Zeiten werden neu überbaut, ständig wechseln Anzeichen von Neubau und Verfall, das Treiben bei tagheller Zeit wird immer emsiger. Die Stadtmauer mit ihren Toren markiert nicht unbedingt den abrupten Übergang von Nicht-Stadt zu Stadt – das Weichbild war schon längst Bestandteil des Stadtbegriffs! Max Webers Begriff des „Ackerbürgers“ ließe sich hier trefflich illustrieren.12 Dann aber die endgültige Urbanität: Spätestens bei der Durchschreitung eines Stadttores befinden sich die Reisenden inmitten von Straßen- und Gassen-Gewirren, und das nächste Ziel, ein mitten im Basar-Gelände gelegenes kârvânsarây, ist alsbald erreicht. biâbân, âbâd-Land, Grünes und Blaues sind nunmehr von ganz 11 Hier ist als Beispiel die Religionsgemeinschaft der Yazidis zu nennen, siehe Allison 2004. 12 Weber 2005, 48.
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anderen topographischen Gegebenheiten abgelöst, der Reisende scheint fürs Erste gewissermaßen endgültig am Ziel, bei sich selbst und hat die Landschaft erfolgreich hinter sich gebracht. Wollte er nur von einer Stadt in die andere reisen, so war die Ankunft ja tatsächlich ein endgültiger Zustand. Der imaginierte Prototyp des Reisenden war jedoch über viele Jahrhunderte hinweg eher der interurbane Überlandreisende, der idealtypisch von irgendwo in Westiran oder vielleicht sogar aus Bagdad oder einer der Hafenstädte am Persischen Golf über Schiras, Esfahan, von dort um die kavir – die Große Salzwüste – herum, über Maschhad und/oder Herat bis nach Buchara und/ oder Samarqand, von dort über den Tienschan nach Kaschgar, am Tarim-Becken vorbei oder gar durch dieses bis nach Ürümqi reiste und über Dunhuang schließlich im chinesischen Luoyang anlangte. Als gewiefter und professioneller Reisender wusste er natürlich Bescheid über das zu Erwartende (oder hatte es gar schon früher real erlebt) und hat sich – wie viele Reisende in unserer Welt – das Erwartete durch die Imaginationen eigenen Selbsterlebens im Nachhinein bestätigt. Was bleibt, ist der Umstand, dass sich die Un-Landschaft in darstellender, beschreibender oder schildernder Literatur nicht unmittelbar niedergeschlagen hat. Es ist auffällig, dass in phantastischen Geschichten arabischer und persischer Provenienz viel öfter das Motiv der bis an die Bilozität reichenden blitzartigen Bewältigung von Reisedistanzen anzutreffen ist als das der Beschreibung zeitraubender Raumbewältigungen. Solche ‚Blitzreisen‘ – ein konstruiertes Beispiel: jemand steigt in Damaskus in einen Brunnen, durchschreitet dort ein Tor, klettert auf der anderen Seite wieder aus dem Brunnen heraus und befindet sich unversehens in Samarqand – boten die Möglichkeit, sich viele Wochen von biâbân-Erfahrungen zu sparen. Sie waren wortwörtlich der Traum eines jeden professionellen Reisenden; da im Gegensatz zu buddhistisch und ostasiatisch überlieferten Idealvorstellungen der Weg eben nicht das Ziel war (im Gegensatz zu dem tatsächlichen Ziel), galt das Nicht-Erleben der Nicht-Landschaft als ein besonderer Wert. Aber ein weiteres Mal müssen wir, schon lange vor Hegel, aus dem Nichts ein Etwas, aus der Zurückweisung eine positive Erkenntnis ableiten. Das Bild des Reisens durch unvermeidliche Landschaften an nicht zu erreichende oder wenigstens alsbald wieder zurückzulassende Ziele wurde umgehend zu einer der zentralen Metaphern der Gottsucher, der Mystiker und Anhänger des islamischen Sufitums.13 Zu den schönsten Hervorbringungen der persischen Dichtung zählen lyrische Werke, deren Schöpfer vor allem die unabdingbare und kompromisslose Liebe zu Gott dadurch besingen, dass sie jegliche unabdingbare und kompromisslose Liebe 13 Hierzu zahlreiche Belege in vielen einschlägigen Studien, etwa von Meier 1943, Gramlich 1992 und Schimmel 2000.
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besingen. Unweigerlich sind alle diese Spielarten von Liebe nicht endgültig – sie sind wie die Reisen durch das biâbân-Gebiet: Sie versprechen dir die Vorstellung davon, am Ziel angelangt zu sein, aber tags darauf bist du wieder weg von der Zivilisation, in der Un-Landschaft, und musst deine Suche nach der angestrebten Vereinigung mit Gott erneut beginnen, musst alle Stationen – manzel – erneut durchlaufen und bist letztlich schon damit zufrieden, wenigstens in der ungeliebten Landschaft sein zu dürfen. Der unbedingt Liebende (ist er auf der Suche nach Gott oder ist Gott die Metapher für den oder die Geliebte? Wir wissen es bis heute nicht genau!) – dieser unbedingt Liebende hat die Reise zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Der Sufi darf nirgends Wurzeln schlagen, das wäre ja Verrat an seiner Liebe, die stets anderswo ist (vielleicht sogar Verrat an Gott selbst, der ja auch anderswo ist). Also ist die Landschaft – die vermeintlich gar nicht Wahrgenommene, die vermeintlich blind zu Durchquerende – das eigentliche Wesen seiner Existenz. In der sufischen persischen Dichtung, die Goethe so tief berührt hat, dass sie ihn zu seinem West-Östlichen Diwan inspiriert hat, wird die Landschaft nicht beschrieben – sie ist die zugrunde gelegte Grammatik, die Essenz dieser Texte. Und diese Texte sind wiederum die Voraussetzung für reale Landschaftserlebnisse, deren kulturgeschichtlicher Hintergrund alte vorislamische Wasserheiligtümer und derlei mehr gewesen sein mögen. Sie alle bilden ihrerseits die Voraussetzung dafür, dass aus der Flüchtigkeit des Rastens in unwirtlicher Umrahmung ein Lebensmuster geworden ist, das bis heute in der persischen Dichtung zutiefst wirksam ist.14 Wo finden wir die Anzeichen für dieses Landschaftserleben in der erdichteten Liebe? Es ist ihre – der Liebe – gedachte Flüchtigkeit, ihre Wandelbarkeit in einer nicht kontemplativ, sondern immer als vorbeiziehend erlebten Landschaft, die der Reisende durchziehen muss, ohne Gewähr auf einen sicheren Landeplatz. Im Vorfeld der Städte, außerhalb des gedachten Zugriffs des innerstädtischen Sittenwächter, trifft der flüchtige Reisende die/den flüchtige/n Geliebte/n, flüchtig ist die dort gewährte geheime Trunkenheit und das Liebesglück, tags darauf geht es schon wieder weiter: Du meintest, an Gott herangekommen zu sein, die Einheit mit ihm, die unio mystica, gefunden zu haben – nichts da: am nächsten Tag geht es wieder ins braun-gelb-violette biâbân, das so sehr eine Un-Landschaft ist und dennoch die Essenz deines strebenden Lebens ausmacht. Wir zweifeln daran, dass derlei Schwärmerei heute noch wirksam sein könnte? Forugh Farrochzâd, die wohl bedeutendste persische Dichterin des 20. Jahrhunderts, 1967 mit nur 33 Jahren gestorben, hat uns folgendes Gedicht hinterlassen: 14 Gelpke 1982.
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[…] In dieser Nacht geht eben jetzt etwas vorüber, Der Mond ist rot und verstört, Und über diesem Dach, das jeden Augenblick droht einzustürzen, Warten, als wär’n sie Trauergäste, schwarze Wolken Man möchte sagen – auf den Augenblick, da Regen fällt. Ein Augenblick Und danach – nichts. Hinter diesem Fenster zittert nun die Nacht, Und die Erde hält Inne in ihrer Kreisbewegung. Hinter diesem Fenster schaut ein Unbekannter Mich an und Dich. Ach Du, der Du grün bist von Kopf bis Fuß, Lege Deine Hände wie eine brennende Erinnerung in meine liebenden Hände, Und Deine Lippen, warm vom Sein wie das Gefühl, Vertrau’ den Zärtlichkeiten meiner liebenden Lippen an. Der Wind wird uns entführen – Der Wind wird uns entführen.15
Der Wind in der Landschaft Persiens – ich habe bisher noch gar nichts über ihn gesagt. Er ist ständig präsent, bildet im biâbân fortgesetzt kleine Windhosen, treibt geballte Dornbüschel vor sich her und hält die ganze Landschaft in Bewegung. Und er wirbelt den Sand auf, dass es plötzlich zwischen den Zähnen knirscht, die Sonne tagsüber fahl wird und der Mond in der Nacht ganz rot zu leuchten beginnt. Die letzte Zeile in Forughs Gedicht – „der Wind wird uns tragen“ – heißt auf Persisch: bâd mâ-râ xâhad bord. Forugh verlässt sich in diesem Gedicht darauf, dass der Wind die Liebenden schon tragen werde; das bedeutet aber auch, dass er sie forttragen, „entführen“ (nach Kurt Scharf ) oder verwehen werde – wohin auch immer in dieser zwar durch- und ausgemessenen, aber dennoch unberechenbaren Un-Landschaft des biâbân. Keiner weiß letztlich, wohin: in das frischgrüne âbâd, in das innerstädtische Gewirr, vielleicht sogar zu Gott? Oder sonst wohin und irgendwann. Nichtsdestoweniger soll der schwedische Entdeckungsreisende und Geograph Sven Hedin einmal gesagt haben, die Landschaft, die ihn in seinem Forscherleben am tiefsten beeindruckt habe, seien die Steppen- und Wüstengegenden Persiens gewesen – also eben jenes biâbân, von dem ich als Un-Landschaft gesprochen habe.16 15 Scharf 2005, 148–149. 16 Ich habe versucht, in Sven Hedins Beschreibung seiner Persien-Durchquerung (Hedin 1910)
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Literatur Allison, C.: Yazidis i. General, in: Encyclopaedia Iranica, online edition, 2004 (http:// www.iranicaonline.org/articles/yazidis-i-general-1; 17.8.2016) Diez, E.: Shan-Shui: Die chinesische Landschaftsmalerei, Wien 1943 Fragner, B. G.: Caravan, in: Encyclopaedia Iranica 4 (1990) 795–798 Galter, H. D./Käppel, L.: Paradeisos, in: Der Neue Pauly, Bd. 9, Stuttgart 2000, Sp. 306 Gelpke, R.: Vom Rausch im Orient und Okzident, Frankfurt/Berlin/Wien 1982 Ghirshman, R.: Iran. Parther und Sasaniden, München 1962 Gramlich, R.: Islamische Mystik. Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten, Stuttgart 1992 Gray, B.: Persische Malerei, Genf 1961 Hedin, S.: Zu Land nach Indien. Durch Persien, Seistan und Belutschistan, 2 Bde., Leipzig 1910 Meier, F.: Vom Wesen der islamischen Mystik, Basel 1943 Rollinger, R.: Aornos and the Mountains of the East: The Assyrian Kings and Alexander the Great, in: Gaspa, S. u. a. (Hg.): From Source to History: Studies on Ancient Near Eastern Worlds and Beyond Dedicated to Giovanni Battista Lanfranchi on the Occasion of His 65th Birthday on June 23, 2014, Münster 2014, 597–635 Scharf, K. (Hg.): Der Wind wird uns entführen. Moderne persische Lyrik, München 2005 Schimmel, A.: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 2000 Schwarz, P.: Iran im Mittelalter nach den arabischen Geographen. Neun Teile in einem Band, Hildesheim 1969 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft: die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte (Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe, hg. von H. G. Kippenberg, Bd. 22), Tübingen 2005 Wulff, H. E.: The Qanats of Iran, Scientific American 218/4 (1968) 94–105
einen konkreten Hinweis auf diese überlieferte Äußerung zu finden. Eine explizite Äußerung konnte ich jedoch nicht entdecken. Nichtsdestoweniger ist der Text voll von Belegen der überraschten, ja überwältigten Verblüfftheit dieses Reisenden, die ihn immer wieder in der Zeit seiner Durchquerung des biâbân ergriffen hat. Er verwendet übrigens diesen Begriff mehrmals in durchaus ähnlicher Weise, wie ich ihn hier interpretiert habe.
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Landschaft im Weltbild der alten Ägypter
„[…] der Teil Ägyptens, zu dem die Griechen segeln, [ist] für die Ägypter hinzugewonnenes Land […] und ein Geschenk des Flusses […]“.1 Diese Charakterisierung Herodots hat in verkürzter Form das moderne Ägyptenbild nachhaltig geprägt. Auch wenn der griechische Autor mit seinem Zitat eher die vorgeschichtliche Landschaftsentstehung – Ägypten als ein vom Nil aufgeschwemmtes Land – im Auge hatte, so kann es doch auch als eine Referenz auf die Abhängigkeit des Landes und seiner Menschen von der Fruchtbarkeit des Flusses verstanden werden.2 Sein Wasser und die Überschwemmungszonen, auf denen Feldfrüchte gedeihen können, prägen in vielen Teilen Ägyptens das Landschaftsbild; große, zumeist öde Wüstengebiete schließen sich daran an. Im Süden und in der Mitte des Landes begrenzen zusätzlich massive Bergketten westlich wie östlich des Flusses seinen Lauf (Abb. 1). Das so entstandene Niltal Oberägyptens läuft im Norden in eine breite Ebene aus, deren Form aus der Vogelperspektive gesehen in etwa dem umgedrehten griechischen Buchstaben Δ ähnelt, sodass diese Region als Delta bezeichnet wird. Ihr Charakteristikum war bis in das 19. Jahrhundert hinein die Sumpflandschaft mit Papyrus, Vögeln und anderen wilden Tieren.3 Bis in die Kunst der Zeitenwende diente eine idealisierte, somit ‚typische‘, ägyptische Landschaft als Pars-pro-toto-Schablone für die Wiedergabe des Nillandes: Der schon erwähnte Papyrus, das Krokodil, tierköpfige Gottheiten, der Ibis, die Schlange, Personifikationen des Flusses sowie Heiligtümer, Obelisken und Pyramiden sind als Motive mit eindeutigem Ägyptenbezug bekannt.4 Altägyptische Landschaftsbeschreibungen und -darstellungen haben aus geografischen Eigenarten dagegen andere Elemente extrahiert: Das Hauptmotiv ist der Nil und seine weitverzweigten Arme mit seinen Bewohnern. Ihn kontrastiert die Steppe mit den Wüstentieren. Als Lebens- und Arbeitswelt des Menschen wird das Fruchtland thematisiert. 1 2 3
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Herodot, Historien 2,5,1 (nach der Übersetzung von Brodersen 2005, 15. Alle im Folgenden nicht eigens kenntlich gemachten Übersetzungen altägyptischer Texte sind meine eigenen). Bichler 2000, 145–147. Eine bis heute lesenswerte, gut bebilderte Einführung in die Landeskunde stammt von Kees 1955. Das zweite Kapitel des Buches stellt die landschaftlichen Grundlagen der Kultur, das dritte Kapitel Städte und Landschaften des antiken wie modernen Ägypten dar. Andreae 2003, 78–109; Loeben/Wiese 2008.
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Abb. 1: Das thebanische Westgebirge bei Luxor, die angrenzende Wüste, der grüne Fruchtlandstreifen und der Nil mit der gegenüberliegenden Ostseite (© Orell Witthuhn).
Selten dagegen werden die Bergregionen Ägyptens in Bilder und Texte der alten Ägypter aufgenommen. Oasen wurden nach gegenwärtigem Forschungsstand im Landschaftskontext weder erwähnt noch abgebildet. Obgleich die alten Ägypter zahlreiche Elemente der Natur und speziell der ‚Landschaft‘ (im weitesten Sinne unseres modernen Begriffes) in die Bild- und Schriftsprache ihrer Kultur übernommen haben, ist in pharaonischer Zeit ein entsprechender Oberbegriff unbekannt. Hierbei dürfte sicher eine Rolle spielen, dass in der Vorstellungswelt der alten Ägypter die Natur nicht im Verhältnis zum Menschen und seinen Tätigkeiten kontrastiert gedacht worden ist (etwa Mensch und Technik versus Natur), sondern als eine von Gott bzw. den Göttern geschaffene Grundlage für die Existenz allen Lebens auf der Welt verstanden wurde. Landschaft ist somit immer Ausdruck eines göttlichen Gunstbeweises, da sie für die Menschheit einträglich ist. Hieraus allerdings zu folgern, im pharaonischen Ägypten sei dem Land ein Wert an sich abgesprochen worden, wenn es für seine Bewohner nicht nutzbar zu machen war, wäre in einer derart formulierten Ausschließlichkeit schwer zu belegen, auch wenn in den gebräuchlichen Nachschlagewerken diese These aufgestellt worden ist.5 Denn verschiedene Landschaftsdarstellungen und -beschreibungen aus der Reichszeit Ägyptens (von der formativen 5
Pitsch 1980 oder auch Schenkel 1982 sehen altägyptische Landschaftsbeschreibungen nie ohne praktischen Zweck und frei von jeglichen Emotionalisierungen.
Landschaft im Weltbild der alten Ägypter
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Phase bis zum Ende des sog. Neuen Reiches)6 geben durchaus Hinweise darauf, dass Naturszenerien als reines Sinneserlebnis durch die Bewohner der Pharaonenzeit verstanden wurde. Die heranzuziehenden Überlieferungen verteilen sich jedoch nicht gleichmäßig über alle Epochen und Landesteile Ägyptens hinweg. Stets entstammen die Quellen der Perspektive der herrschenden Elite, zudem sind sie oftmals stark fragmentarisch erhalten geblieben und ohne originären Kontextbezug. Fehlende textliche Erläuterungen oder schwer vorzunehmende Übersetzungen von Inschriften bei Bildzeugen vor allem des frühen 3. Jahrtausends v. Chr. lassen sich nur mithilfe von Indizien in theoretische Konstrukte übertragen, deren Aussagekraft entsprechend reduziert eingeschätzt werden muss. Aufgrund der Belege ist somit kein repräsentativer Querschnitt durch die pharaonische Zeit und Gesellschaft hindurch möglich und alle hier vorgestellten Schlussfolgerungen sind unter diesen Vorbedingungen gezogen worden. Natur, Landschaft und Landschaftselemente sind schon in den frühesten Zeugnissen der altägyptischen Kultur wichtige Elemente. So lautet etwa die Eigenbezeichnung des Pharaonenreiches „die beiden Länder“ (oder besser „die beiden Landesteile“), und der König nennt sich in einer seiner wichtigsten Titulaturen „König von Ober- und Unterägypten“. Wappenpflanzen symbolisieren diese Regionen: ägyptischer Lotus den Süden, der Papyrus den Norden. Diese Form der Abstraktion für Gebiete oder Regionen reicht durchaus weiter: Die Bildzeichen oder Hieroglyphen „Fluss“, „Kanal“, „Meer“ oder „Marschen“ können stellvertretend für den Fruchtlandstreifen und/oder den Nil stehen, gleichwie „Hügel“, „Berg“, „Gipfel“, „Gebirge“, „Steppe“ oder „Wüste“ in ihrer reduzierten Form die unwirtlichen Bergregionen Ägyptens oder das unkultivierte Ausland symbolisieren. Geografisch große Gebiete (teilweise mit eingeschlossen deren Fauna und Flora) erfahren so eine vereinfachte wie systematisierte Bildform und werden als eigenständig existierend klassifiziert; zudem werden durch die Belegung einzelner Landschaftselemente mit hieroglyphischen Zeichen und Begriffen diese Komponenten Bestandteil des Weltbildes der alten Ägypter. Nach einem der wichtigsten altägyptischen Schöpfungsmythen – der heliopolitanischen Kosmogonie – entwickelte sich die Welt durch immer feiner werdende Separationen von göttlichen Instanzen in eine Vielzahl von Bestandteilen. Alles Irdische hat demnach göttlichen Ursprung wie auch die Luft, das Wasser, das Land und der Himmel. Am Ende aller Abtrennungen stand die menschliche Inkarnation der jüngsten Götterdynastie, nämlich der Pharao als eine Art voll6
Die hier vorgestellten Bild- und Textbeispiele stammen aus der formativen Phase (ca. 3100– 2900 v.Chr.), dem Alten Reich (ca. 2600–2220 v.Chr.) und dem Neuen Reich (1539–1077 v.Chr.).
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kommener Regent.7 Nach dieser Vorstellung ist das Land einer der Bereiche, über den der ägyptische Herrscher unmittelbar verfügen kann. Durch die bildliche Wiedergabe von Landschaft nach altägyptischen Stilvorgaben demonstrierte der Pharao seinen Machtanspruch auf dieses Gebiet und rekurrierte gleichzeitig auf die nach seiner Vorstellung von Gott gewährte Gnade, diese Gegenden zu kennen und beherrschen zu dürfen. Deswegen werden Landschaftsdarstellungen bevorzugt auf Denkmälern mit königlichem Kontext abgebildet. Dies schließt ebenfalls die Göttertempel mit ein, in denen der König idealisiert als oberster Priester den Kultvollzug durchführte oder überwachte. Derartige Bilder sind jedoch nicht nur Abbildungen, sondern, da sie als Abbilder wirklicher Geschehnisse gedacht worden sind, zugleich wirkmächtig. Die Imagination eines altägyptischen Reliefs oder einer Malerei wurde auf eine Stufe mit der Realität gestellt. Mithilfe einer bestimmten Platzierung von Landschaftselementen auf einem Bild ist Natur geordnet worden,8 und kraft der Bilder konnte die Natur beherrschbar gemacht werden, wodurch sich der Mensch von Zwängen der Natur zumindest teilweise zu befreien vermochte. Darstellung und Nennung der beiden Landesteile Ägyptens demonstrierten stets den Machtanspruch des Königs auf dieses Gebiet. Der ägyptische Herrscher agierte als Herr des Lebensraums der ägyptischen Bevölkerung. Ober- und Unterägypten waren damit zugleich als politische Landschaft terminiert, da sie unter der Regentschaft und Verwaltung Pharaos standen; darüber hinaus waren sie die Heimat des gottgegebenen ägyptischen Königtums und hoben sich gegenüber anderen Regionen der Welt positiv ab, die – obwohl sie ägyptisch akkulturiert sein konnten (z. B. Nubien) – als minderwertiger Gegenpart ausgegrenzt waren. Personalisiert war dieser Gegensatz in der Person Pharaos: Dieser Herrscher war ohne sein Land nicht denkbar, ebenso wie das Land am Nil nicht ohne König hätte existieren können; die Identifikation des Königs mit Ägypten war eine unmittelbare Folge davon, und die Vollkommenheit des Regenten zog im gleichen Schritt ein von ihm regiertes, vollkommenes Land nach sich. Altägyptische Naturszenerie enthält also eine Idealvorstellung vom Leben, die der Wahrnehmende bei einer Betrachtung erfahren kann, wenn er sich von den Zwängen der Natur freigemacht hat. Zu einem vergleichbaren Ergebnis ist 2009 Kai Widmaier gekommen, der über einige ältere einführende Lexikoneinträge hinaus innerhalb des ägyptologischen Diskurses eine ausführliche Untersuchung zu dem Thema „Landschaft“ vorgelegt hat, in der er altägyptische Landschaftsbeschreibungen und die durch Texte evozierten Bilder zusammengestellt und analysiert hat. Dabei setzt er einen de7 8
Zivie-Coche/Dunand 2013, 213–267. Der bildlichen Ordnung entspricht im Schriftlichen die Klassifizierung von Zeichen, die im Hieroglyphischen durch Deutzeichen (sog. Determinative) geschieht.
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skriptiven geografisch-topografischen Landschaftsbegriff voraus und versucht über den ethischen Bildbegriff die Anschauung der alten Ägypter auf ihre Umgebung zu deuten.9 Im Rahmen der Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis hatte bereits zuvor Jan Assmann Landschaft als Gedächtnisort identifiziert. Für ihn ist sie ein „Mnemotop“, das als topografischer Text fungieren und semiotisiert werden kann.10 Assmann erweckt den Eindruck, als wären Landschaftsdarstellungen oder -beschreibungen per se funktionsgebunden, womit es dem zeitgenössischen Betrachter unmöglich gewesen wäre, den entsprechenden Bildern mit dem Ziel eines Sinneserlebnisses gegenüberzutreten, das Land also nicht in die lebenspraktischen Zusammenhänge eingebunden zu sehen, in die es verstrickt ist (wie dies als Definitionsvorschlag für „Landschaft“ seitens der Herausgeber dieses Bandes formuliert worden ist). Bereits in frühen Abhandlungen zu einer Definition von „Landschaft“ wie etwa bei Georg Simmel ist auf wesentliche Elemente eines Landschaftsverständnisses hingewiesen worden: Natur kennt keine Kunst oder Künstliches, nichts Ideelles und Geschichtliches. Erst durch die Betrachtung und die Reduktion der Natur auf einzelne, bestimmbare Elemente entsteht ein Landschaftsbild. Eckhard Lobsien und Petra Raymond haben diese Vorgaben weiter eingegrenzt: Sie setzen zudem voraus, dass sich der Mensch von der Natur befreit, indem er sie gefahrlos und beherrschbar macht. Natur wird demnach dann zur Landschaft, wenn sie ohne Zweckorientierung und Nutzanwendung (frei von Zwängen der Natur) des Betrachters als reines Sinneserlebnis aufgenommen und (mental) verarbeitet wird.11 Dieser Ansatz erscheint für eine Einbeziehung altägyptischer Bildwerke, die einer eigenen Kompositionsform und einer eigenen Bildsprache folgen, geeignet, ohne eine interdisziplinäre Betrachtung aufgeben zu müssen. Altägyptische Bilder verzichten auf Perspektive; häufig wird davon ausgehend postuliert, die Malerei und Reliefkunst der alten Ägypter sei unnatürlich gewesen und habe naturalistische Entwicklungen, wie sie beispielsweise in der griechischen Kunst nach 500 v. Chr. einsetzten, nicht gekannt oder in ihren Bildern nicht umset9
Widmaier 2009, 103–156 führt zwei Dutzend, teilweise stark fragmentierte, literarische Quellen vor. Darunter sind (chronologisch geordnet) die Erzählung von der Flucht des Sinuhe, der Nilhymnus, die Erzählung des Schiffbrüchigen, die Märchen des Papyrus Westcar, die Lehren des Cheti und des Merikare, das Gespräch des Lebensmüden mit sich selbst, die Prophezeiung des Neferti, Inschriften aus Privatgräbern der 18. Dynastie, der Große Atonhymnus, die Berufstypologien der Late Egyptian Miscellanies, ein fragmentarischer Landschaftstext, die Beschreibung eines Landguts, die Vergnügungen des Fisch- und Vogelfangs, der Moskauer literarische Brief, die Liebeslieder sowie die satirische Streitschrift des Papyrus Anastasi I und die Reiseerzählung des Wenamun. 10 Widmaier 2009, Assmann 2013, bes. 11 und 60. Von der Betrachtung einer Naturszenerie abzuheben sind generell die Forschungen zu „ritual landscapes“ wie Allen 2011 oder Aldenhoven 2014. 11 Simmel 1913, Lobsien 1981, Raymond 1993. Trotz eines interdisziplinären Anspruchs sind Förster u. a. 2012 keine definitorischen Bestimmungen zu entnehmen.
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zen können.12 Ziel altägyptischer Darstellungen – dies gilt für das Flachbild wie für die Rundbilder – ist jedoch eine möglichst vollständige Erfassung der abgebildeten Gegenstände. Perspektive setzt einen einzigen Standpunkt des Betrachters voraus, von dem aus ein Objekt betrachtet wird. Kann bei dieser Art der Sicht auf einen Gegenstand immer nur eine seiner Seiten fokussiert werden, zielt die altägyptische Darstellungsweise darauf ab, möglichst als Rundumschau Vorder-, Rück- und Seitenansicht zu erfassen. Perspektivischer Naturalismus darf daher von altägyptischen Bildern nicht erwartet werden. Diesem Wunsch nach Vollständigkeit ist ebenfalls geschuldet, dass Bildzeichen – die Hieroglyphen – in ägyptische Kunstwerke integriert werden. Sie können dabei neben einer Szene stehend etwa das Abgebildete schriftlich erläutern oder dargestellte Personen benennen, es ist ihnen aber auch möglich, selbst Teil der Szenerie zu sein, dabei aber nicht nur als Bildbestandteil gesehen zu werden, sondern auch mit weiteren Elementen in Aneinanderreihung komplexe Abläufe satzartig wiederzugeben. Je nach Bildungsstand wird der altägyptische Betrachter daher mehr oder weniger in einem Bild erkannt haben. Landschaftsdarstellungen ohne Kontext sind aus dem alten Ägypten unbekannt. Sehr häufig dient die Wiedergabe einer Region als Folie für in das Bildmotiv integrierte Handlungen. Hierunter fallen z. B. die Szenen des sog. Fischund Vogelfangs, des Fischestechens oder der Tierjagd in der Wüste, die häufig in Gräbern hochstehender Privatpersonen angebracht wurden, wobei Nil- oder Steppendarstellungen lediglich als Ortscharakteristika zu verstehen sind. Als konkrete Ortsangaben fungieren die Landschaftsdarstellungen in den Kriegspanoramen oder bei der Wiedergabe fremder Länder und Völker, die in der Epoche des Neuen Reiches an Tempelwänden angebracht worden sind. Breiten Raum nehmen Abbildungen rund um die Kulturlandschaft Ägyptens ein. Frühester Beleg ist die Darstellung des von Bewässerungskanälen durchzogenen Nillandes auf dem Keulenkopf des präformativen Königs Skorpion (II.) sowie die Szenen des Ackerbaus, der Weinlese und der Viehzucht über alle Epochen hinweg auf königlichen wie privaten Denkmälern. Naturszenerie mit Landschaftselementen einschließlich Tierleben hat Eingang beispielsweise in den Jahreszeitenzyklus der sog. Weltkammer des Pharaos Ni-User-Re aus der Zeit des Alten Reichs oder in die Palastdekoration Amarnas der Epoche des Neuen Reichs gefunden.13 Zu Landschaftserwähnungen über die oben aufgeführten Motive hinaus im Kontext königlicher Textquellen (ausgenommen hiervon sind reine Ortsbezeichnungen) 12 Schäfer 1930, 88–99. 13 Transformierte Landschaften, z. B. der Tempel der Hatschepsut aus der Epoche des Neuen Reiches als Westberg von Theben, aus dem die Göttin Hathor als Kuh hervortritt, oder fiktiv-mythologische Landschaften wie Jenseitsdarstellungen oder heilige Orte bleiben bei dieser Betrachtung weitgehend unberücksichtigt.
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Abb. 2: Umzeichnung der Szene auf dem Keulenkopf des Königs Skorpion (II.), um 3100 v. Chr., Ashmolean Museum, Oxford: AN1896-1908.E3632 (aus Ciałowicz 2001, 202) mit Angabe der Hieroglyphen, bildhaften Zeichen, Ideogramme und Piktogramme.
werden im Folgenden die Beischrift zur Punt-Expedition der Hatschepsut (um 1470 v. Chr.), der große Aton-Hymnus (um 1350 v. Chr.) und die Reiseerzählung des Wen-Amun (um 1075 v. Chr.) herangezogen. Das früheste Bildzeugnis mit Wiedergabe einer Landschaft zeigt den Herrscher Skorpion (II.) im Kontext der Wasserbewirtschaftung Ägyptens. Die Motive sind in erhabenem Relief auf einem Keulenkopf (Ashmolean Museum, Oxford: AN18961908.E3632) aufgebracht worden und können aufgrund der Königsnennung auf etwa 3100 v. Chr. datiert werden. Fundort ist der heilige Bezirk von Hierakonpolis, des religiösen und politischen Zentrums des prähistorischen Oberägypten. Der Bildteil erstreckt sich über drei Register mit teilweise schmaleren Zwischenregistern. In der mittleren und unteren Bildsequenz sind der Nil bzw. Flussarme oder -kanäle, Pflanzen, Menschen bei verschiedenen Tätigkeiten und in überproportionaler Größe der Pharao zu sehen (Abb. 2). Die einzelnen Bildkomponenten lassen sich nach den oben skizzierten Voraussetzungen für Bild- und Schriftabhängigkeit in verschiedene Kategorien unterteilen:14 Deutlich 14 Vgl. z. B. Baumgärtel/Morenz 1998, Ciałowicz 2001, 197–202 und Morenz 2004.
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aus dem Bildkontext herausgehoben erscheinen 1. die Hieroglyphen als abstrakte Zeichen („Stern“ als Symbol des Königs, „Skorpion“ als Herrschername), die unmittelbar vor dem Pharao angebracht sind und seinen Titel und Namen wiedergeben. Als realweltliche Gegenstände in die Szenerie eingepasst sind 2. Ideogramme (kastenartige Tempelbauten, Wedel) als konkrete Bildzeichen sowie 3. bildhafte Zeichen („Nil“ bzw. „Flussarm oder -kanal“, „Papyrusdickicht“, „Hacke“), die übertragen gebraucht werden können („Nil“ wird durch Umformung zu dem Oberbegriff „Wasser“, „Papyrusdickicht“ wird durch Umformung zur Kennung von „Unterägypten“, „Hacke“ wird durch Umformung zur Tätigkeit „graben/gründen“) und sämtlich Eingang in den hieroglyphischen Kanon der alten Ägypter finden. Komplettiert werden die Bildfolgen durch 4. Piktogramme („Mann mit Schaufel“, „Mann mit Korb“, „König mit Hacke“, „Männer mit bloßen Händen am ‚Nil‘ bzw. ‚Flusskanal‘“). Ausgewählte realweltliche Gegenstände (Wasser, Personen, Pflanzen, Werkzeug, Gebäude) und Handlungen (Grabarbeiten) oder Phänomene (Wasserbewegung) werden aus ihrer natürlichen Umgebung herausgenommen, stilisiert wiedergegeben und in ihrer Anordnung neu konstruiert (Standlinien als Zeichen für Staffelung, oben und unten als Zeichen für rechts und links). Der abzubildende Raum wird dadurch neu strukturiert, sodass als unwesentlich eingeschätzte Objekte der realen Welt unabgebildet bleiben und der Aktant (der König) seiner Bedeutung für die abgebildete Handlung entsprechend als Hauptperson größer in Szene gesetzt wird als die ihn umgebenden Menschen und Gegenstände. Die stilisierten Wiedergaben und ihre Anordnung folgen einem einheitlichen Konzept und schaffen so Regeln, nach denen die reale Welt in eine Abbildung zu übertragen ist. Deren Kenntnis und Aneignung stellen einen kulturellen Rahmen dar, der für seine Anwender/Mitglieder identitätsstiftend sein dürfte. Die Sicherung der Kontinuität des so entstandenen Kanons ist eine der Aufgaben des Initiators (des Königs). Wie durch Reduktion, Stilisierung und Umstrukturierung der König das Bild der Landschaft, in der er sich bewegt, neu geschaffen und organisiert hat, gibt das Relief diesen König wieder, wie er ebenso die realweltliche Natur umgestaltet und neu organisiert, um sie gefahrlos und beherrschbar zu machen. Er ist damit quasi Herr der Natur und zugleich Herr der Abbildung dieser Natur. Das Relief auf dem Keulenkopf zeigt eine durch Reduktion idealisierte Landschaft, die Vorgaben zu Darstellungsprinzipien und Schriftentwicklung enthält. Nach Auskunft der Hieroglyphen und der bildhaften Zeichen steht dem Betrachter König Skorpion (II.) u. a. bei einer Handlung an einem Kanal in Unterägypten gegenüber; weitere Interpretationen sind unsicher, etwa ein Besitzanspruch auf das kultivierte Land durch Landschaftsabbildung oder die Abbildung einer politischen Landschaft, in der das kultivierte Land als Herrschaftsbereich angesehen wird. Hierbei kann ebenfalls eine Rolle spielen, dass die
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Landschaft geformt wird, um die Natur gefahrlos und beherrschbar zu machen und die Prosperität der Landschaft z. B. durch Intensivierung der Landschaftsnutzung zu erhöhen. Eine weitere Deutung kann in der Erschließung des Landes durch Wasserwege liegen. Wenn auch der angedachte Betrachter der Bildszene unbekannt bleibt – das Kalksteinobjekt ist mit einem Durchmesser von 30 cm zwar um das Vierfache größer als zu Kampfzwecken eingesetzte Keulen, wird aber aufgrund seiner wahrscheinlichen Aufstellung in einem Tempel und der dennoch vergleichsweise geringen Figurenhöhe kaum eine große Außenwahrnehmung erreicht haben – und es unklar ist, ob die Keule als ein Geschenk an einen Gott den menschlichen Augen entzogen bleiben sollte, so sind die zuvor skizzierten Ausführungen zu Reduktion, Stilisierung und Umstrukturierung davon dennoch unberührt, weil diese Prinzipien in der altägyptischen Malerei und Reliefkunst fortgeführt wurden. Der Landschaft sowie ihrer Flora und Fauna wird mit der Jahreszeitenwiedergabe in der Weltkammer des Ni-User-Re breiter Raum gewährt. Dieser um 2450 v. Chr. entstandene Bildzyklus zeigt die Steppen, Bergregionen und Fluss täler Ägyptens mit Spezifika verschiedener Zeitabschnitte: der Erntezeit (im Sommer), der Überschwemmungszeit (im Spätsommer/Herbst) und der Wachstumszeit (im Winter/Frühling).15 Ebenso wie auf dem mehr als 600 Jahre älteren Keulenkopf des Skorpion (II.) begegnen dem Betrachter klar gegliederte, geordnete Landschaften; sie sind wiederum stilisierte und kanonisierte Wiedergaben einer realen Welt, jedoch mit deutlich reduzierter Verwendung von bildhaften Zeichen. In die komplexe Landschaftswiedergabe eingebunden sind Arbeitsszenen (z. B. Fischen), Gebirge (am Rand des bewohnbaren Landes) und wenigstens ein benanntes Heiligtum. Vor allem in der Darstellung des Nils mit seinen Uferpflanzen sowie nistenden Vögeln und Fischen im Wasser erreicht der Jahreszeitenzyklus eine neue Qualität (Abb. 3): Durch die gestaffelte Anordnung einzelner Gewächse wird deren Vielzahl ausgedrückt und der Eindruck eines Gebüsches erweckt; Staffelung als Merkmal von Vielzahl orientiert sich dabei an der Pluralbildung von Substantiven, die wenigstens dreifache Nennung erfordert, sodass in altägyptischen Bildern ein Motiv mindestens dreimal auftauchen sollte, um eine Fülle anzugeben, bzw. neunmal (3 x 3), um eine unüberschaubare Menge bzw. Vollständigkeit abzubilden. Im Jahreszeitenzyklus ist dieses Prinzip weitergeführt und gleichfalls auf den Flusslauf übertragen worden: Um viel Wasser, also ein bewegtes Gewässer, anzugeben, sind die als Symbol für „Nil“ oder „Kanal“ gebräuchlichen Zickzacklinien dicht aneinander gerückt; ruhendes Gewässer zeichnet sich als Gegensatz hierzu durch eine weite, freie Staffelung aus. Die Gegenüberstel15 Edel 1961–1963.
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Abb. 3: Darstellung des Nils mit seinen Uferpflanzen und nistenden Vögeln (oben) sowie Fischen (unten) aus der Weltkammer des Sonnenheiligtums des Königs Ni-User-Re (um 2450 v. Chr.) (aus Edel 1961, Abb. 4, Ausschnitt Abb. 13).
lung eines ruhenden und eines bewegten Motivs findet im Papyrusdickicht der Weltkammer eine weitere Parallele: Nistende wie auffliegende Vögel beherrschen den Raum über den Wildpflanzen des Sumpfes. Ebenso wie das ruhende und fließende Wasser lassen sich die Vogelschwärme nicht auf das rein Sichtbare beschränken, sondern schaffen zudem eine Imagination von Geräuschen, einerseits des Rauschens des Flusses, andererseits des Schlagens der Flügel, der Vogellaute und des Widerhalls in den Stängeln der Papyruspflanzen, aus denen sich die Tiere erheben. Das zuvor angesprochene Prinzip einer möglichst vollständigen Darstellung wird in der Weltkammer noch um den Versuch einer erdachten Tonebene ergänzt. Stellt man die Reliefs der Weltkammer neben die des Keulenkopfs des Skorpion (II.), stellt sich unmittelbar die Frage nach einer Handlung bzw. dem Aktanten eines Geschehens. So interpretatorisch vielschichtig die Ausdeutungen für die Szenerie im Kontext des Königs Skorpion (II.) auch sind, tritt der Herrscher aufgrund seiner Größe und bedingt durch die Hacke als Werkzeug doch unbestreitbar als Protagonist des Bildes auf. Eine handelnde Person in der Weltkammer des Ni-User-Re ist im Gegensatz dazu nicht auszumachen. Die Bildsequenzen sind
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Abb. 4: Fußboden im Palast zu Amarna: Teich, von Wasserpflanzen und Vögeln umgeben (aus Blackman 1926, 65, Abb. 20).
durchzogen von Eindrücken der Landschaft mit ihrer Fauna und Flora, unterbrochen von bukolisch anmutenden Hirtenmotiven, Fischerdarstellungen und Ernteszenen, die in stereotyper Verwendung an anderen Stellen Eingang beispielsweise in die Grabdekoration hoher Beamter oder Würdenträger gefunden haben. Die Besonderheit der Bilder liegt in den Miniaturen von z. B. kalbenden Gazellen oder werfenden Löwinnen, der Ankunft von Zugvögeln und Vergleichbarem, die die jeweiligen jahreszeitlichen Besonderheiten zum Ausdruck bringen. Die Natur selbst tritt damit als Taktgeber sich stetig verändernder Lebensverhältnisse auf, und auf den Darstellungen wird die Abhängigkeit aller Lebewesen auf der Welt von dem Wirken der Schöpfung festgehalten. Selbst wenn ein im Hintergrund bestimmender Gott gedacht werden könnte, so sparen die Reliefs ihn aus und setzen einzig die Landschaft als bestimmendes Moment in Szene. Landschaft als Teil einer Schöpfung, die vom Menschen losgelöst ihr eigenes Wirken entwickelt hat, ist im 14. Jahrhundert v. Chr. nochmals bildlich in der Palastdekoration von Tell el-Amarna thematisiert worden (Abb. 4). Der reiche Bilderschatz, vor allem bestehend aus farbigen Vögeln, verschiedenen Pflanzen und Bassins mit unterschiedlichen Arten von Fischen, bildet die ebenfalls in der amarnazeitlichen Literatur anzutreffende Schilderung der von Gott bereitgestellten, vollkommenen Welt ab.
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Alles Vieh ist zufrieden mit seinem Futter, da die Bäume und die Gräser gedeihen. Die Vögel fliegen aus ihren Nestern auf, sodass ihre (erhobenen) Flügel wie im Lobpreisgestus für deinen (göttlichen) Schöpfergeist sind. Alles Wild springt auf den Läufen umher, alles, was fliegt und flattert, lebt, […] die Fische im Strom schnellen umher vor deinem Antlitz, denn deine (Sonnen-)Strahlen reichen bis auf den Grund des Meeres […],16
heißt es ab Zeile 73 im großen Amarna-Hymnus, der explizit das Erscheinen des Sonnengottes Aton feiert und die unmittelbare Wirkung auf den von ihm beschienenen Kosmos preist, zu dem Syrien, Nubien wie Ägypten gehören. Er ist dem ägyptischen Herrscher durch Aton übereignet worden, sodass diese Welt durch Pharao beherrscht wird und für den Menschen weitgehend gefahrlos ist: „Einen jeden Einwohner hast du an seinen (rechten) Platz gesetzt und sorgst für seinen Unterhalt, jeder Einzelne hat seinen Teil Nahrung“. Diese nahezu paradiesischen Zustände, wie sie in der Lobpreisung auf Aton festgehalten sind, korrespondieren mit Einzelszenen der Palastdekoration, wie mit den auffliegenden Vögeln, der üppigen Vegetation oder dem Fischreichtum. Einen völligen Gegenentwurf dazu zeichnen die Beschreibungen von Landschaft in der Klageliteratur – deren Datierungsansatz reicht von der Wende des 3. zum 2. Jahrtausend v. Chr. bis in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. –, die vom Verlust der Herrschaft des Menschen über die Natur berichtet, inhaltlich vom Austrocknen des Flusses und vom Verfall der Tempel und Gräber. Diese apokalyptisch anmutenden Schilderungen haben im Gegensatz zu dem Hymnus an den Sonnengott keine erkennbare oder auch nur mögliche Entsprechung in einer altägyptischen Bildsequenz oder motivischen Überlieferung. Entstanden sollen sie aus einer Gottesferne heraus sein, in der der König als regelndes Element nicht mehr existierte und so die Götter keinen Kult mehr empfingen, um ihrerseits die kosmische Ordnung aufrecht erhalten zu können. Themen wie diese, die nicht einer Idealvorstellung von Welt entsprachen, wurden von einer Bebilderung ausgenommen, sodass eine ungebändigte Natur, über die der altägyptische Mensch die Kontrolle verloren hatte, gleichzeitig zu einem Verlust der Abbildbarkeit dieses Szenarios führte, da der hierfür nötige Aktant – der Pharao – aus dem altägyptischen Weltbild verschwunden war – und mit ihm der mit ihm verbundene, verbindliche Bildkanon. Mit dem Erstarken der ägyptischen Dynastien ab 1500 v. Chr. erweiterte sich auch der Landschaftsbegriff für die alten Ägypter. Dank mehrerer militärischer Erfolge wuchs der pharaonische Einflussbereich weit über die Ländereien am Nil 16 Hieroglyphischer Text nach Davies 1908, Taf. 27, Z. 5–6.
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hinaus: im Norden bis in die heutige Südtürkei, im Süden bis tief in den heutigen Nordsudan und im Osten bis zum sagenhaften Land Punt, welches vielleicht im nordöstlichen Somalia am Horn von Afrika lag. Die fremden Regionen wie die darin lebenden Menschen, die Tier- und die Pflanzenwelt traten zu bereits etablierten, altägyptischen Bildmotiven hinzu. Alle außerägyptischen Darstellungen stimmen darin überein, dass sie keine Idealvorstellung von Landschaft zu vermitteln, sondern in Art einer Enzyklopädie Eigenheiten der den alten Ägyptern unbekannten Völker festzuhalten suchen. Auf dem Tempelrelief der Königin Hatschepsut vor ihrem Gedächtnistempel in Deir el-Bahari (um 1470 v. Chr.) zeigt ein Relief den Abtransport von Myrrhebäumen, die nur im Lande Punt beheimatet waren, sowie das Gelände, auf dem die Bäume wuchsen und schließlich die auf Stelzen errichtete Wohnbebauung der Einwohner des Landes. Ähnlich aufgebaut sind die etwa 20 Jahre jüngeren, vom nachfolgenden Pharao Thutmosis III. in Auftrag gegebenen Bildszenen zu seinen Feldzügen nach Syrien-Palästina, die den sog. Botanischen Garten im Tempelkomplex von Karnak bilden. Detailgetreue Abbildungen von Tieren und Pflanzen des syrischen Gebiets, zum Teil mit Aufrissreliefs von Blüten oder Samen, stellten die Fremdartigkeit der neu eroberten Gebiete zur Schau, manifestierten aber zugleich auch den Anspruch des ägyptischen Herrschers, durch die Sichtbarmachung der innersten Bereiche des Landes es genauestens zu kennen und damit die legitime Herrschaft darüber ausüben zu dürfen; ähnlich verhielt es sich im Übrigen mit afrikanischen Landstrichen. Sowohl die Königin Hatschepsut wie der Pharao Thutmosis III. geben in ihren Rechenschafts- bzw. Feldzugsberichten an, einen göttlichen Befehl umgesetzt zu haben.17 So lautet der von Hatschepsut überlieferte Auftrag: Ihre Majestät (Hatschepsut) erreichte den Palast und erhielt vom Gott persönlich (folgende) Anweisung: „Erkunde die Wege nach Punt, öffne die Straßen zu den Myrrhe-Terrassen und sende eine Expedition per Schiff aus, um die exotischen Waren des ‚Gotteslandes‘ für den Gott herbeizubringen, der Dir Deine Vollkommenheit verliehen hat.“18
Die Götter übergaben damit der ägyptischen Herrscherin bzw. dem Pharao die Kontrolle über fremde Gebiete, um die unkultivierten Regionen zu ordnen und damit – wie die Natur und die Landschaft – für Ägypten beherrschbar und in der endgültigen Konsequenz gefahrlos zu machen. Damit standen sie für eine Ausbeutung durch die pharaonischen Eliten zur Verfügung und wurden durch ihre 17 Sethe 1906, 315–354, Sethe 1907, 645–756. 18 Hieroglyphischer Text nach Naville 1898, 83–84.
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neu gewonnene Beziehung zu Ägypten als Kulturraum anerkannt und schließlich aufgewertet. Landschaften, die als Synonym für die kulturelle Annexion und die Herrschaft über Mensch und Natur der eroberten Gebiete stehen, werden dadurch Teil eines historischen Narrativs des pharaonischen Weltbildes. Die Anbringung derartiger Szenen erfolgte ausschließlich in Tempeln der Götter, da der Gott als Initiator der Eroberungen galt. Die in diesem Kontext abgebildeten Menschen handeln mittelbar auf Befehl eines Gottes, den Pharao verkündet hat. Wenn z. B. in den Darstellungen der Punt-Expedition augenscheinlich Soldaten Aktanten des Geschehens sind, die Bäume ausgraben und verschiffen, so ist durch die Textbeischrift deutlich die ägyptische Herrscherin auf Gottes Befehl hin als Initiatorin der Reise in das ferne Land benannt. Selbst einem Leseunkundigen aus dem alten Ägypten wird klar gewesen sein, dass Soldaten nicht in Eigeninitiative eine derartige Expedition unternehmen würden. Durch die Auswahl der beteiligten Personen sind die hierarchischen Ebenen deutlich im Bild vorgegeben. Machtbeweis durch Naturbeherrschung kommt in einem anderen Kontext rund 500 Jahre später in der Reiseerzählung des Wen-Amun nochmals vor: Der ägyptische Reisende ist auf der Suche nach ihm gestohlenem Gold mit seinem Schiff in Byblos gestrandet und bittet den dortigen Stadtvorsteher um Hilfe. Die hohe Stellung des syrischen Beamten wird durch dessen Verhältnis zur Landschaft unterstrichen: „Ich traf ihn (den Stadtvorsteher von Byblos) in seinem oberen Dienstraum sitzend an, sein Rücken einem Fenster zugewendet: Die Wellen des großen syrischen Meeres schlugen gegen seinen Hinterkopf “ (Papyrus Pusch kin 120 1,48–50). Der unmittelbare Wirkungsbereich des Stadtvorstehers von Byblos, nämlich sein Arbeitszimmer, öffnet den Blick auf das ansonsten ungebändigte, gefährliche Meer, und der Beamte lässt dessen Kraft und Ungestüm in einer für ihn ungefährlichen Gischt auslaufen. Naturbeherrschung ist demnach nicht nur im altägyptischen Verständnis, sondern auch für die Bewohner der Levante ein Ausdruck von politischer Macht. Landschaften im Privatgrab sind seit 2600 v. Chr. belegt und durch Grabinschriften oder Jenseitsbeschreibungen kontextualisiert. Beliebte Motive sind beispielsweise das Harpunieren von Fischen oder Nilpferden, der Vogelfang und der Grabteich als Refugium sowie die Jagd auf Wüstenwild. Das Grab im Alten Ägypten wird als Schwellen- oder Übergangsbereich in jenseitige, dem menschlichen Handeln nur bedingt zugängliche Räume interpretiert. Die Grabdekoration ist dabei fakultativ; sie entwickelt sich im Alten Reich von einer Kommentierung der im Grab vorhandenen Installationen zu einer eigenständigen Komponente. Landschaft als Teil der Grabdekoration wird in ihrer Komplexität reduziert und mithilfe von stilisierten Formen (oder Symbolen) konstruiert. Die Unterwerfung unter diesen gesellschaftlich konstruierten Formenzwang bezeugt die Zugehörig-
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Abb. 5: Totenfeier im Garten (aus Kees 1933, Abb. 8).
keit des Verstorbenen zu einer bestimmten sozialen Schicht im ägyptischen Beamtenapparat. Der Grabherr übernimmt regulierende Tätigkeiten (wie die oben erwähnten Jagdszenen dies ausdrücken), indem er Natur durch Jagd gefahrlos und durch Aufsicht beherrschbar macht. Allerdings reicht für den Grabherrn seine Welt nur soweit, wie er sie beeinflussen kann; für den König ist die Natur unbeschränkt und erfüllt die gesamte göttliche Welt. In den Grabtexten kommen aber noch weitere Aspekte für die Darstellung von Landschaft in privaten Grabreliefs in Betracht: das Lustwandeln und das Sich-Entspannen. So hält beispielsweise der Inhaber des thebanischen Grabes 82 fest: „Amen-em-heb durchzieht die Wüstentäler, durchstreift die Berge und ergeht sich schweifenden Blickes beim Wildschießen.“19 Die Vorzüge der Sümpfe erwähnt Amen-em-heb, der Besitzer des thebanischen Grabes 85: „Der Geliebte der Feldgöttin, der Gefährte der Herrin des Fisch- und Vogelfangs durchzieht die Überschwemmungslande, durchstreift die Röhrichte und vergnügt sich von Herzen am Fischestechen in den Hinterwassern.“20 Ein Moment der mentalen Rast verbindet sich mit dem Besuch am Grabgarten (Abb. 5): „Ruhe finden im westlichen Garten, alle (frischen) Pflanzen und Früchte sehen“, wie es Min in seinem thebanischen Grab 109 formuliert,21 oder nochmals aus dem thebanischen Grab 85: „Sich vergnügen im westlichen Feld, an seinem See hin- und hergehen. Das Gemüt unter seinen Sykomoren kühlen, […] süßes Wasser trinken aus seinen Vogelteichen, Lotus riechen, Lotusknospen 19 Sethe 1909, 1062, Z. 4–6, um 1440 v.Chr. 20 Sethe 1907, 917, Z. 14–17, um 1425 v.Chr. 21 Sethe 1909, 980, Z. 6–7, um 1440 v.Chr.
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pflücken seitens des Amen-em-heb.“22 Spätestens um 1425 v. Chr. ist die Landschaftsdarstellung in Privatgräbern des Neuen Reiches mit einem Sinneserlebnis verbunden, das mental verarbeitet worden ist. Blicken wir abschließend noch einmal auf jene Kriterien, die von der modernen Wissenschaft für eine Definition von „Landschaft“ in altägyptischen Darstellungen aufgestellt worden sind: 1. eine Idealvorstellung von Natur, 2. die Befreiung des Menschen von den Zwängen der Natur, um sie beherrschbar und gefahrlos zu machen, 3. ein Landschaftskontext ohne Zweckorientierung und Nutzanwendung und 4. die Landschaftsbetrachtung als Sinneserlebnis, das mental verarbeitet werden kann. Wie oben dargelegt, werden alle vier Aspekte erstmals in dem Bilderzyklus der Weltkammer des Pharaos Ni-User-Re (um 2450 v. Chr.) erfüllt, bleiben aber für weitere ägyptische Landschaftsdarstellungen im königlichen Kontext bis auf die Palastdekoration von Tell el-Amarna (um 1340 v. Chr.) ohne weitere Bezeugungen. Literarisch taucht um 1075 v. Chr. ein Reflex in der Reiseerzählung des Wen-Amun auf. Da die Bildmotive auf dem Keulenkopf König Skorpions (II.) zweckorientiert sind und kein Sinneserlebnis erkennen lassen, muss dieses Denkmal als Vorstufe zu einer Landschaftsdarstellung in Rahmen der obigen Definition angesprochen werden. Außerägyptische Landschaftsdarstellungen wie z. B. die Szenen zur Punt-Expedition vom Terrassentempel der Hatschepsut (um 1470 v. Chr.) scheinen eine dokumentarische oder enzyklopädische Ausrichtung zu haben und brechen aus dem obigen Definitionsbereich aus. Dem gegenüber passen die Landschaftsbilder aus privaten thebanischen Gräbern ab der Zeit um 1425 v. Chr. – auch dank der textlichen Ausführungen – mit allen Aspekten in den vorgeschlagenen Definitionsbereich.
Literatur Aldenhoven, K.: Einheit der Struktur? Die Darstellungsvarianten des Gartens mit Heiligtum, in: Neunert, G./Verbovsek, A./Gabler, K. (Hg.): Bild: Ästhetik – Medium – Kommunikation. Beiträge des dritten Münchner Arbeitskreises Junge Aegyptologie, Wiesbaden 2014, 43–61 Allen, J. P.: The Egyptian Concept of the World, in: O’Connor, D./Quirke, S. (Hg.): Mysterious Lands. Encounters with Ancient Egypt, Walnut Creek 2011, 23–30 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013 Baumgärtel, E. J./Morenz, L. D.: Scorpion and Rosette and the Fragment of the Large 22 Sethe 1907, 917, Z. 6–13.
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Silvia Balatti
Berglandschaft bei den Assyrern (9.–7. Jh. v. Chr.)
Jede Landschaft kann von Menschen mehrmals (wieder)entdeckt werden. Das scheint so zu sein, weil der Begriff „Landschaft“ nicht nur die bloße physische Gegebenheit bezeichnet, sondern auch ein menschliches Konstrukt zur Bezeichnung von Land ist, das sowohl durch natürliche als auch durch anthropogene Faktoren charakterisiert sein kann. Anders ausgedrückt kann man sich eine Landschaft als einen Erfahrungsraum vorstellen, in dem die Menschen sehen, hören, fühlen, riechen, denken und erinnern.1 Je mehr man eine physische Landschaft erlebt und die natürlichen Ressourcen für seine eigenen Zwecke nutzt, desto mehr wächst das Bewusstsein für diese Landschaft. Nach Aussage des Geographen Mitch Rose ist die praktische Erfahrung der Menschen innerhalb einer Landschaft sogar der Motor für das Wesen der Landschaft selbst.2 In einem solchen komplexen kognitiven Wahrnehmungsprozess fallen trotzdem nicht nur das direkte sinnliche Erlebnis, die persönlichen Interessen und die Erfahrungen des menschlichen Agens ins Gewicht, sondern es sind auch kulturelle und ideologische Faktoren zu beachten.3 Diese Faktoren sind den Mitgliedern einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe oft gemein.4 All diese Aspekte legen den dynamischen und willkürlichen Charakter der individuellen Landschaftsrezeption sowie der gemeinsamen Landschaftswahrnehmung einer Gesellschaft nahe. Als die Assyrer im späten 2. und frühen 1. Jt. v. Chr. häufiger die Bergregionen im Norden und im Osten zu betreten begannen, hatten sie schon seit Jahrhunderten Kontakte mit den Bergvölkern gehabt und Handel mit ihnen getrieben, aber keine feste politische Kontrolle über das gebirgige Territorium sowie wenig Alltagserfahrungen in den Bergregionen gewonnen.5 Daher stellt sich die Frage, ob und inwie1 2
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Ingold 1993 und 2000. Rose 2002, 457. Rose übernimmt und erweitert die Argumente von Ingold, der in seinem Aufsatz über die Temporalität und Landschaft schreibt: „The landscape is the world as it is known to those who dwell therein“ (Ingold 1993, 156). Zu den soziokulturellen Faktoren bei der Ausbildung von Landschaftspräferenzen vgl. Kaplan/ Kaplan 1989, 63. Zu Ideologie und Landschaft vgl. Baker/Biger 2006. Cosgrove 1998, 1–12. Es ist anzumerken, dass insbesondere die assyrischen Händler im 2. Jt. v. Chr. schon Alltagserfahrungen in den Bergregionen gesammelt hatten. Als einzige gut bezeugt sind die Handelskolonien, die von den Assyrern im 2. Jt. v. Chr. in Anatolien begründet wurden. Die Texte, die
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fern die neuen Erfahrungen der Assyrer in den Bergen ihre Idee von Berglandschaft verändert haben. Das Ziel dieses Beitrags liegt darin, eine Antwort auf diese Frage zu finden und einen Überblick über die Wahrnehmung der Berglandschaft bei den Assyrern in der Zeit der maximalen territorialen Erweiterung ihres Reiches und der Herrschaft über den Großteil Vorderasiens zu geben. Um einen bestmöglichen Überblick zu gewinnen, muss diese Untersuchung auf den verfügbaren Quellen, insbesondere auf den neuassyrischen königlichen Inschriften und den Verwaltungstexten sowie auch auf den Reliefs aus den assyrischen Palästen, die Landschaften darstellen, basieren. Die Veränderung der Berglandschaftsdarstellungen in den Quellen im Laufe der Zeit steht dabei im Vordergrund dieser Untersuchung, weil sie auf eine dahinterliegende Veränderung und Neudefinition des Konzepts von Berglandschaft im assyrischen Gedankensystem hinweisen können. Die Analyse der Berglandschaftswahrnehmung bei den Assyrern beruht in dieser Untersuchung weiterhin auf der Annahme, dass ein Bewusstsein des Menschen für das Land und seine Merkmale schon in den antiken Gesellschaften existierte, obwohl sich die explizite Idee der Landschaft als ästhetisches Phänomen erst in der Malerei der Renaissance etablieren sollte.6 Landschaft in der Landschaftsmalerei der Renais sance diente nämlich im Gegensatz zu früheren Epochen nicht als räumlicher Schauplatz menschlicher und göttlicher Taten oder als idyllisches Szenario, sondern sie wurde zum ersten Mal als Hauptthema und Forschungsobjekt betrachtet.7 Wenn man sich mit Landschaftsdarstellungen im Alten Orient beschäftigt, muss man sich bewusst sein, dass es problematisch ist, eine aus den Darstellungen abstrahierte Vorstellung in den verfügbaren schriftlichen Quellen genau identifizieren zu wollen, da in den altorientalischen Texten die Wörter fehlen, um abstrakte Konzepte auszudrücken. Entsprechend fehlt auch jede Art von Konzeptualisierung und theoretischem Diskurs. Dazu kommt, dass die altorientalischen Quellen fast nur aus der Perspektive der herrschenden Elite berichten. In diesem Fall spielen daher nicht nur individuelle und kulturelle, sondern auch ideologische, politische und ökonomische Aspekte eine große Rolle in der Wahrnehmung wie auch insbesondere in der offiziellen Darstellung der Landschaften und ihrer Qualitäten. Wie schon mehrfach nachgewiesen wurde, zielen die hochliterarischen as-
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in Kültepe und in anderen Siedlungen der assyrischen Kolonien gefunden wurden, berichten vor allem von privaten Angelegenheiten der Händler und ihrer Familien und über den Ablauf der altassyrischen Handelsunternehmen. Über die Landschaften des anatolischen Hochlands können – mit Ausnahme ihrer lokalen Mineralressourcen – aus diesen Urkunden kaum Informationen gewonnen werden. Baker/Biger 2006, 2. Zur ‚Erfindung‘ der Landschaft in der niederländischen Malerei der Renaissance vgl. Büttner 2000.
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syrischen Inschriften sowie auch die Reliefs hauptsächlich auf das Lob des Königs und die Rechtfertigung seiner Taten ab, während die neuassyrische Korrespondenz den Zweck hat, den König über praktische Angelegenheiten und Verwaltungsprobleme des Reiches zu informieren. Wegen ihres praktischen Charakters liefern die königlichen Briefe realistische Informationen über die Einrichtung und Verwaltung des assyrischen Territoriums und über seine Ressourcen – und infolgedessen auch über die Qualitäten des Landes an sich; allerdings geben sie nur kurze Berichte über die jeweils aktuelle Situation in den Provinzen des Imperiums, ohne ästhetische Details zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu den Briefen stellen die stärker ideologisch geprägten Inschriften und ihre Reliefs viele ästhetische Details der Landschaften heraus, die es ermöglichen, dem Marsch der assyrischen Soldaten durch verschiedene Landschaften zu folgen.8 Die oben bereits angedeuteten Besonderheiten des verfügbaren Quellenmaterials erfordern die Kombination von Informationen aus verschiedenen Quellen, die von der assyrischen Darstellung der Landschaft geprägt sind.9 Solche Informationen sind in der neuassyrischen Zeit besonders zahlreich; aufgrund des stärkeren geographischen und topographischen Interesses sind sie eng mit der territorialen Erweiterung und dem Prozess der Aneignung des imperialen Raums verbunden.
Die Begriffe für Land und Berge Obwohl in der akkadischen Sprache kein Begriff tradiert ist, der das moderne Wort Landschaft (oder landscape, paysage, paesaggio usw.) wiedergibt, nahmen die Assyrer trotzdem Merkmale und Qualitäten des Landes besonders wahr. Das gilt sowohl für das Kernland Assyrien als auch für fremdes Land/Feindesland.10 In den Texten ist das Land häufig durch seine natürlichen oder anthropogenen Merkmale gekennzeichnet. Beide, von den Menschen geschaffene Landschaftselemente – wie Paläste, Städte, Dörfer, Gärten, Kanäle und Straßen – sowie auch natürliche Elemente – wie Meer, Flüsse, Wüste, Berge, Hügel und Steppe ‒, finden in den Quellen Erwähnung und sind auch häufig ikonographisch auf den Wänden der neuassyrischen Paläste dargestellt. Die Qualitäten des Landes an sich scheinen auch für den assyrischen König von besonderem Interesse gewesen zu sein. Das Land ist in den Texten z. B. als kultiviert oder nicht kultiviert, trocken oder wasserreich, hoch oder tief gelegen charakterisiert. 8 Barbato 2010, 173. 9 Radner 2000, 233. 10 Zu den ländlichen Gebieten Assyriens vgl. Fales 1990.
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Gebirge sowie auch gebirgige Regionen werden durch das Sumerogramm KUR oder durch das akkadische Wort šadû/šaddû – oder auch durch die selteneren ḪUR.SAĜ und ḫuršānu – wiedergegeben. Einzelne Elemente der physischen oder kulturellen Berglandschaft wie Bergpass (nērebu), Wildbach (naḫlu), Wald (ḫalbu/ qīšu), Berggipfel (ubān šadî), Steinbruch (ḫīp šadî), Kleinstadt (ālu), Fort (bīrtu) und Pfad (urḫu) werden mehrfach in den Quellen erwähnt. Zwei Arten von Adjektiven werden meistens mit gebirgigen Regionen und ihren Elementen in den Quellen verbunden, und zwar die Adjektive, die sich auf die vertikale Dimension der Berglandschaft beziehen, wie z. B. „hoch“ (elû/zaqru/šaqû), und jene, die die sehr anstrengende Art der Fortbewegung in den Bergen betonen, wie „hart“ (ašṭu), „schwierig“ (marḫu) und „steil“ (pašqu).11 Hier ist anzumerken, dass die am häufigsten benutzten Wörter für Berg und Gebirge, KUR und šadû, auch sekundäre Bedeutungen hatten, die besondere Ideenassoziationen in Bezug auf das Konzept von Berglandschaft im Gedankensystem der Mesopotamier andeuten. Schon in sumerischer Zeit bedeutete KUR nicht nur „Berg“, sondern auch „Land, Gebiet“ und bezeichnete meistens das fremde Land/Feindesland. Die Benutzung des zu KUR homophonen KÚR (Akkadisch nakru), um den Fremden/Feind zu identifizieren, zeigt eine starke Assoziation zwischen den Ideen von Berg und Fremdem in der sumerischen Sprache.12 In der sumerischen Mythologie stellt KUR darüber hinaus ein kosmisches Konzept dar und wird als das Land der Toten am Rand der Welt identifiziert.13 Dies deutet auf eine Wahrnehmung von Berg und Gebirge nicht nur als Fremdgebiet, sondern auch als gefährlicher und furchterregender Ort hin. Das Wort KUR erscheint ferner sehr häufig als Metapher für die monumentalen mesopotamischen Tempel, Stadtmauern und Paläste, insbesondere in der Dichtung. Manche mesopotamischen Götter werden metaphorisch sogar selbst als Berge angesprochen.14 Die bereits erwähnten Bedeutungen sind klare Hinweise darauf, dass Höhe und Erhabenheit schon sehr früh als die augenfälligsten Merkmale der Berge wahrgenommen wurden. Das akkadische Wort šadû/šaddû (Altakkadisch śadú) hatte auch andere Bedeutungen als „Berg/Gebirge“ – und die damit verbundenen metaphorischen Ausdrücke für Tempel, Götter und Städte ‒, nämlich insbesondere „Osten“ und „Ostwind“ (Altakkadisch śadīum) sowie mindestens bis in altbabylonische Zeit auch „Ostländer“ (später šaddû’a/šaddā’u).15 Diese Bedeutungen beziehen sich eindeutig auf eine Assoziation zwischen dem Gebirge und den Gebieten östlich von Mesopotamien. In den literarischen Texten, vor allem im 11 12 13 14 15
Barbato 2010, 177. Rollinger 2010, 2. Kramer 1972, 76. Rollinger 2010, 16. Steinkeller 1980.
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Abb. 1: Landkarte des Nahen Ostens, die insbesondere die Gebirgsketten um Assyrien herum zeigt (Karte erstellt durch http://www.stepmap.de/).
Gilgamesch-Epos, wird das akkadische Lehnwort šadû im Austausch mit ṣerû, dem akkadischen Wort für Steppe, benutzt.16 Dies zeigt, dass šadû und ṣerû, wenn nicht sogar als Synonyme, so doch zumindest als austauschbare Wörter wahrgenommen wurden, die dem Verständnis der Sumerer und Akkader nach die gleiche Idee von fremden und erschreckenden Orten am Rand der zivilisierten Welt evozierten.
Berge und Gebirge am Rand Mesopotamiens Die Gründe, warum KUR und śadú mit der Idee der Fremdheit und des Landes am Rand der zivilisierten Welt assoziiert wurden und šadû/šaddû auch die Bedeu16 Heidel 1949.
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tung Osten bekam, werden klar, wenn man einen Blick auf die Karte wirft (Abb. 1). Auf jeder physischen Landkarte des Nahen Ostens fällt das Zagrosgebirge mit seinen mehr als tausend Kilometer langen Bergketten im Osten des Tieflands Mesopotamiens auf. Aufgrund seiner Position und Höhe stellte das Zagrosgebirge für die Mesopotamier die nächstgelegenen Berge und daher verständlicherweise schon im 3. und 2. Jt. v. Chr. auch die Berge par excellence dar. Gleichzeitig bildete das Zagrosgebirge auch eine imposante geologische Barriere zwischen dem Tiefland Mesopotamiens und dem iranischen Hochland.17 Nordmesopotamien, welches das assyrische Kernland bildete, ist nicht nur vom Zagros im Osten, sondern auch vom massiven Taurusgebirge im Norden begrenzt. Der Taurus stellte die natürliche Grenze und Kontaktregion zwischen Mesopotamien und der anatolischen Welt dar. Die Gebirge Libanon, Amanus und Taurus begrenzten Nordmesopotamien auch im Westen. Nicht nur die geologische Beschaffenheit, sondern auch die klimatischen und ökologischen Bedingungen der Gebirgsregionen unterscheiden sich sehr von der flachen und trockenen Landschaft der mesopotamischen Tiefebene. In den Bergen sind die Niederschläge vor allem in den Wintermonaten ergiebig, wenn die Temperaturen weit unter null Grad fallen. Die Berghänge und Täler sind von relativ offenen Wäldern bedeckt, die sich aus verschiedenen Laub- und Nadelbäumen zusammensetzen. Verschiedene Baumgattungen bedecken insbesondere die Berge des Westens, wo das Klima stark vom Mittelmeer beeinflusst ist, während die Baumvegetation des Osttaurus und des Zagrosgebirges meist von Eichen und Wacholderbäumen geprägt ist. Zusätzlich zu Wasser und Holz sind in den Bergen im Vergleich zu Mesopotamien Mineralien und kostbare Steine reichlich vorhanden. Viele verschiedene Gattungen von wilden Ostbäumen und Getreidesorten sowie die Weinrebe wachsen in den Vorgebirgen und Bergen des Nahen Ostens und wurden hier möglicherweise erstmals kultiviert.18 Diese natürliche Vegetation unterscheidet sich sehr von derjenigen Mesopotamiens, wo offene Artemisia herba-alba-Steppen die Vegetation beherrschen und Landwirtschaft ohne die regelmäßige Überschwemmung der großen Flüsse Tigris und Euphrat und ohne künstliche Bewässerung unmöglich wäre. Deshalb war das Hochland verständlicherweise auch aus einer ökologischen Perspektive Fremdgebiet für die Mesopotamier, obwohl es nicht weit entfernt lag, insbesondere nicht von Assyrien (Abb. 2).
17 Für einen Überblick über die geographischen und ökologischen Besonderheiten des Zagrosgebirges vgl. Balatti (im Druck) mit Literaturhinweisen. 18 Riehl/Zeidi/Conad 2013.
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Abb. 2: Natürliche Landschaften der Zagros- und Taurusgebirge in der iranischen Provinz Fars (Aufnahme: M. Djamali) und in der türkischen Provinz Osmaniye (Aufnahme: S. Balatti).
Die Berge aus mesopotamischer Perspektive in der Zeit vor dem Neuassyrischen Reich Die oben mehrfach angesprochene Wahrnehmung der Gebirgsregionen als Fremdgebiete hat eine Reihe von Stereotypen und literarischen Topoi über die Berge und die Bergvölker in den Kulturen Mesopotamiens generiert, die schon in das 3. Jt. v. Chr. datiert werden können.19 Obwohl es nicht das Ziel dieses Beitrages ist, die Wahrnehmung der Berge in den altorientalischen Texten des 3. und 2. Jts. v. Chr. zu untersuchen, ist eine kurze Bezugnahme auf diese literarische Tradition notwendig, um die Wahrnehmung der Berglandschaft in der neuassyrischen Zeit besser verstehen zu können. Wie schon aus den Begriffen für Berg und Gebirge und ihren metaphorischen Bedeutungen deutlich wurde, wurde das Gebirge schon in der Zeit der Sumerer und Akkader als gefährliche, wilde und gesetzlose Region am Rand der zivilisierten Welt wahrgenommen. Schon in den sumerischen Kurzepen zu Gilgamesch (3. Jt. v. Chr.) sowie den akkadischen Fragmenten eines größeren Epos aus altbabylonischer Zeit (1. Hälfte 2. Jt. v. Chr.) werden die Berge des Nahen Ostens als ein wilder Ort dargestellt, aus dem der tierische Enkidu ursprünglich kam, als ein gefährliches und mythisches Gebiet am Rand der Welt, aus dem wichtige natürliche Ressourcen wie Zedernholz stammten und wohin nur ein Held wie Gilgamesch vordringen konnte, und zuletzt auch als Eingang zur Unterwelt. Die Idee von Bergen und Gebirgen als gefährlichen und schwer zugänglichen, aber auch ressourcenreichen Regionen wird insbesondere in der Propaganda der akkadischen Könige (ca. 2350–2200 v. Chr.) aufgegriffen – jener ersten mesopotamischen Könige nämlich, die militärische Kampagnen und Aufklärungsmissionen in die Berge am Rand Mesopotamiens durchführten. Es ist sehr wahrscheinlich kein Zufall, dass genau 19 Zur Berglandschaftsperspektive in den altorientalischen Quellen allgemein vgl. insbesondere Rollinger 2010.
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in dieser Zeit Landschaftselemente auch eine wichtigere Rolle in der mesopotamischen Kunst zu spielen begannen.20 Die Überwindung der Berge und die Gewinnung ihrer natürlichen Ressourcen, die meistens in hochwertigem Zedernholz und in Mineralien bestanden, werden als Privileg der heldenhaften Könige dargestellt. Das üppige Amanus-Gebirge und die Zedernberge des Westens erscheinen in den Texten besonders häufig als Quellen feiner Baustoffe.21 Im Gegensatz dazu spielt die imposante Zagrosgebirgskette eine spezifische Rolle als Grenze der zivilisierten Welt und als Ort des dämonischen Chaos und der Wildheit; ihre Bewohner sind kulturlos und halb Mensch, halb Tier. Dies lässt sich nicht nur aus den Texten der akkadischen Könige und der Darstellung der Bergbewohner auf der so genannten Narām-Sîn-Stele erschließen (Abb. 3), sondern auch aus dem Werk Fluch über Akkad und anderen literarischen Texten der Ur III-Zeit. Dies alles zeigt, dass schon im Alten Orient Selbst- und Fremdidentitäten in der Landschaft gefunden und mit der Landschaft verbunden wurden.22 Bekanntlich bildeten jene Texte, die im 3. Jt. v. Chr. entstanden und die in großer Zahl in altbabylonischer Zeit niedergeschrieben worden waren, die literarische Tradition Mesopotamiens, auf die die spätere schriftliche Produktion Bezug nahm. Deshalb wurden die Darstellungen von Bergen und Bergbewohnern dieser Zeit auch zu topischen Motiven, auf die spätere Texte immer wieder Bezug nahmen. Die assyrischen Inschriften seit der Regierungszeit Adad-nārārīs I. (1295–1264 v. Chr.) bezeugen die Beständigkeit des Themas der königlichen Gebirgsüberwindung und des Triumphs über die östlichen und nordöstlichen Bergvölker als eines wichtigen Aspekts einer neuen (mittelassyrischen) Königsideologie.23 Insbesondere in den Texten seiner Nachfolger Salmanasser I. (1263–1234 v. Chr.) und Tukultī-Ninurta I. (1233–1197 v. Chr.) erscheinen Berge und Gebirge als Hintergrundszenario zum Motiv des königlichen Triumphs und werden durch Adjektive wie „hart“ (aštû) und „mächtig“ (dannu) gekennzeichnet.24 Obwohl eine präzisere Nutzung von Ortsund Bergnamen für die gebirgigen Regionen des Nordes und Nordostens schon seit Tukultī-Ninurta I. zu beobachten ist, erscheinen insbesondere in den Inschriften Tiglat-pilesers I. (1114–1076 v. Chr.) neue Toponyme und stereotype Charakterisierungen der Berggebiete.25 In diesen Texten Tiglat-pilesers I. werden Substantive wie namraṣi, was „schwieriges Gelände“ bedeutet, und Adjektive wie „hoch“ (šaqû), „mächtig“ (dannu), „steil“ (pašqu) und „schwierig“ (marṣu) benutzt, um die Berge 20 21 22 23 24 25
Kantor 1966. Fink 2014, 39–42. Zur Darstellung der Berglandschaft auf der Narām-Sîn-Stele vgl. Winter 1999. RIMA 1: A.0.76. Zu den Inschriften von Salmanasser I. und Tukultī-Ninurta I. vgl. RIMA 1: A.0.77 und A.0.78 Zu den Inschriften von Tiglat-pileser I. vgl. RIMA 2: A.0.87.
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Abb. 3: Die Narām-Sîn-Stele (aus: Nigro 1992, 63 Fig. 1, mit freundlicher Genehmigung des Autors).
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und ihre Pfade zu beschreiben. Außerdem werden nun verschiedene Gesteinsarten wie Obsidian, ḫaltu-Stein und Hämatit sowie diverse Baumarten wie urumu-Baum, Zeder, Buchsbaum und Kanisch-Eiche erwähnt, die aus den Bergen nach Assyrien gebracht wurden. Solche Bäume wurden nicht nur als Bauholz genutzt, sondern sie fanden auch einen Platz im königlichen Garten.26 Neue Metaphern, die z. B. eine Bergspitze mit der Spitze eines Dolches oder die fliehenden Bergbewohner mit Bergvögeln vergleichen, wurden in den Inschriften verwendet und ständig wiederholt, sodass sie schließlich zur Beschreibung verschiedener Bergspitzen und Bergvölker dienen konnten.27 Die Inschriften Tiglat-pilesers I. stellen zweifelsohne eine neue Phase der Berglandschaftsdarstellung in den mesopotamischen Quellen dar, die der neuassyrischen Zeit vorausgeht.
Die Wahrnehmung von Bergen und Gebirgen in den neuassyrischen Quellen Obwohl die bereits vorgestellte mesopotamische Art der Darstellung der Berge und ihrer Bewohner in den assyrischen Quellen des 1. Jts. v. Chr., insbesondere in den traditionellen Texttypen wie z. B. den königlichen Inschriften oder den ‚wissenschaftlichen‘ Texten, weiterbesteht, erscheinen neue Elemente, die eine ‚Entwicklung‘ der Idee des Berges – und auch allgemeiner des Landes – bei den Assyrern andeuten. Diese Elemente sind insbesondere in rhetorisch durchstilisierten Texten und in den im Vergleich zu früher viel häufiger anzutreffenden bildlichen Landschaftsdarstellungen zu beobachten. Das steigende Interesse an
26 RIMA 2, A.0.87.1, vii 17–27. 27 RIMA 2, A.0.87.1, iii 43–44; RIMA 2, A.0.87.1, iii 68–69. Zur Dolchspitze als Metapher für die Bergspitze in den assyrischen Königsinschriften vgl. Rollinger 2013, 616. Zum literarischen Motiv der Feinde als Bergvögel vgl. Rollinger 2013, 620.
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den verschiedenen Landschaften Assyriens und der Fremdländer in den Texten und Reliefs manifestiert sich parallel zur Übernahme der praktischen Kontrolle und zur Ausnutzung der natürlichen Ressourcen des großen und differenzierten Reiches sowie zur Herausbildung eines neuen Aspekts der neuassyrischen königlichen Ideologie.28 Darin ist der König unter anderem für die Fruchtbarkeit des Landes und eine florierende Landwirtschaft verantwortlich und hat für die Nutzung auch ‚schwieriger‘ Landschaften (Steppen, Berge, Wüsten) Sorge zu tragen.29 Wie schon erwähnt, wurden während der Feldzüge der späteren mittelassyrischen Zeit in die Berge Orte, Straßen und Bergvölker durch präzisere topogra phische und ethnographische Begriffe gekennzeichnet, die ein fortschreitendes Bewusstsein für die territoriale Gestaltung der Bergregionen bezeugen.30 Trotzdem figurierte das Gebirge in den Texten auch immer noch als Szenario für die heldenhaften Taten des assyrischen Königs, das mit immer wiederkehrenden Vergleichen und anderen Redefiguren ausgeschmückt wurde. Obwohl diese Redefiguren sehr wahrscheinlich schon im Zuge der ersten Beobachtungen der Merkmale und Qualitäten des Gebirges während der mittelassyrischen Zeit generiert worden waren, bildeten sie eine bestimmte Vorstellung von der Gebirgslandschaft ab, die für jeden Berg in jeder Zeit galt. So werden z. B. in den Texten der Könige Assurnaṣirpal II. (883–859 v. Chr.), Salmanasser III. (858–824 v. Chr.) und ŠamšīAdad V. (823–810 v. Chr.) Bergspitzen mit Dolchspitzen gleichgesetzt.31 Die Dörfer auf den Bergspitzen werden konventionell als Wolken im Himmel oder als Nester der Bergvögel bezeichnet.32 Gleichzeitig werden manche gebirgigen Regionen und Berge periphrastisch charakterisiert. Die Texte Assurnaṣirpals II. erwähnen „das Land des meḫru-Baums“ im heutigen Nordirak, wobei mit meḫru eine Art Wachholder oder Kiefer gemeint ist.33 Salmanasser III. spricht von den Bergen Tunni und Muli im mittleren Taurus als Silberberg und Alabasterberg.34 In zwei Absätzen der Inschriften Šamšī-Adads V. werden zwei Berge in Westiran als „der Antimonberg“ und „der mūṣu-Stein-Berg“ bezeichnet.35 Tiglat-pileser III. nennt den Berg Ammana, der sehr wahrscheinlich mit dem Anti-Libanon identifizierbar ist, den „Buchsbaumberg“.36 Der urartäische Berg Zimur wird als „Jas28 Zur Darstellung der Berglandschaft auf den neuassyrischen Palastreliefs vgl. Villard 1997. 29 Zur Benutzung des Titels LÚ.ENGAR („Bauer, Landwirt“) für den König in den neuassyrischen Omentexten vgl. Radner 2000, 235–236. 30 Ponchia 2004. 31 RIMA 2, A.0.101.1, i 49; ii 40; RIMA 3, A.0.102.1, 21. 32 RIMA 2, A.0.101.1, i 62; RIMA 2, A.0.101.1, i 50; i 65. 33 RIMA 2, A.0.101.1, iii 91. Vgl. Balatti 2016. 34 RIMA 3, A.0.102.14, 106–107. 35 RIMA 3, A.0.103.1, iii 3; iii 37. 36 RINAP 1, Tiglat-pileser III 13, 6.
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pisberg“ in Sargons Gottesbrief erwähnt, während die Berge Mallau und Uizuku als „burāšu-Wachholderberge“ identifiziert werden.37 In Asarhaddons (680–669 v. Chr.) Inschriften stellt der Berg Bikni den „Lapislazuliberg“ dar.38 Obwohl Umschreibungen auch in früheren Texten der mesopotamischen Tradition auf hochwertige Ressourcen der Bergregionen wie Zedern oder Silber Bezug genommen hatten, stieg die Vielfalt der namensgebenden Bergressourcen in den Texten der neuassyrischen Zeit deutlich an. Dies deutet auf ein zunehmendes Bewusstsein für die mineralogischen und pflanzlichen Ressourcen des Taurus- und Zagrosgebirges hin, das auf fortschreitende Erfahrungen in der Nutzung der Bodenschätze und der Rohstoffe der Berge zurückgeführt werden kann. Die Nutzung des Bauholzes, der Steine, der Nahrungspflanzen und der Tiere ist auch in der neuassyrischen Korrespondenz zwischen dem König und seinen Gouverneuren in den Bergregionen gut bezeugt. Die Rohstoffe der Berge wurden normalerweise von den Bergbewohnern geliefert; manchmal versuchten die assyrischen Funktionäre aber auch, selbst in die Bergregionen vorzudringen und diese zu explorieren, wie der folgende Bericht eines unbekannten Gouverneurs bezeugt: Ich sandte die Männer aufwärts (auf den Berg) und schickte einen Beamten mit ihnen; sie gingen, um einen Überblick zu bekommen, und kamen zurück und sagten: „Sie (die Einheimischen) zeigten uns 900 Baumstämme, aber sie eignen sich für die Arbeit überhaupt nicht, und niemand zeigte uns den Berg.“39
Auch alltägliche Informationen über Wetter und Bergklima finden sich in den Briefen des 7. Jhs. v. Chr. Insbesondere das schwierige Gelände, das schlechte Wetter und die Kälte während der Wintermonate stellten häufig ein Problem für die assyrischen Funktionäre dar, die sich das ganze Jahr über in den Bergregionen aufhielten.40 Der Gouverneur der Zagros-Provinz Kār-Šarrukin, Nabû-belu-ka, schreibt an König Sargon II. (722–705 v. Chr.) sichtlich erschrocken: Wir räumen die Straßen, aber Schnee fällt und füllt (sie). Es gibt sehr viel Schnee. […] Vorletztes Jahr, (als) es so viel Schnee gab, waren die Flüsse eingefroren, und die Menschen und die Pferde, die mit mir (auf dem Weg nach Assyrien) waren, starben im Schnee.41
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Mayer 2013, ii 145; ii 169; iii 280. RINAP 4, Esarhaddon 1 iv 49. SAA 1 248, 8´–r. 8. Zum Thema Schnee in den Bergregionen in den neuassyrischen Texten vgl. Van Buylaere 2009. SAA 19 190, 8–10 und 16–20.
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Der Astrologe Akkullanu, der für eine gewisse Zeit im Zagrosgebirge tätig war, beschwert sich in einem Brief an König Asarhaddon wie folgt: „Lassen Sie mir Wollbekleidung und Lederschuhe bringen, oder sollte ich hier weiße Kleider tragen?“42 Solche Berichte persönlicher Erfahrungen in den Bergregionen beeinflussten sicherlich die Wahrnehmung der königlichen Entourage und führten zu einem neuen Bild von Bergen und Gebirge am assyrischen Hof. Es ist kein Zufall, dass genauere Kenntnisse der Gebirge insbesondere in den Texten Sargons II. und seiner Nachfolger deutlich werden, als die Assyrer schon einige Provinzen in den Bergregionen eingerichtet haben. Das beste Beispiel für eine Berglandschaftsdarstellung in den Texten dieser Zeit ist unzweifelhaft Sargons Gottesbrief, der über die berühmte Kampagne Sargons II. gegen das Königreich Urarṭu im Jahre 714 v. Chr. berichtet. In diesem hochliterarischen Brief werden Elemente der natürlichen Umwelt des Nordwestiran wie Berge und Flüsse sowie auch Elemente der kulturellen Landschaft wie Bergdörfer und Festungen mithilfe von Appositionen und Relativsätzen beschrieben, in denen oft rhetorische Stilmittel eingesetzt werden. Insbesondere werden ‚ökologische‘ Vergleiche benutzt, weil sie mentale Assoziationen hervorrufen, die das Unbekannte bekannt machen und gleichzeitig nachdrücklich die natürlichen Merkmale und Qualitäten solch ferner Gebiete betonen.43 Die Berge Nikippa und Upâ werden z. B. mit den folgenden Worten beschrieben: „Hohe Berge, die ganz mit Bäumen bedeckt sind, deren inneres Chaos und deren Pass furchtbar ist – wie in einem Zedernwald ist Schatten über ihre Umgebung gebreitet, und wer auf ihren Wegen geht, sieht nicht den Strahlenglanz der Sonne […].“44 Die Bergdörfer im Gebiet von Sangibutu werden folgendermaßen charakterisiert: „21 feste Ortschaften auf den Spitzen des Arzabia-Gebirges wie Sträucher, die in den Bergen wachsen […].“45 Nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern auch der Geruchssinn und das Gehör werden angesprochen. Die Berge Sinaḫulzi und Biruatti werden z. B. dargestellt als „Berge mit klaren Konturen, deren Grün (wie) Lauch und ṣumlalu (voll) Wohlgeruch ist – […]“.46 Die Wildbäche auf dem Weg nach Muṣaṣir sind als „gewaltige Wildwasser, deren tosende Fälle wie Adad schon in einer Entfernung von einer Doppelstunde donnern“47 beschrieben. Jeder Mensch, der durch die höchsten Berge, bedeckt von immerwährendem Schnee und Eis, marschiere, mache schlimme Erfahrungen. So 42 43 44 45 46 47
SAA 10 87, 1´–6´. Barbato 2010, 176. Mayer 2013, i 15–16. Mayer 2013, iii 239. Mayer 2013, i 28. Mayer 2013, iii 326.
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werde „sein Körper wegen des Ansturms des Orkans“ geschunden und werde „sein Fleisch durch die Macht der Kälte“ verbrannt.48 Obwohl solche Beschreibungen aus ideologischen Gründen übertrieben werden, um die Wildheit der Natur in den Bergen zu betonen, beruhen sie doch auf direkten Sinneserfahrungen. Neben solchen neuen Elementen der Charakterisierung und Beschreibung erscheinen im Gottesbrief auch jene topischen Darstellungsformen, die den Text mit den Inschriften der Vorgänger Sargons und mit der literarischen Tradition Mesopotamiens verbinden. So wird der Berg Simirria mit den folgenden Worten beschrieben: „Der Simirria, eine große Bergspitze, die wie eine Speerklinge aufragt […], dessen beide Gipfel oben an den Himmel angelehnt sind (und) dessen Fundamente die Mitte der Unterwelt erreichen […].“49 Dagegen ist der Berg Uauš der hohe Berg, […] dessen beide Gipfel an das Gebilde der Wolken im Inneren des Himmels reichen, dessen Stätte seit Ewigkeit kein lebendes Wesen durchquert hat und in dem kein Wanderer einen Pfad entdeckt hat und über den kein beschwingter Vogel des Himmels fliegt und im dem er zum Flüggewerden seiner Jungen kein Nest baut, der spitze Berg, der gleich einer Dolchklinge aufgerichtet ist […].50
Dieser Bezug zur Tradition hat wahrscheinlich nicht nur eine literarische und ideologische Bedeutung, nämlich die heldenhaften Taten Sargons in den Bergen mit denen seiner Vorgänger zu verbinden und zu vergleichen, sondern auch kulturelle Gründe. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass die Assyrer während ihrer Kampagne in Nordwestiran die traditionellen Vorstellungen einer Berglandschaft im Hinterkopf hatten und dass diese feste Konzeption auch eine große Rolle bei der gegenwärtigen Wahrnehmung der Umwelt spielte. Traditionelle Vorstellungen von Bergen tauchen nicht nur in den Texten Sargons, sondern auch in jenen seiner Nachfolger auf. Sanherib (704–681 v. Chr.) beschreibt z. B. die Dörfer auf dem Berg Nipur, einem Berg im Südosten des Taurus, mit den folgenden Worten: „[…] (sie) befinden sich wie die Nester der Adler, der stolzesten aller Vögel, auf dem Gipfel des Berges Nipur, eines zerklüfteten Berges […].“51 Gleichzeitig stellt Sanherib auch konkrete Elemente der Berg vegetation in seinen Bildreliefs dar, wie im Fall der Weinberge rund um die Stadt Ukku (Abb. 4). In seinen Inschriften berichtet Sanherib über die Kälte und das 48 Mayer 2013, i 102. 49 Mayer 2013, i 18–19. 50 Mayer 2013, i 96–99. Zur Beschreibung des Berges Uauš als „Weltenberg“ vgl. Rollinger 2013, 614–617. 51 RINAP 3/1 Sennacherib 16, iv 74–75.
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Abb. 4: Darstellung der assyrischen Eroberung der Stadt Ukku (Zeichnung von A.H. Layard, British Museum, WAA, Or. Dr. IV, 3, , © The Trustees of the British Museum).
stürmische Wetter im Dezember/Januar in den Bergen Elams wie folgt: „Im Monat Ṭebētu setzte bittere Kälte ein, und es fiel kontinuierlich Regen, und (dann) kamen Wind, Regen (und) Schnee in gleicher Kraft […].“52 Vermutlich beeindruckten die Naturerfahrungen in den Bergen die Assyrer so nachhaltig, dass sie versuchten, Nachbauten von Berglandschaften in Form von botanischen Gärten auch in Assyrien anzulegen.53 Obwohl das assyrische Modell des ‚Universalgartens‘ mit Pflanzen aus allen Teilen der Welt schon den Königen der mittelassyrischen Zeit zugeordnet werden kann, war es vor allem in der Zeit Sargons und seiner Nachfolger, dass Berge und ihre Vegetation das Vorbild für königliche Gärten wurden. Insbesondere das legendäre Amanus-Gebirge mit seiner außergewöhnlichen Baumvielfalt wurde zum Idealbild der gattungsreichen Vegetation der Welt. Eine Inschrift Sargons II. weiß folgendes zu berichten: „[…] Einen großen Park, eine genaue Nachbildung des Amanus-Gebirges, in dem alle wohlriechenden, aromatischen Bäume des Ḫatti-Landes und sämtliche Obstbaumsorten des Gebirges angepflanzt sind, legte ich um sie (die Stadt) herum an.“54 Sanherib 52 RINAP 3/1 Sennacherib 34, 42. 53 Zu den assyrischen Gärten vgl. insbesondere Dalley 1994 und 2013, Tuplin 1996, 82–88, Novák 2002 und 2004. Die These Dalleys, die die berühmten Hängenden Gärten von Babylon mit dem Park Sanheribs in Ninive identifiziert, wurde von anderen Wissenschaftlern aus methodologischen und inhaltlichen Gründen in Frage gestellt (vgl. unter anderem Bichler/Rollinger 2005; Rollinger 2013, 151–155; Bagg 2014). 54 Fuchs 1994: 309, XIV, 28–29.
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Abb. 5: Parklandschaft aus Assurbanipals Nordpalast in Ninive (aus: Dalley 1994, 51 fig. 1, mit freundlicher Genehmigung der Autorin).
und Asarhaddon beschreiben die Gärten ihrer Paläste mit sehr ähnlichen Worten.55 So rühmt sich Asarhaddon in einer seiner Inschriften: Ich habe daneben (neben dem Palast) einen botanischen Garten, eine Nachbildung des Amanus-Gebirges, mit allen Sorten von aromatischen Gewächsen und Obstbäumen gepflanzt. […] Ich habe darin einen Kanal als Pferdeschwemme graben lassen, und ich habe (ihn) wie einen Bewässerungsabzugsgraben gurgeln lassen […].56
Solche künstlichen botanischen Gärten mit vielen verschiedenen Bäumen und Pflanzen und komplizierten Bewässerungssystemen wurden auch bildlich dargestellt. Das gilt z. B. für ein Relief aus der Regierungszeit Assurbanipals (ca. 668– 630 v. Chr.), das höchstwahrscheinlich einen von Sanheribs Gärten darstellt.57 Sowohl Eichen als auch Nadelbäume, die – wie zuvor bereits angeführt – die Bergvegetation des Nahen Ostens dominieren, sind darauf gut erkennbar (Abb 5).
55 Zu Sanherib vgl. RINAP 3/1 Sennacherib 1, 87. 56 RINAP 4, Esarhaddon 1, vi 30. 57 Zu den assyrischen Bewässerungssystemen vgl. Bagg 2000.
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Obwohl die Universalgärten eine starke ideologische Bedeutung als Symbole der königlichen Kontrolle über die Natur der ganzen Welt besaßen, bezeugen ihre naturgetreuen Beschreibungen und Darstellungen auch ein botanisches Interesse der assyrischen Könige.
Fazit Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Berglandschaft bei den Assyrern als ein dynamisches mentales Konstrukt erscheint, das als Produkt zweier Hauptfaktoren angesehen werden kann. Der erste Faktor ist das persönliche sinnliche Erleben einer physischen und natürlichen Gegebenheit (experience and sensation), der zweite der wiederkehrende Rückbezug auf eine traditionelle Vorstellung von dieser Gegebenheit (cultural inheritance). Während die Topoi der traditionellen Vorstellungen für mehr als tausend Jahre fast unverändert blieben, führte die steigende assyrische Präsenz in den Bergregionen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Neudefinition des Konzeptes der Berglandschaft in spätmittel- und neuassyrischer Zeit, was zusammen eine vielfältige Mischung von Tradition und neuen Kenntnissen ergab. Solch ein neues Konzept beeinflusste auch die neuassyrische königliche Ideologie, wonach der König nicht nur den Herrscher über die Welt und ihre Bewohner, sondern auch den Beherrscher und Verteiler der natürlichen Ressourcen der Welt verkörperte. Er erschien sogar in der Lage, die gesamte Berglandschaft zu besitzen und in Form seiner Gärten in Assyrien nachzubauen. Dennoch lässt sich aus den verfügbaren Quellen auch schließen, dass Berg und Gebirge immer nur eine wichtige Bühne für die Taten der assyrischen Könige, ihrer Soldaten und Beamten oder ihrer Feinde darstellten und es kein reines Interesse an den ästhetischen Qualitäten der Landschaft an sich gab. Mit anderen Worten: Die äußerlichen Merkmale der Berglandschaft bilden nie den Mittelpunkt der Erzählung oder der Darstellung, sondern dienen als Beiwerk einer übergeordneten rhetorischen, ideologischen oder informativen Funktion des Textes oder der Abbildung. Trotzdem zeigen gerade die in diesem Aufsatz vorgestellten Zitate, dass die Assyrer über eine bewusste Wahrnehmung der Berglandschaft verfügten, welche die Basis eines ästhetischen Erlebnisses darstellte.58 Insbesondere die sinnliche Wahrnehmung von Naturgewalten und die bedrohliche Atmosphäre der Berge sind leicht zu erkennen. Selbst wenn, wie Nathan Morello behauptet, die Bezugnahme auf sinnliche Erfahrungen, die insbesondere im Gottesbrief zu beobachten 58 Zur Landschaftsästhetik vgl. Brook 2013.
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ist, als typisches Ausdruckmittel dieser literarischen Gattung betrachtet werden muss, ist sie als eine bewusst wahrgenommene psychische und emotionale Reaktion auf die Berge als Erfahrungsraum zu werten.59
Literatur 1. Abkürzungen RIMA Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Rulers RINAP Royal Inscriptions of the Neo-Assyrian Period SAA State Archives of Assyria
2. Quellen Fuchs, A.: Die Inschriften Sargons II aus Khorsabad, Göttingen 1994 Grayson, A. K.: Assyrian Rulers of the 3rd and 2nd Millennia BC (to 1115 BC) (RIMA 1), Toronto/Buffalo/London 1987 Grayson, A. K.: Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC I (1114–859 BC) (RIMA 2), Toronto/Buffalo/London 1991 Grayson, A. K.: Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC II (858–745 BC), (RIMA 3), Toronto/Buffalo/London 1996 Grayson, A. K./Novotny, J.: The Royal Inscriptions of Sennacherib, King of Assyria (704–681 BC) (RINAP 3/1), Winona Lake 2012 Leichty, E.: The Royal Inscriptions of Esarhaddon, King of Assyria (680–669 BC) (RINAP 4), Winona Lake 2011 Luukko, M.: The Correspondence of Tiglath-pileser III and Sargon II from Calah/Nimrud (SAA 19), Helsinki 2012 Mayer, W.: Assyrien und Urarṭu I. Der Achte Feldzug Sargons II. im Jahr 714 v.Chr., Münster 2013 Parpola, S.: The Correspondence of Sargon II, Part I: Letters from Assyria and the West (SAA 1), Helsinki 1987 Parpola, S.: Letters from Assyrian and Babylonian Scholars (SAA 10), Helsinki 1993 Tadmor, H./Yamada, S.: The Royal Inscriptions of Tiglat-Pileser III (744–727 BCE), and Shalmaneser V (726–722 BCE), Kings of Assyria (RINAP 1), Winona Lake 2011
59 Morello 2013, 458–459.
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3. Sekundärliteratur Bagg, A. M.: Assyrische Wasserbauten. Landwirtschaftliche Wasserbauten im Kernland Assyriens zwischen der 2. Hälfte des 2. und der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr., Mainz 2000 Bagg, A. M.: Rezension zu Dalley 2013, Bibliotheca Orientalis 71 3/4 (2014) 487–492 Baker, A. R. H./Biger, G.: Ideology and Landscape in Historical Perspective. Essays on the Meanings of some Places in the Past, Cambridge 2006 Balatti, S.: Mountain Peoples in the Ancient Near East: The Case of the Zagros in the 1st Millennium BCE, im Druck Balatti, S.: The Assyrian GIŠ.me/iḫru, NABU 2016/1 note 24 (2016) 45–48 Barbato, L.: Rhetoric of Landscape in the Assyrian Royal Inscriptions from Sargon II to Ashurbanipal, Kaskal 7 (2010) 173–196 Bichler, R./Rollinger, R.: Die Hängenden Gärten zu Ninive: Die Lösung eines Rätsels?, in: Rollinger, R. (Hg.): Von Sumer bis Homer. Festschrift für Manfred Schretter zum 60. Geburtstag am 25. Februar 2004, Münster 2005, 153–218 Brook, I.: Aesthetic Appreciation of Landscape, in: Howard, P./Thompson, I./Waterton, E. (Hg.): The Routledge Companion of Landscape Studies, London 2013, 108–118 Büttner, N.: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000 Cosgrove, D. E.: Social Formation and Symbolic Landscape, London/Madison 21998 Dalley, S. M.: Niniveh, Babylon and the Hanging Gardens: Cuneiform and Classical Sources Reconciled, Iraq 56 (1994) 45–58 Dalley, S. M.: The Mystery of the Hanging Garden of Babylon. An Elusive World Wonder Traced, Oxford 2013 Fales, F. M.: The Rural Landscape of the Neo-Assyrian Empire: A Survey, State Archives of Assyria Bulletin 4/2 (1990) 81–142 Fink, S.: Vom höchsten Gipfel zum Grund des Meeres. Naturbezwingung als Herrschaftslegitimation im Alten Orient, in: Kasper, M./Korenjak, M./Rollinger, R./ Rudigier, A. (Hg.): Alltag – Albtraum – Abenteuer. Gebirgsüberschreitung und Gipfelsturm in der Geschichte, Wien/Köln/Weimar 2014, 32–47 Heidel, A.: A Special Usage of the Akkadian Term šadû, Journal of Ancient Near Eastern Studies 8/3 (1949) 233–235 Ingold, T.: The Temporality of Landscape, World Archaeology 25 (1993) 52–74 Ingold, T.: The Perception of the Environment: Essays on Livelihood, Dwelling and Skill, London 2000 Kantor, H. J.: Landscape in Akkadian Art, Journal of Ancient Near Eastern Studies 25 (1966) 145‒152 Kaplan, R./Kaplan, S.: The Experience of Nature, New York 1989 Kramer, S. N.: Sumerian Mythology. A Study of Spiritual and Literary Achievement in the Third Millennium B.C., Philadelphia 1972 Morello, N.: Percezioni sensoriali del paesaggio montano nell’ottava campagna di Sargon
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Die Vorstellungen von Landschaft im Alten Testament
Landschaften im Alten Testament (AT) – das ist, vordergründig zumindest, ein dankbares Thema, denn Landschaften begegnen in ihm auf vielfache Weise. Das Buch entsteht in einem vielfach gegliederten Landstrich mit ariden Gebieten, mit den fruchtbaren Ebenen Shephela und Sharon, mit Gebirgen und Depressionen. Ist es aber zuerst die reale Raumwahrnehmung, auf die wir stoßen, wenn wir uns mit diesem über lange Zeit kanonisch gewachsenen Text auseinandersetzen?1 Sprache, so lehrt uns der linguistic turn, ist für topographische Relationen wesentliche Übermittlungsinstanz;2 Raum, so predigt der spatial turn ab den späten 80ern, sei soziales Konstrukt. In der hebräischen Bibel, dem AT, begegnen neben scheinbar realer Raumwahrnehmung – wenn man das nach all den turns noch so sagen darf – narrative Geographien,3 ideal-ideologisch stilisierte und in das Vorzeitlich-Mythische enthobene Landschaften. Auch treffen wir auf hochgradig politisch aufgeladene Landschaftsszenarien. Ihre Brisanz ist für diejenigen, die die Geschichte des Alten Vorderasien studieren, in ihrer longue durée bis heute offenkundig. Wir treffen aber auch auf überweltliche4 Landschaften (den Himmel) und innere Landschaften, die Seelenzustände abbilden sollen. 1
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Ich danke den Veranstaltern der Tagung für die freundliche Einladung und auch für die Idee, die Betrachtung von „Landschaft“ aus der Perspektive des AT in dieser interdisziplinären Tagung zu berücksichtigen. Dieser Beitrag profitiert enorm von den Diskussionsbeiträgen und anderen Vorträgen, namentlich von denjenigen von Sebastian Fink, Robert Rollinger und Bernhard Tschofen. Ohne sie wäre er anders geschrieben worden. Das AT hat in der Tat einiges zur Fragestellung der Tagung zu bieten. Gemäß den Richtlinien der Herausgeber des Tagungsbandes sollen die bibliographischen Angaben knapp gehalten werden. Das hat sein Gutes, denn die Publikationen über die Exegese des AT sind Legion. Gerade in jüngster Zeit gab es einige Veröffentlichungen, die zentral mit dem gegebenen Thema zusammenhängen, und die v.a. deshalb von Bedeutung sind, weil sie methodisch-theoretische Anleihen über das Thema „Raum“ aus anderen Disziplinen anzuwenden versuchen. Damit zusammenhängend sind auch die schönen Beiträge über „Raum“ (Geiger 2011) und „Grenze“ (Ballhorn 2011b) sowie die vom Paradiesesfluss Pischon durchflossene Gegend Hawila ( Jericke 2011) entstanden, die lediglich in elektronischer Form zugänglich sind. – Alle Übersetzungen aus dem AT folgen der revidierten Luther-Übersetzung. Vgl. Pongratz-Leisten 2001, 261. Deurloo 1990. Janowski 2001; Kratz 2002.
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Als Entsprechung zu Letztgenanntem gibt es Landschaftsschilderungen, die entweder als reale, in Sprache gefasste Bilder oder als Metaphern zur Beschreibung kollektiver Wahrnehmungen und Zustände dienen. Wir werden aber nicht umhinkommen zu definieren, was wir unter Landschaften verstehen wollen, und unser methodisch-theoretisches Rüstzeug offenzulegen.
Landschaft (landscape) ist nicht gleich Umwelt (environment) Ich gehe hier von einer Landschaftskonzeption aus, die Landschaft nicht – positivistisch – als geographisch vorgegeben und vorfindlich, sondern als gesellschaftlich erzeugt, als konstruiert wahrnimmt. Landschaften sind Konstrukte, die verschiedenen Zwecken dienen. Der einfachste ist wohl, dass die Erzeugung von Landschaft eine Komplexitätsreduktion darstellt; die Umwelt dient als Zeichenensemble und wird symbolisch gedeutet.5 Landschaftsensembles bilden auch die Grundlage, um den eigenen Lebensraum zu strukturieren, ihm beschreibbare Grenzen zu geben. Häufig begegnet man im AT Grenzen, die solcherart kon struiert werden, dass sie weniger ihr ‚Innen‘ anzeigen als vielmehr im Sinne von idealen Konstrukten überschritten werden möchten. In diesem Sinne werde ich zunächst auf einen Sachverhalt eingehen, der sich mehrfach und in verschiedenen Brechungen im AT zeigt, nämlich die Indienstnahme des Naturraumes für eine Strukturierung eines idealen theopolitischen Raumes. Dieser wird narrativ durchschritten und imaginär erschlossen. Vielfach ist das AT ein Dokument der Produktion einer religiösen Identitätsfindung und -bildung, die außerordentlich stark mit Raum-Identität zusammenhängt. Es ist – und gerade hier wird Raumund Gruppenidentität schlagend – keinesfalls Literatur von Siegern wie viele andere Quellen altorientalischer Provenienz, sondern Literatur von Unterworfenen, die sich während ihrer Entstehungszeit ständig und aus vielerlei Perspektiven mit gestörten und verlorenen Räumen auseinandersetzt. Wenn ich mich auf jüngste Untersuchungen beziehen darf, so ist kulturelle Identität zuallererst Raum-Identität, die sich verschiedentlich äußert:6 • Einzigartigkeit (distinctiveness) • Kontinuität (continuity) • Selbstwert (self-esteem) • Selbstwirksamkeit (self-efficacy) 5 6
Kühne 2009, 397 Vgl. dazu, auf das AT angewandt: Plötzgen 2014, bes. 119–120.
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Die Einzigartigkeit besteht in der Identifikation mit dem eigenen Lebensbereich und der Wahrnehmung des eigenen sozialen Raumes. Sie dient zur Abgrenzung von Menschengruppen, die andernorts leben. „Kontinuität“ bedeutet die identitätsbildende Funktion der Erinnerung an bewohnte Räume – gerade dann, wenn sie verloren sind. Gemeinsam bewohnte und belebte Räume haben Einfluss auf den Selbstwert einer Gruppe, auch dann, wenn die Räume gestört sind. Hinsichtlich der Selbstwirksamkeit ist die Eigenschaft von Räumen gemeint, den Individuen Vertrauen einzuflößen, Krisenzustände aus eigenem Vermögen bewältigen zu können.7
Politische Landschaften: „von Dan bis Beer-Scheeba“ Häufig werden in der hebräischen Bibel Landschaften in Sprache gefasst, indem man lediglich ihre Grenzen benennt. Womöglich hängt das auch mit dem hebräischen Begriff ( גבולgevûl) zusammen, welcher sowohl „Grenze“ als auch „Gebiet“ meint: Gebiet ist es insofern, als es von der es bezeichnenden Grenze umschlossen ist. In den alttestamentlichen Geschichtsbüchern beschreibt die versatzstückhafte Wendung „von Dan bis Beer-Scheeba“ (Ri 20,1; 1 Sam 3,20; 17,11; 1 Kön 5,5 u.ö.) als das Gebiet des Zwölf-Stämme-Israel8 die Nord-Süd-Ausdehnung der davidischen und salomonischen Herrschaft mit der paarweisen Nennung zweier Orte. Beide Orte haben geographisches und historisches Gewicht. Dan, ganz im Norden Israels, ist das Quellgebiet des Jordan, bekannt auch durch eine Inschrift aus dem 9. Jh. v. Chr., auf dem erstmalig das byt dwd, also das Haus David, erwähnt ist. Beer-Scheeba ist eine seit der frühen Eisenzeit stark befestigte Stadt in der Negev-Wüste. Mit dieser Wendung wird eine ideale Nord-Süd-Ausdehnung eines Gebietes umschrieben, die vielleicht kurzzeitig erreicht, aber niemals lange und unter einer vollen Einheit beherrscht wurde, nicht einmal unter David und Salomo.9
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Plötzgen 2014, 120, macht dies etwa an den Psalmen 46 und 48 fest, in denen von der Uneinnehmbarkeit Jerusalems die Rede ist. Knauf 2008, 48. Vgl. Keel/Küchler/Uehlinger 1984, 256–257.
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Landschaften durch Grenzen: ideal-ideologisch stilisierte Landschaften in ihren Maximalausdehnungen Mancherorts erscheint im AT der Lebensraum Israels als übergroß, völlig jenseits realpolitischer Gegebenheiten (vgl. etwa Jos 1,4; Ex 23,31; Gen 15,18; Dtn 1,7).10 So eröffnet Jos 1,4 das Buch mit einer nahezu universalen Grenzziehung mit den Antipoden Fluss – Wüste, Meer – Gebirge: „Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hethiter, soll euer Gebiet sein.“ Wie sind solche Stellen, in denen „Ganz-Groß-Israel“11 zur Sprache kommt, zu deuten? Egbert Ballhorn sieht in derlei Grenzziehungen keinerlei politischen Gebietsanspruch, sondern den universalen Herrschaftsanspruch Gottes.12 Demnach seien mit den in Jos 1,4 genannten Parametern von Wüste und Gebirge, Meer und Strom nicht allein geographische, sondern ebenso mythische Größen gemeint.13 Die äußersten Punkte der Welt, die Wüste als lebensfeindlicher Raum, das Meer mit seiner Verbindung zum die Welt umschließenden Urozean, der Euphrat als Paradiesesstrom und der Libanon als ebenfalls paradiesisch konnotierter Ort, bilden eine symbolische Geographie des Schöpfungsraumes, in den Israel hineingestellt ist. Dieser mythisch anmutenden Landschaftskonstruktion mit surreal erscheinenden Ausdehnungen inhärieren aber realhistorische Querverbindungen einerund theopolitische Implikationen andererseits. Die realhistorischen Querverbindungen bestehen in dem universalen Konzept des Anspruchs achaimenidischer Weltherrschaft, welches zwar neuassyrische Vorbilder hat, aber eben erst in achaimenidischer Zeit voll entfaltet vorliegt.14 Der universale Herrschaftsanspruch wird an der Bezwingung der Elemente „große Ströme“, „Meer am Weltenende“, „Wüste“, „Gebirge“ festgemacht.15 Der v. a. ab der neuassyrischen Zeit fassbaren, universalen Explorierung des Raumes wird aber von den biblischen Autoren ein theopolitischer Überbau aufgepfropft. Die Weltherrschaft des persischen Großkönigs wird zum Herrschaftsraum Jahwes und damit zum Lebens- und Geltungs-
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Vgl. Keel/Küchler/Uehlinger 1984, 232. Knauf 2000, 152–153. Ballhorn 2011, Abschnitt 4.1. Der Gegensatz lebensfeindliche Wüste – paradiesischer Libanon begegnet öfter und zeigt nicht nur mythische Grenzen auf, sondern wird auch als Metapher für Seelenzustände herangezogen, etwa in den Psalmen. 14 Ich danke Robert Rollinger sehr für diesen Hinweis in der Diskussion anschließend an den Vortrag. 15 Vgl. dazu Rollinger 2016 mit weiterer Literatur.
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raum der Thora und beansprucht Totalität.16 „Durch die Parallelisierung von Gehen im Land und Wandeln mit der Tora werden Land und Tora engstens und für das ganze Buch Josua miteinander verbunden. In der Tora sollen Josua und das Volk sich bewegen. Abweichen von der Tora bedeutet auch Abweichen vom Land.“17 Ähnlich erhebt auch die Landverheißung in Gen 15,18 einen Anspruch, nämlich die Gabe des Landes an Abrahams Nachkommen mit der Ausdehnung vom Euphrat bis an den Nil: An jenem Tag schloss der Herr einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen habe ich dieses Land gegeben, vom Strom Ägyptens an bis zum großen Strom, dem Euphratstrom: die Keniter und die Kenasiter und die Kadmoniter und die Hethiter und die Perisiter und die Refaïter und die Amoriter und die Kanaaniter und die Girgaschiter und die Jebusiter.
Die Botschaft dürfte klar sein: Endredaktionell formt der Abrahamzyklus im Rahmen der Erzelternerzählungen seinen Protagonisten zu einer Identifikationsgestalt der Golah, also der Exilsgemeinden, die sich v. a. in Babylonien und Ägypten aufhalten. Gerade im Licht jüngster Forschungen dürfte sich dies nicht schon in persisch-achaimenidischer, sondern erst in hellenistischer Zeit ereignen. Demnach ist Jude-Sein nicht mehr an den Tempel in Jerusalem gebunden, sondern kann sich in jenen Gefilden entfalten, die Abraham auf seinen Reisen durchschritten hat; demnach muss der Zugehörigkeitsbereich anders definiert werden. Wie wir sehen, geschieht dies auch mithilfe räumlicher Grenzen, die eine spezifische, aber ideelle Landschaft umgreifen.
Landschaften als Metaphern für kollektive Zustände und Wahrnehmungen Wie auch in den literarischen sumerischen Städteklagen18 und in kultischen Liedern,19 die in individuellen und kollektiven Schwellensituationen zur Besänftigung von Gottheiten performiert wurden, gibt es auch in den Büchern des AT Szenarien, die von gestörter oder sogar zerstörter Landschaft handeln. Es sind dies z. B.
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Noort 1994, 80. Ballhorn 2011a, 151. Löhnert 2011. Shibata 2010.
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Passagen in Prophetenbüchern, in denen zerstörte Landschaft als Folge menschlichen Unrechts aufgezeigt wird. Ein einschlägiger Fall ist etwa Jes 33,8–9: Die Wege sind verödet, es geht niemand mehr auf der Straße. Man hält nicht Treu und Glauben, man verwirft die Zeugen und achtet der Leute nicht. Das Land sieht traurig und jämmerlich aus, der L i b a n o n ist zuschanden geworden und verdorrt. Scharon ist wie eine Steppe, und Baschan und Karmel stehen kahl.
Die genannten Regionen stehen, jede für sich, als Inbegriff für Fruchtbarkeit. An der genannten Stelle wird dies gezielt invertiert, keiner der mit Reichtum und Schönheit konnotierten Landstriche ist intakt. Kollektive Zustände und Wahrnehmungen spiegeln z. B. aber auch die Passagen über die Zerstörung von Jerusalem in den Klageliedern. Klageliteratur will nicht nur bewältigen, sie will auch sprachlich rekonstruieren und konservieren, was zerstört ist.
Vorzeitlich-mythische Landschaften: der Paradiesesgarten als Peripherie und Zentrum in Einem Der Beginn der hebräischen Bibel erzählt die Erschaffung des Raumes – und der Zeit: Dabei umschreibt der Merismus „Himmel und Erde“ (vgl. Gen 2,1.4) die Totalität der ganzen Welt, deren Entstehung als Erschaffung des Raumes dargestellt wird: Nach der Scheidung von Licht und Finsternis (Gen 2,2–5), die die visuelle Wahrnehmung des Raumes ermöglicht, wird der Raum durch die Begrenzung der Urflut geformt, so dass trockenes Land entsteht (Gen 2,6–10). Erst durch die Erschaffung der Pflanzen (Gen 2,11–13) und Tiere (Gen 2,20–25) wird der Raum zum Lebensraum der Menschen. Diese betreten die Schöpfung als Letzte (Gen 2,26–31).20 Der daran anschließende, allseits bekannte „zweite Schöpfungsbericht“ Gen 2,4b–3,24 verengt den Fokus von der Totale der Erschaffung des Universums in Gen 1 hin zu einer Makroaufnahme des Paradiesesgartens, der den Lebensraum des ersten Menschenpaares bildet.
20 Geiger 2012, Abschnitt 3.1
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Gestaltet ist der Garten Eden nach dem Muster eines antiken, umfriedeten paradeisos.21 Die biblischen Autoren vermerken, dass Jahwe diesen Garten Eden „im Osten“ anlegt. Dieses ( מקדםmiqqædæm, „im Osten“) kann nach Ausweis der hebräischen Philologie nicht nur in räumlichem, sondern auch in zeitlichem Sinne verstanden werden: „von Urzeit an“, „uranfänglich“.22 Mit dieser dem Begriff innewohnenden Raumzeitlichkeit scheint der Autor bewusst zu spielen, mit einer Doppeldeutigkeit ist demnach zu rechnen. In der Mitte des Gartens wachsen zwei Bäume: der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis. Ebenso – und dies soll nun verstärkt unsere Aufmerksamkeit erhalten – entspringt aus ihm ein Strom, der sich in vier Flüsse verzweigt: In den Pischon, der „das ganze Land Hawila umfließt“ (Gen 2,11), in dem es Gold und Edelsteine in Fülle gibt. Dieser am ausführlichsten beschriebene Strom hat verschiedenste Lokalisierungen erfahren. Etymologisch heißt Hawila „Sandland“, und entsprechend den anderen biblischen Belegstellen für dieses Toponym ist damit naturräumlich das alte Südarabien nebst den ostafrikanischen sandigen Küstengebieten gemeint. Freilich gibt es auch andere Versuche, den Pischon zu lokalisieren; bereits antike Autoren identifizieren ihn etwa mit dem Ganges.23 Der zweite Strom heißt Gihon, der „das ganze Land Kusch“ umfließt. Ziehen wir die anderen Belegstellen für das Land Kusch heran, bleibt nicht viel übrig, als hier den Blauen Nil im Südsudan und in Äthiopien anzunehmen. Auch Flavius Josephus hat im ersten nachchristlichen Jahrhundert den Nil mit dem Gihon identifiziert.24 Verwirrend bleibt der Flussname trotzdem, denn in Jerusalem selbst gibt es eine Quelle, die ebenso heißt und die um 700 v. Chr. in einer aufwendigen wasserbaulichen Installation umgeleitet wurde. Die biblische Historiographie erwähnt sie mehrmals als markanten Ort und erhaltene Inschriften bestätigen dies. Die Gihonquelle stellt einen integrativen Bestandteil in der geographia sacra Jerusalems dar und ist mit dem Tempel assoziiert.25 Vergessen wir nicht: Wir haben es hier mit einer symbolischen Geographie zu tun, die naturräumlich Gegebenes in eine metaphysisch aufgeladene, mythische Erzählung einbindet. Der dritte Fluss heißt Hiddekel, er „fließt gegenüber von Assur“. Dieser Fluss ist, zusammen mit dem vierten, Phrat, mit Tigris und Euphrat zu identifizieren. Wir haben demnach eine naturräumliche Geographie, die im Zentrum – unausgesprochen, aber doch – das Jerusalemer Heiligtum hat, von dem der Lebensquell ausgeht und von dem alles andere – sozusagen zentripetal – abhängig erscheint. 21 22 23 24 25
Dietrich 2002. Koch 1991. Görg 1977; Jericke 2011. Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae 1,39. Janowski 2002.
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Wenn wir die höchst schwierigen literarkritischen Fragestellungen, die die Paradieseserzählung aufwirft, beiseitelassen, ergibt sich auf der Ebene des Endtextes folgende Deutungsmöglichkeit: Eden ist auf jeden Fall eine mythische Landschaft. Sie ist es auf zweierlei Weise, da sie einerseits durch die vier Flüsse umgrenzt oder durchflossen wird, also auch die Welt, wie sie ist, repräsentiert; zum anderen ist sie merkwürdigerweise das Zentrum der Welt.26 Ist schon der königliche Garten im Assyrien des 8. und 7. Jahrhunderts ein Weltmodell,27 so ist dies, mit Brechungen, aber nicht völlig losgelöst von der Realität, auch für den Garten Eden der Fall,28 den Jahwe für das erste Menschenpaar anlegt, dessen es aber wieder verlustig geht. Drinnen lebt keiner mehr, die Menschen leben draußen, in dem Gebiet, in dem die Flüsse fließen, die im Garten Eden entspringen. Doch dieses Drinnen und Draußen ist keineswegs so klar voneinander geschieden, da die Paradieseslandschaft ja auf die Welt, wie sie ist, einerseits, ihr ursprünglich-heiles Zentrum andererseits bezogen ist. Das Draußen kann also auch in einem zeitlichen Sinne verstanden werden, da der Raum, in dem sich Eden erstreckt, ja doch diese Welt umfasst. Die Menschheit hat sich lediglich von ihrem Urzustand (dem Goldenen Zeitalter?) entfernt, und kann nicht mehr in ihr Zentrum, den umfriedeten und bewachten Kern (vgl. Gen 3,23–24), zurück. Die Edengeschichte stellt eine Chronologie des Verlustes, eine Ätiologie für das Da- und Sosein der Welt dar. In dieser Landschaft außerhalb Edens ereignet sich der erste Mord, und es wächst die Spirale der Gewalt. Und dann doch nicht: Die Eden-Thematik wird im Buch Ezechiel wieder aufgegriffen, und dort, fokussiert auf den Tempel, in eine überweltliche, aber dennoch nicht gänzlich unzugängliche Landschaft transformiert. Die Quelle in der Mitte gerät in den Blick,29 sie bekommt einen Ursprung, sie fließt unter der Tempelschwelle hervor, sie verbreitert sich und an dem sich bildenden Strom wachsen immergrüne Bäume mit heilkräftigen Blättern. Der Fluss ergießt sich in den salzig-bitteren See des Toten Meeres und macht sein Wasser gesund. Es ist regelrecht eine Landschaft, die die Erzählung aufbaut. Sie korrespondiert mit dem verbotenen Raum des Paradieses am Anfang und will ihn öffnen. Historisch dürfte die mythische Flusslandschaft der Paradieseserzählung jene Bereiche umfassen, in denen Hebräer wohnen: Ägypten, Babylonien – und auch Jerusalem. Endredaktionell dürften wir mit diesem Text in spätpersischer Zeit,
26 27 28 29
Vgl. Wyatt 2014, 10–11. Vgl. Galter 1999, bes. 60–64. Jericke 2001. Ego 2011, bes. 385.
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vielleicht sogar erst in hellenistischer Zeit zu Hause sein, sicher nicht sehr viel früher.
Der Abschluss des Pentateuch mit seinem Blick vom Berg über das Land: Intaktheit des Landes und Inbegriff des Segens (Dtn 34) Die Konzeption des Deuteronomium ist wesentlich räumlich geprägt.30 Dies wird noch einmal ganz an seinem Ende deutlich. Dtn 34 mit seinem multiplen Verweischarakter31 schildert den Tod des Mose.32 Zuvor jedoch darf der Protagonist vom Berg Nebo aus einen Blick über die Landschaften tun, die er selbst nie betreten soll. Die Textpassage selbst hat axiale Funktion, bildet sie doch das Ende des Pentateuch.33 Das „Sehen“ des Landes (Dtn 34,4) greift Gen 12,1 und 13,15 auf und schlägt einen Bogen vom Beginn der Erzelternerzählung ans Ende des Pentateuch. Eine späte Abfassungszeit gilt als ziemlich sicher,34 zumal das intratextuelle Netzwerk von Dtn 34,1–12 mit seinem starken Verweischarakter auf andere Passagen des Pentateuch diese voraussetzt. Sein theologisches Profil ist eng mit der Perspektive der Landschaft verwoben, die in der Textpassage eingangs vorgestellt wird (Dtn 34,1–4): Und Mose stieg aus dem Jordantal der Moabiter auf den Berg Nebo, den Gipfel des Gebirges Pisga, gegenüber Jericho. Und der Herr zeigte ihm das ganze Land: Gilead bis nach Dan und das ganze Naftali und das ganze Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar. Und der Herr sprach zu ihm: Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Ich will es deinen Nachkommen geben. Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen.
Die Schwellensituation der Mosesperspektive vereint Vergangenheit und Zukunft. Zukünftig wird es das Land sein, in das Israel hineinziehen wird. Auf die Vergangenheit bezogen umfasst die Landschaft – und hier ist es wirklich Landschaft, weil im Sinne einer geographia sacra konstruiert – ein heilsgeschichtlich 30 Geiger 2012, Abschnitt 4.1. 31 Frevel 2001. 32 Sebastian Fink verdanke ich den Hinweis, doch gerade dieses Kapitel Dtn 34 mit Moses’ ‚Aussichtsplattform‘ zu berücksichtigen. 33 Römer 1999; Schmitt 2004. 34 Siehe Schmid 2007.
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bedeutsames, wenn auch von einer Unheilsgeschichte gestörtes Ensemble von Landstrichen und Ortschaften: Das von Mose erschaute Land umfasst ein ideal gefasstes, vereintes Samaria und Juda35 und ist wiederum mit der Perspektive des Segens verknüpft: „In Dtn 34,1–4 sieht Moses wie Abraham in Gen 13,14 in die vier Himmelsrichtungen, was Ausführung des Auftrags in Dtn 3,27 und also Teil der nachexilischen Fortschreibung in hexateuchischer Perspektive ist. Wenn Mose dabei auch auf Transjordanien, das Land Gilead bis Dan, in Cisjordanien auf das Land Naphtali sowie auf Ephraim und Manasse blickt, so ist der Mosesegen der nachexilischen Fortschreibung in Dtn 33 der Anknüpfungspunkt.“36
Zusammenfassung Zuvor war die Rede von einer Chronologie des Verlustes, die die Paradiesesgeschichte darstellt, wobei sich herausgestellt hat, dass Eden einerseits als Zentrum der Welt, andererseits aber auch als die Welt in ihrem Urzustand (miqqædæm – „im Osten“ und „von Urzeit an“) zu begreifen ist. Die Paradieseserzählung steht ja programmatisch am Beginn der Gesamtkomposition des AT und steht damit auch für das Ganze. Beinahe alle Landdiskurse im AT können als Variationen eines Themas, nämlich des Ur-Verlustes des Paradieses, interpretiert werden. Das AT ist vielfach Unterworfenenliteratur, und es lässt sich an vielen Stellen als Auseinandersetzung mit gestörten Landschaften und verlorenem Boden lesen. Und eines wird hier völlig deutlich, damit Theorien auch einmal einen Sinn ergeben: Literarische Landschaften wie diese hier dienen als Spiegel von Identität und Identitätswerdung einerseits, andererseits sollen sie Identitäten generieren. Häufig sind Landschaften nämlich dann Thema, wenn sie verloren oder zerstört sind: Disruptions in place attachment – so haben das Landschaftspsychologen genannt.37 Dies dürfte für das AT im Besonderen gelten, das seine produktiven und formativen Entstehungsphasen v. a. nach traumatischen Eingriffen in die place identity hat. Das AT ist voll von vielstimmigen, oft schwer harmonisierbaren Raumdiskursen. Die Landschaftsbilder stehen in deren Dienst. Vieles ist nicht klar, etwa, wie gewisse Ortsnamen zu lokalisieren sind, oder auch, wie die häufige Nennung des Libanon zu deuten ist, der rein geographisch und historisch nicht zu Israel 35 Vgl. Ballhorn 2011b, Abschnitt 4.5. 36 Otto 2017, 2278. Siehe jedoch auch 2280–2281. 37 Brown/Perkins 1992.
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gehört, sondern vielmehr idealtypisch eine dezentrale Zentrik erhält. Literarisch jedenfalls ist er der Antipode zur Wüste und eine Chiffre für die Intaktheit einer Landschaft38 – oder vielmehr für den Traum davon. Es geht um einen Raum, der stets mit anderen Menschen, anderen Menschengruppen, ‚Völkern‘ geteilt werden musste, von der Zeit der Ethnogenese Israels, also dessen, was klassisch als „Landnahme“39 bezeichnet wird, über die frühe Staatlichkeit, das eine, dann das geteilte Königreich, bis in die Zeit nach dem Verlust der staatlichen Identität durch die babylonische Eroberung. Bis hierher habe ich mich stark auf Philologie und Geschichte konzentriert. Das AT will aber zunächst nicht ein Geschichts- und Geographiebuch sein, sondern hat zuerst eine kanonische Botschaft, bzw. kanonische Botschaften. Man würde den Texten und den Religionen, die sie als heiliges Buch anerkennen, Unrecht tun, kehrte man diese Dimension unter den Tisch: Das AT will die Vergangenheit theologisch deuten und die Hoffnung wecken, dass es eine nicht durch Menschen beeinflussbare Zeit einer Wiederherstellung dieser gestörten Landschaften durch Gott geben wird. Dies wird nicht zuletzt dadurch signalisiert, dass häufig irdische Landschaften eschatologisch aufgeladen und mit Paradiesesmetaphern versehen werden. Untrennbar sind im AT soteriologische und eschatologische Momente mit der Erschließung von Raum und der damit verbundenen Entfaltung von Landschaften verbunden. Es entstand doch am Rande und unter dem Einfluss der großen, ja imperialen Mächte Assyriens,40 Ägyptens, Babyloniens, des Perser- und Ale xanderreiches und seiner Nachfolgestaaten. Gerade aus diesem Grunde ist der Landdiskurs ein durchgängiger und für das AT formativer Leitdiskurs. Facettenreich wird dieser in seinen verschiedenen Büchern erwogen. Als gemeinsame Basis oder grundlegende Deutungsmatrix dieses Landdiskurses mag gelten, dass der Landbesitz durch Israel nicht als Ergebnis einer von der modernen Forschung vielbeschworenen Landnahme, sondern vielmehr als Landgabe durch Gott gesehen wird.41 Es ist dies eine Zuwendung, die auch zurückgewiesen werden kann und – aus der Sicht etlicher Texte des AT – auch zurückgewiesen und verwirkt wurde. Diese Spannung ist vielfach schon für die Produktionskontexte der hebräischen Schriften spürbar, in denen Landverlust durch theologische Deutungen erklärt und bewältigt wurde. Die Spannung dauert aber nach wie vor an. Die erwähnten Raumdiskurse und der Streit, wer welchen Raum für sich beanspruchen darf, verbunden mit den entsprechenden Anspruchsgeographien und -genealogien
38 39 40 41
Noort 1994, 79–80 spricht von der „Qualität“ einer Landschaft. Zur näheren Behandlung dieser Problematik siehe unten. Lang 2014. „Nehmen“ ( )לקחdes Landes hat überraschenden Seltenheitswert. Vg. dazu Knauf 2008, 47.
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sind nicht mit der Buchwerdung des AT in Israel und auch außerhalb Israels abgeschlossen, nein, sie dauern dort bis heute an.
Literatur Ballhorn, E.: Israel am Jordan. Narrative Topographie im Buch Josua, Göttingen 2011 (Ballhorn 2011a) Ballhorn, E.: Grenze, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex. de [23.12.2015]), 2011 (Ballhorn 2011b) Brown, B. B./Perkins, D. D.: Disruptions in Place Attachment, in: Altman, I./Low, S. (Hg.): Place Attachment, New York 1992, 279–304 Deurloo, K. A.: Narrative Geography in the Abraham Cyclus, Oudtestamentische Studiën 26 (1990) 48–62 Dietrich, M. 2002: Der „Garten Eden“ und die babylonischen Parkanlagen im Tempelbezirk. Vom Ursprung des Menschen im Gottesgarten, seiner Verbannung daraus und seiner Sehnsucht nach Rückkehr dorthin, in: Hahn, J./Ronning, Ch. (Hg.): Religiöse Landschaften, Münster 2002, 1–29 Ego, B.: Die Wasser der Gottesstadt. Zu einem Motiv der Zionstradition und seinen kosmologischen Implikationen, in: Janowski/Ego 2001, 361–389 Frevel, C.: Ein vielsagender Abschied. Exegetischer Blick auf den Tod des Mose in Dtn 34,1–12, Biblische Zeitschrift 45 (2001) 209–234 Galter, H.: Enkis Haus und Sanheribs Garten. Aspekte mesopotamischer Natursicht, in: Sieferle, R. P./ Breuninger, H. (Hg.): Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt/New York 1999, 43–72 Geiger, M.: Gottesräume. Die literarische und theologische Konzeption von Raum im Deuteronomium, Stuttgart 2010 Geiger, M.: Raum, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de [15.12.2015]), 2012 Görg, M.: „Wo lag das Paradies?“ Einige Beobachtungen zu einer alten Frage, Biblische Notizen 2 (1977) 223–232 Janowski, B.: Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: Keel, O./Zenger, E. (Hg.): Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels, Freiburg 2002, 24–68 Janowski, B./Ego, B. (Hg.): Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001 Jericke, D.: Königsgarten und Gottes Garten. Aspekte der Königsideologie in Genesis 2 und 3, in: Maier, C./Jörns, K.-P./Liwak, R. (Hg.): Exegese vor Ort. Festschrift für Peter Welten zum 65. Geburtstag, Leipzig 2001, 161–176 Jericke, D.: Hawila, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de [15.12.2015]), 2011
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Keel, O./Küchler, M./Uehlinger, Ch.: Orte und Landschaften der Bibel: Geographisch-geschichtliche Landeskunde, Einsiedeln/Göttingen 1984 Knauf, E.-A.: Der Umfang des verheißenen Landes nach dem Ersten Testament, Bibel und Kirche 55 (2000) 152–155 Knauf, E.-A.: Wo verlaufen die Grenzen des verheißenen Landes?, Welt und Umwelt der Bibel 49 (2008) 46–49 Koch, K.: Qädäm. Heilsgeschichte als mythische Urzeit im Alten (und Neuen) Testament, in: ders.: Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze, Band 1, hg. v. B. Janoswki und M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, 248–280 Kratz, R. G.: Gottesräume. Ein Beitrag zur Frage des biblischen Weltbildes, Zeitschrift für Theologie und Kirche 102 (2005) 419–434 Kühne, Olaf: Grundzüge einer konstruktivistischen Landschaftstheorie und ihre Konsequenzen für die räumliche Planung, Raumforschung und Raumordnung 67 (1999) 395–404 Lang, M.: Assyrien im 7. Jahrhundert und die literarische Produktion in der Levante und Ägäis, in: Gaspa, S./Greco, A./Morandi Bonacossi, D./Ponchia, S./Rollinger, R. (Hg.), From Source to History. Studies on Ancient Near Eastern Worlds and Beyond. Dedicated to Giovanni Battista Lanfranchi on the Occasion of His 65th Birthday on June 23, 2014, Münster 2014, 353–371 Löhnert, A.: Manipulating the Gods. Lamenting in Context, in: Radner, K./Robson, E. (Hg.): The Oxford Handbook of Cuneiform Culture, Oxford 2011, 402–417 Noort, E.: Josua und seine Aufgabe. Bemerkungen zu Josua 1:1-4, in: Niemann, H. M./Augustin, M./Schmidt, W. H. (Hg.): Nachdenken über Israel, Bibel und Theologie. Festschrift für Klaus-Dietrich Schunck zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt u. a. 1994, 69–87 Otto, E.: Deuteronomium 12–34. Zweiter Teilband: 23,16–34,12 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg 2017. Plötzgen, S.: „Der Herr ließ Mauer und Wall trauern“. Zerstörung und Wiederaufbau Jerusalems und der Beitrag der Umweltpsychologie, in: Kianoosh, R. (Hg.): Raumkonzeptionen in antiken Religionen. Beiträge des internationalen Symposiums in Göttingen, 28. und 29. Juni 2012, Wiesbaden 2014, 115–133 Pongratz-Leisten, B.: Mental Map und Weltbild in Mesopotamien, in: Janowski/Ego 2001, 261–279 Rollinger, R.: Megasthenes, Mental Maps and Seleucid Royal Ideology: the Western Fringes of the World or How Ancient Near Eastern Empires Conceptualized World Dominion, in: Wiesehöfer, J. (Hg.): Die Welt des Megasthenes/Megasthenes’ World, Wiesbaden 2016, 129–164. Shibata, D.: Ritual Contexts and Mythological Explanations of the Emesal Šuilla-Prayers in Ancient Mesopotamia, Orient 45 (2010) 67–85 Römer, Th.: Deuteronomium 34 zwischen Pentateuch, Hexateuch und deuteronomistischem Geschichtswerk, Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 5 (1999) 167–178
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Schmid, K.: The Late Persian Formation of the Torah. Observations on Deuteronomy 34, in: Lipschits, O./Knoppers, G./Albertz, R. (Hg.): Judah and the Judeans in the Fourth Century B.C.E., Winona Lake 2007, 237–251 Schmitt, H.-Ch.: Dtn 34 als Verbindungsstück zwischen Tetrateuch und Deuteronomistischem Geschichtswerk, in: Otto, E./Achenbach, R. (Hg.): Das Deuteronomium zwischen Pentateuch und deuteronomistischem Geschichtswerk, Göttingen 2004, 181–192 Wyatt, N.: A Royal Garden: The Ideology of Eden, Scandinavian Journal of the Old Testament 28 (2014) 1–35
Simon Zuenelli
Landschaft betrachten Beispiele aus der griechischen Literatur
Wenn von Landschaften in der griechischen Literatur die Rede ist, wird gerne auf den locus amoenus, einen stilisierten Idealort, der gekennzeichnet ist durch das Vorhandensein schattiger Bäume, plätschernder Quellen und kühlender Winde, verwiesen.1 Handelt es sich aber bei diesen Schilderungen tatsächlich um Landschaftsbeschreibungen im modernen Sinn, der Landschaft als einen gleichsam durch die Perspektive des Betrachters wahrgenommenen und eine ästhetische Einheit bildenden Raum fasst? Die Problematik wird an folgendem Beispiel deutlich: Eine der berühmtesten und schönsten Beschreibungen eines locus amoenus findet sich in der Rahmenhandlung von Platons Dialog Phaidros. Sokrates trifft dort Phaidros, der gerade zu einem Spaziergang außerhalb der Stadtmauern von Athen aufgebrochen ist. Als Sokrates hört, dass Phaidros eine Abschrift einer Rede des Lysias bei sich trägt, bittet er ihn darum, ihm diese vorzulesen. Phaidros führt Sokrates daraufhin zu einem schönen Plätzchen, wo die beiden die Rede in Ruhe lesen können. Bei ihrer Ankunft lobt Sokrates die Stelle folgendermaßen: Νὴ τὴν ῞Ηραν, καλή γε ἡ καταγωγή. ἥ τε γὰρ πλάτανος αὕτη μάλ’ ἀμφιλαφής τε καὶ ὑψηλή, τοῦ τε ἄγνου τὸ ὕψος καὶ τὸ σύσκιον πάγκαλον, καὶ ὡς ἀκμὴν ἔχει τῆς ἄνθης, ὡς ἂν εὐωδέστατον παρέχοι τὸν τόπον· ἥ τε αὖ πηγὴ χαριεστάτη ὑπὸ τῆς πλατάνου ῥεῖ μάλα ψυχροῦ ὕδατος, ὥστε γε τῷ ποδὶ τεκμήρασθαι. Νυμφῶν τέ τινων καὶ ᾿Αχελῴου ἱερὸν ἀπὸ τῶν κορῶν τε καὶ ἀγαλμάτων ἔοικεν εἶναι. εἰ δ’ αὖ βούλει, τὸ εὔπνουν τοῦ τόπου ὡς ἀγαπητὸν καὶ σφόδρα ἡδύ· θερινόν τε καὶ λιγυρὸν ὑπηχεῖ τῷ τῶν τεττίγων χορῷ. πάντων δὲ κομψότατον τὸ τῆς πόας, ὅτι ἐν ἠρέμα προσάντει ἱκανὴ πέφυκε κατακλινέντι τὴν κεφαλὴν παγκάλως ἔχειν.2 Ja bei Hera, schön ist das Plätzchen. Die Platane hier ist nämlich weit ausladend und hoch, sehr angenehm die Höhe und der Schatten des Keuschbaumes, und da er in voller Blüte steht, dürfte er dem Ort einen wunderbaren Duft verleihen. Eine äußerst gefällige Quelle fließt weiters unter der Platane mit gar kühlem Wasser, so1 2
Zum locus amoenus s. Schönbeck 1962; Thesleff 1981; Haß 1998. Plato, Phaedrus 230b–c.
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dass man es mit den Füßen überprüfen könnte. Aus den Figuren und Votivgaben zu schließen, scheint der Ort hier den Nymphen und dem Acheloos heilig zu sein. Weiters der erfrischende Luftzug an dieser Stelle, bitte sehr, wie wunderbar und überaus erfreulich ist er doch! Sommerlich und hell ertönt der Ort vom Chor der Zikaden. Das allerangenehmste aber ist die Lage der Wiese, weil sie durch ihre leichte Steigung, wenn man sich niederlegt, dem Kopf eine ideale Unterlage bietet.
Bei der Beschreibung dieses locus amoenus wird eine Reihe von Elementen genannt, die man auch in einer Landschaftsschilderung erwarten würde. Allerdings ergeben diese kein zusammenhängendes Landschaftsbild. Sokrates kommt es darauf an, die einzelnen Annehmlichkeiten des Ortes aufzuzählen, nicht darauf, zu beschrieben, wie diese sich ihm als Betrachter präsentieren. Da der Ort aber nicht aus der Perspektive des Betrachtenden abgebildet wird, fehlt der Beschreibung eine räumliche Kontinuität und Tiefe. Es handelt sich hierbei daher um die Charakterisierung eines Ortes, aber nicht um die Beschreibung einer Landschaft. Dieses Beispiel kann als repräsentativ für die meisten Beschreibungen von loci amoeni (und für landschaftliche Schilderungen generell) in der griechischen Literatur erachtet werden, wo Landschaft entweder nur als Abbreviatur angedeutet wird, ohne dass sich daraus ein räumlich vorstellbares Ganzes ergibt, oder landschaftliche Elemente zur Charakterisierung von bestimmten Orten herangezogen werden, der aber der perspektivische Blick und damit die räumliche Tiefe fehlt, deren eine echte Landschaftsbeschreibung bedarf.3 Dieser Bevorzugung der Charakterisierung des konkreten Ortes gegenüber der Beschreibung der Landschaft in ihrer Gesamtheit entspricht das Fehlen eines Begriffes in der griechischen Sprache, der dem modernen Konzept „Landschaft“ nahekommen würde:4 Der Begriff τόπος hat die Bedeutung „Ort“ oder „Stelle“ und fungiert als eine sehr allgemeine Benennung für eine eher punktuell gedachte Örtlichkeit. Zur Bezeichnung von größeren topographischen Kontinuen können die Begriffe χῶρος und χωρία verwendet werden. Sie weisen diese allerdings allgemein als Gegenden und Territorien und nicht als Landschaften aus. Wie stark sich dieser sprachliche Mangel auswirken konnte, wird deutlich, wenn wir noch einmal zur Rahmenerzählung in Platons Phaidros zurückkehren. Bei ihrem Spaziergang beginnt Phaidros nämlich zu sticheln, Sokrates müsse wie ein Ortsunkundiger
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Vgl. die vielen von Parry 1957 und Elliger 1975 diskutierten Beispiele, die zwar landschaftliche Elemente aufweisen, aber (bis auf wenige Ausnahmen) keine wirklichen Landschaftsbeschreibungen darstellen. Vgl. Elliger 1975, 1.
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geführt werden, da er ja so gut wie nie die Stadtmauern verlasse. Sokrates erwidert ihm darauf: Συγγίγνωσκέ μοι, ὦ ἄριστε. φιλομαθὴς γάρ εἰμι· τὰ μὲν οὖν χωρία καὶ τὰ δένδρα οὐδέν μ’ ἐθέλει διδάσκειν, οἱ δ’ ἐν τῷ ἄστει ἄνθρωποι.5 Entschuldige, mein Freund, ich bin nämlich lernbegierig: Die verschiedenen Plätze und Bäume wollen mich nun nichts lehren, sehr wohl aber die Menschen in der Stadt.
Die Ausdrucksweise χωρία καὶ δένδρα, die Sokrates verwendet, ist bemerkenswert. Um das auszudrücken, wofür wir sehr wahrscheinlich den Begriff Landschaft verwenden würden, muss Sokrates mangels eines adäquaten Begriffs eine Umschreibung wählen, bei der er zwei unterschiedliche landschaftliche Elemente kombiniert. Es bedürfte allerdings einer weit umfangreicheren Studie als der vorliegenden, wollte man nach den Gründen fragen, warum es die Erzählinstanzen in der griechischen Literatur bei Beschreibungen von Örtlichkeiten bevorzugen, die faktischen Spezifika eines Ortes zu nennen, statt diese gleichsam durch den Blick mit ihrem geistigen Auge zu beschreiben. Trotz dieses generell negativen Befundes ist es aber interessant, dass man nichtsdestotrotz in der griechischen Literatur Textpassagen finden kann, die Landschaftsschilderungen im modernen Sinne nahe kommen, und zwar wenn man nach Beschreibungen sucht, die nicht aus der Perspektive des Erzählers selbst, sondern aus jener seiner Figuren erfolgen. In diesem Beitrag sollen exemplarisch vier solche Stellen aus unterschiedlichen Texten und Epochen der griechischen Literatur diskutiert werden.
Hermes’ Blick auf die Höhle der Kalypso Das erste Beispiel stammt aus Homers Odyssee. Dort wird in der Götterversammlung zu Beginn des 5. Buches Zeus von Athene an das Schicksal des Odysseus erinnert, der nun schon sieben Jahre lang von der Göttin Kalypso auf ihrer Insel festgehalten wird, und schickt Hermes als Boten zu Kalypso mit der Weisung, Odysseus nach Hause zurückkehren zu lassen. Hermes stürzt sich vom Olymp und fliegt über das Meer zur Insel:
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Plato, Phaedrus 230d.
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ἀλλ’ ὅτε δὴ τὴν νῆσον ἀφίκετο τηλόθ’ ἐοῦσαν, ἔνθ’ ἐκ πόντου βὰς ἰοειδέος ἤπειρόνδε ἤϊεν, ὄφρα μέγα σπέος ἵκετο, τῷ ἔνι νύμφη ναῖεν ἐϋπλόκαμος· τὴν δ’ ἔνδοθι τέτμεν ἐοῦσαν. πῦρ μὲν ἐπ› ἐσχαρόφιν μέγα καίετο, τηλόθι δ’ ὀδμὴ κέδρου τ’ εὐκεάτοιο θύου τ’ ἀνὰ νῆσον ὀδώδει δαιομένων· ἡ δ› ἔνδον ἀοιδιάουσ’ ὀπὶ καλῇ ἱστὸν ἐποιχομένη χρυσείῃ κερκίδ’ ὕφαινεν. ὕλη δὲ σπέος ἀμφὶ πεφύκει τηλεθόωσα, κλήθρη τ’ αἴγειρός τε καὶ εὐώδης κυπάρισσος. ἔνθα δέ τ’ ὄρνιθες τανυσίπτεροι εὐνάζοντο, σκῶπές τ› ἴρηκές τε τανύγλωσσοί τε κορῶναι εἰνάλιαι, τῇσίν τε θαλάσσια ἔργα μέμηλεν. ἡ δ› αὐτοῦ τετάνυστο περὶ σπείους γλαφυροῖο ἡμερὶς ἡβώωσα, τεθήλει δὲ σταφυλῇσι κρῆναι δ› ἑξείης πίσυρες ῥέον ὕδατι λευκῷ, πλησίαι ἀλλήλων τετραμμέναι ἄλλυδις ἄλλη. ἀμφὶ δὲ λειμῶνες μαλακοὶ ἴου ἠδὲ σελίνου θήλεον. ἔνθα κ› ἔπειτα καὶ ἀθάνατός περ ἐπελθὼν θηήσαιτο ἰδὼν καὶ τερφθείη φρεσὶν ᾗσιν. ἔνθα στὰς θηεῖτο διάκτορος ἀργεϊφόντης. αὐτὰρ ἐπεὶ δὴ πάντα ἑῷ θηήσατο θυμῷ, αὐτίκ’ ἄρ’ εἰς εὐρὺ σπέος ἤλυθεν [. . . ]6
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Als er aber zur Insel gelangte, die weit abgeschieden lag, da verließ er das veilchenfarbene Meer und bewegte sich in Richtung Land, bis er zur großen Höhle gelangte, in der die schön gelockte Nymphe lebte. Er traf sie an, als sie sich gerade im Inneren der Höhle aufhielt. Ein stark loderndes Feuer brannte am Herd und fern über der Insel entlang durchzog der Duft von kleingespaltenen Zedern und wohlriechendem Holz, die dort verbrannten, die Lüfte. Sie aber stand im Inneren am Webstuhl und mit schöner Stimme singend webte sie mithilfe eines goldenen Webschiffchens. Um die Höhle herum wuchs ein reichlich grünender Wald: Erlen, Pappeln und wohlriechende Zypressen. Vögel mit langen Schwingen hatten dort ihren Rastplatz: Eulen, Habichte und Meerkrähen mit länglichen Zungen, denen alles, was am Meer geschieht, am Herzen liegt. Eine junge, veredelte Rebe umrankte die gewölbte Höhle, sie strotzte vor Trauben. Vier Quellen mit klarem Wasser flossen nebeneinander. Sie waren nahe beieinander, jede wendete sich aber in eine andere Richtung. Um 6
Homer, Odyssee 5,55–77.
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diese herum blühten weiche Wiesen aus Veilchen und Eppich. Selbst ein Unsterblicher, würde er dort hinkommen und es sehen, würde es betrachten und sich freuen im Gemüt. Dort stehend staunte der Bote, der Argostöter [d. h. Hermes]. Als er aber alles betrachtet hatte in seinem Gemüt, ging er sogleich in die breite Höhle […]
Die Beschreibung der Insel der Kalypso wirkt auf den ersten Blick etwas sonderbar: In der Tat sieht es so aus, als ließe Homer Hermes zunächst die Höhle der Kalypso betreten (55–62), dann das Äußere der Höhle und dessen Umgebung bestaunen (63–75) und abschließend zum zweiten Mal die Höhle betreten (76–77). Wenngleich die homerische Erzählweise bisweilen gewisse Härten zeigt, kann man das Problem damit lösen, dass man annimmt, dass τέτμεν nicht ausdrücken soll, dass Hermes bereits physisch auf Kalypso trifft, sondern dass er diese bei seiner Ankunft (noch vor der Höhle) bloß im Inneren vorfand. Durch diese Interpretation ergibt sich ein schlüssiges Bild, das die Insel zeigt, wie sie von Hermes bei seinem Anflug wahrgenommen wird. Ihre Beschreibung erfolgt also nicht rein aus der Perspektive des Erzählers Homer, sondern berücksichtig gleichzeitig auch die Perspektive des Hermes, der sich der Höhle nähert. Man spricht in solchen Fällen von „eingebetteter Fokalisierung“ („embedded focalization“).7 In der Tat wird im Text explizit auf Hermes als Betrachter hingewiesen (75–76; vgl. 73–74) und die Abfolge der einzelnen Beschreibungselemente spiegelt recht präzise die Sinneseindrücke des Hermes bei seinem Anflug wieder, durch welche, ähnlich einem Zoom, veranschaulicht wird, wie sich der Gott der Höhle immer weiter nähert: Als erstes wird der Duft des verbrannten Holzes genannt, der gleichsam über der ganzen Insel (ἀνὰ νῆσον) liegt und daher auch schon aus der Ferne vernommen werden kann (τηλόθι). Als nächstes folgt die Beschreibung der Eindrücke, die sich Hermes kurz vor der Landung bieten, nämlich akustisch der Gesang der Kalypso und visuell das Bild des Waldes, der die Höhle umgibt. Schließlich folgen jene landschaftlichen Merkmale, die sich in nächster Nähe der Höhle befinden, ein Weinstock und Quellen, die von Blumen umgeben sind. Man kann daher zusammenfassen, dass die Beschreibung gleichsam aus der Perspektive des Hermes erfolgt. Indem Homer an dieser Stelle nicht eine reine Ortsbeschreibung gibt, sondern vielmehr das Blickfeld des Hermes skizziert, erhält diese Schilderung Züge einer Landschaftsbeschreibung. So zeigt sich vor dem geistigen Auge des Lesers eine von einem Weinstock umrankte Höhle mit blumenreichen Quellen, die von einem üppigen Wald umschlossen ist, der gleichsam als Hintergrund dient. Der Duft des verbrannten Holzes und der Gesang 7
Vgl. De Jong 2001 zur Stelle.
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der Kalypso, die beide schon von weitem wahrzunehmen sind, verleihen der Beschreibung zusätzliche Räumlichkeit, die über jene einer reinen Ortsbeschreibung hinausgeht.
Panoramablick vom Dindymon Während bei der Beschreibung der Insel der Kalypso der Ort als solcher, der ja aufgrund seiner ungewöhnlichen Üppigkeit geradezu über märchenhafte Züge verfügt, im Vordergrund steht, stellt beim folgenden Beispiel nicht so sehr die beschriebene Landschaft an sich als vielmehr der wunderbare Ausblick auf diese eine Besonderheit dar. Die betreffende Passage stammt aus den Argonautika des Apollonios von Rhodos, dem berühmtesten Epos aus der Zeit des Hellenismus, und beschreibt einen Gipfelblick. Der Kontext ist folgender: Als die Argonauten zwölf Tage lang durch widrige Winde abgehalten werden, das Land der Dolionen zu verlassen, rät der Seher Mopsos ihrem Anführer Jason, der Göttin Rhea auf dem nahegelegenen Berg Dindymon8 ein Opfer darzubringen. Die Argonauten, die den Berg bereits in 1,985–986 bestiegen hatten, um mögliche Seerouten für die Weiterfahrt zu erkunden, beschließen daher, nochmals auf den Gipfel des Dindymon zu steigen. Während Apollonios bei der Schilderung der ersten Besteigung nicht näher darauf eingeht, was die Argonauten vom Gipfel aus sehen können, beschreibt er nun relativ ausführlich, welch grandioser Ausblick auf die umliegende Landschaft sich ihnen von dort aus bietet. τοῖσι δὲ Μακριάδες σκοπιαὶ καὶ πᾶσα περαίη Θρηικίης ἐνὶ χερσὶν ἑαῖς προυφαίνετ’ ἰδέσθαι· φαίνετο δ‘ ἠερόεν στόμα Βοσπόρου ἠδὲ κολῶναι Μύσιαι· ἐκ δ‘ ἑτέρης ποταμοῦ ῥόος Αἰσήποιο ἄστυ τε καὶ πεδίον Νηπήιον Άδρηστείης.9
Ihnen zeigten sich die Makrischen Höhen10 und das ganze jenseits des Meeres gelegene Festland Thrakiens, gleichsam mit Händen zu greifen. Zu sehen war die duns8
Es handelt sich hierbei nicht um den Dindymon bei Pessinus im Inneren Phrygiens, sondern um einen gleichnamigen Berg auf der Halbinsel von Kyzikos (vgl. Mooney 1964 zu 1,985). 9 Apollonius, Argonautica 1,1112–1116. 10 Die Bezeichnung „Makrische Höhen“ leitet sich vom Namen des Volksstammes der Makrier ab, der nur in den Argonautika belegt ist (vgl. 1,1024). Aus dem Kontext zu schließen, dürften die Makrischen Höhen wohl an der südlichen Küste Thrakiens, auf die die Argonauten direkt blicken, zu lokalisieren sein.
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tige Mündung des Bosporos und die Mysischen Hügel, auf der anderen Seite der Lauf des Flusses Aisepos sowie die Stadt und die Nepeische Ebene der Adrasteia.
Apollonios ist hier sehr bemüht, recht präzise aufzuzählen, was sich dem Blick der Argonauten darbietet. Die Schilderung selbst wirkt allerdings wissenschaftlich trocken und verrät den Gelehrten, der die Gegend wohl selbst nie bereist hat und seine geographischen Informationen aus der Literatur schöpft. So wird recht schematisch aufgelistet, was die Argonauten in Richtung Norden (Makrische Höhen,11 Thrakien), in Richtung Osten (Bosporos, Mysien) und in Richtung Westen (Aisepos, Adrasteia, Nepeische Ebene) sehen konnten. Da die Schilderung des Ausblicks sich darauf beschränkt, eine gegliederte Aufzählung von geographischen Größen zu geben, wäre es wohl verfehlt, diese Stelle eine Landschaftsdarstellung sensu stricto zu nennen, wenngleich sie einer solchen recht nahe kommt. In der Tat werden qualitative Beschreibungselemente, die der Landschaft ein konkreteres Gesicht geben würden, ausgespart. Eine Ausnahme bildet nur die – wenngleich recht stereotype – Charakterisierung des Bosporos als „dunstig“ (ἠερόεν). Ein Landschaftsbild könnte man aufgrund der Informationen des Apollonios jedenfalls sicher nicht malen. Verglichen mit der geringen Bedeutung von Landschaftsdarstellungen in der griechischen Literatur generell ist es aber nichtsdestotrotz bemerkenswert, dass Apollonios an dieser Stelle ohne merklichen handlungslogischen Grund das Gipfelerlebnis der Argonauten beschreibt. Wenngleich seine Ausführungen mehr an einen gelehrten Vortrag erinnern als an eine tatsächliche Landschaftsbeschreibung, lassen sie doch – zumindest implizit – auf den ästhetischen Genuss schließen, den ein schöner landschaftlicher Ausblick antiken Menschen bieten konnte.
Landschaftsblick als ästhetisches Erlebnis Einen sehr schönen Beleg für die auch explizit geäußerte Wertschätzung von Landschaftsbetrachtung bietet der kaiserzeitliche Autor Longos, Verfasser des wirkmächtigen antiken Romans Daphnis und Chloe.12 Zu Beginn des vierten Buches beschreibt Longos ausführlich den Garten des reichen Gutsbesitzers Lamon und streicht dessen Schönheiten hervor. Zu diesen zählt er auch den schönen Ausblick, den man vom Garten aus genießen kann: 11
Die Stadt Adrasteia, wo die gleichnamige Göttin verehrt wurde, befand sich am Fluss Aisepos (heute Gönen Çay). Die Nepeische Ebene um Kyzikos war ebenfalls der Adrasteia heilig (vgl. Mooney 1964 zur Stelle). 12 Vgl. die Schilderung des schönen Ausblicks, den Plinius von seiner Landvilla aus besitzt (Epistulae 5,6,7–13).
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ἐντεῦθεν εὔοπτον μὲν ἦν τὸ πεδίον, καὶ ἦν ὁρᾶν τοὺς νέμοντας, εὔοπτος δ’ ἡ θάλασσα, καὶ ἑωρῶντο οἱ παραπλέοντες· ὥστε καὶ ταῦτα μέρος ἐγίνετο τῆς ἐν τῷ παραδείσῳ τρυφῆς.13 Von dort aus war die Ebene deutlich sichtbar und es war möglich, die Hirten zu sehen, deutlich sichtbar war auch das Meer und man konnte die Vorübersegelnden erkennen. Daher war auch diese schöne Aussicht Teil des Liebreizes des Gartens.
Wie beim Blick vom Dindymon so steht auch hier nicht die Landschaft an sich im Vordergrund, sondern der schöne Ausblick auf diese. In der Tat zielt Longos nicht darauf ab, ein zusammenhängendes Landschaftsbild zu beschreiben, weshalb es auch verkehrt wäre, die Stelle als eine tatsächliche Landschaftsbeschreibung zu bezeichnen, als vielmehr darauf, das Reizvolle des Ausblicks hervorzustreichen, indem er einzelne mit freiem Auge erkennbare Details wie Hirten und vorbeisegelnde Seemänner hervorhebt. Longos erwähnt dabei explizit, dass dieser schöne Ausblick einen Teil des Liebreizes des Gartens ausmacht (μέρος […] τρυφῆς). Die Stelle ist daher ein gutes Beispiel dafür, wie sehr auch der antike Mensch den weiten Blick auf die landschaftliche Umgebung als ästhetisches Erlebnis geschätzt hat.
Stadtansicht von Tyros Das letzte Beispiel, mit dem wir bereits in der Spätantike angelangt sind, beschreibt die spezielle Topographie der Stadt Tyros und bietet ein schönes Zeugnis dafür, wie Landschafsbeschreibungen dazu verwendet werden konnten, die eigene dichterische Virtuosität unter Beweis zu stellen. Die Textpassage stammt aus den Dionysiaka des Nonnos von Panopolis, einem 48 Bücher umfassenden Epos des 5 Jhs. n. Chr., das die Taten des Gottes Dionysos behandelt. Im 40. Buch kehrt Dionysos nach seinem Sieg über die Inder nach Griechenland zurück und macht auf seinem Weg Station in Tyros. Nonnos beschreibt dabei sehr ausführlich die visuellen Eindrücke, die Dionysos bei der Besichtigung der Stadt sammelt. Zu diesen zählt auch die spezielle topographische Lage der Stadt, die sich auf einer der Küste vorgelagerten Insel befindet, die nur durch einen künstlich aufgeschütteten schmalen Damm mit dem Festland verbunden ist, sodass dieses an der betreffenden Stelle wie eine Landzunge ins Meer vorspringt.
13 Longus, Daphnis und Chloe 4,3.
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καὶ πόλιν ἀθρήσας ἐπεγήθεεν, ἣν Ένοσίχθων οὐ διερῷ μίτρωσεν ὅλῳ ζωστῆρι θαλάσσης, ἀλλὰ τύπον λάχε τοῖον Όλύμπιον, οἷον ὑφαίνει ἀγχιτελὴς λείπουσα μιῇ γλωχῖνι σελήνη. καί οἱ ὀπιπεύοντι μέσην χθόνα σύζυγον ἅλμῃ διπλόον ἔλλαχε θάμβος, ἐπεὶ Τύρος εἰν ἁλὶ κεῖται εἰς χθόνα μοιρηθεῖσα, συναπτομένη δὲ θαλάσσῃ, τριχθαδίαις λαγόνεσσι μίαν ξυνώσατο μίτρην· νηχομένῃ δ’ ἀτίνακτος ὁμοίιος ἔπλετο κούρῃ, καὶ κεφαλὴν καὶ στέρνα καὶ αὐχένα δῶκε θαλάσσῃ, χεῖρας ἐφαπλώσασα μέση διδυμάονι πόντῳ, γείτονι λευκαίνουσα θαλασσαίῳ δέμας ἀφρῷ, καὶ πόδας ἀμφοτέρους ἐπερείσατο μητέρι γαίῃ. καὶ πτόλιν Έννοσίγαιος ἔχων ἀστεμφέι δεσμῷ νυμφίος ὑδατόεις περινήχεται, οἷα συνάπτων πήχεϊ παφλάζοντι περίπλοκον αὐχένα νύμφης.14
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Er freute sich, als er die Stadt sah, die der Erderschütterer [d. h. Poseidon] nicht mit dem ganzen nassen Gürtel der See umgeben hatte, sondern sie hatte eine Form, wie sie am Himmel der Mond besitzt, wenn er sich, beinahe vollkommen verschwunden, nur noch in Gestalt einer schmalen Sichel zeigt. Und als er das Land in der Mitte betrachtete, das mit dem Meer gleichsam verschmolzen war, ergriff ihn ein zweifaches Staunen, weil die Stadt Tyros im Meer lag, obwohl sie zum Festland gehörte, und weil sie mit dem Meer verbunden von einer einzigen Umgürtung an drei Seiten umschlungen war. Unbeweglich lag sie da gleich einer schwimmenden jungen Frau: Kopf, Brust und Nacken waren dem Meer hin zugewandt, wobei sie in der Mitte die Hände ausbreitete über die beiden Meeresteile und weißlich gefärbt war vom Schaum des nahen Meeres, die beiden Füße drückte sie gegen die Mutter Erde. Der Erderschütterer schwamm um die Stadt wie ein wässriger Bräutigam, wobei er sie in fester Umarmung hielt, als ob er seinen schäumenden Arm um den umschlungenen Nacken der Braut legte.
Im Gegensatz zu den beiden zuletzt betrachteten Beispielen bildet hier nicht der besondere Ausblick den Grund für eine genauere Beschreibung der Landschaft, sondern vielmehr ein topographisches Spezifikum, nämlich die besondere Lage der Stadt, die auf einer markanten Landzunge ins Meer ragt. Die Beschreibung erfolgt wie schon bei der Grotte der Kalypso aber nicht rein aus der Erzähler14 Nonnos, Dionysiaca 40,311–326.
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perspektive, sondern fokalisiert durch die Perspektive des Dionysos, der die Stadt betrachtet und über ihre ungewöhnliche Lage staunt. Wie stark die Schilderung durch die individuelle Sicht des Dionysos geprägt ist, wird deutlich, wenn man sie mit der Ekphrasis der Stadt Berytos im folgenden Buch des Epos vergleicht, die aus rein auktorialer Perspektive erfolgt:15 Dort beschreibt Nonnos der Reihe nach die drei Teile der Stadt und zählt ihre Spezifika auf, wodurch die Schilderung sehr schematisch wirkt und eher an eine topographische Erörterung als an eine Landschaftsschilderung erinnert. Im Gegensatz dazu wird Tyros gleichsam durch den Blick des staunend auf die Halbinsel blickenden Dionysos vorgeführt und als eine ausgestreckte Landzunge präsentiert, die sich vor dem Hintergrund des Meeres erhebt. Diese spezielle Art der Darstellung, die gleichsam das Blickfeld des Dionysos einzufangen versucht und über eine räumliche Tiefe verfügt, kommt einer Landschaftsbeschreibung nahe. Nonnos kommt es aber weniger darauf an, ein zusammenhängendes Landschaftsbild zu liefern, als vielmehr darauf, das Paradoxon einer halb auf dem Festland, halb im Meer liegenden Stadt literarisch virtuos auszugestalten.16 Mit gleich zwei Vergleichen versucht er, die Topographie der Stadt möglichst eindrücklich abzubilden: Beim ersten wird die Lage der Stadt, die nur durch einen schmalen Damm mit dem Festland verbunden ist, mit der schmalen Mondsichel kurz vor Neumond verglichen, beim zweiten erscheint die Landzunge als schwimmendes Mädchen, welches vom Meer wie von einem Liebhaber umarmt wird. Die Beispiele zeigen, dass durchaus auch in der griechischen Literatur Textpassagen zu finden sind, die Landschaftsbeschreibungen nahekommen, verdeutlichen gleichzeitig aber auch die damit verbundene Problematik. Die besprochenen Passagen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Landschaft im modernen Sinn nie ein zentrales Thema der griechischen Literatur war. Wenn landschaftliche Elemente in dieser eine Rolle spielen, dann vor allem als Teil von Beschreibungen spezieller Orte, allen voran des locus amoenus. Nichtsdestotrotz lassen die behandelten Texte, vor allem die Schilderung des Ausblicks vom Garten des Lamon, erahnen, dass die Betrachtung von Landschaft auch den antiken Menschen faszinierte, wenngleich diese Faszination nur in geringem Umfang literarischen Niederschlag gefunden hat.
15 Nonnos, Dionysiaca 41,14–49. 16 Das paradoxe Spiel mit der Antithese Festland/Meer scheint ein Topos bei der Beschreibung von markanten Halbinseln gewesen zu sein (vgl. Achilles Tatius 2,14,3–4 [Tyros]; Himerius, Oratio 41,6 [Konstantinopel]).
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Literatur 1. Quellen Burnet, J. (Hg.): Platonis Opera, Oxford 1900–1907 Fränkel, H. (Hg.): Apollonii Rhodii Argonautica, Oxford 1900 Monro, D. B./Allen, Th. W. (Hg.): Homeri opera, Oxford 1902–1912 Reeve, M. D. (Hg.): Longus, Daphnis et Chloe, Leipzig 1982 Simon, B. (Hg.): Nonnos de Panopolis, Les Dionysiaques (Chants XXXVIII–XL), Paris 1999
2. Sekundärliteratur De Jong, I. J. F: A Narratological Commentary on the “Odyssey”, Cambridge/New York 2001 Elliger, W.: Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung, Berlin/New York 1975 Haß, P.: Der locus amoenus in der antiken Literatur. Zu Theorie und Geschichte eines literarischen Motivs, Bamberg 1998 Mooney, G. W.: The Argonautica of Apollonius Rhodius. With Introduction and Commentary, Amsterdam 1964 (Nachdruck der Ausgabe Dublin 1912) Parry, A.: Landscape in Greek Poetry, Yale Classical Studies 15 (1957) 1–29 Schönbeck, G: Der locus amoenus. Von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962 Thesleff, H.: Man and Locus Amoenus in Early Greek Poetry, in: Kurz, G./Mueller, D./ Nicolai, W. (Hg.): Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur, München 1981, 31–45
Kai Ruffing
Landschaft und die Grenzen der Welt
Die Spekulation über die Gestalt der Welt und über ihre Grenzen bildet einen Themenkomplex, der in den Kulturen der Antike stete Beachtung gefunden hat. Im Zuge dessen wurden sehr unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Konstruktion des Raumes entwickelt, die sich zum einen in graphischen Repräsentationen desselben niederschlugen, zum anderen in Form von Texten. Die Vorstellungen von der Welt und ihren Grenzen hatten dabei bereits sehr früh auch und gerade politische Dimensionen, bildete doch die Konstruktion des Raumes einen Aspekt der Selbstdarstellung von universaler Herrschaft, wurde doch diese auf einer ideologischen Ebene als eine solche über die Welt verstanden. Selbiges ist bereits für das dritte vorchristliche Jahrtausend zu konstatieren, taucht doch die Vorstellung von den Grenzen der Welt in Gestalt eines oberen und unteren Meeres schon in einer Inschrift des Lugalzagesi von Uruk auf, die auf ca. 2350 v. Chr. datiert.1 Diese Vorstellungen wurden in der folgenden Zeit immer weiter ausdifferenziert und präzisiert.2 Graphische Repräsentationen der Welt, ihrer Gestalt und ihrer Grenzen lassen sich dann in der Babylonischen Weltkarte fassen, die in das 8. Jh. v. Chr. datieren dürfte. Die Karte hat in ihrem Zentrum einen Kontinent, auf dem Toponyme – insbesondere Assyrien und Babylon, aber auch Urartu – vermerkt sind. Am oberen Rand wird der kreisrunde Kontinent durch eine Zone begrenzt, die durch den Text als Gebirge gekennzeichnet wird. Diese Zone bildet gleichsam eine obere Grenze, freilich wird der Kontinent auch von einem gleichfalls kreisrunden Meer umgeben. Von diesem Meer gehen wiederum Bezirke aus, die in dem zu der Karte gehörenden Text beschrieben werden.3 Die Babylonische Weltkarte ist ein einzigartiges Zeugnis für die Konstruktion des Raumes, das einen großen Einfluss auf die in Ionien formulierte Konzeption von der Gestalt der Welt hatte.4 Bemerkenswert ist freilich das Detail, dass die obere Begrenzung des runden Kontinents durch ein Gebirge markiert wird. Damit taucht – soweit ich sehe – zum ersten Mal in einer 1 2 3 4
Vgl. Rollinger/Ruffing 2013, 93 mit Anm. 2. Vgl. Rollinger/Ruffing 2013, 94–134. Zur babylonischen Weltkarte vgl. Horowitz 1988; Pongratz-Leisten 2001, 274–276; Kuhrt 2002, 16–18; Gehrke 2007, 22–23. Vgl. Gehrke 2007, 25.
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grafischen Repräsentation der Welt ein besonderes landschaftliches Element als Grenze der Welt auf.5 Wie eigentümlich eine solche Konzeption ist, zeigt zunächst einmal die Imagination des Raumes durch die Achaimeniden-Könige Dareios I. und Xerxes I. in den sogenannten Länderlisten. In diesen wird das Reich der Achaimeniden durch die Nennung von Völkern vermessen. Die Perser sind in dieser Sicht der Dinge das Zentrum des Reiches, die einzelnen Völker werden immer in derselben Ordnung insofern genannt, als sie entsprechend ihrer Nähe zu diesem Zentrum angeordnet werden.6 Zunächst werden die den Persern zunächst wohnenden Völker aufgeführt, dann werden immer weiter entfernt zu verortende Völker gelistet. Sowohl in den Länderlisten als auch in den graphischen Repräsentationen in Gestalt der Gabenbringer etwa an den Treppen des Apadana in Persepolis wie auch in den Thronträgerreliefs werden die Eckpunkte des Reiches betont.7 Landschaftliche Besonderheiten spielen in einer solchen Sicht der Welt keine Rolle, sondern die Grenzen werden lediglich durch Ethnonyme beschrieben. Die runden ionischen Weltkarten, soweit sie sich aus den Fragmenten der Milesier Anaximander (ca. 610/609–547 v. Chr.) und Hekataios (ca. 560/550–480 v. Chr.) erschließen lassen, stellen sich die Kontinente als durch einen runden Okeanos umflossen vor; die Ränder sind unbewohnte Regionen oder doch solche, die von Fabelwesen bevölkert werden. In der Karte des Hekataios werden die Kontinente durch einen Diameter von den Säulen des Herakles bis zum Phasis in zwei Teile geteilt, von denen der nördliche Europa und der südliche Asien bildet.8 In der geographischen Konzeption der Hellenen bildet Indien den südöstlichen Rand der Oikumene,9 eine Sicht der Dinge, die auf die eben genannte Selbstdarstellung der achaimenidischen Großkönige zurückgeht.10 In der Tat scheint Hekataios gewisse landschaftliche Vorstellungen vom Südostrand der Oikumene 5
Der Begriff „Landschaft“ hat in der jüngeren Zeit eine größere Aufmerksamkeit in der einschlägigen Forschung gefunden. Im vorliegenden Beitrag wird darunter die Beschreibung geomorphologischer und klimatischer Besonderheiten verstanden, mit denen die hier betrachteten Autoren die Ränder der Welt markieren und vom Rest der Welt unterscheidbar machen. Zur Verwendung des Landschaftsbegriffs in der Altertumswissenschaft vgl. Gilhuly/Worman 2014, 10–12 sowie Rood 2014. 6 Vgl. Wiesehöfer 2007, 34. 7 Vgl. Kuhrt 2002, 19–22 und Wiesehöfer 2007, 34–35. – Der Charakter dieser Länderlisten ist in der Forschung nicht unumstritten: vgl. Briant 2002, 172–173; Jacobs 2003. 8 Zu den Karten des Anaximander und des Hekataios bzw. den runden ionischen Weltkarten vgl. Gehrke 1998, 171–181; Prontera 2004, 189–194; Romm 2010, 217–218. Zu den Grenzen der Welt in dieser Konstruktion des Raumes sowie insbesondere zum Okeanos vgl. ausführlich Romm 1994, 11–31. 9 Prontera 2003, 19 Abb. 1. 10 Zu dieser sowie ihrer Verbreitung im Reich vgl. Rollinger 2015 sowie Rollinger 2016.
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gehabt zu haben. Konstituierendes Element seiner Vorstellung von Indien bildet ein Fluss (Fragmente der griechischen Historiker 1 F 297), ferner führt er aus, zwischen den Opiern und den Indern liege eine Wüste (FGrHist 1 F 299).11 Soweit es die Fragmente erkennen lassen, waren also die Vorstellungen vom südöstlichen Rand der Oikumene bestenfalls blass. Aus dem bisher Gesagten wird bereits ersichtlich, dass die Grenzen der Welt sowie ihre landschaftliche Gestalt in der antiken Welt auf gelehrter Spekulation beruhten, die nicht zuletzt durch die Selbstdarstellung von Herrschern beeinflusst wurde, die ihre eigene Herrschaft als eine universale verstanden. Ferner wird deutlich, dass abgesehen von der Verortung von Fabelwesen am Rande der Welt in der griechischen Literatur – soweit es in den wenigen einschlägigen Fragmenten erkennbar ist – keine ausführlicheren Berichte über die landschaftliche Gestalt der Ränder der Welt vorlagen. Dies sollte sich am Ende des fünften vorchristlichen Jahrhunderts mit dem Werk des Herodot von Halikarnassos ändern, der sehr konkrete Vorstellungen formulierte. Dementsprechend sollen die Vorstellungen, die Herodot von den Grenzen der Welt und den sie konstituierenden Landschaften hatte, als ein erstes Fallbeispiel im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Die zunehmende Realerfahrung der Welt durch den Alexanderzug und im Hellenismus sowie unter der Herrschaft Roms sorgte schließlich dafür, dass ihre Grenzen sich in der Wahrnehmung der griechischen und römischen Literaten verschoben und gleichsam auf Inseln im Ozean ausgelagert wurden.12 Dementsprechend sollen zwei solche Inseln, nämlich Thule und Taprobane, ein zweites hier kurz zu betrachtendes Fallbeispiel dafür bilden, wie die landschaftliche Gestalt der Grenze der Welt in der antiken Literatur konstruiert wurde.13 Der gerade genannte Herodot, der nicht nur als der Vater der Geschichtsschreibung charakterisiert wird, sondern mit Fug und Recht auch als der Vater der Geographie gelten kann,14 brach in der Tat gänzlich mit den ionischen Vorstellungen von der Welt. Die von ihm entwickelte Gestalt der Erde ist nicht rund, sondern rhomboid. Die Welt ist in zwei Landmassen geschieden, das im Norden liegende Europa und das im Süden liegende Asien, zu dem als westliche Halbinsel Libyen gehört. Die Grenze zwischen Europa und Asien wird durch eine Linie gebildet, die von den Säulen des Herakles über den Hellespont, die Propontis und den Bosporus in den Pontos Euxinos und von dort über den Phasis sowie den 11 Zum Indienbild des Hekataios vgl. Karttunen 1989, 69–72. 12 Dasselbe Phänomen kann bei den Assyrern in der Regierungszeit Sargons II. beobachtet werden: vgl. Rollinger/Ruffing 2013, 106–107. 13 Eine ausführliche Darstellung, wie die Grenzen der Welt allgemein imaginiert wurden, findet sich bei Romm 1994. 14 Vgl. Prontera 2002, 229; Bichler 2007, 68.
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Kai Ruffing
Kaukasus in das Kaspische Meer läuft, um sich schließlich in einem Sumpfgebiet zu verlieren. Auf diese Weise wird Europa deutlich größer als Asien gedacht.15 Die Grenzen Asiens werden nun von ihm durch drei Länder in Zusammenhang mit dem im dritten Buch der Historien zu findenden Indien-Logos beschrieben.16 Diese drei Länder sind Indien, Arabien und Äthiopien. Zunächst zu Indien: Die Inder seien, so Herodot, die ersten in Richtung Sonnenaufgang der in Asien wohnenden Menschen, von denen man eine gewisse Kenntnis habe. Östlich der Inder, wie der Halikarnassier innerhalb weniger Zeilen gleich zweimal ausführt, gebe es nur eine Sandwüste (Hdt. 3,98,1–2). Die den Osten Asiens begrenzende Landschaft ist damit von Herodot als sich offenkundig in der Ferne verlierende Wüste gedacht, eine scharfe östliche Begrenzung Asiens wird damit von ihm nicht vorgenommen. Die Region, die Herodot als indisches Land (Indiké chóra) beschreibt, wird von ihm auch landschaftlich etwas näher konturiert. In einem gewissen Sinne ist wie schon bei der Festlegung der östlichen Grenze Asiens die Wüste das allgegenwärtige landschaftliche Merkmal bei der Beschreibung des östlichsten Landes der Oikumene. In Indien gebe es ein Volk, bei dem kein lebendes Wesen getötet, kein Ackerbau betrieben werde und keine Häuser vorhanden seien, sondern man lebe dort von einem Gras. Wenn nun eine Person des Stammes krank werde, gehe sie in die Wüste und lege sich dort hin. Niemand kümmere sich um die Sterbenden und Leidenden (Hdt. 3,100). Darüber hinaus lebe der kriegerischste Stamm der Inder an einer Sandwüste. Mit dieser Sandwüste habe es nun eine ganz besondere Bewandtnis. In ihr trieben sich nämlich die berühmten goldfördernden Ameisen herum, denen besagte Inder das Gold wegnähmen, was in den Augen Herodots eine überaus gefährliche Angelegenheit ist (Hdt. 3,102–105). Nur einmal wird im Indien-Logos kurz auf Völker hingewiesen, die in Flussniederungen leben (Hdt. 3,98,3), der namensgebende Fluss wird also im Logos selbst gar nicht genannt. Freilich kennt Herodot den Indus, schildert er doch an anderer Stelle in seinem Werk die Erkundungsfahrt des Skylax von Karyanda, der von Dareios beauftragt worden sei, die Stelle zu finden, an der der Indus in das Meer fließe (Hdt. 4,44,1). Die Prominenz der Wüste wird man als eine Folge der gedachten Nähe der Indiké zur – aufgehenden – Sonne zu denken haben, resultiert hieraus doch auch, dass es dort am Morgen am heißesten ist. Auch sei es vor Ort morgens sehr viel heißer als in Hellas am Mittag, weswegen die Leute zu dieser Tageszeit im Wasser stünden (Hdt. 3,104,2).17 15 Zu der Raumkonzeption Herodots vgl. Bichler 2011, 316–317 sowie Rollinger/ Ruffing 2013, 139 mit der dort Anm. 196 angeführten Literatur; siehe auch Karttunen 2002, 457. 16 Zu diesem vgl. Reese 1914, 57–71; Zambrini 1982, 115–118; Karttunen 1989, 73–75; Bichler 2001, 61–63; Asheri 2007, 496–497. 17 Vgl. dazu Bichler 2001, 61–62.
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Die Landschaft am östlichen Rand der Welt ist damit eine gelehrte Spekulation, die auf klimatheoretischen Überlegungen beruht. Die gerade genannte Erkundungsfahrt des Skylax auf dem Indus, den Herodot sich übrigens als von Westen nach Osten fließend vorstellt (Hdt. 4,44,2), dient auch der genauen Konturierung des gesamten Kontinents, denn Herodot schließt an die Fahrt den Indus hinunter eine Umfahrung Asiens bis in das Rote Meer hinein an. Diese Fahrt endet wiederum dort, wo Herodot eine Umfahrung Libyens auf Geheiß des Pharao Necho hatte beginnen lassen, die um den Kontinent herum durch die Säulen des Herakles zurück in das Mittelmeer und nach Ägypten führte. Mithilfe dieser und anderer Entdeckungsfahrten liefert Herodot eine pseudoempirische Begründung für die von ihm vertretene Möglichkeit einer Umfahrung Asiens samt Libyens.18 Damit hebt er Asien deutlich von Europa ab, bezüglich dessen niemand wisse, ob es im Osten oder im Norden vom Meer umgeben sei (Hdt. 4,45,1). Doch zurück zu der Landschaft an der Grenze der Welt: Im Süden sei das äußerste Land der bewohnten Welt Arabien (Hdt. 3,107,1). Herodot fokussiert seine Darstellung Arabiens ganz auf den Reichtum des Landes und seine sehr eigentümliche Tierwelt – insbesondere in Gestalt der fliegenden Schlangen, die es zu überlisten gilt, will man den Weihrauch ernten will –,19 landschaftliche Gegebenheiten thematisiert er nicht.20 Das südöstlichste Land der Oikumene ist nun Äthiopien (Hdt. 3,114), bei dessen Beschreibung (Hdt. 3,17–25) ethnographische Motive im Vordergrund stehen.21 Herodot beschreibt den Süden der Libyké ausführlicher im vierten Buch seines Werkes (Hdt. 4,168–199). Der äußerste Süden Libyens wird freilich an anderer Stelle in Verbindung mit einer Erkundungsreise thematisiert. Einige Häuptlinge der Nasamonen hätten sehr mutige Söhne gehabt. Fünf dieser Söhne seien in die im Süden der Salzhügel liegende Zone und nach Überschreitung derselben immer weiter nach Westen durch die jenseits der Hügel liegende Wüste vorgedrungen. Schließlich hätten die Häuptlingssöhne ein Tal gefunden, das mit Bäumen bestanden war. Während sie dort nun Früchte pflückten und aßen, seien sie von kleinen Menschen gekidnappt und durch ein weites Sumpfgebiet hindurch in eine Stadt geführt worden, die von kleinen schwarzen Menschen bewohnt worden sei (Hdt. 2,32). Eine Schilderung der Wüste, die den südlichen Rand Libyens bildet, findet sich noch an anderer Stelle. Herodot erwähnt, er könne die Namen der Stämme bis zu einem Berg namens Atlas nennen. Auf diesen Berg wiederum folge eine Sand-
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Vgl. dazu Bichler 2011, 319–323. Zu diesen vgl. Rollinger 2004. Zum Arabien-Logos vgl. Bichler 2001, 63. Vgl. dazu Karttunen 2002, 467.
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wüste, die bis zu den Säulen des Herakles, ja sogar noch weiter reiche. In dieser Wüste gebe es alle zehn Tagesreisen einen Salzberg, an dem wiederum ein neues Volk lebe. Alle diese Völker bauten ihre Häuser aus Salz. Da es in diesem Bereich Libyens keinen Regen gebe, könne man dies auch ohne Gefahr tun. Der südliche Rand Libyens werde im Süden dieser Wüste durch eine Region gebildet, in der es keine Menschen, kein Wasser, keine Tiere, keinen Regen und kein Holz, ja nicht einmal Tau gebe (Hdt. 4,185).22 Die Informationen über den westlichen Rand Libyens sind bei Herodot wenig umfänglich. Wiederum greift er zum Mittel einer Entdeckungsfahrt, nämlich der des Sataspes, um denselben zu schildern. Sataspes sei durch die Säulen des Herakles nach Westen gefahren, habe dann nach Süden gedreht und sei viele Monate die Küste entlang gefahren, bis Untiefen seine Weiterfahrt verhindert hätten. Am hinteren Ende Libyens, so habe Sataspes seinem Auftraggeber Xerxes berichtet, habe es ein Volk von kleinen Menschen gegeben, die vor ihm in die Berge geflohen seien (Hdt. 4,43,3–5).23 Entscheidend für den hier betrachteten Zusammenhang ist, dass wiederum die Wüste bzw. die absolute Einöde jene landschaftliche Eigentümlichkeit ist, die, von dem Sumpfgebiet abgesehen, den südlichen und westlichen Rand der Welt bildet. Wo Herodot also landschaftliche Eigenheiten der Grenzen der Welt im Süden Asiens ausmacht, sind dies Wüsten und – in geringerem Ausmaß – Sümpfe. Blickt man nun zu den Grenzen Europas im herodoteischen Bild der Welt, so gilt es zunächst allgemein die geringere Dichte der Informationen zu konstatieren, über die der Halikarnassier hinsichtlich des Westens und des Nordwestens Europas verfügte.24 Jenseits der Säulen des Herakles verliert sich der ferne Westen Europas, von dem der Autor ihm selbst zufolge nichts zu berichten weiß (Hdt. 3,115,1). Herodot nennt in diesem Bereich lediglich Tartessos, das er als eine besonders reiche Stadt konturiert (Hdt. 1,163; 4,152,2–3), landschaftlich aber nicht näher beschreibt. Ferner wird jenseits der Säulen des Herakles noch die bei einem Ort namens Gadeira liegende Insel Erytheia erwähnt (Hdt. 4,8,2).25 Blass bleiben auch die Vorstellungen vom Norden Europas.26 Dieser beginnt für Herodot jenseits des Istros und ist ihm zufolge unbewohnt und grenzenlos, obwohl er in Gestalt der Si22 Vgl. dazu Karttunen 2002, 468. – Herodot füllt freilich den nördlichen Teil Libyens westlich des Tritonsees und des Tritonflusses anders: Das Land sei gebirgig und waldreich, ferner finde sich dort eine wundersame Tier- und Menschenwelt (Hdt. 4,191); vgl. dazu Romm 1994, 91–92. 23 Zu dieser Fahrt und ihrer Funktion in der Konstruktion des herodoteischen Weltbildes vgl. Bichler 2011, 319–320. 24 Vgl. Sieberer 1995, 52–60; Bichler 2001, 73. 25 Vgl. Sieberer 1995, 54–55. 26 Zu diesem vgl. Sieberer 1995, 97–109; Karttunen 2002, 470–472.
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gynner ein dort lebendes Volk namhaft machen kann (Hdt. 5,9,1–2). Freilich führt er noch aus, er habe von den Thrakern erfahren, jenseits des Istros verhinderten Bienen ein weiteres Vordringen, eine Einlassung, die Herodot mit dem Hinweis auf die Kälteunverträglichkeit der Bienen ablehnt (Hdt. 5,10). Offenkundig stellt sich Herodot die Landschaft Nordeuropas als kalte Einöde vor. Darüber hinaus weiß er wenig zu berichten. An anderer Stelle diskutiert er die Existenz des Flusses Eridanos, der sich den Berichten der Barbaren zufolge in ein Nordmeer ergieße und der Ursprung des Bernsteins sei. Ferner wisse er selbst nichts über die Zinninseln. Freilich weist er die Existenz eines Nordmeeres überhaupt zurück, habe er doch trotz all seiner Bemühungen niemanden finden können, der dasselbe gesehen hätte. Freilich sei es sicher, dass Zinn und Bernstein aus weit entfernten Ländern kämen. Ferner gebe es im Norden Europas viel Gold, das die einäugigen Arimaspen den Greifen raubten, die dasselbe bewachten (Hdt. 3,115–116, 2; s. auch 4,27). Soweit es diese wenigen Informationen erkennen lassen, entwickelt Herodot die Vorstellung einer Einöde, die gleichwohl reich an Bodenschätzen ist, was wiederum zu seinem generellen Konzept passt, dass die äußersten Länder jene Dinge besitzen, die bei den Griechen am meisten wert sind (Hdt. 3,116,3).27 Genauere Vorstellungen über den Norden Europas entwickelt Herodot dann im Rahmen seiner Beschreibung der Skythen.28 Über die Länder im Norden der Skythen weiß er freilich nichts zu berichten, wie er freimütig eingesteht (Hdt. 4,16). Einiges teilt er aber dann doch mit. Nördlich der Budiner liege eine Wüste, die eine Ausdehnung von sieben Tagesreisen habe (Hdt. 4,22,1). Im Nordosten liegen die Dinge freilich etwas anders. Im Osten der von den königlichen Skythen abgefallenen Skythen verortet Herodot ein steinhartes Land, das von hohen Bergen begrenzt wird, an deren Fuß ein Volk von Kahlköpfen lebt (Hdt. 4,23). Diese Berge wiederum seien eine unüberschreitbare Grenze (Hdt. 4,25,1).29 Nördlich des Skythenlandes sei Europa wegen der Kälte unbewohnt, zumal es ständig schneie (Hdt. 4,31). Insgesamt ruft Herodot damit an den nördlichen Rändern der Welt das Bild einer Landschaft hervor, die – wohl aufgrund einer gedachten Ferne von der Sonne – eine kalte Einöde ist und im Nordosten auch noch jenseits unübersteigbarer Berge liegt. Die Ränder der Welt, wie Herodot sie vorführt, sind in landschaftlicher Hinsicht also alles andere als einladend. Im Süden, will sagen in Asien bzw. Libyen, finden sich heiße, wasserlose Wüsten, der Norden ist eine kalte Einöde. Gleich-
27 Zu dieser Vorstellung vgl. Ruffing 2009, 331. 28 Zu dieser vgl. Sieberer 1995, 161–183; Bichler 2001, 69–71; West 2002. 29 Die Vorstellung, dass Berge nicht überschreitbar sind, findet sich übrigens auch in Altvorderasien: vgl. Rollinger 2014, 609–618.
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wohl halten diese Landschaften das bereit, was in der Welt der Hellenen als besonders wertvoll erachtet wird. Seine diesbezüglichen Berichte sichert Herodot ab, indem er als Quelle Entdeckungsfahrten oder Berichte der den Grenzen der Welt benachbarten Völker angibt.30 Die zunehmenden Realerfahrungen des Raumes im Gefolge des Eroberungszuges Alexanders führten auch zu einem gesteigerten Interesse an der Möglichkeit der Erkundung der Oikumene und ihrer Grenzen.31 Im Zuge dessen wurde nicht nur die von Herodot schon bejahte Möglichkeit einer Umfahrung Libyens diskutiert, sondern es entstand auch Interesse daran, die Grenzen der Oikumene im Westen und Norden zu erfahren.32 In diesen Kontext gehört der lediglich in betrüblichen Fragmenten überlieferte Fahrtenbericht des Pytheas von Massilia, der wohl im vorletzten Dezennium des vierten vorchristlichen Jahrhunderts verfasst wurde.33 In dieser Erzählung, die wohl eine – in der Realgeographie unmögliche – Umfahrung Europas von den Säulen des Herakles über Britannien und über ein Flusssystem zurück zum in der Sicht der Zeit die Grenze zwischen Asien und Europa bildenden Tanais und damit in die bekannte Welt zum Inhalt hatte, verschob Pytheas durch einen Bericht über die Insel Thule gleichsam die äußerste nördliche Grenze der Welt hinaus in die Gefilde nördlich von Britannien.34 Diesem Bericht war eine intensive Rezeption beschieden,35 obwohl Pytheas der erste und der letzte antike Autor war, der die die Phantasie der Nachwelt so befeuernde Insel beschrieb, was dazu führte, dass auch antike Autoren ihre Existenz bezweifelten.36 Offenkundig sah Pytheas die von ihm sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien verortete Insel als einen Ort, an dem Erde, Wasser und Luft nicht getrennt existierten, sondern als eine Mischung aus diesen Elementen, von der Pytheas behauptet, sie mit eigenen Augen gesehen zu haben (F 5 Roseman 1994 = F 8d Bianchetti 1998); diese Mischung wiederum sei ein Band, das alles zusammenhalte.37 Jedenfalls wird Thule bei Pytheas zur Grenze der Welt und diese Grenze der Welt kann nicht bereist werden, da die Mischung der Elemente dies nicht gestattet (F 8d Bianchetti). Die Grenze der Welt ist also eine Einöde, in der sich sogar die Elemente auflösen und zu etwas Neuem vereinen. 30 Vgl. Sieberer 1995, 107; Bichler 2011, 323. 31 Vgl. Bichler 2011, 323–324. 32 Zu diesbezüglichen Berichten von Entdeckungsfahrten in der antiken Literatur vgl. Bichler 2011, 331–338. 33 Zur Datierung vgl. Magnani 2002, 15–31. S. auch Bianchetti 1998, 27–39. 34 Vgl. dazu Bichler 2011, 338–339. – Zur Verschiebung der nördlichen Grenze der bewohnten Welt vgl. Magnani 2002, 200–201; Mund-Dopchie 2009, 28. 35 Vgl. Mund-Dopchie 2009; Magnani 2002, 208–209 für die Antike. 36 Vgl. Romm 1994, 157–158; Magnani 2002, 199–200. 37 Zu diesem Band vgl. Magnani 2002, 201–208.
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Anders verhält es sich mit dem letzten hier betrachteten Fallbeispiel, das in das Imperium Romanum und die Regierungszeit des Claudius führt: der Insel Taprobane, die gewöhnlicher Weise mit dem heutigen Sri Lanka identifiziert wird. Folgt man dem Bericht des älteren Plinius, war die Kunde einer vor Indien liegenden Insel zwar bereits in älteren Darstellungen der antiken Literatur zu finden, genauere Kenntnis über diese Insel am Rande der Welt erlangte man aber erst in der Regierungszeit des Claudius, da zu diesem eine Gesandtschaft aus Taprobane kam. Diese wiederum sei zu Claudius gereist, weil es einen Freigelassenen des Annius Plocamus, seinerseits Pächter des Zolles des Roten Meeres, bei der Umfahrung von Arabien durch einen Sturm nach Taprobane verschlagen habe (Plin. nat. 6,84). Der dortige König habe aufgrund der Tatsache, dass alle Denare von gleichem Gewicht gewesen seien, obwohl sie verschiedene Münzbilder getragen hätten, die Gerechtigkeit der Römer bewundert und somit entschieden, eine Gesandtschaft zum Kaiser zu schicken. Diese Gesandtschaft wiederum habe in Rom allerhand Wunderbares zu berichten gewusst (Plin. nat. 6,85). Plinius liefert nun eine Beschreibung von Taprobane und den Sitten seiner Bewohner, die als ein utopischer Bericht zu betrachten ist und Taprobane als einen mundus inversus der eigenen Welt konstruiert.38 Landschaftliche Besonderheiten finden sich kaum. So erwähnt Plinius den 375 Meilen umfassenden See Megisba, in dem es mehrere nur Viehfutter tragende Inseln gebe und aus dem zwei Flüsse entsprängen, von denen einer sich in drei Mündungen in das Meer ergieße. Der schmalste Mündungsarm sei fünf, der breiteste 15 Stadien breit (Plin. nat. 6,86). Die Sonne gehe dort zur Linken, nicht zur Rechten auf (Plin. nat. 6,87). Das Land, das sorgfältig bebaut werde, habe einen Überfluss an Obst (Plin. nat. 6,91). Insgesamt gewinnt man aus der Lektüre der plinianischen Beschreibung Taprobanes den Eindruck einer nahezu perfekten Welt, wie auf der Ebene der Landschaft vor allem die Erwähnung des Vorhandenseins von Obst im Überfluss nahelegt. Damit aber ergibt sich ein gänzlich anderes Bild als das in den bisher genannten Beispielen. Bei Herodot sind die Ränder der Welt wüst und öde; es herrschen extreme klimatische Bedingungen, sei es im Süden und Osten in Hinsicht auf die Hitze, sei es im Norden durch die Kälte. Dies passt freilich zu den grundsätzlichen Konzeptionen des Halikarnassiers insofern, als er ausführt, zwar gebe es die Reichtümer an den äußersten Rändern der Oikumene, Griechenland weise aber dafür das beste Klima auf (Hdt. 3,106,1). Damit ergibt sich, dass die Ränder der Oikumene nahezu zwangsläufig extreme Klimata aufweisen, die wiederum Wüsten und Einöden bedingen. Die Schilderung von Thule durch Pytheas und die Auslagerung der Grenze der Welt auf eine Insel verdichten dieses von Herodot 38 Vgl. dazu Rosenberger 1996.
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gezeichnete Bild letztlich noch, lösen sich doch in der Einöde des Nordmeeres auch noch die Grenzen der Elemente auf. Mit der Schilderung Taprobanes durch den älteren Plinius kann man dann eine andere Form der Grenze der Welt fassen, nämlich diejenige einer ‚Eutopia‘, eine Vorstellung, die deutliche Bezüge zur etwas älteren hellenistischen Utopie aufweist.39
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Oliver Stoll
„Mehr nutzt der Ort als Tapferkeit“ (Veg.mil. III 26,11). Vorstellungen von Landschaft bei den antiken Militärfachschriftstellern1
Am späten Abend des 9. Januar 49 v. Chr. brach nach dem Zeugnis des Sueton, Caes. 31, der große Feldherr Caius Iulius Caesar nach einem üppigen Gastmahl mit einem Maultiergespann in Ravenna auf, um in Richtung Rimini zu reisen, wo ihn seine Truppen am Rubicon erwarteten. In der dunklen Nacht verirrte er sich aber, kam von der via Aemilia ab, einer der großen republikanischen Straßen. Nachdem er die ganze Nacht umhergeirrt war, musste ihm in der Morgendämmerung ein Bauer als lokaler Führer dienen, der ihn wegekundig über schmale Pfade wieder zur Straße führte. Offenbar war es also schwierig, wenn man einmal von der Straße abwich, den Weg (und sei es auch nur zurück) zu finden, Cäsar besaß weder eine Karte, noch Kenntnis der Landschaft zwischen Ravenna und Rimini – beinahe hätte der Übertritt Cäsars und seiner Legionen über den Rubicon am 10. Januar 49 nicht stattgefunden, schließlich der entscheidende Schritt in den Bürgerkrieg. Gerade bei Cäsar hätte man das doch nicht erwartet, der ‚große Feldherr‘ orientierungslos? Und doch sind selbst ganze Kriegszüge und militärische Unternehmungen – bis in die jüngste Zeit hinein, wo man das doch aufgrund von gutem Kartenmaterial und technischem Gerät nicht erwarten würde – bisweilen an der ‚Orientierungslosigkeit‘ der Feldherren und Kommandeure gescheitert, die Beispiele reichen von der Antike bis zum Irakkrieg und weiter. Kriege und bewaffnete Konflikte sind eine Universalie der Geschichte – und es gibt grundsätzliche Bedingungen und Faktoren, die dabei gleich geblieben sind: das Verhältnis und die Bedeutung von Zeit, Bewegung, Raum etwa (so ähnlich 1
Antike Autoren und ihre Werke werden nach Der Neue Pauly 3 (Stuttgart, Weimar 1997) XXXVI–XLIV zitiert. Ich danke den Veranstaltern des Zweiten Montafoner Gipfeltreffens 2015 sehr für die Einladung zu dieser Konferenz, insbesondere Robert Rollinger auch für seinen Vorschlag, gerade dieses Thema zu wählen sowie für seine Hinweise. Frau stud. phil. Lena Meier, Passau, danke ich für die aufmerksame und kritische Lektüre des ursprünglichen Manuskriptes, das diesem Text zugrunde liegt, der eigentlich nur wenig mehr als den um Fußnoten ergänzten Vortragstext bietet. Eine weitaus ausführlichere Version, die insbesondere die Einzeluntersuchungen der elf Autoren und die Zusammenschau und Analyse der betreffenden Textpassagen beinhaltet, wird an anderem Ort publiziert werden (Marburger Beiträge zur Antiken Handelsgeschichte 33, 2015 [2016]). Die folgende Episode Suet. Caes. 31 verwendet auch Whittaker 2002, 81 als Einstieg. Einige kleine Freiheiten bei der Wiedergabe der Sueton–Passage habe ich mir erlaubt, wie der geneigte Leser leicht feststellen wird, wenn er das Original nachliest!
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etwa schon bei Pol. IX 12,8-10), auch (leider) das menschliche Verhalten. Wenn wir hier die Auffassung von Raum, Gelände und Landschaft bei den antiken Militärfachschriftstellern betrachten, bestätigt sich die Konstanz des genannten ‚Raum-Faktors‘, der hier anhand der untersuchten elf Autoren (siehe Anhang 1 und Tabelle 1 am Ende des Beitrages) für einen Zeitraum von gut 1000 Jahren vom Beginn des fachwissenschaftlichen Schreibens und Schrifttums mit Xenophon und Aineias Taktikos im 4. Jh. v. Chr. bis zu Maurikios am Beginn des 7. Jh n. Chr. in Auswahl überblickt wird. Die Art, wie er behandelt und thematisiert ist, dieser Raumfaktor, scheint repetitiv, sich Wiederholendes im Fluss des Geschriebenen zu sein, um es frei nach J. Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen zu formulieren. Landschaft und Terrain beeinflussen aber in der Tat grundlegend zahlreiche – wenn nicht die meisten – Aspekte der Kriegführung und der Schlachtentaktik zu Land (bis hin zur Namengebung vieler Schlachten und Kriege).2 Deshalb sind sie eben eine sich wiederholende Konstante im entsprechenden fachwissenschaftlichen Schrifttum der Antike und im Nachdenken über den Gegenstand! Wann beginnt das Schreiben über den Krieg – nun, es gehört seit Homer zu einem der Hauptthemen der Literatur der Antike, zumal der Historiographie und in der Tat hat etwa Aelian, dem wir später als Militärfachschriftsteller noch einmal begegnen werden, Homer als einen seiner Vorläufer aufgezählt (Ail. Takt. I 2). Für die Gesellschaften des griechisch-römischen Altertums belegt die antike Historiographie eine Allgegenwart des Krieges deutlich: Vier Fünftel der überlieferten Texte handeln von Schlachten und Feldzügen, sind von ihrer Konzeption her ‚Kriegsgeschichten‘, wie schon bei Herodot und Thukydides. Für die Entstehung einer Militärfachliteratur, die einen systematischen, einen didaktischen Impetus aufweist, scheint der Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.) der Auslöser, in dem sich nicht nur eine Brutalisierung der Kriegführung über längere Zeiträume hinweg feststellen lässt, sondern auch eine Professionalisierung und Spezialisierung. Die Entwicklung neuer Truppentypen (z.B. Peltasten) und Waffen (Katapulte), eine Flexibilisierung des Einsatzes von Truppentypen, dazu neue Taktiken wie die der verbundenen Waffen und die zunehmende Etablierung von Berufssoldaten in Form der Söldner veränderten die Wahrnehmung der eigenen Zeit nachhaltig – der Krieg, wie es Thukydides unvergleichlich ausgedrückt hat, 2
Vgl. etwa den entsprechenden Eintrag bei Spence 2002, 328–329 s.v. Terrain und vgl. auch Wheeler 1999a, 272–280, zum grundlegenden Einfluss der Geographie auf den Krieg, auf Strategie und Taktik, dort S. 272–274 auch zur „geographischen“ bzw. „topographischen“ Namengebung von Kriegen und Schlachten. Vertiefend dann ebenfalls Wheeler 1999b, 524–533 und Wheeler 1999c, 533–539. Terrain in literarischen Schlachtbeschreibungen (oft im Zusammenhang mit „schwierigem Gelände“, was die „Dramaturgie“ beeindruckender macht: Hügel, Sumpf, Wälder etc.): Gilliver 2007, 125–126, ähnlich auch: Rood 2012b, 190.
Landschaft bei den antiken Militärfachschriftstellern
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war ein gewalttätiger (und effektiver) Lehrer – b…aioj did£skaloj (Thukyd. III 82,2) geworden. Auch das Bedürfnis nach einer systematischen Schulung der militärischen Führung gehört in jene Zeit – das Aufkommen einer militärischen Fachliteratur als Ausdruck einer auch intellektuellen Veränderung im Kriegswesen, beginnt mit Xenophon und seinem ‚Zeitgenossen‘, dem um 355/350 schreibende Aineias Taktikos,3 der als Erster eine systematische Darstellung der ‚Kriegswissenschaft‘ vorlegte, von der leider nur das siebte Buch zur Verteidigung der Städte erhalten geblieben ist. Die umfassenden Veränderungen des Militärbereiches und der Kriegführung, ihre steigende Komplexität in Führung/ Lenkung, Organisation, Taktik und Strategie sowie Logistik, waren der Auslöser für den Bedarf, der in der Folge nicht mehr erlosch. Die zeitlose Attraktivität der Fachliteratur der Antike in diesem Punkt, wenn man etwa an Vegetius, den großen Fachschriftsteller der Antike denkt, hat bis in die Neuzeit angehalten. Zu den Lesern des Vegetius gehörten nicht nur Friedrich der Große, sondern auch Napoleon. Diese Literaturgattung sollte Ratschläge für die mit steigenden theoretischen Ansprüchen konfrontierten Kommandeure und Staatsmänner erteilen und sie belegt, dass der Bedarf nach Optimierung des Kriegshandwerkes alle Bereiche der Kriegführung erfasste. Wie, war also die explizite Frage, die sich mir nun auf Anregung von Robert Rollinger stellte, wie erscheinen Landschaft und Raum bei den antiken Militärfachschriftstellern? Vorab gesagt: die schematische Behandlung von Landschaft und der Bewegung in ihr; die sich mehrfach, bei verschiedenen Militärfachschriftstellern, offenbarende, eigentlich grundsätzliche Unkenntnis der Feldherrn, wenn es um den genauen Weg zum Ziel geht; die Absenz von Karten (außer bei Vegetius)4 und die dafür immer wieder betonte Rolle der Einheimischen, Gefangenen, Überläufer und Kundschafter beim Auffinden des richtigen Weges und der Informationsaufnahme, scheinen insgesamt die alte Streitfrage der Wissenschaft nach dem Niveau 3
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Xenophon und Aineias Taktikos: Stoll 2002, 132–138, 141–149; Stoll 2013, 285–286, 291–292, 305–306. Zur Stellung des Xenophon im Rahmen der Militärfachschriftsteller vgl. auch die kurze Bemerkung bei Campbell 2004, 15. Dazu vgl. etwa Burckhardt 1996, 332 und Mann 2013, 56, 134, aber auch Millett 2013, 65–66; zur Einordnung des Aineias in seine ‚Zeitgeschichte‘ vgl. die wichtigen Beiträge von Lehmann 1980, 71–86; Urban 1986, 991–1002; Lehmann, 1989, 105– 115 und dann auch Winterling 1991, 193–229. Grundsätzlich zum Gattungsbegriff und der Gattungsgeschichte der Fachliteratur – Lehrbücher gibt es spätestens seit dem 6. Jh. v. Chr. – und der Problematik einer Scheidung in Fachliteratur und Sachliteratur vgl. Föllinger 2011, 289–291; zur ‚Fachliteratur‘ für den Bereich des Militärs vgl. allgemein etwa Hanson 2007, 3–4 und dann Meißner 1999, 148, 161–167, 249–255, 283–292 zu verschiedenen Autoren und der Entwicklung der Gattung. Hierzu s. Brodersen 2003, 14, 20–21, 81 und auch seine Diskussion in: Brodersen 2001, 7–21. Forschungsdiskussion zur Kartographie in der Antike zusammengefasst: Rathmann 2013, 11–49.
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der antiken Raumerfassung tendenziell zu beantworten. Die Auffassung, die Entscheidungsträger (zumindest der römischen Antike) hätten umfassende geo- und kartographische Kenntnisse besessen und auch praktisch nutzen können, scheint im Lichte der hier ausgewerteten Belege und Hinweise und der Analyse der Werke von insgesamt 11 relevanten Autoren eher optimistisch! Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls verständlich, dass Landschaft und Terrain als angsteinflößend empfunden werden können, wie etwa besonders eindringlich in Xen. an. III 5,7 formuliert, wo tiefe Flüsse und hohe Gebirge ‚Auslöser‘ von Angst und Hoffnungslosigkeit sind: Offenbar besteht unter Feldherrn und Männern ohne ortskundige Hilfe von Lokalpersonen keine Vorstellung darüber, „was für Gebiete rings in jeder Richtung lägen“ (insges. Xen. an. III 5,14-18);5 sie verlieren die Orientierung und den Überblick, marschieren in einer Art Labyrinth und einem geographischem Hindernislauf und das ständig bedroht vom Feind.6 Bei Cassius Dio (LX 19,2), um auch ein römisches Beispiel anzufügen, meuterten die Truppen des Claudius bei der bevorstehenden Expedition nach Britannien, weil sie Angst hatten, den Rand einer ganz neuen und unbekannten Welt zu betreten.7 Auch Polybios, der ja nicht nur als Historiker, Wissenschaftler und Militärexperte, mit wissenschaftlicher Geographie wohl vertraut war, fordert in den betreffenden Kapiteln über die Feldherrnkunst (Pol. IX 12-20) zwar „Kenntnisse über den Ort der Handlung“, setzt aber ebenfalls bei der Erlangung dieses Wissens zu Weg und Ort nur auf vertrauenswürdige Wegführer.8 Und bei Durch5
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Xen. an. II 3,17–29 – Tissaphernes als Führer; Abhängigkeit von Tissaphernes: Xen. an. II 5, bes. II 5,9.17–20 – jeder Weg führe ohne ihn ins Dunkel, da man kein Stück des Weges kenne, sagt Klearchos. Zur Befragung Ortskundiger und den geographischen Kenntnissen in der Anabasis vgl. Rood 2012a, 161, 175–176 (siehe auch Xen. an. III 2,22; Gefangene: Xen. an. III 5,14–18 und IV 1,23–28; allgemein s. Austin/ Rankov 1995, 67–83: Gefangene, Überläufer, lokale Personen); zur Orientierungslosigkeit und Verwirrung, den Ängsten vor dem Unbekannten im Zusammenhang mit der Geographie des Landes, das die „Zehntausend“ da durchqueren, vgl. auch Purves 2010, 177–184 mit vielen beispielhaften Textpassagen, etwa 178 Anm. 45 zum oftmals geäußerten Gefühl der „Hoffnungslosigkeit“/ aporia im Angesicht der geographischen Schwierigkeiten (oft Flussüberquerung, Berge: Purves 2010, 178 Anm. 47); ortskundige Führer: Purves 2010, 179. Zur Bedeutung und Unentbehrlichkeit lokaler Führer siehe auch mit weiteren Quellenpassagen: Wheeler 1999b, 529. Der „gute Feldherr“ hat die Ängste der Soldaten genau zu beachten: vgl. Caes. Bell. Civ. I 21, II 29 : Lovano 2013, 75. Purves 2010, 182–183. Siehe auch Mattern 1999, 41. Vgl. Brodersen 2003, 81. Andererseits ist eines der Grundelemente der antiken Geographie das Bedürfnis nach Information, das sich aus den Gegebenheiten der jeweiligen Alltagssituation ergibt – sie war mit dem täglichen Leben und auch dem Moment verbunden, beruhte nicht nur auf Forschungen von Geographen, sondern eben in starkem Maße auf Erfahrungen kundiger Personen, ob im Handel oder im Krieg (Dueck 2013, 10). Insofern ist die oben geschilderte Art der Suche nach Information ‚aus der Situation heraus‘ auch wieder nicht allzu abwegig!
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sicht so mancher antiker Feldzugsbeschreibung in der Historiographie bekommt man den Eindruck, diese tendenzielle ‚Ahnungslosigkeit‘ könnte zumindest kein Einzelfall gewesen sein9 – selbst Cäsar, und hier begegnet er uns noch einmal in eher ungünstigem Licht, stolpert bei seiner Britannienexpedition 55/54 v. Chr. mehr oder weniger unvorbereitet und nur durch das unbefriedigende Befragen von Kaufleuten und Händlern mit bescheidenen geographischen und landeskundlichen Kenntnissen versehen (Caes. Gall. IV 20f.) in das militärische Abenteuer, das für ihn keiner seiner größten Erfolge werden sollte (Strab. IV 5,3)!10 In den antiken Fachschriften zur Feldherrenkunst – Onasander, Frontin, Polyainos u.a. – spielen Geo- und Kartographie keine Rolle. Selbst für Polybios, den „historischen Geographen an sich“ sozusagen, hat F. Walbank einmal überspitzt formuliert, man dürfe nicht erwarten, „[…] that […] topography shall be adequate to permit of pin-pointing an action on the contours of a large-scale Austrian Staff Map“.11 Und bei den Handbüchern, die wir hier behandeln, geht es ja eben gerade nicht um wissenschaftliche Geographie, sondern bestenfalls nur um „Standardterrains“ in anderem Zusammenhang12 – Gebirge, Flüsse, Wälder und Sümpfe um die häufigsten zu nennen. Aber, da es erfolgreiche Raumerfassung ja ohne Zweifel in der Antike gegeben hat – wenn man Raumdurchdringung und Gebietserweiterung von Imperien betrachtet –, lässt sich hier und anderswo genauso berechtigt fragen, ob wir uns nicht einfach ‚nur‘ mit dem Befund beschäftigen sollten: Wenn man genau zur Kenntnis nimmt, was man in der antiken Fachliteratur liest – und schließlich waren diese Werke nützlich, weit verbreitet und noch lange nach ihrer Abfassungszeit in Gebrauch13 (manche bis weit in die Neuzeit hinein, wie Aelian und Vegetius), könnte man auch ganz anders, positiver formulieren: Aus der Sicht der antiken Autoren zum Militärwesen bestimmt das Handeln des Feldherrn im Raum eine Vielzahl von geographisch definierten Faktoren, die Raumerfassung erfolgt ‚flexibel‘, eben nach einem nicht-kartographischen Modus, nämlich orientiert an immer wiederkehrenden, allgemeinen topo- oder chorographischen 9 Günther 2007, 232–241 mit einigen entsprechenden Beispielen. 10 Whittaker 2002, 81 mit Verweis auf Suet. Caes. 31; vgl. Whittaker 2002, 88 zum Fehlen von ‚Karten‘ in den Kommentaren Cäsars. Zur Britannienexpedition und der ‚Aufklärung‘ Cäsars im Vorfeld vgl. Austin/ Rankov 1995, 13, 100–101. 11 Walbank 1947, 164. Goldsworthy 2007, 82–83 weist auf den Primat der ‚politischen Geographie‘ über den der (allerdings auch nicht zu vernachlässigenden) physikalischen Geographie hin, wenn es um römische Eroberungen und Strategien geht. 12 Von der ‚praktischen Unbenutzbarkeit‘ der Karten der mathematisch-physikalischen Geographen für Händler, Reisende (und Soldaten bzw. Feldherren!) siehe etwa Rathmann 2013, 28–29. 13 Moore 2013, 463 und siehe auch den weitumspannenden Essay von Palaima/ Tritle 2013, 726– 742.
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Fixpunkten, wie Wegen/ Straßen und Schneisen, Ebenen, Hügeln, Bergen und Flüssen.14 Landschaft ist die Summe dieser Teile – und deren Berechnung und Beherrschung (durch Kundschafter und ‚Aufklärungseinheiten‘, einheimische Wegführer, Gefangene und Händler, zur Versorgung der eigenen Armee,15 zur Abwehr oder zum Angriff auf die Feinde) obliegt dem ausgebildeten Feldherrn. Die Erfassung der römischen Welt und die Visualisierung eines geographischen Raumes funktioniert pragmatisch, so wie auch ‚römische Karten‘ oder, besser, ‚Itinerare‘, ‚pragmatisch‘ sind: über Straßen und marschierende Legionäre; sie nehmen Landschaft und Terrain sukzessive, ‚vorrückend‘, in Besitz und unterwerfen sie.16 Antike Menschen dachten so über Geographie – da ihnen genaue topographische Karten fehlten, dachten sie nicht kartographisch, wie wir modernen Menschen, in genau definierten und umgrenzten Territorialgebieten, sondern wie gesagt, in 14 Ähnlich auch Sidebottom 2007, 5 zum ‚hodologischen Denken‘, in linearen Kategorien, etwa Küsten, Flüssen, Straßen, Bergzügen. Vgl. auch Sidebottom 2008, 103–104. Siehe auch Mattern 1999, 39–40: „one-dimensional ‚odological‘ view of the world“ (zum Begriff vgl. Hänger 2001, 12–13, 18). Siehe auch Austin/ Rankov 1995, 112–118. Itinerarien sind perfekte Umsetzungen dieses Denkens – und sie kamen offenbar auch bei strategischen Planungen zum Einsatz: s. HA Sev. Alex. 45,2– 3, dazu vgl. auch Kolb 2013, 195–196 und s.a. Brodersen 2001, 12. Man vgl. hier auch Sherk 1974, 541–543 zu den ebenfalls ‚lineare Denkweise‘ reflektierenden Memoiren Traians im Zusammenhang mit den Schilderungen des Vordringens in den Dakerkriegen und auch ebenso zur Inspektionsreise des Statthalters Arrian zu den Garnisonen am Schwarzen Meer; Sherk 1974, 560 Anm. 84: Der Kirchenvater Ambrosius beschreibt, dass Soldaten regelmäßig ein Itinerar erhielten, bevor sie in den Einsatz gingen (dazu auch Austin/ Rankov 1995, 115–117). Wheeler 1999a, 275–276 spricht in ähnlichem Zusammenhang von zu berechnenden Faktoren, wenn es um das feindliche Terrain und seine Elemente geht – Berge, Hügel, Sümpfe, Wälder, Flüsse, Seen, Straßen: Wie beeinflussen die Unterschiede des Terrains auch das taktische Verhalten des Gegners, seine Fähigkeiten und vielleicht auch seine spezifische Bewaffnung? Welchen Einfluss hat das Terrain auf das Versorgungssystem, die Logistik? Dazu s. auch folgende Anm. Zur landeskundlichen Geographie, der Chorographie, und der Visualisierung von landeskundlichen Informationen, um die es dort geht, in Form einer chorographischen Kartographie vgl. Rathmann 2013, 35–37 dann auch S. 38–44, 48–49; vgl. auch Rathmann 2013, 44–48 zur Tabula Peutingeriana, die ebenfalls zur Visualisierung eines geographischen Raumes dient, als Beispiel. 15 Für die Logistik im Zusammenhang mit ‚strategischer Aufklärung‘ vgl. etwa Engels 2013, 357 und allgemein für die ‚Aufklärung‘ und die dazu benutzten Truppentypen bzw. Spezialisten den Überblick bei: Russell 2013, 474–492. Vgl. hier auch Goldsworthy 2007, 82–83, 98–99, 102–104 und für die Spätantike s.a. Humphries 2007, 250–253 sowie umfassend und grundlegend Austin/ Rankov 1995, passim, v.a. aber einleitend ebd. S. 6–11. Zu Logistik und Geographie: vgl. den Artikel von Kehne 1999, 308–315. 16 Zu diesem Unterwerfungsaspekt beim Verhältnis Natur/Bauten vgl. exemplarisch Kissel 2002, 143–152. Vgl. auch Sidebottom 2007, 5: vertiefte geographische Kenntnisse erst als Folge der militärischen Eroberung. Siehe dazu auch Goldsworthy 2007, 82–83 und Mattern 1999, 25, 26–41: „[…] ancient sources give us the impression that detailed geographical knowledge of a region could normally result only from direct military intervention in the area; such knowledge was gathered on campaign“. Siehe auch folgende Anm.
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linearen Kategorien und Größen – Küstenlinien, Flüssen, Gebirgszüge, Straßen. Man nennt das auch ‚hodologisches Denken‘, abgeleitet von griechisch hodos, der Weg, die Straße, aber auch die Reise, der Marsch – mit Bezug auf die Handlung. Geographische Kenntnisse werden erst bei der militärischen Intervention gesammelt und bei der vollständigen Eroberung und Durchdringung abgerundet, die geographische Kenntnis wuchs zusammen mit dem Imperium. Robert Sherk17 hat dafür einige Beispielepisoden gesammelt, an denen sich diese ‚Weltsicht‘ gut erkennen lässt. Ich greife daraus zunächst eine Episode heraus, die zugleich die ‚Orientierungslosigkeit‘ der Unternehmung dokumentiert: Die Expedition des Aelius Gallus 25 v. Chr. nach Arabien (eine mit einem Zug nach Äthiopien kombinierte Unternehmung), scheiterte am Verrat der Verbündeten, an Krankheit, Hunger und Durst, aber auch an den völlig falschen geographischen Vorstellungen von der Südausdehnung der Arabischen Halbinsel, wie sie die den strategischen Planungen von Augustus und Agrippa vor dem Feldzug zugrunde lagen: Aus dem Bericht des älteren Plinius (N.H. 6,160) wird aber klar, dass Gallus und sein Stab natürlich das Vordringen nutzten, entsprechende Informationen über Wegstrecken, Städte und auch Stämme sowie Informationen zur Agrarstruktur (Logistik!) zu notieren. Unter Nero (54-68) gab es eine militärisch-wissenschaftliche Expedition nach Äthiopien (d.i. Meroe/ Sudan), die auch die Nilquellen zu erforschen suchte und bis etwa 500 Meilen südlich Khartoum im heutigen Sudan gelangte; Plinius (6,181ff.-197) berichtet, dass die mensores der Prätorianergarde unter dem Kommando eines Tribunen und zweier Zenturionen dort Wege und Geländeverhältnisse erkunden sollten. Der Abschlussbericht an den Kaiser (Plin.N.H. 12,19) beinhaltete mindestens Wegelisten mit Entfernungen und Beschreibungen, vielleicht auch Skizzen bzw. eine ‚Karte‘ in Form eines Städte, Berge, Flüsse und Straßen verzeichnenden Itinerariums.
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Sherk 1974, 537–543, v.a. S. 558–561! Dabei versucht Sherk 1974, 544–550 auch recht überzeugend die Rolle der (militärischen) mensores herauszuarbeiten, die in den Legionen (Sherk 1974, 546– 549; Rang: immunes, duplarii – etwa Dig. 50,6,7 und CIL VIII 2564), bei den Prätorianern (Sherk 1974, 549–550; sogar mensor ordinatus und discentes belegt: CIL VI 32520; in AE 1947, 61 wird ein Prätorianer als chorographiarius und caelator bezeichnet, also zeichneten die mensores als Ergebnis ihrer Arbeit Karten und hatten das Ergebnis auch in Bronze zu gravieren: Ebd. 550 und siehe auch Austin/ Rankov 1995, 114; vgl. hier aber auch OGIS 205 aus Pselkis) und in den Auxilia belegt sind (Sherk 1974, 551). Zu den Aufgaben der mensores Sherk 1974, 551–558, ebd. 558–561 zu den „military maps“. Vgl. auch noch einmal Plin. nat. 6,40 (Sherk 1974, 540, 559) die Feldzugberichte des Corbulo enthielten „Karten“, wohl in der Art der Tabula Peutingeriana. Insgesamt s.a. Austin/ Rankov 1995, 112–120 mit weiteren Hinweisen. Zu Aelius Gallus s. Marek 1993, 121–156, v.a. 148– 149; siehe auch Eich 2009, 568. Zu den Zielen der Expedition des Gallus vgl. auch Kienast 1999, 335–338. Eine Neubewertung des ‚Erfolges‘ dieser Expedition und den Folgen für die Beziehungen zwischen dem Imperium und Südarabien vgl. aber jetzt Speidel 2015, 241–258.
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Itinerare als ‚Speicher geographischen Wissens‘ zeigen genau diese offenbar zutiefst römische Art der hodologischen Raumerfassung.18 Die Information über eine Straßenverbindung ‚funktioniert‘ grundlegend in einer sukzessiven Anordnung von Lokalitäten und Distanzangaben; sie entspricht einer linearen Abfolge, gibt das Wissen wieder, auf welchen Wegen man geographische Räume durchqueren kann. Der sukzessiven (!) Ausdehnung des ‚Imperiums‘ seit dem 4. Jh. v. Chr. war die stückweise Erbauung der Staatsstraßen gefolgt, um die Räume zu erschließen, die Herrschaft zu implementieren und zu konsolidieren.19 Dass man bei der Eroberung, dem Marsch ins Feindesland, ‚stückweise‘ und entlang linearer Abfolgen von Terrain20 dachte, liegt dann nahe! Wirkliche Kenntnis der Räume – während und nach der Eroberung erlangt – resultierte aus der Durchmessung des Geländes und der Sicherung des Raumes durch römische Waffen. In der Fachliteratur findet sich Landschaft entsprechend ‚nur in Ausschnitten‘, in ‚Landschaftssituationen‘ – Gebirgen, Flüssen, Wäldern und Sümpfen, Standardsituationen, die ein Kommandeur bedenken und einüben muss, damit er in einem ihm ansonsten unbekannten Gelände nicht überrascht wird oder damit er in bekanntem Gelände den Feind in bestimmten Landschaften effektiv in eine Falle lockt und Gelände zu seinem Vorteil nutzen kann. Hier werden standardisierte Denkanstöße geboten, keine Landschaftsbeschreibungen, schon gar nicht bestimmte strategische Ziele definiert, darum geht es bei dieser Literaturgattung nicht. Sammeln wir einfach dazu einige grundlegende Gedanken bei den einzelnen Autoren – vieles gleicht sich auch immer wieder: Meist aus der Sicht des Feldherren oder mit Blick auf ihn werden mögliche Kampfhandlungen bzw. Taktiken aus didaktischen Gründen auf wesentliche militärische Strategien und Finessen reduziert und das Erreichen eines Erfolges deutlich vor Augen geführt. Schon bei Xenophon und Aineias Taktikos ist aufgrund praktischer Erfahrung klar, dass man als Feldherr in der Lage sein muss, das Gelände zu erkennen, wo man seine zur Verfügung stehenden Truppen optimal einsetzen kann – dieser Grundsatz, Einsatz angemessener Truppengattungen auf dem richtigen Gelände, also, etwa Kavallerie für die Ebenen, schwere Infanterie für die Ebene, Leichtbewaffnete für die Berge – taucht bei 10 von 11 Autoren immer wieder auf, bis hin zu Maurikios. Nicht nur die Disposition der Truppen, ihre Formation und ihr Einsatz ist abhängig von der Topographie: Auch die Bewegung hat unter Berücksichtigung 18
Kolb 2013, 194–195, 214. Vgl. auch Rathmann 2013, 44–48 zur Tabula Peutingeriana. Zu Itinerarien vgl. auch Hänger 2001, 95–112. 19 Syme 1988, 232, 249. Imperium und Straßen s. klassisch: Casson 1994, 163; s.a. C. Adams, in: Adams/ Laurence 2001, 1–2. Ein konkretes Fallbeispiel analysiert Laurence 2001, 67–94, hier v.a. 74–82 (vgl. auch Tac. Agr. 31). 20 Siehe auch Whittaker 2002, 87 und vgl. Mattern 1999, 40.
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des Geländes und von dessen potentiellen Gefahren zu geschehen: beim Marsch über Ebenen, beim Passieren von Festungen und in gefährlichen ‚Passsituationen‘ oder beim Vorbeimarsch an höher gelegenen Geländepartien auf der rechten, ungeschützten Seite und überhaupt im Gelände da, wo sich Hinterhalte anbieten oder dann auch bei den gefährlichen Flussübergängen: Vegetius mil. III 6,1-34 behandelt, die Vorsicht, die man walten lassen müsse, wenn das Heer sich feindnah bewegt, beschreibt die Gefahren des Marsches und die Notwendigkeit der Wegkenntnis. Wegbeschreibungen (itineraria) von möglichst allen Regionen, in denen man Krieg führe, müssten vorhanden sein, man müsse Kenntnis haben von Abkürzungen, Bergen, Flüssen, am besten seien zusätzlich zu diesen Beschreibungen auch ‚Karten‘ (itineraria picta).21 Der Vorteil der Geländekenntnis (die bei den Fachschriftstellern mit einer Ausnahme stets durch Kundschafter, vor allem aber durch Ortskundige, Gefangene und Geiseln erlangt wird, sonst aber nicht durch Karten!) sowie die Gefahr und der Nachteil der Unkenntnis des Geländes werden immer wieder thematisiert. Wer das Gelände kennt, hat gegenüber dem Feind enorme Vorteile (Xen. hipp. IV 6). Taktik und Geländeart ‚justiert‘ der Feldherr. Die ständige Wiederholung der ‚geographischen Formeln‘ bei den unterschiedlichen Autoren erhöht den ‚Wiedererkennungswert‘ der Standardsituationen und damit deren Verwertbarkeit für praktisches Lernen. Die Eigenarten 21
Zu den Itinerarien bei Vegetius vgl. etwa Kolb 2007, 175 und Kolb 2013, 197–198, 200 und besonders Günther 2007, 232–233, 236–241, die aus der Historiographie (Ammian, Prokop) auf Beispiele geringer geographischer und topographischer Kenntnisse bei so manchem (auch kaiserlichem) Feldherrn Roms in der Spätantike hinweist; die Römer seien hier den Barbaren in der Regel unterlegen gewesen (umso verständlicher sei die immer wieder zu findende Betonung der Bedeutung vertrauenswürdiger und erfahrener, ortskundiger Informanten). Allgemein zur Wahrnehmung und Beschreibung von Raum in Itinerarien siehe auch Salway 2007, 181–209 und Salway 2004, 43–96 sowie Hänger 2001, 95–98. Insgesamt vgl. auch Whittaker 2002, 93–94 und dann Brodersen 2003, 188–190 zu den nicht maßstabsgetreuen, schematischen Skizzen, die bei Vegetius gemeint sein können, mit einem interessanten Vergleich aus dem 16. Jh. Allgemein vgl. auch Olshausen 1991, 87–95. Goldsworthy 2007, 82–83 weist darauf hin, dass es bis ins 19. Jh. fast normal gewesen sei, dass der Führung einer Armee genauere Karten erst durch entsprechende Erkenntnis bzw. Erkenntnisgewinne während der Feldzüge vorlagen – die topographische Information wuchs erst im Verlauf des Feldzuges wirklich. Siehe auch Mattern 1999, 28. Irrtümer mit fatalen Folgen, die aus Ortsunkenntnis entstehen, kennt man in der Tat auch aus der jüngeren Militärgeschichte: Als Beispiel mag die Schlacht von Stormberg am 10. Dez. 1899, während des 2. Burenkrieges, dienen. Der kommandierende britische General William Gatacre hatte keine Kenntnis von der genauen Marschroute, die ihn zum Ziel, dem ‚Kissieberg‘, bringen sollte; der einzige Offizier, der sie kannte, war ‚vergessen worden‘ – der Morgen der Schlacht fand ihn auf der falschen Seite des gesuchten Punktes, des besagten Hügels. Der Feind konnte den in die falsche Richtung laufenden Kolonnen in den Rücken schießen; nach der Version des Generalstabs aber, waren Gatacre und seine Männer in einen feigen Hinterhalt geraten, die Niederlage wurde umgedeutet; dazu s. Dixon 1994, 59–60.
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des Geländes für bestimmte Truppen bzw. Truppengattungen und eine ‚taktische Sichtweise‘ dominieren sogar auch in historiographischen Beschreibungen von Terrain, geradezu nach einem ‚Code militärischer Nutzbarkeit‘.22 Die Funktion der Geschichtswissenschaft als Orientierungshilfe des politischen und militärischen Führungspersonals, für das etwa Polybios schreibt, liegt auf der Hand.23 Geschichte hat für ihn eine wesentliche Aufgabe darin, militärische Operationen zu analysieren und Lehren zu vermitteln. Und so gibt es bei ihm eine unlösbare Verbindung von geographischen Kenntnissen und einem erfolgreichen Feldherrn. Der Erfolg wird bestimmt von der Fähigkeit des Feldherrn, sich des bestmöglichen Raumes, der besten Position und des günstigsten Ortes zu bemächtigen, um seine Pläne zum Erfolg zu bringen. Gutes Planen ist notwendig, erfahrene Generäle sind auch in der Lage, die gegnerischen Erwartungen, die an bestimmte Räume gebunden sind, für sich zu nutzen, indem man etwa einen Gegner, der Hinterhalte nur in Wäldern erwartet, in baumlosem, flachem Gelände in Fallen laufen lässt (Pol. III 71,1-4).24 Auch dieser ‚umgekehrte‘ Fall wird nämlich in der Fachliteratur reflektiert, dass die eigene Geländekenntnis und Vertrautheit mit dem Terrain beim Angriff auf einen feindlichen Aggressor von großem Vorteil ist. Man könne den Feind dorthin lenken, wo es günstig sei für Angriff, Verteidigung, Flucht und/oder Rückzug. Man wisse, wo man selbst sich versorgen könne – der Feind kenne alle diese Details in der Regel nicht. Dessen Unvertrautheit mit dem Gelände, seine Unkenntnis der Verhältnisse, ist im Vordringen, beim Vormarsch und bei einem eventuellen Rückzug ein absoluter Nachteil und macht den Gegner angreifbar (Ain. Taktikos XVI 20). Onasander gibt zu bedenken, dass es oft unmöglich sei, vorauszusehen, in welcher Art von Gelände ein Krieg stattfinden werde. Jeder Mensch sei zwar mit seinem Heimatland vertraut, aber eben nicht mit fremdem Terrain. Er mahnt, der General solle das Gelände eher als die Feinde beachten; das Terrain, durch das die Truppen geführt werden, müsse genau beobachtet werden (Onasand. XI 2-4). Und Maurikios fügt hinzu, Krieg sei wie Jagd: Durch Kunstgriffe habe man mehr Erfolg, als mit Gewalt allein (Strateg. VII A 45). Das Unpassendste, was ein Feldherr jemals sagen könne, sei „das habe ich nicht erwartet“ (Strateg. VIII 1,26; s.a. VIII 2,36). Das Gelände klug zu nutzen sei essentiell, denn oft bringe es Nutzen und erweise selbst den Schwächeren schließlich doch als überlegen (Strateg. VIII 2,8).
22 Rood 2012a, 171, 172 mit Anm. 21. 23 Siehe auch Marsden 1974, 284–285. 24 Rood 2012b, 192.
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Schluss Solange Landschaft und Terrain berechenbar sind, sind sie beherrschbar – und das ist das Geheimnis der Landschaftsdetails bei den militärischen Fach-Autoren der Antike: Immer wieder eingeübte und gezeigte Standards zum Faktor Raum oder Landschaft/Terrain, Gelände, machen Strategie und Taktik25 berechen- und beherrschbar. Krieg ist hier ein wenig wie ein Schachspiel. Bestimmte Standardsituationen werden – so zeigt auch der Blick auf die folgende tabellarische Übersicht – häufiger behandelt als andere: Flüsse, Ebenen, Wälder, Hügel/ Berge und Pässe, Wege und Straßen. Häufiger als erwartet wird auch über klimatische Rahmenbedingungen nachgedacht, sehr selten aber über ‚Karten‘ oder über die Frage, wie man sich am besten im Gelände orientiert. Am häufigsten vorkommend und am besten belegt ist offenbar die Maxime, dass Truppen je nach dem Gelände eingesetzt werden müssen und eingesetzt werden sollten. Theoretische ‚Beherrschung‘ von Landschaft und Terrain, die topographische Analysefähigkeit, sind eindeutige Schlüsselfaktoren der erfolgreichen Feldherrnkunst: „Schnell wie ein Vogel“ muss ein Feldherr denken und entscheiden (Onasand. I 7) und in der Lage sein, sofort die taktischen Möglichkeiten eines Schauplatzes zu analysieren – darauf wird er durch die Standards der Fachliteratur vorbereitet. Polybios bemerkt (V 21,6 und IX 13,8), dass Unterschiede im Terrain die meisten Niederlagen zu Land verursacht hätten. Der richtige Ort mache scheinbar unmögliche Dinge möglich und scheinbar machbare unmöglich (Pol. IX 13,8). Die Wahl eines richtigen Platzes ist essentiell, spielt die bedeutendste, ja, die entscheidende Rolle für einen Sieg: Terrain (und seine Beherrschung) ist nützlicher als der Mut (Veg. mil. III 26,11 und Onasand. XXI 3-4)!
Anhang: Untersuchte Autoren 1. Xenophon Ca. 430–355 v. Chr.; ca. 380 v. Chr.: Anabasis [Textausgabe/ Übersetzung: Xenophon. Anabasis. Der Zug der Zehntausend. Griechisch und Deutsch, hrsg. von W. Müri, bearb. und mit einem Anhang vers. von B. Zimmermann (Düsseldorf, Zürich 1997)] 2. Aineias Taktikos Mitte des 4. Jh. v. Chr. (360/50 v. Chr.) [Textausgaben/Übers., Kommentare: W. A. Oldfather, Aeneas Tacticus. In: Aeneas 25 Zu Strategie bzw. auch Taktik und Geographie vgl. die sehr nützlichen Artikel von Wheeler 1999b, 524–533 und Wheeler 1999c, 533–539.
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Tacticus. Asclepiodotus. Onasander. The Loeb Classical Library 156 (Harvard/ London 1923, Nachdr. 1977) 1–225; D. Whitehead, Aineias the tactician. How to survive under siege? A Historical Commentary, with Translation and Introduction (Oxford 22001)] 3. Polybios Ca. 200–120 v. Chr. Autor einer in der Antike offenbar sehr berühmten, leider verlorenen militärisch-taktischen Fachschrift mit dem Titel „Taktika“ (Autorverweis etwa Pol. IX 20,4–5; diese ist aber von den nachfolgend behandelten Fachschriftstellern Arrian, Ailianos, wohl auch von Asklepiodotos, rezipiert worden) 4. Asklepiodotos, „der Philosoph“ „Taktiká”, die „Taktikregeln” des Asklepiodotos, datieren in die Zeit des 1. Jh. v. Chr. (vielleicht am ehesten um die Mitte des 1. Jh. v. Chr.“). [Ausgaben und Kommentare: Ch. H. Oldfather/ W. A. Oldfather, Asclepiodotus. In: Aeneas Tacticus. Asclepiodotus. Onasander. The Loeb Classical Library 156 (Harvard/ London 1923, Nachdr. 1977) 229–340 und L. Poznanski, Asclépiodote, Traité de tactique (éd. et trad.) (Paris 1992, Nachdr. 2002)] 5. Onasander „Strategikós (lógos)“ , Mitte des 1. Jh. n. Chr. (zwischen 49 und 59 n. Chr.). [Text und Übers.: W. A. Oldfather, Onasander. In: Aeneas Tacticus. Asclepiodotus. Onasander. The Loeb Classical Library 156 (Harvard/ London 1923, Nachdr. 1977) 343–527] 6. Frontin Sextus Iulius Frontinus (73 erster Konsulat; 98, 100 Konsul mit Traian; gest. um 103 n. Chr.) [Text und Übers.: Frontin, Kriegslisten. Lateinisch und Deutsch, hrsg. von G. Bendz. Schriften und Quellen der Alten Welt 10. Dritte Aufl. (Berlin 1987)] 7. Ailianos Taktikos „Taktikè theoría“ , Beginn des 2. Jh. n. Chr., [Als Textgrundlage ist hier benutzt: Chr. Matthew, The Tactics of Aelian or On the Military Arrangements of the Greeks. A New Translation of the Manual that influenced Warfare for Fifteen Centuries (Barnsley 2012)] 8. Arrian „Téchne taktiké“, zwischen 131 und 137 n. Chr. [Textausgabe: Flavius Arrianus. ΤΕΞΝΗ ΤΑΚΤΙΚΑ (Technical Handbook) and ΕΚΤΑΧΙΣ ΚΑΤΑ ΆΛΑΜΩΝ (The Expedition against the Alans), transl. and ed. J. G. DeVoto (Chicago 1993)] 9. Polyainos 2. Hälfte des 2. Jh. n. Chr. [Textgrundlage/Übersetzung, Kommentar: P. Krentz/E. L. Wheeler (Hg.); Polyaenus. Strategems of War I, II (Chicago, Illinois 1994)]. 10. Vegetius Flavius Vegetius Renatus; Ende des 4. Jh. Chr. [Textausgaben/Kommentare: M.D. Reeve, (Hg.), Vegetius. Epitoma rei militaris
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Landschaft bei den antiken Militärfachschriftstellern
(Oxford 2004); Vegetius. Epitome of Military Science. Translated with notes and introduction by N.P. Milner. Translated Texts for Historians, Vol. 16. (Liverpool; second revised edition 2011) und Vegetius. Abriß des Militärwesens. Lateinisch und Deutsch, mit Einleitung, Erläuterungen und Indices von F.L. Müller (Stuttgart 1997)] 11. Maurikios Am Beginn des 7. Jh. n. Chr.: „Strategikon“ [Textausgabe mit Einführung: G.T. Dennis/ E. Gamillscheg (Hg.), Das Strategikon des Maurikios (Wien 1981)]
Tab.: Ergebnistabelle: 11 Autoren – 15 ‚Faktoren‘ Xen.
Ain.
Pol.
Flüsse (und Brücken) [8] Ebenen [7]
X
X
X
X
X
X
Hügel [6]
X
Berge und Pässe [7] Wälder [7]
X
Askl. Onas. Front.
Ail.
X
Arr. X
X
X X
X
X
X
X
Maur.
X
X
X
X
X
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X
X
X
X
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X X
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X X
X X
X
X
X
X
X X X X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
„Karten“ [1] Felder und Kulturpflanzen, Weiden [3]
Veg.
X
Sümpfe [3] Kanäle und Gräben [4] Wege und Straßen [6] Schneisen und Pionierarb. [2] Kundschafter [4] Ortskundige (auch Deserteure, Gefangene) [2] Truppen je nach Gelände [10] Klima [6]
Polyain. X
X X
X
X
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Oliver Stoll
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Antike Architektur und Landschaft
Im Folgenden soll es um die Interaktionen antiker Architektur mit ihrer naturräumlichen Umgebung gehen, was angesichts der problematischen Quellensituation methodisch jedoch nicht einfach ist.1 Dies beginnt schon bei dem Begriff: Nach W. Elliger kannte die griechische Sprache kein Wort für „Landschaft“, Platon würde sie stattdessen mit chória kai déndra („Orte und Bäume“) umschreiben, also der Summe einzelner landschaftlicher Phänomene.2 Folgt aus der Unkenntnis des Begriffes ein Unverständnis des Gegenstandes? Konnten in der Antike daher Landschaftsbezüge von Architektur überhaupt bewusst gestaltet werden oder waren Landschaft und Architektur zwei isolierte und beziehungslose Bereiche? Immerhin spielte Landschaft als ästhetische Kategorie bei Vitruv keine wesentliche Rolle, sondern wurde unter medizinischen Aspekten behandelt.
Landschaft und Bildende Kunst Tatsächlich spiegelt sich das Fehlen eines literarischen Landschaftsbegriffs3 auch in der Bildenden Kunst geometrischer bis klassischer Zeit wider, die ebenfalls keine Landschaftsdarstellungen hervorgebracht hat.4 Vasenbilder sind entweder dekorativ oder narrativ, Landschaft kommt nur als Abbreviatur, z. B. Baum oder Fels, vor.5 Gleiches gilt für Reliefs6 (Abb. 1) und wohl auch für die verlorenen Wand- und Tafelbilder, selbst wenn, wie der Sumpf bei der Marathonschlacht in
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Ich danke den Veranstaltern für die Einladung und die Möglichkeit, die folgenden Gedanken vorzulegen. Insbesondere gilt mein Dank aber R. Rollinger für seine wertvollen Hinweise. Elliger 1975, 1–2. Landschaftselemente in der griechischen Literatur: Roy 1996. Vgl. Lorentz 1935, 1827 zur Ideallandschaft in der Literatur des 6./5. Jhs. v. Chr. bzw. Lorentz 1935, 1841 (keine Beschreibung der Natur um ihrer selbst willen); erste Naturdichtung laut Lorentz 1935, 1847 das Frühlingsgedicht des Nonnos in Anthologia Palatina 9,363, ebenso Elliger 1975, 429–431; methodisch kritisch Steinmeyer-Schareika 1978, 9–36. Vgl. Schober 1923; Hoesch 1999. Nelson 1979. Pagenstecher 1919; Wegener 1985, 187–189.
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der Stoa Poikile,7 die Landschaft eine wichtige Rolle spielte. Landschaftsabbreviaturen ähneln in ihrer Funktion derjenigen von Architektur. Bis auf wenige Ausnahmen stehen in Vasenbildern auch hier einzelne Elemente für das Gesamte, um Handlungsorte oder -kontexte zu verdeutlichen.8 Entsprechend sind ikonographische Anliegen wichtiger als dokumentarische.9 Landschafts- und Architekturabbreviaturen sind also verwandte Phänomene der Bildsprache. Das Abb. 1: Schild der Athena Parthenos, Rom, Fehlen von Landschaftsdarstellung Villa Albani (aus: Hölscher, T./Simon, E.: Die Amazonenschlacht auf dem Schild der Athena und -begriff bedeutet aber nicht, dass Parthenos, Athenische Mitteilungen 91 (1976), diese/dieser nicht wahrgenommen Taf. 48.2). wurde, auch wenn die erste von der Handlung unabhängige Beschreibung der Landschaft erst im 3. Jh. v. Chr. bei Apollonios von Rhodos10 vorkommt und nicht bestritten wird, dass die Landschaft erst in der römischen Wandmalerei eine der Narration gleichgewichtete Rolle spielt.11 Tatsächlich kann Landschaftsmalerei erstmals mit den Odysseefresken vom Esquilin (Abb. 2) in den letzten Jahren des 1. Jhs. v. Chr. nachgewiesen werden.12 Sie zeichnen sich durch eine impressionistische Darstellung aus, die den Gesamteindruck stärker als die Details betont. Als wegweisend überliefert Plinius den augusteischen Maler Studius.13 Er führte als erster die höchst löbliche Art der Wandmalerei mit Villen, Hallen, Landschaftsgärten, Hainen, Wäldern, Hügeln, Fischteichen, Kanälen, Flüssen, Küsten – was immer man sich wünschen kann – ein, und in diesen verschiedene Dar7 8
Pausanias 1,15,3; vgl. auch den Niobiden-Maler. „[…] ist die dargestellte Architektur bzw. deren Details niemals allein als eigenständiges Bildmotiv kontextuell verständlich: sie ist immer Bestandteil der Darstellung eines szenischen Ablaufs, die sie erklären oder verdeutlichen kann.“ (Brandes-Druba 1994, 195); zu Architektur und Architekturelementen Brandes-Druba 1994, 185–197; Meyer 1988, 95–100. 9 Positivistisch Tarbell 1910; Eckhardt 1953; Oliver-Smith 1970; Sonderrolle von Bühnendarstellungen: Gogos 1983. 10 Fehr 1969, 49: Apollonios Rhodios 1,1112–1113 und 3,164–165. 11 Hellenistische und kaiserzeitliche Reliefs: vgl. Wegener 1985, 180–186. 12 Umfeld des Dritten Stils: Biering 1995, 181–190; allgemein Peters 1990. 13 Zu Studius vgl. Ling 1977; Ling 2007.
Antike Architektur und Landschaft
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Abb. 2: Ausschnitt aus den Odysseefresken vom Esquilin (aus: Sauron, G.: Römische Kunst von der mittleren Republik bis Augustus, Mainz 2013, Abb. 228).
stellungen von herumstreifenden Menschen, Segelnden oder Menschen, die über Land zu Villen auf Eseln oder Wagen ziehen […] Er war derselbe, der die Praxis der Darstellung von am Meer gelegenen Städten mit Terrassen einführte und so einen lieblichen Effekt mit minimalem Aufwand hervorbrachte.14
Eine Variante der Landschaftsmalerei sind die Bilder sakralidyllischer Landschaften. Da diese Gattung ihren Aufschwung in der augusteischen Zeit nahm, ist auf den Bezug zur zeitgenössischen Dichtung15 hingewiesen worden. Die Interpretation, es handele sich um eine Verbrämung vermeintlich altrömischer Pietas, angereichert um Elemente des Numinosen, ist wohl zutreffend.16 Ein bekanntes Beispiel ‚allegorischer Landschaftsdarstellung‘ augusteischer Zeit ist das Tellus-Relief der Ara Pacis (Abb. 3). Zu diesen Gattungen treten später dann auch Sarkophagreliefs mit ländlichen Szenen hinzu. Die Vorläufer der römischen Landschaftsdarstellungen können seit dem 4. Jh. v. Chr. in der Kunst gefasst werden, z. B. im Jagdfries des Philippsgrabes in Vergina,17 in den Tabulae Illiacae, im Telephosfries des Pergamonaltares oder auch auf Megarischen Bechern. Hinzu treten bukolische Szenen und schließlich gestaffelte Landschaftsdarstellungen, wie sie im Nilmosaik von Praeneste überliefert sind.18 14 Plinius, Naturalis historia 35,116–117 (Übersetzung: R. König/J. Hopp). 15 Zu Landschaftselementen bei Vergil vgl. Pietzcker 1965, 171–196; Reeker 1971; Witek 2006. 16 Wrede 1991; Hinterhöller 2007, 160. 17 Biering 1995, 190. 18 Vgl. Amedick 1999, 201–205; Schefold 1956 (Vorbilder in der Buchmalerei). Problematisch bleibt aber wohl eine zu frühe Datierung des Nilmosaiks ins 2. Jh. v. Chr. Obgleich nicht bestritten wird, dass es motivisch vergleichbare Einzelszenen von Jagden in Nillandschaften gibt (z. B. Rom, Villa Maccarani), würde dies bedeuten, dass die Vorlage des Mosaizisten in Ägypten, immerhin eine veritable Landschaftsdarstellung, die nicht ohne Umfeld sein wird, für die hellenistische Malerei in den nächsten 100–150 Jahren bis Studius (s. o.) ohne wirkliche Folgen geblieben wäre – bis auf das Praenestaner Mosaik.
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Abb. 3: Tellus-Relief der Ara Pacis in Rom mit der Darstellung der fruchtbringenden Erde (aus: Nash, E.: Bildlexikon zur Topographie des antiken Rom, Bd. 1, Tübingen 1961, 68 Abb. 65).
Einen weiteren Traditionsstrang römischer Landschaftsmalerei kann man in der etruskischen Grabmalerei sehen, in der Landschaftselemente seit dem 6. Jh. v. Chr. zu finden sind. Konstatiert man das Fehlen des Landschaftsbegriffes in der Literatur und setzt man den Beginn landschaftlicher Reliefs im Hochhellenismus und den einer eigenen, zudem römischen, Landschaftsmalerei nach der Mitte des 1. Jhs. v. Chr. an, dann ist die Frage berechtigt, ob Architektur und Landschaft vor dem hohen Hellenismus überhaupt in einer bewusst konzipierten Beziehung zueinander stehen können.
Landschaft und Architektur – methodische Probleme Bei der Untersuchung der Bezüge zwischen Architektur und Landschaft sieht man sich vor das methodische Problem gestellt, tragfähige Kriterien für objektivierbare Aussagen zu entwickeln. Der Umstand, dass die Lage eines Bauwerks für den modernen Besucher reizvoll ist, bedingt angesichts unseres von der Romantik geprägten Naturgefühls keine notwendige Entsprechung in der Antike. Aufgrund des Fehlens literarischer Quellen, insbesondere des Verlustes der antiken Architektenschriften, ist folglich die Frage zu stellen, ob überhaupt Grundlagen
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Abb. 4: Delphi, Apollon-Tempel in der Landschaft (Foto: Mattern, T.).
für eine wissenschaftliche Untersuchung gegeben sind. Allerdings verbietet ein gravierender Unterschied zwischen Architektur und Bildender Kunst, die Gattungen gleichzusetzen: Bauherren und Architekten müssen sich nämlich mit der Landschaft wenigstens insoweit auseinandersetzen, als sie einen Bauplatz auswählen und das Gebäude auf diesem ausrichten müssen, während ein Maler die Landschaft ausblenden und das Bild auf Personen reduzieren kann. Architektur ist also stets ein Eingriff in die oder eine Ergänzung der Landschaft, niemals aber beziehungslos. Wie groß die Schwierigkeit ist, Kriterien zu entwickeln, zeigt sich etwa an der Frage, ob der Peripteraltempel in der Lage ist, Landschaftsbezüge aufzunehmen. Dies wurde am Beispiel des Apollontempels von Delphi bestritten, dessen Position über dem Tal des Pleistos geradezu landschaftliche Signalwirkung besitzt (Abb. 4): Aber der Tempel vereinigt sich nicht mit der Landschaft. Ein Gebilde von eigener Vollkommenheit, steht er im heiligen Bezirk, der umschrankt, doch nicht verschlossen ist; so in Delphi, innerhalb der mächtigen weißen Felsenmulde der Phaidriaden. Terrasse und Stylobat heben ihn ab vom Gefälle des Hangs; immerhin gibt dieser ihm die Richtung. Weder bezieht sich die Schar der Kleinbauten auf den Tempel, noch ist er selber von dem Gelände bestimmt oder sucht er gar auf dieses auszuwirken. Unbefangen und selbstgewiß, so erhebt sich das Heiligtum in dem von Natur
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aus begrenzten und in sich ruhenden Felsentheater. Man wird nicht vergessen, daß der dorische Tempel, wo immer er gebaut wird, derselbe ist, mindestens ideell, unabhängig von der Landschaft.19
Heiligtümer in landschaftlich exponierter Lage sind in Griechenland häufig, z. B. die zahlreichen Gipfelheiligtümer, vielfach Kultplätze mit einfachen Altären, doch sind sie mitunter auch architektonisch ausgestaltetet. Angesichts dieser Tradition von Gipfelheiligtümern ist die Vermutung, peripterale Tempel in exponierter Lage nähmen per se landschaftliche Bezüge auf, ohne eingehende kritische Analyse tatsächlich fragwürdig, zumal Maurer nicht Unrecht hat, wenn er die Autonomie des Peripteraltempels und dessen Schwierigkeit, Bezüge aufzunehmen, betont. Gipfelheiligtümer können also kaum als methodischer Ausgangspunkt für die Untersuchung von Landschaftsbezügen genutzt werden, vielmehr zeigen sie die Schwierigkeiten paradigmatisch auf. Es wird daher das Augenmerk zunächst auf Architekturen gerichtet, deren Landschafts- und Naturbezüge unzweifelhafter sind.
Architektur und Bepflanzungen In der Bildsprache konnte Landschaft durch Abbreviaturen evoziert werden. Aufgrund dieser Sehgewohnheiten ist davon auszugehen, dass das Verständnis von Abbreviaturen auch in anderen Gattungen grundsätzlich möglich gewesen ist. Eine entsprechende Rolle kann Bepflanzungen in der Umgebung von Architektur zugebilligt werden. Beispiele sind der Zeus-Tempel von Nemea,20 der Altar der Zwölf Götter auf der Athener Agora (Abb. 5),21 das Hephaisteion in Athen,22 das Asklepieion in Korinth23 oder der Demeter-Tempel des Xenophon,24 aber auch italische Heiligtümer, wie der Iuno-Tempel in Gabii,25 weitere könnten angeschlossen werden.26 Die Anpflanzung von Bäumen hat dabei wohl mehrere Funktionen erfüllt: Zum ersten sorgte sie für Schatten, ein Aspekt, der auch für
19 Maurer 1962, 68. 20 Pausanias 2,15,2; Miller 1978; Miller 2004, 185–188. 21 Thompson 1952; Thompson 1953. 22 Thompson 1937; Dinsmoor 1941. 23 Roebuck 1951, 41; Riethmüller 2005, 58. 24 Xenophon, Anabasis 5,3,12. 25 Lauter 1968. 26 Mattern 1999, 2–6.
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Abb. 5: Athen, Rekonstruktion des Zwölf-Götter-Altars mit Bepflanzung (aus: Camp, J. M.: Die Agora von Athen. Ausgrabungen im Herzen des klassischen Athen, Mainz 1989, Abb. 23).
die Bepflanzungen von Agorai wesentlich gewesen sein wird.27 Zum zweiten hoben sie das Areal aus der Umgebung heraus, indem sie es absonderten und ihm einen anderen, von der übrigen Umgebung separierten und dadurch sofort erfahrbaren Charakter verliehen. Des Weiteren weckten Bepflanzungen Assoziationen von heiligen Hainen. Diese waren eine verbreitete Form von Kultorten, sodass die Darstellung von Bäumen in Verbindung mit Tempeln oder Göttern anzeigenden Charakter haben.28 Zum dritten können Bäume in der Umgebung von Tempeln Landschaftsabbreviaturen darstellen, wie auch die chória kai déndra Platons zeigen. Architektur und Natur können folglich durchaus miteinander verbunden werden, die Architektur wird nicht notwendigerweise isoliert von der natürlichen Umgebung gesehen, ein Gespür für ihre Verbindung kann mithin schon in der Zeit vor der Entwicklung des Landschaftsreliefs und der eigentlichen Landschaftsmalerei vermutet werden.
27 So in Athen (Plutarch, Kimon 13,8) und Megalopolis (Gans 1996); Sielhorst 2015 behandelt das Thema nicht. 28 Wegener 1985, 118–130.
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Ausblick und Anblick – Blickachsen? 1. Skenographie Eine grundlegende Frage bei der Untersuchung von Bezügen ist, ob in der Antike gestaltete Blickachsen durch Aus- oder Anblicke bekannt waren. In diesem Zusammenhang ist auf den Begriff „Skenographie“ aufmerksam zu machen. Er ist im eigentlichen Wortsinne von der Bühnenmalerei und der Darstellung von Perspektiven abgeleitet, die in der Vasenmalerei schon seit dem späten 5. Jh. v. Chr. nachweisbar ist.29 In der Architekturforschung wurde „Skenographie“ auch auf ‚gebaute Bilder‘ bezogen,30 bei denen Objekte durch definierte Blickachsen hervorgehoben wurden, z. B. bei dem Artemis-Tempel in Magnesia am Mäander, dessen Altar für den durch das Propylon Eintretenden in idealer Weise vor der Front des Tempels zu sehen war (Abb. 6). Für den Hellenismus sind derartige ‚gebaute Bilder‘ plausibel, für die Klassik können definierte Blickachsen wahrscheinlich gemacht werden, wenn sie auch im Einzelfall diskutabel sind.31 Ein wichtiger Aspekt der Architekturskenographien ist, dass sie Einzelwerke miteinander zu einem Gesamtwerk verbinden. In einem anderen Kontext benutzt Strabo den Begriff „Skenographie“ bei der Beschreibung des Marsfelds: Davon befindet sich das meiste auf dem Campus Martius, der zusätzlich zu seiner natürlichen Beschaffenheit noch den Schmuck durch menschliche Planung erhalten hat. Denn schon die Größe des Feldes ist beeindruckend, da sie bei einer solchen Menge von Leuten, die sich mit dem Ball, dem Reifen und im Ringkampf üben, gleichzeitig auch erlaubt, dass man ungehindert Wagenrennen hält und den übrigen Pferdesport treibt; und die ringsum liegenden Bauten, der das ganze Jahr durch grünende Boden und der Kranz der Hügel über dem Fluß bis an sein Bett, der das Bild einer Theaterkulisse (skenographikén ópsin) darbietet, ergeben einen Anblick, von dem man sich nur schwer trennt.32
Ausgehend von der eigentlichen Skenographie sowie den Architekturskenographien kann mit dem Begriff, wenigstens in augusteischer Zeit, offenbar auch die Wiedergabe gestaffelter Eindrücke in der realen Natur umschrieben werden, die dem Betrachter, ausgehend von dem Kranz der Hügel, einen bühnenartigen Ein-
29 30 31 32
Zusammenfassend Gogos 1983, 71–86. Schmaltz 1995; Hoepfner 1997a. Arvanitis 1997 (Ableitung des Begriffs); Hoepfner 1997b, 165–169. Strabon 5,3,8 (Übersetzung: S. Radt).
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Abb. 6: Magnesia am Mäander, Architekturskenographie mit Tempel der Artemis und Altar aus der Perspektive des Besuchers (aus: Schmaltz, B.: „Aspectus“ und „Effectus“ – Hermogenes und Vitruv, Römische Mitteilungen 102 (1995) 133–140, Abb. 1).
druck, gewissermaßen eine Landschaftsskenographie, vermittelt. Damit ist eine Grundlage für die Überprüfung von Landschaftsbezügen antiker Architektur gegeben.
2. Der Fernblick – Landschaftsskenographien Obwohl literarische Belege für den Hellenismus und die Klassik fehlen, kann man nun die Ausrichtung von Architektur auf die Landschaft wahrscheinlich machen. B. Fehr wies auf die pergamenische ‚Plattform-Architektur‘ hin und meinte ihre Vorläufer in der persischen Architektur nachweisen zu können.33 Im Sinne einer Skenographie handelt es sich hierbei nicht um gestaltete Ausblicke auf ein begrenztes, definiertes Areal in der Ferne, sondern um die Möglichkeit zur freien Ausschau auf eine Umgebung, der ein ästhetischer Wert als solcher zugeschrieben wird.34 Vergleichbare Aussichtspunkte sind im Hellenismus auch andernorts belegt, das Paneion in Alexandria etwa, ein künstlicher Hügel, der einen Blick über die Stadt ermöglichte.35 Zur Landschaft geöffnete Hallen und Terrassen in Pergamon boten Ausblicke, die den Blick zugleich öffneten und rahmten. Diese Ausblicke erinnern an die Esquilinfresken, welche den Blick in die Landschaft gleichfalls zergliedern.
33 Fehr 1969. 34 Im Gegensatz zu Wachttürmen, deren grundsätzlicher Beitrag aber wohl nicht unterschätzt werden darf. 35 Strabon 17,1,10; Fehr 1969, 50.
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Auch einige hellenistische Agorai gestalten durch ihre Anlage und Randbebauung Ausblicke.36 Insgesamt scheinen dabei Stoai eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Auch bei einer extravaganten dorischen Halle auf der Akropolis von Theisoa in Arkadien drängen sich landschaftliche Bezüge durch ihren vermuteten Standort in spektakulärer Lage über dem Alpheios-Durchbruch geradezu auf.37 Ob durchfensterte oder mit Säulen gegliederte Ausblicke auch in hellenistischen Basileia existierten, bleibt fraglich, trotz deren häufig exponierter Lage, die aber wohl nicht auf landschaftliche Einbindung zurückgeht.38 Trotzdem hat der Einwand, Skenographien würden einen stehenden Betrachter voraussetzen, während sich Architektur aus der Bewegung erschließt, durchaus eine Berechtigung.39 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich Landschaftsskenographien bei einem sich bewegenden Betrachter aufgrund ihrer Perspektive weniger stark verändern als Architekturskenographien. Ob derartige Blickachsen schon vor dem Hellenismus möglich waren, ist diskutabel, genauso wie die Frage nach einer möglichen Semantik der ‚Inbesitznahme‘ der Landschaft durch ihre Einbeziehung in den Raum des Betrachters.40 Auch bei der Anlage von griechischen Theatern ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben, dass die Landschaft eine Rolle spielte. Zwar hat deren Bau am Rande eines Berges oder eines Hügels in erster Linie zweckmäßige Gründe gehabt, doch ist eine Konsequenz, dass entsprechend angelegte und orientierte Ränge dem Zuschauer eben auch einen Blick in die Landschaft gestatteten. Im arkadischen Orchomenos oder in Pergamon ist dies sehr gut nachvollziehbar. Betrachtet man z. B. das spätrepublikanische Terrassenheiligtum der Fortuna in Praeneste, so ist nun kaum zu bezweifeln, dass dessen Öffnung in die Landschaft mit allen Möglichkeiten zur Fernsicht beabsichtigt war (Abb. 7). Die Landschaft wird hier zum integralen Bestandteil des Erlebens durch den Kultteilnehmer. Ähnliches gilt auch für das Iupiter-Anxur-Heiligtum in Terracina, das Hercules-Victor-Heiligtum in Tivoli, das Iuno-Heiligtum in Gabii oder den Magna Mater-Tempel in Rom.
3. Der Blick auf die Architektur Der Ausblick aus der Architektur in die Landschaft und der Blick aus der Landschaft auf die Architektur verschränken sich. Dies kann bei dem Tempel der Athe36 37 38 39 40
Sielhorst 2015, 41–42. Goester u. a. 2007; Mattern 2012b; Mattern 2013b; Mattern 2014. Knauß/Mattern 2013, 426–427. Fehr 1969, 56. Sielhorst 2015, 52.
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Abb. 7: Praeneste, Fortuna-Heiligtum, Blick von der oberen Terrasse (Foto: Mattern, T.).
na Lindia gezeigt werden, weil der Architekt Bezug auf die Umgebung genommen hat: Der hoch gelegene Amphiprostylos ist mit der Front auf das Meer und mit der Rückseite auf die Ebene ausgerichtet. Üblicherweise wurden Amphiprostyloi und Doppelantentempel an urbanistischen Scharniersituationen errichtet, in denen wichtige Wege aus zwei Richtungen an einem Tempel vorbeiführten, z. B. bei dem Tempel der Athena Nike in Athen. Der Blick aus der Ferne auf den Tempel ist also gewollt und der Bau entsprechend konzipiert. Tatsächlich ist der bewusst gestaltete Anblick von Architektur aus der Ferne kein unbekanntes Phänomen, sondern wird gerade auch bei der Fernwirkung von Stadtmauern immer wieder hervorgehoben.41 Das Heraion von Argos zeigt, dass diese Bezüge wohl schon in der Mitte des 7. Jhs. v. Chr. genutzt und gestaltet wurden. Der Tempel stand parallel zum Hang auf einer Terrassierung mit eindrucksvoller Fernsicht in die Ebene von Argos, die Terrassierung selbst könnte noch früher sein. Eine ähnliche Situation liegt auch bei dem Heiligtum auf der Unteren Akropolis von Kleonai vor:42 Von einer Hangterrassierung der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. mit einem Altar konnten drei Viertel des Siedlungstals überblickt werden, zugleich war das Heiligtum von fast 41 Z. B. Messene: Müth 2010, 80–83; Priene: Ruppe 2010. 42 Mattern 2012a; Mattern 2013a.
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überall zu sehen. Es handelt sich um eine frühe Form der Landschaftserschließung und Monumentalisierung, die des Tempels noch nicht notwendigerweise bedurfte. Als Zwischenergebnis kann man nun auf Tempel in landschaftlich exponierter Lage zurückkommen, weil deutlich wurde, dass verschränkte Landschaftsbezüge auch ohne einen literarischen Landschaftsbegriff nachweisbar sind. Es liegt selbst dann kein Widerspruch vor, wenn man, wie Maurer, dem Peripteraltempel die Fähigkeit, Bezüge auszubilden, abspricht. Es muss nämlich zwischen dem Bautypus und seinem Standort differenziert werden. Nicht der Bautypus „Peripteros“ bildet landschaftliche Bezüge aus, sondern die Wahl des Standortes. Weil der Kult nicht im Tempel, sondern vor diesem vollzogen wurde, verbinden sich für den Kultteilnehmer Landschaft, Altar und Tempel unvermeidbar miteinander. Zugleich hat die Lage für Vitruv auch religiöse Aspekte, so seien die Tempel der Hauptgottheiten an höchstgelegener Stelle zu errichten, von wo aus der größte Teil der Stadt zu sehen sei.43
4. Anblick – die architektonisch gestaltete Landschaft Eine andere Art des Umgangs mit Natur ist in ihrer architektonischen Überformung zu sehen, z. B. den Athener Propyläen. Die Gestalt des Burgberges wurde im Westen durch die Rampe, den Nikepyrgos mit dem Amphiprostylos der Nike Apteros, die Mauer und die Flügelanlage der Propyläen zu einer Architekturlandschaft umgestaltet. Bei Annäherung wird dann der Blick in eine Architekturskenographie auf das Plateau der Akropolis geleitet. Die Ansicht eines exponierten Gebäudes, z. B. des Poseidon-Tempels in Sounion, wirkte als Landmarke. Für die Gestaltung von Architekturlandschaften ist dies von Bedeutung und unterstützt H. Lauters Charakterisierung der Akropolis von Rhodos, die sich durch Terrassierungen der Landschaft öffnete und auf der sich der Tempel des Apollon Pythios befand (Abb. 8): „Landschaft ist demnach ein Objekt der Formung, die mit baulichen Mitteln erfolgt. Die ursprünglichen Hügel, Geschiebe und Verschüttungen werden zu einem künstlichen Berg, das Oben und Unten sind kunstvoll markiert.“44 Die Intentionalität wird durch Vergleichsbeispiele, etwa die effektvolle Inszenierung der Nike von Samothrake an ihrem Aufstellungsort über dem Theater, illustriert. Doch kann dies nicht nur für Rhodos und die Athener Akropolis in Anspruch genommen werden, sondern darf auch andernorts vermutet werden, etwa in Pergamon.45 Möglicherweise gilt dies, wenn auch 43 Vitruv 1,7,1. 44 Lauter 1972, 50. Vgl. dazu auch Rice 1995, 386. 45 Fehr 1969, 55–56.
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Abb. 8: Rhodos, Akropolis, Schemazeichnung (aus: Lauter, H.: Kunst und Landschaft – Ein Beitrag zum rhodischen Hellenismus, Antike Kunst 15 (1972), Abb. 2).
schwächer und zurückhaltender, auch für die Errichtung von Tempeln auf Höhen oder gleichermaßen für die oben behandelten Terrassen. In ihrer ausgeprägten Form drängt sich zudem das Motiv der Hierarchisierung von Landschaft auf.
Parks und Grotten Zur Natur, wenn auch nicht zur Landschaft, gehören Parks und Gärten. Képoi, also Gärten, sind sowohl im öffentlichen als auch im privaten Kontext bekannt, so in Athen die Aphrodite en Képois, welche am Ufer des Ilissos und am Nordabhang der Akropolis verehrt wurde.46 In der Entwicklung der öffentlichen Parklandschaften scheint jedoch nicht Athen, sondern Rhodos eine besondere Rolle gespielt zu haben. H. Lauter wies darauf hin, dass der eigentliche Ausdruck der rhodischen Landschaftskunst neben dem Eindringen landschaftlicher Elemente in die Bildende Kunst vor allem Parkanlagen umfasste, welche inner- und außerhalb der Stadt angelegt worden waren. Im Westen der antiken Stadt erstreckte sich die Akropolis, an deren Nordabhang eine Art Grotten-Park angelegt wurde, der aus natürlichen, künstlich erweiterten Grotten bestand, die in einen Landschaftspark eingefügt waren. Die Grotten waren mit Statuen geschmückt, besaßen Wasserbecken und sogar künstliche Stalaktiten. S. Neumann verwies auf ähnliche
46 Bumke 2015.
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Befunde in Pergamon, Priene und Knidos.47 Ein weiterer Park mit Grotten lag vielleicht im Süden der Stadt, bei Rhodini.48 Die Grotten stehen wohl mit den griechischen Höhlenheiligtümern in Verbindung,49 welche vielerorts gut bekannt sind, und bereiten die Gattung der künstlichen Grottenlandschaften vor, z. B. in den Villen von Baiae oder der Villa von Sperlonga. Diese sind gekennzeichnet von der gegenseitigen „Durchdringung, Verschmelzung von landschaftlichen, architektonischen und plastischen Elementen […], für die sinngemäße Vorstufen eben ausschließlich im Bereich der rhodischen Kunst nachzuweisen sind.“50 Die Höhlen von Rhodos bilden in ihrer Gesamtheit für den sich Nähernden Landschaftselemente.51 Zugleich können Höhlen, wie in Sperlonga, für den innen Stehenden einen gerichteten Ausblick nach draußen bieten. Es ist anzunehmen, dass die Entwicklung dieser Landschaftsgestaltung nicht unabhängig von jener der hellenistischen Basileia erfolgte, etwa den Parks von Alexandria und Antiochia.52
Villa und Landschaft 1. Die Villa in der Landschaft War das Augenmerk bislang eher auf die griechische Architektur gerichtet, so soll nun mit der Villa eine römische Bauform betrachtet werden. Das Wissen um hellenistische Landschaftsskenographien bildet die Grundlage für den Nachweis von Landschaftsbezügen in der römischen Villenarchitektur. So öffnet sich in der Villa Arianna in Stabiae von einem zentralen Raum aus der Blick in die Landschaft, vom Vesuv bis nach Capri und in die Ferne bis Cap Misenum (Abb. 9). Es handelt sich um eine Situation, die geradezu perfekt zu der Schilderung Ciceros passt: „Zweifellos hast Du Dir doch während dieser Tage die Morgenstunden in Deinem Schlafzimmer, von dem aus Du Dir über eine durch Dein Stabianum geschlagene Schneise freien Ausblick auf Misenum geschaffen hast, mit ein wenig Lektüre vertrieben […].“53 Plinius beschrieb in seinen Villenbriefen den Blick aus seinem ,Schlafzimmer‘ (cubiculum) durch drei Fenster hinaus aufs Meer, welches 47 Rice 1995; Neumann 2012. 48 Lauter 1972; scharf ablehnend dagegen Rice 1995, 403 Anm. 46 (Nekropole). 49 Höhlenheiligtümer: Wickens 1986; Sporn 2007. 50 Lauter 1972, 58. 51 Rice 1995, 401–402. 52 Knauß/Mattern 2013, 448–449. 53 Cicero, Epistulae ad familiares 7,1,1 (Übersetzung: H. Kasten); vgl. auch Epistulae ad Atticum 2,3,2; allgemein Drerup 1959.
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Abb. 9: Stabiae, Villa Arianna, Ausblick in die Landschaft (Foto: Mattern, T.).
Abb. 10: Pompeji, Rekonstruktionszeichnung der Mysterienvilla (Maiuri, A.: La Villa dei Misteri, Rom 1931, Taf. D).
auf diese Weise wie drei Meere erscheine54 – ähnlich der Gestaltung der Esquilinfresken. Auch Statius pries den Ausblick von der Villa seines Gönners Pollius Felix, der durch Fenster jedes Mal auf eine andere Landschaft fiel.55 Eine Verbindung zwischen Villa und Landschaft ist seit republikanischer Zeit nachweisbar. So besitzt die Mysterienvilla in Pompeji, deren Kern in das 2. Jh. v. Chr. zurückreicht, auf einer Substruktion eine Exedra mit vorgelegter Portikus, 54 Plinius, Naturalis historia 2,17,5. 55 Statius, Silvae 2,2; Bergmann 1991, Gauly 2006.
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die mit einem Tablinum dazu einlud, im Schatten zu speisen und den Ausblick in die Landschaft zu genießen (Abb. 10). Von hier aus, wie von den meisten Villen der Gegend, richtete sich der Blick entweder auf das Meer oder auf die Halbinsel von Sorrent bis nach Capri. Die Lage der Villa war wohl nicht nach dem Fernblick ausgesucht worden, sondern durch die Landvermessung (Zenturiation) vorgegeben, nutzte die gegebene Situation aber aus.56 In diesen Kontext gehört auch die Anlage von Aussichtsterrassen und Wandelgängen mit reizvollen Blicken in die Landschaft. Derartige Aussichtsplattformen sind nach der Untersuchung von M. Tombrägel seit republikanischer Zeit als konstituierendes Element von Villen nachgewiesen,57 ähnlich den Belvederen.58 Vergleichbare Formen der Ausrichtung und Öffnung von Architektur auf die Landschaft können aber nicht nur in Italien nachgewiesen werden, sondern sind auch bei Villen in den Nordwestprovinzen bis in die Spätantike häufig anzutreffen. Die Villen erschließen so den Blick in die Landschaft und nehmen Landschaftsbezüge von Architektur auf, die seit der Archaik entwickelt worden sind. Teile der römischen Villenarchitektur nahmen aber Landschaftsbezüge nicht nur auf, sondern gestalteten sie seit der späten Republik in einer Weise weiter, wie dies in Griechenland nicht nachweisbar ist. Dies liegt nicht nur an dem Fehlen einer entsprechenden griechischen Villenkultur, sondern hier unterscheiden sich beide Kulturräume offenbar. Dies zeigt sich auch in einer anderen Hinsicht, nämlich der Integration von Landschaft in die Villa.
2. Die Landschaft in der Villa […] die Ausdehnung der ganzen Anlage war so ungeheuer, daß sie […] ferner einen Teich einschloß, der wie ein Meer mit Gebäuden umgrenzt war, die wie Städte wirkten, dazu Ländereien, wo Kornfelder mit Weinpflanzungen, Viehweiden mit Wäldern, belebt von einer Menge der verschiedenartigsten Weide- und Wildtiere, abwechselten.59
Mit der Domus Aurea kann der Höhepunkt eines Villentypus gefasst werden, der seinerseits die Natur in die Villa integriert, das Verhältnis also umkehrt. Auch wenn die antineronische Intention Suetons klar ist, zeigt sich hier doch eine Variante von Landschaftsbezügen, die durch die republikanischen Gartenperistyle
56 Mielsch 1987, 40. 57 Tombrägel 2012, 141. 58 Tombrägel 2012, 156–157. 59 Sueton, Nero 31,1 (Übersetzung: A. Stahr/W. Krenkel).
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bestimmt ist. Nach den Untersuchungen von W. M. Jashemski und anderen waren diese u. a. mit Myrthen, Akanthus, Oleander, Rosmarin, Blumenbeeten, Rasenflächen, Efeu und Bäumen bewachsen. Sie setzen sich von den griechisch-hellenistischen Peristylen ab, in denen Ziergärten nicht nachgewiesen sind.60 Wenn überhaupt eine ostmediterrane Traditionslinie besteht, dann ist sie in den weiträumigen Parkanlagen der Basileia zu suchen. Zu diesen Gartenperistylen kommt die Auflösung des Kerngebäudes der Villa hinzu. Auch diese Entwicklung setzte bereits im 1. Jh. v. Chr. ein. Das blockhaft gebildete und herausgehobene Hauptgebäude wurde in Kompartimente aufgelöst und durch Höfe und Gärten getrennt. Dabei wurden vermittels interner Blickachsen ‚Raumskenographien‘ entwickelt, die durch aufgelöste Wandschalen tiefe Blicke durch die Anlage ermöglichten,61 eine Entwicklung, die sich in der Palastarchitektur der Kaiserzeit fortsetzte. Diese Beobachtungen sind im Kontext der Landschaftsmalerei und der seit dem Zweiten Pompejanischen Stil bekannten Elemente perspektivischer Darstellung gestaffelter Architekturen zu sehen. Seit dem 1. Jh. n. Chr. wurden Villen dann zunehmend im flachem Gelände ohne reizvolle Ausblicke angelegt, dafür wurde die Natur durch eine Gartenanlage inkorporiert.62
Architektur und Landschaft – ein ambivalentes Verhältnis H. Lauter vermutete, dass sich das Verhältnis der griechischen Kunst zur Natur und zur Landschaft in der ausgehenden Spätklassik und im Frühhellenismus gewandelt habe, und führte dafür effektvolle Anlagen von Hallen und Theatern an.63 Tatsächlich kann diese postulierte Entwicklung nicht nur nachvollzogen werden, sondern man kann sie auch als intentionell belegen. Denn es handelt sich wohl nicht um einen Wandel, sondern um einen Entwicklungsprozess, dessen Wurzeln in der archaischen Architektur liegen. Im Hellenismus wird der Bezug zur Landschaft und deren Darstellung intensiviert, während in der römischen Malerei und Architektur spätrepublikanischer Zeit eine andere Qualität landschaftlicher Bezüge greifbar wird. Für ihre Existenz gibt es, neben möglichen etruskischen Traditionen, aber doch auch einen weiteren Erklärungsansatz. B. M. Gauly verwies auf den metaphorischen Charakter römischer Architektur, deren Leitmotiv die Beherrschung der Natur sei, was auch in den Villenbeschreibungen zum Aus-
60 61 62 63
Schneider 1995, 41. Drerup 1959. Mielsch 1987, 137–140. Lauter 1972, 49.
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druck komme.64 Tatsächlich darf man das Landschaftsempfinden in der Antike nicht mit unserem, von der Romantik geprägten, gleichsetzen, zumal sich offenbar aus dem bisher Festgestellten mehrere parallele Strömungen ableiten lassen. So scheint, obwohl Villen Landschaftsbezüge aufnehmen, in der römischen Literatur das Empfinden für die unberührte, wilde Natur – abgesehen von dem Arkadientopos – weitgehend zu fehlen.65 Unsere Vorstellung von unberührter Natur als etwas Gutem ist angesichts der Tatsache, dass der Natur früher das Lebensnotwendige abgerungen werden musste, nicht selbstverständlich. Statius bewunderte an der Villa des Pollius Felix vor allem die Umgestaltung der Landschaft in Zivilisation. Seit H. Drerups Analyse66 wird auf die Metaphorik demonstrativ gezeigter Substruktionen hingewiesen, die Landschaft bezwingen und ihr Bauten abtrotzen: Es handle sich bei ihnen um Landschaftsbeherrschung. Gestaltete Landschaft ist die dem menschlichen Gestaltungswillen unterworfene Natur. Dies gilt für Wege, Brücken und Aquädukte entsprechend. Es ist bezeichnend, dass Strabo67 kurz vor der Beschreibung der Skenographie des Marsfeldes anführte, es seien die Römer, die Straßen bauten, Vertiefungen auffüllten und Hügel durchschnitten, während die Griechen auf Schönheit achteten. Im Zentrum seiner Landschaftsskenographie stehen Menschen und Gebäude, die Natur ist Kulisse. Auch wenn bereits Tertullian bei der Schilderung der Urbarmachung und Erschließung der Erde mahnend auf die Folgen einer Überbevölkerung hinweist,68 stellt dies doch eine Warnung vor einer einfachen Übertragung der Naturempfindung der Gegenwart auf die Antike dar!
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64 Gauly 2006, 460–461. 65 Schneider 1995, 95. 66 Drerup 1966. 67 Strabon 5,3,8. 68 Tertullian, De anima 30,3–4, vgl. dazu Haas 2006, 86–87
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Landschaft in den antiken Quellen zu Alexander Der griechische Alexanderroman*
Einleitung „Die Verwirrung ist ungeheuer“, konstatierte Reinhold Merkelbach bezüglich der geographischen Route des Alexanderzugs im spätantiken griechischen Alexanderroman.1 Über den anonymen Autor, der aufgrund der Zuschreibungen des Texts in mehreren Handschriften an Alexanders Hofhistoriographen Kallisthenes als Pseudo-Kallisthenes bekannt ist und wohl gegen Ende des 3. Jhs. n. Chr. schrieb,2 urteilte er: „Man sieht, die Verachtung von Geographie und Chronologie ist geradezu souverän – oder vielmehr, der Autor ist äußerst unwissend.“3 Diese Unwissenheit des Verfassers wird folgendermaßen erklärt: „Er war, wie sich aus vielen Indizien ergibt, Alexandriner, und konnte sich einen Zug gegen Persien nur aus der ägyptischen Perspektive vorstellen.“4 Insgesamt fällte Merkelbach ein harsches Urteil mit nachhaltigem Einfluss: Der Verfasser sei ein unglaubwürdiger, sensationsheischender Geschichtenerzähler und drittklassiger Literat gewesen. Im Gegensatz zum mangelnden Niveau des Werks stehe aber dessen Beliebtheit in der Nachwirkung: „Trotz seiner geringen Qualitäten hatte das von Absurditäten strotzende Buch einen ungeheuren Erfolg“.5 Der Alexanderroman in seinen zahlreichen Versionen gilt als das am weitesten verbreitete Werk der Weltliteratur nach der Bibel.6 Betrachtet man Alexanders Itinerar im Alexanderroman nicht aus rein geographisch-politischer und militärstrategischer Perspektive, sondern im Sinne des spatial turn als eine Route durch eine ‚innere‘, kulturell konstruierte Landschaft im *
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Mein herzlicher Dank geht an die Organisatoren der Montafon-Tagung, Michael Kasper, Martin Korenjak, Robert Rollinger und Andreas Rudigier, für die Einladung, für freundliche Hinweise in der Diskussion zudem an Oliver Stoll. Für weitere Diskussionsmöglichkeiten danke ich ganz herzlich Elias Koulakiotis und Richard Stoneman. Merkelbach 1977, 16. Stoneman 2009, 150; Wirth 2005. Merkelbach 1977, 16. Merkelbach 1977, 16. Merkelbach 1977, 91. Vgl. Whitmarsh 2010, 407; Stoneman 2009, 142; van Thiel 1983, XXXII.
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Prozess von mental mapping, kann man zu einem anderen Ergebnis kommen. So erscheint Alexanders Zug durch eine symbolische Geographie vor einem literarisch-assoziativen Darstellungshintergrund nicht als absurd. Fragen zum historischen Alexander und zu seinem Itinerar kann die Quelle zwar nicht beantworten, dafür aber andere Einblicke gewähren. So bietet sie Aufschluss zur spätantiken Rezeption Alexanders, zur Bewahrung und Verarbeitung von Kenntnissen historischer und literarischer Traditionen und zum Umgang mit diesem kulturellen Erbe vor dem alexandrinischen Hintergrund sowie zur zeitgenössischen Publikumserwartung. Entsprechend wird im Folgenden Alexanders Itinerar im Alexanderroman auf Basis der frühesten Rezension (A) als ein Streifzug durch Denk- und Assoziationsräume literarischen Wissens betrachtet, der vor einer imaginierten Landschaft verortet und durch bestimmte Fixpunkte konstituiert ist.7 Zeit und geographische Dimension sind dabei aufgehoben, es dominiert das literarische Assoziationsspiel, wie es in der hellenistischen Kultur beliebt war. Dies dient klar der Unterhaltung, doch – trotz der verwendeten Alltagssprache – nicht auf dem niedrigen Level, das Merkelbach veranschlagte.8 Eher ist der Autor mit Richard Stoneman als „a competent […] writer of Greek“ zu sehen, der Kenntnisse über ägyptische Traditionen, vor allem aber auch über die antike griechische (und römische) Literatur besaß.9
Der Alexanderroman Der spätantike griechische Alexanderroman, eine „Mischung aus romanhafter Biographie, Reiseroman und mythologischem Epos“,10 stellt den Höhepunkt der Entrealisierung Alexanders dar. Es handelt sich um eine Art „Flickenteppich“, 7
Ich folge der Version und ihrer Übersetzung bei van Thiel 1974. Zum Itinerar im Alexanderroman siehe auch Selden 2012. 8 So hat Arthur-Montagne 2014 aufgezeigt, dass die vielen Briefe im Alexanderroman von literarischer Finesse zeugen und je nach Schreiber unterschiedlich gestaltet sind. Zu ihrer Funktion: Whitmarsh 2013b; Hodkinson 2007, 259. Auch Stoneman 1994, 120 rehabilitiert den Verfasser: Es handle sich um eine andere Art von Geschichtsbehandlung: „history becoming saga before our very eyes“. Ähnlich: Archibald 2004, 19, im Anschluss an Stoneman 1994, 118, 120. Mit einem philosophischen Ansatz seien immerwährende Fragen der Menschheit nach der Überwindung von Grenzen und der Rolle von Prädestination und Selbstbestimmung thematisiert: Stoneman 2008, 227–229. Zur grundlegenden Kritik an der apodiktischen Trennung zwischen Wahrheit und Fiktion im griechischen Roman: Whitmarsh 2013a. 9 Stoneman 2009, 151. 10 Koulakiotis 2006, 232. Vgl. Pretzler 2007, 52.
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ein komplexes Überlieferungsphänomen aus Traditionen unterschiedlicher kultureller Kontexte und Zeiten (griechisch, makedonisch, ägyptisch, römisch, pa gan, christlich) und Genres (Periplus, Historiographie, Epos, Epistel, Biographie, Roman, ägyptische Königsnovelle, Ethnographie, Ekphrasis, philosophischer Dialog). Mit hohem Unterhaltungsfaktor und in künstlerisch sehr freier Gestaltung wird das Leben Alexanders als Abfolge farbenfroher Abenteuergeschichten beschrieben. Dabei bildet die Rolle des Kriegers und Eroberers Alexander nur die Vorstufe zu dem, was den Autor eigentlich interessierte: Alexander als Abenteurer, Entdecker fremder Welten und Grenzen überschreitender Forscher. Kulisse ist dabei „an imaginary east“,11 dessen fantasievolle Darstellung den traditionellen literarischen Bildern über östliche ferne Länder in griechischer Literatur verhaftet ist.12 Was der Held erlebt, entspricht demnach durchaus konventionellen Publikumserwartungen an Abenteuer im konstruierten Osten. Bezüglich der Erwartung an einen reisenden Protagonisten in der Antike war Alexander der ideale Kandidat: „In terms of extent of space traveled the ancient world’s greatest conqueror was undoubtedly Alexander the Great“.13 Das Image des Protagonisten im Alexanderroman konturierte das Bild Alexanders als Kosmokrator, wie es vor allem die mittelalterliche, davon beeinflusste Rezeption prägte: Alexander figuriert als Herrscher der Ökumene, der die gesamte Welt von den Säulen des Herakles im Westen bis zum Okeanos im Osten nicht nur erobert, sondern auch erkundet und erforscht,14 somit nicht nur expansiv, sondern auch geistig in Besitz nimmt. Die Ursprünge der frühesten Rezension (A) des Texts, der in mehreren überarbeiteten Varianten und verschiedenen Übersetzungen tradiert wurde, werden in die hellenistische Zeit zurückgeführt.15 Teilweise wird aufgrund der wichtigen Rolle von Briefen im Alexanderroman angenommen, dass die Urform ein Briefroman gewesen sei.16 Der Alexanderroman beginnt und endet in Ägypten, der Heimat des Verfassers, der als Klammer der Handlung eine wichtige Rolle zukommt. Es fängt damit an, dass Pharao Nektanebos II. angesichts der persischen Rückeroberung Ägyptens unter Artaxerxes III. aus seinem Land flieht. Er gelangt nach Make11 12 13 14 15
Pretzler 2007, 52. Zu diesen Vorstellungen: Bichler 2011; Bichler 2006. Beck 2012, 458. Zur Alexanderfigur im Alexanderroman siehe auch Anderson 2012. Kugler 2000, 104–105. Zu Alexander und den Säulen des Herakles: Stoneman 1995, 162–163. Stoneman 2009, 142. Kugler 2000, 105 sieht als einen Grundstock die unter den Ptolemäern in Alexandria aufgeblühte Geowissenschaft. 16 Hodkinson 2007, 259. Der Briefaustausch zwischen Alexander und Dareios III. gilt dabei als eines der frühesten Kernelemente: Whitmarsh 2013b, 185.
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donien, verführt Olympias, der er in Verkleidung vorgaukelt, der Gott Ammon zu sein, und zeugt mit ihr Alexander.17 Die Geschichte endet damit, dass Ptolemaios Alexanders Leiche nach Ägypten bringen wird. Zudem spielt Alexanders Ägyptenfeldzug zwischen Anfang und Ende, als er anhand einer Statue seinen Vater Nektanebos wiedererkennt,18 sich krönen lässt und Alexandria gründet, eine relevante Rolle.19 Ägypten ist somit das Zentrum der mentalen Landschaft, die vor dem inneren Auge des Rezipienten entsteht. Dies entspricht vermutlich der eigenen Sicht des Autors, für den seine Heimat Ägypten das Herz seiner fiktiven und subjektiven mental map der Welt war. Im Alexanderroman wird zunächst beschrieben, wie Alexander in Pella aufwächst. Eine entscheidende Episode, die seine späteren Leistungen auf dem Gebiet der Zähmung wilder Lebewesen vorankündigt, ist die Ausgestaltung der Tradition um die Zähmung des Pferds Bukephalos. Das Bändigen von ungezähmten Tieren, besonders wilden Pferden, war in antiker Literatur ein Symbol der Kontrolle über die Natur, wie sie von Göttern und göttlich erwählten Herrschern ausgeübt wurde: ein Kennzeichen von Heldentum, Sieghaftigkeit und Prädestination.20 Im griechischen Alexanderroman wird der Fingerzeig auf Alexanders künftige Eroberungsleistungen dramatisch überspitzt. Im Gegensatz zu Plutarchs Version, bei dem das Tier nur so ungebärdig ist, weil es Angst vor seinem eigenen Schatten hat,21 ist Bukephalos im Alexanderroman ein menschenfressendes, furchteinflößendes Ungeheuer: je schrecklicher das Biest, umso beeindruckender dessen Bezwingung.22 Ebenso unhistorisch ist die Episode, dass Alexander als Teenager an den Olympischen Spielen teilnahm.23 Der tapfere Kriegsheld war jedoch selbstverständlich ein exzellenter Sportler; der Wettkampfsieg ist Präfiguration der späteren Sieghaftigkeit auf dem Schlachtfeld. Nach der Teilnahme an Feldzügen ins makedonische Umland schlägt Alexanders große Stunde, als er seinen bereits in der Jugend gefassten Plan realisiert, die Tributpflicht seines Landes gegenüber dem persischen Großkönig abzuschütteln.24 Dieser Kriegsgrund 17 Ps.-Kall. 1,1–7. Siehe Pfrommer 2001, 31–33. Zu den Verbindungen zwischen Alexander und Ägypten in der ägyptischen Nachwirkung: Ryholt 2013. 18 Ps.-Kall. 1,34. Siehe Stoneman 1995, 165. 19 Gründung Alexandrias: Ps.-Kall. 1,32. Zur Gründungsinschrift: Stoneman 1995, 166–167. Die Historizität der nur bei Ps.-Kall. 1,34,1–2 bezeugten Inthronisation Alexanders gemäß pharaonischer Tradition ist umstritten. Ablehnend: Koulakiotis 2006, 216; Jouanno 2002, 67; Badian 1995, 192; Burstein 1994, 382; Burstein 1983, 140. 20 Detienne 1975, 174–176. Siehe auch Baynham 1995. 21 Plutarch, Alexander 6,1–5. 22 Ps.-Kall. 1,13,9. Siehe Devereux 1975 (mythologische Vorbilder); Anderson 1930. 23 Ps-Kall. 1,18–19. Dagegen: Plutarch, Alexander 4,5–6. 24 Ps.-Kall. 1,23,2–6.
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ist unhistorisch; Makedonien unterstand seit dem Abzug der persischen Truppen nach den Niederlagen von Xerxes’ Truppen in Griechenland 480/79 v. Chr. bereits nicht mehr der persischen Oberhoheit.25 De facto erbte Alexander den von seinem Vater Philipp II. geplanten makedonischen Expansionskrieg, der wohl ursprünglich dazu gedacht gewesen war, die kleinasiatischen griechischen Küstenstädte dem argeadischen Herrschaftsbereich zur politisch-ökonomischen Arrondierung anzugliedern.26 Im Alexanderroman wurde indes die panhellenische Propaganda aus den frühen Kriegsjahren – die sich in der Alexanderhistoriographie als Motiv hartnäckig auch für die späteren Phasen hielt – aufgegriffen und variiert: Alexander focht nunmehr einen makedonischen Freiheitskampf aus. Der historische Alexander setzte mit seinen Truppen über den Hellespont nach Kleinasien über, eroberte den küstennahen kleinasiatischen Raum mit den ionischen Städten, marschierte weiter, siegte in Kilikien bei Issos, eroberte die phoinikische Küste, nahm mit einigen Schwierigkeiten Tyros ein, dann Gaza, sicherte die Kontrolle über die Levantine und stieß nach Ägypten vor,durchquerte mit dem Ziel der Sicherung der Kyrenaika und der Handelsrouten durch die Großen Oasen die Libysche Wüste (wobei er unter anderem nach Siwa gelangte) und kehrte nach Memphis zurück. Es Kriegszüge durch Medien, Babylonien, die Persis und weiter in die östlichen Satrapien des Achaimenidenreichs bis nach Indien (Swat, Indusgebiet, Hydaspes). Am Fluss Hyphasis stand die Rückkehr an. Durch die Gedrosische Wüste und Karmanien ging der Zug zurück bis zur Endstation Babylon, wo Alexander im Sommer 323 v. Chr. starb.27 Die Route im Alexanderroman weicht davon nach den Anfangsstationen – Zug zum Hellespont, Passage nach Kleinasien, erster Sieg über das persische Heer am Granikos, Eroberung von Ionien, Karien, Lydien mit dem Satrapensitz Sardeis, Phrygien, Lykien und Pamphylien – doch recht markant ab: Es folgt die Überfahrt nach Sizilien und von dort aus nach Italien. Die Römer unterwerfen sich Alexander und bringen ihm Geschenke: Da schickten ihm die Feldherren der Römer durch ihren Feldherrn Markus eine perlengeschmückte Krone und eine andere mit Edelsteinen und bestellten ihm: „Auch wir bekränzen dich, Alexander, König der Römer und der ganzen Erde!“ Sie brachten ihm auch 500 Pfund Gold. Alexander nahm ihre Gabe an und versprach, sie groß und mächtig zu machen.28 25 Bichler 2000, 300 Anm. 117 nimmt an, dies leite sich von der einstigen Tributabhängigkeit seiner Vorfahren Amyntas I. und Alexander I. ab (vgl. Herodot 7,108,2). 26 Müller 2010, 178–179; Wirth 1985, 148–150. 27 Aktuelle Darstellungen: Müller 2014; Heckel 2008. 28 Ps.-Kall. 1,29,2–3.
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Der Zug geht von Italien nach Afrika. Alexander steuert Karthago an und ist konsterniert über die schlaffe Haltung der Feldherren Karthagos, die ihm entgegenkommen und ihn bitten, ihrer Stadt fernzubleiben. Seine pointierte Antwort lautet: „Entweder ihr müsst selbst stärker werden oder denen, die stärker sind als ihr, Steuern zahlen.“29 Alexander zieht weiter, durch die Libysche Wüste zum Ammoneion von Siwa. Auf dem Rückweg gründet er Alexandria, geht nach Memphis und von dort über Pelusion nordöstlich von Memphis nach Syrien. Er erobert Tyros, die gesamte syrische Küste, Kilikien, siegt bei Issos, nimmt Phrygien ein, dann – in einer offenbaren Kehrtwendung – Abdera (eine griechische Küstenstadt in der Ägäis), Bottiaia (in Makedonien), Olynthos und die Chalkidike. Danach kommt er ans Schwarze Meer und geht nach Theben, um dort den Aufstand niederzuschlagen. Es folgen die Rückkehr nach Kilikien sowie der Zug nach Medien, Armenien und in die Persis. In der Folge des Indienfeldzugs gelangt er ins Reich des Poros. Mit dem Vordringen in indische Gebiete wird die Beschreibung geographisch vage und verschwommen. Es mangelt an konkreten Ortsbezeichnungen; dominierend sind Bilder, die im kulturellen Gedächtnis mit den Randgebieten der Welt assoziiert werden. Alexander gelangt zum Roten Meer und nach Lyssos – gemeint ist wohl die indische Stadt Nysa –,30 dann zurück ins Perserreich zum Palast des Kyros (Pasargadai), für den er sich, ebenso wie für andere persische Monumente und Gedächtnisorte, sehr interessiert.31 Es folgt die letzte Station Babylon, wo er vergiftet und (melo)dramatisch entrückt wird. Es ergibt sich das Bild eines Zickzackkurses, einer Irrfahrt, die innerhalb von Alexanders Regierungszeit so nicht möglich gewesen wäre. Sicherlich war der Autor kein Geograph. Seine Kenntnisse der Topographie des einstigen Perserreichs, Griechenlands, Makedoniens, Thrakiens, Kleinasiens, der Gebiete rund um den Hindukusch und der Gedrosischen Wüste sind anscheinend limitiert,32 beziehungsweise spielte die authentische Geographie keine Rolle für seine Darstellungsintention. Nicht Ignoranz war wohl der primäre Grund für die Chaosroute, die sich ergibt. Vielmehr handelt es sich um eine vom Verfasser intendierte Verwirrung, die auf zwei literarischen Bedeutungsebenen Methode hat: Erstens beleuchtet sie die Charakterentwicklung des Protagonisten, zweitens wird ein Assoziationsraum in Gestalt einer kulturell-symbolischen Landschaft kreiert.
29 Ps.-Kall. 1,30. 30 Stoneman 1995, 163. Es handelt sich um die Beschreibung eines Tempels für Dionysos. Einen Ort namens Lissos fände man ansonsten in Illyrien, weitab von der eingeschlagenen Route. 31 Petrovic 2014, 299 mit Anm. 76. 32 Stoneman 2009, 151.
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Bedeutungsebene 1: die Irrfahrt des Helden und der innere Reifeprozess Wie in einem Entwicklungsroman muss der Protagonist, Alexander, im Verlauf der Handlung reifen. Dieser Prozess spiegelt eine herodoteische Färbung wider: Alexander mit seinen hochfahrenden Zielen muss erst durch Rückschläge zur Einsicht und Läuterung gelangen, bevor es ein Ende mit ihm nimmt. Er stirbt zwar einen gewaltsamen Tod, jedoch als zur Vernunft gelangter Mensch, und erfährt zudem im Todesmoment die Entrückung. Der Zickzackkurs durch die mentale Landschaft im Alexanderroman reflektiert die Unreife des Charakters des Helden bis zur Läuterung am Ende der Irrfahrt. In Alexanders eigener ‚Odyssee‘ verweisen vier Schlüsselepisoden auf seine Hybris, von der er abgebracht werden muss. In der ersten Episode, Alexanders Meereserkundung, erfindet der geistig rege Herrscher mit seinem unbändigen Wissensdrang und dem Bestreben, Grenzen zu überschreiten, eine prototypische Taucherglocke. Er möchte die Tiefe des Meeres erkunden und Sand vom Grund zur Untersuchung mitnehmen. Sein Erlebnis unter Wasser ist in einem der zahlreichen Briefe des Alexanderromans geschildert: Da erfand ich mir einen großen eisernen Käfig und baute darin ein geräumiges gläsernes Fass ein. […] In den Boden des Fasses ließ ich ein Loch machen, so groß, dass es eine Menschenhand durchließ. […] Dann ließ ich eine Kette […] machen und ordnete an, mich nicht eher hinaufzuziehen, als die Kette geschüttelt würde. […] Als alles bereit war, stieg ich in das gläserne Fass. […] Sobald ich darin war, wurde durch einen bleiernen Deckel der Eingang verschlossen. […] da kam ein ungeheurer Fisch und packte mich in meinem Käfig mit dem Maul und brachte mich zur Erde hinauf. […] Als er zum Land kam, zerquetschte er mit seinen Zähnen den Käfig und warf ihn aufs Trockene. Ich war halbtot und gelähmt vor Angst. […] Ich sprach zu mir: „Lass ab, Alexander, Unmögliches zu unternehmen […], wenn du die Tiefen erforschst.“33
Da die Grenzüberschreitung durch das Eingreifen höherer Mächte gestoppt wird, gibt Alexander, der mit dem Versuch seine Hybris gezeigt hat, zwar die Meereserkundung auf, nicht jedoch seine hochfliegenden Ambitionen. In der zweiten Schlüsselepisode begibt er sich auf die Suche nach dem Wasser des Lebens. Uneinsichtig in seine menschliche Natur, strebt er nach dem Quell der Unsterblichkeit im Land der Finsternis. Eine Landschaftsbeschreibung erfolgt auch an dieser 33 Ps.-Kall. 2,38,7. Zur Entwicklung dieses Erfinder- und Erforschermotivs im Osten siehe Casari 2012, im Westen: Kugler 1996.
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Stelle nicht – aus nachvollziehbaren Gründen: Dunkelheit herrscht vor. Immerhin ist zu erfahren, dass der Boden steinig ist. Alexander verpasst die Unsterblichkeit, indem er aus der falschen Quelle trinkt. Abermals wird ihm eine Warnung von höherer Seite bezüglich seiner Anmaßung zuteil: Und ich erblickte zwei Vögel mit menschlichen Gesichtern, die riefen in griechischer Sprache: „Was betrittst du das Land, Alexander, das nur Gott gehört! Kehr um Elender, kehr um, denn die Inseln der Seligen kannst du nicht betreten! Kehr um, Mensch, und wandle auf der Erde, die dir zugewiesen ist, und rufe kein Unglück auf dich herab!“34
Alexander gehorcht zwar dem Befehl der Vögel, doch die Einsicht in die göttlich gesetzten Grenzen fehlt ihm noch immer. Im oben erwähnten Brief beklagt er den Fehlschlag des Unternehmens, das ihn die Unsterblichkeit gekostet hat. Die Irrfahrt muss weitergehen, der Held ist noch nicht geläutert. In der dritten Schlüsselepisode, dem Pendant zur Meereserkundung, möchte er die Himmelsgrenzen erreichen. Wiederum profiliert er sich als Erfinder und kreiert eine prototypische Flugmaschine: Und erneut […] fragte ich mich, ob wirklich dort das Ende der Welt sei und der Himmel sich zur Erde herabsenke. Ich wollte nun die Wahrheit erforschen und befahl, von den Vögeln an jenem Ort zwei zu fangen. Das waren sehr große weiße Vögel. […] Am dritten Tag ließ ich ein Holz in Form eines Jochs anfertigen und dies an ihren Hälsen befestigen. Daran formte ich eine Kuhhaut wie einen Korb und stieg hinein; in der Hand hielt ich einen Speer […] mit einer Pferdeleber an der Spitze. Sofort flogen die Vögel los, um die Leber zu fressen, und ich stieg mit ihnen in die Luft. […] Schließlich kam mir ein Flügelwesen in menschlicher Gestalt entgegen und sprach zu mir: „Alexander, begreifst du die irdischen Dinge nicht und strebst nach den himmlischen? Kehre rasch auf die Erde zurück […]!“ […] Ich aber kehrte um […] Ich war völlig erstarrt und halbtot.35
Wiederum wird Alexander von göttlicher Seite deutlich in die Schranken gewiesen, die ihm als Sterblichem gesetzt sind. Die Geschichte ist jedoch noch nicht zu Ende, es folgt die letzte Prüfung. In der vierten Schlüsselepisode, derjenigen des Sonnen- und Mondorakels, wird Alexander drastisch mit der Wahrheit über seine Natur konfrontiert. In der Hauptstadt von Poros’ einstigem Reich zeigen weise 34 Ps.-Kall. 2,40,1. Siehe Szalc 2012. 35 Ps.-Kall. 2,41,8–13. Siehe Schmidt 1995.
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Männer dem Herrscher das Wunder zweier sprechender Orakelbäume in einem heiligen Hain. Alexander testet dieses Orakel und erhält vom Sonnenbaum, der mit männlicher Stimme spricht, und vom Mondbaum, der mit weiblicher Stimme spricht, eine Todesprophezeiung: „König Alexander, du musst in Babylon sterben und wirst von der Hand deiner eigenen Leute getötet werden und kannst nicht zu deiner Mutter Olympias zurückkehren!“36 Alexander lässt sich diese Botschaft erneut bestätigen, akzeptiert sie dann und zieht traurig ab. Nach weiteren Abenteuern zieht er in Babylon ein. Als gebrochener Held, der inzwischen zur Einsicht gelangt ist und seine Sterblichkeit annimmt, beendet er seine Irrfahrt. Er hat zur Erkenntnis des eigenen Selbst gefunden, in dieser Läuterung liegt das Ziel der Reisen. Die Belohnung erfolgt in der Entrückung, wobei deutlich wird, dass eine solche nur die Götter in der Hand haben, nicht der Mensch selbst: Ein großer Stern senkte sich aus dem Himmel auf das Meer herab, mit ihm ein Adler, und das Kultbild in Babylon, das sie Zeus nannten, schwankte. Der Stern erhob sich wieder in den Himmel, ihm folgte der Adler. Und sobald der Stern im Himmel verschwand, sank Alexander in den ewigen Schlaf.37
Von der Hybris kuriert, erhält Alexander die Belohnung für seine Eroberungsleistungen.
Bedeutungsebene 2: Assoziationen mit Referenzpunkten des kulturellen Gedächtnisses Auf einer zweiten Bedeutungsebene geht es bei der Irrfahrt um ein Netzwerk aus Assoziationspunkten: Namen von Orten und Landschaften wecken im gebildeten Leser Erinnerungen an literarische Bezugspunkte, Motive, Themen, Autoren und Werke. Wie in einer Bibliothek wird der Rezipient von Werk zu Werk, von Autor zu Autor oder von Themengruppe zu Themengruppe geführt. So bietet die Beschreibung des Kriegs in erster Linie Verweise auf die primären und sekundären Alexanderhistoriographen.38 Die Überquerung des Hellesponts erlaubt Assoziationen mit Herodots Beschreibung des Xerxeszugs; die Einnahme von Sardeis mag an den herodoteischen Kroisos erinnern, der sein Reich an Kyros II. verlor. 36 Ps.-Kall. 3,17,8. 37 Ps.-Kall. 3,33,4–5. 38 Stoneman 2009, 142.
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Gerade die unhistorischen Kursmanöver lassen sich mit literarischen Allusionen erklären. Alexanders Übersetzen nach Sizilien dürfte Anklänge an Aeneas’ sizilische Überfahrt in Vergils Aeneis aufweisen. Die Eroberung Roms und Karthagos ist in der Spätantike ein Must-have für einen Kosmokrator. Darüber hinaus mag es sich bei der römischen Unterwerfung eventuell um eine Replik auf Livius’ Alexander-Exkurs aus der Sicht eines ägyptischen Provinzbewohners handeln. Während Livius darlegte, dass nicht einmal der von vermeintlicher östlicher Dekadenz noch unverdorbene Alexander römische Feldherren hätte besiegen können, geschweige denn der entartete Alexander,39 ist im Alexanderroman nicht einmal eine Schlacht nötig: Die Römer erkennen freiwillig seine Herrschaft an.40 Hineinspielen könnte überdies eine Reminiszenz an die unhistorische Erwähnung von römischen und karthagischen Gesandtschaften, die Alexander in seiner letzten Regierungsphase in Babylon aufgesucht haben sollen.41 Der Abstecher nach Abdera könnte auf die dort beheimatete philosophische Schule mit den berühmten Vertretern Demokritos und Protagoras verweisen. Ein unmittelbarer Bezug zu Alexander bietet sich durch den Philosophen Anaxarchos von Abdera, der an seinem Hof lebte.42 Des Weiteren könnte es sich auch um einen Verweis auf die herodoteische Episode handeln, in der Xerxes auf dem Rückzug aus Hellas in Abdera beherbergt wurde und dort zum ersten Mal auf der Flucht den Gürtel löste, weil er sich sicher fühlte.43 Die Erwähnung der makedonischen Landschaft Bottiaia, laut Herodot und Thukydides eines der Kerngebiete der frühen argeadischen Expansion, erinnert an den Aufstieg von Alexanders Dynastie.44 Die von den frühen Argeaden vertriebenen Bewohner der Bottiaia siedelten sich auf der chalkidischen Halbinsel an; das Gebiet, in dem sie Zuflucht fanden, wurde Bottike genannt.45 Dazu fügt sich die Erwähnung von Alexanders Zug nach Olynthos, der einstigen Hauptstadt des Chalkidischen Bunds. Olynthos wurde von Alexanders Vater Philipp II. im Zuge 39 Livius 9,17,16; 9,19,10–11. 40 Inwiefern dies auch eine kritische Sicht auf die römische Zentrale aus Sicht des Provinzbewohners impliziert (freundlicher Hinweis von Oliver Stoll, dem ich dafür herzlich danke), lässt sich nicht sagen, da über den Autor nichts bekannt ist. 41 Arrian, Anabasis 7,15,4–6. Siehe Bosworth 1988, 85–91 (eine Erfindung des Kleitarchos). Sollte Kleitarchos, wie die neuere Spätdatierung annimmt, unter Ptolemaios IV. geschrieben haben, könnte dies eine Reminiszenz an die diplomatischen Kontakte Ptolemaios’ II. mit Rom und Karthago gewesen sein. 42 Arrian, Anabasis 4,9,7–9; 4,11,6; Plutarch, Alexander 28,2–3; 52; Moralia 737A; 781B; Diogenes Laertios 9,58–60; Aelian, Varia Historia 9,37; Valerius Maximus 3,3, externa 4; 8,14, externa 2. 43 Herodot 8,120. 44 Herodot 8,127,1; Thukydides 2,99; Diodor 7, Fragment 16. 45 Thukydides 1,58,1–2. Es war ein Landstrich an der Westküste. Vgl. Zahrnt 1971, 52.
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seiner Expansion zerstört, damit endete auch der Chalkidische Bund.46 Die Erwähnung erinnert in literarischer Hinsicht an die berühmten Olynthischen Reden des Demosthenes, der im Kampf gegen Philipps territoriales Ausgreifen seine Bestimmung fand.47 Theben als chronologisch verrutschtes Ziel bietet Anklänge an den berühmten thebanischen Dichter Pindar, der zudem ein Lied auf Alexanders Vorfahren Alexander I. verfasst hatte.48 Auch mögen für einen ägyptischen Autor Pindars kyrenische Verbindungen, die sich in seinen Gesängen auf kyrenische Wettkampfsieger und seiner Kenntnis des Zeus-Ammon-Kults manifestierten, eine Rolle gespielt haben.49 Beide Aspekte erlaubten zudem Parallelen zu Alexander. Auf einer weiteren Ebene mochte die Erwähnung Thebens den gebildeten Leser an Sophokles’ Thebanische Trilogie erinnern. Das Rote Meer als Station war gerade für einen ägyptischen Autor mit alexandrinischem Hintergrund sicherlich mit Erinnerungen an die frühen Ptolemäer verbunden, die dort ihre Kriegselefanten jagten, sich entsprechend als Elefantenjäger darstellten und Handelsstützpunkte wie Adulis gründeten.50 Eventuell stellte der Autor des Alexanderromans seine Leser auch augenzwinkernd auf eine Wissensprobe. So berichtet er über Alexanders Besuch im Palast Kyros’ II. (der eigentlich in Pasargadai lag, während die späteren Achaimeniden eigene Paläste in Susa und Persepolis bauten): „Das Haus, in dem der König selbst Audienz abzuhalten pflegte, war in griechischem Stil erbaut. Innen ist die Seeschlacht des Xerxes gegen die Athener dargestellt.“51 Wer Herodots berühmte Schilderung der Seeschlacht bei Salamis und deren Ausgang kannte, wird gewusst haben, wieso es – abgesehen von dem chronologischen Problem – mehr als unwahrscheinlich war, dass ausgerechnet eine Darstellung dieses Ereignisses den persischen Repräsentationsraum des Audienzsaals schmückte, wo von aller Welt her Gesandte zum Großkönig kamen.
46 Diodor 16,53,2–3; Justin 8,3,11–12; Plutarch, Alexander 7,2. Vgl. Wirth 1985, 71–73. Grundlegend: Zahrnt 1971, 104–111. 47 Worthington 2012, 71–254; Müller 2010, 173–174; Koulakiotis 2006, 28–58; Wirth 1985, 66–70. 48 Pindar, Fragment 120 (Scholien zu Pindar, Nemeen 7,1a); Fragment 121 (Dionysios von Halikarnassos, Demosthenes 26). 49 Pindar, Pythien 4,16. Vgl. Herodot 1,46,3. Zum griechischen ‚Vorleben‘ Ammons: Classen 1959. 50 Müller 2009, 162–163, 165, 196, 320–323. Vgl. z. B. Orientis Graeci Inscriptiones Selectae 54. 51 Ps.-Kall. 3,28,13. Zur Beschreibung der Schätze im Palast des Kyros: Stoneman 1995, 163–164.
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Fazit Im Alexanderroman wird eine innere Landschaft kreiert, in der Zeit, Geographie und Chronologie aufgehoben sind. Der Autor entwirft ein künstliches literarisches Konstrukt, indem er die Landschaft aus einem Geflecht gestaltet, das aus Assoziationen mit Fixpunkten des literarischen antiken Erbes, kulturellen Referenzpunkten, gewebt ist. Seine mental map aus Orten, Fixpunkten, Gebäuden, seltsamen Wesen und Pflanzen steht unter dem übergeordneten Thema der Grenzen der Erde, der Grenzen des Wissens und der göttlich gesetzten Interaktionsgrenzen. Dabei lässt der Autor den Leser im Geist von einem berühmten literarischen Erinnerungsort zum nächsten wandern, als würde er in einer Bibliothek von Schriftrolle zu Schriftrolle gehen, zu Werken, die Bezüge zu den jeweiligen Stationen Alexanders aufweisen. Es ist – in gut hellenistischer Tradition, wie sie einst in Alexandria gepflegt wurde – ein literarisches mind-game einer inneren Landschaft.
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Landschaftsdarstellungen der byzantinischen Malerei Von den Anfängen bis zur Makedonischen Renaissance
Die byzantinische Malerei hat während ihrer langen Entwicklungsgeschichte – also vom frühen 4. bis ins 15. Jahrhundert – immer wieder Interesse an landschaftlichen Darstellungen gepflogen.1 Eine schon lange bestehende Tradition2 führte diese nahtlos von der spätrömischen in die byzantinische Malerei. Ländliche Themen waren auch allgegenwärtige Sujets der antiken Lyrik. Eidyllia, wie sie Theokrit am Hof von Alexandria verfasste, sind literarische Pastoralen. Mit ihnen gingen adäquate Darstellungen in der Malerei einher, die den locus amoenus, die liebgewonnene Landschaftsidylle, charakterisierten.3 Die bukolische Themenwelt war durch Dichtung, Malerei und Gartenkunst so fest im spätantiken Kulturverständnis eingeprägt, dass das darin gepriesene einstige ländliche Leben zur Vision des erwarteten Goldenen Zeitalters wurde, wie sie uns Vergil in seinen Georgica vermittelt. Die zur Illustration des Textes in Rom um 400 geschaffenen Miniaturen des Vergilius Vaticanus legen ein beredtes Zeugnis über die skizzierten Zusammenhänge ab.4 Naturnähe war in der Antike als schön empfunden und idealisiert worden. Sie war integraler Bestandteil rhetorischer Bildung und klassischen Stilempfindens. Dass dies in Byzanz noch im frühen 6. Jahrhundert so betrachtet wurde, veranschaulichen die im medizinischen Herbarium des 512 in Konstantinopel entstandenen Wiener Dioskurides enthaltenen Miniaturen von Heilpflanzen.5 Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass man den spätantiken Traditionen noch zugeneigt, ja aufs Engste verbunden war. Freilich hing das auch vom Genre ab. Das Herbarium ist keine christliche, sondern eine naturwissenschaftliche Gattung mit antiken Wurzeln. Das 1 2
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Ainalov 1961, 185–214; Bösch-Supan 1967, 90–107; Pochat 1973, 60–79. Beginnend mit Landschaftsdarstellungen der kretisch-minoischen Kultur (Flotten- und Frühlingsfresko von Akrotiri/Thera, vor 1627 v. Chr.; siehe Chapin 1995, bes. 56–72; Betancourt 2000, 359–362; Strasser 2010, 3–26). Natur-Bilder, wie wir sie aus Pompeji kennen, wurden von Vitruv, De architectura 5,7,8 und 7,5,1–3 (ca. 25 v. Chr.) kommentiert. Er nennt die Landschafts szenerien topia. C. Plinius Secundus, Naturalis historia 35,116–117 (ca. 77 n. Chr.) weist die Erfindung der Landschaftsmalerei einem Künstler namens Spurius Ludius bzw. Spurius Tadius zu. Büttner 2006, 27. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana (fortan BAV), Cod. 3225, Bl. 7v. Siehe Geyer 1989; Wright 1993, bes. 5–19. Weitzmann 1963, 27; Geyer 1989, 57–58; Mazal 1999.
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Vorbild kam aus der Antike, doch die Fähigkeit, ihm in adäquater Weise zu folgen oder es vielleicht sogar noch zu übertreffen, war nur möglich, wenn man in den Malerwerkstätten in solchen Genres geübt war. Sie mussten zum gängigen Repertoire gehört haben. Das Interesse an solchen illustrierten Ausgaben antiker naturwissenschaftlicher Texte blieb noch bis in mittel- und spätbyzantinische Zeit erhalten, wie uns die in Konstantinopel im 10. Jahrhundert geschaffene Edition der Theriaka und der Alexipharmaka des Nikander von Kolophon,6 zweier Abb. 1: Wiener Genesis, Wien, ÖNB, Cod. theol. medizinischer Lehrgedichte, oder die gr. 31, Bl. 23r: J osephs Einspruch gegen den Segen im 11. Jahrhundert entstandene Ausüber Ephraim und Manasse (Mitte 6. Jh.). Nach gabe der Kynegetika des Oppian,7 eines Weitzmann. Gedichtes über Jagd- und Fischereimethoden, bestätigen. In unterschiedlicher Weise sind auch sie mit zahlreichen Landschaftsmotiven versehen. Doch wie sieht es bei frühchristlichen illustrierten Handschriften aus? Die altund neutestamentlichen Codices – beispielsweise die Wiener Genesis (Abb. 1)8 oder das Evangeliar von Rossano,9 beide hochkarätige byzantinische Purpurhandschriften aus der Mitte des 6. Jahrhunderts – verfügen über jede Menge landschaftlicher Motive, die, im Schlepptau antiker Traditionen, von der heidnischen in die frühchristliche Buchkunst migrierten. Landschaft dient dabei der illusionistischen Qualität des Bildaufbaus und der Verankerung des szenischen Geschehens in einem Ambiente, das den illustrierten Text möglichst gut veranschaulicht. Dabei legen die streifenförmigen, zum Teil zweizonigen Miniaturen vielfach mehrere Szenen zusammen und erzeugen so einen erzählerischen Verlauf innerhalb des Bildes. Dies ist zurückzuführen auf die damals aktuelle Entwicklung der Buchkunst, mit den von der Rolle übernommenen und im Codex 6 7 8 9
Paris, Bibliothèque nationale de France (fortan BnF), Ms. suppl. gr. 247. Weitzmann 1971, 35–38, 141–143, 186; Touwaide/Förstel/Aslanoff 1997. Venedig, Marciana, Ms. gr. 479. Weitzmann 1963, 19–20; Geyer 1989, 83–87; Spatharakis 2004. Wien, Österreichische Nationalbibliothek (fortan ÖNB), Cod. theol. gr. 31. Weitzmann 1977, 15–16, 21–22, 76–87; Zimmermann 2003. Domschatz von Rossano. Cavallo/Gribomont/Loerke 1987.
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Abb. 2: Evangeliar (Codex Purpureus Rossanensis), Domschatz von Rossano, Bl. 1v: Einzug in Jerusalem (Mitte 6. Jh.). Nach Cavallo.
dann erweiterten Illustrationsverfahren.10 Die landschaftlichen Motive können nun entweder noch von der Bildredaktion der ursprünglich singulären Illustration stammen, wo sie als Hintergründe oder Kulissen dienten, oder sie wurden für die zyklische Zusammensetzung der Bilder neu eingebunden, um als Begrenzungsund Trennungselemente zu fungieren. Landschaftselemente – bisweilen ganze Landschaftsräume – bedingen Wirklichkeitsnähe und sind damit in der Lage, die Glaubwürdigkeit des Bildes zu untermauern. Die Miniaturen aus der Wiener Genesis sind hier besonders aufschlussreich, denn sie zitieren zahlreiche bukolische Formen, die tief in der klassischen Tradition verwurzelt sind, und übertragen selbst ursprünglich innenräumliche Szenen in eine zutiefst impressionistisch gestaltete Landschaft. Für solch gelungene Transformationen waren die Kenntnis spätantiker Methoden und deren erfahrene Anwendung unerlässlich. Bisweilen fallen Landschaftselemente auch als ikonographische Topoi aus, die erheblich zur Erkennung des Themas beitragen, etwa die Felsenhöhle des Grabes des Lazarus oder der Ölbaum und die Stadtansicht beim Einzug Christi in Jerusalem im Evangeliar von Rossano (Abb. 2).11 In dieser Handschrift fallen auch markante 10 Weitzmann 1947. 11 Siehe auch die Miniaturen des syrischen Rabbula-Evangeliars von 586 (Florenz, Cod. Laur. Plut. I, 56) oder den Ikonendeckel des aus Palästina stammenden Reliquienkastens der Loca Sancta
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Unterschiede gegenüber den klassischen erzählerischen Gestaltungsprinzipien auf, etwa die Reduktion der Motive zu schematisierten und verkürzten Formeln oder deren hieratische Monumentalisierung analog den Ordnungen von repräsentativen Bildern in Kirchenausstattungen. Sie führen zu einer zunehmenden Einschränkung landschaftlicher Motive und haben mehrere Wurzeln. Eine davon liegt in der schon seit der Spätantike beginnenden Verknappung von Bildzusammenhängen zur kleinformatigen Illustration von Texten, wie sie von der Rotulus- in die Codexillustration übernommen wurde. Weiters zeigen unsere beiden Handschriften, dass sie auch in hohem Maße repräsentativen und kultischen Charakter besaßen, zum einen als Purpurcodices, die durch ihre Auftraggeber im herrschaftlichen Milieu angesiedelt waren, zum anderen als Gegenstände, die im zeremoniellen liturgischen Gebrauch standen und mit festlichen ganzseitigen Bildern aufwarten konnten. In den Bereich zwischen naturwissenschaftlicher Tradition und biblischer Textinterpretation fallen die Illustrationen der christlich argumentierten Kosmologie der Topographia Christiana des Kosmas Indikopleustes, deren Text und Bilder auf das 6. Jahrhundert zurückgehen.12 Die drei erhaltenen Abschriften des 9. bis 11. Jahrhunderts13 zeigen, dass ihre auf eine in Alexandria kompilierte Vorlage zurückgehenden Miniaturen polyzyklisch sind.14 Die wenigen Bilder, die eigens für den Text generiert wurden, sind schematische Darstellungen des Universums (Abb. 3), die sich einerseits an zweidimensionalen kartographischen Methoden orientieren, als Draufsicht oder Vorderansicht, schlicht viereckig oder bogenförmig gerahmt, und andererseits diese Rahmen und die darin liegende Weltenlandschaft dreidimensional so darstellen, dass die perspektivische Ansicht eines tonnengewölbten Kubus entsteht, der das Universum als gewölbten Kasten erscheinen lässt. Dass die darin eingebauten Vorstellungen von der Welt noch gewisse Anleihen an großräumig wahrgenommene Landschaften verraten, ist verständlich, genauso wie der Umstand, dass deren Einbindung auf markant abstrakte Weise geschieht. Signifikant ist darüber hinaus, dass man bei den aus biblischen Bildeditionen übernommenen Miniaturen deren szenische bzw. zyklische Bestandteile vor einem einheitlich weißen Hintergrund aufführt – ähnlich den weiter unten besprochenen Fußbodenmosaiken des Kaiserpalastes – und auf eine Weise kondensiert, dass keinerlei illusionistische Zusammenhänge und auch und auf so eine Weise kondensiert kein Bildraum hergestellt werden. vom 6./7. Jh. (Rom, BAV, Inv.-Nr. 1883 a/b), u. a. mit Bildern der Kreuzigung vor der Berglandschaft Golgotas. Weitzmann 1977, 98–106; Mietke 1998, 40–44. 12 Ainalov 1961, 24–56; Wolska Conus 1968–1970; Garzya 1992. 13 1. Rom, BAV, Cod. gr. 699 (9. Jh.): Stornajolo 1908; 2. Sinai, Cod. gr. 1186 (11. Jh.): Weitzmann/ Galavaris 1990, 52–64; 3. Florenz, Cod. Laurent. Plut. 9.28 (11. Jh.): Anderson 2013. 14 Weitzmann 1947, 198.
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Abb. 3: Topographia Christiana des Kosmas Indikopleustes, Katharinenkloster am Sinai, Cod. gr. 1186, Bl. 69r (frühes 11. Jh.). Nach Weitzmann/ Galavaris.
Letztlich ist allerdings der allgemeine Prozess der Verselbstständigung der frühchristlichen Kunst von ihrem antiken Erbe der maßgebliche Faktor für den Verzicht auf Themen und Darstellungsmethoden mit räumlicher Suggestion zugunsten immer stärker werdender linearer Abstraktion und einer Betonung des Flächigen. Dieser Wandel ist ein Phänomen, das im gesamten mittelmeerischen Kulturraum beobachtet werden kann. Die christlichen Bilder, die sich mehr und mehr ausbreiteten, entwickelten die notorische Neigung, ihrem Inhalt eine spirituelle Form zu geben, und erfuhren dadurch im Lauf der Zeit erhebliche Veränderungen. Im Verhältnis zum lateinischen Abendland behielt man in Byzanz einen höheren Grad an Verbundenheit mit klassischen Formen bei, was sich vor allem in den deutlich organischeren Figuren ausdrückt. Dafür ging aber das Bedürfnis nach Veranschaulichung ihrer physischen Präsenz und, damit einhergehend, ihres Verhältnisses zur natürlichen oder von Menschen gestalteten Umwelt verloren. In den Bildern fand die Realität immer weniger Platz, denn man trachtete danach, durch sie das Numinose, das eben jenseits der Realität Vermutete, zu ergründen. Im visionär Geschauten trat das Symbolische in den Vordergrund, während Natur- und Landschaftsdarstellungen nur in stark reduzierter, schematischer Form überleben konnten. Hinzu kommt, dass man aus apologetischen Gründen offensichtlich mit der Antike in Verbindung stehende Bildformulare vermied, da man sie als zu heidnisch bzw. als zu wenig christlich hätte verstehen können. Die zahlreichen Phasen dieser Entwicklung, die sich vom 5. bis ins 8. Jahrhundert in
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Abb. 4: Hosios David in Thessaloniki, Apsisgewölbe: Theophaniebild der apokalyptischen Vision der Propheten Ezechiel und Habakuk (frühes 6. Jh.).
einem komplexen Prozess vollzog, können hier nicht wiedergegeben werden.15 Exemplarisch seien Werke des 6. Jahrhunderts vorgestellt, einer Zeit, in der sich ein vehementer Wandel in der byzantinischen Kunst nachvollziehen lässt. Dazu gehören die Mosaiken von Hosios David in Thessaloniki (frühes 6. Jh.), von San Vitale (540–547) und Sant’Apollinare in Classe (um 549) in Ravenna sowie jene im Katharinenkloster am Berg Sinai. Während Thessaloniki und der Sinai ohnedies dem byzantinischen Kunstschaffen zugehörig waren, bedarf dies im Fall der beiden italienischen Denkmäler des Hinweises, dass sie aus der Zeit nach der Eroberung Ravennas und seiner Einverleibung ins Byzantinische Reich unter Kaiser Justinian stammen und deshalb zu Recht mit der Kunst Konstantinopels in Verbindung gebracht werden. Alle genannten Beispiele tragen dazu bei, jene Lücke zu schließen, die sich durch die Zerstörungen der Kirchenausstattungen Konstantinopels während des Ikonoklasmus und bei der Umwandlung der Kirchen in Moscheen in osmanischer Zeit aufgetan hat. In der Monumentalmalerei liegen die autonomen, das Himmlische repräsentierenden und daher theologisch bestimmten Bilder, wie sie in Apsiden und an Triumphbögen auftreten, meistens außerhalb unseres Fokus.16 Anders verhält es sich bei den genannten Denkmälern. In Hosios David (Abb. 4)17 mit seinem 15 Siehe vor allem Lazarev 1967; Kitzinger 1977. 16 Ihm 1992. 17 Tsigaridas 1998; Kourkoutidou-Nikolaidou 2012, 183–195.
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Abb. 5: San Vitale in Ravenna, Apsisgewölbe: Vision des Kosmokrators samt Praesentatio des Patrons und des Stifters (542–547).
soteriologisch, eschatologisch und eucharistisch bestimmten Kalottenbild zeigt die Darstellung der Theophanie des von den vier apokalyptischen Wesen umgebenen Christus, der auf dem Regenbogen thront und von einer strahlenerfüllten Aureole umgeben ist, die Vision seiner himmlischen Erscheinung bei der Wiederkunft am Ende der Zeiten. Zu seinen Füßen ergießen sich die vier Paradiesströme, gespeist oder umgeben von einem Gewässer,18 das als personifiziertes Wesen in der Tradition der antiken Fluss- und Meeresgötter abgebildet ist. Dieses Gewässer erstreckt sich entlang des unteren Bildrands und bildet den Kern einer anfänglich nach der Art nilotischer Szenen aufgebauten Landschaft, die schließlich an den Flanken zu üppigen Bergen und Hügeln ansteigt. Vor ihnen sinnen und lauschen Ezechiel und Habakuk ob ihrer apokalyptischen Vision (Ez 1,1–28; Hab 3,1–19). Die Landschaft mit ihren reichen Formen und lebhaften Farben weist zahlreiche Reminiszenzen an die hellenistische Kunst auf. Der prima vista naturalistische, die irdische Wirklichkeit in die himmlische Theophanie einbindende Schauplatz wird allerdings durch die in einem horror vacui übereinander getürmten Felsformationen und Architekturelemente derart verdichtet, dass er viel von seiner illusionistischen Weiträumigkeit verliert. Die mit dem Wolkenhimmel verschmelzende Landschaft wird auf impressionistische Weise in ihrer materiellen Identität erodiert. Diese Entwicklung steigert sich noch in den etwas später zu datierenden Presbyteriumsmosaiken von San Vitale 18 Häufig wird darin entweder der Chebar oder der Jordan vermutet. Siehe Tsigaridas 1998, 39.
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in Ravenna, deren Evangelistenbilder die naturalistischen Vorbilder in halbabstrakte Landschaftskulissen verwandeln.19 In der Apsis von San Vitale (Abb. 5)20 wird die Landschaft Teil einer paradiesischen Vision göttlicher Herrlichkeit. Dabei werden der Patron und der Stifter dem himmlischen Herrscher präsentiert, ganz nach der Art eines feierlichen Hofzeremoniells. Der Ort des Geschauten liegt im Jenseits, eingetaucht in das überirdisch wirkende Licht des glanzvoll schimmernden goldenen Hintergrunds. Die landschaftliche Bühne, in der die kosmische Sphäre als Thron des Allmächtigen eingelagert ist, entbehrt der Kompatibilität mit der Wirklichkeit, was sich auch im Verhältnis zu den wie projiziert wirkenden monumentalen Protagonisten ausdrückt, indem jeglicher realistische Maßstab aufgegeben wurde. In der Exedra von Sant’Apollinare in Classe (Abb. 6)21 kommt es zu einer komplexen Verschmelzung des neutestamentlichen Theophanie-Geschehens im Rahmen einer chiffrierten Darstellung der Verklärung Christi mit der Vision christlicher Weltherrschaft, wobei auch die mithilfe des Titelheiligen – des Bischofs Apollinaris – in den Garten Eden eingehenden Vertreter der Kirche mit eingebunden werden. Die zwölf Lämmer stehen in Analogie zu jenen der apostolischen Kirche am Triumphbogen. Das hochgradig intellektuelle Programm wird in ein streng geordnetes, symmetrisch komponiertes Bild gefasst, das in seiner monumentalen Grandeur die Vorstellung himmlischer Ordnung und paradiesischer Harmonie veranschaulicht. Die Verwandtschaft mit dem entstehungsgeschichtlich vorangehenden Apsismosaik von San Vitale ist unübersehbar, trotz programmatischer Unterschiede, wie auch die künstlerische Qualität der Werkstatt auf gleicher Höhe liegt. In beiden Mosaiken zeigt sich die tiefgreifende Veränderung, die innerhalb der byzantinischen Kunst des 6. Jahrhunderts stattfand. Den spätantiken Impressionismus hat man mittlerweile zugunsten einer durch Flächigkeit und Abstraktion erwirkten Entrücktheit, in der das Symbolische dominiert, weit hinter sich gelassen. Dabei übertreffen die Ausmaße der Landschaft von Sant’Apollinare in Classe alles bisher in einer christlichen Kirche Gesehene. Doch ihre Elemente sind nicht mehr organisch verbunden, sondern wie bei einem Wandteppich isoliert neben- und übereinander gereiht. Der Paradiesgarten ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Hort der Ordnung geworden, einer theologischen bzw. kirchlichen Ordnung, und lässt seine Wurzeln im bukolischen Idyll der Antike kaum mehr erahnen. 19 Kitzinger 1977, 81–98 spricht von einer „Justinianischen Synthese“. 20 Deichmann 1958, VIII–XI, 311–375; Deichmann 1976, 143–187; Ihm 1992, 163–165; Angiolini Martinelli 1997; Jäggi 2013, 231–258. 21 Deichmann 1958, XII–XIV, 383–413; Dinkler 1964; Deichmann 1976, 261–276; Kitzinger 1977, 101–102; Ihm 1992, 165–167; Michael 2005; Jäggi 2013, 271–278.
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Abb. 6: Sant’Apollinare in Classe bei Ravenna, Apsisgewölbe: Verklärung Christi und Paradiesesvision mit dem Hl. Apollinaris (um 549).
Wäre diese Veränderung nur anhand der Mosaiken von Ravenna zu beobachten, könnte man meinen, es handle sich um ein lokales Spezifikum der mittlerweile byzantinisch dominierten einstigen weströmischen Hauptstadt. Doch die enorm prestigeträchtige Technik des Wandmosaiks war kein Feld regionaler Kunstauffassungen, die unbeirrt vom Mainstream ein isoliertes Dasein hätten fristen können. Die Richtlinien gingen von Konstantinopel aus, dem maßgebenden Kunstzentrum seiner Zeit. Das belegen u. a. die Apsismosaiken des Katharinenklosters am Sinai (Abb. 7), die gegen Ende der Herrschaft Justinians zwischen 548 und 565 ausgeführt wurden und noch einen Schritt weiter gingen.22 Sie dokumentieren die völlige Aufgabe der antiken Traditionen eines tiefenräumlich konzipierten Bildes. Das Kalottenbild zeigt erneut die Verklärung Christi. Seine irdische Bühne ist ein aufs Minimum reduzierter, völlig abstrakt formulierter Standstreifen, auf dem sich die Propheten und Apostel bewegen. Christus, in seine göttliche Natur verwandelt, erscheint in einer mandelförmigen Aureole, die im dominierenden, gänzlich abstrakten Goldgrund des Himmels schwebt. Der zeremonielle Charakter der Darstellung korrespondiert mit der aus dem Diesseits entrückten entrückten und weitestgehend entmaterialisierten Verortung des Geschehens, dessen einzige dreidimensionale Komponente die handelnden Figuren sind. Wieder handelt 22 Kitzinger 1977, 99–101; Weitzmann 1982, 5–18.
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Abb. 7: Katharinenkloster am Berg Sinai, Apsisgewölbe: Verklärung Christi (548–565).
es sich um ein Mosaik, dessen hohe Qualität außer Zweifel steht. Seine Konzeption und Ausführung kann mit Gewissheit einer Werkstatt zugewiesen werden, die im Auftrag Justinians handelte und aus Konstantinopel kam. Das Ergebnis zeigt die richtungsweisenden Kriterien, die für die weitere Entwicklung der byzantinischen Monumentalmalerei vorgegeben wurden. Die Einbindung landschaftlicher Kompositionen ließe sich auch anhand der szenischen Darstellungen der Monumentalmalerei darlegen, die in den Kirchen zumeist als Zyklen an den Wänden und untergeordneten Gewölben ausgeführt wurden. Theophanische Erscheinungen, wie sie in Apsiden und Kuppeln festgehalten wurden, sind Zustandsbilder, in denen sich sozusagen der Himmel öffnet, wofür – wie wir gesehen haben – abstrakte Formeln besonders geeignet sind. Dagegen werden in szenischen Darstellungen Geschehnisse vermittelt, die auf Erden stattgefunden haben. Für einen verständlichen Ablauf sind die darin festgehaltenen Dimensionen von Raum und Zeit kaum verzichtbar.23 Landschaftsmotive sind daher Teil der narrativen Zusammenstellung des Dargelegten und haben häufig attributiven Charakter. Vielfach bestehen Analogien zur Buchmalerei, für die zahlreiche Bilder als Illustrationen der in den Texten überlieferten Themen einst geschaffen wurden. Es gibt aber auch jede Menge abweichender Strukturen, sowohl bei einzelnen Szenen als auch bei der zyklischen Zusammen23 Die Szene der Verklärung bildet eine der Ausnahmen, da ihr Theophaniecharakter dominiert. Deshalb war sie auch geeignet, in Apsisprogramme aufgenommen zu werden.
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setzung. Die Gründe dafür liegen in den teilweise abweichenden Gesetzen, denen die verschiedenen Medien unterworfen sind. Dennoch bestätigen die szenischen Darstellungen auf ähnliche Weise jene Entwicklung, die wir bereits bei den Apsisbildern skizzieren konnten, weshalb wir auf eine eingehende Erläuterung verzichten wollen. Kurz gesagt, auch sie werden immer mehr von getragener Feierlichkeit erfüllt. Hintergründe erstarren, illusionistische Ausblicke werden verflacht und schließlich aufgegeben, wodurch ehemals weiträumige Landschaften zu reduzierten blockhaften Schemata gerinnen und schließlich in einem häufig goldenen flächigen Hintergrund verschwinden, der in den ikonisch verstandenen Bildern das Heilige symbolisiert. Es sei exemplarisch das einzige in Konstantinopel erhaltene szenische Wandmosaik einer Kirche erwähnt, das noch vor dem Ikonoklasmus entstand: die Darstellung Christi im Tempel aus der Kalenderhane Camii, heute im Archäologischen Museum von Istanbul.24 An dieser Stelle muss kurz auf die sogenannten Palastmosaiken hingewiesen werden. Diese profanen Fußbodenmosaiken gehörten zur Ausstattung des Großen Kaiserpalastes in Konstantinopel. Ihre Datierung schwankt zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert.25 Neben Tierkämpfen, mythologischen Themen und Fabelwesen sind bukolische Szenen und Jagddarstellungen zu sehen. Ohne thematische Ordnung aneinandergereiht, häufig mit zwischengelagerten Bäumen, Sträuchern oder Architekturen, wurden sie vor einem durchgehenden weißen Hintergrund ausgeführt. Nach der Art von Figurenteppichen organisiert, wie das bei Fußbodenmosaiken in Syrien schon seit dem 5. Jahrhundert auftritt, lassen sie keine Illusion räumlicher Tiefe aufkommen. Der flächige Charakter ist allerdings weniger Ausdruck des besprochenen Stilwandels, sondern vorrangig ein Phänomen, das dem Bedürfnis des Betrachters nach einer soliden Standfläche geschuldet ist. Trotz der antikischen Figuren, der genrehaften Szenen, der Architekturen, Bäume und Sträucher, kann wegen der Vereinzelung der Motive – die weder einen erzählerischen noch einen bildräumlichen Zusammenhang ergeben – nicht von Landschaften im eigentlichen Sinn gesprochen werden. Doch stellt sich die Frage, inwieweit unsere kunsthistorischen Betrachtungsweisen den damaligen Bewertungen entsprechen. Trotz aller Abstraktionsbestrebungen bleibt nämlich die aus der Antike übernommene Idee von Natur und Landschaft lebendig. Einer jener Bereiche, wo dies zutage tritt, sind – und das mag auf den ersten Blick erstaunen – die rhetorischen Beschreibungen von marmornen Böden und Wandverkleidungen. Die kostbaren Plattenverbände und opus sectile-Arrangements wurden in der byzantinischen 24 Striker/Hawkins 1997, 121–124, Pl. 148–149. 25 Hellenkemper Salies 1987, 285–286; Jobst/Vetters 1992; Bardill 1999, 216–230.
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Kunst zu höchster Blüte geführt. Das gilt etwa für den Naosboden der Hagia Sophia in Istanbul, der in weiten Teilen dem ursprünglichen Zustand entspricht.26 Die Platten aus prokonnesischem Marmor werden durch vier Verde-Antico-Streifen der Quere nach in fünf Abschnitte unterteilt. Inwieweit kosmologische Vorstellungen – die für das Verständnis des Baus unverzichtbar sind – auch die Gestalt des Fußbodens mitbestimmten, ist noch nicht näher untersucht worden. Die zeitgenössischen Texte sind kunstvolle Beschreibungen und geben jedenfalls Aufschluss, dass die Fußbodenplatten bildhaft verstanden wurden. Prokop von Caesarea und Paulus Silentiarius heben die Vielfarbigkeit und unterschiedliche Herkunft des Materials als eine Anspielung auf die Ökumene des Reichs hervor. Prokop sieht die wie von einem Maler in bunten Farben wiedergegebene, erstrahlende Natur und bringt den Vergleich mit einer Blumenwiese.27 Auch Paulus Silentiarius verwendet den klassischen Topos eines wie mit einem Pinsel gemalten Werks und verweist auf die Ähnlichkeit des farbigen Marmors mit blühenden Wiesen.28 Erst in späterer Zeit kamen christliche Interpretationen hinzu, sei es in der Diegesis von 995, in der die Verde-Antico-Streifen als eine von Justinian initiierte Darstellung der vier Paradiesflüsse proklamiert werden, während wenig später im Text darauf Bezug genommen wird, dass der Naosboden die Erde symbolisiere, während die grünen Streifen die in das Meer strömenden Flüsse darstellten.29 Das bildhafte Verständnis wiederholt sich in den Beschreibungen der im 9. Jahrhundert ausgeführten Marmorausstattung des Großen Kaiserpalastes durch Theophanes Continuatus, der sich beim Saal des Musikos an Wiesen voller Blüten erinnert fühlt,30 während er beim Boden des Kainurgion wieder die Vorstellung von den vier Flüssen kolportiert.31 Selbst noch Philagathos, Homilist am Hofe des Normannenkönigs Rogers II., meinte, das opus sectile-Paviment der Cappella Palatina unterscheide sich von einer Frühlingswiese nur darin, dass Blumen verwelkten, hier jedoch eine immer blühende Wiese bestehe, die in sich den ewigen Frühling bewahre.32 Die Verbundenheit mit den ästhetischen Kategorien der Antike blieb auf die eine oder andere Weise kontinuierlich erhalten. Wir werden noch darauf zurückkommen.
26 Majeska 1978, 299–308. 27 Peri ktismaton 1,1,59–61. Siehe Veh 1977, 30–31. 28 Ekphrasis tou naou tes Agias Sophias, Verse 605–607, 617–619, 647–649, 658–660. Siehe Veh 1977, 336–341. 29 Preger 1901, 107–108. 30 Mango 1972, 164. 31 Mango 1972, 196–198. Ähnliches beschreibt Leon VI. (reg. 886–912) für eine Kirche des Zautzas: Akakaios 1868, 275–277. 32 Rossi Taibbi 1969, 175.
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Abb. 8: Umayyadenmoschee in Damaskus, Vorhalle (frühes 8. Jh.).
Was die Entwicklung während des Bilderstreits (730–843) betrifft, liefern die wenigen erhaltenen sakralen Werke keine Hinweise darauf, dass Landschaftsdarstellungen eine Rolle gespielt hätten, sei es in der Monumentalmalerei33 oder in der Buchmalerei.34 Abstrakte Motive standen im Vordergrund. Wie die profanen Wandmosaiken und Wandmalereien der verschiedenen Kaiserpaläste von Konstantinopel ausgesehen haben, entzieht sich im Großen und Ganzen unserer Kenntnis. Nur vereinzelte Quellen geben karge Hinweise. Theophanes Continuatus berichtet etwa, dass im Großen Palast unter Theophilos (reg. 829–842) im Kamilas-Saal Figuren, die Früchte sammeln, und in einem angegliederten Raum Bäume dargestellt wurden,35 oder dass der Bryas-Palast bei Bostancı nach dem Vorbild des Kalifenpalastes von Bagdad errichtet wurde.36 Betrachtet man die in die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts datierten Fassadenmosaiken der Großen Moschee von Damaskus (Abb. 8),37 deren Ausführung durch byzantinische, vom Kai33 Restle 1967; Grabar 1984; Jolivet-Levy 2001, 55–65. 34 Vgl. etwa die wohl in der ersten Hälfte des 9. Jhs. entstandene illustrierte Handschrift der Sacra Parallela des Johannes von Damaskus (Paris, BnF, Ms. gr. 923), ein ikonographisches Kompendium, das sämtliche Bildvorlagen auf ein konstitutives Minimum simplifiziert und nur geringste, stereotype Formeln von Architektur zulässt. Siehe Weitzmann 1979. 35 Mango 1972, 163–164. 36 Mango 1972, 160; Restle 1990, 631. 37 Gautier van Berchem 1969, 321–327; Finster 1970/1971, 83–141.
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ser entsandte Meister als gesichert gilt,38 fällt es nicht schwer, sich eine Vorstellung von der Pracht der Konstantinopler Palastmosaiken des 8. und 9. Jahrhunderts zu machen. Auf die spezifisch umayyadischen Komponenten kann hier nicht eingegangen werden, doch die byzantinische Erinnerung an das griechisch-römische Erbe ist erstaunlich präsent, ob in den Flusslandschaften, den Stadtansichten oder den Architekturkulissen nach Art der scaenae frons, die von Pflanzen hinterfangen werden, wie uns das in Werken der folgenden Jahrhunderte wieder begegnen wird. Diese ununterbrochene Gebundenheit an antike Überlieferungen – die in Byzanz nie gänzlich versickerten – ist letztlich die Voraussetzung für eine der herausragenden Entwicklungen der gesamten mittelalterlichen Kultur, die nicht umsonst als „Makedonische Renaissance“ bezeichnet wird.39 Benannt nach der Dynastie der Makedonen, fand sie in der zweiten Hälfte des 9. und im 10. Jahrhundert statt. Hauptverantwortlich war ein elitärer Kreis hochkarätiger Gelehrter aus Klerus und Aristokratie, allen voran Patriarch Photios von Konstantinopel, Bischof Arethas von Caesarea und Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (reg. 913–959). Durch ihre Sammeltätigkeit und die philologische wie künstlerische Auseinandersetzung mit klassischer Literatur, Mythologie, Philosophie und Naturwissenschaft etablierten sie eine humanistische Wiederbelebung der Kultur, ohne die wir heute eine erheblich geringere Vorstellung von der geistigen Kapazität der Antike besäßen. Für das Byzantinische Reich markierte dies den Beginn eines Wissenschaftsbetriebs und einer Erneuerung der Ästhetik, die trotz eines gewissen Auf und Ab bis ins 15. Jahrhundert anhielt und eine der wichtigsten Grundlagen für Humanismus und Renaissance in Italien darstellte. Am Beginn unserer Auswahl steht der sogenannte Pariser Gregor, eine Handschrift der Homilien des Gregor von Nazianz, von Kaiser Basileios I. zwischen 886 und 889 in Auftrag gegeben.40 Das beeindruckendste Bild der Handschrift, die ganzseitige Miniatur der Vision Ezechiels vom Tal der Totengebeine (Abb. 9), verrät die große Nähe zur Antike schon durch seinen Rahmen. Im Inneren sehen wir eine zerklüftete Felsenlandschaft von ungeahnter Atmosphäre. Simultan werden zwei Geschehen präsentiert. Im Vordergrund wird Ezechiel von einem Engel ins Tal geführt, im Hintergrund betet er und wird von der Hand Gottes gesegnet, die aus dem gewittrig aufgeladenen Wolkenhimmel ragt. Man nimmt die Dramatik der Erleuchtung wahr, die dem Propheten widerfährt und sich im stimmungsvollen Abendrot niederschlägt. Ein Bild, das so in sich geschlossen ist, war seit der Antike nicht mehr geschaffen worden. Die darin raumbildende Landschaft 38 Siehe die Chronik von al-Ṭabarī von 923. Gibb 1958, 219–233; Grabar 1964, 82–83. 39 Weitzmann 1963. 40 Paris, BnF, Ms. gr. 510. Weitzmann 1935, 2–5.
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zelebriert eine illusionistische Konsistenz, wie sie selbst die spätantik-frühchristliche Kunst nur mehr anhand älterer Werke gekannt hatte. Das gilt auch für die Figuren, die in klassizistischer Weise das antike Menschenbild wiederbeleben. Die zweite Handschrift, auf die es einzugehen gilt, ist der unter Byzanz-Kennern nicht minder berühmte Pariser Psalter aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts,41 von dem die Erforschung der Makedonischen Renaissance ihren Ausgang nahm. Das Eingangsbild mit David und Melodia (Abb. 10) betört in seiner AtmosphäAbb. 9: Homilien des Gregor von Nazianz, re bukolischer Heiterkeit. David, ein Paris, BnF, Ms. gr. 510, Bl. 438v: Vision des schöner Jüngling, sitzt, auf seiner HarEzechiel im Tal der Totengebeine (Konstantinofe spielend, in lebensnaher Haltung in pel, zwischen 886 und 889). Nach Weitzmann. einer Landschaft, die mit ihren Ton in Ton gehaltenen Architekturen und Hügeln im Hintergrund, die den Eindruck erzeugen, in weite Ferne zu reichen, und mit den im Licht- und Schattenspiel belebten Felsen des Vordergrunds unmittelbar Erinnerungen an die pompejanische Wandmalerei weckt. David, der gute Hirte, wird von mehreren antiken Allegorien begleitet, die ihm lauschen: von der klassischen Figur der Melodia, seiner Inspiration, die ihren Arm auf seine Schulter stützt und den Takt vorgibt, der Nymphe Echo, die hinter einer Säule hervorlugt, und dem an einen Felsen im Vordergrund gelehnten Berggott Bethlehem, dessen halbnackte athletische Gestalt in anmutig räkelnder Haltung dem hellenistischen Schönheitsideal frönt. Das bukolische Idyll wird von einer raffiniert abgestimmten Landschaft getragen, die in klassizistischer Finesse dazu beiträgt, Harmonie zu erzeugen. Das Bild lässt im Sinne eines kenntnisreichen und sensibel angewandten Pasticcios verschiedene Vorlagen verschmelzen, von den grundlegenden Vorgaben aus der Bibelillustration bis zu den aus heterogenen Ressourcen abgeleiteten Personifikationen und Landschaftsmotiven. Wie schon im Ezechielbild aus der Pariser Gregor-Handschrift handelt es sich dabei nicht um puren, geschweige denn um beliebigen Eklektizismus, sondern um eine künstlerisch eigenwillige, sowohl den Inhalt wie auch das formale Poten41 Weitzmann 1935, 8–11.
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Thomas Steppan Abb. 10: Psalter, Paris, BnF, Ms. gr. 139, Bl. 1v: David und Melodia (Konstantinopel, zweites Viertel des 10. Jhs.). Nach Weitzmann.
tial der bereits verinnerlichten Ressourcen differenziert ausschöpfende Leistung einer klassizistischen Erneuerung.42 Zu guter Letzt sei auf die Autorenbilder im Evangeliar von Stauroniketa aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts hingewiesen (Abb. 11),43 mit ihren meditierenden antiken Philosophenfiguren vor Architekturgebilden nach Art der scaenae frons, der klassischen Theaterkulissen, oder vor antiken Tempelarchitekturen, eingebettet in eine malerische Landschaft mit Zypressen und Bäumen vor pastellfarbenem Himmel. Ihr Illusionismus wirkt so unverfälscht, als hätte man für das gesamte Bild eine einzige spätantike Vorlage kopiert. Auf die Frage, inwieweit eine solche ausschlaggebend war, kann hier nicht eingegangen werden. Der Umgang mit den klassischen Formen zeigt jedenfalls eine hervorragende Kennerschaft der antiken Malerei, deren – weniger kopierte als verinnerlichte – Werke nicht nur in der Buchillustration zu suchen sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wenn wir noch heute im Regelfall lesen, dass man von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters für das Landschaftsbild weder Interesse noch Sinn hatte, dann stimmt das so nicht. Die byzantinische Kunst – speziell jene der Makedonischen Renaissance und ihrer Folgeerscheinungen44 – 42 Konstantin VII. wird dafür gefeiert, die Künste und Wissenschaften zu einer Neuerung (καινισμόϛ) geführt zu haben (Traktat der Geoponica, Florenz, Laurenziana, Cod. Plut. LIX, 32; siehe Weitzmann 1963, 23). 43 Athos, Kloster Stauroniketa, Cod. 43. Weitzmann 1963, 29–31. 44 Steppan 2008.
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Abb. 11: Evangeliar, Kloster Stauroniketa am Berg Athos, Cod. 43, Bl. 11r: Evangelist Markus (Konstantinopel, Mitte 10. Jh.). Nach Weitzmann.
beweist, dass ihre Ästhetik sich in vielerlei Hinsicht nach den Normen klassischer Ideale bemisst. Sie in jene – grundsätzlich problematische – Vorstellung vom finsteren Mittelalter einzupferchen, bedeutet, sie nicht zu kennen, was leider weit verbreitet ist. Selbst Nils Büttner meint noch in seiner erst 2006 erschienenen, bisher umfassendsten und ansonsten ausgezeichneten Abhandlung zur Entwicklung der Landschaftsmalerei, dass es aus der Zeit zwischen der Spätantike und dem Ausgang des Mittelalters „keine illusionistischen Schilderungen von Natur und Landschaft gab“. Seiner Ansicht nach hat man zwar „auch damals die den Menschen umgebende Natur gesehen und wahrgenommen, man hat sie eben nur nicht nach den heute so selbstverständlich erscheinenden Modi beschrieben und dargestellt“.45 In Byzanz habe man keinen zu hohen Grad an Abbildlichkeit anstreben dürfen, ein übertriebener Illusionismus habe allgemein als unerwünscht gegolten.46 All dies steht in einem groben Missverhältnis zu unseren Beobachtungen.
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45 Büttner 2006, 33. 46 Büttner 2006, 36.
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Erfindung der Landschaft? Zur mittelalterlichen Vorgeschichte der frühneuzeitlichen Weltlandschaft Als sich Albrecht Dürer im Sommer 1520, in seinem fünfzigsten Lebensjahr, aufmachte, für ein Jahr durch die Niederlande zu reisen, war er schon ein berühmter Mann. Ehrenvoll wurde er in den Kreisen der Künstler empfangen und herumgereicht. Und auch umgekehrt zollte der Neue Apelles seinen flämischen Kollegen Achtung. Ein Künstler, der ihn besonders interessiert zu haben scheint, war Joachim Patinir, dessen Gesellschaft Dürer in Antwerpen wiederholt suchte und mit dem er so familiär wurde, dass dieser ihn sogar zu seiner Hochzeit lud. In seinem Tagebuch notiert Dürer zum 5. Mai 1521: „Jtem am sondag vor der kreuzwochen hat mich maister Joachim der gut landschaft mahler auf sein Hochzeit geladen und mir alle ehr erboten“.1 Es ist hinlänglich bekannt, dass dieser Tagebucheintrag als ein Schlüsselzitat nicht nur für die Geschichte der westlichen Landschaftsmalerei, sondern für den neuzeitlichen Begriff „Landschaft“ überhaupt gilt. Das erste Mal in der Geschichte wird von einem „Landschaftsmaler“ gesprochen – und fast das erste Mal von „Landschaft“, wie wir den Begriff heute verstehen.2 Ich will mich hier aber nicht auf etymologisch-semantische Erkundungen einlassen, sondern das Zitat des Reisetagebuchs von einer anderen Seite her befragen. Was bedeutet es, wenn Dürer seinen niederländischen Kollegen als „guten Landschaftsmaler“ apostrophiert, was machte Patinir zu einem solchen? Die Frage klingt trivial, ist aber gar nicht so leicht zu beantworten, zumal uns die Theoriebildung der Zeit ziemlich im Stich lässt. Im Diskurs des 15. und 16. Jahrhunderts spielte die Kategorie Landschaft nämlich noch eine sehr untergeordnete Rolle, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass in den Niederlanden, die als Zentrum europäischer Landschaftsmalerei angesehen wurden, eine Kunstliteratur erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einsetzt. Wobei das Erstlingswerk, Dominicus Lampsonius’ kleine Sammlung von Lobgedichten auf niederländische Künstler (1572), noch wenig ergiebig ist und sich eigentlich erst im 17. Jahrhundert mit Karel van Manders Schilder-Boeck (1604) eine differenziertere 1 2
Unverfehrt 2007, 170–173. Busch 1997, 74; Büttner 2006, 19–21.
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Auseinandersetzung mit Landschaftsmalerei zu entfalten beginnt.3 In Italien fand eine solche zwar schon früher statt, doch wurde Landschaft dort lediglich als parergon, als Beiwerk, geführt, das nur die äußeren Sinne, wenngleich auf angenehme Weise, anspreche. Eine Relativierung, die bei Francisco de Holanda (1538) oder auch bei Giorgio Vasari (1550/1568) mit dem nationalistischen Argument verknüpft war, dass die Spezialisten dieser Gattung, die oltramontani, per se auf einer niedrigeren Stufe als die Italiener stünden.4 Wir stehen also vor der Tatsache, dass für die Zeit, als erstmals von Landschaftsmalerei gesprochen wird, keinerlei theoretische Folie existiert, vor der sich dieses Phänomen interpretieren ließe. Eine Lücke, die der kunsthistorischen Forschung breiten Spielraum eröffnete – mit dem Ergebnis, dass die Ansätze, die Anfänge dieser Gattung zu erklären, ebenso heterogen wie in ihrer Fülle kaum überblickbar sind. Selbst in der Frage, wodurch sich Landschaftsmalerei überhaupt als Gattung definiere, besteht kein Konsens. Ist man berechtigt, von einem Landschaftsbild zu sprechen, wenn die Landschaft rein quantitativ dessen Hauptgegenstand ausmacht, oder erst, wenn sie alleiniges Bildmotiv ist? Steht die Gattung nur dann für sich, wenn sie keinen anderen (religiösen) Funktionen dient oder wenn sie zum Handelsobjekt eines freien Kunstmarkts geworden ist?5 Die Vorstellung von einer autonomen Landschaft, die all diese Kriterien erfülle, hat lange Zeit die Diskussion dominiert und ist noch immer ein gern gepflegter Topos, obwohl dessen Wurzeln erst in der autonomen Ästhetik der Aufklärung ankern.6 Der alte Goethe hat in seinem letzten kunsthistorischen Aufsatz Landschaftliche Malerei ein Entwicklungsmodell beschrieben, nach dem die Geschichte der Landschaftsmalerei auf diese Selbsterfüllung in der Autonomie zustrebe: Hätten in den Bildern des Mittelalters noch die Figuren dominiert, so seien diese zunächst in ihrer Dimension, dann in ihrer inhaltlichen Bedeutung geschrumpft, bis schließlich die Landschaft als „freie Kunstäußerung“ dahinter hervortrat.7 Zumindest der Grundgedanke dieses prozessualen Modells hat sich bis heute gehalten. In der vielleicht ersten wirkmächtigen kunsthistorischen Gesamtdarstellung der Landschaftsmalerei, Kenneth Clarks Landscape into Art, ist er noch klar auszumachen: als Abfolge von der symbolischen Landschaft des Mittelalters über die neuzeitliche Entdeckung 3 4
5 6 7
Michalsky 2011, 165–175. Busch 1997, 82–93; Hope Goodchild 1998; Michalsky 2011, 163–165. Mit Recht weist Michalsky Gombrichs (1985) These, erst die Nobilitierung des parergon durch die italienische Theorie habe der Gattung den Weg bereitet, als „methodisch problematisch“ zurück. Vgl. auch Eberle 1980, 74–81. Michalsky 2011, 36–38. Busch 1987; Büttner 2010, 147. Trunz 1980; Büttner 2006, 19.
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der Wirklichkeit und deren Überwindung in der Phantasie bis hin zu einer neuen Ordnung in der Landschaftskunst der Moderne.8 Und selbst noch in jüngsten Überblicksdarstellungen klingt etwas von dieser Logik an; etwa wenn Nils Büttner in seiner ansonsten sehr differenzierten Geschichte der Landschaftsmalerei das Kapitel zum 16. Jahrhundert mit „Die Erfindung der Landschaft“ übertitelt und damit klar vom vorangehenden Spätmittelalter abgrenzt.9 Versuchen wir dieses zum Allgemeingut avancierte Postulat eines fundamentalen Paradigmenwechsels zwischen der Landschaft in der mittelalterlichen und ihrer Rolle in der neuzeitlichen Kunst Abb. 1: Geertgen tot Sint Jans, Johannes der exemplarisch an den Objekten selbst zu Täufer in der Wüste, Berlin, Gemäldegaleüberprüfen, so bieten sich die Gemälde rie, um 1484. Foto: bpk Bildagentur, Jörg P. des Joachim Patinir natürlich in besondeAnders. rer Weise dafür an. Nicht nur, dass er der erste Künstler ist, der als Landschaftsmaler bezeichnet wurde, er wird gemeinhin auch als einer der Väter der autonomen Landschaft der Neuzeit apostrophiert. Was aber unterscheidet Patinirs Landschaftsbilder so prinzipiell von den Landschaftsdarstellungen niederländischer Künstler der vorangegangenen Generationen wie Jan van Eyck, Dierick Bouts oder Geertgen tot Sint Jans? Stellen wir Geertgens Johannes der Täufer in der Wüste in Berlin (Abb. 1) Patinirs Landschaft mit der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten im Madrider Prado (Abb. 2, 3) gegenüber, so lassen bereits die Bildtitel erahnen, dass die kunsthistorische Literatur einen kategorialen Unterschied ortet. Im einen Fall bestimmt die Person des Heiligen die Bezeichnung, im anderen die Landschaft. Der phänomenologische Befund scheint diese Ungleichgewichtung zu stützen: Denn bei Geertgen dominiert die Figur, während diese bei Patinir in ihrer Dimension reduziert und im landschaftlichen Umraum aufgehoben ist. Natürlich ist diese Umverteilung nicht nur ein quantitatives Faktum. Die Ausweitung des Landschaftsraumes bot auch neue Möglichkeiten, den Inhalt der 8 9
Clark 1949. Büttner 2006. Im Vorwort wird diese Kategorisierung jedoch relativiert.
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Abb. 2: Joachim Patinir, Landschaft mit der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Madrid, Prado, 1518/20. Foto: Institut für Kunstgeschichte, Universität Innsbruck, Bildarchiv.
Erzählung zu orchestrieren, Nebenschauplätze für korrespondierende Szenen zu öffnen und die rezeptionsästhetische Wirkung der Landschaft als solche entscheidend zu steigern. Dass es auf diese Faktoren ankam, wird deutlich, wenn man Karel van Manders Schilder-Boeck zur Hand nimmt. Zwar entstand diese Schrift erst im 17. Jahrhundert, doch hatte van Mander wohl nicht zuletzt auch Gemälde Patinirs vor Augen, als er die Aufgaben der Landschaftsmalerei definierte: Landschaft ist für ihn gleichermaßen als Ordnungsprinzip wie als Darstellungsgegenstand bedeutsam. Sie gebe dem Bild eine Struktur, die es erlaube, eine Geschichte und ihre Episoden in kalkulierter Regie- und Blickführung durch den Bildraum zu lenken.10 In der Vielgestaltigkeit ihrer Formen und Farben bediene sie aber auch die Lust am Sehen und Betrachten, wobei nicht allein die landschaftliche Schönheit den Blick auf sich ziehe, sondern das Phänomen der Verdichtung unterschiedlichster Bildgegenstände per se. Van Mander illustriert dies durch eine Anekdote: Joachim Patinir habe in seinen Bildern ein winziges Motiv zu verstecken gepflegt, nach dem sich die Kunstliebhaber auf die Suche machen sollten, das kuriose Figürchen eines „kakker“, eines die Notdurft verrichtenden Mannes.11 10 Michalsky 2011, 167–175. 11 Falkenburg 2007, 61.
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Abb. 3: Details aus Abb. 2.
Angesichts solch reizvoller Effekte musste es stets naheliegen, den eigentlichen Zweck dieser Bilder in der Befriedigung der Augenlust zu sehen. Und in der Tat laden die originellen Einzelmotive ebenso wie die Fülle an Erscheinungen, die diese Panoramen ausbreiten, zu optischen Entdeckungsreisen ein, in der Neugierde ebenso auf ihre Kosten kommt wie Genuss und Bewunderung der technischen Virtuosität. Walter Gibson hat diese in der Forschung als Leitmotiv herausgestellte sinnliche Dimension und Funktion der frühen flämischen Landschafsmalerei bündig zusammengefasst.12 Man wird diese ästhetische Motivation schwer leugnen können. Indes ist damit nur eine Facette dieser Bilder benannt. Völlig zu Recht erinnerte Reindert L. Falkenburg in seinem folgenreichen Buch Joachim Patinir. Landscape as an Image of the Pilgrimage of Life daran, dass Patinirs Gemälde (auch) die Funktion von Andachtsbildern hatten und ihre sakralen Bildthemen ikonografischen Traditionen folgten, denen klare Bedeutungen und didaktische Funktionen zugrunde lagen.13 Für Falkenburg ist es die Pilgerschaft des Menschen durch die Welt, die den inhaltlichen Grundgedanken dieser Landschaften abgibt. Mit Bezug auf das Gegenbild von civitas terrena und civitas Dei, das Augustinus im Gottesstaat entwickelt hatte, deutet er die Landschaft als Bühne der Sünde, auf der der Mensch seinen schwierigen rechten Weg zum Heil finden müsse – eine These, die auf geteilte Reaktionen stieß. Gleichwohl war es Falkenberg gelungen, glaubhaft zu machen, dass die einzelnen Elemente dieser Bilder, die Landschaftsformationen, Pflanzen und 12 Gibson 1989; Gibson 2009. 13 Falkenburg 1988.
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Felsen, die Tiere, Gebäude und Attribute der Figuren, voller symbolischer Gehalte stecken, die an ikonografische Traditionen anknüpfen, die zwangsläufig entsprechende Aussagen evozieren mussten.14 Im Fall der Landschaft mit der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten ist besagter Themenkreis schon durch den Baum vorgegeben, unter dem Maria zur Rast Platz genommen hat; ein Apfelbaum, Symbol der Erbsünde, der von einem Weinstock, Symbol der Erlösung durch Christus ( Joh 15,5), umrankt wird. Auch die übrigen Pflanzen und Blumen haben symbolische Bedeutung, spielen u. a. auf die kommende Passion Christi und die Schmerzen Mariens an. Links im Hintergrund steht eine schwer zu erklimmende Felsenburg („mein Fels, meine Burg, mein Erretter“, 2 Sam 22,2, Ps 18,3, 31,3, 31,4 etc.) anagogisch für die civitas Dei. Die leicht zu erreichende Stadt Heliopolis zu ihren Füßen lässt sich als Götzenstadt der civitas terrena deuten. In einer als Zerrbild des Tempels von Jerusalem gegebenen Architektur sehen wir Menschen, die einem Rattengott – dem Teufel selbst – opfern. Dass der eitle Schein der Welt durch die Sünde verpestet ist, machen auch Motive auf der rechten Bildseite deutlich. Zwischen Bäumen halb versteckt, finden wir z. B. ein Bordell (für den Betrachter der Zeit an dem Taubenhaus am Dach als solches kenntlich), davor eine Sau, die ihre Ferkel säugt, und – winzig klein – den „kakker“, der hockend seine Notdurft verrichtet (Abb. 3).15 Hier tritt uns also der ursprüngliche Bedeutungszusammenhang dieses befremdlichen Motivs entgegen, das nach Karel van Mander hundert Jahre später die Entdeckerlust der Connaisseurs bediente. Eingewoben in den konzisen Kontext von Sünde und Erlösung, zielte es auf eine drastische Vergegenwärtigung der Verderbtheit dieser Welt ab. Angesichts dieses disguised symbolism – der für den zeitgenössischen Betrachter vielleicht eher ein obvious symbolism war – gerät die These von der innovativen Potenz dieser Landschaft etwas ins Wanken. Stellt man ihr erneut Geertgens Johannes der Täufer in der Wüste gegenüber, so wird man eine kategoriale Differenz schwerlich bestätigt finden. Auch Geertgens Täfelchen ist ein Andachtsbild. Und auch hier hat die Landschaft symbolische Funktion: Die in eine reiche Vegetation umgedeutete Wüste sollte die Weltflucht des Täufers positiv besetzen, die mit Symbolik aufgeladenen Pflanzen und Tiere den Grund seiner Schwermut erklären, die Vorausahnung der Passion Christi.16 Die ikonografische Matrix ist folglich mit Patinirs Landschaftsbild durchaus vergleichbar.17 Ja man wird sogar konstatieren müssen, dass der theologische Symbolzusammenhang bei Patinir nicht verflachte, sondern sich im 14 Vgl. u. a. Ball-Krückmann 1997; Silver 2006, v.a. 26–52; Vanderpoel 2013. 15 Silver 2006, 31–33; Vergara 2007, 182–193 (Katalogeintrag von P. Silva Maroto); Bakker 2012, 99–102. 16 Büttner 2006, 50–60. 17 Zum konservativen Charakter von Patinirs Landschaften: Raczynski 1937, 14; Bakker 2012, 100.
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Abb. 4: Herri met de Bles, Paradieseslandschaft mit Erschaffung Evas, Sündenfall und Austreibung aus dem Paradies, Amsterdam, Rijksmuseum, um 1541/50. Foto: Institut für Kunstgeschichte, Universität Innsbruck, Bildarchiv.
Vergleich zu seinem Vorläufer sogar noch erheblich verdichtete und geradezu verabsolutierte. Denn in seinem Bild steht die Landschaft für die Welt als solche ein. An diesem Punkt muss ein Begriff fallen, der mit Joachim Patinir untrennbar verbunden ist, jener der Weltlandschaft. Seit gut hundert Jahren wird dieser Terminus für einen Bildtypus gebraucht, der gestalterisch verdeutlicht, dass die dargestellte Landschaft synonym für das große Ganze der Welt verstanden werden will, und der in den Werken Patinirs erstmals voll ausgeprägt zutage trete: weite, meist von erhöhtem Standpunkt aus gesehene Panoramen, die mannigfaltige Naturerscheinungen zur übergeordneten Einheit verbinden. So problematisch dieser Begriff dann wird, wenn er inflationär auf jede Form weiträumiger Landschaft übertragen wird, so sinnvoll ist er in der Bezeichnung eines aussagekräftigen Spezifikums.18 In besonderer Eindeutigkeit ist diese Aufrundung der Landschaft zum Weltganzen dann gegeben, wenn die Bilder – wie im Schulkreis Joachim Patinirs beliebt – als solche runde Gestalt annehmen. Die konsequenteste Finalisierung dieser Form verdanken wir Patinirs Neffen und Nachfolger Herri met de Bles. Sein Rundbild zeigt die Landschaft von den Sphären der Planeten und der Sterne umfangen und damit zum Universum schlechthin erweitert. Hier ist die Welt als solche nicht nur gemeint, sondern auch tatsächlich in ihrer Gesamtheit dargestellt (Abb. 4).19 18 Zur Definition von Weltlandschaft: Zinke 1977, 21–30; Falkenburg 1988, 66–72; Gibson 1989, IX–XXIII. 19 Filedt Kok 2008; Michalsky 2011, 219–221; Bakker 2012, 106–108; Weemanns 2012.
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„In den Weltlandschaften […] ist die Welt der Natur als eine enzyklopädische Vielheit gezeigt, die sich aus tausend gleichmäßig genau gesehenen Einzelheiten zusammensetzt, aber einer göttlichen Ordnung unterstellt wird und in dieser Weise von außen her eine Einheit gewinnt.“20 So formulierte Jan Białostocki einen gemeinsamen Nenner der symbolischen Implikationen der Weltlandschaft, deren Deutung in der Literatur breite Auffächerung erfuhr. Die These, dass die Welt ob ihrer Schönheit und Vollkommenheit zum Gegenstand gemacht worden sei, mithin die Weltlandschaft als Lob der Schöpfung zu verstehen wäre, gab dabei eine Konstante in der Argumentation ab.21 Ebenso wurde unterstellt, dass sich die Zuwendung an die Welt, die sich in diesen Landschaften manifestiere, nicht zuletzt dem neuen naturwissenschaftlichen Interesse an der Beschreibung und Vermessung der Erde und des Kosmos verdanke. Man müsse sie als Parallelphänomene der frühneuzeitlichen Geografie, der Kartografie und der Kosmografie verstehen und deuten.22 In der Tat scheint die Weltlandschaft des Herri met de Bles solche Befunde zu bestätigen. Denn einerseits steht diese Paradieseslandschaft pars pro toto für die gesamte Welt. Andererseits ist die Ordnung des Alls auch in der physikalischen Faktizität zum Gegenstand gemacht: Die Erdlandschaft wird von den Sphären der sieben Planeten, dem Fixsternhimmel und zu äußerst vom Kristallhimmel schalenförmig umfangen und damit die in der damaligen Zeit gültige naturwissenschaftliche Vorstellung vom Aufbau des Universums auf den Punkt gebracht – so erweckt es zumindest den Anschein. In der Verabsolutierung zum Makrokosmos markiert das Bild des Herri met de Bles so etwas wie den Idealtypus der Weltlandschaft. Angesichts dieser Tatsache ist es umso erstaunlicher, dass man der historischen Genese dieses Bildtypus dennoch kaum Beachtung geschenkt hat. Zwar war man sich stets bewusst, dass Herri met de Bles diesen nicht erfunden hat – griff er doch auf ein konkretes Vorbild, den Schöpfungsholzschnitt der Lutherbibel von 1534, zurück. Auch wurde das Motiv der Landschaft in der Himmelskugel bis zu Hieronymus Boschs monumentaler Darstellung der werdenden Welt an der Außenseite des Triptychons Garten der Lüste zurückverfolgt. Viel weiter ging man in der Herleitung jedoch nicht – offenbar galt Boschs fantastische Sphärenlandschaft allzu sehr als originäre Erfindung. „Mit dieser außergewöhnlichen Darstellung des Universums führte Hieronymus Bosch […] die erste reine Landschaft in die Kunstgeschichte ein“, urteilte Charles de Tolnay und räumte dem Typus der kugelförmigen Landschaft 20 Białostocki 1973, 6. 21 Bartilla 2000, 53–56. 22 Wolf 1984, 114; Gibson 1989, 48–59. Dazu grundsätzlich Büttner 2000; Michalsky 2011.
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damit zwar epochale entwicklungsgeschichtliche Bedeutung ein, entschlug sich aber dessen historischer Analyse. 23 Ein Versäumnis, das umso gravierender ist, als sich die weit zurückreichende Genese dieser spezifischen Landschaftsdarstellung mit guten Gründen als unmittelbare Vorgeschichte der Weltlandschaft deuten lässt – wie im Folgenden zu zeigen versucht wird. Ich habe mich mit dem Ursprung dieses symbolischen Weltbildes, das ich pragmatisch als Landschaftskugel bezeichne, bereits andernorts eingehender beschäftigt, sodass an dieser Stelle nur Hauptlinien nachgezeichnet werden müssen:24 Es handelt sich bei der in eine Himmelskugel gesetzten Landschaft um eine der verbreitetsten bildhaften Repräsentationen der Welt in der Geschichte der christlichen Kunst. Sie lässt sich seit karolingischer Zeit, das ganze Mittelalter hindurch, bis weit in die Neuzeit hinein verfolgen und ist grundsätzlich in allen Zusammenhängen vertreten, in denen die Welt zum Thema wird. Besonders häufig findet die Landschaftskugel naturgemäß in Zusammenhängen der Schöpfungsikonografie Anwendung. In diesem Kontext tritt sie auch als konzentrisches Vollbild des Kosmos mit dessen sämtlichen Sphärenringen auf. In der Regel aber reduziert sich die Kugelhülle auf die äußerste materielle Schale des Alls, das coelum cristallinum, wie es durch den Genesisbericht (Gen 1,6–7; vgl. Ps 148,4) motiviert war und als transparente Sphaira vorgestellt wurde.25 In dieser Reduktion gibt die Landschaftskugel eine bildhafte Summe von Himmel und Erde ab. Als solche begegnen wir ihr besonders häufig als Attribut Christi, als Reichsapfel in seiner Hand oder als Weltkugel unter seinen Füßen. Ab dem 14. Jahrhundert wird das landschaftliche Innenleben der Sphaira dem allgemeinen Trend folgend zunehmend realistischer als Landschaft ausgestaltet. Der überdimensionale Reichsapfel der Trinität im Stundenbuch der Jeanne de Navarre (Abb. 5) gibt ein frühes Beispiel dafür und weist bereits eine Charakteristik auf, die bald zur Konvention werden wird: Die Landschaft ist als Küstengegend formuliert, ein Segelschiff kreuzt auf dem Wasser, eine feste Burg bewehrt das Land. Im 15. und 16. Jahrhundert werden vergleichbare Settings v. a. im Kontext der Ikonografie des Salvator Mundi immer differenzierter ausgestaltet. Nicht nur in der niederländischen Kunst reifen die Kugelattribute Christi zu reichen Naturschilderungen. Die Tafel eines Salvator Mundi des aragonesischen Meisters von Retascón führt vor Augen, wie weit diese Entwicklung schon am Beginn des 15. Jahrhunderts selbst abseits der künstlerischen Zentren Europas gedeihen 23 Tolnay 1973, 33–34; Wolf 1984, 114. 24 Madersbacher 2001. 25 Grant 1996, 103–106, 320–335.
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Abb. 5: Trinität, Stundenbuch der Jeanne de Navarre, Paris, Bibliothèque Nationale, Nov. Acq. Lat. 3145, fol. 11r, um 1336/40, Detail (Landschaftskugel mit den Erlösungssym bolen Hase, Burg und Schiff mit kreuzförmigem Mastbaum). Foto: Paris, Bibliothèque Nationale.
Abb. 6: Meister von Retascón, Salvator Mundi, um 1420, Detail. Foto: Bilbao, Museo De Bellas Artes.
konnte (Abb. 6). Die Füße des Welterlösers ruhen auf einer Weltlandschaft en miniature. Bevor wir hinterfragen, inwieweit dieser formale Zusammenhang zur Weltlandschaft auch als ein inhaltlicher zu deuten ist, gilt es das Strukturprinzip der Landschaftskugel zu klären: Materiell besteht diese grundsätzlich aus zwei Komponenten: der Erdlandschaft und der durchsichtigen Himmelskugel, die diese umschließt. Analysiert man das Verhältnis der beiden Entitäten, so wird man konstatieren müssen, dass dieses von einem erheblichen inneren Widerspruch geprägt ist. Denn die Außenansicht vertritt den sphärischen Kosmos, d. h. das der Antike entsprungene Vorstellungsbild vom schalenförmig aufgebauten Kugelall, wie es bis ins 17. Jahrhundert gedacht wurde. Wie aber erklärt sich die Landschaft in dieser Himmelskugel? Aus kosmografischer Perspektive stellt sie einen klaren Systembruch mit der sphärischen Raumlogik dar. Denn man darf nicht auf die wiederholt geäußerte Idee verfallen, es wäre die Erdscheibe, die hier im All schwimmt.26 Ist doch der Topos, das Mittelalter habe sich die Erde als Scheibe gedacht, ein zwar hartnäckiges, aber gleichwohl gänzlich haltloses Vorurteil, das
26 Schramm 1958, 104–105, 176–180; Wolf 1984, 11; Wied 2003, 40.
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längst als Konstruktion der Neuzeit enttarnt ist.27 Tatsächlich lässt sich für die Grundprinzipien des sphärischen Systems – die Kugelgestalt des Kosmos und der Erde – eine ungebrochen Kontinuität durch das gesamte Mittelalter hindurch konstatieren. Zwar ist eine naturwissenschaftlich korrekte Erfassung des Alls der christlichen Ikonografie durchaus nicht grundsätzlich fremd. Gerade als Attribut Christi finden wir zuweilen auch planetarische Weltkugeln, die nahezu wie astronomische Armillarsphären gebaut sind. Dabei handelt es sich aber um Ausnahmefälle. Häufiger wird das Innenleben des Universums nicht systemkonform dargestellt.28 In der Frage nach dem Motiv solch fundamentaler Verletzung des kosmischen Bauplans, bietet sich eine einfache rezeptionsästhetische Erklärung an. Die Landschaft in der Kugel erfüllt die Funktion einer Identifikationsebene. Indem sie der Außenperspektive auf die Welt eine erdgebundene Innenperspektive einfügt, weist sie dem Betrachter seinen Ort zu. Der Landschaftsboden macht das anonyme All zur Wohnung des Menschen – zur „anthropo-kosmologischen“ Keimzelle „Haus“ (Gaston Bachelard).29 Eben diese Anthropologisierung des Alls ist der entscheidende und hoch aussagekräftige Punkt dieser symbolischen Form, zumal sich darin offenbar ein spezifisch christliches Phänomen ausdrückt. Denn der antiken Darstellungstradition war eine solche gegen die objektive Ordnung des Alls etablierte subjektive Innenperspektive grundsätzlich fremd. Die Antike zeigt die Himmelskugel stets nur von außen.30 Es liegt nahe, in dieser prinzipiellen Differenz eben jenen Wesensunterschied ausgedrückt zu sehen, der in der Philosophie auf das Gegenbild von antiker Kosmozentrik und christlicher Anthropozentrik gebracht wird: War der Kosmos der Griechen ein ewiges Ordnungssystem, das nicht auf den Menschen hin geschaffen wurde und dem der Mensch letztlich in Distanz gegenüberstand, so ist die christliche Welt Schöpfung Gottes auf den Menschen hin. In ihrem Anfang und Ende ist sie an den Heilsweg des Menschen gebunden. Es war v. a. Karl Löwith, der die ungeahnten Dimensionen der Wirkungsgeschichte dieser christlichen Unterordnung des Kosmos gegenüber dem Menschen und seinem Heilsgeschick bewusst gemacht hat. Die christliche Anthropologisierung bedeutet für ihn eine fundamentale „Denaturierung“ der Welt, einen radikalen Wertverlust der Natur zugunsten des Menschen, der die gesamte westliche Geistesgeschichte entscheidend prägen sollte.31 27 28 29 30 31
Wolf 2004. Madersbacher 2001, 87–88. Bachelard 1994, 60–64. Madersbacher 2001. Löwith 1981.
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Jenseits solch weitreichender Schlüsse offeriert Löwiths These auch für die Landschaftskugel ein Erklärungsmodell. Denn in ihrem Prinzip der Brechung der natürlichen Ordnung des Kosmos zugunsten subjektiver Perspektivität wird die Kausalität von Anthropologisierung und Denaturierung tatsächlich anschaulich. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs findet nicht nur die Symbolform als solche eine Deutung, sondern klärt sich auch der konkrete ikonografische Bezugsrahmen dieses christlichen Weltbildes. Wir verstehen, warum die Landschaft in der Kugel nicht die Funktion gehabt haben kann, die Erde als geo- oder kosmografische Kategorie wiederzugeben, zu beschreiben oder auch nur zu symbolisieren. Wäre es doch gänzlich abwegig, die Natur der Erde in einer Form zum Gegenstand zu machen, die eben diese Natur negiert. Die Landschaft in der Kugel fokussiert nicht auf die Erde, sondern auf den Wohnort der Menschen als Schauplatz der Heilswirkung – wie dies auch andere vergleichbare christliche Bildrepräsentationen der Erde, etwa die symbolischen dreikontinentalen T-O-Landkarten des Mittelalters,32 tun. Dieser intrinsische theologische Faktor der Landschaftskugel wurde dann explizit ausgedrückt, wenn sie motivische Ausgestaltung erfuhr. Seit den frühmittelalterlichen Anfängen wird deren Ikonografie durch eine dialektische Motivik geprägt, dergestalt, dass Himmel und Erde, die in diesem Bild verbunden sind, nicht nur als Summe, sondern gleichzeitig als symbolischer Dualismus von Sünde und Erlösung inszeniert sind. Bereits die karolingische Frühform macht diese soteriologische Bedingung deutlich. Im Thronbild des Pariser Psalters Karls des Kahlen trägt der Kaiser eine große transparente Sphaira, deren Inneres durch einen stilisierten Hügel mit einem Kreuz darauf gefüllt ist: Golgotha, der Ort des Grabes Adams und der Kreuzigung Christi. In den realistischen Schilderungen der Kugellandschaft im Spätmittelalter wird diese Grundaussage durch ein festes Repertoire von Motiven mit klar definierten Bedeutungen illustriert. Symbolen der Sünde wie dem Feuer, dem Element der Hölle, dessen Rauch den Weltraum verdunkelt, sind Sinnbilder der Errettung durch Christus gegenübergestellt, wie die Burg oder das Schiff, Ursymbol der Kirche. Diese dialektische Inszenierung schlägt sich auch auf der Oberfläche der kristallinen Kugel nieder. Auf der Sphäre des Himmels zeichnen sich unterschiedliche Motive jenseitiger Verheißung als Lichtspiegelungen ab: ein kreuzförmiges Fenster, das den Weg aus dem Weltkerker weist, oder eine Stadtsilhouette, die die Himmelsstadt des Neuen Jerusalem präfiguriert (Abb. 7).33
32 Die T-O-Karten haben gleichermaßen nicht die Funktion, die Erde zu beschreiben, sondern fokussieren auf die drei bewohnten Kontinente. Der Rest des Globus bleibt ausgeblendet, weil er für die Heilswirkung am Menschen unerheblich ist. Vgl. Brincken 1992. 33 Madersbacher 2001.
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Abb. 7: Joos van Cleve, Salvator Mundi, um 1520, Detail. Foto: Paris, Musée du Louvre.
In der Zeit um 1500 werden diese Szenarien von Sünde und Erlösung zunehmend erzählerischer aufbereitet. In der Landschaftskugel des Salvators am Retabel der Lübecker Antonius-Bruderschaft treffen wir nicht nur konventionelle Symbole wie Feuer und Burg in der Küstenlandschaft an, es marschiert auch ein Heer von Soldaten auf, um die sündige Welt als den Ort des Krieges zu charakterisieren.34 Noch expliziter sind die Landschaftskugeln von der Hand des Hieronymus Bosch und aus seinem Kreis arrangiert. In einer Tafel der Bosch-Schule bevölkern die Sieben Todsünden, jeweils als kleine Episoden geschildert, die Landschaft einer Weltkugel, die unten auf den Gestaden der Hölle ruht, während ihr Scheitel vom gekreuzigten Welterlöser bekrönt wird.35 Derartige Ikonografien sind auch für die weitere Genese der Landschaftskugel in der Neuzeit bestimmend, in der sich der soteriologische Kontext zur Vanitassymbolik verschiebt. In seiner Dimension aufgeblasen, wird der Kugelraum zum Durchgangsort des Menschen auf seiner Pilgerschaft durch das Leben. Eine frühe niederländische Vanitas-Tafel der Zeit um 1525 zeigt uns einen solchen homo viator, der – wie die Inschrift besagt – gerne aufrecht durch die Welt gegangen wäre, aber sich ebenso „krümmen“ musste wie der Pilgerstab, der ihn stützte. Die dialektische Funktion der Landschaft ist nach wie vor evident, wenn sie auch in eine neue Metapher gebracht ist: Die Welt hält jetzt zwei
34 Heise/Vogeler 1993, Kat.-Nr. 22. 35 Koldeweij/Vandenbroeck/Vermet 2001, 184. Figurenreicher hat Bosch die Todsünden im Heuwagen illustriert, der in seiner Rezeption als Tapisserie (El Escorial, um 1550) ebenfalls in die Form einer Landschaftskugel gebracht wurde. Ebd. 136.
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Abb. 8: „Der Durchgang durch die Welt“, Schloss Anholt, Sammlung Salm-Salm, um 1525. Foto aus Wied 2003.
Wege bereit, den geraden und den Abweg, der den Sünder direkt auf den Galgen führt (Abb. 8).36 Der Form nach bleibt die Landschaft in der Kugel auch in den folgenden Jahrhunderten erstaunlich konstant. Weiterhin wird sie zumeist als Küstengegend charakterisiert. Die Kugelhülle dagegen beginnt – vor dem Hintergrund der Revolutionen neuzeitlicher Kosmologie – an Realitätswert einzubüßen. Die kristalline Grenze des Alls wird zur Sphäre des Scheins, einem flüchtigen Trugbild der Welt, das den Eintretenden über die Grube hinwegtäuscht, die am Ende wartet. Auch wird das alte Repertoire christlicher Motivik ins Profane gewandelt. So bleibt zwar das Schiff, das vor der Küste kreuzt, ein Standardrequisit. In den Landschaftskugeln des 18. und des 19. Jahrhunderts ist es aber wohl kaum mehr als Schiff der Kirche deutbar, sondern zum Schiff des Lebens geworden (Abb. 9).37 Das jüngste prominente Beispiel der Landschaftskugel findet sich in Werner Tübkes monumentalem Bauernkriegs-Panorama in Bad Frankenhausen. Tübke benutzt eine große, platzende Landschaftskugel, in deren Zentrum sich die Kreuzigung Christi vollzieht, um das christliche Konzept der Welterlösung als Chimäre vorzuführen – womit er aufs Neue das symbolische Gewicht dieses Motivs unter Beweis stellt (Abb. 10). 36 Madersbacher 2011. 37 Schlee 1976/77.
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Abb. 9: „Der Durchgang durch die Welt“, Gemälde, Privatbesitz, um 1780. Foto aus Schlee 1976/77. Abb. 10: Werner Tübke, „Verkündigung an die Bauern“, Bauernkriegspanorama, Bad Frankenhausen, 1976–1987. Foto: Institut für Kunstgeschichte, Universität Innsbruck, Bildarchiv.
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Dieser kurze Überblick über die Geschichte der Landschaftskugel führt eine Grundaussage vor Augen, die über die Jahrhunderte hinweg weitgehend konstant blieb: Funktion der Landschaft in der Weltkugel war es niemals, eine Aussage über die Welt als solche zu treffen. Der Bewohner der Welt, der Mensch, ist ihre Bezugsgröße. Als Metapher für die diesseitige Lebenswelt, den mundus, war ihr – vordergründig oder hintergründig – auch deren jenseitiges Gegenbild implizit. Die mittelalterlichen Inszenierungen von Sünde und Erlösung erweisen diesen Zusammenhang gleichermaßen wie der neuzeitliche Umbau der Landschaftskugel zum vanitären Durchgangsort und selbst noch – wenn auch in der Negation – die zeitgenössische Rezeption. Kehren wir abschließend zu unserer Ausgangsfrage zurück: Es sollte deutlich geworden sein, dass die Weltlandschaft des 16. Jahrhunderts, die gerne an den Beginn der neuzeitlichen Landschaftsmalerei gestellt wird, keine voraussetzungslose Erscheinung darstellt. In ihrem Anspruch, die Welt als solche in das Bild einer Landschaft zu fassen, hat sie in der Landschaftskugel nicht nur ein paralleles Phänomen, sondern eine weit zurückreichende Vorgeschichte. Diese Bindung zeichnet sich nicht nur formal, sondern gleichermaßen in einem analogen symbolischen Konzept ab, dem schönen Schein dieser Welt deren heilsgeschichtliche Rolle entgegenzuhalten. Auch sind die ikonografischen Motive der Weltlandschaft, die den mundus in seiner Sündhaftigkeit charakterisieren, und die Gegenbilder der Erlösung demselben Repertoire entnommen, aus dem die Landschaftskugel schöpft. Andererseits aber dürfen die Differenzen nicht übersehen werden. Die Landschaftskugel ist in ihrer mittelalterlichen Verwendung als göttliches Attribut oder eingespannt in den Zusammenhang der Weltschöpfung klar kontextbezogen und beginnt sich erst Ende des 15. Jahrhunderts, mit Hieronymus Bosch, als selbstständiges Bildmotiv herauszulösen. Das emanzipierte Landschaftsbild der darauffolgenden Generation kann demgegenüber naturgemäß andere Möglichkeiten entfalten, die enge Bandbreite landschaftlicher Formeln zu reich differenzierten Panoramen ausweiten, das begrenzte Repertoire ikonografischer Requisiten zu breiten Spektren hintergründiger Verweise diversifizieren. Natürlich waren mit dieser Entfaltung auch rezeptionsästhetische Wirkungsabsichten verbunden, die weniger auf den andächtigen Gläubigen denn auf den Kunstliebhaber zielten. Zwar hat auch die Landschaftskugel das Interesse des Connaisseurs gefunden, wie am Beispiel des Salvators von Joos van Cleve unschwer nachvollziehbar, dessen wie durch ein Teleskop gesehener landschaftsgefüllter Reichsapfel (Abb. 7) eine geradezu serielle Reproduktion auslöste. Aber naturgemäß zeigte sich dieser Aspekt noch wirkungsvoller, wenn er sich nicht auf ein attributives Motiv beschränkte, sondern aus dem Vollen vielgestaltiger Landschaften schöpfte, wie sie Joachim Patinir in Szene setzte. Schon das schiere Über-
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handnehmen der Landschaft und ihrer optischen Reize musste sich anregend auf die Augenlust auswirken, die differenzierte Hintergründigkeit ihrer reichen ikonografischen Beziehungsgefüge die Reflexion herausfordern oder zumindest die Neugierde des Betrachters entfachen – wie dies Karel van Mander beschreibt. So unbestritten diese innovative Dimension der Weltlandschaft ist, das ihr gerne zugesprochene Gewicht eines epochalen Paradigmenwechsels hat sie nicht. Denn ihre sinnlich-profanen Zwecke weisen nicht eigentlich einen spezifischen Zusammenhang mit dem Gegenstand Landschaft auf, sondern sind Zeugnisse einer Ästhetisierung des Kabinettbildes, die sich gleichermaßen quer durch die anderen Gattungen abzeichnet. Zumal diese Landschaften nicht eigentlich von einer neuen Hinwendung an die objektive Natur künden, ihre Gestaltung weder von realistisch deskriptiven oder topografischen Ansprüchen getragen noch in irgendeiner Weise mit den geografischen oder kartografischen Interessen der Frühen Neuzeit verknüpft ist, sondern ihnen eindeutig identifizierbare symbolische Wurzeln zugrunde liegen. Nicht zuletzt war es – und dies sollte hier als These vertreten werden – ihre bislang nicht beachtete Vorgeschichte, die der Weltlandschaft des 16. Jahrhunderts den Spielraum verwehrte, Zeugnis für eine Epochenwende abzugeben, wie wir sie unter dem Burckhardt’schen Motto von der „Entdeckung der Welt und des Menschen“ stets bereitwillig erwarten. In Abwandlung von Ernst Gombrichs These, „daß die Landschaftsmalerei früher da war als unser ‚Gefühl für Landschaft‘“,38 wäre vielleicht eher die Frage zu stellen, ob es nicht eben die Bindung an eine symbolische Welterfassung war, die in der Frühen Neuzeit die Basis für das Landschaftsbild legte.
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Ulrich Eigler
Natur auf Distanz Die Landschaft im Arbeitszimmer
Landschaft wurde, wie im Entwurfstext zu dieser Tagung von den Organisatoren formuliert, „seit ältester Zeit an den verschiedensten Orten und unter mannigfachen Vorzeichen immer wieder neu entdeckt.“ Ich möchte den Blick auf einen besonderen Ort lenken, an dem Natur als Landschaft in Szene gesetzt wird: das Arbeitszimmer.1 Dies geschieht im Wissen darum, dass das studiolo,2 das Musenzimmer oder die bibliothecula3 als eigenes nachweisbares und breit rezipiertes Raum- und ebenso Bildkonzept genau in jener Zeit Gestalt gewinnt, als im Italien des 14.–16. Jhs. auch die Natur als Landschaft ‚entdeckt‘ wird.4 Zugleich finden im 14./15. Jh. Mensch und Landschaft u. a. im Bild der Studierstube5 einen ‚Rahmen‘. Der Mensch gelangt dorthin als einsam denkendes und arbeitendes, autonomes Individuum, befreit von kollektiven Zwängen der Gemeinschaft. Die Landschaft erhält Bedeutung als Natur auf Distanz, als Landschaft im Bilderrahmen, im Fensterrahmen, gelöst durch den besonderen und doch zugleich verallgemeinernden6 Blick des Menschen aus einer allumfassenden Natur. Im Falle einer Darstellung des Gelehrten in der Studierstube wird die Landschaft nicht allein als Bühne
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Für eine gründliche Durchsicht, die Beschaffung der Bildrechte sowie viele anregende Diskussionen ist der Verfasser Brigitte Marti und Cornelia Ritter-Schmalz zu großem Dank verpflichtet. Zur Entstehung des Raumkonzepts des studiolo s. die grundlegende Arbeit von Liebenwein 1977 und die weiterführende Arbeit von Minges 1998. Zu den estudes des französischen Königs Charles V., dem für die Entwicklung des Studierzimmers eine Vorreiterrolle zuzukommen scheint, s. auch: Perrig 2011, 38–39 bzw. Celenza 2007, 371; Minges 1998, 25. In der Antike existieren für einen Raum einsamer geistiger Betätigung zahlreiche, nicht immer eindeutige Begriffe (vgl. Liebenwein 1977, 13–14, der betont, dass die Begriffe zu keinem „antiken Prototyp“ für das von ihm untersuchte studiolo in der Frühen Neuzeit führen. Zur vielfältigen und nicht immer eindeutigen Terminologie auch in der Frühen Neuzeit vgl. Liebenwein 1977, 66 und 106 (zur Bandbreite des Begriffsgebrauchs bei Poggio). S. dazu den Beitrag von Lukas Madersbacher in diesem Band sowie Gombrich 1953. Auf eigene frühere Studien sei hingewiesen: Eigler 2007 und besonders Eigler, De vita solitaria (im Erscheinen); zu den durch Petrarca entwickelten und repräsentierten Formen individueller Arbeit in der Gelehrtenstube vgl. Eigler 2014. Die Überwindung des Spezifischen im Idealen lässt sich für die Landschaft analog zu den Worten Lessings zur Skulptur des Laokoon formulieren: „[E]s ist das Ideal eines gewissen Menschen, nicht eines Menschen überhaupt“ (Lessing 1952, 172).
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bzw. Hintergrund wichtig, der „zur Platzierung der Darsteller der »istoria«“,7 die das Bildgeschehen ausmacht, dient, sondern hat Teil an dem Geschehen, das als Hauptthema des Bildes den Vordergrund beherrscht. Die Gewährung des Ausblicks bindet in verschiedener Weise die Sonderwelt des Arbeitszimmers an die Umwelt und umgekehrt. Die im Arbeitszimmer als tätig Dargestellten beschränken sich allerdings auf die Arbeit mit Büchern, ohne den Blick durch das Fenster zu erheben. Dieser bleibt den Betrachtenden des gesamten Bildes vorbehalten, die Ansicht des Arbeitszimmers und Aussicht in die Natur miteinander verknüpfen können. Es soll im Folgenden kurz skizziert werden, wann und unter welchen Umständen ‚Landschaft auf Distanz‘ sich zum Thema und Ausstattungselement der gerade erst zum Ausdruck von individueller geistiger Arbeit gewordenen Studierstuben entwickelte. Anschließend gilt es, auf die semantischen Konsequenzen für diese Räume, aber auch ihre bildlichen Repräsentationen aufmerksam zu machen. Diese ergeben sich daraus, dass beide Neuerungen zusammen finden, d. h. Landschaft im studiolo durch Öffnung eines Ausblicks aktiver Teil in Bildern von Studierstuben wird. Ein weiterer Abschnitt folgt der Entwicklung dieses neuen Konzepts intellektueller Arbeit. Dafür spielten Petrarca und insbesondere die Petrarca-Rezeption eine große Rolle. Dort wird das christliche Lebensideal der Askese in der Wildnis als ‚asketischer Rest‘ in die Szenerie der Studierstube geholt. Doch wirkt sich sowohl für Petrarca wie für die Petrarca-Rezeption die v. a. durch Plinius und Quintilian präsente antike Diskussion des 1. Jhs. n. Chr. über den rechten Ort geistiger Arbeit aus. Dies soll in einem vierten Abschnitt kurz beleuchtet werden. Das Thema des Einlasses von Landschaft ins Studierzimmer bleibt auch in den folgenden Jahrhunderten aktuell. Ein fünfter Abschnitt führt daher zur Auseinandersetzung mit Aspekten der Wirkungsgeschichte der Petrarca-Ikonographie im 15. und 16. Jh. Dabei leitet die Frage, wie weit ein Fenster in der Studierstube, der Einlass von Landschaft in den Raum gestattet sei, auch ins vorreformatorische und reformierte Zürich sowie zur Gegenüberstellung zweier Texte zur Studierstube von Felix Hämmerli und Heinrich Bullinger. Den Abschluss bildet ein kurzer Blick ins 20. Jh.
Zimmer mit Aussicht – ein neuer Blick in die Natur Leon Battista Alberti hob bereits 1435/36 in seinem Traktat De re aedificatoria im Kapitel De aedificiorum apertionibus die besondere Bedeutung der Fenster hervor. 7
Steingräber 1983, 21.
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Die Funktion der Fensteröffnungen bestimmt er zuerst, dann die der Türen (De re aedificatoria 1,12):8 Nam alia luminibus et ventis, alia rebus et incolis aditum exitumque in aedificium praebent. Luminibus fenestrae serviunt, rebus hostia scalae et spatia intercolumniorum. Denn die einen bieten Licht und Luft, die anderen für Gegenstände und Bewohner ins Haus Ein- sowie daraus Ausgang. Dem Licht dienen die Fenster, den Gegenständen die Türen, Treppen und Wandelräume.
Unter den apertiones besitzen die Fenster eine besondere Stellung. Sie bieten nicht den Gegenständen, sondern dem Licht Einlass ins Haus. Einen weiteren Vorzug liefert Alberti in späteren Kapiteln nach, wobei er Kriterien rezipiert, welche das Nachbarschaftsrecht im Römischen Recht nennt, um die Funktion des Fensters zu charakterisieren:9 Neben Licht (lumen) und Luft (aer) gehört dazu der angenehme Aussicht (voluptas) gewährende Blick nach draußen (prospectus).10 Die wegweisende und seit 1460 breit rezipierte11 Innovation durch Leon Battista Alberti führte zur Praxis, Räume neu durch rechteckige12 Fenster zu gestalten, die nach antiken Vorbildern – v. a. des jüngeren Plinius – bewusst dem Ausblick in die Natur einen Rahmen gaben, der in kalkulierter Mehrdeutigkeit Landschaft als Ausblick wie ein Bild generierte. Bilder können seitdem an die Stelle des Fensters als Landschaftsausblick treten und umgekehrt. Dies entspricht Albertis Definition des Bildes als offenes Fenster, die er in der 1435, d. h. zeitgleich zu De re aedificatoria verfassten Schrift De pictura formuliert hatte (De pictura 1,19):13 8
Im Folgenden zitiert nach Alberti 1966. Sämtliche folgenden Übersetzungen stammen vom Verfasser des vorliegenden Beitrages. 9 Vgl. Blum 2008, 83–86; Blum 2015, 158–160 zur Rezeption der im römischen Nachbarschaftsrecht verankerten Begriffe lumen, aer, prospectus. 10 In De re aedificatoria 5,17 nennt Alberti neben aura und sol noch aspectus, wobei die voluptas bereitende Wirkung hervorgehoben wird: convenient specularia fenestrarum, meniani, porticus, quibus, una spectandi cum voluptate, et soles et auras, prout tempora postulabunt, hauriant. Die Verbindung der lieblichen Aussicht betont er 5,18 im Falle der herrschaftlichen Villen: omnem lucis aurae spatii prospectusque amoenitatem captant (vgl. Blum 2015, 159 Anm. 25). Dies entspricht, wie Blum 2008, 86 herausgearbeitet hat, der Erweiterung der vitruvischen Kategorien der utilitas, firmitas, venustas um einen sozial-funktionalen Aspekt. Hinzu treten die Kategorien der utilitas, dignitas, amoenitas/voluptas, welche eher die gesellschaftliche Wirkung beschreiben. 11 Blum betont 2008, 77 die große Bedeutung des sogenannten giardino pensile als „frühe architektonische Realisierungen des neuzeitlichen, ungeteilt-rechteckigen Ausblicksfensters“ im Palast Federico da Montefeltro. 12 Zur für die europäische Kunstwahrnehmung weitreichenden Semantik des rechteckigen Rahmens s. Blum 2008, 77. 13 Zitiert nach Alberti 1972. Vgl. Blum 2015, 16. Vgl. dazu auch Blum 2008, 77 (mit Anm. 2); 82:
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Principio in superficie pingenda quam amplum libeat quadrangulum rectorum angulorum inscribo, quod quidem mihi pro aperta finestra est ex qua historia contueatur […]. Zunächst ziehe ich auf der Malfläche einen möglichst großen, rechtwinkligen Rahmen, der für mich wie ein offenes Fenster ist, aus dem man das Geschehen betrachtet.
Die grundsätzliche Annäherung von Fenster-Bild und gemaltem Bild sowie die sich daraus ergebenden ästhetischen Raumöffnungen haben für die Semantik der Räume zahlreiche Konsequenzen. Ein herausragendes Beispiel des Übergangs von gemaltem Bild zu Fenster-Bild bieten die „prospettive intarsiate“ im studiolo des Federico da Montefeltro, welche künstlich den Blick aus einem Fenster ins Umland suggerieren und dem Raum größere Tiefe bescheren.14 Betrachtet man wie wir bildliche (und auch textliche) Repräsentationen, d. h. Erzählungen vom Arbeitszimmer, verlieren diese voluptas bietenden prospectus als in realen Räumen mögliche ästhetische Erfahrungen gleichsam auf zweiter Stufe ihre mediale Ambiguität. Ausblicke stehen dabei auf gleicher Stufe wie andere Realitätseffekte, welche die in Bild oder Text repräsentierte Studierstube zieren und semantisieren. Dazu gehören Ausstattungsstücke15 wie Bilder und Büsten berühmter Männer. Diese mögen in realen Räumen, wie z. B. Poggio betont, das Vergnügen der Erinnerung an die Exempla bereiten (epist. 4,21):16 Delector enim admodum picturis et sculpturis in memoriam priscorum excellentium virorum, quorum ingenium atque admirari cogor, cum rem mutam atque inanem veluti spirantem ac loquentem reddunt.
„Alberti kehrt die Richtung dieses Vergleiches jedoch (wohl erstmals) um: Nicht der Ausblick wird mit einem Gemälde – wie bei Plinius und Statius – verglichen, sondern umgekehrt das Gemälde mit einem Ausblick gleichgesetzt.“ 14 Vgl. Blum 2008, 99. Zu den „prospettive intarsiate“ vgl. den Artikel von Gabriele Barucca in: Marchi, 2015, 67–70. 15 Da wir Bilder bzw. Erzählungen von Räumen mit Landschaftsbildern oder Fenstern, die einen Ausblick in die Landschaft bieten, behandeln, gilt in noch spezifischerer Weise für den Blick auf Natur im Arbeitszimmer bzw. studiolo, was Michail Bachtin (Bachtin 1989, 76) mit „Zimmercharakter“ bezeichnet, nämlich eine Eigenschaft dessen, was jemand, der von Innen herausschaut, über das Außen d. h. die Natur schreibt oder auch malt: „Auch die in diese neue intim-private Welt einbezogene Natur unterliegt einer grundlegenden Veränderung. Es entsteht die ‚Landschaft‘, d. h. die Natur als Blickfeld (als Gegenstand des Sehens) und Umgebung (als Hintergrund, Rahmen) des gänzlich privaten und einsam-tätigen Menschen.“ 16 Zitiert nach Bracciolini 1963 (1832). Vgl. Liebenwein 1977, 66.
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Denn ich freue mich sehr an Bildern und Büsten, die der Erinnerung an herausragende Männer des Altertums dienen und deren Geist zu bewundern es mich drängt, lassen sie doch etwas Stummes und Unbeseeltes atmend und sprechend erscheinen.
Die Ausstattung von Studierstuben und Arbeitszimmern unterliegt freilich einem historischen Wandel. Angenehme Landschaftsdarstellungen und Ausblicke begegnen bis heute als ikonische Potenzierungen höchst stilisierter Darstellungen von Arbeitszimmern bzw. Arbeitsorten, Abb. 1: Wohnen in der Natur, Katalog der Firma ein Effekt, der seine Wirkung auch in „Trend natur“ (www.trend.de). Die Wiedergabe moderner Möbelwerbung nicht vererfolgt mit freundlicher Genehmigung der fehlt, wobei Albertis Umkehrung der Geschäftsführung. Leserichtung17 in der Werbung der Firma „Trend natur“ geradezu mustergültig umgesetzt erscheint. Mit dem Untertitel „Wohnen in der Natur“ wird die Wirksamkeit des in medialer Ambiguität belassenen Fensterbildes betont. Es bietet für die Betrachtenden nicht nur einen Hintergrund, sondern ist Teil des Geschehens im Inneren, verbürgt dessen besondere ökologische Qualität und distinguiert das Angebot als Alternative zu anderen Möbelherstellern, die sich nicht auf eine gesellschaftliche Gruppe beziehen, die derartigen Botschaften Bedeutung beimisst. Deutlich ist die soziale Botschaft zu erkennen, die bereits im 15. Jh. von Alberti formuliert worden ist. Eine Studierstube im Tageslicht, besonders wenn es durch ein repräsentatives Fenster eindringt, akzentuiert die Tiefe und nobilitiert das Arbeitszimmer als herrschaftlichen Raum.18 Dies gilt auch für den Falle, dass die Öffnung durch ein Bild erfolgt, ja erhält besonderen Reiz, wenn sich nicht entscheiden lässt, ob es sich um ein Tafel- oder Fensterbild handelt (Abb. 1).
17 Vgl. Blum 2008, 82. 18 Vgl. Blum 2008, 293–300 insbes. zu Alberti.
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Natur im Fenster – eine Leerstelle zwischen Büchern Für die Bücher bleibt diese Öffnung nicht ohne Konsequenzen. Wenn sie der im Fenster oder im gemalten Bild zur Landschaft gewordenen Natur Platz machen, treten sie zu dieser in Konkurrenz, zumal ein öffnender Ausblick, eine apertio nach Alberti (De re aedificatoria 1,19) gewährt wird, die Bücher aber – in der Regel – den Raum umschließen und zudem dem Betrachter den ‚Rücken‘ zuwenden, ohne einen direkten Einblick in ihren Inhalt zu bieten. Durch diese apertio, welche die Abwesenheit des Gewohnten, der Bücher, herbeiführt, entsteht für die Deutung des im Bild präsentierten Raumes eine ,Leerstelle‘. Als ‚Bild im Bild‘ besitzt diese große semantische Sprengkraft und generiert zahlreiche Bedeutungen. Diese werden gerade bei der Betrachtung der Repräsentation eines Arbeitsortes, die sich allein schon durch die Art der insinuierten natürlichen Lichtquelle ergibt, die den Raum erleuchtet und bestimmte Gegenstände in den Vordergrund treten lässt, deutlich. Derartige Effekte werden mit Tageslicht wesentlich umfassender erzielt als z. B. mit Kerzenlicht, das eine andere Bildwirkung erzeugt, nur selektiv bestimmte Bildelemente anleuchtet und eher für asketische Botschaften sowie die Darstellung des einsam meditativen Arbeitens typisch ist.19 Die Hereinnahme von Landschaft in die Studierstube lenkt den Blick über den Raum hinaus. Dies illustriert besonders eindrücklich das Beispiel einer Darstellung Petrarcas im studiolo von 1468/69, in der das Fenster als zentraler Fluchtpunkt gleichermaßen die einsam geistig tätige Person, die Bücher und das Arbeitszimmer selbst als Teil einer Umwelt in Szene setzt sowie sich als Bild im Bild zu einem Konkurrenten anderer Bildelemente aufschwingt. Der Blick des Betrachtenden wird nämlich über die vordergründige Szenerie hinweg auf das Hintergrund-Bild zugeführt. Programmatisch wird der Dichter Petrarca in einsamer Tätigkeit inszeniert, seine Tätigkeit aber auch zu dem Bild im Hintergrund in Beziehung gesetzt.20 Auch hier präsentiert sich die Landschaft ambivalent als Ausblick oder gerahmtes Gemälde (Abb. 2). Der in der gefluchteten Darstellung fast erzwungene Blick hinaus in die Landschaft führt gleichsam über die rein pragmatische Bedeutung der Studierstube als bloßes Schreib- und Lesezimmer 19 Dazu Eigler, Lucubratio, (im Erscheinen). Wir behandeln hier nicht das geschlossene und in der Nacht durch die Kerze zur lucubratio erhellte Studierzimmer, das einen eigenen Strang in der Semantik des Studierzimmers bildet. Der Schein der Lampe, Leuchte oder Kerze beleuchtet schlaglichtartig ganz andere Dinge und besitzt eine völlig eigene Bedeutung, bildet aber das komplementäre Thema zum hier behandelten. 20 Die Handschrift präsentiert entsprechend ihrem Inhalt zu Beginn Petrarca als Autor des Canzoniere, wie dies auch in der epigraphischen Beischrift dokumentiert wird: Francisci Petrarce poete clarissimi sonectorum et cantilenarum liber incipit foeliciter.
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hinaus und legt deren Konnotation mit einer Vielfalt von Bedeutungen nahe. Natur und Bücher, Innen – Außen treffen spannungsvoll aufeinander. Zunächst wird das Motiv der Einsamkeit des Gelehrten betont, diese aber um die Natur als Raum asketischen Rückzugs aus der Welt erweitert, welcher hier besonders den Dichter ebenso wie die am rechten Bildrand platzierte Laute auszeichnet. Gerade Petrarca hatte in De vita solitaria die Natur als Raum der Askese und Weltflucht benannt, die er in Vaucluse praktizierte, damit aber nicht spezifisch seine Tätigkeit als Dichter, sondern allgemein als Gelehrter begründet. Das Bild setzt eher den Dichter des canzoniere in Szene, steht aber in der Tradition der unAbb. 2: Petrarca im Studiolo, Francesco d’Antomittelbaren Petrarca-Rezeption und nio del Chierico, 1468/69, Biblioteca Trivulziana, -Deutung. Es greift Elemente der BioMilano, Cod. 90, Bl. 1v. graphie und geistigen Entwicklung Petrarcas ostentativ auf, legt jedoch von Petrarca formulierte Spannungen offen, wie sie im Folgenden kurz skizziert werden sollen.
Bibliothek und Bäume – Landschaft als asketischer Rest Die Frage, wann das moderne Raumkonzept des Studierzimmers entstanden ist, sodass man überhaupt darin die Bücher beiseiteschieben und die gerade beschriebene apertio semantisch wirksam inszenieren konnte, führt zu Petrarca, der besonders in seiner in Vaucluse 1346/47 verfassten Schrift De vita solitaria ein modernes Konzept des in solitudo tätigen Gelehrten entwickelt hatte.21 Unter Berufung auf die Legitimität des in der Natur lebenden Asketen beansprucht Petrarca das 21 Dazu s. allgemein Constable 1980; von Moos 1996; Blanchard 2001; Eigler, De vita solitaria (im Erscheinen).
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Recht auf Einsamkeit im otium in der Natur. Zugleich verbindet er diesen Raum mit der vagen Vorstellung der eigenen Bibliothek. Bücher sind konstitutiv für den neuen Raum im engeren Sinne, reduzieren den entgrenzten Bereich der Natur auf ein Bücherzimmer. So umschreibt Petrarca unter Berufung auf Seneca und Cicero das otium literatum, das otium mit Büchern, an einer berühmten Stelle der Schrift (De vita solitaria 1,3,19):22 Equidem solitudo sine literis (sic!) exilium est, carcer, eculeus; adhibe literas, patria est, libertas, delectatio. Nam de otio quidem illud Ciceronis notum: „Quid dulcius otio literato?“ [Cic. Tusc. 5,36,105]. Contraque non minus illud Senece vulgatum: „Otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura“ [Sen. epist. 82,3]. Ich jedenfalls vertrete die Ansicht, dass die Einsamkeit ohne Bücher nur Exil, Kerker, Folter bedeutet; nimm Bücher dazu, schon ist sie Heimat, Freiheit, Freude. Denn über die Muße kennen wir den Ausspruch Ciceros: „Was ist süßer als Muße mit Büchern?“ Andererseits ist jener Ausspruch Senecas nicht weniger verbreitet: „Muße ohne Bücher bedeutete Tod und Begräbnis des Menschen bei lebendigem Leibe.“
Petrarca formuliert ein Paradox. Der von Büchern umgebene und erst auf diese Weise als Studierstube denotierte Raum wird im Augenblick der durch die Bücher-Wand bewirkten Abtrennung zum Gegenteil der Abgeschlossenheit, gerät zum Ausdruck von Freiheit bzw. Befreiung aus Gefangenschaft, Folter und Verbannung, zur Verkörperung individueller Selbstbestimmung im Akt geistiger Tätigkeit. Die solitäre Existenz im Moment des Schreibens war bisher nur in Darstellungen von Kirchenvätern oder Evangelisten üblich. Dies reflektiert noch eine um 1500 entstandene Handschrift, die den Evangelist Johannes in selbstverständlicher, auch durch das Symbol des Adlers bestätigter Eindeutigkeit als Verfasser des folgenden Textes darstellt. Er wird gleichsam ikonisch durch die Imagination des einsam inspirierten Schreibakts autorisiert. Der gleichzeitige Appell zur Lektüre verbindet sich mit der bildlichen Wiederholung des komplementären Schreibakts, dargestellt im geschlossenen, einer Mönchszelle nachempfundenen Raum (Abb. 3). Eine solche Selbstverständlichkeit war dem weltlich-säkularen Intellektuellen des 14. Jhs. nicht beschieden, dessen Schreib- und Denkort erst einen eigenen Prozess der Emanzipation und Begründung durchlaufen musste, an dessen Anfang v. a. das früheste Bild des Petrarca steht (Abb. 4). Es begründet eine Tradition, aus 22 Zitiert nach Petrarca 1955. S. auch Blanchard 2001, 415.
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Abb. 3: Der Evangelist Johannes, um 1500, Bibliothèque publique et universitaire de Neuchâtel, Cod. A 2, Bl. 15r (www.e-codices.unifr.ch). Abb. 4: Petrarca nello studio, um 1370–80, Altichiero da Zevio, Padova, Palazzo Liviano, Sala dei Giganti (Detailansicht).
der auch das bereits diskutierte Petrarca-Bild stammt. Das geöffnete Fenster mit dem Blick auf eine Landschaft wirft Fragen auf, die plötzliche Lücke problematisiert die dargestellte Situation in gleichem Maße, wie sie Teil der dargestellten Bildhandlung ist, aber auch das bildhafte Erzählen in ‚neuem Licht‘ erscheinen lässt. Der Gelehrte befindet sich in einer offenen Studierstube, wobei der Blick auf nördliche Berge aus einer villa suburbana – sofern man von Petrarcas Studierstube in Arquà ausgehen will – ganz nach Alberti (De re aedificatoria 5,17) gestaltet zu sein scheint.23 Zweifellos erhöht in dem Ende des 14. Jhs. entstandenen Bild der öffnende Blick in bergige Ferne zunächst den ästhetischen Reiz des Bildes und schafft zudem eine nicht nur perspektivische, sondern auch semantische Tiefe. 23 Es ist das einzige der erhaltenen Bilder aus der sala virorum illustrium, in der sonst nur Helden der Antike, anerkannte Vorbilder politischen Handelns, dargestellt waren. Vgl. Stierle 2003, 143. Allgemein zum Hintergrund der Ikonographie s. Liebenwein 1977, 30–55. Zu dem montium prospectus und der besonderen Wertschätzung von Ausblicken auf nördliche Berge als montium prospectus laetissimus nach Alberti vgl. Blum 2008, 89–93.
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Das geöffnete Fenster mit Ausblick vermehrt die Szenerie um den impliziten Verweis auf Fragestellungen, die Petrarca in asketischer Tradition in De vita solitaria formuliert hatte, als er Einsamkeitsszenerien in der Natur oder Wildnis diskutierte,24 ohne dabei eindeutig die Askese in der Wildnis zu favorisieren. Zu wichtig sind, wie wir gesehen haben, in seinem Einsamkeitskonzept die eigentliche Geschlossenheit und Räumlichkeit stiftenden Bücher. Auch der späte Petrarca ist noch mehrdeutig. So schreibt er 1371 an Leonardo Bruni von seiner villa suburbana, die er 1369 erworben hatte (var. 43), dass er die Stadt wie ein ergastolum meide und die Einsamkeit suche. Wieder verwendet er die Kerkermetaphorik für ein Leben ohne geistige Tätigkeit in städtischer Enge, erst die unmittelbare Nähe zur Natur eröffnet ihm die notwendige Freiheit, wenngleich man sich kaum vorstellen kann, wie Petrarca in der freien Natur schreibt. Eher dürfte er in einem studiolo in Gesellschaft seiner Bücher tätig gewesen sein. So erzählt er am 27. April 1373 gegenüber seinem Bruder vom Leben in den Euganeischen Hügeln, das er sine tumultibus, sine erroribus, sine curis legens semper et scribens et deum laudans (sen. 14,6) zubringe. Immer bleibt jedoch eine gewisse Unklarheit hinsichtlich des Ortes erhalten. Dies belegt ein anderer Brief (sen. 17,2):25 Nomine ego cum principibus fui, re autem principes mecum fuerunt. Nunquam me illorum consilia et perraro convivia tenuerunt. Nulla michi unquam conditio probaretur, que me vel modicum a libertate et a studiis meis averteret. Itaque cum palatium omnes, ego vel nemus petebam vel inter libros in thalamo quiescebam. Nominell war ich mit Fürsten zusammen, tatsächlich aber die Fürsten mit mir. Niemals vereinnahmten mich ihre Versammlungen, sehr selten ihre Gastmähler. Keine Lebensweise würde von mir gebilligt, die mich auch nur kurze Zeit von der Freiheit und meinen Studien abhält. Deshalb suchte ich, wenn alle in den Palast gingen, die Natur auf oder pflegte der Ruhe im Arbeitszimmer zwischen meinen Büchern.
Die Petrarca-Ikonographie nimmt diese Mehrdeutigkeit auf und lässt durch das geöffnete Fenster einen ‚asketischen Naturrest‘ in die urbane Raumarchitektur ein: nemus und thalamus, Landschaftsbild als Naturverweis und Schlaf- bzw. Studierzimmer koexistieren. Hinzu kommen maßgebliche Einflüsse einer Diskussion um den idealen Ort literarischer Tätigkeit, an der sich im 1. Jh. Plinius, Tacitus und Quintilian betei24 S. Liebenwein 1977, 67 zu Petrarcas Einsamkeitskonzept in der Wildnis. 25 Zitiert nach Petrarca 1978.
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ligten.26 Quintilian bevorzugte einen geschlossenen Raum in der Stadt,27 Plinius verband literarische Tätigkeit mit dem Leben in der Natur.28 Doch preist Plinius noch spezifischer das Leben mit Büchern in ländlicher Abgeschiedenheit als Ausdruck einer richtigen Lebensweise. So berichtet er vom Leben auf seinem Laurentinum, er führe mit Lesen und Schreiben eine vita recta et sincera, die er in ungestörter Einsamkeit verbringe, nur im Dialog mit den Büchern: mecum tantum et cum libellis loquor (epist. 1,9,5). Petrarca wurde durch diese in den Villenbriefen ausgeführte Lebenswahl des Plinius beeinflusst.
Lesen im Grünen – antike Anregungen zum otium mit Büchern Besonders für die Petrarca-Rezeption scheint Plinius wichtig gewesen zu sein. Er beschrieb nämlich den Ort für die einsamen Studien und neben verschiedenen Varianten des Rückzugs das ‚Zimmer mit Aussicht‘ in einer ländlichen Villa.29 Er nennt den Raum, in den er sich zur intensiven Lektüre und kontemplativen Ruhe zurückzieht, cubiculum […] quod non legendos libros sed lectitandos capit (epist. 2,17,9). Besonders (amores mei, re vera amores) erwähnt er einen Gartenpavillon (diaeta) als stillen Rückzugsort (epist. 2,17,20). In epist. 6,5,21 weist Plinius auf einen ähnlichen Ort bei der Beschreibung seines Anwesens an der ora Tuscorum hin.30 Die Ausblicke von den Fenstern einer zotheca (eines Kabinetts zum Schlafen bei Tage) werden als jeweils besondere Landschaftsveduten geschildert (epist. 2,17,21):31 A pedibus mare, a tergo villae, a capite silvae: tot facies locorum totidem fenestris et distinguit et miscet. („Zu Füßen das Meer, im Rücken Villen, am Kopfende Wälder; diese Landschaftsansichten unterscheidet und vereinigt sie mit ebenso vielen Fenstern.“) 26 Vgl. Hindermann 2009; Eigler, Lucubratio, (im Erscheinen). 27 Vgl. Classen 2003, 155. Enenkel 1990, 429 betont zu Quintilians Ausführungen in der Institutio oratoria (z. B. 10,3,25–26) zum idealen Ort geistiger Arbeit, dass Petrarca den „Quintilian-Text nicht allzu lange nach Oktober 1350 gelesen hat.“ 28 Vgl. Hindermann 2009, 229. Plinius setzt gegen Quintilians Auffassung eigentliches dichterisches Schaffen mit dem Verfassen von Reden gleich. Er nimmt dabei Bezug auf den Dialogus des Tacitus, wo Aper nur den Dichtern die Landschaft, den Rednern die Stadt zuweist. 29 Maßgeblich hier: Blum 2008. Freilich spielt Plinius verschiedene Orte literarischer Tätigkeit durch. In epist. 1,6 thematisiert er – natürlich parodistisch – die Arbeit im Wald bei der Jagd. 30 Mit diaeta bezeichnet er auch einen Raum ohne jede Aussicht, in den der Onkel angesichts des Vesuvausbruchs Zuflucht nimmt: Vgl. Plin. epist. 6,16,14: Sed ex area ex qua diaeta adibatur ita iam cinere mixtisque pumicibus oppleta surrexerat, ut si longior in cubiculo mora, exitus negaretur. 31 Vgl. Lefèvre 1977, 522. Eher die quintilianische Abgeschlossenheit der zothecula als cubiculum beschreibt Plinius an anderer Stelle (epist. 5,6,38): Mox zothecula refugit quasi in cubiculum idem atque aliud.
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Die facies locorum boten gleichsam die Illusion gemalter Blickfelder, in denen sich Berge, Bäume, aber auch Tiere und Hirten sehen ließen, wie es Plinius in einem Brief an Domitius Apollinaris über den Ausblick aus seiner Villa, der einer forma picta gleichzukommen schien, schreibt (epist. 5,6, 13): Magnam capies voluptatem, si hunc regionis situm ex monte prospexeris. Neque enim terras tibi sed formam aliquam ad eximiam pulchritudinem pictam videberis cernere: ea varietate, ea descriptione, quocumque inciderint oculi, reficientur. Großes Vergnügen wirst du empfinden, wenn du diese Landschaft vom Hügel aus betrachtest. Denn du wirst glauben, als sähest du nicht das Land, sondern ein gemaltes Bild von außerordentlicher Schönheit: mit solcher Vielfalt, solcher Darstellung wird diese wiedergegeben, wohin auch der Blick fällt.
Für tatsächlich gemalte Landschaftsbilder ist das Repertoire noch größer. Ihm liegt zugrunde, was Vitruv (Vitr. 7,5,2) als Motive der Bühnenmalerei für das Satyrspiel zusammenfasste, auf die er die zeitgenössische Landschaftsmalerei zurückführte. Unter die varietates topiorum […] ab certis locorum proprietatibus imagines exprimentes zählte er Häfen, Vorgebirge, Gestade, Flüsse, Quellen, […] Hirten (portus, promunturia, litora, flumina, fontes, […] pastores).32
Zwischen Distanz und Nähe – Landschaft im Arbeitszimmer Die antike Frage nach dem Ort einsamen geistigen Arbeitens erhielt ihre besondere Aktualität durch das seit Petrarca intensiv diskutierte Verhältnis von vita activa versus vita contemplativa.33 Das scheinbar müßige Alleinsein stellte ein Problem dar während der Konstitution der individuellen Studierstube als Ausdruck intellektueller Unabhängigkeit im 14./15. Jh. Der Blick in die Natur öffnete in doppelter Weise das Arbeitszimmer durch Durchmessung des Innenraums und damit verbundene Benennung der Tageszeit. Programmatisch wird die Arbeit bei Tage inszeniert, 32 Zu den Motiven eines locus amoenus als Schmuck der Wände von Villen s. Plin. hist. 35,45 (lucos, nemora, colles, piscinas […]); Vitr. 7,5,2. 33 Zugleich steht die nun rasant steigende Popularität des studiolo als Ort der Einsamkeit im Zusammenhang mit einer durch die Rezeption von Ciceros Epistulae ad familiares bei Coluccio Salutati und seinem Kreis erfolgten Neubewertung der vita activa als gleichberechtigter Lebensform neben der vita contemplativa. Die Einsamkeit des studiolo bot nun die dem antiken otium vergleichbare Erholung nach der politischen Tätigkeit, ohne die ausschließliche Lebensform (wie noch bei Petrarca) zu bilden.
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zugleich der Raum durch das von außen einfallende Licht sichtbar und für den betrachtenden Blick erst fassbar gemacht. Die sich daraus ergebende ‚Transparenz‘ ermöglicht, die beileibe nicht unumstrittene Einsamkeit der vita contemplativa darzustellen und werbend der Öffentlichkeit als Arbeit zu präsentieren, ja in gewisser Weise als öffentlich zu suggerieren. Auch befeuerte die Frage des Naturausblicks Diskussionen um die Frage der Melancholie,34 stimulierte den Rückgriff auf ältere Auseinandersetzungen zum Thema der Einsamkeit, sei es im Zimmer, sei es in der Natur, zwischen Büchern oder unter Bäumen.35 Vor allem aber kann die Auffassung Petrarcas vom Arbeitszimmer als Verbindung antiker Vorbilder mit Idealen der christlichen Askese angesehen werden – und diese ist naturbezogen. Die posthume Petrarca-Verehrung wählt ab dem letzten Viertel des 14. Jhs. ein erweitertes Konzept, indem sie auf die gerade in Architektur und Malerei entstehende Mode, Fenster aufzutun und einen Blick in die Natur zu gewähren, zurückgreift. So versetzt sie den verehrten Meister in die Einsamkeit des Studierzimmers und bietet sogleich die asketische Reminiszenz an eine leere Landschaft, die in der antiken Tradition des locus amoenus steht. Diese Szenerie begegnet immer häufiger im Laufe des 15. Jhs., wohl stimuliert durch Albertis in De re aedificatoria (1435/36) formulierte Fensterkonzeption und just zu dem Zeitpunkt, als auch das denkende Individuum einen Raum real und in der Darstellung reklamieren durfte. Davon profitierten auch die Kirchenväterdarstellungen, die um eine Perspektive bereichert wurden. Wie die Darstellung des Hieronymus mit dem Löwen in seinem Studierzimmer („San Girolamo nello studio“) von Colantonio del Fiore von 1444 zeigt,36 blieb der Raum zunächst noch geschlossen, sinnenfrohe Durchund Ausblicke wurden gemieden. Der Wandel lässt sich allerdings 25 Jahre später in einem ähnlichen Bild Antonello da Messinas erkennen, der in Auseinandersetzung mit der Version Colantonios um 1475 plötzlich die Fenster auftat und dokumentierte, dass die Kirchenväter von der Petrarca-Ikonographie profitieren, wie dieser umgekehrt zuvor von der ihren (Abb. 5). Das aus der Petrarca-Ikonographie bekannte rechteckige Fenster mit Landschaftsdurchblick hat sich hier noch nicht durchgesetzt.37 Die architektonisch noch unbestimmte Raumkomposition
34 Vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl 1964, 353–356 zur vita contemplativa als neuem Mußekonzept im Sinne einer vita speculativa sive studiosa, die dem homo litteratus möglich wird, im italienischen Humanismus. 35 Vgl. den Ausspruch des Predigers (Eccles. 4,10,9): Vae soli quia cum ruerit non habet sublevantem („Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe“). 36 Museo nazionale di Capodimonte, Napoli. 37 Blum 2008, 77 betont auch die Bedeutung des „ungeteilt-rechteckigen Ausblicksfensters, das sich zu einem der zentralen Wahrnehmungsdispositive der Moderne und zu einer symbolischen Form des westlichen Weltbildes der Neuzeit entwickeln wird.“
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Ulrich Eigler Abb. 5: San Girolamo nello studio, um 1475, Antonello da Messina, London, National Gallery.
lässt hier freilich noch an van Eycks „Madonna des Kanzlers Rolin“ (ca. 1435) denken,38 wo sich die Natur als paradiesischer hortus conclusus hinter den Personen als Heilsgewissheit für den Betenden wie den Betrachter präsentiert. Erst Vincenzo Catena öffnet das Zimmer des Hieronymus, indem er es auf einer Seite völlig zur Natur hin auftut (Abb. 6). Mit dem Petrarca-Kult und dem Frühhumanismus verbreitete sich offenbar der Typus der Petrarca-Ikonographie und strahlte ebenso auf die Ikonographie des Autorenbildes in Humanistenhandschriften aus. Dort wurde jetzt der Autor in ein Arbeitszimmer mit Aussicht gesetzt, wie eine humanistische Liviushandschrift zeigt (Abb. 7). Doch nicht jedes studiolo weist eine bildhafte Fensteröffnung auf. Wie auch im studiolo des Federico da Montefeltro wird die Substitution des Durchblicks durch Gemälde, die bestimmte Themen wie Musen auf dem Parnass oder ideale Landschaften präsentieren, gewählt. Diese Variante der ‚Landschaft auf Abstand‘ zeigt z. B. das berühmte studiolo der Isabella d’Este im Palazzo ducale in Mantua (1523). 38 Vgl. Harbison 2012, 109.
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Abb. 6: San Girolamo nello studio, 1. Drittel 16. Jh., Vincenzo Catena, London, National Gallery. Abb. 7: Autorenbild des Livius zu Beginn einer Abschrift von Ab urbe condita, 15. Jh., Biblioteca Capitolare di Verona, Cod. CXXXV (123), Bl. 1r.
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Auch nördlich der Alpen finden sich Auswirkungen des Konzepts der ‚Landschaft auf Abstand‘ im Studierzimmer, jedoch mit zeitlicher Verzögerung und insbesondere unter den neuen Bedingungen der Reformation. Dazu seien abschließend einige Beobachtungen am Beispiel Zürich mitgeteilt. Bei dem vorreformatorischen Zürcher Humanisten Felix Hämmerli erinnert das Arbeitszimmer in seiner topographisch nur schwer nachvollziehbaren Offenheit zur Natur an die Raumgliederung bei Vincenzo Catena und die Öffnung in einen paradiesischen hortus conclusus. In seinem autobiographisch-selbstvergewissernden Dialog passionale,39 der an Petrarcas De remediis utriusque fortunae orientiert ist, spricht der Autor („Felix“) mit der Patientia auch über sein Studierzimmer, das er als studorium bezeichnet. Es ist reich bestückt mit einer beispiellos umfangreichen Bibliothek (quingenti libri, libelli, volumina vel kartaculi notabiliter registrati).40 Hermann Walser fasst die Ausführungen Hämmerlis paraphrasierend zusammen:41 Meine Studierstube bekommt den milden Ostwind zu spüren. Zur guten Jahreszeit weile ich inmitten eines blühenden Gartens. Es ist über und über angehäuft von wertvollen und schönen Sachen, Büchern, einem Schreib-, Lesepult, Drehtischen, gewöhnlichen Tischen, Gemälden, Teppichen, kurz von allem, was zu einer rechten Arbeitsstube eines wissensbeflissenen Mannes gehört. In ganz Deutschland wird niemand unter den Lehrern des Kirchenrechts eine schönere Studierstube besitzen …
Wie Alberti bezeichnet Hämmerli die Öffnung zur Natur als versus orientem […] apertionem pro studorio meo. Sie lässt mit frischer Luft eine paradiesische Natur ein, die wie im Studierzimmer des Hieronymus bei Vincenzo Catena in geringem Abstand als unmittelbar anwesend, nicht als Ausblick präsentiert zu werden scheint. Arbeitsstube und prospectus in den Garten sind eng verbunden, ergänzen die Bücherwelt, bieten Licht und Luft.42 So wird realisiert, was Cicero in einem Brief an Varro schreibt, indem er Garten und Bibliothek verknüpft (fam. 9,4): Si hortum in bibliotheca habes, deerit nihil. Entsprechend teilt Hämmerli unbestimmt die Lage dieses Naturraums mit. Unterhalb des Studierzimmers (infra locum) befinde sich ein offener Bereich (solarium), in dem stets Vogelgezwitscher erfreut (avium generibus dulciter […] ca39 Der Text ist nur handschriftlich erhalten und noch unediert: ZB Ms Car 119, S. 25. Ich verdanke diesen Hinweis Helena Müller (Zürich). 40 Die Passage ist Kapitel 46 (De copia librorum) in Petrarcas De remediis utriusque fortunae ähnlich. 41 Walser 1940, 194. 42 Zu lumen und aer s. Blum 2015, 138–140.
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nentium cum iubilo), das den Raum paradieshaft konnotiert.43 Zweifellos kann der Blick in die Natur nicht mehr als ‚asketischer Rest‘ angesehen werden, sondern Ausdruck höchster voluptas. Daher setzt sich im Zuge der Reformation ein asketischer, spezifisch protestantisch-reformierter Bildtypus des Arbeitszimmers durch, der auf die mittelalterliche Ablehnung der Augenlust als vana vista rekurriert.44 Der italienischen Offenheit wird jetzt eine nordalpine Geschlossenheit hinter Butzenscheiben gegenübergestellt. Dies gilt auch für die Kirchenväter, man denke nur an Albrecht Dürers Bild „Hieronymus im Gehäus“ (1515)! EntspreAbb. 8: Zwingli im Arbeitszimmer, 1605/1606, chend wird auch der Reformator Zentralbibliothek Zürich, Ms B 316, Bl. 231v. Zwingli dargestellt (Abb. 8). Doch will man auch in Zürcher reformierten Kreisen neben aer und lumen ‚Landschaft auf Distanz‘ (prospectus) genießen. Schließlich kann man die Fenster im Musenzimmer auftun. So zeichnet bereits der Zwingli-Nachfolger Heinrich Bullinger in seiner Studiorum ratio zum Thema de loco et habitatione studiorum ein ideales reformiertes Studierzimmer. Er folgt dabei mit der Vorstellung eines licht- und luftdurchfluteten Raums sowohl Vitruv (Vitr. 6,4,1; 5,2) als auch Albertis in De re aedificatoria 5,17 formuliertem Konzept vom Zimmer mit Ausblick (Studiorum ratio 32):45 Eligendus est autem et locus ad studia aptus, qui a turbis et clamoribus sit alienus, siquidem verum est, quod aiunt: Musas gaudere solitudine. Hinc quoque crediderim fabulis proditum esse Musas inhabitare sylvas, montes et virentia prata. Itaque debet studiorum 43 Vgl. z. B. Ms Car 119, S. 26. 44 Die dafür gern zitierte Confessiones-Stelle hatte sich bereits Petrarca selbst bei der Besteigung des Mont Ventoux pflichtschuldigst vorgehalten, als wolle er die Landschaftsvisionen eines Plinius umkehren: Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et Oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt seipsos (Aug. conf. 10, 15). Zur traditionellen Abwertung der voluptas oculorum s. Groh 2003, 293–300. 45 Zitiert nach Bullinger 1987.
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locus situ quoque esse amȩnus ac prospectu ventorumque et aeris proflatu saluberrimus. At intus omnia compta et munda erunt, quȩque suum locum occupabunt; nihil indecore, nihil iacebit dispersum indigne. Es ist aber auch ein Ort zu wählen, der für Studien geeignet ist, der von Unruhe und Lärm geschieden ist, sofern es wahr ist, was man sagt: dass die Musen sich der Einsamkeit freuen. Daher kommt es, möchte man glauben, dass man in den Dichtungen geäußert hat, die Musen bewohnten die Wälder, die Berge und die grünenden Wiesen. So soll der Ort, der den Studien dient, auch seiner Lage und der Aussicht nach angenehm und hinsichtlich der Winde und Luftströmungen gesund sein. Und inwendig soll alles schön geordnet und reinlich sein, alles soll seinen bestimmten Platz innehaben, nichts soll unschicklich, nichts unordentlich da oder dort herumliegen.
Bullinger definiert den Musenraum, das Gelehrtenzimmer. Dabei verknüpft er die Attribute ländlicher Abgeschiedenheit und Ruhe mit der rationellen Ordnung eines städtischen Studierzimmers. Der ‚asketische Rest‘ von Petrarcas studiolo wird eher als Möglichkeit bukolischen Genusses zitiert.
Landschaft ohne Abstand – das Arbeitszimmer als Hütte Grundsätzlich ist zwischen einem offenen und einem geschlossenen Arbeitszimmertyp zu unterscheiden. Von Letzterem war hier nicht die Rede. Offenheit wird in den höchst stilisierten und artifiziellen Darstellungen von Arbeitszimmern meist durch ,Landschaft auf Abstand‘ erzeugt, sei es durch Fensterbilder oder Bilder. Den für einen Gelehrten geringst möglichen Abstand zur Landschaft bietet jedoch die Hütte in der Natur, wie sie erst Martin Heidegger mit seiner „Hütte“ in Todnauberg im Schwarzwald inszeniert, als wolle er Blumenbergs späteres Diktum von der „Bücherwelt als Unnatur“46 kommentieren. Schwarzwaldromantik und persönliche Selbststilisierung verbinden sich in der Vorläufigkeit verkörpernden Hütte, machen den Schwarzwald zum Arbeitsraum des Freiburger Philosophen, seine Arbeit zur petrarchischen Askese in der Natur. Sie ist nun idealisierte Landschaft, kein Hintergrund, sondern Akteur im Spiel der Stilisierung selbstbestimmter geistiger Arbeit.47 46 Blumenberg 2014, 17: „Und gegen Unnatur sind allemal Jugendbewegungen gerichtet. Bis dann wieder die Natur in ihren Büchern steht.“ 47 Als aktuelles Beispiel für Experimente mit Arbeitsräumen in der Natur sei das in spanischen Architektenkreisen entwickelte und breit diskutierte Modell „estudio“ in der Natur des Architektenpaars Selgas und Cano genannt. Der Arbeitsraum ist gleichsam solitär in die Natur ge-
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Einen Blick durchs Fenster seines Arbeitszimmers im letzten Domizil, das ihm zu Heimat geworden ist, wirft Carl Zuckmayer zum Abschluss seiner Autobiographie Als wärs ein Stück von mir ins abendliche Tal und darüber hinaus. Der Lesende hat seinen Blick erhoben, wird mit der ‚Natur auf Abstand‘ plötzlich eins. Er wirkt in sie hinein, wie sie in seine stille Klause:48 Ich schaue aus dem Fenster meines Arbeitszimmers, unter dem Giebel, in die Mondnacht und weiß: Solange ich hier stehe und atmen kann, solange mich keine Unbilden des Alters oder des Zeitgeschehens von hier vertreiben, bin ich ein mächtiger Mann. Mächtiger als die Reichen oder die, welche Macht ausüben. Ich werfe meinen Schatten, Mondschatten, über den Hang, er bedeckt ihn ganz, bis hinüber zur klassischen Pyramide des Almageller Horns – und was mein Schatten bedeckt, ist mein.
Oder, wie es Petrarca an bereits zitierter Stelle sagte (sen. 17,2): „Deshalb suchte ich, wenn alle in den Palast gingen, die Natur auf oder pflegte der Ruhe im Arbeitszimmer zwischen meinen Büchern.“
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Britannia illustrata Die Konzeptualisierung eines vereinten Großbritannien in Landes beschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts Ein zentraler Aspekt des sich in der Neuzeit ausbildenden Konzeptes von Landschaft ist die politische Implikation des Begriffes. „Landschaft“ konnte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit sowohl Menschengruppen als auch konkrete Räume bezeichnen. Eine Landschaft umfasste die Landstände einer bestimmten Region des Hl. Römischen Reiches, also ihre politisch aktiven Bürger, ebenso wie das Gebiet selbst. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff aber immer weniger auf Personengruppen und immer häufiger auf einen Raum angewendet,1 der nun als politische und naturräumliche Einheit und oft auch ästhetisch-anschaulich beschrieben wurde. Durch unterschiedlichste Ausformungen dessen, was als (Reichs-)Patriotismus oder früher Nationalismus beschrieben wurde,2 also durch die Ausdifferenzierung nationaler Identitäten in verschiedenen Teilen Europas, wurde der Naturraum des jeweiligen Landes immer öfter und intensiver thematisiert. Die detaillierte Beschreibung der heimatlichen Landschaft und das Verhältnis des Bürgers zu ihr wurden zu zentralen Themen gelehrter Dispute im Europa des 16. Jhs., im Hl. Römischen Reich ebenso wie im heutigen Großbritannien. Eine literarische Beschreibung des heimatlichen Territoriums mitsamt all seiner Landschaften in ihrer Einzigartigkeit trug zur Vorstellung des Landes bei: Sie konnte einen Beitrag zur Rechtfertigung des Souveräns leisten, räumliche Grenzen ebenso abstecken wie kulturelle und als symbolische Eroberung des Gebietes dienen. Zahlreiche Gelehrte der Frühen Neuzeit bekannten sich zu ihrer Heimat, indem sie ihr in literarischen Werken eine möglichst lange und bedeutende Geschichte ebenso gaben wie eine räumliche Ausdehnung. Da Letztere oft noch nicht genau festgelegt war, entstanden ab dem Jahr 1500 immer mehr topographisch-historische Beschreibungen einzelner Länder aus der Hand meist einheimischer Gelehrter. Sie stellten ihre Heimat als geschlossene Einheit dar, die oft auf natürliche Weise von Flüssen oder Bergen begrenzt wurde, und trugen mit ihren Schriften zur Ausformung einer mit der Landschaft verknüpften politi1 2
Blickle/Lüsebrink/Sieglerschmidt 2008, 542–544. Münkler 1989; gegen Ersteres und für Zweiteres Hirschi 2005; 2012.
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schen Identität bei, die meist wenig mit den realen politischen Gegebenheiten zu tun hatte.3 Aussagekräftige Beispiele bieten mehrere Werke englischer Topographen, in lateinischer und englischer Sprache verfasst. Ihre Autoren stellten ab dem 16. Jh. ihre Heimat nicht nur auf eine historische, sondern auch auf eine landschaftliche Basis und beschrieben sie einem Publikum, das wenig über das eigene Land und dessen Landschaft zu wissen schien. Damit trugen sie nicht nur zum Herrschaftsanspruch der englischen Krone bei, der sie sich durchwegs verpflichtet fühlten, sondern auch zur Formierung einer Vorstellung dessen, was die britische ‚Nation‘ ausmachte.4
Inspiration vom Kontinent – Italia und Germania illustrata Inspiriert wurden die englischen Landesbeschreibungen von Entwicklungen auf dem europäischen Festland. In den deutschsprachigen Gebieten des Hl. Römischen Reiches war die Entdeckung des eigenen Landes und dessen literarische Beschreibung bereits um 1500 geschehen. Auch hier war den Gelehrten daran gelegen, das Land seinen Bewohnern zu präsentieren und es von anderen Ländern und ihren Einwohnern abzugrenzen. Eine zentrale Triebkraft dieser Entwicklung waren die Fortschritte auf dem Gebiet der Geographie. Die antiken Autoritäten, allen voran die Geographie des Ptolemaios, wurden im Laufe des 15. Jhs. vielfach gedruckt und so einem breiteren Kreis zugänglich gemacht. Besonders die Entdeckung der Neuen Welt machte die Gelehrten allerdings darauf aufmerksam, dass die klassischen Texte die Welt nicht mehr akkurat erklären konnten. Zu viele Informationen der Entdeckerberichte stimmten nicht mit den Beschreibungen antiker Geographen überein. So wurden die antiken Schriften reich kommentiert, korrigiert, um neues Material erweitert und mit modernen Weltkarten versehen.5 Die aufstrebende Kartographie bot generell eine neue Perspektive auf das Land. Der genaue Standort von Bergen, Städten und Dörfern, der Verlauf von Flüssen, die Ausdehnung von Wäldern und Fluren sollten ausgemacht und dokumentiert werden. Voraussetzung für die Einheit eines Landes schien die genaue Kenntnis seiner Geographie zu sein.6 Für die Humanisten kam ein weiterer Aspekt hinzu: Die Anbindung an die Antike, auch auf dem Gebiet der Geographie.
3 4 5 6
Strauss 1958, 87. Parry 1995, 1–21. Strauss 1958, 87–92; Fritscher 2000, 123; vgl. Grafton 1992. Strauss 1958, 87.
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So stellte die Identifizierung und Lokalisierung römischer Ortsnamen und anderer Geographika mit zeitgenössischen Landschaftsmerkmalen ein großes Desiderat dar.7 Das große Vorbild für topographische Landesbeschreibungen kam aus Italien. Schon im Laufe des 15. Jhs. finden sich hier Bemühungen um eine detaillierte Landesbeschreibung, die auch Landschaftsbeschreibungen inkludiert. Das berühmteste und einflussreichste Ergebnis dieser Versuche ist die Italia illustrata („Beschreibung Italiens“) des Humanisten Flavio Biondo (1392–1463), die erste historische Topographie Italiens, die 1474 in Rom erschien. Ihre Form, die Beschreibung des Landes als Tour durch seine verschiedenen Regionen, wobei nicht nur seine Geographie, sondern auch seine Geschichte dargestellt und berühmte Einwohner genannt wurden, sollte richtungsweisend werden für spätere Landesbeschreibungen, in den deutschsprachigen Ländern ebenso wie in Britannien.8 So entwarf etwa in den 1490er-Jahren der deutsche Humanist Konrad Celtis (1459–1508) das Projekt einer Germania illustrata („Beschreibung der deutschen Länder“), das von ihm selbst nur begonnen, von anderen Humanisten weitergeführt, aber niemals vollständig umgesetzt wurde.9 Mehrere Schweizer Gelehrte machten sich an eine topographische Beschreibung ihrer Heimat, wobei sie den augenscheinlichsten Naturraum, die Alpen, zumeist in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellten.10 Eine geeignete Form, ein Land topographisch und historisch zu beschreiben, bot das Genre der Chorographie. Hierbei handelt es sich um die detaillierte Schilderung eines klar abgegrenzten Gebietes, die unterschiedlichste Fakten darüber bietet, neben geographischen Merkmalen auch Informationen zu Geschichte, Namenskunde, Genealogie der mächtigsten Familien, römischen Altertümern und ähnlichen Artefakten.11 Die Chorographie unterscheide sich darin von der Geographie, so meinten die Zeitgenossen, dass Letztere eine Lokalisierung und Beschreibung einer großen Region unter globaler Perspektive anstrebe, während die Chorographie ein bestimmtes Gebiet auswähle, das in all seinen Facetten detailliert dargestellt werden solle.12 Dabei wollten die Chorographen nicht nur schon vorhandene Informationen aus unterschiedlichen Werken kompilieren, sondern etwas 7 8
Levy 1964, 87–88; 91–96; Kunst 1994, 36–45; Parry 1995, 29–30; Richardson 2004, 117. Zu Biondos Werk s. Mazzocco 1985; Mazzocco/Laureys 2016; vgl. Strauss 1958, 87–88; Levy 1964, 75–76. 9 Zum Traum der Germania illustrata s. Strauss 1985; Muhlack 2002. 10 S. zu dieser Entwicklung Stettler 2004; Korenjak 2012. 11 Strauss 1958, 87–101; Levy 1964, 75. 12 So definiert es Joachim Vadian in seiner Ausgabe von Pomponius Melas Cosmographia von 1522, Bl. b1r–b2r, s. Strauss 1958, 98–101; Kunst 1994, 57–66.
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Neues bieten: Der innovative Charakter der Schriften kam meist durch eigene Anschauung zustande. Viele Chorographen bereisten die von ihnen beschriebenen Gebiete und sammelten vor Ort Informationen, ließen sich solche von lokalen Gelehrten geben und setzten sich anschließend noch einmal mit den Autoritäten auseinander.13 Empirie, die Tugend der sich zu dieser Zeit entwickelnden modernen Wissenschaften, war also auch entscheidend für die Landesbeschreibung.
Britannia illustrata – Der Weg zur englischen Landesbeschreibung Mitte des 16. Jhs. kamen auch in England Bemühungen um die Beschreibung und damit Entdeckung des Landes auf. Die in der Forschung so bezeichnete „Discovery of England“ wurde von der Königsdynastie der Tudors forciert.14 Elisabeth I., die 1558 den englischen Thron bestieg, förderte in ihrer 45-jährigen Regentschaft diverse Projekte der Landesbeschreibung.15 Dies spiegelt das Bestreben der englischen Krone wider, ein vereintes Britannien zu schaffen, das als mächtiges Empire in die Neue Welt expandieren sollte. Elisabeth hatte nach einem Jahrzehnt der innenpolitischen Krise und Instabilität den Thron bestiegen und war deshalb bestrebt, ihr Land innen- wie außenpolitisch zu festigen.16 Nach ihrem Tod gelang es der neuen Königsdynastie der Stuarts mit König Jakob I., England, Wales, Irland und Schottland unter einer Herrschaft zu vereinen. Das neu geschaffene Britannien hatte umso mehr Bedarf nach einer historischen Rechtfertigung, die Landschaft und Land kombinierte. Zu diesem Zweck dienten Jakob I. z. T. dieselben Texte, die schon von Elisabeth dafür instrumentalisiert worden waren. Vorbilder und zugleich Konkurrenten waren für beide englischen Herrscher die Kaiser des Hl. Römischen Reiches. Eine Landesbeschreibung, welche die Einheit und Macht des Landes präsentierte, aber auch den Anschluss der englischen Krone an den europäischen Kontinent zeigte, war ein wichtiger Baustein dieses Bestrebens.17 Es waren also sowohl Impulse vom Kontinent als auch Triebkräfte von innen, die von den englischen Topographen aufgenommen wurden. Einen Antrieb hatte es in dieser Form auf dem Festland nicht gegeben: die plötzliche Schaffung einer mit der weltlichen Herrschaft verbundenen Nationalkirche durch Heinrich VIII. 13 14 15 16
Strauss 1958, 94–96. So machte es auch William Camden (s.u.), vgl. Richardson 2004, 117–118. S. Levy 1964, 76–77; Rowse 2003, 49–86. Helgerson 1992; Kunst 1994, 12–13; Uhlig 1996. Die zwei Jahrzehnte zwischen 1545 und 1565 werden als „Mid-Tudor Crisis“ bezeichnet und sind von sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Umwälzungen geprägt, vgl. Loades 1992; Kunst 1994, 11. 17 Levy 1964, 81; Parry 1995, 1–21.
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Die Geschichte der englischen Kirche rückte dadurch noch enger in Zusammenhang mit der Vorstellung einer britischen Nation. Durch die Loslösung der anglikanischen Kirche von Rom wurde diese unmittelbar an die englische Krone gebunden. Als Rechtfertigung dieses Schrittes wurden Unternehmungen gestartet, die Kirche in Britannien als schon immer unabhängig von der übrigen katholischen Welt darzustellen.18 Eine Beschreibung Britanniens musste demnach in diesem Netz verschiedener, z. T. widersprüchlicher politischer und kultureller Intentionen angesiedelt sein: Sie sollte zum einen die Anbindung Britanniens an das kulturelle Erbe der Antike zeigen – was dadurch geschehen konnte, dass nun die Rolle der Provinz Britannia stärker betont wurde als etwa die angelsächsische Geschichte; zum anderen sollte sie dem Staat einen Platz in der Welt zuweisen, der dem des Hl. Römischen Reiches zumindest ebenbürtig war, aber gleichzeitig diesen Staat mit seiner autonomen Nationalkirche auch von der römisch-katholischen Kirche und ihren Anhängern absetzen. Im Laufe des 16. Jhs. trugen die Bemühungen zur Landesbeschreibung mehrere Früchte: Am Beginn der englischen Entdeckung der Heimat steht John Leland (1506–1552). Laut seinen Aufzeichnungen hatte er vor, mehrere Werke über seine Heimat zu verfassen: eine Topographie Britanniens, ein Werk zur Identifizierung englischer Ortsnamen mit denen der klassischen Texte, eine Chorographie Britanniens nach Grafschaften geordnet, eine Beschreibung der verschiedenen britischen Inseln sowie eine Schrift über die adligen Familien des Landes. Zu diesem Zweck unternahm er ausgedehnte Reisen, hinterließ eine Unmenge handschriftlicher Notizen, stellte allerdings keines der geplanten Werke fertig.19 Seine Aufzeichnungen wurden aber maßgeblich für die Entstehung anderer topographischer Werke.20 William Lambarde (1536–1601)21 fasste ursprünglich den Plan einer chorographischen Beschreibung ganz Britanniens. Von diesem Vorhaben ließ er allerdings ab – nachdem er erfahren hatte, dass ein anderer ebenfalls daran arbeitete22 – und veröffentlichte 1576 eine Darstellung nur einer Grafschaft, A Perambulation of Kent. Bei dem Werk handelt es sich um die erste umfassende Beschreibung einer
18 Levy 1964, 80–81; Kunst 1994, 15–18, 85–88. 19 Die erste gedruckte Ausgabe von Lelands Itinerary realisierte Thomas Hearne in neun Bänden in den Jahren 1744–1745. Ein weiterer Teil der Notizen wurde 1770 ebenfalls von Hearne in sechs Bänden als Collectanea herausgegeben. 20 Kendrick 1950, 45–64; Levy 1964, 77. 21 Zu ihm s. Warnicke 1973. 22 William Camden (s. u.) war ein Freund von Lambarde und sandte ihm sein noch unveröffentlichtes Manuskript der Britannia, s. Richardson 2004, 118.
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englischen Grafschaft.23 Ein zentraler Aspekt der britischen Landesbeschreibungen wird schon im Titel dieses Werkes offenbar: die Reise durch das beschriebene Land, die Autopsie des Geschilderten und anschließende Darstellung für die Leser. Ein Jahr später gab der Geistliche William Harrison (1534–1593) eine Topo graphie Englands heraus, die Description of England auf 250 Seiten, die als Teil eines größeren Projekts zur Darstellung der Geographie und Geschichte Englands, Irlands und Schottlands erschien. Harrisons Beschreibung stützte sich neben antiken Autoritäten besonders auf die Notizen Lelands.24
William Camden und die Britannia Neun Jahre nach Harrisons Veröffentlichung folgte die einflussreichste Landesbeschreibung Britanniens. Ihr Autor, Willam Camden (1551–1623),25 der zum wichtigsten englischen Topographen und Historiker seiner Zeit werden sollte,26 kam nach seiner Schulzeit in London im Jahr 1566 an die Universität Oxford. Dort lernte er Lehrer und Kommilitonen kennen, die zu den großen Namen auf dem Gebiet der Politik, der Wissenschaften, aber auch der Dichtung werden sollten. So freundete er sich mit dem Dichter Philip Sidney (1554–1586)27 ebenso an wie mit dem späteren Politiker Sir Robert Cotton (1570–1631),28 eine Verbindung, die ihm nicht nur einen Austausch mit gelehrten Kreisen in Großbritannien und auf dem europäischen Festland ermöglichte, sondern auch Zugang zur hervorragend ausgestatteten Bibliothek Cottons.29 Nachdem Camden Oxford verlassen hatte, reiste er einige Jahre durch England und Wales. Zu seinen Aufenthaltsorten und Routen liegen uns nur spärliche Informationen vor. Im Jahre 1577 wurde er als Lehrer an die Westminster School in London berufen und arbeitete dort in den folgenden zwanzig Jahren.30 Diese Anstellung verschaffte ihm nicht nur ein gesichertes Auskommen, er hatte hier auch Zugang zu zahlreichen Quellen zur Geschichte seiner Heimat.31 23 Levy 1964, 78. 24 Levy 1964, 77. Zur Beziehung von Harrisons Werk zu Camdens Britannia vgl. Herendeen 2007, 230–235. 25 Zu ihm s. Parry 1995, 22–48; Herendeen 2007. 26 John Hale nennt ihn „the greatest practitioner of History of his age“, s. Hale 1967, 16; vgl. Richardson 2004, 112. 27 Levy 1964, 83; Kunst 1994, 19–20. 28 Zu seiner antiquarischen Tätigkeit s. Parry 1995, 70–94. 29 Richardson 2004, 117, 120. 30 Herendeen 2007, 91–111. 31 Richardson 2004, 109.
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Eine Beschreibung dieser Heimat hatte Camden wohl schon seit seinen Studienjahren in Oxford geplant.32 Auf seinen Reisen hatte er unzählige Notizen über das Land gesammelt, nicht nur über seine Geographie: Ein spezielles Interesse des Gelehrten galt zeitlebens der Identifizierung römischer Ortsnamen in Britannien mit zeitgenössischen englischen Bezeichnungen.33 Das Vorhaben einer detaillierten Landesbeschreibung wurde nicht nur von Vertrauten der englischen Krone unterstützt,34 sondern auch vom europäischen Festland, wo Landesbeschreibungen schon eine längere Tradition hatten. Über die Vermittlung eines ehemaligen Studienkollegen lernte Camden im Jahre 1577 den flämischen Geographen Abraham Ortelius kennen, den Autor des einflussreichen Kartenwerkes Theatrum orbis terrarum („Schauplatz des Erdkreises“; Antwerpen 1570). Schon seit längerer Zeit war dieser auf der Suche nach jemandem gewesen, der eine englische Landesbeschreibung erstellen und ihn dadurch bei seiner eigenen kartographischen Darstellung Britanniens ebenso wie bei seinem Sammelwerk geographischer Ortsnamen (Thesaurus geographicus) unterstützen könnte.35 Ortelius legte Camden sogleich nahe, eine historisch-topographische Darstellung Britanniens zu verfassen, wie dem Widmungsbrief von Camdens Werk zu entnehmen ist (Camden 1586, Bl. A2r–A2v): Annus iam agitur decimus […] cum eximius veteris geographiae restaurator Abrahamus Ortelius mecum pluribus egit ut Britanniam nostram antiquam illam illustrarem: hoc est, ut Britanniae antiquitatem et suae antiquitati Britanniam restituerem, ut vetustis novitatem, obscuris lucem, dubiis fidem adderem, et ut veritatem in rebus nostris, quam vel scriptorum securitas vel vulgi credulitas proscripserunt, quoad fieri posset, postliminio revocarem. Wir schreiben bereits das zehnte Jahr […], seit Abraham Ortelius, der vortreffliche Erneuerer der antiken Geographie, mich mehrfach aufforderte, dieses unser ehrwürdiges Britannien zu präsentieren: das heißt, Britannien seine Vergangenheit und seiner Vergangenheit Britannien zurückzugeben, den Altertümern Erneuerung zu geben, das in Vergessenheit Geratene zu beleuchten, Zweifelhaftem Gewissheit zu schenken und die Wahrheit über unser Land, die entweder die Sorglosigkeit der 32 Levy 1964, 82. 33 Dies lässt sich aus den parallel zur Arbeit an der Britannia entstandenen Notizen ersehen, die erstmals 1605 in London als Remaines of a greater work concerning Britain erschienen, s. Richardson 2004, 117; vgl. Parry 1995, 29–30. 34 Camden widmete die erste Fassung seinem Gönner William Cecil, einem Vertrauten Königin Elisabeths, s. Richardson 2004, 109, 111. 35 Levy 1964, 87–88; Kunst 1994, 31–36; Parry 1995, 22–23.
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Autoren oder die Leichtgläubigkeit der Masse geächtet hatte, soweit möglich wieder zurückzurufen.
Camden erfüllte den Wunsch des Geographen Ortelius 1586, neun Jahre nach ihrem Treffen in London, mit seiner Britannia sive florentissimorum regnorum Angliae, Scotiae, Hiberniae et insularum adiacentium ex intima antiquitate chorographica descriptio („Britannien oder chorographische Beschreibung der blühenden Königreiche von England, Schottland, Irland und der umliegenden Inseln seit ihrer tiefsten Vergangenheit“). Dies ist das Werk, durch das Camden in den Augen der Nachfahren zum „first ‚chorographer‘ of England“36 werden sollte. Er präsentierte damit eine Beschreibung „of the present state of Britain as a nation with a classical past“.37 Große Teile des Werkes beschäftigten sich darum mit der Geschichte der römischen Provinz Britannia, mit Artefakten aus dieser Zeit, Ruinen, Münzen und ähnlichen Hinterlassenschaften.38 Im Aufbau des Textes spiegeln sich die mehrfachen Zielsetzungen Camdens wider. Er vereinte den Plan Lelands, mehrere Werke über seine Heimat zu verfassen, zu einer umfassenden Landesbeschreibung, die all das enthalten sollte, was Leland in insgesamt fünf Werken darstellen wollte: die Topographie Britanniens, die Identifizierung englischer Ortsnamen mit den aus klassischen Texten bekannten, die detaillierte chorographische Beschreibung Britanniens nach Grafschaften inklusive der Inseln und die Präsentation seiner edelsten Familien. Ein allgemeiner Teil der Britannia thematisierte das Land als Ganzes, seinen Namen, seine Geschichte, Artefakte wie Ruinen, Inschriften, Münzen u. v. m. (Camden 1586, 1–51). Auf diesen ersten Abschnitt folgte ein zweiter, ungleich längerer Teil, in dem die Landesregionen einzeln beschrieben wurden: England und Wales, Schottland, Irland und die Inseln (52–556). Die Gliederung erfolgte dabei nach der naturräumlichen Aufteilung des Landes und seiner Einwohner. Eine politische Einteilung, so Camden, sei zwar durchaus anzustreben, er traue sich allerdings nicht zu, eine solche fehlerfrei anzuwenden (52). Konkret bedeutet dies, dass er sich innerhalb der Beschreibung der Landesteile von Süden nach Norden vorarbeitete.39 Die einzelnen Regionen ordnete er nach den dort in der Antike angesiedelten Völkerschaften und beschrieb innerhalb dieser jeweils die zu seiner Zeit existierenden Grafschaften in alphabetischer Reihen36 Trevor-Roper 1985, 121. 37 Herendeen 2007, 199. 38 Die angelsächsische Geschichte nimmt dagegen nur geringen Raum ein. Im Gegensatz dazu hatte sich William Lambarde (s. o.) hier besonders hervorgetan, s. Levy 1964, 78; Warnicke 1973, 23–36. 39 Als Orientierung diente ihm das Itinerarium Antonini aus dem 3. Jh., von dem er sich Kopien von Ortelius erbeten hatte, s. Levy 1964, 88.
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folge.40 So begann er die Descriptio Angliae et Walliae („Beschreibung von England und Wales“) mit den Danmonii im Südwesten Englands und präsentierte dort die Grafschaften Cornwall und Denshire/Devon (67–88), ging dann zu den Durotriges über und beschrieb Dorsetshire (89–96), schritt zu den Belgae in Somersetshire, Wiltshire und Hantshire/Hampshire fort (97–136) etc. Camden schilderte also die Geschichte, Geographie, die Sprache, die Altertümer seiner Heimat u. v. m. und lieferte seinem Publikum damit etwas zum großen Teil Unbekanntes. Während die Abschnitte über die englische Historie noch aus zahlreichen anderen Autoren bekannt waren,41 war insbesondere die detaillierte Darstellung der verschiedenen Teile Britanniens im wahrsten Sinne des Wortes ‚Neuland‘ für die meisten seiner Leser. Camden richtete sein lateinisches Werk dabei zum einen an ein dezidiert humanistisch gebildetes Publikum, die Gelehrten West- und Mitteleuropas, mit denen er sich schon Jahre zuvor über die Topographie Englands ausgetauscht hatte und denen er sein Land als den ihrigen ebenbürtig präsentieren wollte.42 Das Hl. Römische Reich stand nicht nur in kultureller Hinsicht in Konkurrenz zum elisabethanischen England, sondern auch in politischer und wirtschaftlicher. Die Ausdehnung des englischen Herrschaftsbereiches in die Neue Welt, die in dieser Zeit forciert wurde, und die Beanspruchung damit zusammenhängender wirtschaftlicher Interessen mussten gerechtfertigt werden. Dazu trug Camdens Werk ebenfalls bei.43 Zum anderen gehörten zu seinen intendierten Lesern auch seine Landsleute, denen er die gemeinsame Heimat als eine altehrwürdige Nation beschreiben wollte. Mit den zahlreichen Entdeckungen der Neuen Welt und wenig bekannter Teile des asiatischen Kontinents kamen immer mehr literarische Beschreibungen dieser Gebiete in Umlauf. Während die englischen Gelehrten so die Möglichkeit hatten, sich über die entlegensten Teile der Erde zu informieren, hatte es an einer Beschreibung der eigenen Heimat noch gefehlt.44 An seine Leser schreibt Camden aber auch, für wen er sein Werk nicht verfasst habe (Camden 1586, Lectori, Bl. A4v): Si qui vero sint, qui in urbe sua hospites, in patria sua peregrini, et in cognitione semper pueri esse velint, […] non ego illis haec conscribo, non illis vigilo. („Sollte es aber Leute geben, die in ihrer eigenen Stadt Gäste, in ihrer eigenen Heimat Fremde und in ihrer Kenntnis immerzu Kinder sein wollen, […] so stelle ich dies nicht für jene zusammen, wache nicht für jene.“) 40 Richardson 2004, 115. 41 Levy 1964, 71–74. 42 Aus der Korrespondenz mit Ortelius geht hervor, dass dieser Vorbereitungen traf, das vollendete Werk in Antwerpen drucken zu lassen, s. Levy 1964, 88–89. 43 Levy 1964, 89 meint zur Hauptintention Camdens: „the whole volume is a monument to England.“ S. auch Kunst 1994, 78–85. 44 Benedict 2001, 11–12; Campbell 2004, 25–50.
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Landschaft in der Britannia Landschaftsdarstellungen spielen in Camdens Werk auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle: Zum einen präsentiert er die einzelnen Landesteile als eine Einheit – zu einer Zeit, als sie noch keine politische Einheit waren –, mit dem Ozean, Bergen und Flussläufen als natürlichen Grenzen. Diese Einheit, so suggeriert die Britannia, habe nicht erst seit dem Herrschaftsbeginn der Königsdynastie der Tudors oder überhaupt der englischen Krone bestanden, sondern reiche weit darüber hinaus bis vor die römische Eroberung. Mit der eigenwilligen Gliederung seiner Beschreibung will Camden zeigen, dass sich die Einteilung des Landes seit damals nicht wesentlich verändert habe, sondern nur die Bezeichnungen sich gewandelt haben. Außerdem kann Britannien sich damit auf das Römische Reich als Vorläufer berufen und sich dem Hl. Römischen Reich auf dem Kontinent als ebenbürtig präsentieren.45 Zum anderen spielen Landschaftsbeschreibungen im zweiten, chorographischen Abschnitt der Britannia eine wesentliche Rolle. Hier möchte Camden seinen Lesern nicht nur historische, politische, kulturelle Fakten zu einzelnen Orten und Gebieten der Heimat liefern. Die Intention der zeitgenössischen Chorographie ist eine andere: Sie soll das Gebiet so detailliert beschreiben, dass es dem Leser wie ein Gemälde vorkommt, sozusagen die geschriebene Form der Landschaftsmalerei sein.46 Den Lesern soll die Möglichkeit geboten werden, das Gebiet wahrzunehmen, als kennten sie es aus eigener Anschauung. Damit ist ein wichtiger Aspekt der modernen Vorstellung von Landschaft gegeben: die Perspektive eines Betrachters, der eine Landschaft durch seine Wahrnehmung erst zu einer solchen macht.47 Die Erfahrung des Autors wird so zu der des Lesers. Camdens Leser begaben sich mit ihm auf eine Reise durch Britannien, ihnen wurden durch Vermittlung des Autors zahlreiche Einzellandschaften ihrer Heimat vor Augen geführt. Die Mehrheit solcher Landschaftsbeschreibungen sind Aussichten von einem erhöhten Standpunkt auf das Umland. So beschreibt Camden im Abschnitt über Somersetshire die wundervolle Aussicht von einem Hügel in der Nähe der Stadt Bristol (Camden 1607, 170): Ultro Fromum flumen […] in aeditiorem collem difficili clivo oblique ascenditur, unde gratissimus in subiectam urbem et portum patet prospectus.48 Hic in summitate statim in 45 S. zu Camdens Britannia als Nationalgeschichte Kunst 1994, 89–99; vgl. Herendeen 2007, 265– 277. 46 So schon Ptolemaios (Geographie 1,1); vgl. Strauss 1958, 97; Levy 1964, 74–76. 47 S. etwa Simmel 1913; Cosgrove 1985. Einen Überblick über die Entwicklung des Landschaftsbegriffs bietet Trepl 2012. 48 Das Wort prospectus kann als eine Bezeichnung für Landschaft im Lateinischen angesehen wer-
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amplam et viridem planitiem aequatur, quae medio duplici arborum ordine obumbratur inter quas pulpitum e saxo et sacellum in quo Iordanum socium Augustini apostoli Anglorum conditum ferunt. Jenseits des Flusses Frome […] steigt man in schwierigem, steilem Anstieg hinauf auf einen hoch emporragenden Hügel, von wo aus sich ein wundervoller Ausblick auf die darunter liegende Stadt und den Hafen eröffnet. Hier auf dem Gipfel erstreckt sich der Hügel in einer weiten grünen Ebene, die in der Mitte durch eine Doppelreihe von Bäumen beschattet wird, zwischen denen ein Steingerüst steht und eine Kapelle, in der, so heißt es, Jordanus begraben liegt, der Begleiter des Augustinus, des Apostels der Angelsachsen.
Camden bereiste große Teile des von ihm beschriebenen Landes49 und man merkt seiner Darstellung an, welche Gebiete er selbst nicht kannte und welche für ihn und seine Beschreibung der Heimat eine untergeordnete Rolle spielten. So handelt er die Grafschaften der englischen Midlands und des Nordens meist auf weniger als fünf Seiten ab,50 während die südlichen Gebiete ungleich mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Die Entwicklung der Britannia Zeigte die Erstauflage der Britannia aus dem Jahre 1586 der Leserschaft bereits Britannien als eine Einheit, eine Nation mit einer eindrucksvollen Geschichte und erstaunlichen Landschaften, und trug somit zur Formierung einer klaren Vorstellung der britischen Nation bei, so gilt dies umso mehr für die weitere Entwicklung des Werkes. Die erste Auflage der Britannia war noch weit entfernt von dem Format, zu dem sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte anwachsen sollte: eine Oktavoausgabe mit 556 Seiten Text, ohne Illustrationen.51 Allein in England entstanden bis zu Camdens Tod im Jahre 1623 sechs weitere lateinische Auflagen. 1610 kam die erste englische Übersetzung des Werkes von Philemon Holland in Druck.52 Auch
den, s. dazu den Beitrag von William Barton in diesem Band. 49 Richardson 2004, 116–117. 50 Etwa Nottinghamshire und Derbyshire (Camden 1586, 308–312 bzw. 312–315); vgl. Richardson 2004, 115–116. 51 Vgl. Levy 1964, 70: „the little volume was emphatically not one of the triumphs of Elizabethan book-making“. 52 Holland 1610; vgl. Levy 1964, 70; Richardson 2004, 113.
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auf dem Kontinent wurde die Britannia mehrfach herausgegeben.53 Die lateinische Ausgabe von 1607 wurde in Folio gedruckt und mit detailliertem Kartenmaterial von John Norden und Christopher Saxton ausgestattet.54 Die Veranschaulichung des britischen Landes wurde damit um ein zusätzliches Medium erweitert. 1695 gab Edmund Gibson eine aktualisierte Ausgabe der Britannia heraus, die um einen großen Teil des Wissens über das Land erweitert wurde, das in den 109 Jahren seit der Erstausgabe von Camdens Werk zusammengetragen worden war.55 Auch im 18. und 19. Jh. entstanden um zusätzliches Material erweiterte englische Ausgaben.56 In den 21 Jahren zwischen dem Erstdruck und der letzten lateinischen Ausgabe von 1607 war die Britannia von 556 Seiten im Kleinformat auf 860 Folioseiten angewachsen. Betrachtet man die Veränderungen des Werkes, so scheint es, als hätte Camden mit seiner Erstausgabe Britannien als Ganzes, die Etymologie seines Namens, seine Geschichte, die früheren Einwohner, Traditionen und Gesetze bereits zur Zufriedenheit seines Publikums beschrieben, während die chorographische Darstellung der ‚Einzellandschaften‘ v. a. in den Augen zahlreicher Landsleute noch diverser Verbesserungen und Ergänzungen bedurfte. Einige Gelehrte schickten Camden Kritik, Verbesserungsvorschläge oder einfach zusätzliche Informationen über die von ihm beschriebenen Gebiete.57 Zusammen mit Erfahrungen, die Camden auf weiteren Reisen durch seine Heimat sammelte,58 wurde die Darstellung der einzelnen Regionen in seiner Britannia so immer detaillierter. Auffällig ist dabei das Anwachsen von Landschaftsdarstellungen im oben beschriebenen Sinn, von durch die Perspektive eines Betrachters geformten und allem Anschein nach zweckfreien Ausschnitten des Landes – auch die oben zitierte Stelle kommt in dieser Form in der Erstausgabe nicht vor, sondern wurde später ausgestaltet. Die Entwicklung des Werkes ist auch vor dem Hintergrund der politischen und sozio-kulturellen Veränderungen am Übergang vom 16. zum 17. Jh. in England zu betrachten. Dass Camden sich dem Königshaus eng verbunden fühlte, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er ein Geschichtswerk über die Regierung Elisabeths I. verfasste.59 Das Ende ihrer Herrschaft im Jahr 1603 brachte nicht 53 54 55 56
In Frankfurt a.M. 1590 sowie ebendort in zwei Bänden 1616; vgl. Richardson 2004, 113. Herendeen 2007, 266. Gibson 1695; s. dazu Parry 1995, 331–357; Richardson 2004, 113. Eine dreibändige Ausgabe in Folio gab Richard Gough 1789 heraus. Vier Bände hatte gar die zweite Edition von Gough, die 1806 erschien; vgl. Richardson 2004, 113. 57 Vgl. etwa die Kritik des französischen Gelehrten Peiresc, s. Kunst 1994, 23, oder die harsche Polemik von Camdens Konkurrenten Ralph Brooke, Kunst 1994, 25–28; Richardson 2004, 109; Herendeen 2007, 191–193. 58 Levy 1964, 94–95. 59 Camden 1615–1627.
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nur eine neue Dynastie auf den englischen Thron, sondern auch völlig veränderte geographische Gegebenheiten: Jakob I. trug nicht nur die englische, sondern auch die schottische Krone. Camdens Britannia als vermeintlich unpolitische Landesbeschreibung, die ihr Konzept des Landes auf eine naturräumliche und ethnische Basis stellte, kam dem neuen Herrscher für die historische Rechtfertigung dieser neuen politischen Situation entgegen.60 Camden widmete ihm denn auch die neue, prachtvolle und erweiterte Ausgabe von 1607, wobei v. a. die Beschreibung von Schottland bedeutend länger ausfiel als in den früheren Drucken. Hatte diese in der ersten Ausgabe nur neun Seiten gefüllt (Camden 1586, 477–485), so widmete ihr Camden 1607 nun 42 Folioseiten (Camden 1607, 677–718). So wurde das Werk auch unter der Dynastie der Stuarts erfolgreich.61
Ausblick und Fazit In den folgenden Jahrzehnten inspirierte die Britannia mehrere Autoren dazu, sie durch eigene Werke zu ergänzen. So gab etwa John Speed im Jahre 1611 ein umfassendes Kartenwerk Britanniens heraus,62 chorographische Beschreibungen einzelner Grafschaften erschienen.63 Aber auch die Dichter der Generation nach Camden machten sich an die Beschreibung des Landes, so etwa Michael Drayton (1563–1631), der Britannien als Einheit in seinem 1612 bzw. 1622 erschienenen Poly-Olbion in 30 Gedichten in englischer Sprache besang.64 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass inspiriert von Entwicklungen am Kontinent und Umbrüchen im Land selbst englische Gelehrte ab der Mitte des 16. Jhs. bestrebt waren, das Konzept eines vereinten Britannien durch dessen detaillierte literarische Beschreibung zu konturieren. Damit kamen sie den politischen Interessen des Königshauses entgegen, befriedigten aber auch ein Bedürfnis der gelehrten Elite. Besonders William Camdens Britannia stellte in ihren verschiedenen Versionen die politische Identität des Landes neben einer historischen auch auf eine landschaftliche Basis und prägte damit die Vorstellung von seinem Hei-
60 Zur Instrumentalisierung des Britannienbildes durch Heinrich VIII., Elisabeth I. und Jakob I. vgl. Kunst 1994, 147–170. 61 Auch Camdens Annales dienten dem neuen König Jakob, indem sie die Kontinuität seiner Herrschaft mit der seiner Vorgängerin Elisabeth zeigen sollten, vgl. Richardson 2004, 111. Zur Druckgeschichte der Britannia s. Richardson 2004, 113–115. 62 The Theatre of the Empire of Great Britaine, London 1610. 63 Parry 1995, 43, 49–357. 64 Hadfield 2000.
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matland nachhaltig mit.65 Die Konzeptualisierung eines vereinten Britannien seit der Zeit des Römischen Reiches, also sozusagen seit jeher, unterstrich die Anbindung des Inselstaates an den europäischen Kontinent. Dies sollte sich Ende des 17. Jhs. ändern, als das Konzept Britannien von dem des British Empire abgelöst wurde, zu dessen wichtigsten Charakteristika die Abgrenzung vom Kontinent zählte.66
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William M. Barton
Der Landschaftsbegriff in der neulateinischen Literatur
Zu Beginn einer 2011 erschienenen, der Landschaft im Mittelalter gewidmeten Sonderausgabe der Zeitschrift Das Mittelalter formuliert Jens Pfeiffer eine detaillierte Kritik an modernen philosophischen Ansätzen zum Konzept der Landschaft und an älteren Vorstellungen, auf denen diese, wie er behauptet, beruhen.1 Pfeiffers Beitrag attackiert primär die Vorstellung, die Idee der Natur als Landschaft gehöre sowohl auf der Ebene des Diskurses als auch als geistiges Phänomen ausschließlich der Neuzeit. Außerdem plädiert er dafür, „die selbstverständlich unleugbaren Veränderungen von der der idealistischen Philosophie entstammenden Begrifflichkeit freizuhalten, die zumindest in dieser Hinsicht eher verdeckend als entdeckend zu sein scheint.“2 Er sieht die vorrangige Aufgabe der Literaturwissenschaft im Landschaftsdiskurs darin, „den Zeitpunkt festzumachen, zu dem sich diese [Landschaft] von ihrer Funktion (sicherlich immer besser und genauer gestalteter), Hintergrund zu sein, emanzipiert und eigenständigen Wert gewinnt.“3 Für den Literaturwissenschaftler führt der Weg zu diesem Ziel über die detaillierte Auseinandersetzung mit Primärquellen aus der späten Renaissance und der frühen Neuzeit. Nur auf diese Weise ist es möglich, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem ein Bewusstsein für Landschaft zu einer der grundlegenden Arten menschlicher Begegnung mit der Natur wurde. Dabei muss jedoch ein beachtliches Hindernis überwunden werden: Wenn Pfeiffer und die große Mehrheit der Theoretiker, die das Thema behandelt haben, recht haben, so fehlt der lateinischen Sprache ein Begriff, der dem modernen Wort „Landschaft“ genau entspricht. Der Begriff, den wir heute selbstverständlich verwenden, stand dem Menschen der römischen Antike schlicht nicht zur Verfügung.4 Latein war aber über den gesam1 2 3
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Pfeiffer 2011, 11–30. Pfeiffer 2011, 30. Pfeiffer 2011, 30. Am Ende seines Beitrags äußert sich Pfeiffer auch dazu, wann dieser Paradigmenwechsel stattgefunden haben könnte: „Ich vermute, dass dieser Zeitpunkt in den bildenden Künsten erst mit der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts erreicht ist, in der Literatur wohl noch ein wenig später.“ Der vorliegende Beitrag versucht zu beweisen, dass die Emanzipation der Landschaft, von der Pfeiffer spricht, schon früher stattgefunden hat. Aus der großen Zahl an Arbeiten, die zu dieser Frage geschrieben worden sind, möchte ich die besonders hilfreichen Beiträge von Leach 1988, Thomas 2006, Acolat 2011 und della Dora 2013 hervorheben. Acolat beginnt ihren Artikel mit dem treffenden Satz „Le paysage, mot qui n’existe
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ten Zeitraum, in dem die Idee der Landschaft entwickelt und populär wurde, die dominierende Schriftsprache in Europa, sowohl auf internationaler als auch auf lokaler Ebene. Wie sollte man nun auf Latein über Landschaft schreiben? Oder, um die Frage genauer und durchdachter zu stellen: Wie schrieb ein lateinischer Schriftsteller in der späten Renaissance und der frühen Neuzeit über Landschaft und welche Begriffe verwendete er, um seine Vorstellungen bezüglich dieser Idee, die angeblich erst „in der Moderne […] wirklich denkbar“ wurde,5 in der Sprache der Alten zu vermitteln? Bevor wir uns auf die Suche nach „Landschaft auf Latein“ machen, wird es nützlich sein, sich eine Vorstellung davon zu machen, wonach wir konkret suchen. Die Arbeitsdefinition von Landschaft sollte frei von der philosophisch aufgeladenen Terminologie sein, die Pfeiffers Artikel anprangert. Ziel sollte es sein, in der neulateinischen Literatur Rohdaten zu identifizieren, die über die Entwicklung des Konzepts „Landschaft“ Aufschluss geben – über seine Entwicklung, nicht über das fertig ausgebildete und theoretisierte Phänomen –, um eine zumindest grobe Vorstellung davon zu erhalten, ab wann sich die Entdeckung der Landschaft in schriftlichen Werken niederschlug. Vor diesem Hintergrund ist eine allgemeine Definition von Landschaft, wie sie von den Herausgebern dieses Bandes vorgeschlagen wurde, sehr nützlich: Landschaft „meint, grob gesagt, Land, das nicht ganz in den lebenspraktischen Zusammenhängen aufgeht, in die es verstrickt ist, sondern dem darüber hinaus ein Wert an sich zuerkannt wird.“ Zu dieser Ausgangsbemerkung werde ich ein paar Überlegungen hinzufügen, um das spezifische Anliegen dieses Aufsatzes deutlich zu machen. Zunächst möchte ich konstatieren, dass Landschaft hier als ein visuelles, ästhetisches Phänomen betrachtet wird. Dies bedeutet zum einen, dass der einer Landschaft zugeschriebene Wert sich aus der Beurteilung ihrer ästhetischen Qualitäten durch den Betrachter ergibt, zum anderen, dass dieser ästhetische Wert bei einem Abschnitt der Erdoberfläche, der als Landschaft betrachtet wird, größer ist als derjenige der Summe seiner Teile. Das heißt zum Beispiel, dass der Betrachter ein Bergtal nicht nur wegen des strahlend blauen Flusses,
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ni en latin, ni en grec, est l’ensemble des traits, des caractères, des formes d’un territoire, d’un „pays“ , d’une portion de l’espace terrestre, perçu par un observateur depuis un point de vue: il est donc une interprétation de l’espace, une portion d’espace analysée visuellement.“ Thomas bietet eine feinsinnige Analyse der verschiedenen Möglichkeiten, wie das (quasi-)moderne Konzept der Landschaft auf Latein ausgedrückt werden kann. Della Dora untersucht die künstlerische Landschaft bei den Römern. Ihre Analyse wird im Rahmen dieses Beitrags für die Diskussion der bildlich dargestellten Landschaft relevant sein. Dies gilt auch für die Monographie von Leach; sein Fokus liegt jedoch auf den konzeptionellen Merkmalen der römischen Landschaft, und er untersucht hauptsächlich die Verbindungen, Parallelen und Überschneidungen zwischen der klassischen Literatur und der zeitgenössischen bildenden Kunst. Pfeiffer 2011, 11.
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der es durchfließt, oder wegen der eindrucksvollen Klippen, die über ihm hängen, als schöne Landschaft wahrnimmt, sondern weil diese einzelnen Elemente gemeinsam ein Ganzes bilden, das als Gesamtphänomen einen ästhetischen Wert hat.6 Ausgehend von diesen skizzenhaften Ideen zum Kontext und zum Gegenstand der Untersuchung möchte ich jetzt die Darstellung der Idee von Landschaft in lateinischen Texten mit einem klassischen Beispiel beginnen. Es dient dazu, die wichtigsten Themen zu erläutern, die in lateinischen Landschaftstexten auftreten. Im Anschluss daran werde ich mich auf einen besonders wichtigen lateinischen Begriff konzentrieren und verfolgen, wie dieser Begriff in den Texten ausgewählter Autoren verwendet wird. Auf diese Weise möchte ich zeigen, wie er sich im Laufe der Zeit semantisch entwickelte und immer komplexere Ideen um sich versammelte, bis er sich schließlich zu einer Bezeichnung für Landschaft im modernen Sinne mauserte.
Gestaltung einer Landschaft auf Latein Im Jahre 1555 veröffentlichte der Schweizer Naturforscher Conrad Gessner (1516–1565) in Zürich als Anhang zu seiner Schrift De raris et admirandis herbis, quae […] Lunariae nominantur, commentariolus („Kleiner Traktat über die seltenen, erstaunlichen Pflanzen, die […] man Mondpflanzen nennt“) eine Descriptio Montis Fracti („Beschreibung des Pilatus“).7 Die in Form eines Briefes an Gessners Freund, den Arzt Johannes Chrysostomus Huber, gehaltene Descriptio verarbeitet Gessners Erfahrungen und Beobachtungen während einer Expedition, die er auf den in der Nähe von Luzern gelegenen Pilatus unternahm. Sie behandelt unter anderem die Topographie des Berges sowie die Legende des anliegenden Sees, der vermeintlichen Ruhestätte des Pontius Pilatus. 8 6 7
8
Vgl. Simmel 1913, 636. Der vollständige Titel des Erstdrucks lautet: Descriptio Montis Fracti sive Montis Pilati ut vulgo nominant, iuxta Lucernam in Helvetia. Der Commentariolus de raris et admirandis herbis war, wie schon der Titel andeutet, ein kürzeres Schriftstück von 42 Seiten. Die restlichen 39 Seiten des Buches enthalten verschiedene Texte, die sich alle in der einen oder anderen Form mit Bergen beschäftigen. Auf Gessners Descriptio Montis Fracti (48–67) folgt die Descriptio Pilati Montis in Gallia von Johannes Duchoul (68–75), die den Mons Cemmenus in der Nähe von Lyon beschreibt. Am Ende des Bandes (78–82) befindet sich ein Gedicht des Johannes Rhellicanus über das Stockhorn bei Bern, die Stockhornias. Der Text von Gessners Descriptio Montis Fracti wurde von Coolidge 1904, 196*–221* herausgegeben und ins Französische übersetzt; nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Eine Würdigung des Beitrags, den Gessner in Bezug auf den Wandel der Einstellung zur Natur in der frühen Neuzeit geleistet hat, bietet Reichler 2006. Zur Geschichte des Pilatus und seines Sees vgl. Nünlist 1948 und Pfister 1991.
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Obwohl diese lokale Legende ausführlich diskutiert wird, ist der größere Teil des Textes der Beschreibung des Berges gewidmet. Gessner befasst sich sowohl mit dessen physikalischen Eigenschaften als auch mit dem Klima, der Flora, der Fauna und allgemein dem Lebensraum, den er darstellt. Wichtig für die Ziele des vorliegenden Beitrags sind die sechs Absätze, die auf folgende rhetorische Frage antworten: Quis enim sensuum hic sua voluptate non fruitur? („Denn welcher der Sinne genießt hier nicht sein eigenes Vergnügen?“)9 In diesem Teil des Werkes, welcher der Ästhetik im ursprünglichen Sinne des Wortes gewidmet ist, behandelt Gessner nacheinander den tactus („Tastsinn“), den visus („Sehvermögen“), den auditus („Gehör“), die odores („Gerüche“) und den gustus („Geschmacksinn“).10 Der längste und interessanteste Abschnitt ist dabei den visuellen Eindrücken gewidmet. Im ersten Satz dieses Abschnitts bietet Gessner einen Ausblick auf das Folgende, indem er die außerordentliche Vielzahl von Aspekten hervorhebt, welche die Aussicht von einem Berg bieten kann: Visus mirabili montium, iugorum, rupium, silvarum, vallium, rivorum, fontium, pratorum aspectu insolito delectatur („Die Augen erfreuen sich an dem prächtigen und ungewohnten Blick auf Berge, Gipfel, Felsen, Wälder, Täler, Flüsse, Quellen und Wiesen“).11 Hier finden wir sogleich die wichtigsten Elemente einer Landschaftsbetrachtung vereinigt: Der Anblick ist herrlich, er besteht aus zahlreichen Elementen (Berge, Felsen, Flüsse …), die zusammen als geschlossene Ansicht den Betrachter erfreuen. Im Anschluss an diese Einleitung schlägt Gessner drei Arten der Betrachtung vor: Er beginnt mit der weitesten Aussicht und engt diese schrittweise ein. Zunächst stellt er fest: si oculorum aciem intendere, visum dispergere et longe lateque prospicere et circumspicere omnia libeat, speculae scopulique non desunt („wenn du die Ansicht erweitern, deinen Blick weiten, in die Ferne schauen und alles weit und breit überblicken möchtest, fehlt es nicht an Anhöhen und Felsen“). Dann ergänzt er: si contra colligere visum malis, prata silvasque virentes aspectabis („wenn du hingegen dein Blickfeld lieber verengst, wirst du grüne Wiesen und Wälder betrachten“). In einem dritten Schritt wird das Blickfeld noch einmal reduziert: ut amplius colligas, valles opacas, rupes umbrosas, speluncas obscuras inspicies („wenn du dein Blickfeld noch weiter verengst, wirst du dunkle Täler, schattige Klippen und finstere Höhlen erblicken“).12 Gessners Betonung der verschiedenen Perspektiven, zwischen denen der Betrachter wählen kann, unterstreicht nicht nur, wie wichtig ihm die visuelle Auseinandersetzung 9 Coolidge 1904, 204*. 10 Die Bezeichnung odores beschreibt strenggenommen keine Sinneswahrnehmung, sondern das Wahrgenommene selbst und fällt daher etwas aus der Reihe. 11 Coolidge 1904, 204*–212*. 12 Coolidge 1904, 206*.
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mit der Natur ist, sondern verrät auch ein Bewusstsein davon, dass der Betrachter seinen Blick aktiv so zu lenken vermag, dass er aus seinem Schauen den größten ästhetischen Genuss ziehen kann. Ein Autor, der im selben Zeitraum ebenfalls ein Bewusstsein für Landschaft entwickelte, war der Berner Schulmeister und Theologe Benedictus Aretius (1505– 1574).13 Aretius, der enge Beziehungen zu Conrad Gessner unterhielt, bestieg im Jahr 1558 das Stockhorn und den Niesen in der Nähe von Bern und übersandte seinem Freund eine schriftliche Darstellung dieser Unternehmungen, begleitet von einem Bericht über die Pflanzen, die er auf seinem Weg angetroffen hatte. Der Text wurde von Gessner im Jahr 1561 in Zürich in Druck gegeben. Aretius war sicherlich ein Naturenthusiast und -liebhaber. Seine Leidenschaft für die Natur übertrifft mitunter sogar diejenige Gessners, wie etwa folgende Passage zeigt: Ego sane nescio qua dulcedine et naturali quodam amore erga montes afficior, ut nullibi libentius verser quam in montium iugis, nullae sunt suaviores mihi peregrinationes quam montanae. Ich weiß wirklich nicht, von welcher Lust oder welcher natürlichen Liebe zu den Bergen ich erfüllt bin, dass ich mich nirgendwo lieber als auf den Gipfeln der Berge aufhalte, keine Reisen mir angenehmer sind als die in den Bergen.14
Ebenso wie Gessner betrachtet Aretius den Anblick der natürlichen Umgebung als einen Teil des ästhetischen Genusses, den er im Gebirge empfindet. So preist er den Niesen mit den Worten: non puto autem facile reperiri montem amoenitate huic parem, tum propter conspectum, qui longe lateque patet […] („ich glaube aber nicht, dass sich leicht ein Berg findet, der diesem gleich ist an Anmut, erstens wegen der Aussicht, die sich in die Weite und in die Breite eröffnet […]“).15 Und bevor er die Pflanzen auflistet, die er auf der Reise gefunden hat, fasst er abschließend die Aussicht vom Gipfel des Niesen in den Worten zusammen: Haec rerum varietas incredibiliter spectantium oculos reficit, etenim res usque adeo natura discrepantes uno contuitu quasi in tabula profert, idque vel sedentibus.
13 Für einen Überblick über Aretius’ Leben und Werk vgl. Guggisberg 1953. Sein im Folgenden besprochenes Werk wird nach der Ausgabe mit französischer Übersetzung bei Coolidge 1904, 223*–246* zitiert. 14 Coolidge 1904, 230*. 15 Coolidge 1904, 242*. Als zweiten Grund für die Attraktivität des Niesen erwähnt Aretius die Vielfalt an Pflanzen: […] tum ob herbarum varietatem.
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Diese Vielfalt an Gegenständen erquickt wunderbar die Augen der Betrachter, denn sie zeigt Dinge, die sich ihrer Natur nach so sehr voneinander unterscheiden, wie auf einer Landkarte auf einen einzigen Blick – selbst jemandem, der gerade ruhig dasitzt.16
Das Verhältnis zwischen schriftlichen Beschreibungen von Landschaften und Bildern (inklusive Karten), auf denen Natur abgebildet ist, war für die Entwicklung des Konzepts und des Terminus „Landschaft“ sehr wichtig. Im Folgenden werden wir uns nun dieser Beziehung zwischen Landschaftsbildern und Landschaftsbegriffen zuwenden. Wie bei Aretius und Gessner basiert auch bei Landschaftsbildern der ästhetische Genuss häufig auf dem Umstand, dass die jeweilige Ansicht sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, die unter einer Perspektive zusammengeführt sind. Kurz vor der zuletzt zitierten Stelle konkretisiert Aretius, was genau er vom Niesen aus sehen konnte, nämlich unter anderem veteres arces complures, praedia et lacus, praeterea flumina, quarum rerum omnium uno intuitu conspectus est longe amoenissimus („mehrere alte Burgen, Bauernhöfe und Seen sowie Flüsse – Dinge, die auf einen Blick zu betrachten wunderschön ist“).17 Auch hier ist es der Blick auf eine Vielzahl von Einzelelementen, die sozusagen zu einer Einheit zusammengesehen werden, der den ästhetischen Reiz des Erlebnisses ausmacht. In den bis hierher angeführten lateinischen Texten stehen mehrere Worte für den Anblick oder den Akt des Sehens, die, wie ich argumentieren möchte, vieles von dem enthalten, was wir heute mit dem Begriff „Landschaft“ verknüpfen. In Gessners Texten decken aspectus und visus zusammen mit den Verben prospicere und circumspicere dieses semantische Feld ab, in den gerade zitierten Passagen von Aretius der conspectus longe amoenissimus. Der weitaus wichtigste lateinische Ausdruck für Landschaftsvorstellungen im 17. Jahrhundert und darüber hinaus wurde jedoch das Substantiv zu Gessners prospicere: prospectus. Es wäre allerdings unmöglich, sämtliche Belege für die Verwendung dieses Wortes als lateinische Bezeichnung für eine Landschaftsansicht im angegebenen Zeitraum zu behandeln. Um die wachsende Popularität und die weite Verbreitung des Begriffes zu demonstrieren, werde ich deshalb nur einige wenige Beispiele aus verschiedenen europäischen Ländern herausgreifen; anschließend werde ich kurz seinen Gebrauch im Kontext der bildenden Kunst behandeln, bevor ich in die Schweiz zurückkehre, um abschließend ein relativ spätes, aber besonders aussa16 Coolidge 1904, 244*. 17 Coolidge 1904, 242*.
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gekräftiges Beispiel seiner Verwendung zu diskutieren. Obwohl Landschaften im behandelten Zeitraum in den unterschiedlichsten literarischen Gattungen von der Lyrik über Geschichtsschreibung und Romane bis hin zu naturwissenschaftlichen Abhandlungen beschrieben werden, stammen die folgenden Beispiele überwiegend aus den Genres Reiseliteratur und Geographie. Das häufige Auftreten von Naturbeschreibungen in derartigen Texten macht diese zu wichtigen Quellen für die Landschaftsforschung.
Prospectus – eine Landschaftsansicht Begeben wir uns zuerst nach Italien, wo Giovanni Pona im Jahre 1601 seine Plantae, seu Simplicia, ut vocant, quae in Baldo Monte et in Via ab Verona ad Baldum reperiuntur („Pflanzen oder sogenannte einfache Medikamente, die auf dem Monte Baldo und am Weg von Verona dorthin zu finden sind“) schrieb.18 Der Text wurde als Anhang zur Rariorum plantarum historia („Bericht über seltenere Pflanzen“) des flämischen Botanikers Carolus Clusius (1526–1609) veröffentlicht, die 1601 in Antwerpen erschien.19 Pona war ein Apotheker aus Verona.20 Er verfasste die Beschreibung seines aus botanischem Interesse unternommenen Ausflugs zum Monte Baldo, der sich am Ufer des Gardasees erhebt, zunächst auf Latein. Später wurde sie von Giovannis Sohn Francesco ins Italienische übersetzt und 1607 in Venedig unter dem Titel Monte Baldo descritto da Giovanni Pona Veronese veröffentlicht. Das Werk besteht zu großen Teilen aus Listen und Abbildungen der botanischen Entdeckungen Ponas, enthält aber auch eine detaillierte Darstellung der Erfahrungen des Autors auf seiner Reise zum Monte Baldo. Über die Ankunft auf einem der zahlreichen Gipfel des Massivs schreibt Pona: In hoc etiam culmine est planities satis lata herbis refertissima, ubi propter varios prospectus iucunde indagatores animum atque oculos pascunt, in hac ac circumcirca germinat frequentissime: […].
18 Informationen zur Biographie Ponas sind nur schwer zu bekommen. Abgesehen vom mir leider nicht zugänglichen Beitrag von Curi 2009 steht dafür nur die Ausgabe einiger seiner Briefe von Cortesi 1907–1908 zur Verfügung. 19 Die folgenden Zitate aus Ponas Werk sind dieser Edition entnommen. 20 Zum Monte Baldo als botanischem Forschungsobjekt der Veroneser Apotheker des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts s. Findlen 1996, 179–184 und Korenjak 2013, 204–213. Ein ähnlicher Text, der auch in den eben erwähnten Arbeiten sowie weiter unten im vorliegenden Beitrag behandelt wird, ist Francesco Calzolaris Schrift Il Viaggio di Monte Baldo della magnifica città di Verona, die 1566 in Venedig erschien.
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Auch auf diesem Gipfel gibt es ein ziemlich breites Plateau voller Pflanzen, wo die Forscher auf Grund der vielfältigen Ausblicke sowohl die Augen als auch den Geist behaglich weiden. Dort und in der Umgebung wachsen [folgende Pflanzen] in großer Zahl: […].21
Die Tatsache, dass Pona die prospectus in seinem Text als varios („vielfältig“) beschreibt und dass sie dem Betrachter ästhetisches Vergnügen bereiten, zeigt, dass der Autor eine ähnliche Landschaftswahrnehmung hatte wie der moderne Betrachter, der die Aussicht von einem der Gipfel des Monte Baldo genießt. Auch in Spanien und Frankreich erfreuten sich Autoren an Landschaftsansichten und beschrieben sie in ihren Werken. Im Jahre 1688 veröffentlichte der französische Bischof und Historiker Pierre de Marca (1594–1662) eine Beschreibung der alten spanischen Mark.22 Die Arbeit mit dem Titel Marca Hispanica besteht aus Beschreibungen von Geographie, Geschichte und Sehenswürdigkeiten der Grenzgebiete zwischen Spanien und Frankreich auf nicht weniger als 1500 Seiten. Immer wieder zeigt sich Marca fasziniert von der schönen Landschaft der Region, beispielsweise wenn er die antike Stadt Emporion, das heutige Empúries (Ampurias) an der Nordwestküste Spaniens, beschreibt: Miti tumulo imposita erat ad litus, unde illi prospectus amoenus tum in mare, tum in montes, et in fertilissimum campum tritici, oryzae, et olei feracem, pascuis abundantem, venatui et piscationi paratum, XVI m. p. quaquaversum patentem. [Die Stadt] wurde auf einem sanften Hügel in der Nähe der Küste angelegt. Von dort aus hatte sie einen schönen Blick sowohl auf das Meer und auf die Berge als auch auf eine sehr fruchtbare Ebene, die Weizen, Reis und Oliven hervorbringt, reich an Weideland, für Jagd und Fischzucht geeignet ist und sich in alle Richtungen 16 Meilen weit erstreckt.23
21 Pona 1601, 344. Heute transportiert die „Funivia Malcesine“ Besucher auf den Monte Baldo. 22 Zu Leben und Werk von de Marca vgl. Gaquère 1932 und Issartel 2000. 23 De Marca 1688, 172. Auch in vielen weiteren Passagen zeigt sich de Marca von Landschaftsansichten begeistert. Vgl. etwa 19 (Ex Ruscinone prospectus est amoenissimus in spatiosos et uberes campos per III. M. P. usque ad oram et antiqua Tetis ostia); 36 ([…] spatiosa et capax porticus […] unde prospectus erat amoenissimus in subjectos campos); 204 ([…] elegans oppidum in edito jugo situm, in cuius superiore cacumine castellum satis firmum, unde prospectus in alia Pyrenaei juga et in circumjectam vallem […]); 207 (Per illud autem flexuosum iter gradientibus postquam ad editiora loca perventum est, amoenissimus est prospectus in subjactentem oram usque ad campum Penitensem et montes illos qui cingunt Tarraconensem); 458 ([…] Ecclesia Helenensis […] unde amoenissimus prospectus in subjectos campos et ipsum mare mediterraneum).
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Auch hier hat die Landschaftsansicht hohen ästhetischen Wert: Sie besteht aus mehreren Elementen, die schon jedes für sich genommen erfreulich wären, von de Marca jedoch in ihrem Zusammenspiel bewundert werden: Der prospectus als Ganzer ist amoenus. Bemerkungen über Landschaft sind auch in Martin Zeillers berühmter, in 13 Teilen veröffentlichten Topographia Galliae häufig, deren letzter, der ehemaligen Provinz der Dauphiné gewidmeter Teil im Jahr 1661 erschien.24 1589 in der Steiermark geboren, verließ der Protestant Zeiller Österreich aus konfessionellen Gründen und studierte ab 1608 in Wittenberg. Um 1640 wandte sich der Verleger und Kupferstecher Matthäus Merian (1593–1650) mit der Bitte an ihn, er möge den Text zu seinem mehrbändigen Werk verfassen, das seine vielen detaillierten Stiche von deutschen, französischen und italienischen Städten enthalten sollte.25 Ein gutes Beispiel für Zeillers Landschaftsbeschreibungen ist die Darstellung von Vienne im Département Isère, südlich von Lyon. Zeiller schreibt: E collegio Jesuitarum, constructo in loco edito et celso, atque ex multis collapsarum aliarum aedium ruinis excitato, jucundus et amoenus in civitatem et circumjacentem regionem prospectus patet. Vom Jesuitenkolleg, das an einem hoch aufragenden Ort errichtet wurde und aus vielen Trümmern anderer, eingestürzter Gebäude gebaut ist, bietet sich eine angenehme und schöne Aussicht über die Stadt und die umliegende Region.26
Kommen wir zu einem Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum. Der Landschaftsblick aus einem anderen Kloster war Gegenstand der Bewunderung im Iter Germanicum des französischen Benediktiners Jean Mabillon.27 Das Werk wurde im Jahr 1685 veröffentlicht und erfuhr, nach dem Tod seines Autors im Jahr 1707, seine letzte Ausgabe 1717 in Hamburg. Auf seinen Reisen durch Deutschland 24 Zu Leben und Werk Zeillers vgl. Waldberg 1898 und Brunner 1990, bes. 9–71. 25 Zu den Beziehungen zwischen Merian und Zeiller vgl. Brunner 1990, 105–113. 26 Merian/Zeiller 1661, 25. Weitere Landschaftsbeschreibungen finden sich etwa in Merian/ Zeiller 1661, 21–22 (Non procul est ab hoc portu templum S. Joan., juxta quod in clivum quendam ascensus est, e quo in mare longe lateque prospectus patet […]); 35 (Moenia sunt crassa, et ex eo in regiunculam amoenissimam, adeoque in ipsam urbem prospectus patet […]); 49 (Oppidum duobus cum dimidio milliaribus Agenno et in Gujenne situm, iuxta quod mons exurgit, e quo in infra iacentem planitiem, quae instar Theatri est, pratis, agris frumentariis, vinetis et hortis, ornatissimi, prospectus patet). 27 Zu Leben und Werk von Mabillon, der besonders als Pionier der Diplomatik und Paläographie bekannt ist, vgl. Barret-Kriegel 1988; Aris 1995. Zu seiner Reise durch den deutschsprachige Raum, insbesondere durch Bayern, Bauckner 1910.
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machte Mabillon im Kloster Andechs in Bayern halt, wo er sich über den Landschaftsblick unter anderem in folgender Weise äußerte: Insequenti die venimus in Andecense nostri Ordinis monasterium, quod alio nomine Mons-sanctus appellatur, sex horarum itinere Monachio distans in colle situm, ex quo gratissimus circumquaque prospectus. Am nächsten Tag kamen wir zum Kloster Andechs, das meinem Orden gehört und auch unter dem Namen Heiligenberg bekannt ist. Es befindet sich sechs Stunden entfernt von München auf einem Hügel, von dem aus sich ein überaus reizvoller Blick in alle Richtungen bietet.28
Prospectus und Landschaftsbilder Wir kehren nochmals nach Italien und auf den Monte Baldo zurück, wo schon einige Jahrzehnte vor Giovanni Pona ein anderer Apotheker, nämlich Francesco Calzolari (1522–1609), Rast machte. Calzolari, der wie Pona einen botanischen Ausflug unternahm, genoss hier ebenfalls die Aussicht auf den Gardasee und seine Umgebung.29 Seine Beschreibung des Gebietes beginnt mit einer schönen Passage über den außergewöhnlichen Blick, den der Berg bietet. Erwartungsgemäß ist es die Vielzahl verschiedener Elemente, die sich zu einem prospectus zusammenschließen, welche die Landschaft in Calzolaris Augen so reizvoll macht: Quemadmodum enim nullus spectantium oculus horum prospectu satiari potest, ita nec lingua reperiri, quae omnia recte narrare ac exprimere posset. In ipso autem monte tanta
28 Mabillon 1685, 76. Weitere Landschaftsbeschreibungen finden sich etwa in Mabillon 1685, 29 (Ex eo loco prospectus est in subjectum lacum Tigurinum et adjacentem regionem, adeoque in Ufnaugiam laci parvam insulam […]) sowie in Mabillon 1687, 122 (In monte aër purus, ac plerumque serenus, dum in subjecta valle densissimi nimbi in multam diem singulis diebus aequoris instar subsidunt. Prospectus in ipsam vallem alioqui jucundissimus) und 105 (Inde prospectus in urbem et in mare admirabilis). 29 Zur Biographie Calzolaris vgl. Gliozzi 1974, zu seiner Karriere als Apotheker Tergolina-Gislanzoni-Brasco 1934. Calzolaris Iter Baldi Montis ist die lateinische Übersetzung seines Viaggio di Monte Baldo (1566) und erschien als Anhang zum Compendium de plantis omnibus (1571) von Pietro Andrea Mattioli. Im Widmungsbrief an Mattioli erklärt Calzolari seine Beweggründe, eine Übersetzung anzufertigen: Opusculum meum, quod antea Italico sermone edideram, tibi Latinum factum (ut petis) mitto, cum tuo De Plantis Compendio in lucem edendum: siquidem communi hac lingua nunc conscriptum, omnibus in Europa nationibus tuo auspicio facile innotescet, cum tua mirifica monumenta per universum fere orbem circumferantur.
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est locorum et rerum varietas, quod prorsus longum foret omnia ex ordine recensere. Sunt enim vales ex puro saxo non parvae, acclives declivesque, scopulosae atque admodum squallidae: e contra vero spatiosissima amplissimaque pratorum pascua, numerosa herbarum et florum varietate referta, et ex his quidem plana quaedam, atque umbrosa, quaedam declivia atque aprica. Genau wie nämlich das Auge der Betrachter vom Anblick dieser Dinge nicht genug bekommen kann, lässt sich keine Zunge finden, die in der Lage wäre, alles richtig zu erzählen und zum Ausdruck zu bringen. Auf diesem Berg gibt es eine so große Vielzahl an Plätzen und Dingen, dass es ungemein langwierig wäre, alles der Reihe nach aufzuzählen. Denn es gibt recht große Täler aus reinem Fels, schräg aufsteigende und abfallende, steinige und sehr unwirtliche. Andererseits gibt es aber sehr weite und ausgedehnte Grasweiden, reich an einer großen Vielzahl an Kräutern und Blumen. Einige von ihnen sind eben und schattig, andere abfallend und sonnig.30
In einer anderen Passage zieht Calzolari folgenden bemerkenswerten Vergleich: Visuntur quoque vicine urbes et oppida, quae adeo lucide inspicientium oculis apparent, ac si Belgici pictoris penicillo omni cum arte ac venustate aliqua in tabella aut potius linteo depicta spectarentur. Auch Städte und Dörfer sind zu sehen, die den Augen der Betrachter so deutlich erscheinen, als ob sie auf einer vom Pinsel eines niederländischen Malers mit aller Kunstfertigkeit und Anmut gezeichneten Karte oder gar Leinwand erblickt würden.31
Ein solcher Belgicus pictor war Georg Hoefnagel (1542–1600).32 In Antwerpen geboren, reiste Hoefnagel kreuz und quer durch Europa und sammelte Erfahrung als Maler, Grafiker und Zeichner. Die Landschaftszeichnungen, die er auf diesen Reisen machte, dienten als Modelle für viele der Stiche, die Georg Braun und Frans Hogenberg 1572, also ein Jahr nach dem Erscheinen von Calzolaris Beschreibung des Monte Baldo, unter dem Titel Civitates Orbis Terrarum („Städte 30 Calzolari 1571, 927–928. Das Iter Baldi Montis folgt nach zwei leeren Seiten ohne Seitenzählung auf den Text von Mattiolis Compendium. Ich führe die Seitenzählung von Mattiolis Text fort, ohne die leeren Seiten zu berücksichtigen. Nach dieser Zählung umfasst das Iter Baldi Montis die Seiten 923–935. Die eigentliche Beschreibung der Reise, der der Widmungsbrief an Mattioli (924–926) vorgeschaltet ist, beginnt auf Seite 927. 31 Calzolari 1571, 927. 32 Zu Hoefnagel vgl. den bündigen Artikel von Wessely 1880. Aktueller ist Vignau-Wilberg 1992.
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Abb. 1: Innsbruck von Osten. Stich von Georg Hoefnagel (nach Alexander Colyns); in Georg Brauns und Frans Hogenbergs Civitates Orbis Terrarum, Bd. 5, Köln 1617, nach S. 58.
des Erdkreises“) herausgaben.33 Hoefnagels Landschaftsillustrationen zeigen, wie wir es nach der Lektüre von Calzolaris Beschreibung erwarten konnten, Ansichten von Städten und Dörfern in ihrem landschaftlichen Kontext, der Hügel, Berge, Weideland, Flüsse, Seen und das Meer umfassen kann. Auf diese Weise führen auch Landschaftsbilder in der Malerei zahlreiche Einzelelemente zu einem eingerahmten, ästhetisch ansprechenden Ganzen zusammen. Ebenso wie analoge Darstellungen in geschriebenen Texten werden diese gemalten Landschaftsansichten häufig mit dem Wort prospectus bezeichnet. Als Beispiel bietet sich Hoefnagels Darstellung von Innsbruck an (Abb. 1). Das Bild trägt den Titel Elegantissimus ex parte Orientali Oenipontis Prospectus („Höchst anmutige Ansicht Innsbrucks von Osten“). Es zeigt die Stadt aus östlicher Richtung, wobei das Schloss Ambras einen wichtigen Platz einnimmt. Im Vordergrund sind ausgelassen spielende Rinder dargestellt, während der Hintergrund einen Blick auf die Berge im Norden von Innsbruck bietet. Diese Elemente sind – mit etwas künstlerischer Freiheit – als visuelles Ganzes angeordnet, das als Einheit einen ästhetischen Wert besitzt: der prospectus ist elegantissimus. 33 Das Werk ist vor kurzem neu ediert worden: Füssel/Koolhaas 2008. Es erschien ursprünglich in sechs Teilen, die 1572, 1575, 1581, 1588, 1598 und 1617 publiziert wurden.
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Abb. 2: Der Golf von Gaeta. Stich von Georg Hoefnagel; in Georg Brauns und Franz Hogenbergs Civitates Orbis Terrarum, Bd. 3, Köln 1581, nach S. 55.
Auf einem weiteren Bild aus der Sammlung stellt Hoefnagel sich selbst neben dem berühmten Kartographen Abraham Ortelius dar, und zwar beim Betrachten des Golfes von Gaeta in Italien (Abb. 2). Die Inschrift unter den beiden Männern lautet: Georgius Hoefnagel elegantissimi ad mare Tyrrhenum Caietae prospectus depictor. Abrahamus Ortelius studiosus contemplator admiratorque itineris neapolitanici comes iucundissimus Georg Hoefnagel, Maler der höchst anmutigen Aussicht auf Gaeta am Tyrrhenischen Meer. Abraham Ortelius, enthusiastischer Beobachter und Bewunderer, ein äußerst angenehmer Begleiter auf der Reise nach Neapel
Die Tatsache, dass der Künstler die beiden Betrachter von offenkundiger Bewunderung für den Anblick erfüllt darstellt (Ortelius weist Hoefnagel mit ausgestrecktem Arm auf etwas hin), macht deutlich, in welchem Umfang sich die Vorstellung von Landschaft als ästhetischem Konzept bis zum Ende des 16. Jahrhunderts durchgesetzt hat.34 34 Die umfangreichste Untersuchung zur Entwicklung der Landschaft als geistiges Konzept in der
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Abb. 3: Basel und Umgebung. Stich von Matthäus Merian; in seiner und Martin Zeillers Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae, Frankfurt 1654, nach S. 46.
Diese Bilder sind keineswegs die einzigen Landschaftsansichten, die Hoefnagel mit dem Begriff prospectus bezeichnet. Viele andere Stiche von Städten und ihrer Umgebung in den Civitates Orbis Terrarum sind mit dem gleichen Wort überschrieben.35 Von den zahlreichen Künstlern, die diese Art von Arbeit unternahmen, soll hier noch Matthäus Merian zur Sprache kommen, derjenige Kupferstecher, dessen Bilder die Texte von Martin Zeiller in dessen topographischen Veröffentlichungen begleiteten.36 Auch Merian nannte seine Landschaften häufig prospectus. Ein Beispiel aus der beeindruckenden Reihe seiner Landschafts- und Städtebilder muss an dieser Stelle genügen: Der Prospectus Templi Cathedralis quod est Basiliae, nec non pontis Rhenum transeuntis, admodum delectabilis kombiniert eine schöne Ansicht des Basler Münsters mit derjenigen Kunst ist Wamberg 2009. Zu den Entwicklungen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts vgl. dort 51–89 und 167–246, zur spezifischen Rolle von topografphischen Landschaften 37–41. Letzterem Thema widmet sich auch die Studie von Casey 2002, ihr Fokus liegt allerdings auf der späteren Tradition der Topographie als Landschaftsdarstellung. 35 Die Ansichten von Poitiers (Füssel/Koolhaas 2008, 378–379), der Alhambra (364–365 ) und des Vesuv (422–423) sind nur einige von zahlreichen weiteren Beispielen. Die Seitenangaben der Zitate beziehen sich auf die 2008 erschienene Ausgabe der Civitates Orbis Terrarum. 36 Zu Leben und Werk von Merian im Allgemeinen vgl. Wüthrich 1994 und 2007; zu den Landschaften Merians und ihrem Kontext Fuss 2000; zur Beziehung zwischen Zeiller und Merian oben Anmerkung 26.
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der Rheinbrücken der Stadt; im Hintergrund sind die umliegenden Hügel und Flussufer zu sehen (Abb. 3).37
Prospectus und die Entwicklung von Landschaft als Konzept Es dürfe deutlich geworden sein, dass Landschaftsansichten im modernen Sinne, d. h. Ansichten, welche die aus zahlreichen Einzelelementen bestehende Umgebung eines Betrachters zu einem sinnvollen Ganzen mit einem ästhetischen Eigenwert vereinen, sowohl in schriftlichen Beschreibungen als auch auf Bildern während des 17. Jahrhunderts in verschiedenen Teilen Europas mit dem Begriff prospectus bezeichnet wurden. Jetzt möchte ich zum Abschluss zeigen, wie sich in Interaktion mit diesem Begriff das Konzept der Landschaft entwickelte und im 18. Jahrhundert nach und nach komplexere Vorstellungen und Ideen in sich aufnahm. Dafür werde ich mich einem weiteren Beispiel aus der Schweiz zuwenden, wo meine Untersuchung ihren Ausgang nahm. 1702 unternahm der Schweizer Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) die erste seiner Reisen durch die Schweizer Alpen, um dort Wissen aus erster Hand zu verschiedenen Themen von der Botanik und Kristallographie bis hin zu Thermalquellen und Drachen zu sammeln.38 Scheuchzer führte insgesamt neun solcher Forschungsreisen durch, die letzte im Jahr 1711. Die gesammelten Reiseberichte wurden nach mehreren früheren Teilausgaben 1723 unter dem Titel ΟΥΡΕΣΙΦΟΙΤΗΣ Helveticus, sive Itinera per Helvetiae alpinas regiones („Schweizer Bergwanderer oder Reisen durch die Alpengebiete der Schweiz“) in Leiden veröffentlicht.39 Die zwei Bände umfassende Ausgabe enthält zahlreiche schön ausgeführte, häufig als prospectus betitelte Gravuren von interessanten Objekten und Naturszenen, denen der Autor auf seinen Reisen begegnet ist.40 Zu einer derartigen Naturszene, die sich ihm nach der Besteigung des „recht steilen und sehr hohen“ Berges Soi darbot, wo er und seine Begleiter einen Moment Zeit hatten, auf die Umgebung zu blicken, bemerkt Scheuchzer etwa: Ex hoc 37 Die Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae, aus welcher dieser Kupferstich stammt (47), war der erste Teil der 16 Bände umfassenden Topographia Germaniae von Merian und Zeiller, die in Merians Verlag in Frankfurt a.M. von 1642 bis 1654 erschien. 38 Für eine kurze Biographie von Scheuchzer vgl. Kempe 2005. Die ausführlichste Darstellung von Scheuchzers Leben bietet immer noch Steiger 1930. Eine Monographie über Leben und Werk Scheuchzers ist Fischer 1973. 39 Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. 40 Diese Gravuren wurden durch das von Prof. Claude Reichler (Université de Lausanne) geleitete Projekt VIATICALPES bequem zugänglich gemacht. Die Bilder sind in der VIATIMAGES-Datenbank unter http://www2.unil.ch/viatimages (letzter Zugriff 23.9.2015) abrufbar.
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montis apice jucundus patet per totam Vallem Leopontinam prospectus („Vom diesem Berggipfel aus eröffnet sich eine herrliche Aussicht auf das gesamte Leopontinische Tal“).41 Ein weiterer Abschnitt, in dem Scheuchzer seine Begeisterung für die Schweizer Alpenlandschaft durchscheinen lässt, ist die Beschreibung des Thunersees und seiner Umgebung: Jucundus patet in Lacum Thunensem et ripam oppositam prospectus, qui allicere valeret hominem liberiori aurae assuetum. Prope oblectant arbores, harum umbrae, avicularum cantus […] Praeprimis autem recreat oculos, linguam et mentem torrens limpidissimus et satis copiosus, qui ex ipsis cavernae penetralibus profluit et tum in ipsa placido murmure per saxorum declivia decurrit, tum extra et mox distinctas format lapsu suo per crepidinem montis catadupas. Es eröffnet sich ein herrlicher Blick auf den Thunersee und seine gegenüberliegenden Ufer, der einen Mann anziehen könnte, der an freie, luftige Orte gewöhnt ist. In der Nähe erfreuen Bäume, ihr Schatten, der Gesang der Vögel […] Vor allem aber erquickt ein sehr klarer und recht wasserreicher Bach die Augen, die Zunge und den Geist. Er strömt aus den innersten Kammern der Höhle heraus und fließt zunächst in dieser selbst mit gefälligem Rauschen einen felsigen Abhang hinunter, dann fließt er außerhalb weiter und bildet durch seinen Sturz über einen Vorsprung des Berges ausgeprägte Wasserfälle.42
In einer weiteren Darstellung der Alpenlandschaft beschreibt Scheuchzer seine Reaktion auf die Überquerung der Taminaschlucht bei Bad Ragaz im Kanton St. Gallen. Der Autor und seine Reisegruppe sind von den steilen Flanken der Schlucht und ihren hohen Felswänden zugleich beeindruckt und verstört. Zwar bieten die vom Wasser glattgeschliffenen Felsen einen angenehmen Anblick, insgesamt jedoch ist der Ausflug in die Schlucht eine mehr von Angst und Schrecken als von ästhetischem Genuss geprägte Erfahrung.43 An späterer Stelle nimmt
41 Scheuchzer 1723, 263. 42 Scheuchzer 1723, 410–411. 43 Der Eindruck, den das Aufeinandertreffen von furchtbaren und schönen Naturerscheinungen in der Schlucht beim Betrachter entstehen lässt, wird am Ende der Passage in einem Satz zusammengefasst. Als der Autor die Überquerung einer schmalen Brücke beschreibt, wo die Reisenden das Gefühl haben, in discrimen vitae („Lebensgefahr“) zu geraten, konstatiert er: Iucundissimum in horrido antro spectaculum sistit ex alto delabentis Taminnae torrentis aspectus („Der Blick auf den Wasserfall, der aus der Höhe herunterfällt, bietet in der schrecklichen Höhle einen überaus reizvollen Anblick“; Scheuchzer 1723, 153–154).
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Scheuchzer eine komplexe Analyse seiner Reaktionen auf die Natur vor, und zwar in einer Passage, die den Blick von einem Schiff auf dem Zürichsee aus über Schwyz, Glarus und die Graubündner Alpen beschreibt: Navigantium oculos mentesque mirum in modum recreat amoenissimus in Alpes Suitenses, Glaronenses et Rhaeticas prospectus. Non hic e vestigio surgunt immensae altitudinis juga, non percellunt formidine minantia casum saxa, procul abest omne, quod metum incutit, spectantur eminus secure, quae cominus sunt horrori. Die wunderschöne Aussicht auf die Schwyzer, Glarner und Graubündner Alpen erfrischt wunderbar den Geist und die Augen der Reisenden. Hier ragen weder plötzlich Gipfel von unermesslicher Höhe auf, noch peinigen uns Felsen, die zu fallen drohen, mit Furcht; alles, was Angst einjagt, ist weit weg. Aus der Entfernung kann unbeschwert betrachtet werden, was aus der Nähe Schrecken bereitet.44
Hier macht Scheuchzer deutlich, dass er sich des psychologischen Effekts der Distanzierung bei der ästhetischen Bewertung von Landschaft durchaus bewusst ist und diesen Effekt als funktionale Komponente seines geistigen Instrumentariums für die visuelle Beurteilung seiner Umgebung begreift. Obgleich aus der Idee der Interesselosigkeit („disinterestedness“) heraus entwickelt, wie sie zum ersten Mal im frühen 18. Jahrhundert von Anthony Ashley Cooper, dem dritten Earl of Shaftesbury, formuliert worden war (The Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, 1711),45 wurde die Bedeutung der Distanz in ihrer Relevanz für die Ästhetiktheorie46 erst wieder von Edmund Burke so ausdrücklich betont wie von Scheuchzer, und zwar in dessen Philosophical Enquiry into our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757): „When danger or pain press too nearly, they are incapable of giving any delight, and are simply terrible; but at certain distances, and with certain modifications, they may be, and they are delightful, as we every day experience.“47 Das ästhetische Konzept der Distanz wurde während des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand zahlreicher Erörterungen und avancierte im 19. Jahrhundert zu einem 44 Scheuchzer 1723, 468. 45 Moderne Ausgabe: Klein 1999. Zu Shaftesburys Formulierung der Idee der „disinterestedness“ vgl. Stolnitz 1961a, bes. 131–134, zur Rezeptionsgeschichte des Konzeptes Stolnitz 1961b. 46 Der Artikel von Ogden 1974 bietet einen guten Überblick über die Entwicklung der Idee der Distanz in der Ästhetiktheorie; er konzentriert sich jedoch, wie auch die zuvor zitierten Aufsätze von Stolnitz, ausschließlich auf britische volkssprachliche Quellen. Lateinische Schriftsteller wie Scheuchzer, die ebenfalls wichtige Beiträge geleistet haben, bleiben dagegen unberücksichtigt. 47 Burke 1757, 40.
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Merkmal romantischer Haltung.48 Auch in neuerer Zeit wurde die Idee intensiv diskutiert.49 Ihre Bedeutung für die Art, in der ein lateinischer Schriftsteller aus dem frühen 18. Jahrhundert seine eigenen Landschaftserfahrungen beschreibt und bewertet, verdient hervorgehoben zu werden.
Zusammenfassung Für Scheuchzer, aber auch für die anderen Schriftsteller, die ich in diesem Aufsatz behandelt habe, war die moderne Landschaftsidee eng an das lateinische Wort prospectus gebunden. Für sich allein bedeutet das Wort „Ansicht“ oder „Ausblick“, im Kontext von Ansichtsbeschreibungen erhält es jedoch, wie ich zu zeigen versucht habe, eine spezifische Bedeutung: Der Begriff wurde konsequent dazu genutzt, bei der Beschreibung von naturbelassenen Gebieten, aber auch von landwirtschaftlich geprägten Gegenden und Städten den Blick auf eine Reihe verschiedener Elemente zu bezeichnen, die vom Betrachter als sinnvolles Ganzes empfunden wurden, obwohl ihnen auch je für sich genommen ein ästhetischer Wert zukam, also kurz gesagt, um Landschaften zu beschreiben. Zu Ende des 17. Jahrhunderts war der Begriff prospectus und die damit bezeichnete Sache in diesem Zusammenhang weit verbreitet. Am Beginn des folgenden Jahrhunderts, als Theoretiker damit begannen, in den Volkssprachen über Landschaft und die damit einhergehenden ästhetischen und psychologischen Phänomene zu reflektieren, bot er eine Möglichkeit, in dem neuen, immer komplexer werdenden semantischen Feld zu operieren, in dessen Rahmen nunmehr über Landschaft nachgedacht, gesprochen und geschrieben wurde.
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Andreas Rudigier
Das Montafon in der Landschaftsmalerei
Einleitung1 Das Montafon und die Kunst – das impliziert über Jahrhunderte zum einen eine Beziehungsgeschichte zwischen der Kirche als Hauptauftraggeber und den von ihr kontaktierten Künstlern und Künstlerwerkstätten, zum anderen die Fragen, wie, mit welcher Verzögerung „cultural lag“ und in welchem Umfang (bzw. in welcher Qualität) die international bestimmenden, großen Kunstepochen in den lokalen Bereich eines zwar nicht abgeschiedenen, aber dennoch nicht sehr kunstaffinen Tals einsickern konnten. Bildorientierte Epochen wie die Spätgotik und der Barock boten der Kirche einige Möglichkeiten, die großen Kunstförderer wie fürstliche Höfe oder Klöster fehlten hingegen. Das zu Vermögen gekommene Bürgertum suchte mangels entsprechender Bildung seine Reputation eher selten in künstlerischen Arbeiten. Zeugnisse dafür fehlen weitgehend. Die stark landwirtschaftlich geprägte Region fand ihre religiösen Ansprüche vor allem in Objekten der Volksfrömmigkeit erfüllt. Ausnahmen bestätigen die Regel, wie im Falle Lukas Tschofen des Zweiten in Gaschurn: Sein Mäzenatentum manifestierte sich in der Errichtung einer weit sichtbaren Kapelle.
Ein rätselhafter Beginn Die Landschaftsmalerei im Zusammenhang mit dem Montafon ist erst im 19. Jahrhundert greifbar. Aus der spätmittelalterlichen Zeit und vor allem auch aus der barocken Periode fehlen – soweit bekannt – entsprechende Zeugnisse, die wir hier näher erörtern könnten. Eines der frühesten bedeutenden Montafoner Landschaftsbilder ist ein im Bestand des vorarlberg museums aufbewahrtes Gemälde, welches die Douglasshütte 1
Der Beitrag baut auf eigenen Beobachtungen beziehungsweise Forschungen der letzten 25 Jahre auf und zeigt exemplarisch, wie die Landschaftswahrnehmung über die Kunst im und über das Montafon erfolgte (vgl. auch Rudigier 2004). Nur am Rande gestreift wird der touristische Aspekt, der aufgrund der nun über 100-jährigen Geschichte auch viele Zeugnisse bildnerischer Art hervorgebracht hat, deren Qualität aber – soweit bekannt – meist zu wünschen übrig lässt.
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Andreas Rudigier
Abb. 1: Unbekannter Künstler, Douglasshütte, nach 1877 (© vorarlberg museum).
am Lünersee zeigt und nach dem Inventar keinem Geringeren als dem erzherzog lichen Kammermaler Thomas Ender (1793–1875) zugeschrieben wird (Abb. 1). Diese Zuschreibung kann jedoch nicht aufrecht erhalten werden. Das Bild zeigt nämlich rechts im Vordergrund die 1877 errichtete zweite Douglasshütte, und im Mittelgrund macht sich der damals noch nicht aufgestaute Lünersee bemerkbar. Ender starb 1875, das Bild kann frühestens 1877 entstanden sein, womit Ender als Urheber wegfällt.2 Die Zuschreibung des Bildes aus dem Landesmuseum ist also falsch und beruht möglicherweise auf einem Irrtum, der sich aus dem Bezug zu einem zweiten Gemälde im musealen Besitz, einer Darstellung von Schoppernau im Bregenzerwald, ergibt. Dieses Gemälde scheint stilistisch besser zu Ender zu passen. Obwohl die Provenienz der beiden Bilder noch nicht geklärt ist, hege ich die Vermutung, dass beide Bilder als Ender-Gemälde ans Museum verkauft wurden. Bislang ist auch nicht geklärt, welche Route Thomas Ender auf seinen Wegen durch die Monarchie in Vorarlberg genommen hat. Dies schmälert jedoch nicht die Wichtigkeit des angesprochenen Bildes, setzt doch mit dem von einem bislang unbekannten Maler geschaffenen Werk die künstlerisch bedeutende Landschaftsmalerei mit Montafoner Sujets ein.
2
Vgl. dazu die Feststellung von Hallama 2015, 16.
Das Montafon in der Landschaftsmalerei
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Ein kleines Votivbild mit großer Wirkung Ein zweites interessantes Zeugnis für die Montafoner Landschaftsmalerei und das Montafon ist eine wohl um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Votivtafel, die das große Lawinenunglück vom März 1817 im Gargellental („auf der Rüti“) dokumentiert (Abb. 2). Das Bild existiert als Original in der Kapelle auf der Rüti und als vielgezeigte Kopie in der Sammlung des vorarlberg museums. Das Wissen um den Inhalt des Bildes verdanken wir im Übrigen einer vor einigen Jahren bekannt Abb. 2: Unbekannter Künstler, Votivbild gewordenen schriftlichen Aufzeich(Kopie), um 1860 (© vorarlberg museum). nung des aus St. Gallenkirch ins Elsass ausgewanderten Bartholomäus Marlin, 3 die im Detail das Unglück schildert. Marlin war Augenzeuge und hatte sich mit einigen anderen vor der Lawine retten können, während sechs weitere Personen in den Lawinenmassen den Tod fanden. Der Text seiner erst 1855 in Epinal aufgeschriebenen Erinnerung dürfte als Vorlage für das Votivbild gedient haben; dafür sprechen die im Werk umgesetzten Einzelheiten, vor allem die von Marlin genannte Reihenfolge der glücklich vor der Lawine fliehenden Personen findet sich genauso im Bild. Das Votivbild zeigt die seiner Gattung entsprechenden Elemente wie das Gnadenbild, welchem die Tafel versprochen wird, und den Votationsanlass, eben jenes Lawinenunglück. Eine Inschrift gibt es nicht, und so sind wir im Besonderen auf das Aufschreibbüchlein von Bartholomäus Marlin angewiesen. Die Darstellung der Parzelle Rüti (Gargellental, Gemeinde St. Gallenkirch) verrät durchaus Lokalkenntnis des Malers beziehungsweise seines Auftraggebers. Zu sehen ist der Taleinschnitt des Rütitales (unterhalb der Gweilspitze, die nicht mehr im Bild ist), aus welchem die Lawine in zwei Armen auf die Parzelle Rüti zufließt. Der Maisäß selbst wird durch drei Gebäude, nämlich die Kapelle, das Haus des Zolleinnehmers Anton Wimmer und einen Stall, gekennzeichnet. Die Markierung des Hauses durch ein Schild mit dem Hinweis auf die Zollneben3
Siehe dazu Bacher 2003; Kasper 2010, 26–31; Rudigier 2012.
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stelle vermittelt uns zum einen den Hinweis auf das einst wichtige Grenzgebiet, zum anderen ist es vor allem die Familie des Zolleinnehmers, die zu den besonders Leidtragenden des Unglücks gehört, kommen doch sämtliche Familienmitglieder darin ums Leben. Das Bild ist durch die naiv-realistische Darstellung eines Landschaftsausschnitts zwar auch als Dokument für die beginnenden Versuche der Landschaftsmalerei zu sehen, seine eigentliche Bedeutung liegt aber vielmehr darin, dass es in Verbindung mit dem zitierten Text einen Beleg für eine die Kunstgeschichte der Region betreffende schicksalhafte Wendung darstellt. Warum? Vor dem Autor und Augenzeugen Bartholomäus Marlin, der als Zweiter rechts vorne gleichsam aus dem Bild läuft, befindet sich nämlich niemand Geringerer als der Stammvater der bekannten Montafoner Künstlerfamilie Bertle, Josef Anton Bertle (1796– 1858). Auch er läuft in die rettende Richtung. Hätte ihn die Lawine verschüttet, könnten wir heute nicht auf das extrem umfangreiche Werk der vier Generationen und fünf namhafte Künstler umfassenden Künstlerfamilie blicken.
Das Wirken der Künstlerfamilie Bertle Die künstlerische Situation im Montafon war im frühen 19. Jahrhundert ähnlich oder vielleicht noch mehr als im übrigen Vorarlberg von der aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Tradition bestimmt. Der volkstümliche Spätbarock Josef Anton Bertles sollte bis in die Zeit gegen 1850 vorherrschen. Dass mit Bertle ein Montafoner Künstler als Adressat kirchlicher Aufträge in Erscheinung tritt, überrascht insofern, als die Region seit dem Mittelalter bis gegen 1800 markant von Künstlern zunächst aus dem süddeutschen Raum und in der Barockzeit dann von solchen aus dem Tiroler Oberland dominiert wurde. Erst jetzt gelang es in der langen Kunstgeschichte des Tales einheimischen Vertretern, sich als Künstler in Szene zu setzen und Aufträge zu erhalten, auch wenn wir davon ausgehen dürfen, dass die Verdienstmöglichkeiten für Josef Anton Bertle nur gering waren. Bertle war Autodidakt, er baute auf barocken Traditionen auf und konnte ab den 1830er-Jahren auch mit privaten Aufträgen rechnen, vor allem als das neue bürgerliche Selbstbewusstsein der Biedermeierzeit vermehrt Porträtwünsche aufkommen ließ.4 Landschaftsmalerei bleibt bei Josef Anton Bertle entsprechend seiner traditionellen Prägung ein seltenes Beiwerk, ein schönes Beispiel dafür ist der rechte Seitenaltar der Pfarrkirche in Nenzing. Möglicherweise als Stiftung des 1832 neu 4
Zu Josef Anton Bertle siehe Rudigier/Schönborn/Strasser 1992, 15–31.
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entstandenen Spinnereibetriebs des Christian Getzner ermöglicht, zeigt er auf dem 1833 entstandenen Altarbild neben beziehungsweise unter der bildfüllenden hl. Agatha die Walgaugemeinde mit der Fabrikanlage. Bertles Auftragslage muss aber doch so gut gewesen sein, dass er gemeinsam mit seinen Söhnen Franz Josef (1828–1883) und Johann Jakob (1837–1911) in Schruns eine Werkstatt gründen konnte. Seinen Söhnen war es dann vorbehalten, auch eine gediegene künstlerische Ausbildung zu erhalten.5 Vor allem die Lehrzeit beim Schweizer Nazarenermaler Melchior Paul von Deschwanden (1811–1881) sollte sie prägen, und sie waren damit prädestiniert, unzählige kirchliche Aufträge in Vorarlberg, aber auch in der Ostschweiz im Spätnazarenerstil umzusetzen. Den Nazarenern und Spätnazarenern ging es in ihren Bildern um eine Konzentration auf das religiöse Andachtsbild, von dem weder durch dramatische Ausschmückungen der Legenden noch durch allzu üppige Landschaften abgelenkt werden sollte. So stellte die Landschaftsmalerei weder für die erste noch für die zweite Generation der Bertle eine wirkliche Alternative zu ihrer täglichen Arbeit dar. Vereinzelte Beispiele von Kopien alter Meister beziehungsweise dokumentarischem Festhalten lokaler Motive lassen erahnen, dass sich die Brüder Bertle auch mit dem Thema der Landschaftsmalerei befassten, allein der Markt dürfte das Thema zu wenig gefordert haben. Interessante Beispiele sind zum einen von Franz Bertle eine Darstellung des Städtchens Stein am Rhein, die in ihrem Aufbau, ihrem Duktus und ihrer Farbgebung niederländische Vorbilder des 17. Jahrhunderts erkennen lässt, auch wenn wir nicht ausschließen können, dass Franz hier überhaupt eine fremde Vorlage kopierte. Sicherlich keine Kopie ist die Darstellung der damals im Familienbesitz der Bertle befindlichen Pension Gauenstein in Schruns, die Johann Jakob Bertle 1886 schuf, und die, durchaus in der Tradition älterer Montafoner Landschaftsdarstellungen, einen dokumentarischen Charakter aufweist. Dieser Umstand gilt auch für eine Reihe archivalisch und durch Werke dokumentierter Laienmaler, die sich in der Darstellung von Orten und Häusern übten. Hier sei etwa auch auf die Mitglieder der Montafoner Zeichenschule verwiesen, von denen Arbeiten im Montafon Archiv im Montafoner Heimatmuseum in Schruns aufbewahrt werden. Es bleibt festzuhalten, dass die öffentlichen Aufträge auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Kirche bestimmt wurden, die sich durchwegs an den nazarenischen Stilvorgaben orientierte.
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Zu Franz und Jakob Bertle siehe Rudigier/Schönborn/Strasser 1992, 33–87.
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Die Realisten Jehly und Maklott Eine völlig andere Situation ergab sich bei Jakob Jehly (1854–1897) und Johann Josef Maklott (1846–1908). Ersterer stammte aus Bludenz und wurde aufgrund seines hohen künstlerischen Talents nach München auf die Akademie geschickt.6 Hier lernte er die neuesten Tendenzen der Landschaftsmalerei kennen und schätzen. Jehly musste sich zwar durchaus auch noch dem kirchlichen Auftraggeber unterwerfen und nazarenische Altarbilder ausführen. Nach seiner Hochzeit mit der Witwe Wanda Douglass (1879) konnte er sich jedoch – aller materiellen Sorgen enthoben – der Freilicht- und Hochgebirgsmalerei unbeschränkt widmen. Seine Fähigkeiten im Hinblick auf die realistische Wiedergabe der Landschaft hatten ihn bald zu einem wichtigen Mitglied des Alpenvereins gemacht. In den frühen Werken vermittelt Jehly noch ein deutlicheres Licht-Schatten-Spiel, das in seinen späteren Arbeiten zugunsten eines impressionistischen Gesamttons wegfällt. Jakob Jehlys beliebteste Motive finden sich im Gebiet des Rätikon (Lünersee, Schesaplana) und im Raum Bludenz. Johann Josef Maklott stammte aus Tschagguns im Montafon und erhielt wie Jakob Jehly eine künstlerische Ausbildung an der Akademie in München.7 Über Vermittlung seines Freundes Jakob Jehly beziehungsweise von dessen Frau Wanda war Maklott eine Zeitlang ein beliebter Porträtist am königlichen Hof in München. Später zog sich Maklott immer mehr zurück und verarmte zusehends. Landschaftsbilder sind von ihm nur wenige überliefert, wie überhaupt Gemälde deutlich hinter der hohen Anzahl von Zeichnungen zurückbleiben. Vereinzelte Zeichnungen beziehungsweise Gemälde zeigen Motive etwa am Golm oberhalb von Tschagguns, aus dem Silbertal oder mehr noch aus der Gegend um München.
Ein Malerprofessor und ein Bergsteigermaler im Montafon Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des Alpenvereins in Vorarlberg zeigte das Vor arlberger Landesmuseum 1969 eine Ausstellung zum Alpinismus in Vorarlberg. Ein Teil der Ausstellung widmete sich auch der bildenden Kunst. Ein interessantes Objekt war das großformatige Panoramagemälde des deutschen Malers Richard Scholz (1860–1939), welches eine Aussicht auf die Bergwelt der Silvretta beziehungsweise des Verwall zeigt und im Hotel Rössle in Gaschurn aufbewahrt wird. Scholz muss sich besonders um die Entwicklung des Fremdenverkehrs im 6 7
Zu Jakob Jehly siehe vor allem Jussel/Wilhelm 1989 und Rudigier 1997, 33–67. Zu Johann Josef Maklott siehe Zwetti 2004.
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Abb. 3: Mathias Schmid, Piz Buin, 1866 (© Mathias Schmid-Museum, Ischgl).
Montafon verdient gemacht haben, wurde er doch geehrt, indem später ein Wanderweg in Gaschurn nach seiner Person benannt wurde.8 Ein weiterer Künstler, der in den 1860er-Jahren vermehrt Aufenthalt im Montafon nahm, wurde für die Landschaftsmalerei des Tales respektive das Vorkommen des Montafon in der Kunstgeschichte wichtig: Mathias Schmid (1835–1923). Der aus dem Paznaun stammende Maler lernte ebenfalls in München und sollte zu einem der herausragenden Tiroler Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden. Schmid wurde von einem seiner ersten Förderer, dem Feldkircher Unternehmer und nachmaligen Bürgermeister Josef Ritter von Tschavoll, unter anderem beauftragt, die Zweitbesteigung des Piz Buin durch den Alpinpionier Tschavoll und seine Kollegen im Sommer 1866 im Bild festzuhalten (Abb. 3).9 Eine Vorzeichnung und ein Gemälde zeigen eindrücklich, wie die Gruppe der Bergsteiger der imposanten und im wahrsten Sinn des Wortes überspitzten Bergwelt gegenüberstanden. Mathias Schmid verdanken wir eine Reihe von frühen Orts8 9
Siehe auch Rudigier 2015a. Siehe vor allem Rudigier 2009 und 2015b.
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Abb. 4: Edward Theodore Compton, Piz Buin, 1912 (© Alpenvereinsmuseum Innsbruck).
bildern des Montafon. Um 1864 zeichnete er Gargellen, Gaschurn (noch mit der alten, 1867 abgebrochenen Kirche), Tschagguns und Innerberg (fälschlicherweise als Silbertal bezeichnet). Ein prominentes Gemälde des sozialkritischen Künstlers zeigt unter dem Titel Verlassen (1885) eine berührende Szene auf dem Zeinisjoch. Ein junger Bauer begegnet in Begleitung seiner neuen Braut der von ihm verlassenen und bitterlich weinenden Mutter mit ihrem offensichtlich gemeinsamen Kleinkind im Arm. Neben Schmid ist ein weiterer international renommierter Künstler zu nennen, der vor allem im frühen 20. Jahrhundert mehrfach im Montafon Halt machte und hier zahlreiche Eindrücke des Hochgebirges in Gemälden festhielt: Edward Theodore Compton (1849–1921).10 Der aus England stammende und in Bayern wohnende Maler machte sich durch zahllose Darstellungen von bekannten und weniger bekannten Alpengipfeln einen Namen. Stilistisch orientierte sich Compton an der englischen Aquarellmalerei Turners und Constables sowie an der Münchner Freilichtmalerei eines Schleich d. Ä. oder Rottmann. Im Unterschied zu den früheren Gebirgsmalern sollte nun weniger das Erhabene und Drohende der Berge festgehalten werden, sondern es ging Compton um eine realistische, gleichsam fotografische Wiedergabe. Comptons Gemälde illustrieren viele alpinis10 Siehe Rudigier 2009 und Rudigier 2015b.
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tische Publikationen. Neben markanten Gipfeln der Silvretta (Piz Buin, Litzner und Seehorn) und des Rätikon (Drei Türme) schenkte er seine dokumentarische Aufmerksamkeit auch den alpinen Schutzhütten (etwa dem Madlener Haus oder der Tübinger Hütte) sowie weiteren landschaftlichen Besonderheiten wie zum Beispiel dem heute nicht mehr existierenden Garnera-See im gleichnamigen Tal südlich von Gaschurn (Abb. 4). Als ortskundiger Wegbegleiter diente Compton der Vorarlberger Alpinpionier Karl Blodig, so etwa im Jahr 1909, als sie verschiedene Gipfel bei der Tübinger Hütte bestiegen.
Der Heimatstil des 20. Jahrhunderts Die Voraussetzungen für ein starkes künstlerisches, am internationalen Maßstab zu messendes 20. Jahrhundert waren für die Kunst im und um das Montafon durchaus günstig: Zum einen zeigte Jakob Jehly ein zukunftsweisendes Œuvre, zum anderen war mit Hans Bertle (1880–1943) die dritte Generation der Bertle in München angekommen und konnte nun auch auf eine akademische Ausbildung bauen. Am stärksten zeigt sich dieser Wechsel in den Deckenbildern der Pfarrkirche in Schruns, wo Hans neben seinem Vater Jakob Bertle tätig ist und die vom Sohn in die Münchner Flusslandschaft gesetzte Legende des hl. Jodok neue realistische Bezüge zeigt. Doch es sollte anders kommen. Jakob Jehly starb 1897 im Alter von nur 43 Jahren und Hans Bertles künstlerisches Werk wurde durch die Zeitereignisse geprägt. Aufgrund des konservativen Umfeldes seiner Aufenthaltsorte München und Schruns entwickelte es sich nicht sehr fortschrittlich. Dennoch kann Hans Bertle auf ein enormes Werk verweisen, dass vor allem durch die Kriegsbilder von der Südfront und auch durch die Zeichnungen für Felix Saltens Bambi die Zeit überdauert hat. Hans Bertle entwickelt in einem Teil seiner Arbeiten einen neuen Heimatstil, der sich in religiös anmutenden Gemälden mit regional zu verortenden Landschaftshintergründen äußert.11 Eine faszinierende Facette seines Werks sind die Plakate beziehungsweise Plakatentwürfe für die aufstrebenden Wintersportorte des Montafon. Schon Jakob Jehly hatte im Auftrag des Landesfremdenverkehrsverbandes ein gesamtvorarlbergisches Plakat entworfen, das in der Aufzählung der einzelnen Regionen einen grafisch orientierten Eindruck hinterlässt. Anders Hans Bertle: Er schuf für Schruns beziehungsweise in seinem Entwurf für Gaschurn malerische Plakate, die ihrem Namen respektive ihrem Sinn alle Ehre machten. 11
Zu Hans Bertle siehe Rudigier/Schönborn/Strasser 1992, 89–144.
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Einen zweiten Aspekt eines ausgeprägten Heimatstils zeigt der in Wien geborene Dornbirner Unternehmersohn und langjährige Direktor der Vorarlberger Naturschau Siegfried Fussenegger (1894–1966). Anfang der 1920er-Jahre besuchte er einen Malkurs an der Münchner Akademie. Der Hintergrund dafür war die Absicht, zu Dokumentationszwecken für sein Museum Ölbilder zu schaffen. Am Ende sollten es mehr als 170 Landschaftsaufnahmen aus Vorarlberg mit vielen Motiven aus dem Montafon sein, die ein kulturlandschaftliches Bild Vorarlbergs aus der Zwischenkriegszeit vermitteln.12 Die Malerei ist sachlich, in erdigen, eher dunkleren Tönen gehalten.13 Konrad Honold (1918–2007) ist der wohl markanteste Vertreter einer neuen Heimatkunst im Montafon, die sich aufgrund seiner häufigen Beauftragung im Rahmen von „Kunst und Bau“ sehr stark auch im öffentlichen Raum zeigt (oder besser zeigte, weil dieses Genre längst in Gefahr geraten ist und in der jüngeren Vergangenheit große Verluste hinnehmen musste). Honold stammte aus Weingarten, sein Ausbildungsweg führte über Ravensburg, Stuttgart und Berlin nach Innsbruck. Die Heirat mit einer Schrunserin ließ ihn im Montafon sesshaft werden. Sein Werk ist bestimmt durch Landschaftsmalerei, Porträts, die erwähnten öffentlichen Aufträge und vor allem durch Restaurierungen kirchlicher und privater Objekte. Die Kunst und Bau-Motive Honolds verweisen auf die hohe Landesverbundenheit der Auftraggeber (Banken, Schulen) aber auch des Künstlers selbst, dem eine Situierung der Heldentaten lokaler Größen in der heimatlichen Landschaft wichtig war. In dieser Hinsicht setzt Honold eine in der Zwischenkriegszeit begonnene Tradition nach dem Zweiten Weltkrieg fort und führt diese künstlerische Richtung in den späten 50er- und 60er-Jahren zu einer letzten Blüte.14 Die Landschaftsaufnahmen wiederum besitzen einen stark dokumentarischen Charakter, wie er für die Vertreter des Heimatschutzes im Montafon durchaus charakteristisch ist (Abb. 5). Honold war über viele Jahre im Montafoner Heimatschutzverein tätig. Auch lassen sich seine Biografie und sein Werk durchaus mit seinen Kollegen aus dem Heimatschutzverein, Klaus Fussenegger aus Schruns und Wilfried Dür aus St. Gallenkirch, vergleichen. Sowohl Fussenegger, im Übrigen der Sohn des oben erwähnten Siegfried Fussenegger, als auch Dür haben ein ausgedehntes Œuvre gemalter Landschaften aus dem Tal hinterlassen. Ein sehr umfangreicher und nicht leicht zu überblickenden Teil der Heimatbilder des 20. Jahrhunderts muss an dieser Stelle zumindest kurz angesprochen werden. Es geht um eine Vielzahl von im Land durchaus prominenten Künstlern, 12 Melichar 2014, 6. 13 Vgl. auch die Abbildungen in Kasper u. a 2015, 24–35. 14 Rudigier 2008, 115.
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Abb. 5: Konrad Honold, Geschichte des Montafon (Entwurf ), um 1960 (© vorarlberg museum).
die sich intensiv mit der Landschaft auseinandergesetzt haben. Dazu zählen unter anderem Martin Häusle, Bartle Kleber, Leopold Fetz, Hans Strobl, Alfons Kräutler und Karl Heine (1891–1957). Letzteren möchte ich hier stellvertretend kurz vorstellen, gehören doch seine noch in Kriegszeiten und im Jahrzehnt danach entstandenen Bilder aus dem Montafon zu den interessantesten Beispielen aus seinem Œuvre.15 Heine wollte kein Moderner sein, wie es Zeitgenossen von ihm sagten, und tatsächlich fußt seine künstlerische Tradition tief im 19. Jahrhundert. Seine Gemäldeausschnitte geben in realistischer und vor allem atmosphärischer Weise Landschaften wieder, indem vor allem dem Wolken- und Lichtspiel eine besondere Rolle eingeräumt wird. Damit konnte er dem Publikum nach dem Krieg durchaus gefallen. Allerdings stand er im Gegensatz zur gleichzeitig in Schruns laufenden Kunstdebatte, die im nächsten Abschnitt betrachtet werden soll.
Aufbruch in die Moderne: Hannes Bertle und die Schrunser Kunstdebatte Wir kehren noch einmal zur Künstlerfamilie Bertle zurück und betrachten das jüngste und letzte Mitglied dieser außergewöhnlichen Familie. Hannes Bertle (1910–1978) wurde in München geboren, lernte dort auch in der Akademie unter anderem bei Professor Olaf Gulbransson.16 Im Rahmen einer Reise nach Irland erwies er sich als guter Landschaftsmaler, in leicht expressiven Formen war er noch der Tradition verpflichtet. Nach dem Krieg kehrte Hannes Bertle zu den Wurzeln zurück, er ließ sich in der Heimat seiner Vorfahren im Montafon nieder. 1947 nahm er an einer Ausstellung in Bludenz teil, in deren Rahmen sich erstmals eine Diskussion zwischen Vertretern traditioneller und moderner Kunst entzündete. Hannes fand sehr bald den Weg in die Moderne. Ab den 1950er-Jah15 Siehe dazu vor allem Rudigier 2007. 16 Zu Hannes Bertle siehe Rudigier/Schönborn/Strasser 1992, 145–160.
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Andreas Rudigier Abb. 6: Hannes Bertle, Innerberger Kirche, um 1960 (© vorarlberg museum).
ren zeigt er starke abstrakte Züge und findet in seinen Malerkollegen Lucas von Cranach und Hugo von Schönborn gleichgesinnte Freunde. Es entstehen Gemälde, die losgelöst von allem Gegenständlichen ausschließlich durch die Form und die Farbe bestimmt sind. Es dominieren Farbkontraste, schwarze Linien umgeben einzelne Formelemente und verstärken die Leuchtkraft der verwendeten Farben. Hell-Dunkel-Gegensätze versuchen der augenfälligen Flächigkeit ein wenig entgegen zu wirken. Kanten, Ecken und Rundungen wechseln einander ab, kubistische Einflüsse machen sich hier bemerkbar. Bei öffentlichen Aufträgen gibt er sich anfänglich etwas konservativer, aber auch hier tauchen zunehmend mutigere Entwürfe auf. Interessant ist die Verbindung zwischen der Erkennbarkeit des Objekts und der abstrakten Umgebungsgestaltung. Ein bemerkenswertes Beispiel stellt das Gemälde der Innerberger Kirche dar, das die Landschaft in einzelne Elemente auflöst (Abb. 6). Allerdings findet Bertle mit seinem künstlerischen Zugang im Montafon keine Nachahmer.
Ein abschließender Blick in die Gegenwart Das Montafon trägt die Bezeichnung „Berg“ in seinem Namen, und die Berge sind in der Talschaft allgegenwärtig. Es mag keine Überraschung sein, dass einer der
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bekanntesten Künstler der jüngeren Montafoner Kunstgeschichte, Roland Haas, sich immer wieder dem Sujet des Berges annäherte. Als Künstler in unterschiedlichen Betrachtungsweisen, aber auch in technisch differenzierten Herangehensweisen und als Kurator verschiedener Freiluftateliers beziehungsweise Ausstellungen im Kunstforum machte sich Haas einen Namen. Das SilvrettAtelier schaffte über viele Jahre einen Konnex zwischen der in ihren natürlichen wie in ihren technischen Aspekten gleichermaßen beeindruckenden Kulturlandschaft und der künstlerischen Welt.
Literatur Bacher, I.: Aus dem Tagebuch des Bartholomä Marlin (1801–1878), Bludenzer Geschichtsblätter 69 (2003) 14–17 Hallama, D./Drach, E.: Von der Douglasshütte. Was die Architektur einer Schutzhütte erzählt, Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 2015, 12–27 Jussel, G./Wilhelm, A.: Jakob Jehly, Bludesch 1989 Kasper, M.: „Achtzehnhundertundzutodegefroren“. Die Hungerkrise 1814 bis 1818 im südlichen Vorarlberg, in: Hessenberger, E. u. a. (Hg.): Jahre der Heimsuchung. Historische Erzählbilder von Zerstörung und Not im Montafon, Schruns 2010, 11–69 Kasper, M. u. a. (Hg.): Berg-Werke. Piz Buin & Co., Schruns 2015 Melichar, P.: Von der Kunst, ein Museum zu gründen. Oder: Wer war Siegfried Fussenegger?, Museumsmagazin des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 8 (2014) 6–7 Rudigier, A.: Der Bludenzer Maler Jakob Jehly (1854–1897), Bludenz 1997 Rudigier, A.: Das Montafon in der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, Jahresbericht der Montafoner Museen 2004, 15–20 Rudigier, A.: Karl Heine (1891–1957), in: Dünser, J./Gamon, T. (Hg.): Karl Heine, Nenzing 2007, 13–46 Rudigier, A.: Die „Heimatkunst“ Konrad Honolds in Bezug auf die Montafoner Gemeindewappen, Jahresbericht der Montafoner Museen 2008, 107–115 Rudigier, A.: Alpine Innen- und Außensichten, in: Hessenberger, E. u. a. (Hg.): Mensch & Berg im Montafon. Eine faszinierende Welt zwischen Lust und Last, Schruns 2009, 215–245 Rudigier, A.: „Das Bild zeigte Vertrautes und Fremdes“. Ein unauffälliges Votivbild aus dem Bestand des vorarlberg museums mit bemerkenswerten Beziehungen, Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 2012, 32–49 Rudigier, A.: Berg-Werke in der Kellergalerie, in: Kasper u. a. 2015, 49–53 (Rudigier 2015a) Rudigier, A.: Zwei künstlerische Ansichten des Piz Buin von 1866 und 1912, in: Kasper, M. (Hg.): Mythos Piz Buin. Kulturgeschichte eines Berges, Innsbruck/Wien 2015, 133–146 (Rudigier 2015b)
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Andreas Rudigier
Rudigier, A./Schönborn, P./Strasser, P.: Bertle. Eine Künstlerfamilie aus dem Montafon, Feldkirch 1992 Zwetti, R.: Johann Josef Maklott: Künstler zwischen Tschagguns und München, in: Zwetti, R./Rudigier, A.: Maklott – Jehly – Schmid. Das Montafon im Blickfeld kunsthistorischer Betrachtungen des 19. Jahrhunderts, Schruns 2004, 13–59
Susanne Gurschler
Die Landschaft im Rundumblick Zu den Panoramen des 19. Jahrhunderts und der Landschaftsdarstellung im Innsbrucker Riesenrundgemälde Schlacht am Bergisel von Michael Zeno Diemer
Die perfekte Illusion Im heutigen Verständnis ist ein Panorama ein Rundblick, eine weite Aussicht, eine besondere Ansicht; vor 200 Jahren war der Begriff weniger großzügig bestimmt. Das Kunstwort setzt sich aus den griechischen Wörtern pān („alles“) und hórāma („Sicht“), zusammen, bedeutet also „Allsicht“. Verwendet wurde es ab Ende des 18. Jahrhunderts für eine Darstellungsform, die eine neue Möglichkeit des Betrachtens bedeutete, für ein Medium, das die Sehgewohnheiten der Menschen nachhaltig veränderte und als Vorläufer des bewegten Bildes gilt. Beim Panorama handelte es sich um eine Kombination aus einer speziell konstruierten Rotunde und einem darin aufgehängten Rundgemälde.1 1787 meldete der irische Porträt- und Landschaftsmaler Robert Barker eine Erfindung zum Patent an, die er zunächst „la nature à coup d’œil“2, die Natur auf einen Blick, nannte. Gemäß der Beschreibung für das Patentamt verstand Barker darunter ein 360-Grad-Rundumbild, das in einer eigens dafür errichteten Rotunde aufgehängt wurde. Zudem sollte das Bild so wirklichkeitsgetreu wie möglich gestaltet sein und dem Betrachter den Eindruck vermitteln, mitten im Geschehen zu stehen. Daraus entwickelte sich ein Bautypus, der darauf abzielte, den Besucher auf das neu zu Sehende einzustimmen. Der Eingangsbereich und der Aufgang zum Gemälde waren abgedunkelt, sodass der Besucher größtmögliche Distanz zur Außenwelt erlangte. Zentral waren darüber hinaus die Lichtführung und die Begrenzung des Blicks. An der Decke hing ein schirmartiger Baldachin, das sogenannte
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Dieser Beitrag folgt in wesentlichen Zügen den ersten drei Kapiteln meines Buches Panorama der „Schlacht am Bergisel“. Die Geschichte des Innsbrucker Riesenrundgemäldes (Gurschler 2011, 11–25, 29–39, 45–57). Oettermann 1980, 7.
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Susanne Gurschler
Abb. 1: Schnitt durch ein Panorama: Eingang (A), verdunkelter Gang (B), Plattform (C), Sehwinkel des Betrachters (D), Leinwand (E), Faux Terrain (F), Gegenstände auf der Leinwand (G). Aus Oettermann 1980, 41.
Velum, der die Aufgabe hatte, sowohl die Oberkante des Gemäldes als auch die ringförmig eingelassene Fensterzeile im Dach zu verbergen. Durch diese Lichtzeile fiel das Tageslicht herein, zuweilen noch durch Lichtsegel gesteuert, wurde vom Gemälde reflektiert und erhellte den Raum. Die Unterkante des Bildes wiederum verdeckte das Faux Terrain, ein plastisch gestaltetes Vorgelände, das den perfekten Übergang von der Dreidimensionalität zur Zweidimensionalität schuf und die Tiefenwirkung verstärkte (Abb. 1, 2). Nicht nur hinsichtlich der Strahlkraft dieser neuen Kunstform, die primär als technische Innovation gesehen wurde, ist von einer Revolution zu sprechen. Die Art der Präsentation war epochal: „Um die Illusion perfekt zu machen, musste das Bild den Betrachter vollständig umgeben, ihn geradezu einhüllen, um ihm den Vergleich mit der realen Natur unmöglich zu machen.“3 Bild und Ausstellungsraum waren untrennbar miteinander verknüpft. Das bereits erwähnte Faux Terrain brachte der deutsche Architekturmaler Johann Adam Breysig ins Spiel. Als das erste Panorama in Deutschland – Breysigs Ansicht Roms von den Ruinen der Kaiservilla aus – 1800 in Berlin eröffnet wurde, fand sich zwischen Besucherplattform und Gemälde eine marmorierte Leinwand, die mit „Steinen, Blättern und Geröll bedeckt [war], um die Ruinen anzudeuten, von denen aus Rom zu sehen war“.4 Damit hatte Barkers Konkurrent den, wenn auch noch minimalistischen, Vorläufer des plastisch gestalteten Vorgeländes geschaffen, das wenige Jahrzehnte später 3 4
Oettermann 1980, 41. Comment 2000, 51.
Panoramen des 19. Jahrhunderts
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Abb. 2: Teil des plastisch gestalteten Vorgeländes (Faux Terrain) zwischen Rundgemälde Schlacht am Bergisel und Besucherplattform im „Tirol Panorama“. Foto: Susanne Gurschler.
wesentlicher Bestandteil jedes Panoramas sein sollte. Die Panoramenmaler gestalteten den Bereich zwischen Aussichtsplattform und Gemälde als künstliche Landschaft, füllten diese mit Sand, Steinen und dergleichen auf und stellten zum Motiv passende Objekte hinein, wie etwa Strandkörbe oder Boote. So sollte vorderhand nicht erkennbar sein, wo das Vorgelände aufhörte und das Bild begann. Der Illusionismus der Malerei wurde durch das dem Leinwandrund vorgelagerte faux terrain gesteigert, eine plastisch ausgeführte Landschaftsnachbildung samt Requisitenarrangements, die optisch mit dem Gelände verschwamm und zugleich den Bildraum an den Betrachter heranrückte. Die Simulation von Realität ging Hand in Hand mit einer Besucherregie, die im Dienst der Emotionalisierung des Seherlebnisses stand.5
Die Herstellung der Riesenrundgemälde war aufwendig und teuer. Die Leinwand bestand aus mehreren zusammengenähten Stoffbahnen. Sie wurde auf eine Rolle gewickelt, entlang einer stabilen Leiste abgerollt, befestigt und die beiden Enden miteinander verbunden. Die Maler erstellten Bögen mit Skizzen der einzelnen Abschnitte der gewählten Ansicht und reihten sie aneinander. Mithilfe eines Ras5
Bartetzky 2014, 14.
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Susanne Gurschler
ters übertrugen sie das Motiv auf die Leinwand, wobei sie sich auf rollenden Gerüsten entlang der Leinwand bewegten. Panoramenmalerei war nicht die Arbeit eines einzelnen Künstlers, Teamarbeit, schon allein aufgrund der Größe der Objekte. Es gab Gemälde in einer Größenordnung von 2000, 3000 Quadratmetern und mehr. Großflächige Malarbeiten, wie zum Beispiel einen strahlend blauen Himmel, führten in der Regel Gehilfen aus, Detailarbeiten akademische Maler beziehungsweise der verantwortliche Künstler selbst.
Die Verbreitung Barkers Panorama am Leicester Square in London war eine Attraktion, zu Tausenden stürmten die Besucher seine Rotunde und machten ihn zu einem reichen Mann. Nachdem er die Rundgemälde in London gezeigt hatte, schickte er sie auf Tournee durch das Königreich. Als 1801 das Patent fiel, schossen in der Hauptstadt des britischen Empire die Rotunden wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Zeitungen und Zeitschriften auf dem Festland berichteten euphorisch über die britische Erfindung und es dauerte nicht lange, da wollten die Festlandeuropäer, ja auch die Amerikaner ein solches monumentales, hyperrealistisches Bild sehen und die perfekte Illusion erleben. Die Frage, warum diese Panoramen so erfolgreich waren, lässt sich relativ leicht beantworten. Das 19. Jahrhundert war eines der großen Umbrüche. Es war das Zeitalter des Kolonialismus, der Industrialisierung, das Zeitalter enormer wissenschaftlicher und technologischer Fortschritte. Städte wie London und Paris wuchsen zu Megacities. Ende des 18. Jahrhunderts stieg der erste Heißluftballon in den Himmel, wenige Jahrzehnte später wurde erstmals Leben in der Tiefsee nachgewiesen. Immer mehr weiße Flecken auf der Landkarte verschwanden. Die Beherrschung der Natur wurde zu einem zentralen Thema: Sie wurde erobert, kartografiert und klassifiziert. Panoramen gaben den Menschen das Gefühl, den Überblick zu behalten, Macht über die Dinge zu haben. Sie ermöglichten es den Besuchern, ihre Stadt aus der Vogelperspektive, Küstenstreifen vom Schiff aus zu betrachten. Bald gab es zudem Gemälde von fremden Städten und Regionen. Die Panoramenmaler reisten nach Konstantinopel und nach Jerusalem, nach Rom und Palermo, nach Amerika und Afrika. Sie brachten Skizzen mit nach Hause und übertrugen sie auf riesige Leinwände. Leute, die sich eine Reise in ferne Länder nicht leisten konnten, hatten so die Möglichkeit, eine Reise im Kopf zu unternehmen. Die Napoleonischen Kriege und der zunehmende Nationalismus hatten ebenfalls Einfluss auf die Motivwahl. In den Vordergrund rückten immer mehr patri-
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otische Themen, das massenwirksame Panorama geriet zum Propagandamittel. Fast 35 Jahre nach Barkers Patentanmeldung war das Panorama als Kunstform auf seinem Höhepunkt, zur perfekten Täuschung gereift. Und es war ein Medium für alle. Nicht mehr Erbauung durch die Kunst stand im Mittelpunkt, das Vergnügen: Mit dem Panorama entwickelte sich eine Massenkultur, die sich vom Neuen und Innovativen speiste. Nicht mehr die bis dahin gültigen Ideale begründen deren Anziehungskraft, sondern emotionale Involviertheit und der Zauber der Szenerie. Nicht mehr die Meinung geistiger Vorbilder war maßgeblich, es kam darauf an, daß die Masse sich unterhielt.6
Rasch bildeten sich spezielle Formen von Panoramen heraus, so etwa das Georama, das die Form eines großen hohlen Globus hatte, auf dessen Innenfläche die Kontinente, Flüsse etc. abgebildet waren, oder das Pleorama. Hier saß der Betrachter an Deck eines Schiffes und die Küste zog an ihm vorbei, als würde er sich auf einem realen Schiff befinden. Tatsächlich wurde aber das Bild am Beschauer vorbeigeführt. Die-ramen boomten eine kurze Zeit, befriedigten die Neugierde und förderten den Drang nach immer spektakuläreren Ansichten. Nachdem bis Mitte des 19. Jahrhunderts das Interesse des Publikums an den Panoramen stark nachgelassen hatte, erlebten sie ab 1870 eine neuerliche Blüte. Dies hing einerseits mit dem starken Nationalismus zusammen, der nun kultiviert wurde und identitätsstiftende historische Ereignisse in den Vordergrund rückte, andererseits mit den sogenannten Weltausstellungen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts stattfanden. Sie präsentierten die neuesten technologischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen. Das Panorama erlebte eine heftige Wiedergeburt, auch im deutschsprachigen Raum. Berlin, Frankfurt, Hamburg und München hatten zeitweise gleich mehrere Panoramengebäude nebeneinander. Um zu verdeutlichen, auf welchem technischen Niveau sich Panoramen im ausgehenden 19. Jahrhundert befanden, ein Beispiel: Anlässlich der Weltausstellung in Paris 1900, die mit über 50 Millionen Besuchern bis heute zu den erfolgreichsten ihrer Art zählt, erwiesen sich zwei Panoramen als besonders zugkräftig, das des Transsibirien-Express, in dem die Besucher in einem Waggon saßen und die Landschaften an sich vorbeiziehen sahen, und das „Mareorama“. Die Betrachter standen hier nicht auf einer Plattform, sondern an Deck eines Schiffs, das wie auf hoher See schaukelte; sie gaben die Passagiere, während links und rechts auf rund 20’000 Quadratmeter bemalter Fläche die schönsten Häfen der Welt vorbei6
Comment 2000, 116.
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zogen. Schauspieler schlüpften in die Rolle der Besatzung, eine kühle Brise fegte über Deck und mit Hilfe eines ausgetüftelten Lichtspiels wurden Tag und Nacht simuliert.7 Mehr Illusion war aus diesem Medium nicht herauszuholen. Die Fotografie entwickelte sich zum massentauglichen Medium, das Kino stand in den Startlöchern.
Das Innsbrucker Riesenrundgemälde: Entstehungsgeschichte Das Innsbrucker Riesenrundgemälde Schlacht am Bergisel am 13. August 1809, so die ursprüngliche vollständige Bezeichnung, entstand in der zweiten Phase, gehörte allerdings in die Reihe der klassischen Panoramen: Das Gebäude war schlicht, ebenso die Präsentation. Sie kam ohne Pulverrauch und Kriegsgeheul aus. Am 13. Juni 1896 öffnete am Innsbrucker Messegelände die „Internationale Ausstellung für körperliche Erziehung, Gesundheitspflege und Sport“ ihre Pforten.8 Im Zentrum standen Industriezweige, die für den noch jungen Fremdenverkehr in Tirol bedeutend waren. Zusätzliche Attraktion bot ein Panorama, das im Boten für Tirol und Vorarlberg als „Piece de resistence [sic]“, als Glanzstück der ganzen Ausstellung bezeichnet wurde.9 Geplant war, das Schlachtengemälde später als gigantisches Werbebanner für die Tiroler Landeshauptstadt und ihre Umgebung auf Reisen zu schicken und dadurch einen touristischen Mehrwert zu erlangen. So stand in der Zeitung weiter zu lesen: Die herrliche, geradezu einzig schöne Lage von Innsbruck ist im Auslande noch bei weitem nicht so bekannt und gewürdigt, wie sie es verdient. Dieses Panorama wird aber noch viel wirksamer als jede Reclame auf seiner Wanderung im Auslande die Kunde von dem schönen Innsbruck in die weitesten Fernen tragen und die Freunde einer großartigen Alpennatur unwiderstehlich zu einem Besuche einladen.10
In unmittelbarer Nähe zum Ausstellungsgelände war eine Holzrotunde nach den Plänen des Münchner Zimmermanns David Niederhofer errichtet worden. Das rund 1000 Quadratmeter große Gemälde entstand unter der Federführung und nach Skizzen des Münchner Panoramenmalers Michael Zeno Diemer.11 7 8 9 10 11
Comment 2000, 73–76. Bote für Tirol und Vorarlberg vom 13.6.1896, 1090. Bote für Tirol und Vorarlberg vom 13.6.1896, 1090. Bote für Tirol und Vorarlberg vom 13.6.1896, 1090. Näheres zu Diemer, den weiteren beteiligten Malern, zu Arbeitsweise sowie Maltechnik bei Oettermann 1980, 240; Gurschler 2011, 31–39; Werner/Baumgärtner 2014, 23, 180.
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Diemer, 1867 in München geboren, hatte die dortige Kunstakademie besucht und sich bereits einen Namen als Landschafts- und Historienmaler gemacht. Er war begeisterter Bergsteiger und ein ambitionierter Maler der Bergwelt. „Er hatte die seltene Gabe, Berglandschaften zu porträtieren. Er berücksichtigte die geologische Beschaffenheit ebenso wie die wechselnden Stimmungen, die sich durch die Witterungen und die Jahreszeiten ergeben. […] Er brachte die Kunst mit der Wissenschaft in Einklang.“12 Das Riesenrundgemälde war nicht Diemers erste Arbeit für Innsbruck. 1893 hatte er im Auftrag des Tiroler Fremdenverkehrsamtes ein Diorama des Pitztaler Gletschers erstellt, das erfolgreich bei mehreren Weltausstellungen präsentiert worden war, u. a. in Chicago. „Zeitgenossen beschrieben das elektrisch beleuchtete Alpenpanorama als künstlerischen Höhepunkt, das die Besucher mit Kuhglocken, Gebirgshörnern und Jodlern am Eingang anlockte, und im Inneren mit elektrischen Windmaschinen in Sturmhöhen versetzte.“13 1895/96 arbeitete Diemer an gleich drei Monumentalbildern, der Schlacht von Orléans, der Schlacht bei Bazeilles (Sedan), beide ausgestellt im Panoramagebäude auf der Theresienhöhe in München, und der Schlacht am Bergisel. Erhalten ist allerdings nur letzteres Bild. Das Rundgemälde zur Schlacht von Orléans stellte Diemer 1895 fertig. Danach malte er tagsüber an der Schlacht von Bazeilles, nachts beschäftigte er sich mit den Skizzen für das Rundgemälde der Schlacht am Bergisel, die er sonntags nach Innsbruck brachte, wo seine Mitarbeiter sie auf die Leinwand übertrugen. Das Team um Diemer bestand aus einer Handvoll gut ausgebildeter Münchner Kollegen und dem gebürtigen Osttiroler Franz Burger. Letzterer war ihm bereits bei der Erstellung der Farbskizzen im Atelier in München behilflich gewesen und auch hier mit wesentlichen Arbeiten betraut. „Nachdem der Horizont bestimmt und die Quadrate aufgetragen waren, wurden Landschaft und Figuren in Quadraten nach der kleinen Skizze gezeichnet, hernach begann das Malen“,14 notierte Burger in seinem nach 1920 verfassten Lebenslauf. Welchen Einfluss Burger insgesamt auf die Gestaltung hatte, beschrieb Diemer in seinen Erinnerungen folgendermaßen: „Die Berglandschaft malte ich ganz allein, ebenso die Hauptgruppe mit Andreas Hofer und seiner Umgebung. Franz Burger erwarb sich mit der sauberen Durchführung der Stadt Innsbruck und der Wiltener Kirchen ein besonderes Verdienst.“15 Ab Ostern 1896 hielt sich Diemer durchgehend in Innsbruck auf.
12 13 14 15
Tamerl 2002, 148. Charles Mulford Robinson, paraphrasiert nach Werner/Baumgärtner 2014, 12. Zitiert nach Pfeiffer 1987, 130. Zitiert nach Jäger 1995, 89.
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Inhalt und Blicklenkung Die auf dem Innsbrucker Monumentalgemälde dargestellte dritte Schlacht am Bergisel stellt den Höhepunkt der Tiroler Erhebung gegen die bayerischen Besatzer dar. Sie fand am 13. August 1809 statt. Die feindlichen Truppen – hier die Tiroler, dort die Bayern mit den verbündeten Franzosen – trafen auf dem Hügel südlich von Innsbruck aufeinander. Der Standpunkt des Betrachters ist der Bergisel, Zeno Diemer hat den – heute nicht mehr existierenden – Buchhof als Aussichtspunkt angegeben. Dieser lag nordöstlich der heutigen Skisprunganlage. Dargestellt ist auf dem Gemälde, grob umrissen, die Nordkette samt darunter liegender Stadt Innsbruck mit Stift und Basilika Wilten (Abb. 3), das Unterinntal mit Hall und Kaisergebirge im Bildhintergrund, davor Sill, Schloss Ambras, der Bergisel selbst mit der zentralen Figur des Geschehens, Andreas Hofer, und zu guter Letzt im Bildhintergrund das Oberinntal mit Martinswand. Im Bildvordergrund sind rundum Kampfhandlungen zu sehen. Anlässlich der Eröffnung des Riesenrundgemäldes im Juni 1896 erschien eine Broschüre mit Angaben zur Entstehung des Gemäldes sowie einem detaillierten Überblick über die historischen Ereignisse rund um den 13. August 1809. Darüber hinaus gab Diemer eine genaue Beschreibung des Bildinhalts.16 Der Maler setzte dabei eine bemerkenswerte Dramaturgie, die den Leser an der Hand nahm und ihm die Geschichte anhand eines fortlaufenden Bildes erzählte, in dem er bestimmte entfernte Momente heranzoomte, ins Zentrum der Wahrnehmung rückte, um dann wieder auf konkrete Ereignisse im Bildvordergrund einzugehen. Damit wurden gleichzeitig die eigentlich zentralen Motive der Darstellung in ihrer unmittelbaren Wirkung intensiviert. So geriet das Riesenrundgemälde zum farbenprächtigen und detailreichen ‚Film‘, der vor dem Auge des Betrachters ablief. Bevor es nun gilt, auf die von Diemer vorgegebenen Blickbezüge einzugehen, sei erwähnt, dass die Präsentation heute eine andere ist als 1896, als das erste Panoramagebäude errichtete wurde, und auch eine andere als in jener Rotunde am Innsbrucker Rennweg, in der das Gemälde – mit einer Unterbrechung im Ersten Weltkrieg17 – bis 2010 hing. In diesem Jahr wurde das Monumentalbild in ein neu errichtetes Museum am Bergisel transferiert. Im „Tirol Panorama“ ist das Geländer verglast, wodurch der Besucher bereits am Stiegenaufgang Einblicke in das
16 Alle folgenden Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus dieser Broschüre (Diemer 1896, 8–12). 17 Das Gemälde kam 1917 zur Kriegsausstellung nach Wien, wurde dort eingelagert, nach Kriegsende nach Innsbruck zurückgebracht, in der Rotunde am Rennweg aufgehängt und ab 1924 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Weiteres dazu: Gurschler 2011, 71–74.
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Abb. 3: Ausschnitt aus dem Riesenrundgemälde Schlacht am Bergisel: Die Nordkette mit Nebelschwaden, darunter die Stadt Innsbruck und im Gemäldevordergrund Basilika und Stift Wilten. Foto: Susanne Gurschler.
Gemälde erhält. An der von Diemer intendierten Inszenierung ändert das nichts – vielmehr bleibt es spannend und aufschlussreich, das Gemälde anhand Diemers Beschreibung zu betrachten. Das Innsbrucker Riesenrundgemälde zeigt die Situation am 13. August um circa 17 Uhr, also am Ende einer seit 8 Uhr früh stattfindenden Kampfhandlung. Der erfahrene Bergmaler Diemer wusste natürlich, dass die Sonne am späten Nachmittag starke Schatten wirft. Konturen treten stärker hervor, zudem sind die Bergspitzen bei Schönwetter in gleißendes Licht getaucht. In Diemers Beschreibung des Bildes erblickt der Besucher beim Betreten des Podiums als erstes die imposanten Kalkalpen nördlich von Innsbruck, die, vollkommen in diffus-diesiges Licht getaucht, eine beinahe mystische Überhöhung erfahren. Er verweist auf die Solsteinkette, den südlichsten Kamm des Karwendelgebirges, und in ihrem westlichsten Ausläufer auf die senkrecht aufsteigende Martinswand, die den Anfang bildet „zu einer glänzenden Gipfelkette, die erst bei Hall ihren Abschluß findet“, inklusive Brandjoch, Frau Hitt und Bettelwurfspitze. Es ging Diemer ganz offensichtlich darum, eine bestimmte Stimmung im Betrachter zu wecken, denn er fährt mit der Beschreibung der Witterung fort. „In halber Höhe des Berges lagert ein Nebelstreifen, wie er gewöhnlich nach einem Gewitterregen beobachtet wird.“ In diese „langgezogene Dunstschichte“ mischen
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sich die Rauchwolken brennender Höfe, des Kerschbuchhofs in Kranebitten, des Allerheiligen- und des „Eltzethalerhofs“ sowie des Planötzenhofs auf dem Plateau nordwestlich der Stadt. Die diesige Flüchtigkeit ist damit durchbrochen und Diemer führt den Betrachter nun zu den Ausläufern des Bergzugs und zur im hinteren Bereich ebenfalls im Dunst liegenden Ebene. Entlang der Pappelallee, die sich an der „Ober innthalerstraße“ Richtung Kranebitten zieht und quasi eine Trennlinie bildet, lenkt er den Blick unter die Martinswand. Dort ist schwach der Rauch der „Kleingewehrfeuer der Oberinnthaler und Obervintschgauer“ Schützen zu sehen, die sich an dieser Stelle postiert haben. Diemer führt den Betrachter nun zu den Ausläufern des Bergzugs und dirigiert die Konzentration immer weiter in den Bildvordergrund, dahin, wo die eigentlichen Gefechte stattfinden: Die Bayern und Franzosen, die den Berg stürmen, und die Tiroler, die sie nicht herauflassen bzw. zurückdrängen wollen. Die Wahrnehmung ist nun bei Basilika und Stift Wilten angelangt. Erst jetzt lenkt Diemer den Blick auf das Naheliegende, wodurch es an Prägnanz gewinnt, verstärkt durch die unmittelbare Wucht der Szene. In diesem Augenblick schlägt nämlich eine Granate in einen hoch aufragenden Föhrenstamm ein, die Äste knacken, Funken sprühen – direkt vor dem Betrachter und nicht zu übersehen: Diemer hat den Effekt verstärkt, indem er Stanniolpapier anklebte (Abb. 4). Darunter stürmt die bayerische Infanterie gegen die Tiroler vor. Ein Fahnenträger winkt nach Nachschub. Diemer gibt in seiner Beschreibung auch genau an, wo sich das Dargestellte abspielt, es ist die Stelle, an der heute das Kaiserjägermuseum, das Andreas-Hofer-Denkmal und die Schießstände stehen. Der Betrachter ist also am Ort des – späteren – Gedenkens am Bergisel angekommen. Spannungsgeladen auch die weiteren dargestellten Ereignisse: Dem Beschauer zunächst finden wir eine Tiroler Schützenlinie in schwerer Bedrängnis; es sind Bauern aus verschiedenen Thälern. Hier ein Sarnthaler Fahnenträger, der um Verstärkung zurückruft, da das Häuflein sonst dem Angriff der Übermacht nicht länger standhalten kann; dort 2 todte Bayern, Zeugen des schon um die Mittagsstunde abgewehrten blutigen Ansturmes,
schreibt der Maler. Über die Wipptaler mit violetten Röcken, die Sterzinger und eine Gruppe Sarntaler Schützen zieht die Aufmerksamkeit nun „tief hinunter bis zur Sillbrücke“. Dort rückt gerade einer der Getreuen Hofers, Schützenmajor Speckbacher, mit einem Teil des Landsturmes an, „die Brücke verteidigend, während der andere
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Abb. 4: Diemer lenkt den Blick immer weiter in den Vordergrund. Direkt vor dem Betrachter schlägt eine Granate ein, in der Verlängerung des höchsten Baumes der hell leuchtende Bettelwurf. Foto: Susanne Gurschler.
Theil vom Waldrand aus durch lebhaftes Feuer den Ansturm der Bayern zu vereiteln sucht, die auf den Amraser Feldern von den Sillhöfen […] her, sowie neben Dorf Amras […] gegen den Paschberg vordringen“. Der nächste Angelpunkt, den Diemer vorgibt, ist der Bettelwurf, dessen Konturen besonders hell und stimmungsvoll in der Abendsonne leuchten. „Rechts reicht unser Blick weit hinweg über Hall gegen Unterinnthal und das im Abendroth erglühende Kaisergebirge“, an das sich das Kellerjoch bei Schwaz schließt. Schon ist es wieder vorbei mit der Naturidylle, mit der Beschaulichkeit, denn in der Bildmitte flackert Feuer: Der Lemmenhof brennt lichterloh (Abb. 5). Im Bildvordergrund geht es ebenso dramatisch zu. Die Meraner Schützen stürmen den Paschberg hinunter, links schlägt eine Granate ein. Der Betrachter steht nun Freund und Feind genau gegenüber – ist aber auf der sicheren Seite. Im Pulverdampf hebt zentral ein Mann den Säbel in die Luft, „der edle Peter Mayr, Wirth an der Mahr“, gefolgt von seinen „Leuten aus dem Eisacktal, ferner solche von Eggental, an ihren gelben Rücken erkenntlich“. Über die Hinabstürmenden hinweg weist Diemer auf einen Geistlichen, der unter einem großen Baum einem Sterbenden den letzten Trost spendet, während vor dem Haus dahinter ein Häuflein gefangener Sachsen steht, „die nach tapferer Vertheidigung die Waffen strecken mussten“. Gleich ums Eck ein weiterer Ver-
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Abb. 5: Vom Kaisergebirge und vom Schloss Ambras geht die Aufmerksamkeit über auf die Geschehnisse im Bildvordergrund; Signalwirkung haben der brennende Lemmenhof und die Rauchschwaden. Foto: Susanne Gurschler.
trauter Hofers, auch er mit seinem erhobenen Säbel leicht auszumachen, der „tapfere Thalguter“, der „eben seine Schützen im Sturm an der Hütte vorüber“ führt. Diemer bleibt mit seiner Beschreibung im Bildvordergrund. Hier spielen sich geradezu herzzerreißende Szenen ab. Hinter einem Zaun, der nur schwache Deckung bietet, findet sich eine Abteilung Passeirer, die ein mörderisches Feuer unterhalten; alte Greise mit silbergrauem Haar, selbst sie bieten ihre schwachen Kräfte auf zur letzten verzweifelten Abwehr; hier reicht eben eine Dirne einem Verwundeten ein Glas Wein, während sie die andere Hand auf die von feindlichen Kugeln ins Fäßchen geschlagenen Löcher preßt, damit der Inhalt nicht verloren gehe.
Mit dem Hinweis auf alte Menschen, auf Verwundete, Frauen wird der Blick ex trem emotionalisiert, und das hat einen Grund und ein Ziel. Oben auf dem Hügel, teilt Diemer dem Betrachter mit, „ist soeben der Oberkommandant Andreas Hofer erschienen, um von hier aus persönlich seine Anordnungen zu treffen“. Interessanterweise weicht der Maler an dieser Stelle von der bisher vornehmlich beschreibenden Form in die interpretierende und unterstreicht damit, dass Hofer die zentrale Figur ist, um die herum sich alles andere gruppiert: „Die imponirende Ruhe, die
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Abb. 6: Die zentrale Figur des Gemäldes ist Andreas Hofer. Er strahlt Ruhe und Gelassenheit aus – und war in Wirklichkeit gar nicht am Bergisel, sondern in einem Gasthaus in Schönberg. Foto: Susanne Gurschler.
der biedere Sandwirth stets bewahrte, bildete auch hier einen eigenartigen Gegensatz zu der Lebhaftigkeit seiner Umgebung.“ Flankiert wird Hofer vom Adjutanten Matthias Purtscher sowie dem Landesschützen-Major Josef Nikolaus Graf von Hendl. Während also rundum alles in Bewegung ist, fungiert der Anführer der Aufständischen als zentraler, ruhender Pol. Er ist Beobachter der Szenerie und hält gleichzeitig die Fäden in der Hand (Abb. 6). Ein Detail ist hier noch hervorzuheben: Die hohen Baumskelette rechts von Hofer sind erst später eingefügt worden. Sie kaschieren die Naht, die geöffnet worden war, um das Bild aufzurollen und zu transportieren – es war 1906 bei der „Royal Austrian Exhibition“ in London und 1917 bei der Weltkriegsausstellung in Wien gezeigt worden. Nun wendet sich der Betrachter nach rechts, schaut in den Hohlweg, der am Bergisel vorbeiführt, und wo „tapfer vorstürmende Bayern“ den wie ein „Bergstrom hervorbrechenden Kompanien“ von Wipptaler Schützen im „Verein mit österreichischen Soldaten“ entgegentreten. Dabei verstärkt Diemer die Dramatik der Szene, dieses letzten Aufbäumens der Feinde, noch einmal, indem er im Bildvordergrund den „heldenkühnen“ Kapuzinerpater Haspinger inmitten der tumultuarischen Auseinandersetzungen auftreten lässt. Ins Auge sticht weiter der lichterloh brennende Reselehof, daneben der hart umkämpfte Ansitz Sarnthein mit aus dem Wald vorpreschenden Schützen, welche die bayerischen Kompanien bedrängen.
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Abb. 7: Am Ende seiner Beschreibung des Gemäldes lenkt Diemer den Blick des Betrachters wieder in die Ferne, ins Oberinntal, zu den erhabenen Bergen, die von den Ereignissen im Tal unangefochten sind. Foto: Susanne Gurschler.
Der Betrachter ist nun am Ende seines Rundgangs angelangt und auch am Ende der Schlacht, denn die Kämpfenden werden bald wegen Erschöpfung aufgeben und sich zurückziehen. Zum Abschluss lenkt Diemer den Blick des Betrachters nun wieder auf die fulminante Bergwelt (Abb. 7). Er schreibt: „Ueber diese bewegte Gruppe hinweg schweift der Blick in das von der goldenen Abendsonne verklärte Oberinnthal, aus dessen Hintergrund die Heiterwand hervorlugt.“ Diemer nützte die imposante Berglandschaft, um die Blicke des Betrachters zu steuern und den dramatischen Effekt zu steigern. Immer wieder lenkte er die Aufmerksamkeit in den Bildhintergrund, auf die Berge, und langsam wieder nach vorne, ins Zentrum der kämpferischen Auseinandersetzung. In gewisser Weise könnte sogar gesagt werden, dass die Berge in ihrer Erhabenheit unberührt bleiben von dem, was sich im Tal abspielt. Sie stehen mächtig und unerschütterlich über den Dingen. Der Auftrag, ein historisch aufgeladenes Stück Tiroler Geschichte mit dem imposanten Naturpanorama des Inntales zu vereinen, ist Diemer damit zweifelsohne gelungen. Tatsächlich vermittelt einem dieses Bild nicht den Eindruck eines Gemetzels, der Betrachter hat kaum die Empfindung, Beobachter einer Schlacht zu sein: Es gibt wenig Verwundete, nur einzelne Tote, die ins Auge stechen, Blut ist selten zu sehen. Die ganze Szenerie wirkt sauber geordnet – und das, obwohl seit Stunden erbittert gekämpft wird.
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Bei den Zeitgenossen hat das Bild eine enorme Wirkung entfaltet. So berichtete der Heimatdichter Peter Rosegger nach dem Besuch des Panoramas: Es ist die größte Kühnheit der Kunst, an Ort und Stelle mit der Natur konkurrieren zu wollen. Dem Manne, der das Panorama Die Schlacht auf dem Berge Isel gemalt hat, ist’s gelungen. […] Prachtvoll aber ist in diesem Panorama von Innsbruck das Landschaftsbild – das unvergleichliche Landschaftsbild, wie so großartig, malerisch und freundlich zugleich es kaum eine andere Stadt unserer Himmelsstriche aufzuweisen hat. […] Als ich ins Freie trat, – stand dasselbe Landschaftsbild in Natur um mich da – und die Natur hat den Eindruck der Kunst nicht erreicht. Ein ungeheurer Erfolg!18
Diemer selbst schilderte in seinen Erinnerungen eine Episode, die sich anlässlich der Eröffnung des Panoramas ereignet haben soll: „Ein alter Bauer in Ultentaler Tracht sprang über das Geländer auf den plastischen Vordergrund und wollte mit seinem Hut das verglimmende Wachtfeuer löschen, das er für echt hielt. Es war nur aus rotem Stanniolpapier.“ Dem nicht genug. Bei seinem beherzten Satz mitten ins Faux Terrain brach der Mann durch die Bretter und „wäre „beinahe ins ‚Erdinnere‘ gestürzt“, er kam aber mit einem Schrecken und einer zerrissenen Hose davon.19 Ob diese Anekdote wahr ist oder gut erfunden, sie zeigt eindrücklich, was Panoramen bewirken sollten: die perfekte Illusion herstellen. Der Wirkung entziehen können sich auch Betrachter im 21. Jahrhundert nicht. Mag die Illusionswirkung durch die vielfältigen medialen Erfahrungen, die Menschen heutzutage machen, stark abgeschwächt sein, der Vergleich der dargestellten Landschaft mit dem Panorama, das sich am Bergisel real eröffnet, hat einen ganz besonderen Reiz – auch wenn die Funktion der historischen Panoramen als erstes Massenmedium, als ‚Illusionsmaschine‘ im „Tirol Panorama“ leider nicht thematisiert wird.
Literatur Bartetzky, A.: Das Panorama als kommerzieller Vergnügungsort und nationale Weihestätte, in: Bartetzky, A./Jaworski, R. (Hg.): Geschichte im Rundumblick. Panoramabilder im östlichen Europa, Weimar/Wien 2014, 13–26 Comment, B.: Das Panorama. Die Geschichte einer vergessenen Kunst, Berlin 2000 Diemer, M. Z.: Panorama der Schlacht am Bergisel (Innsbruck) am 13. August 1809. Co18 Zitiert nach Sandbichler 2002, 127. 19 Diemers nur in Auszügen veröffentlichte Erinnerungen sind hier nach Pfeiffer 1987, 138 zitiert.
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lossalrundgemälde von Michael Zeno Diemer, München 1896 Gurschler, S.: Panorama der „Schlacht am Bergisel“. Die Geschichte des Innsbrucker Riesenrundgemäldes, Innsbruck/Wien/Bozen 2011 Jäger, H.: Pitztal. Kunst, Alpinismus, Photographie, Imst/Oetz 1995 Oettermann, St.: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M. 1980 Pfeiffer, K.: Franz Burger. Leben und Werk. Exkurs über das Innsbrucker Rundgemälde „Die Schlacht am Bergisel 13. Aug. 1809“, Innsbruck 1987 Sandbichler, B.: Andreas Hofer 1809. Eine Geschichte von Treue und Verrat, Innsbruck/ Wien 2002 Tamerl, A.: Wie das Land Tirol nach Chicago kam. Michael Zeno Diemer, ein vergessener Maler der Tiroler Berge, in: Alpenvereinsjahrbuch 2002, Innsbruck 2002, 148–165 Werner, C./Baumgärtner, G.: Michael Zeno Diemer 1867–1939 – Landschaft, Historie, Technik. Katalog zur Ausstellung vom 6. Juni bis 2. November 2014 im Oberammergau Museum, im Werdenfels Museum und im Geigenbaumuseum Mittenwald, Berlin/München 2014
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Landschaft bei Alfons Walde
Es gibt wohl kaum ein Thema, das sich enger mit dem 1891 in Oberndorf bei Kitzbühel geborenen und 1958 in Kitzbühel verstorbenen Maler Alfons Walde1 verbinden lässt als die Landschaft im Sinne ihrer Entdeckung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Dies gilt für das Werk selbst und insbesondere für seine Wahrnehmung. Seine populären Winterlandschaften führten zur Etikettierung Waldes als „Landschaftsmaler“ oder „Schneemaler“, ergänzt allenfalls mit dem Begriff „Maler des Schnees und des Wintersports“. Letzterer zielt auf seine Wintersportsujets ab, mit denen er – anders als im Falle des Schnees, der seit den Impressionisten Thema ist2 – tatsächlich Neuland betritt. Während seine Genremotive, wie die an Egger-Lienz erinnernden Bauern am Tisch,3 immerhin auch Beachtung fanden und finden, waren andere Aspekte seines Œuvres, zu denen insbesondere die Akte zählen, lange Zeit überhaupt kein Thema. Welche Bedeutung der Aktfotografie Waldes zukommt, wurde umfassend gar erst in einer vom Fotomuseum Westlicht, Wien, konzipierten und im Winter 2014/15 unter dem Titel Schaulust dort und im Museum Kitzbühel präsentierten Ausstellung beleuchtet.4
Lebensraum 1: Bewunderung der und Messen mit der Landschaft Nun mag diese Etikettierung einen Aspekt von Waldes Werk überbetonen, völlig falsch ist sie nicht. Landschaft nimmt nicht nur in Waldes Werk, sondern auch in seiner persönlichen Entwicklung eine wichtige Stellung ein. Beides steht in engem Zusammenhang mit seinem Lebensraum Kitzbühel, einer kleinen Stadt, deren Selbstverständnis schon zu Waldes Zeiten und heute erst recht ganz wesentlich auf dem Wert einer Landschaft beruht, die als Idylle, romantisch oder einfach nur schön empfunden wird.5 Genaugenommen handelt es sich dabei, wie der Titel die1 2 3 4 5
Umfassend zu Biographie und Werk Ammann 2012. Dazu Treusch 2009; generell zum Thema Schnee in der Kunst vgl. Stadtgemeinde Kitzbühel 2008 und Natter 2009. Zum Einfluss von Egger-Lienz auf Walde Dankl 2008. Coeln 2014; zur Fotografie bei Walde allgemein: Moschig 2012. Zu Waldes Lebzeiten ist der Umbruch von einer bäuerlich geprägten Kleinstadt zur Touris-
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Abb. 1: Ferdinand Runk, Kitzbüheler Horn, 1801 (Museum Kitzbühel).
ses Bandes suggeriert, um mehrere Entdeckungen oder zumindest um verschiedene Aspekte der Landschaft. Im Verständnis des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird auch die Kitzbüheler Landschaft als Ideal des Erhabenen entdeckt. Im Auftrag Erzherzog Johanns schafft Ferdinand Runk (1764–1834) im Jahr 1801 neben einer Federzeichnung Kitzbühels (heute im Kupferstichkabinett der Akademie der Bildenden Künste in Wien) in genau diesem Verständnis eine Radierung des Kitzbüheler Horns (Abb. 1). Die damit verbundene Bewunderung der Natur geschieht in Nordtirol zunächst sehr zögerlich und bleibt noch häufig auf den Blick von unten beschränkt. Der Wiener Feuilletonist Daniel Spitzer hält dazu viel später, anlässlich eines Kitzbühel-Besuches 1877, mit spitzer Feder fest: Manche besichtigen auch von der Terrasse des Tiefenbrunnerbräu aus täglich das Horn mit einem Operngucker und essen immer stark zur Nacht, da sie vorhaben, jenes am nächsten schönen Morgen zu besteigen, ein Vorsatz, bei dem der Sommer sehr angenehm und ohne die mindesten Strapazen zu verursachen, vorübergeht. Derjenige, der wenigstens oberflächlich Bekanntschaft mit einem Bergriesen mamus-Dienstleistungsgesellschaft in vollem Gang (vgl. Sieberer 1999, Rettenwander 1999). Walde ist an diesem Wandel selbst aktiv beteiligt (vgl. Sieberer 2012).
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Abb. 2: Alfons Walde vor dem Gebra in den Kitzbüheler Alpen, undatiert, unbekannter Fotograf (Stadtarchiv Kitzbühel).
chen will, besucht die Ebner Kapelle, ein Aussichtspunkt, den man in einer Stunde erreicht, und von dem man den Anblick des Großvenedigers genießt.6
Das Zitat zeigt, dass inzwischen die aktive Auseinandersetzung mit der Natur vor allem in Form des Besteigens der Berge größere Ausmaße angenommen hat. Die ersten Berghütten werden in dieser Zeit errichtet und mit ihnen nimmt der Alpinismus seinen Anfang. Im nahen Wilden Kaiser schreiben an der Wende zum 20. Jahrhundert vor allem deutsche Bergsteiger Alpingeschichte und in derselben Zeit beginnt sich der Skisport zu entwickeln, der damals ja insbesondere auch aus dem Aufstieg besteht. Zur Bewunderung der Natur gesellt sich das Messen mit ihr.7 In diese zweite Phase der Landschaftsentdeckung wird Alfons Walde hineingeboren. Er gehört zur ersten Generation von Kitzbühelern, die im Gefolge von Skipionier Franz Reisch mit dem Wintersport aufwachsen, und entwickelt sich mehr noch als zum aktiven Wintersportler zum Naturgenießer. Von Fotos, die ihn in den Kitzbüheler Bergen beim Aufstieg zeigen (Abb. 2), zu seinen klassischen Winterlandschaften scheint der Weg kein weiter, rasch beschritten wird er aber nicht. 6 7
Zitiert nach Prieler 1999, 142. Zur alpinistischen Erschließung des Wilden Kaisers Schmitt 1942, 138–296; zum Beginn des Skisportes in Kitzbühel Neuner 1993, 122–125.
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Wido Sieberer Abb. 3: Alfons Walde, Herbstabend, Öl auf Karton, um 1914; © VBK, Wien.
Prägung in Wien durch Klimt und Schiele Das Studium an der Technischen Hochschule führt Walde von 1910 bis 1914 zunächst nach Wien. In seinem in dieser Zeit von Klimt und Schiele maßgeblich beeinflussten Frühwerk nimmt die Landschaft an sich bei Weitem nicht den Stellenwert späterer Jahre ein. Stimmungsbilder wie Herbstabend (Abb. 3) oder Wintermorgen zeigen ein bis dato ungesehenes Kolorit und eine graphisch betonte Malweise. Neben den raumfüllenden Formen bleibt die später prägnante raumgreifende Perspektive noch verhältnismäßig unauffällig. Der Erste Weltkrieg führt Walde bei aller Bewunderung der Natur an der Dolomitenfront, wie sie in zahlreichen Feldpostbriefen und Fotos zum Ausdruck kommt,8 zu anderen Motiven und einem düsteren Kolorit, das bis in die beginnenden Zwanzigerjahre anhält. Landschaft ist in dieser Zeit allenfalls als ‚Dach-Landschaft‘ Thema, ein Begriff, der die Entdeckung der Landschaft voraussetzt. Ob Walde seine großformatige 8
Zu Walde im Ersten Weltkrieg Kraus 2015; der unter den Signaturen StaK/Walde/3207–3232, 3234–3322, 3325–3336 im Stadtarchiv Kitzbühel befindliche Teil des Nachlasses Waldes enthält zahlreiche, fast durchwegs an seine Eltern gerichtete Briefe und Feldpostkarten, die ein eindrucksvolles Zeugnis vom Geschehen an der Südfront ablegen. Dasselbe gilt für das ebenfalls im Stadtarchiv befindliche Kriegsfotoalbum, dessen Fotografien zumindest teilweise von Walde selbst stammen dürften (StaK/Walde/3233).
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Stadt im Tauschnee in diesem Zusammenhang gesehen hat, ist nicht klar, die Bezüge zu Schieles berühmten Krumauer Dachlandschaften sind dagegen eindeutig und durch entsprechenden schriftlichen Austausch belegt.9
Lebensraum 2: Die Entdeckung des ökonomischen Faktors der Landschaft Der in Vorkriegs- und Kriegszeit eingeschlagene Weg setzt sich nicht fort, wofür die Änderung des Kolorits in den beginnenden 1920ern zeitgleich mit dem Wiedererstarken des Tourismus nur das augenfälligste Merkmal ist. Nach einer fast zehnjährigen Unterbrechung durch den Krieg besinnt man sich in Tirol verstärkt dieses schon vor 1914 bedeutenden Wirtschaftsfaktors. Bewusster wohl noch als früher wird der ökonomische Wert der Tiroler (Winter-)Landschaft erkannt und diese gezielt als Werbemittel eingesetzt. Dass Walde bei dieser Entdeckung des ökonomischen Faktors der Landschaft mitmischt, mag einerseits damit zu tun Abb. 4: Alfons Walde, Tiroler Bergdorf (Aurahaben, dass er mit anderen Motiven cher Kirchl, erste Fassung 1923), Öl auf Karton; weniger Erfolg hat. Eine Ausstellung © VBK, Wien. 1921 in der Innsbrucker Kunsthandlung Unterberger findet zumindest bei der 10 breiten Bevölkerung wenig Anklang. Andererseits ist Walde Geschäftsmann genug, um den neuen Markt zu bedienen.11 Diese Trendwende, im Zuge derer jener Teil seines Werkes entsteht, für den Walde heute so bekannt ist, lässt sich am besten anhand des Tiroler Bergdorfs illustrieren (Abb. 4). Es ist eines der ersten Gemälde, mit denen er 1923 erstmals nach dem Krieg wieder zu einer kräftigen, positiv gestimmten Farbigkeit findet. Als das Landesverkehrsamt in Innsbruck 1924
9 Vgl. Ammann 2012, 21; Sieberer 2013, 1–14. 10 Ammann 2012, 58–59. 11 Zu Waldes Engagement bezüglich der Entwicklung des Kitzbüheler Tourismus und in eigener Sache Sieberer 2012, 144–146.
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einen Wettbewerb unter dem Motto Winterbilder veranstaltet, um Motive für die offizielle Fremdenverkehrswerbung zu erhalten, reicht er das Tiroler Bergdorf ein und erhält den ersten Preis.12 Betrachtet man das Motiv mit seinen Details – Pate gestanden hat das kleine Dorf Aurach bei Kitzbühel, deswegen auch der Name Auracher Kirchl – kann man die Entscheidung der Touristiker gut nachvollziehen. Vor der Kulisse einer eindrucksvollen Winterlandschaft finden sich die damals noch wesentlich mehr als heute landschaftsprägenden Charakteristika des ‚heiligen‘ Landes Tirol, der Kirchturm mit der barocken Zwiebelhaube, die dörfliche Architektur mit dem Mensch und Vieh unter einem Dach vereinigenden Bauernhof und ganz vorn Tirolerinnen in Tracht. Auch wenn Waldes Bild den heutigen Kriterien einer Plakatgestaltung nur ungenügend entsprechend dürfte, vereinigt es jedenfalls gleich mehrere Tirol-Klischees und steht in einem touristischen Sinn für das Land. Das Motiv wird mit dem Schriftzug Tyrol zigtausendfach verbreitet. Seine Popularität zeigt sich unter anderem darin, dass es von Walde auf Bestellung von Kunden, vornehmlich von Gästen, selbst häufig mit nur geringen Unterschieden gemalt worden sein dürfte. Walde setzt in der Folge auf das Konzept „Architektur und Mensch in der Landschaft“, das, populär und verkaufswirksam, in seinem Werk an Bedeutung gewinnt und in den Dreißigerjahren mit Motiven wie Bergweiler oder Kaiser Hochalm dominierend wird.13 Dieses In-Szene-Setzen der Landschaft steht zweifellos in Konnex mit dem Tourismuswerbefaktor Landschaft. Dafür, dass Walde diesem Trend bewusst folgt, spricht, dass er seine Motive mittels eines Kunstverlages in Ansichtskarten- und Plakatform vertreibt.
Neues und Meisterhaftes: Aufstieg der Skifahrer und Almen im Schnee In diesem Zusammenhang gelingt ihm mit seiner Arbeit zum touristischen Lebensraum Kitzbühel der Zwanzigerjahre mit dem In-Szene-Setzen der Landschaft zugleich Neues und Meisterhaftes. Für beides mag Der Aufstieg stehen (Abb. 5) mit dem er beim bereits angesprochenen Wettbewerb des Landesverkehrsamtes den zweiten Preis erreicht hat. Das Neue ist der Wintersport, den Walde in der Kunst salonfähig macht, in diesem Fall mit dem eher statischen Motiv des aufsteigenden Skifahrers in der wuchtigen Gestalt der völkisch bewegten Zwanziger. Um deren Mitte folgen Motive wie Kristiania, die teilweise auf erste Skibilder in der Zeit vor 1914 zurückgreifend die dynamische Komponente des Sports in den Vordergrund stellen. Selten vergisst Walde auch auf den gesell12 Dazu Ammann 2012, 58–59. 13 Abbildungen bei Ammann 2012, 299 bzw. 117.
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Abb. 5: Alfons Walde, Aufstieg, 1927, Tempera auf Karton, © VBK, Wien.
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Abb. 6: Alfons Walde, Almen im Schnee, 1926, Öl auf Leinwand, © VBK, Wien.
schaftlichen Aspekt des Sports. Die Grubschanze zeigt etwa Zuseher, deren Kleidung sie als Teil der mondänen Gästewelt Kitzbühels ausweist.14 Der Aufstieg steht zudem am Anfang der Entwicklung der großformatigen Winterlandschaftsbilder, die zu den am meisten geschätzten Werken von Waldes Œuvre zählen. Erkennbar ist hier bereits die dreiteilige Komposition mit erhöhtem Vordergrund, über den tief eingerückten Mittelteil bis zum kulissenartig aufsteigenden Bergmotiv im Hintergrund. Der hier noch stärker abstrakt-flächig erscheinende Schnee wird in den Gemälden Almen im Schnee (Abb. 6) und Große Winterlandschaft15 in seiner im Wechselspiel von Licht und Schatten entstehenden Plastizität ausformuliert. In der Feinfühligkeit, mit der die aus den verschiedenen Brechungen des Lichts hervorgehenden Farbnuancen des Schnees berücksichtigt werden, erreicht Walde eine über Vorgänger wie Max von Esterle hinausgehende Meisterschaft. Auf realen Gegebenheiten beruhend, geben sie Stimmungen wieder, sind zugleich aber allgemein gültige Wiedergaben der Physiognomie der Kitzbüheler respektive Tiroler Winterlandschaft mit hohem Wiedererkennungswert. 14 Kristiania: Ammann 2012, 88, 278; Grubschanze: 78, 88. 15 Wobei im Aufstieg und insbesondere in der Großen Winterlandschaft Bezüge zur Neuen Sachlichkeit erkennbar sind (Ammann 2012, 83).
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Diese Landschaften haben etwas Erhabenes, aber nichts Bedrohliches. Der Mensch steht ihnen als zwar bewundernder, aber auf Augenhöhe stehender Betrachter gegenüber. Die Absenz des Bedrohlichen unterscheidet Walde von seinem Zeitgenossen, dem Fotografen Wilhelm Angerer, der ähnlich wie er zwar die Plastizität des Schnees thematisiert, durch die Wahl des Bildausschnittes aber auch eine Naturmystik bemüht, die durch Titel wie Die große Einsamkeit (Abb. 7) oder Lawinen trutzig noch unterstrichen wird.16 Es ist Abb. 7: Wilhelm Angerer, Die große Einsamkeit, auch eine andere Bergnaturbewunde1933–1942, Gevalux-Abzug; © Angerer. rung als die des eingangs präsentierten Ferdinand Runk, der diese Berge, anders als Walde, nicht aktiv begangen, sich nicht mit ihnen gemessen hat.
Lebensraum 3: Wohnen in der Landschaft – Erschließung und Eroberung der Bergwelt Wenn man wie zur Zeit Runks die Landschaft bewusst wahrnimmt, sich mit ihr in der Folge zu messen beginnt, indem man aktiv in sie hineingeht, ist der weitergehende Schritt, in ihr leben zu wollen, nur konsequent. In der Schweiz oder Südtirol entstehen Hotelbauten und Sommerfrische-Wohnsitze früher als in Kitzbühel, wo sie erst um 1900 ihren Anfang nehmen. Von vornherein mit dabei ist man hier allerdings, als es nach dem Ersten Weltkrieg darum geht, nicht nur die seit alters her dauernd bewohnte Talschaft, sondern auch die Bergwelt nicht nur möglichst bequem zu erschließen und touristisch noch intensiver zu nutzen, sondern sie auch zu bewohnen. Walde ist nicht nur vehementer Befürworter und Unterstützer des Projekts Hahnenkammbahn, das bis 1929 mit einigen Mühen umgesetzt werden kann,17 sondern zugleich Betreiber des Projekts Hochkitzbü-
16 Zu Angerer vgl. Weiermair 1999 (Abb. 51: Lawinentrutzig). 17 Zu den Problemen bei der Errichtung und zur Beteiligung Waldes Wirtenberger 1995, Nr. 2 sowie 2009.
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Abb. 8: Berghaus Walde, 1930er-Jahre, unbekannter Fotograf (Stadtarchiv Kitzbühel).
hel,18 das eine dauerhafte Siedlung auf dem Hahnenkamm vorsieht. Dieses Projekt wurde nur in Ansätzen verwirklicht, leider oder gottseidank, jedenfalls hätte es, konsequent umgesetzt, das Konzept „Landschaft“ ad absurdum geführt. In dieser Hinsicht tritt Walde nicht nur als Maler in Erscheinung – das Gemälde Hahnenkammbahn propagiert diese flott mit einem in der Realität so nie umgesetzten stützenlosen Seil – sondern auch als Architekt und Grafiker. Als Letzterer entwirft er nicht nur den bis heute gültigen Kitzbühel-Schriftzug, sondern auch zahlreiche Werbeprospekte. Als Architekt zeichnet er für die Talstation der Hahnenkammbahn und sein als Bestandteil des geplanten Hochkitzbühel verstandenes Berghaus am Hahnenkamm (Abb. 8) verantwortlich. Seine architektonische Qualität steht ebenso wie die des benachbarten Hauses des mit ihm befreundeten Architekten Clemens Holzmeister außer Zweifel. Als herausragende Beispiele für eine moderne Architektur im alpinen Gelände stehen heute beide Gebäude unter Denkmalschutz. Abgesehen von der architektonischen Qualität zeigt Waldes Haus aber auch den Willen des Naturliebhabers, der Landschaft möglichst nahe zu sein, und gemeinsam mit seiner Arbeit als Grafiker und Maler den Willen zur Erschließung der Landschaft. Waldes Schaffen dokumentiert damit nicht nur mehrere Aspekte der Entdeckung oder eben Entdeckungen der Landschaft, sondern auch deren Erschließung. Letztere ist vor dem Hintergrund eines im Vergleich zu heute sehr bescheidenen Ausgreifens der Stadt in die Land18 Wirtenberger 1995, Nr. 11.
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schaft zu sehen. Der Gedanke, dass Erschließung auch Bedrohung der Landschaft bedeuten kann, lässt sich bei Walde nicht belegen. Dieser setzt wohl die Erfahrung der weitgehenden Naturerschließung der nach Waldes Tod im Jahr 1958 liegenden Jahrzehnte voraus.
Literatur Ammann, G.: Alfons Walde 1891–1958, Innsbruck 62012 Coeln, P.: Schaulust. Die erotische Fotografie von Alfons Walde. The Erotic Photography of Alfons Walde, Innsbruck/Wien 2014 Dankl, G.: Heimatkunst und Moderne. Albin Egger-Lienz im Vergleich, in: Sporer-Heis, C. (Hg.): Tirol in seinen alten Grenzen. Festschrift für Meinrad Pizzinini zum 65. Geburtstag, Innsbruck 2008, 67–79 Kraus, C.: Albin Egger-Lienz, Alfons Walde und der Erste Weltkrieg, in: Meighörner, W. (Hg.): Front Heimat. Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2015, 100–119 Moschig, G.: Die Rolle der Fotografie im malerischen Werk von Alfons Walde, in: Ammann 2012, 153–160 Natter, T. (Hg.): Schnee. Rohstoff der Kunst, Ostfildern 2009 Neuner, M.: 100 Jahre Skisport in Kitzbühel, Tiroler Heimatblätter 68 (1993) 122–128 Prieler, K.: Verzärtelt, belästigt und grob gerempelt. Kitzbühel in der Literatur zwischen 1870 und 1990, in: Sieberer 1999, 137–182 Rettenwander, M.: Kein Fabriksschlot verunziert den Rahmen der Landschaft. Aus dem Kitzbüheler Wirtschaftsleben um 1900, in: Sieberer 1999, 33–73 Schmitt, F: Das Buch vom Wilden Kaiser, München 1942 Sieberer, W.: Von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft. Kitzbühel in Pioniertagen und erster Blütezeit des Tourismus, in: Sieberer 1999, 11–31 Sieberer, W. (Hg.): Kitzbühels Weg ins 20. Jahrhundert. Von Landwirtschaft und Bergbau zu Sommerfrische und Wintersport, Kitzbühel 1999 Sieberer, W.: Tiroler Bergstadt in mondäner Gesellschaft. Alfons Waldes Lebensraum ‚Kitzbühel‘ in der Zwischenkriegszeit, in: Ammann 2012, 142–152 Sieberer, W.: Von Türmen, Bergen und Flugzeugen aus betrachtet. Alfons Waldes Kitzbüheler Dachlandschaften und ihr Umfeld in Malerei, Grafik und Fotografie, in: Stadtgemeinde Kitzbühel (Hg): Von oben her betrachtet. Dächer & Dachlandschaften, Kitzbühel 2013, 11–24 Stadtgemeinde Kitzbühel (Hg.): Vom Schnee. Zum 50. Todestag von Alfons Walde / On snow. On the Occasion of the 50th Anniversary of Alfons Walde’s Death, Kitzbühel 2008 Treusch, T.: Schnee und Sonne in den Alpen. Der verschneite Berg in der Malerei vom Impressionismus zur Neuen Sachlichkeit, in: Natter 2009, 138–165 Weiermair, P.: Wilhelm Angerer 1904–1982. Retrospektive des photographischen Werks, Schwaz 1999
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Wirtenberger, H.: Ein Jahr Kampf um Seilbahnkonzession, Kitzbüheler Heimatblätter 1995/2, 1–4 Wirtenberger, H.: Alfons Walde entwarf Pläne für das Berghaus Lopez, Kitzbüheler Heimatblätter 1995/11, 3 Wirtenberger, H.: Kämpfer in einer schweren Zeit, Kitzbüheler Heimatblätter 2009/1, 1–3
Doris Hallama
Von koketten Städtchen und Staumauern Die Landschaft des Montafon in der Werbung
„Man mag viele schöne Alpengegenden gesehen haben, dem Zauber des Landschaftsbildes von Schruns kann man sich doch nicht entziehen.“1 So vielversprechend Jakob Christoph Heer (1859–1925) mit seinen Ruhmesworten für den Hauptort im Montafon beginnt, so vage bleibt er im Folgenden doch in Bezug auf die Landschaft. Die Beschreibung von „Land und Leute[n]“ erfolgt stattdessen entlang der einzelnen Ortschaften, der „Dörfer hüben und drüben“, die sich in dem fast 40 km langen Tal aneinanderreihen. Seine Reiseeinladungen verheißen dabei jeweils ähnlich herrliche oder prächtige Orte, nicht ohne aber auch die Besonderheiten des jeweiligen Dorfes hervorzuheben. Für Schruns, „[e]her ein kokettes ländliches Städtchen als ein Dorf, […] überhaupt die besuchteste Fremdenstation des Landes“,2 finden hierfür etwa die stattliche Kirche, Hotels, Gast- und Privathäuser oder der Litzbach mit Schwimmbadeanstalt und Elektrizitätswerk Erwähnung. Mit Tschagguns bildet Schruns auch heute noch das Zentrum im Montafon, und immer noch buhlt es mit den neun weiteren Orten des Tales über einander ähnelnde Beschreibungen um Gäste, immer noch wird auch auf spezifische Superlative gepocht. St. Gallenkirch und Gortipohl laden beispielsweise – auf die meisten Maisäße im Montafon verweisend – „vorbei an den typischen Montafonerhäusern und barocken Kirchen zu traumhaften Aussichtsplätzen“ ein.3 Oder es lockt Gargellen, das unweit der Schweizer Grenze auf 1423 m Seehöhe in einem sonnigen Hochtal am Fuße der 2770 m hohen Madrisa liegt, als „das höchste Glück“ im Montafon. Ganz Ähnliches vermittelt die Ortschaft Bartholomäberg, die sich überhaupt zu den malerischsten und sonnigsten Regionen in den Alpen zählt und als „Sonnenbalkon im Montafon“ bezeichnet.4 So weit, so bekannt. Was macht nun aber die Landschaft im Montafon aus? Wie mit ihr werben, wo zehn vereinzelte Orte das je Spezielle ihrer Lage herauszustreichen suchen? Die eben angeführten Ortsbeschreibungen aus dem Montafon
1 2 3 4
Heer 1906, 160. Heer 1906, 161. www.bergfex.com/sommer/sankt-gallenkirch/ (1.12.2015). www.montafon.at (1.12.2015).
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verdeutlichen im Besonderen, was für die Tourismuswerbung Österreichs ganz grundsätzlich gilt: nämlich die Tendenz, sowohl spezifische Merkmale hervorzustreichen als auch stets das über Jahre geformte Bild der Alpenlandschaft zu zitieren und also den altbekannten, für alle lesbaren Rahmen nie zu verlassen. Das zeichnet die Texte, insbesondere aber die Bilder der Fremdenverkehrswerbung und somit des Grafikdesigns in diesem Bereich aus. Sie bleiben weitgehend in Landschaftsbildtraditionen des 19. Jahrhunderts verhaftet, während sie gleichzeitig die modernen Mitteln der Werbegrafik für ihre wirtschaftlichen Ziele einsetzen. Beim Blick auf Bilder der Landschaft des Montafon – auf Bilder des Alltags, wie sie sich auf Postkarten oder auf Plakaten finden lassen – gilt es deshalb gleichermaßen zu fragen: Welche Landschaft zeigt die Montafonwerbung – und wieviel Montafon zeigt die Werbelandschaft? Ein vorangestellter Abriss zur Landschaftsdarstellung im Grafikdesign soll veranschaulichen, dass einerseits die Darstellung der Landschaft in der Montafon-Werbung zuallererst jenen Formen folgt, die generell in der österreichischen Fremdenverkehrswerbung üblich sind. Andererseits bieten die Reklamelandschaften des Montafon auch einige Besonderheiten. Eine solche ist, und darauf wird im zweiten Teil des Beitrags der Fokus gelegt, die Einbindung technischer Infrastruktur ins traditionelle Landschaftsbild.
Plakatlandschaften5 Für den aufkommenden Fremdenverkehr Ende des 19. Jahrhunderts stellten Bilder – und diese waren vorrangig Landschaftsbilder – ein unverzichtbares Werbemittel dar. Obwohl Landschaften in der Tourismuswerbung als Reklamemedium omnipräsent waren und sind, gibt es wenige Untersuchungen zur Landschaft, wie sie mit den Mitteln des Grafikdesigns auf Postkarten, Broschüren oder Plakaten konstruiert wird.6 Das ist zuerst überraschend, dann aber auch wieder nicht. Überraschend insofern, als die werbegrafische Gestaltung das Bild und somit das Image der Alpen in hohem Maß entworfen und festgelegt hat. Gleichzeitig aber ziehen die Landschaften in der Werbung kein besonderes Interesse auf sich, da sie seit Jahrzehnten gleich geblieben scheinen. Im Gegensatz zur großen Variabilität der Landschaftsdarstellung in der Malerei und Kunst schuf das Grafikdesign ein immerwährend ähnliches Bild der Reklamelandschaft. Das ist im Montafon nicht 5 6
Der folgende einleitende Absatz wurde in ähnlicher Form in Hallama 2014 veröffentlicht. Es liegt einige Literatur zu Geschichte und Entwicklung von Tourismusplakaten vor. Landschaft ist darin selbstverständlich Thema, ihre formale Gestaltung wird aber nur selten explizit beschrieben. Vgl. Ballu 1987; Maryška 2004; Anwander 2009, 210–241; Rase 2009; Festi 2011; Maryška/Pfundner 2012.
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anders, was gerade die aktuelle Werbelinie wieder offensichtlich macht. Darin zeigt sich das Montafon von seiner ‚echten‘ und toughen sportlichen Seite und somit ganz im länderübergreifenden Trend einer Authentifizierung der Landschaftsbilder in der Werbung.7 „Echte Berge. Echt erleben“ verspricht den Besuchern keine Schoßhündchen, sondern Muskelkater.8 Um 1880 begann die Zeit der Werbeplakate. Parallel dazu entwickelten sich weitere neue Bild- und Werbemedien wie Ansichtskarten, Werbemarken und Prospekte. Auch in Vorarlberg waren Ende des 19. Jahrhunderts Abb. 1: Plakat Vorarlberg, Landesverband für die ersten Bildplakate zu sehen. Sie Fremdenverkehr Vorarlberg, 1894. präsentierten für den Tourismus regionale Landschaftsausschnitte und Sehenswürdigkeiten. Als Auftraggeber dieser frühen Plakate fungierten häufig Verkehrsunternehmen, bald auch größere Beherbergungsbetriebe, die mittels solcher Ansichten, seien sie nun mit Fahrplänen und Reiserouten gerahmt oder selbst als Rahmen gestaltet, Sehnsuchtsorte evozierten. Ob als Mittelpunkt oder Hintergrund, Angelpunkt dieser aufwendig gestalteten Plakate bildeten immer idyllische Landschaften bei strahlendem Sonnenschein. „Idyllisch“ meint hierbei, dass das visuelle Konsumieren derartiger Landschaften positive Empfindungen bei den Betrachtenden auslösen sollte. Das gelang, dem Verständnis der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts folgend, indem das Hochgebirge mit seinen Felsen, Gipfeln und Gletschern in den Hintergrund des Bildes rückte. Durch sanfte Ebenen, Ortschaften oder einzelne Zivilisationselemente als Assoziationsstützen im Vordergrund wurde der Blick vorsichtig an die Gebirgslandschaft herangeführt. In dieser malerischen Tradition steht auch das Plakat für Vorarlberg von 1894 mit seiner frappierenden Informationsdichte (Abb. 1). Zahlreiche, sich sogar überlappende Veduten füllen es bis an den Rand, wo doch schon eine einzige Vedute möglichst viel Landschaft und räumlichen Eindruck mittels feinst gezeichneter Einzelheiten auf möglichst wenig Fläche zu zaubern vermag. Die repetitive Aus7 8
Scheppe/Tirol Werbung 2011. www.montafon.at (1.12.2015).
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sage durch immer gleiche Aufbauschemata innerhalb der Bilder läuft den heutigen Sehgewohnheiten entgegen. Genau betrachtet wechseln sich zwar Fluss mit See, Kirchlein mit Grand Hotel oder entfernte Stadtansicht mit weiter Almhöhe im Vordergrund ab, aber nach diesen nur unbedeutend differenzierenden Einstiegen, die flach ins Bild führen, folgen in immer gleicher Weise zuerst Wald- und Wiesenhänge, worauf dann im Hintergrund, farblich schon leicht abgesetzt, das Hochgebirge präsentiert wird. Es galt, die Plakatfläche zur möglichst genauen Beschreibung mit Bildern zu füllen. Als Sehnsuchtsort war die Landschaft im Abb. 2: Emil Cardinaux (1877–1936): Plakat wahrsten Sinne des Wortes großzügig Zermatt, Lithographie 103x71,5 cm, 1908, J.E. auszumalen. Wolfensberger, Zürich. An der Wende zum 20. Jahrhundert mit ihren Veränderungen in Wirtschaft und Tourismus und dem Aufkommen von Massenmedien wurde die bloße Ansammlung und Fülle von Informationen immer weniger brauchbar. Den neuen Ansprüchen genügten vielmehr Motive, die auf einen Blick erfassbar waren, sowie Texte mit eindeutigen Botschaften. Damit entstanden jene reduzierenden grafischen Formen, die „plakativ“ zu einem positiv konnotierten Adjektiv machten. Neue Maßstäbe für eine solche Plakatgestaltung setzte Emil Cardinaux mit seinem Matterhorn von 1908 als Werbung für Zermatt (Abb. 2). Sowohl in Hinblick auf das Sujet Berg an sich als auch auf dessen Monumentalität wurden hier bislang unbekannte Darstellungsmodi eingesetzt. Durch die Vereinfachung und Reduktion des Bergbildes, den Verzicht auf jegliche Details, den Einsatz von überraschenden Farben sowie deren Akzentuierung mithilfe des Spiels mit Schatten und Licht gelang es Cardinaux, den Berg wie durch einen Zoom emotional an die Betrachtenden heranzuführen und ihn gleichzeitig in seiner Monumentalität fernzuhalten. Es sind nur wenige, bis heute gültige Bildmerkmale, mit denen Cardinaux ein formal konzentriertes und dynamisches Konzept grafischer Landschaftsdarstellung einführt und das Hauptmotiv zum Zeichen stilisiert. Das macht ihn zum Vorreiter einer neuen Plakatkunst, „die den Strich über den Bildinhalt, die Farbe über die Form und
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das Graphische über das Malerische stellt“.9 Der Durchbruch gelang diesen flächigen, bunten und reduzierten Plakaten während einer ersten Hochblüte der Gebrauchsgrafik in der Zwischenkriegszeit, ihre goldenen Jahre erlebte sie in der Nachkriegszeit. In dieser Verknappung der Formen und ihrer gleichzeitigen Zweckgebundenheit wird die Landschaft im Plakat zu einer eigenständigen, in der Gebrauchsgrafik erarbeiteten Darstellungsform. Allerdings blieb die grafische Landschaftsdarstellung, was ihre Wirksamkeit betrifft, weiterhin eng an jene der Abb. 3: Hans Bertle, Plakat Schruns, 1909. Kunst geknüpft. Für die Aufgabe nämlich, die Betrachtenden anzurühren, in ihnen Sehnsüchte zu wecken, sind die Vorbilder aus der romantischen Alpenmalerei auch für die Werbegrafik bis heute höchst brauchbar. Genau genommen können drei Aspekte benannt werden, auf denen die Alpendarstellung der Reklame basiert: die sanfte Einleitung ins Bild als Einladung für die Betrachtenden, die formale Trennung dieses Bereichs vom Gebirge sowie als Folge dieser Kompositionselemente das sinnliche, emotionale Ansprechen der Rezipientinnen bzw. Rezipienten und mit ihr die Herstellung einer Beziehung zum Sujet. Auch die personelle Verflechtung, indem Maler zu Plakatmalern wurden, verankerte die Plakatkunst, wo nicht Ausnahmen wie Cardinaux am Werk waren, anfänglich in der Malerei. Das ist im Montafon speziell an Hans Bertle zu sehen, von dem auffallend früh einschlägige Tourismusplakate bekannt sind. Der in Schruns geborene Bertle ist der bedeutendste Vertreter einer im Montafon wichtigen Künstlerfamilie. Neben seinem malerischen Werk schuf er auch Werbeplakate. So stammt das erste Fremdenverkehrsplakat für Schruns aus dem Jahr 1909, das mit einem großformatigen Skifahrer vor einer Winterlandschaft wirbt, von ihm (Abb. 3). Es zeigt Bertles frühe Übersetzung der Montafoner Landschaft in das Genre der Plakatmalerei. Im Vergleich zu Cardinaux’ Matterhorn ist Bertles Landschaft allerdings wenig stilisiert, sondern bleibt dem detailverliebten malerischen Blick auf ein Bild ‚nach der Natur‘ treu. Sie ist klassisch im Aufbau, das 9
Ballu 1987, 27.
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heißt vor allem über den Licht- und Schatteneinsatz in drei Bereiche gegliedert: den flachen sonnigen Vordergrund, einen schattigen Mittelgrund mit Ortschaft und die wieder sonnenbeschienenen Gipfel. Nur der Skifahrer – oder ist es gar eine Skifahrerin? – verweist auf die reduzierte plakative Darstellung. Die Landschaft behält hingegen ihre Räumlichkeit und stellt eine plastische Weite her, innerhalb derer das Gebirge in den Hintergrund versetzt wird. Ganz ähnlich baut Bertle ein weiteres, hier nicht abgebildetes Wintersportplakat auf. Der Skifahrer im Vordergrund wird in diesem durch einen weißen Hasen und ein Paar Skier ersetzt, die gemeinsam abermals die gesamte Bildhöhe einnehmen. Der Hase, der zusammen mit den Skiern geschickt Schnee, Sport und die Berge symbolisiert, ist sowohl grafischer als auch emotionaler Anziehungspunkt. Wieder wären der Hase mit den angeschnittenen Skiern im Vordergrund und ein Bergmassiv im Hintergrund ausreichend für ein grafisch starkes Plakat. Bertle behält jedoch auch hier die dreiteilig aufgebaute naturalistische Landschaftsdarstellung bei, indem er den Ort Gaschurn realitätsnah einbindet. Er führt die Berge des Montafon noch nicht wie Cardinaux das Matterhorn zu einem eigenständigen grafischen Bild.
Touristische Landschaft im Bild ≠ touristische Infrastruktur im Bild Die grafische Verbindung von Tourismus und Landschaft findet in den besprochenen Beispielen durch das Hinzufügen von Skiern, Schneehasen oder Skifahrerinnen bzw. Skifahrern zu einem bekannten und wenig spektakulären Landschaftsbild statt. Diese Darsteller erinnern dabei auch noch stärker an mondäne Flaneure in pittoresker Schneelandschaft als an Wintersportler. Hierzu passt die kulissenartige Landschaft im Rücken. Das änderte sich jedoch in den 20er-Jahren, in denen sportive Tüchtigkeit zu einer neuen relevanten Kategorie in der Werbung avancierte und mit dieser eine Landschaft in Mode kam, die nicht nur betrachtet, sondern auch benützt, planiert und mechanisiert wurde. Eine Herausforderung für die Werbung: Nun wäre eine in den Dienst des Tourismus gestellte Landschaft zu zeigen gewesen, während doch die romantische, nota bene unberührte Landschaft das am besten zu verkaufende Bild blieb. Das führte zuerst (und bis heute häufig) zu einer grafischen Trennung von touristischer Landschaft und touristischer Infrastruktur in der Darstellung, wie sie Bertle im Plakat für die Landesmeisterschaften im Skispringen von 1933 anwendete (Abb. 4). Inzwischen deutlich plakativer geworden, verwirklicht die Landschaftsdarstellung in diesem Beispiel stärker die oben genannten Charakteristika der Grafik. Das Schema von Vorder-, Mittel- und Hintergrund wird zugunsten einer unvermittelten Präsenz
Die Landschaft des Montafon in der Werbung
Abb. 4: Hans Bertle, Plakat Vorarlberger Ski-Landesmeisterschaft, 1933.
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aufgebrochen. Die Formen sind reduziert, aus räumlichen Bergen werden flache Schatten, der Einsatz der Farbe lenkt deutlich auf das Sujet der Werbung hin und führt zur klaren Teilung des Plakats in den vordergründigen Skispringer als Blickfang und die Landschaft als Rahmung. Das eigentliche Werbethema, der Skisport, besetzt also – neben bzw. über der Landschaft – einen eigenständigen Bereich im Plakat. Die sportliche Nutzung der Alpen wird zwar grafisch inszeniert, eine Verbindung zur Landschaft dabei aber nicht hergestellt. Die Schanze als technische Infrastruktur bleibt überhaupt außerhalb des Sichtfeldes. Um die Landschaft weiterhin in ihrer kulissenhaften Unberührtheit zu verwerten, gilt es sie vom eigentlichen Sujet, Sport und Tou-
rismus, getrennt zu behandeln. Anders wird mit der Zweischneidigkeit touristischer Infrastruktur in der Reklame für das Hotel Madrisa von 1932 umgegangen (Abb. 5 a). Die grafische Abstraktion führt in der Werbung, wie die obigen Beispiele zeigen, meist zur Hervorhebung des angepriesenen Produkts. Es kann aber auch umgekehrt die abstrahierende Darstellung eine Egalisierung der Motive innerhalb des Bildes bewirken. Das ist hier von Vorteil, wo das Hotel, das es zu präsentieren gilt, als neue touristische Infrastruktur dem funktionierenden Landschaftsbild der Werbung entgegensteht. Anstatt das in seiner Form und Dimension schon fremdartige Gebäude in der Darstellung noch weiter aus der Landschaft herauszuheben, wird diese Infrastruktur bildlich raffiniert in die gewachsene Baustruktur des Ortes integriert. Als Vergleich zur grafischen Arbeit kann eine Fotografie herangezogen werden, die unübersehbar als Bildvorlage diente10 – und nebenbei deutlich macht, wie nahe Fotografie und Grafik, somit auch Sehgewohnheiten und Werbegrafik beieinander liegen (Abb. 5 b). Während sich das Hotel in der Fotografie wegen seiner Größe sowie der extravaganten Form (wenn auch durch die Entfernung nicht in den 10 Dank an Friedrich Juen, der die Fotografie auf die Jahre 1931/1932 datieren konnte.
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Abb. 5 a, b: Werbung für das Hotel Madrisa in Gargellen auf der Rückseite der Sonderbeilage des Vorarlberger Tagblattes vom 5. November 1932. – Fotografie von Gargellen als Vorlage, 1931/32.
Vordergrund tretend) von den Gebäuden der Umgebung abhebt, ist es in der Reklame wie in einer logischen Reihe dargestellt. Das Dach wird zum üblichen Satteldach vereinfacht, die herrschaftlich symmetrische, den Grand Hotels der Zeit nachempfundene Architektur auf scheinbar zwei gestaffelte Holzhäuser reduziert, die Farbe den Nachbargebäuden grafisch angeglichen. Ziel der Werbung ist es, das Hotel unauffällig in die bestehende Gebäudelandschaft einzubetten, es als Teil der traditionellen örtlichen Architektur erscheinen zu lassen, um es wie Bauern- und einfache Wohnhäuser in die Landschaftsdarstellung der Zeit zu integrieren.
Fotolandschaften Obwohl das Montafon nach Hans Bertle noch von weiteren, zum Teil nicht unbedeutenden Grafikerinnen bzw. Grafikern beworben wurde, war dessen Werbebild nie an spezielle Gestalterinnen bzw. Gestalter geknüpft. Das steht im Gegensatz zur Werbung in Tirol, dessen touristisches Bild Arthur Zelger eine Zeit lang geprägt hat. Allerdings lässt das Material im Heimatmuseum Schruns darauf schließen, dass sich die Montafon-Werbung der Nachkriegszeit stärker auf Broschüren und Prospekte als auf die repräsentativeren Plakate gestützt hat. Nun sind Prospekte und Broschüren durch die Vielzahl an Seiten anders als Plakate aufgebaut.
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Abb. 6: Hans Oberbacher, Faltprospekt Skistadion Montafon, Kupfertiefdruck, zwischen 1950 und 1958.
Was an ihnen seit den 30er-Jahren und in der Nachkriegszeit jedoch auffällt, ist die fast ausschließliche Arbeit mit Fotografien. Wie gezeigt, liegt die Stärke der Grafik darin, durch Abstraktion auf bestimmte Aspekte zu fokussieren und diese prägnant herauszustreichen. Die Fotografie dagegen reproduziert in ihrer räumlich-perspektivischen Aufnahmetechnik stärker das romantisch-malerische Schema von Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Auch die Trennung zwischen dem entfernten Gebirge und dem mit bekannten Zivilisationselementen einleitenden Vordergrund (ob als Ortskern, in Form anderer Gebäude oder nur als Zaun) bleibt trotz oder gerade wegen der Fotografie durchwegs beliebt. Die Fotografien selbst scheinen, was Motivik und Aufbau betrifft, über viele Jahrzehnte und über politische Umwälzungen hinweg im Wesentlichen als immergleiche fortzubestehen. Die grafische Zusammenstellung der Prospekte indes folgte in Auswahl, Anordnung, Farbgebung oder auch zeichnerischen Zutaten dem Zeitgeschmack und ließ in der Nachkriegszeit nichts unversucht, um Fröhlichkeit, Urlaubsstimmung und jedenfalls Unbeschwertheit zu vermitteln. Solches Hochgefühl setzte Hans Oberbacher im Prospekt für das „Skistadion Montafon“ um, indem er den zerstreuten Zentren im Tal humoristisch eine räumliche Hülle, eine Sportarena, überstülpte (Abb. 6). Dieses Cover ist eine der seltenen rein grafischen Blattgestaltungen. In ihr werden die einzelnen Skistationen, jeweils charakterisiert durch Ortskern und schneebedeckten Hausberg, durch einen Kreis hinter einem angedeuteten Skiab-
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Abb. 7: Hochjochbahn, Fotografie, 1950.
fahrtstor verbunden und markieren so das Ziel. Damit versucht Oberbacher, die einzelnen Skigebiete im Montafon für eine Gesamt-Werbung zusammenzufassen und gleichzeitig weitere, ortsübergreifende Attraktionen einzuflechten. Die Grafik, wenn auch prägnanter, ist nicht so weit entfernt vom Aufbau des ersten hier gezeigten Plakats. Es stellen wieder viele kleine Bilder die Region über ihre Fülle, also über die Summe einzelner Orte, dar. Dieses Prinzip liegt dem gesamten Prospekt zugrunde, nur wechselt das Bildmedium von der Grafik auf dem Cover im Inneren fast ausschließlich zur Fotografie. Es finden sich an- und übereinander gelegt kleinere und größere Fotoansichten der einzelnen Wintersportorte im Montafon. In der ersten Auffaltung zeigen sich überraschenderweise sogar Landschaften als Skihänge. Die sonst gerne unberührt eingesetzten Pulverschneeflächen sind aufgrund ihrer Nutzung durch Sportlerinnen bzw. Sportler von zahlreichen Spuren durchzogen. Auf den Hauptseiten im Inneren des Prospekts wird dann wieder separiert. Jeder Ort präsentiert sich zunächst mit einem großen Landschaftsausschnitt. Diese Fotografien sind – dem Konzept des Covers folgend – so gewählt, dass der betreffende Ort und die dazugehörige Bergspitze das Bild füllen. Sie verharren im klassischen Schema der immergleichen Perspektive mit vordergründigem Ortskern um eine Kirche, weitem Mittelgrund mit Hang und schließlich einem Berg oder einer Bergkette im entfernten Hintergrund. Erst in der oberen Reihe folgen in kleineren Fotografien zugehörige Skiinfrastrukturen, die ohne Beschriftung kaum als solche erkennbar wären.
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Abb. 8: Faltprospekt Hochjochbahn, Schruns – Montafon – Austria, 1957.
Aus der Reihe tanzt jedoch Schruns: Mit einer großen Seilbahnstütze schon im Vordergrund des kennzeichnenden Landschaftsbildes setzt es einen neuen Akzent (Abb. 7). In dieser häufig verwendeten, 1950 zur Eröffnung der Hochjochbahn entstandenen Fotografie, leitet eine fast bis zur Bildhälfte reichende Stahlstütze der Sesselbahn den Blick in das Bild ein. Man folgt den Seilen bis zu den winkenden Touristinnen und Touristen auf den Sesseln – die zusätzlich nicht über eine frische Schneedecke schweben, sondern wieder über eine durch tiefe Spuren gezeichnete Skiabfahrt. Die weiße Fläche teilt auch dieses Bild in zwei Bereiche, nur stellt ausnahmsweise der Blickfang, mit dem die Betrachtenden ins Bild gezogen werden, keine romantisierte Zivilisation, sondern die technischen Errungenschaften des Tourismus als zu bewerbende Realität dar. Dass diese Darstellung aber die Ausnahme bleibt und selbst der Stolz auf die technischen Verbesserungen in den Einrichtungen für den Tourismus das Landschaftsbild im Großen und Ganzen kaum verändert, macht schon der nächste Prospekt für die Hochjochbahn klar (Abb. 8). Mit ihm wird dem Winterbild für die Sommernutzung eine pittoreske Übersetzung desselben Liftes – fast korrigierend – zur Seite gestellt. Die zur kanonisierten unberührten Natur im Widerspruch stehenden neuen Technologien finden zwar ihren Platz in der Werbung, die betreffenden Infrastrukturen sind aber anders in die Landschaft eingebunden als die traditionellen Bauten: Sie stehen nicht, wie sonst häu-
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fig Kirchtürme oder Bauernhäuser, für regionale landschaftliche Qualitäten und werden auch im Bild nicht als integrierter Teil der Landschaft vermittelt. Sie sind vielmehr, wie hier die Seilbahnen, nur Zutat, Applikation. So wie im Prospekt für das „Skistadion Montafon“ die Bilder der Skilifte in einer eigenen Reihe über jenen der eigentlichen Landschaften stehen, schweben in den Liftreklamen die von fröhlichen Damen genutzten Sessel in Großaufnahme collagiert vor der Landschaft oder über diese hinweg. Sie sorgen primär für gute Aussicht und Überblick. Die Landschaft bleibt dabei immer das Betrachtete und Andere. Die naive Darstellung von Unbeschwertheit und unberührter Landschaft war allerdings nichts Montafon-Spezifisches, sondern ganz im Sinne der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung.
Besondere Landschaftsbilder aus dem Montafon So selbstverständlich uns heute die landschaftliche Idylle in der Werbung erscheint, die durch die saubere Trennung der romantisierten Natur von allem zivilisatorisch Hinzugefügtem entsteht, so sehr gilt, dass Landschaft als Identifikationsobjekt und Sehnsuchtsort auch anders hätte vermittelt werden können. Gerade in der Zeit nach 1945, als der Fremdenverkehr in Österreich zur wichtigen Kraft des Wiederaufbaus aufstieg und die Überzeugung von den allein positiven Auswirkungen des Massentourismus ungetrübt blieb, war der Umgang mit Natur kein besonders schonender. Alles andere als der Erhalt der Alpen als unberührtes Gut war das Ziel. „[D]ie Hochalpen waren für Österreichs Selbstbewußtsein in den Jahren des Wiederaufbaus keineswegs nur zivilisationsferner Sinnspeicher und Rückzugsgebiet für christlich-abendländisches Harmoniedenken“,11 schreibt Wolfgang Kos treffend. Im Gegenteil führten in euphorischer Technikgläubigkeit entstandene Straßenbauprojekte, die weiträumige touristische Erschließung und Bauten zur Energienutzung im Gebirge nicht nur zu ökonomischem Aufschwung, sondern in Wechselwirkung hiermit auch zu einem neuen Selbstverständnis Österreichs als Bergnation. Hierfür lieferte das Montafon nun durchaus interessantes Werbematerial mit ungewöhnlichen Landschaftsbildern. Schon mit der Fertigstellung des Vermuntwerks im Jahr 1931 begann neben dem Tourismus ein weiterer Wirtschaftszweig für die Gestaltung der Landschaft verantwortlich zu zeichnen – die Elektrizitätswirtschaft. Getragen vom Geist und Selbstbewusstsein des Aufbruchs entstand eine ganze Reihe von Ansichtskarten, die Stauseen und 11
Kos 1995, 609.
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Abb. 9: Ansichtskarte Vermunt-Stausee gegen Litznergruppe, Foto Risch-Lau Bregenz, um 1940.
mit ihnen die notwendigen Staumauern zum Werbemotiv erhoben. Dabei wurde die oben beschriebene, sonst mit allen Mitteln durchgesetzte Trennung von technischer Infrastruktur und Landschaft im Bild verlassen. Die immensen Bauwerke sowie künstlichen Seen wurden ganz im Gegenteil als selbstverständliche Elemente der Landschaft im Montafon weit über die Region hinaus verbreitet (Abb. 9). Der sanfte Einstieg in das Bild über bekannte und Ruhe ausstrahlende Elemente, wie ihn sonst die Bauernhäuser, Blumen usw. im Vordergrund bieten, wird in diesen Fotokarten kurzerhand durch Staumauern ersetzt. Solche Landschaftsbilder konfrontieren nun direkt mit dem Betonbauwerk, mit dessen Massivität und technischer Form. Erst dahinter folgt der, wenn man so will, versöhnende, weil gängigen Sehgewohnheiten folgende See und schließlich im Hintergrund die Gebirgslandschaft. Der Augpunkt der Betrachterinnen bzw. Betrachter befindet sich leicht oberhalb der Mauerkrone und das Panorama, der Bildausschnitt, ist weit. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Staumauer als fast gerade und wirkt dadurch weniger massiv und nicht so hoch, wie sie in Wirklichkeit ist. Auch indem sie an den vorderen Bildrand gerückt und seitlich noch der aufsteigende Hang angeschnitten wird, wird ihre Integration in die Landschaft vermittelt. Diese bildtechnische Einbindung trug sicher zur ästhetischen Bewertung der energiewirtschaftlichen Landschaftsgestaltung bei, die sich, bis heute gültig, beispielsweise in Peter Strassers Büchlein Urlaubsgrüße aus dem Montafon widerspiegelt: „Die
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Abb. 10: Ansichtskarte Mit dem Postauto über die Silvretta-Hochalpenstrasse, hg. von der Österreichischen Verkehrswerbung im Auftrag der Österreichischen Post- und Telegraphenverwaltung, um 1954.
Abb. 11: Ansichtskarte Silvretta Hochalpenstraße mit Vermuntsee und Litzner-Seehorngruppe, Foto Risch-Lau Bregenz, 1955.
großen Speicherseen […] fügen sich nicht nur harmonisch in die Landschaft ein, sondern sind verkehrstechnisch auch gut erschlossen.“12 Nun waren Staumauern als Werbebilder im Österreich der Nachkriegszeit nicht per se eine Besonderheit. Als weit verbreitetes Motiv und Zeichen für Aufschwung sowie Fortschrittsglauben standen sie für den Wiederaufbau und vor allem für die Wiedererstarkung Österreichs. In den dafür eingesetzten Bildern aber galt alle Aufmerksamkeit der Monumentalität dieser Bauwerke. Sie dienten als Ausdruck des Triumphs über die Kräfte der Natur. Die Perspektive erfolgte gerne aus übertriebener Untersicht, wo alles Menschliche im Schatten der Bauwerksmasse zur Miniatur verblasste. Die immensen Betonkörper sollten für sich sprechen. Bekannt sind solche Aufnahmen beispielsweise von dem Wiener Fotografen Franz Hubmann, der die Illustrationen zum Buch Die Männer von Kaprun lieferte.13 Mit ganz ähnlichen Fotografien präsentierten sich aber auch die Illwerke 1958 in ihrer Publikation Lünerseewerk.14 Allein diese Bilder waren ob ihrer politischen 12 Strasser 2011, 19. 13 Lang 1955. 14 Vorarlberger Illwerke Aktiengesellschaft 1958.
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Abb. 12: Ansichtskarte Montafon – Vorarlberg – Austria, um 1990.
Vereinnahmung nicht lange brauchbar. Im Montafon aber sind die Staumauern in den Landschaftsansichten nicht mehr verschwunden. Sie werden bis heute gern in Prospekten und Ansichtskarten reproduziert. Genauso wie die Hochjochbahn in der zuvor genannten Fotografie scheinen diese Stauwerke zum Bildgedächtnis des Tales zu gehören. Allerdings erfuhr das Bild der energiewirtschaftlichen und zugleich touristisch verwerteten Infrastrukturen für seine zeitlose Gültigkeit noch eine Veränderung. Ein abschließender Vergleich dreier Versionen des vielleicht meistverwendeten Landschaftssujets im Montafon – der Silvrettahochalpenstraße mit Bielersee und Staumauer – verdeutlicht diese Transformation. Den ersten der drei Blicke auf die Hochalpenstraße gewährt uns die Postbuswerbung aus dem Jahr 1954, als die Straße für den öffentlichen Verkehr freigegeben wurde (Abb. 10). Wie bei der gezeigten Fotokarte der Vermunt-Staumauer liegt der Augpunkt der Betrachtenden hier nur leicht erhöht über Straße und Stauwerk. Diese Position bezieht die Rezipientinnen bzw. Rezipienten in die Landschaft mit ein. Der Blick vermittelt den Eindruck, man befinde sich vor Ort, quasi am Hang, der rechts vorne angeschnitten ist. Zusätzlich lädt der Postbus zum Mitkommen ein, bietet das Identifikationsmoment, um uns auf den Weg zur Bielerhöhe zu versetzen. Er deutet das subjektive Erleben dieser Landschaft, den Besuch der Staumauer auf Augenhöhe an. In der Fotografie der Hochalpenstraße hingegen ist, um den gesamten Straßenverlauf in der Landschaft vom Tal bis zur Bielerhöhe als Landschaftsbild erfassen
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zu können, der Augpunkt in die Höhe versetzt (Abb. 11). Allein der Vordergrund mit zwei Hüttchen steht noch vage für eine Einladung und die Möglichkeit, sich in dieser Landschaft aufzuhalten. Dieser Blick aus größerer Entfernung entwickelte sich zum Topos der technisch-touristischen Erschließung in der Montafon-Werbung. Wie eine aktuelle Postkarte als ein Beispiel aus zahlreichen möglichen zeigt, wird hierfür allerdings auf einen Vordergrund völlig verzichtet (Abb. 12). Nun folgt die Fotografie den Regeln der Vogelperspektive, die, vergleichbar mit Kartenansichten, suggeriert, sie zeige objektiv, was da ist. Da hiermit nicht mehr die Erfahrung der Besucher vor Ort vermittelt werden soll, bedarf es keiner direkten Einladungsgesten. Diese Landschaftsdarstellung beansprucht, indem sie den Betrachtenden eine andere Position zuweist, zeitlose Gültigkeit. Die Silvrettahochalpenstraße sowie der Bieler Stausee sprechen nun für sich: Das ist das Montafon! Nicht zufällig wird diese Darstellung kombiniert mit einem anderen im Montafon beliebten Werbemotiv: den Einheimischen in regionaler Tracht. Sie übernehmen den Part der Einladung und bieten den Gästen eine Identifikationsmöglichkeit.
Literatur Anwander, T.: Schnee in künstlerischer Hochform. Inszenierung des Wintersports im Plakat, in: Natter, T. G. (Hg.): Schnee. Rohstoff der Kunst, Ostfildern 2009, 210–241 Ballu, Y.: Die Alpen auf Plakaten, Bern 1987 Festi, R. (Hg.): Visitate le Dolomiti! Cento anni di manifesti, Trento 2011 Hallama, D.: Sonniges Grafikdesign. Alpenlandschaften im Plakat, in: Kern, A./Höretz eder, K. (Hg.): Ikonen und Eintagsfliegen, Innsbruck 2014, 147–167 Heer, J. C.: Vorarlberg und Liechtenstein, Feldkirch 1906 Kos, W.: Imagereservoir Landschaft. Landschaftsmoden und ideologische Gemütslagen seit 1945, in: Sieder, R./Steinert, H./ Talos, E. (Hg.): Österreich 1945–1995. Gesellschaft Politik Kultur, Wien 1995, 599–624 Lang, O. F.: Die Männer von Kaprun, Wien 1955 Maryška, C. (Hg.): Schnee von gestern. Winterplakate der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 2004 Maryška, C./Pfundner, M. (Hg.): Willkommen in Österreich!, Wien 2012 Netter, K.: Urlaubstraum Montafon – Zur 150-jährigen Geschichte des Tourismus im Tal, in: Schnetzer, N./Weber, W. (Hg.): Montafon 4, Dornbirn 2012, 184–215 Rase, K. (Hg.): Skisport in Kunst und Design, Leipzig 2009 Scheppe, W./Tirol Werbung (Hg.): Sight-_Seeing, Ostfildern 2011 Strasser, P.: Urlaubsgrüße aus dem Montafon, Erfurt 2011 Vorarlberger Illwerke Aktiengesellschaft: Lünerseewerk, Bregenz 1958
Monika Gärtner
„Drinnen und draußen“ Museum, Landschaft und Pädagogik
Ein Praxisbericht Wie kann man in Museen Landschaft vermitteln? Dieser als Praxisbericht angelegte Aufsatz soll dazu Einblicke geben, auch wenn die beiden von mir betreuten Einrichtungen, das Alpenverein-Museum Innsbruck und das Lechmuseum am Arlberg, sehr unterschiedlich sind:1 Im Alpenverein-Museum fanden über fünfzehn Jahre lang interessante kulturhistorische Ausstellungen statt, was mit dem Österreichischen Museumspreis belohnt wurde, das Lechmuseum entwickelt sich von einem klassischen Heimatmuseum zu einem Museum mit überregionalen Themenschwerpunkten und erlangte unter anderem 2014 mit dem Gemeindebuch Lech2 den Staatspreis „Schönste Bücher Österreichs“.
In die Landschaft gehen Treffpunkt Stadtplatz Lienz in Osttirol. Einen Sommer lang führe ich Einheimische und Touristen entlang der „Tiroler Ausstellungsstraßen“ durch Osttirol.3 Die Stimmung der Teilnehmer ist müde und kühl. Mit dem kleinen Exkursionsbus kurven wir über die Pustertaler Höhenstraße und fahren nach Assling. Nachdem der Kirchenschlüssel vom Pfarrer besorgt worden ist, spaziert die Gruppe einen Feld1
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Ich bin seit 1992 in der Natur- und Kulturvermittlung tätig, von 1997 bis 2014 als Leiterin des Alpenverein-Museums in Innsbruck, seit 2014 als Leiterin des Lechmuseums am Arlberg. – Neben den im Weiteren zu spezifischen Aspekten zitierten Publikationen sei auf folgende Internetadressen hingewiesen, die wertvolle Informationen zum Thema Kulturvermittlung im Allgemeinen bieten: http://kunstvermittlung.twoday.net/, http://salon-kulturvermittlung.at/tauchgang_kulturvermittlung/, http://www.kultur-vermittlung.ch/ (alle 23.8.2016). Ortner 2014. Das Projekt Tiroler Ausstellungsstraßen wurde von Eva Schubert 1994 ins Leben gerufen, indem kunsthistorisch interessante Punkte als Routen durch das Bundesland thematisch verbunden wurden. Die Osttirol-Werbung finanzierte zusätzlich dazu zwei Sommer lang ein tägliches Exkursionsprogramm. Es wurden von Monika Reindl und Monika Gärtner die Routen Maximilian I, Barock und Gotik und eine Kinder-Tour konzipiert und durchgeführt.
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weg durch die kniehohen Sommerwiesen entlang zum ersten gotischen Kirchlein St. Justina. Im Laufe des Tages sollten noch mehrere Spaziergänge zu Objekten in der Landschaft folgen, die Fragen zum Gesehenen immer mehr und die Gespräche immer lebhafter werden. Da fließen Themen wie die drei goldenen Kugeln auf einem Nikolausfresko, die ehemals auf den Plateaus angelegten Kornfelder, die Gerichtsbarkeit der Habsburger und die Hochwasserkatastrophe aus dem Jahr 1965 einfach ineinander, da wird das Erkunden zu einem Erlebnis weitab vom gängigen Bildungskanon. Es stellen sich nicht mehr die Fragen üblicher Kunstausstellungen.4 Erfüllt und mit guter Laune verabschieden sich am Ende des Tages alle TeilnehmerInnen voneinander – aus unserer Sicht ein gelungenes Gesamterlebnis.
Die Landschaft ins Museum bringen? Eine Frage des Maßstabs Während unserer Vorbereitungen zur Ausstellung Berge, eine unverständliche Leidenschaft wurden wir immer wieder gefragt, wie man denn die Alpen in die Innsbrucker Hofburg bringen könne.5 Nicht ganz zu Unrecht, denn neben allen modernen Vermittlungsformen und konzeptionellen Überlegungen ist diese Frage bis heute ein zentraler Diskussionspunkt. Bereits das erste „Alpine Museum“ des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, das 1911 in München an der Praterinsel eröffnet worden war, behalf sich mit einer Anzahl von beinahe 100 Berg reliefs – tischgroßen, von den Kartografen gebauten Miniaturgebirgen –, um die Großartigkeit der Alpen zu veranschaulichen.6 Heute wirken diese Gipsberge oft wie verstaubte, didaktisch überholte Bemühungen, sind aber immer noch in Museen und Naturschauen anzutreffen und beim Publikum beliebt. Wie sollte die überwältigende Natur, alles, was uns draußen so beängstigt und beglückt, in einem derart kleinen Maßstab im Museum, auf einem Vitrinen-Sockel dargestellt werden? Und wie sollten die über Jahrmillionen andauernden Ab4
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Als ein einschlägiges Beispiel sei die Ausstellung Kunstschätze des Mittelalters des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum im Jahr 2011 herausgegriffen, wo die gotischen Altäre auf mich als Besucherin einen ‚verlorenen‘ Eindruck machten – es fehlten den Exponaten augenscheinlich Informationen, etwa zu ihrem ursprünglichen Aufstellungsort, ihrem Kirchenhaus, ihrer Landschaft, ihren Menschen. Durch dieses Erlebnis finde ich mich in meiner Auffassung bestärkt, diese Aspekte auch in den künftigen Ausstellungen mehr zu berücksichtigen, d. h. mit dem Publikum hinauszugehen und die betreffenden Orte aufzusuchen. Die Ausstellung des Alpenverein-Museums Berge, eine unverständliche Leidenschaft war von 2007 bis 2014 in der Hofburg Innsbruck zu sehen (Ausstellungskonzept von Rath & Winkler). Informationen zu Ausstellung und Vermittlungsprogramm unter www.alpenverein.at/leidenschaft (23.8.2016). Gärtner 2010.
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läufe der Landschaftsentwicklung einem Ausstellungspublikum erfassbar gemacht werden? Im Museum sind alle naturkundlichen Phänomene, etwa die geologische Entstehung der Alpen oder das Wetter, dreidimensional und im Zeitraffer darstellbar. Ein Menschenleben ist zu kurz, um diese großen Veränderungen in der Landschaft beobachten zu können. Nur einzelne, kleine Ereignisse sind für uns draußen erleb- und erkennbar, zum Beispiel geologische ‚Events‘ wie Murgänge, Bergstürze, Hochwasserereignisse, Erdbeben oder Vulkanausbrüche, die nicht nur (kleinräumige) Veränderungen in der Landschaft, sondern auch gravierende Spuren im gesellschaftlichen Gefüge hinterlassen. Die Vielfalt der Natur überfordert Menschen seit Jahrhunderten. Ein Grund für die ersten Forscher, mit Rucksäcken und Botanisierbüchsen ausgestattet Objekte vom Berg herunterzutragen oder ganze Schiffsladungen davon in die Heimathäfen zu schippern, sie zu reinigen, zu beschriften und zu klassifizieren, d. h. Ordnung zu schaffen und zu verstehen.7 Heute ist die Landschaft durch die wissenschaftlichen Spezialdisziplinen weitgehend erklärt. Die Depots der naturkundlichen Museen sind mit diesen Sammelobjekten angefüllt und Ausstellungssäle bis zum Plafond damit bestückt. Trotzdem scheinen Besuchern die Originale heute fremder zu sein denn je. Aber wie finden wir wieder Zugang dazu, und was können Ausstellungs- und Vermittlungsteams dazu beitragen?
Hinaus, in die Stadtlandschaft. Das Alpenverein-Museum Mit der Ausstellung vertikal. Die Innsbrucker Nordkette. Eine Ausstellung in der Stadt holte das Alpenverein-Museum die Nordkette hinein ins Museum und ging deshalb in den städtischen Raum hinaus.8 Zum „Internationalen Jahr der Berge“ im Jahr 2002 wurde die Innsbrucker Nordkette Projektionsfläche für die kulturelle Überprägung der Natur nahe am Stadtrand. Daran zeigte sich die Wechselwirkung zwischen Zivilisation und Wildnis, Wirtschaft und Ressourcen, alpinem und urbanem Lebensstil. Neben einem Ausstellungspavillon im Englischen Garten, Blickstationen entlang des Inn und einem Audioguide für Mobiltelefone war das Vermittlungsprogramm draußen zentraler Teil der Ausstellung. Somit konnte das Museum erstmals seine spezielle Kompetenz in alpinistischen Belangen und in der Naturvermittlung direkt im Stadtraum und am Berg einbringen. Einen Sommer lang 7 8
Holzer 2001. Ausstellungskonzept von Rath & Winkler. Informationen zu Ausstellung und Team unter www. vertikal.at (23.8.2016).
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wurden gemeinsam mit Expertinnen und Experten geologische Exkursionen, naturkundliche Wanderungen, Familienaktionen zum Themenfeld Seilbahnbau, Schülerprogramme zur Landschaftsveränderung, Lesungen und Konzerte veranstaltet und erhielten großen Zuspruch. Auch der ganztags kostenlos zugängliche Ausstellungspavillon wurde innerhalb von kurzer Zeit Teil des öffentlichen Stadtlebens. Es war ein Sommer voller Erfahrungen, die in die zukünftige Vermittlungsarbeit einfließen sollten.
„… nicht unbedingt der Berg im Mittelpunkt.“9 Das Alpenverein-Museum Das Alpenverein-Museum geht auf das im Jahr 1911 in München gegründete Alpine Museum des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins zurück und beherbergt seine wertvollen Sammlungen, die während des Zweiten Weltkrieges nach Tirol ausgelagert werden mussten, seit den 1970er-Jahren in Innsbruck.10 Von 1997 bis 2014 bespielte das Alpenverein-Museum mit der Ausstellung Berge, eine unverständliche Leidenschaft eine Fläche von 700 m2 in der Hofburg Innsbruck und erreichte damit insgesamt 300.000 BesucherInnen. Während das Alpine Museum des Deutschen Alpenvereins heute am ursprünglichen Ort auf der Isarinsel in München seinen Betrieb führt, ist das Alpenverein-Museum in Innsbruck seit 2015 ohne Präsentation, da es über keine permanenten Ausstellungsflächen verfügt. Diese müssen vom Alpenverein erst gefunden werden. Seit 1997 entwickelte ein ständig wachsendes Vermittlungsteam des Alpenverein-Museums in Innsbruck museumspädagogische Angebote für eine immer größer werdende Anzahl von Zielgruppen. Waren es zu Beginn ca. 1000 Personen (von 3000 Besucherinnen und Besuchern11 pro Jahr insgesamt), so wurden in der Ausstellung Berge, eine unverständliche Leidenschaft jährlich ca. 5000 Personen (von ca. 40’000 Besucherinnen und Besuchern pro Jahr) in Aktionstagen, Führungen, museumspädagogischen Aktionstagen, Exkursionen und Veranstaltungen betreut (Abb. 1). Unser Vermittlungsteam bestand aus Studierenden der Natur- und Geisteswissenschaften, der Pädagogik und Sozialarbeit sowie einer Künstlerin und einer Musikerin. Es wurde für spezielle Projekte durch BergführerInnen, NaturpädagogInnen, Kartografen, Handwerker und junge Leute aus NGOs ergänzt. Mit einem erfrischenden Methodenmix wurden immer wieder neue Formate entworfen und ein Ausprobieren mit offenem Ausgang war nicht nur gestattet, sondern er9 Mellinghaus 2008. 10 Gärtner/Kaiser 2011. 11 Blum 2012.
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Abb. 1: Zeitgenössischer Tanz zum Berggehen in der Ausstellung Berge, eine unverständliche Leidenschaft. © Alpenverein-Museum Innsbruck.
Abb. 2: Improtheater in der Ausstellung Berge, eine unverständliche Leidenschaft. © Alpenverein-Museum Innsbruck.
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wünscht. So vermittelten wir zum Beispiel das Thema „Landschaftsveränderung“ speziell für Jugendliche mit der Methode des ‚Improtheaters‘,12 die Kartografiegeschichte mithilfe eines Outdoor-Parcours für Kinder durch die Innenstadt Innsbrucks oder die Geschichte der Gefühle durch Elementare Musikpädagogik für Volksschulen (Abb. 2). Aus kurzen Erkundungen mit den Schulgruppen in die unmittelbare Nachbarschaft des Museums wurden immer längere Ausflüge an den Stadtrand und bis hinauf auf die Nordkette. Im Verweben von Drinnen und Draußen wurde das individuelle und gemeinsame Erleben der Kinder intensiviert und bereichert. Das Ausstellungskonzept und die Vermittlung arbeiteten Hand in Hand, wie Kulturvermittlerin und Künstlerin Irmgard Mellinghaus treffend schreibt: Die Idee, in einer Ausstellung sinnliche Erfahrungen machen zu können, die immer mit einem selbst zu tun haben, hatte erste Priorität. So steht hier nicht unbedingt der Berg im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Mensch. Der physische Mensch mit seinem breiten Spektrum an Empfindungen und körperlichen Reaktionen auf unterschiedliche Situationen.13
Das Museum als Teil der Landschaft. Das Lechmuseum Das heutige Huber-Hus steht seit über 420 Jahren als eines der letzten Walserhäuser im Ortszentrum von Lech am Arlberg. Naturereignisse wie Lawinen, Hochwasser und Muren konnten ihm nichts anhaben. Ebenso wie der Familie Huber, den Besitzern des Bauernhauses, die der rapiden Modernisierungswelle seit den 1920er-Jahren durch den aufstrebenden Tourismus über zwei Generationen standhielt. So konnte die Gemeinde Lech von den letzten Bewohnern, den drei ledigen Brüdern Emil, Otto und Hugo Huber deren Haus übernehmen und nach einer gründlichen Sanierung im Dezember 2005 als Museum eröffnen. Seitdem gewährleistet eine kompetente Leitung die fachliche Weiterentwicklung von Museum und Historischem Archiv. Jährlich findet mindestens eine Sonderausstellung statt und der Museumsverein ermöglicht ein attraktives Jahresprogramm. Sommerliche Aktionstage für Kinder und museumspädagogische Aktionen insbesondere für die Schulen von Lech sind fester Bestandteil des jährlichen Angebots.
12 Improvisationstheater ist eine Form des Theaters, in der Szenen gespielt werden, die zuvor nicht inszeniert sind. Im Museum sind Themen oder Objekte Auslöser und Leitfaden für spontan entstehende Szenen. 13 Mellinghaus 2008.
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Die Kulturvermittlung wird von 20 ehrenamtlichen Lecherinnen und Lechern mitgestaltet. Sie agieren während der Öffnungszeiten des Museums sozusagen als Gastgeber, betreuen alle Besucher persönlich und begleiten sie auf deren Wunsch durch das Huber-Hus. Ein Museumsbesuch endet nicht selten am Stubentisch, wo sich die Gespräche um die eigene(n) Geschichte(n) in Lech drehen. Damit sind die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ein wesentlicher Teil des Museumsbesuches, sie holen durch ihre Erzählungen das Alltagsgeschehen in das historische Museumsgebäude. Wie kaum eine andere Einrichtung in Lech vermittelt das Huber-Hus die Welt vergangener Tage, die hier und auch anderswo am Arlberg großteils verloren gegangen ist. Auch wenn es heute in Lech immerhin noch 17 landwirtschaftliche Betriebe gibt, ist dennoch keiner von diesen Selbstversorger, wie es die Familie Huber anno dazumal war.14 Die Touristen kommen wegen der Landschaft nach Lech. Zwischen zwei Bergtouren oder nach einem Schitag kann der Museumsbesuch zu einem Gesamt erlebnis werden. Die Einheimischen leben seit jeher mit der Natur, mit den Lawinen, mit dem Eingeschneit-Sein, mit der kontinuierlichen Schi-Erschließung oder auch mit der jüngsten Hochwasserkatastrophe von 2005. Die Ausstellung zum zehnjährigen Gedenken an das Hochwasser in der Postgarage Lech hatte während der zehn Ausstellungstage 1000 BesucherInnen angelockt. Eine tägliche Erinnerungsrunde, die von uns in der Ausstellung moderiert wurde, stieß auf großes Interesse: Für viele war es nach zehn Jahren wieder das erste Mal, die Erzählungen der NachbarInnen und anderer DorfbewohnerInnen über die Katastrophennacht zu hören. Für manche war es noch nach zehn Jahren schwierig, sich die damaligen Ereignisse wieder in Erinnerung zu rufen und somit die Ausstellung zu besuchen. Eine Messe mit dem Lecher Pfarrer, ein von der Bücherei Lech organisierter Natur-Familien-Tag und eine gemeinsame Exkursion Landschaft und Namen ermöglichten eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaftsveränderung. Insbesondere die Wanderung durch das Zugertal gemeinsam mit einer Sprachwissenschaftlerin und einem Geologen bestätigten uns darin, auch in Zukunft den interdisziplinären Weg in der Kulturvermittlung einzuschlagen. Im Jahr 2016 zeigt das Lechmuseum die Ausstellung STERBSTUND. Auch bei diesem Thema werden wir wieder in die Landschaft hinausgehen: mit einem Kinder-Parcours durch die Ortschaft und in die Umgebung.15 Die Kirche, der 14 Ortner 2014. 15 Die Ausstellung ist von Rita Bertolini und vorarlberg museum konzipiert, ergänzt um einen Lech-Teil von Birgit Ortner, Sabine Maghörndl und Monika Gärtner. Der Kinder-Parcours ist ein Pilotprojekt von Reiseziel Museum outdoor. Die Kulturabteilung des Landes Vorarlberg initiiert damit das Hinausgehen für Kinder und Familien mittels einer App. Alle Informationen unter www.lechmuseum.at (23.8.2016).
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Friedhof, der Platz vor dem Kindergarten und die Wiesen und Wälder bieten Möglichkeiten, mit den Kindern das Thema „Abschiednehmen“ zu betrachten. Ein Hörstück, in dem Lecher Kinder darüber erzählen, und ein Film mit Interviews von Lecherinnen und Lechern zum Thema „Tod und Sterben in Lech“ werden die Ausstellung bereichern.
Viele Teile von Landschaft ausstellen. Das Walsermuseum Das Walsermuseum am Tannberg wurde 1984 vom Heimatpflege- und Museumsverein Lech-Tannberg auf Initiative von Elmar Vonbank, damals Direktor des Vor arlberger Landesmuseums, als eine Art Heimatmuseum der Walser in Lech am Arlberg eingerichtet.16 Ganz im Sinne der Heimatmuseen der 1960er-Jahre war auch da der Auftrag, punktgenau das Lokale herauszustreichen: Was ist unsere Sprache, unsere Tracht, unsere Wirtschaft, unsere Landschaft? Rund 2000 Objekte zur Walserkultur sind in thematischen Kojen drapiert und wirken heute wie eine Art Schaudepot. Und natürlich stellt sich uns die Frage: Wie soll altes Handwerk heute vermittelt werden?17 Das Museum ist Erbe eines Konstruktes und die Besucher haben Distanz zum früheren Leben. Der Begriff des Heimatmuseums hat sich stark verändert und wurde im fachlichen Diskurs über den Wandel der Eco- und Landschaftsmuseen grundlegend diskutiert.18 Der ‚Heimatmuseumsauftrag‘ muss immer wieder hinterfragt und aktualisiert werden, genauso wie der Heimatbegriff selbst.19 Die Veränderung der ‚sozialen Landschaft‘ ist als ein wichtiges Stück Heimatgeschichte nicht zu vernachlässigen, hat doch das bosnische Kochbuch der Mitarbeiterin eines Hotels genauso seine Berechtigung, einen Platz in der Sammlung zu finden, wie jedes andere Objekt. Hier bieten die neuen Konzepte des Lechmuseums für die Zukunft interessante Entwicklungsmöglichkeiten (Abb. 3).
Drinnen und draußen Ein letztes Mal zurück ins Alpenverein-Museum während der Semesterferien 2014. Auch wenn der Aktionstag für Kinder unter dem Motto Das Gefühl für Schnee steht, heißt es eigentlich mehr, die Suche nach demselben aufzunehmen.
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Rudigier 2015. Schmid-Mummert 2017. Overdick 1999. Fliedl 2008.
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Abb. 3: Werkstatt für Kinder im Huber-Hus. © Lechmuseum.
Abb. 4: Aktionstag auf der Nordkette im Rahmen der Ausstellung vertikal. Die Innsbrucker Nordkette, eine Ausstellung in der Stadt. © Alpenverein-Museum Innsbruck.
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Die föhnigen Tage haben die letzten Schneereste auf der Hungerburg weggeputzt, als sich eine bunte Gruppe von Ferienkindern mit Winterkleidung und Rucksäcken im Alpenverein-Museum einfindet. Kurze Zeit später sind wir bei unseren Erkundungen schon mitten drinnen, im Schnee, bei den Aquarellen von Thomas Ender aus dem 19. Jahrhundert, im Knäuel der roten Lawinenschnur und als Höhepunkt dann auch im weißen ‚Gipfel-Raum‘ der Ausstellung, der uns über die Gletscher und das Ende der Welt sprechen lässt. Motiviert machen wir uns auf den Weg, hinaus aus dem Museum, hinauf auf die Hungerburg zur Erkundung des Waldes, des Wassers und des Schnees. Was, wenn der Tag dann damit endet, dass man nur einen einzigen Schneehaufen im Wald gefunden hat? Was, wenn die Gruppe sich auf einem großen Haufen von Ästen zum Rasten niederlässt, um sich genüsslich in der schwachen Wintersonne aufzuwärmen (Abb. 4)? Dann ist es an diesem Tag gelungen, Museum, Landschaft und Pädagogik vollauf zu vereinen – was braucht es mehr?
Literatur Blum, C.: Eine Leidenschaft. Museumspädagogik im Alpenverein, in: Bergauf. Mitteilungen des Oesterreichischen Alpenvereins 2012/2, 24–26 Fliedl, G.: Kleine Kritik an kleinen Museen und ein anderes Heimatmuseum, neues museum 4 (2008) 44–49 Gärtner, M.: Zur Geschichte des Österreichischen Alpenvereinmuseums, in: Fliedl, G./ Rath, G./Wörz, O. (Hg.): Der Berg im Zimmer. Zur Genese, Gestaltung und Kritik einer innovativen kulturhistorischen Ausstellung, Bielefeld 2010, 69–80 Gärtner, M./Kaiser, F.: Das Alpine Museum. Ein Haus für die „gewaltige Entwicklung des Alpinismus“, BERG 2011, 12–29 Holzer, A.: Rundum Berge, in: Gärtner, M./Rath, G. (Hg.): Rundum Berge. Faltpanoramen oder Der Versuch, alles sehen zu können, unpaginierte Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung des Alpenverein-Museums, Innsbruck 2001 Mellinghaus, I.: Herzhaft – Individuelles Erleben und spielerisches Lernen, in: Bergauf. Mitteilungen des Oesterreichischen Alpenvereins 2008/5 Ortner, B. (Hg.): Gemeindebuch Lech, Lech 2014 Overdick, T.: Landschaft und Museum. Theoretische Überlegungen zur Musealisierung von Landschaft, in: Virtual Library Museen (Hg.): Museologie Online, Hagen 1999, 1–40 Rudigier, A.: Vom Walsermuseum zum Lechmuseum. Ein biografischer Rückblick, magazin museum des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 10 (2015) 14 Schmid-Mummert, I.: Ein alter Hobel erzählt auch von Spänen. Über die Frage der Vermittlung von Handwerk im Museum am Beispiel ‚Gedächtnisspeicher Ötztal‘, in: Reimmichl-Kalender, Innsbruck 2017 (im Druck)
Anita Drexel
Kulturlandschaft als Archiv der Nutzungsgeschichte und Idee Das Inventar Natursteinmauern Vorarlberg
Abb. 1: Terrassenstützmauer in Weingarten, Röthis 2011 (Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau)
Der folgende Beitrag nimmt das Mauerinventar Vorarlbergs zum Anlass und versucht auf das übergeordnete Thema der Entdeckung der Landschaft einen angewandten Blick aus landschaftsplanerischer und bauhistorischer Sicht zu werfen. Der Beginn des Beitrages beleuchtet zunächst die theoretischen Grundlagen. Dabei spannt sich der Bogen von unterschiedlichen Landschaftsbegriffen – Landschaft als Produkt der Landnutzung, Landschaft als Idee und als Schutzgut – bis zu den Konzepten von Kulturlandschaftsforschung in der Geographie und Landschaftsplanung. Der zweite Teil stellt schließlich das Mauerinventar Vorarlberg und seine Entwicklung vor. Eine Auswahl aus den Ergebnissen veranschaulicht den Wissensgewinn und das abschließende Fazit zeigt die aktuellen Herausforderungen dieser Form der Kulturlandschaftsforschung auf.
Konzepte zu Kulturlandschaft und Kulturlandschaftsforschung Kultur-Landschafts-Begriff im Wandel Landschaften entstehen unter den jeweils gegebenen natürlichen Voraussetzungen und dem Einfluss des Menschen zur Erhaltung seiner Existenz. Garten- und
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Kulturlandschaftsgestaltung haben ihre älteste Kompetenz in der subsistenten anonymen Garten- und Agrikultur.1 Kulturlandschaft ist so gesehen in sich eine Tautologie, denn selbst die entlegensten Gegenden sind nicht ohne Einwirkungen der Menschheit. Die Differenzierung zwischen Natur und Kultur ist eine menschliche Erfindung. Abgeleitet vom lateinischen colere („bebauen, pflegen“), meint der Begriff „Kultur“ zunächst die Pflege des Bodens. Erst später, Ende des 17. Jahrhunderts, tritt die Pflege des Geistes und der Künste hinzu.2 Auch der Begriff „Landschaft“ erfährt einen Bedeutungswandel. Erstmals 830 auftauchend, bezeichnet der althochdeutsche Begriff lantschaft einen politisch zusammengehörenden Landstrich im Sinn von provincia oder regio.3 Ab dem 14. Jahrhundert differenziert er sich weiter aus. Nun wird darunter die Personengruppe, die in einer Region Einfluss und Macht hat, der Zusammenschluss aller Landstände gegenüber dem Landesherrn verstanden. Belege des 16. Jahrhunderts zeigen weiters eine mit dem Begriff intendierte abgrenzende Benennung des Landes außerhalb der Stadt. Etwa in derselben Zeit kommt zum räumlich-sozialen Aspekt ein bildlicher hinzu: Landschaft wird zum Terminus technicus in der Malerei.4 Damit wird Landschaft zunehmend zur Vorstellung eines Ausschnittes der Umwelt und der Beziehungen dieser zum Menschen. Dies verstärkt sich weiter, bis um 1900 die verschiedenen Ebenen im umgangssprachlichen Landschaftsbegriff verschmelzen und er stark emotional aufgeladen ist. Landschaft als Idee, als geistiges Konstrukt Neben den physischen Kulturlandschaften existieren ideelle und geistige Kulturlandschaften. Exemplarisch sei dazu auf die Klosterlandschaften verwiesen. In Österreich hinterließen die Klöster in wirtschaftlicher wie geistig-ideeller Hinsicht starke Spuren in den Landschaften. Zu Recht kann man von monastischen Kulturlandschaften sprechen.5 Landschaft ist somit Schauplatz und Spiegel subjektiver ästhetischer Deutungsmuster. Als Erscheinung für sich ist Landschaft eine Erfindung der Neu1 2 3 4 5
Vgl. Benesch 2012, 63. http://www.koeblergerhard.de/derwbhin.html (letzter Zugriff 3.10.2015). Schenk 2002, 6. Vgl. Gunzelmann 2005, 4. Vgl. Benesch 2012, 62–65; sie können als ‚Dominantenlandschaften‘ im Sinne einer der Erfassungsmethoden von Kulturlandschaften angesehen werden (vgl. Gunzelmann 2012, 14–15); hier gibt es eine sehr starke Übereinstimmung mit dem Begriff der Denkmallandschaft (Breuer 1988).
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zeit. Das Mittelalter kannte Natur als den vom Menschen wahrnehmbaren Teil der Schöpfung. Berge galten als Orte der Gefahren, hässlich und unfruchtbar.6 Seit frühester Zeit spielten jedoch ihre Aneignung und Bezwingung eine ebenso wichtige Rolle. Renaissance und Aufklärung streben nach Naturbeherrschung, Bezähmung des Wilden und Gefährlichen. Das Kultivieren und Ordnen in klaren kontrollierten Formen wird in der Gartenkunst der Renaissance und des Barock sinnbildlich. Die Romantik entwirft die Natur als umfassendes Idealbild für das irdische Dasein, der angestrebten Einheit von Geist (Philosophie), Kunst (Poesie) und Seele (Emotion).7 Ökonomie und profane Funktionen wurden ausgeklammert, romantisch überhöhte Bilder von Naturschönheit und Naturgewalt für den Betrachter in der Landschaftsmalerei und der Gartenkunst inszeniert. Die im 19. Jahrhundert zunehmende Bereisung des Alpenraumes trägt mit ihrem touristischen Blick zu einer Ästhetisierung von produktiven wie natürlichen Landschaften bei. Es werden Stereotype und Landschaftstopoi geschaffen. Auch die weniger Wagemutigen unter den Reisenden konnten nun entlegene Alpentäler erreichen. Aus der Distanz erscheint das Bergdorf unter dem bizarren Felsgipfel entrückt und idyllisch. Die gravierenden Veränderungen im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der dabei empfundene Verlust führen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Erhöhung der Landschaften als attraktive Orte.8 Sie erscheinen als lieblich, schön, erhaben, frei. Dies macht sie zu schützenswerten, erhaltenswerten, pflegenswerten Landschaften. Die vermeintlich trivialen Alltags- oder Industrielandschaften erscheinen als weniger wertvoll, sie werden von ihnen abgegrenzt und degradiert.9 Kulturlandschaft als Schutzgut Auf Basis der emotional positiv besetzten Bedeutung von Landschaft für den Menschen entstanden um 1900 die ersten Ansätze, Landschaften als erhaltenswerten Gegenstand zu sehen. Die lieblichen, vielfältigen (später artenreichen), traditionellen Kulturlandschaften sind das Objekt der Heimatschutzbewegung und des späteren Naturschutzes. Als traditionelle Kulturlandschaft wird im Allgemeinen die von Bauern bis etwa 1850 genutzte und gestaltete Landschaft bezeichnet.10 Charakteristisch für sie ist die polykulturelle Flächennutzung – d. h. es kommen 6 7 8 9 10
Vgl. Benesch 2012, 62. Vgl. Schlegel 1967, 182–183. Vgl. Burckhart 2006, 26. Vgl. Gugerell/Penker 2012, 43. Vgl. Bätzing 1997, 146.
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mehrere Nutzungsformen auf einer Fläche vor – und die Allmendwirtschaft. Diese alte und weit verbreitete Bewirtschaftungsordnung ermöglichte vielen Bewohnerinnen und Bewohnern den Zugang zu Landschaft und Landbewirtschaftung. Die Naturschutzbewegung ab den 1980er-Jahren bis heute besetzt den Begriff sehr positiv. „Das Ideal der traditionellen Kulturlandschaft dürfte zu weiten Teilen in der Sehnsucht nach einem solchen kollektiven Lebensraum begründet sein.“11 Gemeinsam mit Topographie und Pflanzenwelt prägen die entstandenen Bauwerke ihrerseits Landschaften. Typische, an Informationen sehr reiche Kulturlandschaften wurden in ihrem besonderen Wert ab den 50er-Jahren auch von der Denkmalpflege wahrgenommen und ihre Erhaltung bzw. ihr Schutz gefordert. Denkmalschutz zielt immer auf vom Menschen geschaffene materielle, also greifbare Gegenstände. Neben der materiellen Substanz spielt jedoch auch der Bildwert, der Gehalt eines Denkmals – z. B. die Idee von Landschaft oder Kulturlandschaft – eine große Rolle. In der 1992 von der UNESCO verfassten Definition von Kulturlandschaft als kulturellem Erbe werden drei Schutzkategorien genannt: von Menschenhand absichtlich gestaltete Landschaft (z. B. Parklandschaften wie Lednice-Valtice, Tschechien), Landschaften mit unverwechselbarem Charakter, welcher der Auseinandersetzung von Mensch und Natur zu verdanken ist (z. B. Wachau, Österreich; seit 2000 UNESCO-Weltkulturerbe), Landschaften mit besonderer Bedeutung für die Bewohner in religiöser, spiritueller, künstlerischer, geschichtlicher Hinsicht (z. B. Uluru-Kata Tjuta National Park, Australien).12 Die zeitliche Abfolge der Richtlinien spiegelt den Wandel im Denkmalbegriff: vom Bauwerk als alleinigem Schutzgegenstand um 1900 wurde er bis heute hinsichtlich Landschaften auf das Gartenkunstwerk (Charta von Florenz 1981), das regionale Bauerbe (Charta von Mexiko 1999) und Kulturlandschaften (Europäische Landschaftskonvention 2000) erweitert. Was sich weltumspannend vollzog, wurde auch regional wirksam. Zeugen der Alpenerschließung des 19. Jahrhunderts, in Österreich die Semmeringbahnstrecke von Carl Ritter von Ghega (1854 eröffnet) oder die Großglockner-Hochalpenstraße (1905 erster Abschnitt eröffnet; seit August 2015 Denkmal) stehen in Denkmalrang. Die aufwendigen Bauprojekte sind Landschaftsinszenierung und zugleich Präsentation der Ingenieursleistungen bei der Bezwingung der Grenzen der Natur durch die Kraft der Technik und maschinellen Produktion. Neben den imposanten Bauprojekten in Vorarlberg wie der Verbindung über den Flexenpass (1893 erster Abschnitt fertiggestellt) oder der Silvretta-Hochal11 Buchecker u. a. 1999, 14–15. 12 UNESCO 2008, 84.
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Abb. 2: Achrainstraße bei Dornbirn, 1886 – Panoramastraßenstück mit weiten Ausblicken übers Rheintal und den Bodensee (Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau)
penstraße kann man täglich, ohne es zu bemerken, auf nicht weniger ambitionierten Projekten der beginnenden Industrialisierung Vorarlbergs unterwegs sein. Auf Privatinitiative von Industriellen, allein getragen von der Gemeinde Dornbirn und nach den Plänen eines lokalen Ingenieurs wurde die Achrainstraße als Verbindung vom Rheintal in den Bregenzerwald angelegt. Ein Panoramaabschnitt, wie er im Buche steht, eröffnet einen weiten Blick über das Rheintal, den Bodensee und die angrenzenden Länder. Begleitet wird die Fahrt auf der wunderbar in die Topographie eingebetteten Trasse heute noch durch die mit dem Bau entstandenen historischen Mauersysteme (Abb. 2).13
Kulturlandschafts- und Bauforschung in Geographie und Landschaftsplanung Die Kulturlandschaft war das tragende Konzept der deutschsprachigen Geographie bis ca. 1968. Man fasste das Formenbild der Landschaft als Gefüge von Elementen und Strukturen auf und wollte sie aus der historischen Entwicklung erklären.14 Der Informationsträger Landschaft und mit ihm die stummen Zeugen der Landnutzungskultur, so die Auffassung, hatten eine aus unterschiedlichen Zeiten stammende Tiefenschichtung, die entschlüsselt werden könne.15 Ab 1950 setzte Kritik an diesem Ansatz ein: Statt nur die sichtbaren Zeichen sollten die dahinterliegenden Zusammenhänge erfasst werden. Ausgehend von einer Objektwissenschaft ging die Entwicklung ab den 70er-Jahren mehr und 13 Vgl. Drexel/Locher 2015a, Bd. 1, 44–46 und Bd. 2, 44–55. 14 Gunzelmann 2012, 13. 15 Vgl. Gunzelmann 2012, 15.
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mehr in Richtung einer aufgesplitterten Raumwissenschaft. Das Konzept Kulturlandschaft wurde als deskriptiv und unwissenschaftlich abgelehnt,16 erfuhr jedoch ab den 80er-Jahren bis heute eine anhaltende Renaissance, da Naturschutz und Denkmalschutz Materialität wieder als erhaltenswert erachteten. Weiters wurde von der Landschaftskunde zunehmend erkannt, dass Landschaft eine Idee oder Konstrukt in den Köpfen der Betrachtenden und Forschenden ist.17 In der Landschaftsplanung und Landschaftsökologie standen ab den 70er-Jahren vor allem Gedanken zum Arten- bzw. Biotopschutz und zur Nachhaltigkeit im Zentrum.18 Unter dem Eindruck fortschreitender Urbanisierung und Klimaproblematik mit weitreichenden Effekten auf alle Lebensbereiche entwickelten sich in den letzten Jahren ein erweiterter Nachhaltigkeitsbegriff (ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit) und vermehrt prozessorientierte Planungsansätze. Ebenfalls in die 70er-Jahre zurück reicht ein indizienwissenschaftlicher und landschaftshistorischer Ansatz. „Vorausschauend zurückblicken“,19 d. h. landschaftsplanerisches Interesse an der Geschichte, umfasst das Verständnis eines Ortes und beinhaltet eine diagnostische und prognostische Dimension für eine am konkreten Alltag der BewohnerInnen orientierte Planung. Dieser Ansatz sieht in der Kulturlandschaft als Ausdruck und Informationsträger der Ausgangsbedingungen der Natur und des Einflusses des Menschen in seinem Wirtschaften und Gestalten von Landschaft somit drei zeitliche Dimensionen – die Landschaftsgeschichte, die heutige Form und Bedeutung der Landschaft und die daraus ableitbaren Entwicklungstendenzen. Die im Rahmen des Wirtschaftens entstandenen räumlichen und baulichen Strukturen wie Dörfer, Mauern, Wege etc. spiegeln die historischen wechselseitigen Prozesse und archivieren sie über Jahrhunderte hinweg. In ihnen sind noch lange nach ihrem Werden die ehemals gefällten Entscheidungen, die Gestaltungsintentionen und das dabei erworbene Wissen nachvollziehbar. Das Verstehen des historischen Werdens und der Bedingungen einer Landschaft schafft Anknüpfungspunkte für ihre ökonomischen und kulturellen Bedeutungen heute sowie Potentiale und Handlungsziele für die Zukunft.
16 Schenk 2005, 15. 17 Gunzelmann 2012, 14. 18 Erstmals in der Forstwirtschaft 1713 aus der Not akuten Holzmangels vom sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz verwendet, beschreibt der Begriff „Nachhaltigkeit“ eine Nutzung „mit Behutsamkeit“, sodass „eine Gleichheit zwischen An- und Zuwachs und dem Abtrieb des Holtzes erfolget“. Der Mensch müsse die Natur erforschen und nicht wider sie, sondern mit ihr agieren. (Carlowitz 1713). 19 Fuchs/Gugerell 2012, 193.
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Beispiel Mauerinventar Das Mauerinventar Vorarlberg ist landschaftsplanerische Bau- und Kulturlandschaftsforschung. Es basiert auf den stummen baulichen Zeugen der Landschaft, d. h. auf einem Archiv sensu stricto. In der historischen Bauforschung ist das Objekt, das Bauwerk Gegenstand und Ausgangspunkt der Entschlüsselung. Sie ist ebenso wie die Erfassung historischer Kulturlandschaften eine angewandte Disziplin der Landschaftspflege und Denkmalpflege – methodenreich, aber theoriearm –20 und per se interdisziplinär. Das Mauerinventar bezieht technische, soziale, historische und alltagsweltliche Aspekte ein und arbeitet mit anderen Fachdisziplinen (historische Wissenschaften, Archäologie, Architektur, Raumplanung, Denkmalpflege, Tourismus), den lokalen und regionalen administrativen und politischen Vertretern sowie den Ortsbürgerinnen und -bürgern zusammen. Die Bauwerke werden hinsichtlich ihrer Baustoffe, Form, Funktion und ihres Entstehungszeitpunktes beschrieben. Ihre Bauweise, d. h. ihre Technik, erschließt sich über die Analyse der konkreten Objekte. Die Wahl des Standorts, der Baustoffe und der Technik vermittelt die für den jeweiligen Ort und Gebrauch spezifische Lösung unter den gegebenen und verfügbaren Mitteln (Ökonomie, Erreichbarkeit von Ressourcen, soziale und rechtliche Rahmenbedingungen). Die in der Kulturlandschaftsforschung klassische Feldbegehung wird heute durch GIS, digitale Geländemodelle sowie mit aktuellen orthofotografischen Daten überlagerbare digitalisierte historische Kartenwerke und Luftbilder erweitert. Die Bauwerke als Primärquellen werden ergänzt und vergleichend überprüft durch Archivalien und historische Dokumente zur Orts- und Wirtschaftsgeschichte (Besitzverhältnisse, Steuerbücher). Große Bedeutung hat die Oral History, das Gespräch mit Ortskundigen, die seit Langem in der ihnen anvertrauten Kulturlandschaft leben. Als Indizienträger der Orts- und Lebensgeschichten können über den systematischen Vergleich das Handwerkswissen der ErbauerInnen sowie die Entscheidungsprozesse im Kontext der naturräumlichen, sozialen, politischen und ideellen Bedingungen nachvollzogen werden. Die Ergebnisse werden in textlicher Form und in Themenkarten dargestellt. Den vielschichtigen Informationsgehalt, die Kraft (Resilienz) und identitätsgebende Bedeutung gilt es als Werte für heute und zukünftige Entwicklungen zu erkennen und zu sichern. Das Konzept des Mauerinventares fußt dabei auf folgenden Prämissen: Landschaften sind nicht statisch, vielmehr entwickeln sie sich im Kontext der genannten Faktoren laufend weiter. In diesem Wandel und den fortlaufenden Veränderungen haben Denkmal (Gartendenkmal) und Kultur20 Gunzelmann 2012, 13.
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landschaft ihre Parallelen. Im Gegensatz zum Paradigma des Denkmalschutzes geht es jedoch nicht um strikte Erhaltung. Landschaft entwickelt sich mit der Gesellschaft und dies „würde wohl auch eine bewusste Steuerung der Landschaft in Hinblick auf vorherrschende gesellschaftliche Erwartungen und Bedürfnisse an die Landschaft mit einschließen“.21 Die Handlungsmöglichkeiten reichen dabei vom Nichtstun bis zu Entwicklungs- und Gestaltungsprozessen, in welchen die regionale Zivilgesellschaft, Betriebe und Behörden für die Agenden ihrer Landschaft getrennt und gemeinsam Verantwortung übernehmen.22 Neben dem Sichtbarmachen der Bedeutung der Zeugen des Werdens möchte das Mauerinventar zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Zukunft der Landschaft anregen und Handlungsinstrumente für die Planung und Entscheidung von Besitzerinnen und Besitzern sowie Akteurinnen und Akteuren bereitstellen. Dies sind neben den Forschungsberichten auch Umsetzungsprojekte und strategische Konzepte (Ausbildung, Förderung) mit den Anwohnerinnen und Anwohnern.
Das Mauerinventar Vorarlberg Vorgeschichte und Vorläufer Seit der Intensivierung der Landwirtschaft in den 1960ern, spätestens aber seit dem rapiden Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung in den Berggebieten ab den 70er-Jahren wurde der Unterhalt der Mauern eingestellt und diese vielfach sich selbst überlassen.23 Neben den Ländern des Mittelmeerraumes (Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien) haben vor allem England und die Schweiz weitreichende Erfahrungen mit historischen Wegen und Trockensteinmauern und daher Instrumente zu ihrer Erhaltung entwickelt.24 In Österreich war das Hochwasserereignis 2002, das große Zerstörungen an den Weinterrassen der Wachau bewirkte, Auslöser für die erste regionale Initiative zur Erhaltung dieser die Kulturlandschaft prägenden Kleinbauwerke und zum Wiederaufbau lokalen Handwerkswissens.25 In den letzten Jahren widmen sich vermehrt europaweit Projekte der Erhaltung von Kulturlandschaften und ihren Elementen.26 In Vorarlberg waren die Vorar21 22 23 24
Gugerell/Penker 2012, 44–45. Vgl. Gugerell/Penker 2012, 43–44. Vgl. Kasper 2010, 348–349. Vgl. etwa die Dry Stone Walling Association of Great Britain, die Via Storia Schweiz und den Fonds Landschaft Schweiz (FLS). 25 Ein erstes Ergebnis ist das von Prost/Vogler 2009 veröffentlichte Handbuch Trockenmauern, dem ein gefördertes internationales Forschungsprojekt zugrunde lag. 26 Gunzelmann u. a. 2001; speziell zu Mauern Höchtl u. a. 2011.
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beiten des Historikers Helmut Tiefenthaler zu historischen Verkehrswegen die Basis,27 auf der vor etwa 15 Jahren die ersten Initiativen aufbauen konnten. Die herausragenden Arbeiten in der Baudenkmalpflege im Nachbarland Schweiz, etwa Diego Giovanolis umfassendes Werk Alpschermen und Maisäße in Graubünden28 oder das Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz (IVS), und nicht zuletzt die rapide fortschreitende Umformung der Landschaften Vorarlbergs durch Gewerbe, Siedlungen und Tourismusinfrastruktur förderte ein wachsendes Bewusstsein und Initiativen zur Erhaltung charakteristischer Kulturlandschaften und ihrer Elemente in dem prosperierenden Bundesland.29 Konzept 2009 folgte eine Initiative des Institutes für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau der Universität für Bodenkultur Wien und der Abteilung Raumplanung und Baurecht des Landes Vorarlberg, um dem drohenden Verlust der Kulturlandschaftselemente Natursteinmauern und des in ihnen eingeschriebenen Wissens entgegenzuwirken und ein Planungsinstrument zu ihrer Erhaltung bereitzustellen.30 Die wesentlichen Elemente des Projektkonzeptes sind: • Die Erhebung erfolgt ausschließlich auf Wunsch der Gemeinde. • Die Erhebung wird seitens der Gemeinde ideell und materiell unterstützt. • Die Gemeinde verpflichtet sich, zumindest ein erstes Umsetzungsprojekt (Erhaltung, Sanierung, Wiedererrichtung etc.) durchzuführen. • Das lokale Wissen soll am Ort bleiben und bauhandwerkliches Wissen wieder in den Ort gebracht werden: Weiterbildung (Baukurse), Austausch und Kooperation. • Die Erhaltung und Sanierung erfolgt nach entwickelten Leitsätzen (u. a. Substanz schonen, Fehlendes fachgerecht ergänzen und unterhalten, alle Epochen respektieren und nicht verfälschen, Veränderungen harmonisch, aber unterscheidbar durchführen).31
27 Vgl. Tiefenthaler 2004. 28 Giovanoli 2003. 29 Vgl. etwa die Maisäß-Erhebungen im Montafon, die Via Valtellina, das Kulturlandschaftsinventar Montafon (KLIM) und die Grenzmauern des Maisäß Schönebach im Bregenzerwald. 30 Erarbeitet wird das Mauerinventar unter der Leitung von Anita Drexel von einem Kernteam bestehend aus Stefan Locher, Andrea Eberhart und Marlies Macher. Mitinitiator und Partner ist Manfred Kopf, Abteilung Raumplanung und Baurecht des Landes Vorarlberg (s. Drexel u. a. 2009–2015, Drexel/Locher 2015a). 31 Vgl. Drexel u. a. 2009–2015.
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Arbeitsweise Grundlage des Mauerinventares ist die Geländeerhebung des gegenwärtigen Bestandes. Die Bauwerke werden bauhistorisch erfasst,32 aber auch in ihrem Bezug zu Landschaftsraum, Ort, Wirtschaftsflächen und Verkehrswegen beschrieben. Zeitlich zurückgehend wird dieser Bestand mit alten Luftbildern vor allem aus den 50er-Jahren, historischen Fotografien (soweit verfügbar) und dem auch als „Urmappe“ bezeichneten historischen Kataster aus dem Jahre 1857 verglichen. Weiters werden regionalgeschichtliche Literatur, Flurnamenkarten und, wenn möglich, Primärquellen (Archive) ausgewertet.33 Sie dienen als Ergänzung und zur Interpretation des Befundes in Hinblick auf Entstehung, Funktion und Bedeutung der Mauern. In der Regel ist eine Datierung nicht möglich, seltene Ausnahmen sind Inschriften mit Baudaten. Eine zeitliche Einordnung ist daher nur durch Zusammenschau mit anderen textlichen und als Pläne vorliegenden Quellen über Interpretation möglich. Seltene wertvolle Funde von historischen Bildquellen und während den Geländeerhebungen geführte Gespräche zeigen ehemalige Ausmaße und die ehemalige wie aktuelle soziale Bedeutung der Mauern. Bericht / Dokumentation Vorangestellt werden in einem allgemeinen Teil die naturräumlichen Grundlagen sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Orte beschrieben. Der Forschungsbericht selbst verknüpft die Befunde in Hinblick auf Entstehung, Funktion sowie soziale, historische und bautechnische Bedeutung. Die Bewertung erfolgt hinsichtlich ihres kulturellen Erbes, des Handwerkswissens, ihrer Bedeutung für das Ortsbild und die Kulturlandschaft. Synthetische Karten informieren über Funktion und Bauweisen, Zustand und Alter u. a. Der Forschungsbericht ist verknüpft mit dem Inventar, in welchem jede Mauer auf drei Blättern beschrieben und empfohlene Maßnahmen zum Erhalt des Objektes formuliert werden. Das Inventar ist Information und Anleitung für BesitzerInnen, Planungsinstrument für die Gemeinden und für alle BenutzerInnen im VoGIS, dem vom Vorarlberger Landesamt für Vermessung betreuten geografischen Informationssystem, abrufbar (Abb. 3).
32 Vgl. Großmann 1993. 33 Vgl. Vogt 1970–1987, Bd. 2, 3 und 5.
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Abb. 3: Karte der vollständig und teilweise erfassten Gemeinden im Mauerinventar Vorarlberg, Stand 2014/2015 (Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau)
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Abb. 4: Wegbegleitende Mauern am Nenzinger Berg vor und nach der Sanierung 2014 (Gemeinde Nenzing)
Forschungsstand Seit 2009 wurden 12 Gemeinden vollständig, 16 weitere teilweise inventarisiert. 2015 werden 2 weitere Gemeinden, Bürs und Nüziders, bearbeitet. Sie schließen eine wichtige Lücke bereits erhobener Gemeinden im mauerreichen Walgau. Im Jahr 2014 nahm sich das Land Vorarlberg selbst in die Pflicht. Aus Interesse an dessen Verkehrsgeschichte und an einem nachhaltigen Objektunterhalt wurden auf Eigeninitiative der Straßenbauabteilung 94 historische straßenbegleitende Mauern im Umfang von 6210 Laufmetern erfasst und Empfehlungen formuliert. Bisher wurden knapp 500 Objekte erforscht, davon sind 10 % Relikte. Weitere 90 kommen im aktuellen Projekt von 2015 hinzu. Insgesamt wurden ca. 28 km Mauern dokumentiert und analysiert. 75 % sind Trockenmauern, 25 % gebundene Natursteinmauern. Die Gemeinden und die Straßenbauabteilung des Landes starteten 20 Sanierungsprojekte. Sie waren alle mit Mauerbaukursen für die Gemeindemitglieder und Interessierte verbunden und wurden seit 2010 vom Schweizer Mauerbauspezialisten Martin Lutz geleitet (Abb. 4).
Mauerlandschaften Vorarlbergs – eine Auswahl Im Folgenden werden einige Ergebnisse aus der fünfjährigen Forschung mit besonderem Wert für das Thema „Entdeckung der Landschaft“ vorgestellt.34
34 Drexel u. a. 2009–2015.
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Physische Kulturlandschaft: Mauerbauweisen spiegeln die naturräumlichen Voraussetzungen von Regionen Die Vielzahl an Mauerbauweisen spiegelt einerseits die örtlichen naturbürtigen Voraussetzungen (Geologie: z. B. Steinarten, -qualitäten; Morphologie: z. B. Steilheit) und andererseits eine Aufwand-Nutzen-Optimierung wider. Wirtschaftsflächen werden von Steinen gereinigt, das vor Ort verfügbare Material wird verwendet, sodass möglichst kurze Transportwege und keine zusätzlichen Kosten entstehen. Konnten die groben Blöcke nicht oder nur schwer bearbeitet werden, wurden zum Beispiel Ausgleichsschichten in Form von Steinplatten eingebaut. Bautechniken mit und gegen die Natur Technisch anspruchsvolle Natursteinmauern finden sich in schwierigem Gelände, z. B. als Stützmauern von wichtigen Wegeverbindungen in Steilhängen, als Schutzbauten gegen Steinschlag, Vermurung und Lawinen, etwa in Innerbraz und in Tschagguns, oder bei erforderlichen Überbrückungen wie der Wannenbrücke (1863) in Sulz und der Brücke an der alten Straße von Raggal nach Marul (1932–34). Mauern als Archiv des Wissens und Wandels Das Wissen und die Arbeit vergangener Generationen können in den Mauern abgerufen werden. Die erhaltenen Natursteinmauern stellen ein wertvolles bautechnisches Archiv des traditionellen bäuerlichen und handwerklichen Wissens sowie der technischen Entwicklungen insbesonders im 19. Jahrhundert dar. Sichtbar wird dieses Wissen einerseits in der fachgerechten Ausführung der Mauern für bedeutende Funktionen wie Wildbach- und Lawinenschutz oder das Abstützen großer Hänge, andererseits in der bestmöglichen Ausnutzung des nicht immer in optimaler Qualität verfügbaren Steinmaterials bei geringstmöglichem Arbeitsaufwand.35 Mauern formen Landschaften und Orte charakteristisch Trotz des mancherorts starken Verlustes oder der Aufgabe ihrer Pflege ab den 1970er-Jahren prägen Mauern und die heute auf ihnen stockenden Gehölze Landschaften und Ortsbilder in charakteristischer Weise. 35 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Höchtl u. a. 2011, 55 bei ihren Forschungen zu Mauersystemen in der Schweiz und Südbaden.
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Natursteinmauern stehen etwa im Zusammenhang mit ehemals wichtigen lokalen und überregionalen Wegeverbindungen (Via Valtellina, Großes Walsertal u. a. m.), historischen Weinbaugebieten (zahlreiche Walgaugemeinden), verlassenen Dauersiedlungen und Maisäßen (Nenzinger Berg, Montafon u. a.)36 oder der Erschließungsgeschichte der Alpgebiete (Gauertal u. a.). Die Nutzungen haben sich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg verändert. Entweder kam es zu einer Intensivierung (Zusammenlegungen, Wegverbreiterungen), was zur Entfernung der Mauern führte, oder es erfolgte eine Extensivierung (Brachfallen, Aufforstungen) und damit ein Stopp des Unterhaltes. So finden sich heute Wiesen anstelle von Acker- und Weinparzellen oder es stockt Wald auf Steillagen. Mauern als Spiegel der Wirtschaftsweisen und Besitzstrukturen Zahlreiche Ackerstreifen mit kurzen Stützmauern deuten auf durch Realteilung entstandene kleine und kleinste Betriebsstrukturen hin. So gibt es in den Gemeinden Röns, Düns und Schnifis kleinteilige, historische Acker- und Weinbaugebiete. Anhand der „Urmappe“ lässt sich auf jeder der schmalen Längsparzellen eine vielfältige Nutzung mit einer Abfolge von Wiesen, Wein, Obst, Acker und Wald erkennen. Die Bewirtschaftung wurde durch die Terrassierung mit Natursteinmauern erleichtert und das Kleinklima günstig beeinflusst (Abb. 5). Umfangreiche Mauern finden sich bei großen, bedeutenden Alpen und Auftriebswegen (Tschagguns, Nenzinger Berg). Die räumlich enge Abfolge von unterschiedlichen Besitzverhältnissen, von Privat- und Allgemeinflächen nebst parallel liegenden verschiedenen Nutzungsarten machten Trennelemente wie Zäune und Mauern sowie Regelungen für ein friedliches Nebeneinander notwendig. Auf die Alpen getriebenes Vieh wurde durch die Mauern vom Grasen auf den wertvollen Mähwiesen der Maisäße oder Berghöfe abgehalten.37 Das Mitte des 17. Jahrhunderts entlang der Vanovagasse entstandene Mauersystem ist eines der umfangreichsten und komplexesten Vorarlbergs. Es geht auf die rege Bautätigkeit des Reichsstiftes Weingarten zurück,38 wurde bautechnisch anspruchsvoll errichtet und ist heute von besonderem kulturellem Wert.
36 Maisäß: die in Einzelbesitz stehende, mittlere Stufe der in Vorarlberg verbreiteten Dreistufenwirtschaft (Heimhof – Maisäß – Alpe). Sie wurde früher im Frühling und im Herbst mit dem gesamten Vieh und der ganzen Familie bezogen. 37 So wurden etwa am Nenzinger Berg Stückzahlen von bis zu 800 Tieren bei einem Alpaufgang aufgetrieben. 38 Drexel/Locher 2015b, 146–149.
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Abb. 5: Parzellen und Flächennutzung Wingat / Fuschgel in Röns-Düns, Franziszäischer Kataster 1857 (Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau)
Abb. 6: Vanovagasse Bludesch-Thüringen, Mauern aus Mitte 17. Jahrhundert (Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau)
Derjenige, zu dessen Schutz oder Nutzungsverbesserung eine Mauer dient, errichtet, besitzt und pflegt sie. In Alpgebieten sind dies die Maisäßbesitzer gegenüber den Alpen (Gemeinbesitz). Laut Herrn Gmeiner, einem über 90-jährigen Maisäßbesitzer aus Tschagguns, wurde diese Pflicht im Grundbuch eingetragen und ist dort noch heute nachzulesen. Auch sehr alte Alpordnungen sind Belege für die Pflicht zur Einfriedung der Alpflächen.39 Mähwiesen zur Produktion des 39 Vgl. Alpordnung Spora-Alpe 1534.
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Winterfutters waren in den durch Realteilung klein- und kleinstzersplitterten Betriebsstrukturen der Vorarlberger Talschaften so wichtig, dass sich der hohe Aufwand, Mauern zu errichten und regelmäßig zu pflegen, durchaus lohnte. Stützmauern in Wein- und Ackerbauhängen erweisen sich für den höher gelegenen Bewirtschafter als besonders nützlich, da sie die Reb- oder Ackerfläche terrassieren und vor Erosion schützen. Deshalb hat der obere Nutzer auch die Erhaltungspflicht, auch wenn für den unteren neben dem Erosionsschutz für den Weinbau ein vorteilhaftes Mikroklima geschaffen wird.40
Wege und Wegmauern erzählen von Transport und Transit, speichern Begegnungen und Biographien Zu vielen Mauern können von Ortsbürgerinnen und -bürgern Geschichten erzählt werden, die biographisch von Bedeutung und lokal verwurzelt sind (vgl. Abb. 7). Erhaltene bauliche Strukturen ehemaligen Wirtschaftens erinnern an die Arbeit und die Lebenswelten unserer Vorfahren, etwa an die Zeit auf dem Maisäß, die, wenn auch manchmal topisch überhöht, als besonders schön, weil gesellig und frei galt: Fern der dörflichen sozialen Kontrolle ergaben sich besondere individuelle und gemeinschaftliche Freiräume: „Regnete es einmal, konnte man […] auch als Mann stricken lernen, [so etwa für] vielerlei Umhänge für die Puppe, die auf dem Maisäß damals [für mich als Bub] erlaubt war.“41 Die Bilder- und Gedankenreise führte zur Landschaft als konkretem Ort und vielschichtigem Informationsträger. Physische Substanz, auch Fragmente sind wertvolle Informationsträger. Sie machen Landnutzungs- wie Technikgeschichte nachvollziehbar und erlauben es, Querbezüge zur Sozial- und Ideengeschichte herzustellen.
Fazit / Zusammenfassung Kulturlandschaftsforschung zeichnet sich heute sowohl durch die Wahrung klassischer Aufgaben als auch durch die Bewältigung neuer Herausforderungen aus. Neben der Erforschung bisher wenig beachteter Objekte wie funktionaler Bauwerke aus der Geschichte der Agrikultur und der Verkehrserschließung sind die Veränderungen von Landschaften durch regional teils rasant und stark eingreifenden Tourismus, Siedlungswachstum und Infrastruktur ein besonders wichtiges The40 Für die Wachau vgl. Vogler 2007, 10. 41 Moosbrugger 2001.
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Abb. 7: Gauertal / Tschagguns, 1928 (Privatarchiv Juen, F.)
ma. Weiters erzeugen durch Klimawandel verursachte Prozesse Erfahrungen von Verlust und Bedrohung. In diesem laufenden Veränderungsprozess kommt den Zeugen der Entstehung von Kultur- und Lebenslandschaften große Bedeutung zu. Das Mauerinventar stellt eine Kombination aus landschaftsplanerischer Kulturlandschaftsforschung und klassischer Bauforschung dar. Wie das Vorgehen in der Landschaftsplanung heute (z. B. Stadtraum- und Regionalentwicklung) ist die damit einhergehende Bestandsaufnahme stark prozessorientiert. Als vorausschauendes Zurückdenken versteht sie Landschaft in kontinuierlicher Entwicklung und ist um die Erhaltung aller Zeitschichten bemüht. Auf Basis der Kenntnisse der Entstehungsgeschichte und Bedeutung dieser Mauern kann Landschaft für heute und die Zukunft weiterentwickelt werden. Vielfach treten dabei Personen, die über ihre familiären Wurzeln und Lebensgeschichten mit dem Werden der Landschaft verbunden sind, und Menschen, deren Erfahrungshintergründe und Wahrnehmung von Landschaft gänzlich anders geprägt ist (aus anderen Ländern kommend, medienvermittelte Landschaftsbilder) miteinander in einen Dialog. Dieser Prozess braucht Zeit sowie steuernde bzw. vermittelnde Personen und Institutionen (OrtsbürgerInnen, BürgermeisterInnen, BetriebsleiterInnen, Fachreferentinnen und -referenten der Landesabteilungen u. a.). Der Lohn für diese Anstrengungen sind nicht allein imposante Leistungen und spannende Erfahrungen, wie die letzten fünf Jahre Arbeit am Mauerinventar Vorarlberg zeigen. Neben vielen historischen und aktuellen Funden wird ein Sachverhalt besonders deutlich: Die ,Entdeckung‘ von Landschaft dauert an.
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Anita Drexel
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Das Inventar Natursteinmauern Vorarlberg
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Marion Ebster
Maisäßlandschaften Montafon Entdeckungsreise durch eine Kulturlandschaft und ihre Handlungs räume aus der Perspektive der Regionalentwicklung
Einleitung Kulturlandschaften sind ein Produkt menschlicher Tätigkeit, alles andere – auch wenn im Alpenraum davon nicht viel geblieben ist – sind Naturlandschaften. Mit dieser zugegebenermaßen sehr reduzierten Erklärung von Kulturlandschaft tritt bereits ein zentraler inhaltlicher Bestandteil der folgenden Ausführungen deutlich zutage: Kulturlandschaften sind menschliche Handlungsräume. Indem der Mensch Landschaft bewirtschaftet und nutzt, gestaltet, verändert und adaptiert er diese durch seine Handlungen. Die Motivationen für diese Handlungen und deren Resultate sind abhängig von den Perspektiven und Haltungen, die die jeweiligen Personengruppen oder einzelne Personen einnehmen. Auch die Machtverteilung innerhalb beziehungsweise zwischen diesen Gruppen spielt eine Rolle. Die Maisäßlandschaften des Montafon sind ein Paradebeispiel für die perspektivische und konstruktivistische Vielschichtigkeit des Kulturlandschaftsverständnisses unterschiedlicher Akteursgruppen. Sie veranschaulichen sehr deutlich, innerhalb welcher Dynamiken sich regionale Entwicklung im ländlichen Raum abspielt bzw. abspielen kann. Die unterschiedlichen Blickwinkel der verschiedenen Akteure und ihre daraus resultierenden Handlungen in Bezug auf die Maisäßlandschaften spiegeln exemplarisch ein Spannungsfeld wider, in dem ländliche Entwicklung stattfindet. Einige für die Entwicklung dieser Gebiete wichtige Perspektiven werden im Folgenden vorgestellt und erläutert. Dieser Artikel beleuchtet somit einen kleinen Ausschnitt der Alltagspraxis der Regionalentwicklung im alpinen Bergtal Montafon im Süden des Bundeslandes Vorarlberg. In den Maisäßlandschaften des Montafon bündelt sich auf sehr engem Raum eine große Anzahl an verschiedenen Interessen, die von unterschiedlichen sozialen Gruppierungen vertreten werden. Die Maisäßlandschaften sind • Wahrnehmungs- und Identitätsräume der Bevölkerung, • idyllische Urlaubsziele für Touristen, • weicher Standortfaktor für Unternehmen,
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• • • •
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wissenschaftliche Untersuchungsobjekte, Untersuchungsgegenstand in EU-Projekten, landwirtschaftlich genutzte Berglandgebiete, und vieles mehr.
Somit sind sie Handlungsräume einer – im besten Fall – kooperativen Regionalentwicklung. Die Maisäßlandschaften stellen einen anschaulichen Mikrokosmos dar, in dem viele Herausforderungen, die sich im gesamten Alpenraum stellen, beobachtbar sind: • Nutzungskonflikte • Privateigentum vs. Gemeinnutzen • Rückgang der Berglandwirtschaft und damit zusammenhängende Probleme der Landschaftserhaltung • Touristische Vereinnahmung und Freizeitdruck • Unzeitgemäße Rechtslage bei Bauvorhaben und entsprechende Anpassungsversuche • Willkür und Hilflosigkeit innerhalb der Kommunen und des Landes bei hoheitlichen Aufgaben in der Raumplanung • Erhalt des kulturellen Erbes bei gleichzeitiger zeitgemäßer Nutzung Die Maisäße im Montafon befinden sich im Zentrum all dieser Handlungsfelder und Zusammenhänge und bilden ein sogenanntes „komplexes institutionelles Landschaftsregime“. Sie sind als Kulturlandschaft sowohl eine physische Raumkategorie als auch ein soziales und kulturelles Konstrukt, das sich auf der Grundlage institutioneller und akteursbezogener Wirkungszusammenhänge entwickelt.1 Die vor allem durch die traditionelle Dreistufenlandwirtschaft geformte Kulturlandschaft mutierte von einem ‚Nebenprodukt‘ der bäuerlichen Landnutzung und -verwertung zu einem oftmals umstrittenen Gegenstand verschiedenster Akteure und Interessensverbände, die unterschiedliche Ziele verfolgen: Unternehmerische Aktivitäten unter der Bedingung sich rasch amortisierender Investitionen stehen im Spannungsfeld mit Positionen des Natur-, Landschafts- und des sogenannten Heimatschutzes. Rasch zustande gekommene lokalpolitische Entscheidungen über den Bau eines weiteren Wintersportresorts in einem Maisäßgebiet werden beispielsweise von einflussreichen Akteuren kulturhistorischer Einrichtungen öffentlich stark kritisiert. Ansässige Industriebetriebe unterstützen wiederum Sensibilisierungs- und Bewusstseinsbildungsmaßnahmen im Bereich Kulturlandschaft, 1
Gailing 2008.
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unermüdliche Einzelkämpfer dokumentieren sämtliche kulturlandschaftliche Veränderungen in ihrer Reichweite, wissenschaftliche Studien werden in Auftrag gegeben, Tagungen abgehalten, regionale, überregionale und internationale Projekte initiiert, regionale Marketingstrategien auf Basis der Kulturlandschaft entwickelt und die nachhaltige Entwicklung für die regionale Kulturlandschaft seitens Regionalentwicklungsinitiativen propagiert.2 Es zeigt sich hier in aller Klarheit, […] dass die Kulturlandschaft von einer Vielzahl höchst unterschiedlicher, sich wandelnder Institutionensysteme mit kohärenten und divergierenden Zielstellungen beeinflusst wird und der Umgang mit Kulturlandschaft in außergewöhnlich hohem Maße durch widerstreitende Interessen geprägt wird, denen fundamental unterschiedliche historische und kulturelle Werte, Begriffsverständnisse und Leitbilder zugrunde liegen.3
Maisäßlandschaften Montafon – eine Beschreibung Bevor an dieser Stelle auf fünf zentrale Perspektiven in Bezug auf die Montafoner Maisäßlandschaften eingegangen wird, sollen Letztere noch kurz beschrieben werden, um einen besseren Eindruck dieser wunderbaren Kulturlandschaft zu vermitteln.
Entstehung und ursprüngliche wirtschaftliche Bedeutung der Maisäßgebiete Als Maisäß wird im Montafon eine ursprünglich landwirtschaftlich bewirtschaftete Fläche bezeichnet, die sich meist als Rodungsinsel in bewaldeter Hanglage auf einer Seehöhe zwischen ca. 1200 und 1600 m darstellt. Das Maisäß ist oder war ein so genanntes Zwischengut. In der Dreistufenlandwirtschaft ist dies die Mittelstufe zwischen dem Heimgut im Tal und der Alpe oberhalb der Baumgrenze. Unter dem Begriff der Dreistufenlandwirtschaft wiederum wird eine spezielle Form der bergbäuerlichen Betriebsorganisation verstanden, wobei auf den drei vertikal getrennten Betriebsstufen Heimbetrieb, Maisäß und Alpe eine jahreszyklische Weide- und Mähwirtschaft betrieben wird (Abb. 1).4 2 3 4
Ebster/Strasser 2009. http://www.irs-net.de/download/Kulturlandschaft.pdf (15.1.2016). Groier 1990.
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Abb. 1: Auf der Mittelstufe zwischen dem hochalpinen Bereich und dem Talboden befinden sich die Maisäße, hier als Rodungsinseln im Bergwald erkennbar. Stand Montafon, Kulturlandschaftsinventar Montafon, Schruns 2010.
Die bäuerliche Familie bzw. ein Teil von ihr begibt sich mit dem Vieh im Frühjahr für ca. drei bis vier Wochen vom Heimgut im Talgrund auf die Mittelstufe des Maisäß, von dort zieht das Vieh unter der Obhut der Hirten über den Sommer auf die Alpe. Im Frühherbst erfolgt diese halbnomadische Wanderung in umgekehrter Reihenfolge wieder zurück aufs Maisäß und schließlich talwärts zum Heimgut, wo der Winter verbracht wird.5 Hintergrund dieser rhythmischen, vertikalen Wanderung über bestimmte jahreszeitliche Abschnitte hinweg, dem Wuchs der Vegetation folgend, war die Anpassungsfähigkeit der Vieh züchtenden und Milchwirtschaft betreibenden Talbewohner an die klimatischen und topographischen Verhältnisse im Montafon. Dies war eine Voraussetzung zur Sicherung der Existenzgrundlage, die vor allem auf dem guten Gedeihen der Tiere beruhte.6 Es ist nicht ganz leicht festzustellen, wann genau sich diese Form der Viehzucht im Montafon etablierte. Manche Quellen geben vage an, dass die Dreistufenlandwirtschaft „über Jahrhunderte lang“7 betrieben wurde oder sie beziehen sich auf
5 6 7
Ebster/Strasser 2009. König 2003. König 2003, 16.
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Abb. 2: Das Maisäß Montiel in der Gemeinde St. Gallenkirch mit einem relativ hohen Erhaltungsgrad alter Bausubstanz. Stand Montafon, Kulturlandschaftsinventar Montafon, Schruns 2010.
keinerlei Zeitangaben.8 Im Vorarlberger Flurnamenbuch für das Montafon sind die ersten urkundlichen Erwähnungen der Maisäße angeführt.9 Die meisten Erwähnungen gehen auf Zeiträume zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert zurück, was jedoch keinerlei Rückschlüsse auf den Beginn einer tatsächlichen Nutzung der Gebiete zulässt, da mit Sicherheit gesagt werden kann, dass diese schon lange vor ihrer schriftlichen Dokumentation stattgefunden hat (Abb. 2).
Nutzungsänderung und Strukturwandel – die Konsequenzen für die Maisäßgebiete Im Zuge des Strukturwandels, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, verschwanden große Teile der durch Landwirtschaft entstandenen Kulturlandschaft im Montafon. Ausgeklügelte landwirtschaftliche Systeme, die – an örtliche Gegebenheiten und jahreszeitliche Zyklen angepasst – es den Menschen ermöglichten, von und mit der Landschaft zu leben, wurden obsolet. Durch den nunmehr vorrangigen Produktionsdruck und die damit einhergehenden Intensivierungen 8 9
Moosbrugger 2001, Maier 2011. Vogt 1973.
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Abb. 3a: Luftbild des Maisäßes Wachters Dieja in Tschagguns um 1950. Amt der Vorarlberger Landesregierung, Online-Dienst: Vorarlberg Atlas, 2013.
Abb. 3b: Luftbild des Maisäßes Wachters Dieja in Tschagguns um 1970. Amt der Vorarlberger Landesregierung, Online-Dienst: Vorarlberg Atlas, 2013.
und Rationalisierungen in der Landwirtschaft wurden die produktivsten Standorte intensiver genutzt, wohingegen an anderen Standorten, vor allem in den Berg regionen, die Nutzung aufgegeben oder stark reduziert wurde.10 Durch diesen Rückgang der standortangepassten Landwirtschaft und die daraus resultierende 10 Bösch 1992.
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Abb. 3c: Luftbild des Maisäßes Wachters Dieja in Tschagguns um 2009. Amt der Vorarlberger Landesregierung, Online-Dienst: Vorarlberg Atlas, 2013.
zunehmende Verwaldung und Verbuschung ist ein drastischer Verlust an Freiflächen festzustellen (Abb. 3a–c). Neben der landwirtschaftlichen Nutzung der Montafoner Maisäße, die massiv zurückgegangen ist, besteht eine intensive freizeitwirtschaftliche und touristische Nutzung, die Einheimische und Gäste einschließt. Landwirtschaft und Tourismus müssen heute nicht mehr auf die Ressourcen in unmittelbarer Nähe zurückgreifen, denn Transportwege, Güterwege und Seilbahnen ermöglichen auch in den höher gelegenen Zonen der Maisäße einen Erschließungsstandard, der vormals dem Talboden vorbehalten war. Die intensivierte, nicht mehr an Jahreszeiten gebundene Nutzung und der höhere Ressourcenverbrauch sowie das entsprechend angestiegene Transportvolumen prägen heute die Landschaft.
Fünf Perspektiven auf die Montafoner Maisäßlandschaften – Entdeckung von Handlungsräumen in der Alltagspraxis der Regionalentwicklung In diesem Kapitel werden die verschiedenen menschlichen Handlungsräume, die sich in der Auseinandersetzung mit den Maisäßen im Rahmen der regionalen Entwicklung offenbaren, vorgestellt. Zu jeder dieser Perspektiven werden konkrete und anschauliche Beispiele aus der Arbeit in der regionalen Entwicklung des Tales Montafon angeführt. Erstaunlich dabei ist, dass bereits in einem derartig kleinen Raumausschnitt so viele unterschiedliche Perspektiven und Haltungen in
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Relation zur Landschaft existieren können. Diese Perspektiven und Haltungen ergänzen sich, stehen im Widerspruch zueinander und bedingen sich gewissermaßen, sie existieren jedoch nie losgelöst voneinander. Die fünf hier behandelten Perspektiven sind: • • • • •
die wissenschaftliche Perspektive die raumplanerische Perspektive die künstlerische Perspektive die touristisch-freizeitwirtschaftliche Perspektive die soziale und kulturelle Perspektive
Innerhalb dieser Perspektiven gibt es wiederum Abstufungen bzw. Graubereiche, wo sie sich vermischen oder sich unterschiedliche Typen von Perspektiven im selben Handlungsraum herauskristallisieren. Den Einstieg bildet die wissenschaftliche Perspektive auf die Maisäßlandschaften des Montafon. Hier hat sich in den letzten 15 Jahren äußerst viel getan und es wurden wichtige Grundlagen erarbeitet, um bei den anstehenden Entwicklungen auf fundierte Kenntnisse zurückgreifen zu können.
Wissenschaftliche Entdeckung Den Beginn der Inventarisierung und Dokumentation der Maisäßlandschaften im Montafon markieren die Publikationen des Maisäßinventars. Seit 2001 sind acht Bände in der Montafoner Schriftenreihe erschienen, die Detailerhebungen zu einzelnen Gebieten enthalten. Die interdisziplinäre Befassung mit dem Thema reicht von dendrochronologischen Datierungsverfahren der Bausubstanz über landschaftsökologische Untersuchungen bis hin zu Zeitzeugeninterviews und zur Bewirtschaftungsgeschichte.11 Sowohl quantitative als auch qualitative, natur- wie auch geistes- und sozialwissenschaftliche Betrachtungen sind in den Bänden enthalten. Aus Perspektive der Wissenschaft wurde in diesem Zusammenhang ein ganzheitlicher Ansatz gewählt, um ein möglichst vollständiges Bild der Maisäßlandschaften anhand besonderer Beispiele zu zeichnen. Daten und Fakten zum Maisäßinventar: • Dokumentation und Erfassung der kulturhistorischen Dimension • Detailerhebungen: Dendrochronologie, Landschaftsökologie, Raumplanung, Geschichtsforschung, Architektur, Bauforschung, Ethnologie 11
http://stand-montafon.at/montafoner-museen/projekte/maisaessinventar-montafon (22.1.2016).
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• 9 Gebiete • 200–250 Gebäude untersucht • ca. 1500 Seiten publiziert seit 2001 Von 2007 bis 2010 wurde im Rahmen des EU-Projekts Kulturlandschaftsinventar Montafon (KLIM) die Inventarisierung jener Kulturlandschaftsbereiche im Montafon durchgeführt, die aus der Dreistufenlandwirtschaft entstanden sind. Das Ziel war die Dokumentation des Wandels der für das Montafon wesentlichen und identitätstragenden Dreistufenwirtschaft als Grundlage für zukünftige Maßnahmen. Durch die Erfassung der Einrichtungen im Dienste der Dreistufenlandwirtschaft wurde eine solide Grundlage für eine langfristig positive und kreative regionalspezifische Landschaftsentwicklung erstellt. Der Ansatz ist ein kulturhistorischer: Materielles und immaterielles Kulturgut als Zeugnis menschlicher Aktivitäten lässt Rückschlüsse auf gegenwärtige und frühere Nutzungen im Rahmen der alpinen Weidewirtschaft zu. Das Projekt dokumentiert sowohl von Menschen hervorgebrachte Objekte (Gebäude, Weganlagen, Terrassen, Zäune und Mauern, Bewässerungsanlagen, religiöse Zeichen, aber auch Bepflanzungen und Obstbaumkulturen) als auch immaterielle Aspekte (lokales Wissen von Zeitzeugen über Arbeitstechniken, Wetterregeln, besondere Vorkommnisse und sagenhafte Erzählungen). KLIM ist also Grundlagenforschung, deren Erkenntnisse sich an alle an Kulturlandschaft Interessierten wenden. Die Ergebnisse können für die Erarbeitung von schonenden kulturlandschaftlichen Pflegemanagementkonzepten oder für verschiedene Vermittlungsmethoden im Bildungsbereich (z. B. Umweltbildung) verwendet werden. Sie können der Weiterentwicklung eines sanften Tourismus dienlich sein oder die lokalhistorische Forschung erleichtern. Sie können zuverlässige Planungs- und Entscheidungsgrundlagen für weiterführende, zukunftsfähige Entwicklungen in Raumplanung, Raumentwicklung, Raumbewirtschaftung und Flächenwidmung darstellen und zur einschlägigen Bewusstseinsbildung der Bevölkerung beitragen. Daten und Fakten zu KLIM: • 317 aufgenommene Gebiete (Maisäße, Alpen, Bergmähder und ehemalige Dauersiedlungsräume), • davon 138 Maisäßgebiete, • 12 ehemalige Dauersiedlungsräume, • 72 Alpen. • 2586 bestehende Gebäude, • davon 1800 in (zum Teil ehemaligen) Maisäßgebieten. • Aufnahmezeit: 3 Jahre
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Raumplanerische Entdeckung Im Rahmen des Raumentwicklungsprozesses „Raumentwicklung Montafon“ wurden die Maisäße und deren Nutzung von den zehn Bürgermeistern des Tals als dringend zu bearbeitendes Thema identifiziert. Grund hierfür ist der Bedarf an zeitgemäßen Rahmenbedingungen für Gebäudeadaptierungen und Flächenbewirtschaftung, da diese noch an ursprüngliche landwirtschaftliche Nutzungsformen angepasst sind. Diese Problematik betrifft nicht nur das Montafon, hier wurde diese jedoch zum Anlass genommen, in einer Arbeitsgruppe mit verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern des Landes Vorarlberg, der Region und der Gemeinden sowie zusammen mit Fachleuten aus den Bereichen Bauforschung, Architektur, Bauverwaltung, Land- und Forstwirtschaft und Naturschutz einen Lösungsvorschlag zur behutsamen Instandhaltung der Gebäude und zur Pflege der umliegenden Bewirtschaftungsflächen auszuarbeiten. Auftrag der Arbeitsgruppe war es, einen inhaltlichen Vorschlag für eine überzeugende Zukunftsperspektive für die Maisäßlandschaft zu entwickeln. Dabei sollten rechtliche Grundlagen für allfällige Aus- und Umbauten erarbeitet werden, nicht zuletzt um dem virulenten Problem zu begegnen, illegale Bauführungen erst im Nachhinein legalisieren zu müssen.12 Zu diesem Prozess gehörte auch die Sensibilisierung und Miteinbeziehung der Bevölkerung, verschiedener Expertengruppen und auch der Medien. Deshalb fanden innerhalb des Prozesses zwei Veranstaltungen völlig unterschiedlicher Natur statt: Zum einen wurde im September 2012 ein Aktionstag auf dem Maisäß Manúaf durchgeführt, dessen Zweck darin bestand, das sogenannte „Gmewerch“13 zu revitalisieren. Zum anderen fand im Juni 2014 ein Maisäß-Symposium unter dem Titel Kultur und Ästhetik des Mangels im ORF-Funkhaus in Dornbirn statt. Als Vortragende geladen waren namhafte Referentinnen und Referenten aus den Bereichen Architektur, Kulturwissenschaft und Landschaftsplanung. Vom Blickwinkel verschiedener Disziplinen aus wurde der Frage nach sinnvoller und nachhaltiger Nutzung und Gestaltung von Maisäßen nachgegangen. Begleitend dazu fand eine Kunstausstellung zum Thema statt, die sich fotographisch und mittels Skizzen und Zeichnungen mit der Ästhetik des Mangels auseinandersetzte. Das eben erwähnte Symposium war außerdem eine Drehscheibe für die Anbahnung weiterer Kooperationen zum Thema Maisäße/Kulturlandschaft. Daraus entstand eine Zusammenarbeit der „Raumentwicklung Montafon“ mit dem Ins12 http://stand-montafon.at/raumentwicklung/copy_of_Leitsaetze/ergebnisbericht_maisaess_mail. pdf (19.1.2016). 13 Montafonerisch für „Gemeindewerk“. Gemeint ist damit die gemeinschaftliche Arbeit zum Erhalt der alpinen Kulturlandschaft bzw. vormals vor allem zum Erhalt der Weideflächen und deren Befreiung von Bewuchs.
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Abb. 4: ‚Einschnitt‘ (Marie Hartmann). Die historische Architektur des Mangels wird thematisiert und auf kontemporäre Mängel hin angepasst. Gemeinschaftssinn und Erhalt der Landwirtschaft stehen im Vordergrund. Marion Ebster, Stand Montafon, Dornbirn 2015.
titut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein. Das Ergebnis waren Entwurfsprojekte von 12 Studierenden, die im Frühjahr 2015, nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Thema, ebenfalls im Funkhaus Dornbirn ausgestellt wurden (Abb. 4, 5).14 Die Aufgabe war es, Projekte für eine Weiterentwicklung bzw. Neuinterpretation dieser alten bäuerlichen Einrichtung der Maisäße zu entwerfen. In diesem Zusammenhang wurde unter anderem Folgendes festgehalten: Das Montafon mit seinen Maisäßen wurde auf seine kulturellen, sozialen, verkehrstechnischen und touristischen Strukturen untersucht und – aufbauend auf den Wurzeln seiner Vergangenheit – mit den unbedarften Augen der Studierenden neu definiert. Im Besonderen begaben wir uns auf die Suche nach Möglichkeiten und Ideen für eine Wiederbelebung dieser Kultur aus heutiger Sicht. Hier wurden Vorschläge für eine Umnutzung, Umstrukturierung, Neuorientierung und Bebauung von einzelnen Bereichen erarbeitet.15 14 Universität Liechtenstein 2015, 128, 136. 15 Universität Liechtenstein 2015, 4.
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Abb. 5: ‚Nurnatur‘ ( Johannes Lerch). Temporäre Behausung „Roter Falter“ als Teil eines in vier (vertikal aufsteigenden) Etappen verlaufenden ‚Slow Tourismus‘-Urlaubs im Montafon. Marion Ebster, Stand Montafon, Dornbirn 2015.
Die vermutlich weitreichendste Entwicklung seit Langem hinsichtlich der Maisäßlandschaften fand im Mai 2015 statt, hier kam es – unter anderem durch die Bemühungen innerhalb des Prozesses „Raumentwicklung Montafon“ zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Maisäße – schließlich zu einer Novellierung des Raumplanungsgesetzes.16 Der Grund dafür ist auf den Bedarf nach zeitgemäßen gesetzlichen Rahmenbedingungen für Gebäudeadaptierungen und Flächenbewirtschaftung zurückzuführen. Da diese noch an ursprüngliche landwirtschaftliche Nutzungsformen angepasst waren, wurde ein Lösungsvorschlag bzw. die inhaltliche Grundlage für eine rechtliche Adaptierung ausgearbeitet. Ziel war es, eine überzeugende Zukunftsperspektive unter behutsamer Instandhaltung der Gebäude und Pflege der umliegenden Bewirtschaftungsflächen zu entwickeln, ohne alle bis dato illegalen Bauführungen zu legalisieren. Welche realen Konsequenzen diese Gesetzesnovellierung hat, ist noch nicht konkret absehbar. Die Implementierung ist erst angelaufen und viele Fragen sind noch offen, beispielsweise die offizielle Ausweisung der Maisäßgebiete, die entsprechende Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung, der baurechtliche Rahmen oder die Erhaltung des Orts- und Landschaftsbildes. 16 Vorarlberger Landesgesetzblatt 22/2015.
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Viele Um- und Zubauten an Maisäßgebäuden sind bisher weder raumplanungsrechtlich noch baurechtlich bewilligt worden und haben einen quasi-illegalen Status. Denn im Zuge der sukzessiven Umnutzung der Maisäße zu Ferien- und Erholungsdomizilen wurden allzu oft illegale bauliche Anpassungen durchgeführt. Darüber hinaus existierte bei den Eigentümern meist kein Unrechtsbewusstsein, da die Rechtslage weitgehend unbekannt war oder einfach ignoriert wurde. In Zukunft sollen Feriennutzungen jedoch legalisiert werden. Allerdings sind diese mit baulichen Auflagen und Auflagen zur Bewirtschaftung der Flächen verbunden. Es bleibt zu hoffen, dass mit der neuen, bereinigten Rechtslage die Baubehörden klare Vorgaben machen und bereit sein werden, bei Nicht-Einhaltung der Bestimmungen entsprechende Maßnahmen zu setzen. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, dass der Sinn dieser rechtlichen Anpassung gut kommuniziert und in der Bevölkerung anerkannt wird.
Künstlerische Entdeckung Für diese Art von Entdeckung ist noch einmal ein Abstecher in den oben erwähnten Prozess „Raumentwicklung Montafon“ notwendig. So wurden in diesem Zusammenhang drei junge Künstler aus Österreich und Ungarn auf ein Montafoner Maisäß geführt, um sich Inspirationen für ihre jeweiligen Kunstprojekte zu holen und ihre eigenen Entdeckungen zu machen. Die daraus resultierenden Ergebnisse wurden auch in einer Ausstellung gezeigt.17 Im Rahmen der „Raumentwicklung Montafon“ wurde gemeinsam mit der Theatergruppe „Café Fuerte“ ein dreijähriges Theaterprojekt konzipiert: eine Theatersoap zur Entwicklung des Tals. Hintergrund war der Wunsch nach Vermittlung der Inhalte des Raumentwicklungsprozesses an die Bevölkerung und nach Demokratisierung der Politik durch das Theater. Die Inszenierungen fanden großen Anklang. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht große Geschichten an kleinen Orten zu erzählen. Ihre Aufführungen, ihre Projekte finden an NichtTheater-Orten im ländlichen Raum statt. […] Mit ihren Stücken schaffen sie intensive und direkte Theatererlebnisse immer ganz nah am Publikum. In einer Welt, die von Kommunikationsmitteln beherrscht wird, hat diese Unmittelbarkeit und Direktheit eine ganz besondere Qualität. […] Mit der Site-Specific-Theatersoap Die Montanahls hat Tobias Fend einen witzigen Theatertext geschrieben, der von Regisseurin Danielle 17 http://stand-montafon.at/stand/medien/aktuelle-medieninfos/kultur-und-aesthetik-desmangels (28.6.2016).
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Abb. 6: Aufführung der Theater-Soap Die Montanahls – Ein Maisäß-Sommer-Traum im Sommer 2015 auf dem Maisäß Manúaf in der Gemeinde Tschagguns. Kirstin Tödtling, 2015.
Strahm mit genialen Regieeinfällen, temporeich und sehr genau inszeniert wurde. Die wilde Mischung aus Piefke-Saga, Bulle von Tölz, Romeo und Julia und bekannten Schlagermelodien ist genauso vergnüglich wie hintergründig.18
Der dritte und vorerst letzte Teil der Theatersoap, der im Sommer 2015 aufgeführt wurde, hieß Die Montanahls – Ein Maisäß-Sommer-Traum (Abb. 6) Darin träumt Protagonist Hubert Montanahl, Hotelier im Ort Tschugganz, von einem „Maisäß-Wunderland“, das nach außen nostalgieschwangere Bergidylle suggeriert und im Innenleben ultra-dienstleistungsorientiert jeden Wunsch erfüllen soll. 19 Das wohl bekannteste Stück Maisäß-Kultur im Sinne einer künstlerischen Verarbeitung des Themas stellt allerdings das Volkslied Ds Maisäß-Benkli dar. Das Lied ist eine Vertonung des gleichnamigen Gedichts des Schrunser Mundartdichters Otto Borger (1904–1994) und findet sich beispielsweise auch im Verbund der Volksliedwerke Österreichs und Südtirols.20 Beinahe jede Montafonerin, jeder 18 http://www.kulturzeitschrift.at/kritiken/theater/gute-unterhaltung-geistreich-und-witzig-cafe-fuerte-spielt-die-montanahls-in-tschagguns (19.1.2016). 19 http://stand-montafon.at/raumentwicklung/copy_of_Leitsaetze/monthanalberichtfolge3.pdf (28.6.2016). 20 http://vlw1.dabis.org/PSI/redirect.psi&pageid=1453821129,426569&sessid=0537-0de6-7297- 71a8&index=10&f_showitem=&fil_select=TIT& (26.1.2016).
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Montafoner kennt dieses Lied, das auch immer wieder bei Beerdigungen gesungen wird. Doch auch andere, weniger bekannte Dichter aus dem Tal nehmen immer wieder die Maisäße in den Blick, zum Beispiel Heinz Bitschnau aus Bartholomäberg in der letzten Strophe seines Heimatgedichts Dr Maisäß-Weg: An Maisas sei an Zemmaklang vo vielam gsi und si und gebi Willsgott boda lang noch Gras met Bluama dri!21
Wirtschaftlich-touristische Entdeckung Wie bereits erwähnt, haben die Maisäße aufgrund der stark veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihre traditionelle Bedeutung weitgehend verloren. Das Montafon ist mit zwei Millionen Nächtigungen die nächtigungsstärkste Region in Vorarlberg und die vormals landwirtschaftlich genutzten Flächen sind heute die Basis für freizeitwirtschaftliche Nutzung und Wertschöpfung. Somit befinden sich die Maisäßlandschaften im Spannungsfeld zwischen zeitgemäßer Nutzung und historischer Kontinuität. Nach den Erhebungen, die im Rahmen des Kulturlandschaftsinventars durchgeführt worden sind, befinden sich in den Maisäßgebieten des Montafon 817 Gebäude, denen eine ursprüngliche Wohnfunktion zugeordnet werden kann, die sich wiederum auf insgesamt 138 Maisäßgebiete verteilen. Die Erhebungen ergaben, dass von den Wohngebäuden heute ca. 630 entweder für Erholungszwecke der Eigentümer, für Vermietungszwecke oder für beides verwendet werden. Das sind fast 80 % aller Wohngebäude in den Maisäßgebieten. Auch ursprüngliche Wirtschaftsgebäude sind teilweise mit Wohnfunktionen ausgestattet worden, diese wurden zahlenmäßig jedoch nicht erfasst. Bei 173 Gebäuden konnte eine landwirtschaftliche Nutzung eindeutig festgestellt werden, doch auch hier muss von einer zusätzlichen bzw. ergänzenden Erholungs- und Freizeitnutzung ausgegangen werden.22 Aus diesen Zahlen tritt der Wandel von der traditionell landwirtschaftlich hin zur freizeitwirtschaftlich genutzten und geprägten alpinen Landschaft deutlich hervor. So bilden die Maisäßlandschaften des Montafon eine ideale Projektionsfläche für touristische – und einheimische – Sehnsüchte nach alpiner Idylle und Nostalgie (Abb. 7). 21 „Ein Maisäß ist ein Zusammenklingen aus Vergangenheit und Gegenwart; so Gott will, gibt es dort noch lange Gras, in dem auch Blumen wachsen“ (freie Übersetzung der Verfasserin). 22 Ebster 2012.
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Abb. 7: Montafon Tourismus, 2015.
Bei einem konkreten Beispiel der landschaftlichen Entdeckung findet eine Vermischung von freizeitwirtschaftlicher und künstlerischer Perspektive statt. Auf dem Themenweg Gauertaler AlpkulTour wird ein fließender Übergang zwischen einem touristischen und einem künstlerischen Interaktionsraum geschaffen. Auf diesem Kulturwanderweg befinden sich insgesamt 13 Stationen, von denen sich zwei mit der Maisäßkultur beschäftigen: Die sogenannte „Tribüne“ symbolisiert das Verweilen und die Muße. Beides sind Dinge, die auf einem Maisäß besonders gut gepflegt werden können bzw. konnten. Der „Hinweis“, die sechste Station auf der AlpkulTour, weist auf den drastischen Kulturlandschaftswandel hin, der mit der Aufgabe der Beweidung eintritt. Ein überdimensionierter Pfeil weist auf ein vom Wald beinahe ganz eingeschlossenes verfallenes ehemaliges Wirtschaftsgebäude hin.23 Betreut wird der Weg, einer der am meisten frequentierten Wanderwege Vor arlbergs, vom touristischen Ableger des Energieerzeugers Vorarlberger Illwerke AG. Angelegt wurde er in Kooperation des Standes Montafon – des Gemeindeverbands der zehn Gemeinden im Tal Montafon – gemeinsam mit der Vorarlberger Illwerke AG und Illwerke Tourismus im Rahmen eines EU-Projektes zur Entwicklung des ländlichen Raums mit dem Ziel, Bewusstseinsbildung für 23 www.kfm.at/alpkultour (15.1.2016).
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die kulturlandschaftlichen Besonderheiten des Gauertals zu betreiben und eine bessere Besucherlenkung zu erreichen. Hier verquicken und überlagern sich also verschiedene Interessen von Akteuren des ländlichen Raumes, die sich alle in der Kulturlandschaft widerspiegeln. Weitere Akteure waren in diesem Fall der Deutsche Alpenverein, zwei Alpen, die Jagd, private Grundstücksbesitzer und eine Gemeinde. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es sich bei einem – wenn auch kleinen – Unterfangen im Kontext der Regionalentwicklung immer um eine Auseinandersetzung mit einem komplexen institutionellen Regime handelt, wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen und ausverhandelt werden müssen.
Soziokulturelle Entdeckung In sämtlichen Dokumentationen zur Maisäßkultur im Montafon nimmt der soziale Aspekt eine besondere Stellung ein. Die Funktion der Maisäße als Zwischenstufe fand nicht nur in ökonomischen, sondern auch in sozialen und kulturellen Handlungsräumen eine Entsprechung. Aussagen von Zeitzeugen lassen auf diese Auszeit vom alltäglichen Leben schließen, während derer die soziale Kontrolle, die im Dorfleben vorherrschte, außer Kraft gesetzt wurde. Ernst Feuerstein, mittlerweile leider verstorbener Maisäßbesitzer am Brunellamaisäß im Gauertal im Gemeindegebiet von Tschagguns, erzählt: Des isch so a Nochfasnat24 gsi, weil die Alten heim sind. Das Jungvieh hat man im Maisäß gelassen und die jungen Leute mussten teils da bleiben. Und die Alten waren halt übers Eck hinaus, und dann […] man hat kein Handy gehabt – da hat man gju:zt25 oder ein Zeichen gemacht. Man ist zusammen gekommen und hat ein bisschen gefestet. Der eine konnte Ziehharmonika spielen, der andere Mulargla26 oder Gitarre. Und man hat vielleicht ein wenig zusammengelegt für einen halben Liter Schnaps und ein bisschen Brot. Da haben wir es wohl so schön gehabt wie heute in der Disco, glaube ich. In den Ställen dort, mein Gott, hab i da Knoschpa27 getanzt und Witze erzählt, und Schnadrhüpfle28[…].29
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Nochfasnat: Nachfasching, nahezu regelfreie Zeit. gju:zt: gejuchzt. Mulargla: Mundharmonika. Knoschpa: Knospen, Holzschuhe. Schnaderhüpfle: improvisierte, einstrophige Gedichte mit einfacher Melodie (eine Person singt, eine andere antwortet darauf ). 29 E. Feuerstein, Persönliches Gespräch mit der Verfasserin (Tschagguns 2011).
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Auch in Schriftdokumenten zeigt sich diese ‚kleine Freiheit‘, die das Maisäßleben versprach: Nur ungern fügt man sich dem drückenden Zwang. Auf den Maisäßen lebt es sich leichter. Der ewigen Unrast im Tale entflohen, genießt man hier oben die Stille des Hochgebirges, atmet die reine Luft der Berge und riecht den Harzgeruch der nahen Wälder. […] Aber auch abgesehen von der schönen Aussicht, von dem Idyll und der Romantik dieses Lebens, auch das rein Menschliche kam hier auf seine Rechnung. An bestimmten Abenden kamen die Burschen und Mädchen von den benachbarten Maisäßen in den Hengert (Heimgarten), und dann ward geplaudert, gescherzt und gelacht.30
Diese Erzählungen begründen die Besonderheit der Maisäßzeit für die jungen Menschen damals, sie hinterlassen allerdings auch den Eindruck einer romantisierten und durch Nostalgie verklärten Vergangenheit. In erster Linie bedeutete das Leben am Maisäß Arbeit und entsprach einer beschwerlichen Nutzungskultur: Transporte mussten alle von Menschenhand erledigt werden und die Maisäßgebiete waren weitgehend unerschlossen und nur über dürftig instand gehaltene Wege erreichbar. Es wurde gemäht, gemolken, gesennt, gemistet, gedüngt und gefüttert ohne maschinelle Unterstützung. Der Platz war in den kleinräumigen Gebäuden darüber hinaus sehr eingeschränkt, Komfort gab es keinen, jeder Grashalm war wertvoll und das Wohl des Viehs ging meist über das eigene. Die Ernährung war einseitig und die Abgeschiedenheit manchmal auch eine Belastung: „Ich war nicht begeistert davon, sechs Wochen im Jahr auf dem Maisäß zu verbringen. Jeden Tag gab es nur Brösl31 oder Muas32 zu essen. Ich hätte auch gerne Ferien gehabt, wie die anderen Kinder, aber nach dem letzten Schultag musste ich aufs Maisäß hinauf.“33 Trotzdem waren die paar Wochen am Maisäß wohl auch deshalb so beliebt, weil die Arbeit weniger hart war als am Hof daheim und zudem mehr Zeit für andere Beschäftigungen blieb. Man verbrachte mehr Zeit mit den Nachbarn und half sich gegenseitig. Außerdem kam oft Besuch von Hirten, Zöllnern, Jägern oder Verwandten vorbei.34 Dem zukünftigen Ehepartner kam man auch am ehesten am Maisäß näher.35
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Schoder 1957, 118. Brösl: Riebl (vorarlbergisch), Grießschmarren. Muas: Mus, fast identisch mit Riebel, durch die Zugabe von Milchrahm jedoch fettiger. P. Both, Persönliches Gespräch mit der Verfasserin (Tschagguns 2011). Hessenberger 2009. K. Jochum, Persönliches Gespräch mit der Verfasserin (Bartholomäberg 2012).
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Heute ist der landwirtschaftliche Nutzen der Maisäße weitgehend verschwunden bzw. die landwirtschaftlichen Aktivitäten sind den freizeitwirtschaftlichen und der Erholungsfunktion untergeordnet worden. Trotzdem sind bei den Montafonerinnen und Montafonern immer noch eine tiefe Verbundenheit mit dieser Kulturlandschaft und ein großer Wunsch nach deren Erhaltung feststellbar. Wie im vorangegangenen Kapitel veranschaulicht wurde, ist der Wandel von der landwirtschaftlich hin zur freizeitwirtschaftlich geprägten Gesellschaft längst vollzogen worden. Die Bedeutung der Maisäßlandschaften hat sich mit dem Strukturwandel verändert, doch sie spielen heute noch für viele Menschen eine zentrale Rolle, die von Kindheit an diese Orte als emotionale Bezugspunkte schon von den Eltern- und Großelterngenerationen her lieben lernten.36 Die Wertschätzung der Maisäßlandschaften geht oft auf persönliche, emotionale Beziehungen zurück, die im privaten Bereich wurzeln. Darüber hinaus manifestiert sich in den Maisäßlandschaften aber auch das Wirken der Vorfahren der Montafoner Bevölkerung und macht Geschichte sichtbar. Kulturlandschaft und somit auch die Montafoner Maisäßlandschaft funktioniert wie ein Archiv und stellt einen Spiegel der Vergangenheit dar, wo wir Relikte und Spuren vergangener Nutzungen finden.37 Sie geben Aufschluss über Lebensund Arbeitsweisen der Vorfahren, über ihre Wert- und Glaubensvorstellungen, ihre Überzeugungen hinsichtlich Privat- und Gemeinschaftseigentum, ihre Kenntnisse über die Natur und den Umgang mit ihr und über ihre Anpassungsfähigkeit an die naturräumlichen Gegebenheiten.38 Die Wirtschaftsweisen, Materialien, Siedlungsund Bauweisen sind örtlich und regional den naturräumlichen Gegebenheiten angepasst und dieser Zusammenhang ist im Landschaftsbild ablesbar. Raum und Zeit wirken hier ineinander, und es ist das Erkennen der kultur- und naturräumlichen Zusammenhänge und ihres Ineinanderwirkens, das bei den Menschen heute ein ästhetisches Empfinden dieser Landschaft als schön und harmonisch auslöst.39 In dieser Perspektive erfüllt die Maisäßlandschaft eine historisch ausgerichtete ‚Bindeglied-Funktion‘, die die Vergangenheit in die Gegenwart hereinreichen lässt und Kontinuität und historisches Bewusstsein schafft. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass ausgehend von dieser Perspektive auch oft eine historische Verklärung stattfindet und mit ihr eine Idealisierung der Vergangenheit (Abb. 8, 9). Manche mediale Beiträge über Maisäße bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Verklärung und Erklärung. Andere wiederum warten mit einer überraschend neuen und ungewohnten Perspektive auf. Hier zwei Beispiele dazu:
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Hessenberger 2009. http://www.irs-net.de/download/Kulturlandschaft.pdf (15.1.2016). Ebster 2009. Weiss 2004.
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Abb. 8: Arbeit auf dem Maisäß Ganeu in der Gemeinde Gaschurn, vermutlich in den 1950er Jahren. Wolfgang Pfefferkorn, Bregenz.
Bei Maisäß-Geschichten. Vom Leben und Arbeiten in den Montafoner Bergen handelt es sich um eine Dokumentation aus der ORF-Sendereihe Erlebnis Österreich, die im November 2011 ausgestrahlt wurde. Bereits aus der Beschreibung auf der Website des ORF Vorarlberg geht hervor, dass hier Idealismus und Nostalgie eine gewisse Rolle spielen: Mit dem Bedeutungsverlust der Landwirtschaft hat sich auch die Maisäß-Kultur verändert. Die nicht mehr bewirtschafteten Gebiete wachsen zu, die Hütten verfallen. Aber es gibt noch einige Idealisten, die viel Müh und Plag auf sich nehmen, um eine alte Kultur und damit eine einzigartige Kulturlandschaft am Leben zu erhalten. Der Film handelt von diesen Menschen und erzählt auch von spannenden Begegnungen mit Touristen, die sich in die Landschaft verliebt und ein einfaches, schlichtes Leben schätzen gelernt haben.40
Dem gegenüber steht ein erfrischend unkonventioneller filmischer Beitrag von jungen Montafonern, welcher unter dem Titel Der Maisas-Slasher auf YouTube 40 ORF Landesstudio Vorarlberg: Maisäß-Geschichten. Vom Leben und Arbeiten in den Montafoner Bergen. Sendereihe Erlebnis Österreich, 2011.
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Abb. 9: Maisäßgebäude auf dem Maisäß Schulers Legi in Bartholomäberg im Mai 2011. Stand Montafon, Kulturlandschaftsinventar Montafon, Bartholomäberg 2011.
kursiert. Leider ist nur der Trailer des selbst gedrehten Slapstick-Horrorfilms zu finden, diese eineinhalb Minuten sind jedoch recht unterhaltsam. Sie stellen die Maisäße als jugendlichen Rückzugsort dar – wie das auch schon einige Generationen früher der Fall war –, der jedoch zur mörderischen Falle wird.41
Schlussbemerkungen und Zusammenfassung In diesem Beitrag wurden in aller Kürze fünf Handlungsräume beschrieben, in denen sich die regionalentwicklerische Auseinandersetzung mit der Montafoner Maisäßlandschaft abspielt: • Wissenschaft • Raumplanung und Raumentwicklung • Darstellende Kunst • Tourismus • Soziokultureller Rahmen 41 https://youtu.be/6IYBiWupTS4 (29.2.2016).
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Diese Handlungsräume stehen in Verbindung und in Wirkungszusammenhängen untereinander. Es finden verschiedene Prozesse der Landschaftsentwicklung und Landschaftswahrnehmung statt, die teilweise bewusst und teilweise unbewusst gesteuert werden. Die Entdeckung der Landschaft in einem dynamischen kulturlandschaftlichen Rahmen wie den Montafoner Maisäßlandschaften – in einem komplexen institutionellen Regime also – passiert immer wieder neu und muss auch immer wieder neu passieren, da sich die maßgeblich verantwortlichen Kräfte und ihr Verhältnis zueinander immer wieder verändern. Auffallend dürfte auf dieser kurzen Entdeckungsreise gewesen sein, dass etwas völlig ausgespart wurde, nämlich die landwirtschaftliche Entdeckung der Landschaft, jene Praktiken und Perspektiven, die zur Entstehung der Maisäße überhaupt erst geführt haben. Dies spiegelt den nachhaltigen Strukturwandel der Gegenwart wider, denn die Landwirtschaft, wie wir bzw. unsere Vorfahren sie kennen, ist verschwunden und auch die moderne Landwirtschaft kann sich in den Berggebieten kaum halten. Im ganzen Montafon mit seinen ca. 17.000 Einwohnern gibt es nur eine Handvoll Haupterwerbslandwirte, die meisten betreiben ihre Landwirtschaft im Nebenerwerb. Im Jahr 1974 gab es im Montafon 685 landwirtschaftliche Betriebe, im Jahr 2010 waren es noch 457. Das bedeutet eine Abnahme von ca. einem Drittel innerhalb des Zeitraums von 36 Jahren.42 Es muss also auch ein Loslassen stattfinden können, denn die Maisäße unterliegen keinem ökonomischen Druck mehr, Kulturlandschaft jedoch entsteht gerade daraus: Die Erkenntnis, dass sich die traditionellen Bau- und Nutzungsformen nicht halten lassen, weil sie funktionslos geworden sind und deshalb entweder zerfallen oder durch Umbau verschwinden, ist zunächst aus kulturhistorischer Sicht schmerzlich. Sie ist aber unausweichlich, wenn man bedenkt, dass die Kulturlandschaft ein dynamisches System ist, welches primär durch die ökonomischen Kräfte geprägt wird.43 Ohne Zweifel werden einige der Maisäße des Montafon verschwinden, andere werden einer vielleicht heute noch undenkbaren, neuen Nutzung zugeführt werden. Dies ist nichts Neues, 12 der insgesamt 150 heute als Maisäßgebiete angesehenen Landschaftsräume waren bis vor nicht allzu langer Zeit noch Dauersiedlungsraum, so wie umgekehrt das Seitental Gargellen im Gemeindegebiet von St. Gallenkirch ursprünglich eine reine Maisäßsiedlung war, bis es zuerst vom Kurund dann vom Wintertourismus entdeckt wurde.44 Der ländliche Raum unterliegt einem ständigen und relativ raschen Wandel. Woran wir in der regionalen Ent42 https://www.vorarlberg.at/pdf/agrarstrukturerhebung2014.pdf (22.1.2016). 43 Bösch 1992, 10. 44 http://stand-montafon.at/stand/raum-region/kulturlandschaft (22.1.2016).
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wicklung dieser Räume arbeiten müssen, ist das Bemühen, von einem komplexen zu einem integrierten Landschaftsregime zu gelangen. In einem komplexen Regime bestehen verschiedene Regulierungsmechanismen und Aktivitäten weitgehend unkoordiniert nebeneinander. Ein integriertes Regime ist dagegen kohärent regulativ und zeichnet sich durch sehr hohen Koordinationsaufwand zwischen und in den verschiedenen Akteursgruppen aus. Es stellt ein für die Nachhaltigkeit ideales Regime dar, da auch die involvierten Entscheidungsmechanismen aufeinander abgestimmt sind.45 Dieser Beitrag wollte aufzeigen, woraus sich ein komplexes Landschaftsregime zusammensetzen kann und welche Perspektiven darin aufgehen. Manches wurde bewusst ausgeblendet, so etwa die politische Dimension und die den verschiedenen Akteuren zur Verfügung stehenden politischen Ressourcen. Die hier vorgelegte Skizze miteinander vernetzter Perspektiven auf einen Landschaftsausschnitt hat eines aufgezeigt: Um von einem komplexen institutionellen Landschaftsregime zu einem integrierten zu gelangen, bedarf es einer erhöhten Anstrengung hin zu mehr Kooperation und Koordination. Dieser Weg ist unausweichlich. Er wird bereits beschritten, wofür gerade die Maisäßlandschaften ein sehr gutes Beispiel darstellen. Die Umsetzung der Gesetzesnovelle des Raumplanungsgesetzes offenbart einen Grad an Kooperation und Abstimmung zwischen der Landesebene und der regionalen Ebene, der so hoch ist wie vermutlich noch nie zuvor. Trotzdem wird in der Alltagspraxis der Regionalentwicklung immer noch zu wenig kooperiert und koordiniert und zu viel verwaltet. Die Maisäßlandschaften im Montafon könnten jedoch ein positives Beispiel darstellen, wie es – wenn auch langsam – in Richtung integriertes Landschaftsregime gehen könnte.
Literatur Bösch, M.: Der Untergang der Maiensäß-Kultur. Zum Kulturlandschaftswandel im Alpenraum, Bündner Monatsblatt 4 (1992) 312–323 Ebster, M.: Kulturlandschaft(en) als Gegenstand unterschiedlicher Perspektiven. Das Beispiel Röbi und Rongg im Gargellental, in: Kasper, M. (Hg.): Röbi und Rongg. Beiträge zum Maisäß- und Alpwesen in Gargellen, Schruns 2009, 207–230 Ebster, M.: Zukunft Maisäßlandschaften Montafon (Pt. I). Versuch einer Lösungsstrategie zur Erhaltung und Nutzung von Maisäßen im Montafon, Dornbirn 2012 Ebster, M./Strasser, P.: Dokumentation des Wandels im alpinen Raum. KLIM – Kulturlandschaftsinventar Montafon, in: zoll+. Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum 14 (2009) 55–60 45 Knoepfel/Gerber 2006.
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Gailing, L.: Kulturlandschaft – Begriff und Debatte, in: Fürst, D. u. a. (Hg.): Kulturlandschaft als Handlungsraum. Institutionen und Governance im Umgang mit dem regionalen Gemeinschaftsgut Kulturlandschaft, Dortmund 2008, 21–31 Groier, M.: Die Dreistufenwirtschaft in Vorarlberg. Entwicklung – Bedeutung – Perspektiven, Wien 1990 Hessenberger, E.: Ein Stück vom Himmel. Maisäß und Alpe in der Postmoderne, in: Kasper, M. (Hg.): Röbi und Rongg. Beiträge zum Maisäß- und Alpwesen in Gargellen, Schruns 2009, 83–142 Knoepfel, P./Gerber, J.: Forschungsbericht NFP 48. Institutionelle Landschaftsregime. Lösungsansatz für Landschaftskonflikte, Luzern 2006 König, G.: Maisäßleben, in: Keiler, B. (Hg.): Die Maisäße auf Tafamunt, Schruns 2003, 15–39 Maier, B.: Rückansicht eines Landschaftsbildes. Wandel der Maisäßkulturlandschaft auf Ganeu (Vandans) unter Berücksichtigung der eigentums- und nutzungsrechtlichen Verhältnisse, Salzburg 2011 Moosbrugger, M. A.: Maisäßkultur und Maisäßlandschaft im Montafon, Schruns 2001 Schoder, A.: Maisäßkultur im Montafon. Das Leben auf den Maisäßen, Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon vom 17.8.1957, 118 Universität Liechtenstein, Institut für Architektur und Raumentwicklung (Hg.): Maisäss Montafon. Analyse – Exkursion – Entwurfsprojekte, Vaduz 2015 W. Vogt, Vorarlberger Flurnamenbuch, Tl. 1: Flurnamensammlungen, Bd. 2: Montafon, Bregenz 1973 Vorarlberger Landesgesetzblatt Nr. 22/2015: Raumplanungsgesetz, Änderung Weiss, H.: Alpen zwischen Wildnis und Übernutzung. Vom sorgfältigen Umgang mit der Landschaft, in: Bundesamt für Kultur. Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege (Hg.): Einst vergessen – bald verschandelt?, Bern 2004, 22–28
Personenregister Abraham 85, 89, 90 Acheloos 96 Adad-nārārī 68, 72 Adam 204 Aelian 120, 123 Aelius Gallus 125 Aeneas 168 Agatha 277 Agrippa 125 Ailianos Taktikos 130 Aineias Taktikos 120, 121, 126, 129 Akkullanu 72 Alberti Leon Battista 214–218, 221, 225, 228, 229 Alexander 7, 91, 109, 114, 159–170 Ambrosius 124 Amen-em-heb 57, 58 Ammian 127 Ammon 162, 169 Amyntas I 163 Anaxarchos von Abdera 168 Anaximander 108 Angerer Wilhelm 310 Annius Plocamus 115 Antonello da Messina 225, 226 Antonius 205 Anxur 146 Aper 223 Aphrodite 149 Apollinaris 180, 181 Apollon (Pythid) 141, 148 Apollonios von Rhodos 100, 101, 138 Arethas von Caesarea 186 Aretius Benedictus 255, 256 Argos 99 Arianna 150, 151 Arrian 124, 130 Artaxerxes III 161 Artemis 144, 145 Asarhaddon 71, 72, 75 Asklepiodotos 130 Assurbanipal 75 Assurnașirpal II 70 Athena Lindia 146, 147
Athena Nike 147 Athene 97 Aton 50, 54 Augustinus 197, 245 Augustus 125 Austen Jane 17 Barker Robert 287, 288, 290, 291 Basileios I 186 Bertle Franz Josef 277 Bertle Hannes 283, 284 Bertle Hans 281, 319–322 Bertle Johann Jakob 277, 281 Bertle Josef Anton 276, 277 Bertolini Rita 337 Biert Cla 13 Biondo Flavio 237 Bitschnau Heinz 375 Blodig Karl 281 Borger Otto 374 Bosch Hieronymus 200, 205, 208 Both Peter 378 Bourdieu Pierre 18 Bouts Dierick 195 Braun Georg 261–263 Breysig Johann Adam 288 Brooke Ralph 246 Bruni Leonardo 222 Bukephalos 162 Bullinger Heinrich 214, 229, 230 Burckhardt 209 Burger Franz 293 Burke Edmund 267 Caesar (Cäsar) Caius Julius 119, 123 Calzolari Francesco 257, 260–262 Camden William 238–247 Cano 230 Cardinaux Emil 318–320 Carlowitz Hans Carl von 346 Cassius Dio 122 Catena Vincenzo 226–228 Cecil William 241
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Personenregister
Celtis Konrad 237 Charles V 213 Chierico Francesco d’Antonio del 219 Christus 175, 179–183, 198, 201, 203, 204 Cicero 150, 220, 224, 228 Claudius 115, 122 Cleve Joos van 205, 208 Clusius Carolus 257 Coluccio Salutati 224 Colyns Alexander 262 Compton Edward Theodore 280, 281 Constable John 280 Cooper Anthony Ashley 267 Cotton Robert 240 Cranach Lucas von 284 Dareios (I, III) 108, 110, 161 David 83, 187, 188 Demeter 142 Demokritos 168 Demosthenes 169 Deschwanden Melchior Paul von 277 Diemer Michael Zeno 287, 292–301 Dionysos 102, 104, 164 Domitius Apollinaris 224 Douglass Wanda 278 Drayton Michael 247 Duchoul Johannes 253 Dür Wilfried 282 Dürer Albrecht 193, 229 Echo 187 Egger-Lienz Albin 303 Elisabeth I. 238, 241, 246, 247 Ender Thomas 274, 340 Enkidu 67 Ephraim 174 Essig 15 Este Isabella di 226 Esterle Max von 309 Eva 199 Eyck Jan van 195, 226 Ezechiel 88, 178, 179, 186, 187 Farrochzad Forugh 40, 41 Federico da Montefeltro 215, 216, 226 Fend Tobias 373
Fetz Leopold 283 Feuerstein Ernst 377 Fiore Colantonio del 225 Flavius Josephus 87 Fortuna 146, 147 Friedrich der Große 121 Frontin 123, 130 Fussenegger Klaus 282 Fussenegger Siegfried 282 Gatacre William 127 Gessner Conrad 253–256 Getzner Christian 277 Ghega Carl Ritter von 344 Gibson Edmund 246 Gilgamesch 65, 67 Giovanoli Diego 349 Gmeiner 355 Goethe Johann Wolfgang von 25, 194 Gombrich Ernst 209 Gough Richard 246 Gregor von Nazianz 186, 187 Grimm 16 Gulbransson Olaf 283 Haas Roland 285 Habakuk 178, 179 Habsburg 332 Hämmerli Felix 214, 228 Harrison William 240 Hartl Karl 8 Hartmann Marie 371 Haspinger 299 Hathor 48 Hatschepsut 48, 50, 55, 58 Häusle Martin 283 Hearne Thomas 239 Hechenblaikner Lois 8 Hedin Sven 41 Heer Jakob Christoph 315 Hegel 39 Heidegger Martin 230 Heine Karl 283 Heinrich VIII 238, 247 Hekataios 108 Hendl Josef Nikolaus Graf von 299 Hera 95
Personenenregister Herakles (Herucles) 108, 109, 111, 112, 114, 146, 161 Hermes 97, 99 Herodot 6, 43, 109–115, 120, 167–169 Herri met de Bles 199, 200 Hieronymus 225–229 Hoefnagel Georg 261–264 Hofer Andreas 293, 294, 296, 298, 299 Hogenberg Frans (Franz) 261–263 Holanda Francisco de 194 Holland Philemon 245 Holzmeister Clemens 311 Homer 6, 97, 99, 120 Honold Konrad 282, 283 Huber 336, 337 Huber Emil 336 Huber Hugo 336 Huber Johannes Chrysostomus 253 Huber Otto 336 Hubmann Franz 328 Humboldt Alexander von 29 Illwerke 328, 376 Isaak 89 Iuno 142, 146 Jahwe 84, 87, 88 Jakob 89 Jakob I 238, 247 Jason 100 Jehly Jakob 278, 281 Jochum Kilian 378 Jodok 281 Johann, Erzherzog 304 Johannes der Evangelist 220, 221 Johannes der Täufer 195, 198 Johannes von Damaskus 185 Jordanus 245 Joseph 174 Josua 85 Jupiter 146 Justinian 178, 181, 182 Kallisthenes 159 Kalypso 97, 99, 100, 103 Karin 27, 28 Karl der Kahle 204
Kaspar 30 Klearchos 122 Kleber Bartle 283 Kleitarchos 168 Klimt Gustav 306 Konstantin VII Porphyrogennetos 186, 188 Kos Wolfgang 326 Kosmas Indikopleustes 176, 177 Kraft Sandra 8 Kräutler Alfons 283 Kroisos 167 Kuprian Hermann 8 Kyros II 167, 169 Lambarde William 239, 242 Lamon 101, 104 Lampsonius Dominicus 193 Laokoon 213 Lazarus 175 Leland John 239, 240, 242 Lerch Johannes 372 Lessing 213 Livius 168, 226, 227 Longos 101, 102 Lugalzagesi 107 Luther 200 Lutz Martin 352 Lysias 95 Mabillon Jean 259, 260 Maccarani 139 Maklott Johann Josef 278 Manasse 174 Mander Karel van 193, 196, 198, 209 Marca Pierre de 258, 259 Maria 198 Markus 163, 189 Marlin Bartholomäus 275, 276 Mattioli Pietro Andrea 260, 261 Maurikios 120, 126, 128, 131 Maximilian I 331 Mayr Peter 297 Melodia 187, 188 Merian Matthäus 259, 264, 265 Min 57 Montanahl 373, 374 Mopsos 100
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Personenregister
Moses 89, 90 Müller-Wegmann 30 Nabû-belu-ka 71 Nachbaur 23 Napoleon 121, 290 Narām-Sîn 68, 69 Navarre Jeanne de 201, 202 Necho 111 Nektanebos II 161, 162 Nero 125 Ni-User-Re 48, 51, 52, 58 Niederhofer David 292 Nikander von Kolophon 174 Nike Apteros 148 Nike von Samothrake 148 Nikolaus 332 Nonnos von Panopolis 102, 104 Norden John 246
Pomponius Mela 237 Pona Francesco 257 Pona Giovanni 257, 258, 260 Poseidon 103 Prokop von Caesarea 184 Protagoras 168 Pseyrer 26 Ptolemaios (II, IV) 162, 168, 236, 244 Purtscher Matthias 299 Pytheas von Massilia 114, 115 Quintilian 214, 222, 223
Oberbacher Hans 323, 324 Odysseus 97 Onasander 123, 128, 130 Oppian 174 Ortelius Abraham 241–243, 263
Rabbula 175 Reisch Franz 305 Retascon Meister von 201, 202 Rhea 100 Rhellicanus Johannes 253 Risch-Lau 327, 328 Ritter Joachim 17 Roger II 184 Rolin 226 Rosegger Peter 301 Rottmann Carl 280 Runk Ferdinand 304, 310
Passeirer 298 Patinir Joachim 193, 195–197, 199, 208 Paulus Silentarius 184 Peiresc 246 Petrarca Francesco 7, 214, 218–226, 228–231 Pfefferkorn Wolfgang 380 Phaidros 95, 96 Philagathos 184 Philipp (II) 139, 163, 168 Photios von Konstantinopel 186 Pindar 169 Platon 95, 96, 137, 143 Pleistos 141 Plinius 101, 115, 116, 125, 138, 150, 173, 214–216, 222–224, 229 Plutarch 162 Poggio 216 Pöll 23, 26 Pollius Felix 151, 154 Polyainos 123, 130 Polybios 122, 123, 128–130
Salm-Salm 206 Salmanasser (I, III) 68, 70 Salomo 83 Salten Felix 281 Šamšī-Adad V 70 Sander Hermann 23 Sandwirth 299 Sanherib 73–75 Sargon II 71–74, 109 Sataspes 112 Saxton Christopher 246 Scheuchzer Johann Jakob 265–268 Schiele Egon 306, 307 Schleich Eduard d. Ä. 280 Schmid Mathias 279 Scholz Richard 278 Schönborn Hugo von 284 Selgas 230 Seneca 220 Seyffertitz Carl von 23 Sidney Philip 240
Personenenregister Sint Jans Geertgen tot 195, 198 Skorpion II 48, 50–53, 58 Skylax von Karyanda 110, 111 Sokrates 95–97 Sophokles 169 Sounion 148 Speckbacher 296 Speed John 247 Spitzer Daniel 304 Spurius Ludius 173 Spurius Tadius 173 Statius 151, 154, 216 Strabo 144, 154 Strahm Danielle 373, 374 Strobl Hans 283 Stuarts 238, 247 Studius 138, 139 Sueton 119, 152 Symonds John Addington 24
Trenker Luis 8 Tschavoll Josef Andreas 23, 279 Tschofen Lukas 273 Tübke Werner 206, 207 Tudors 238, 244 Tukulti-Ninurta 68 Turner William 280
Tach Tumasch 13, 27, 28 Tacitus 222, 223 Tang 5, 33 Telephos 139 Tellus 139, 140 Tertullian 154 Theokrit 173 Theophanes Continuatus 184, 185 Theophilos 185 Thukydides 120, 168 Thutmosis III 55 Tiefenbrunnerbräu 304 Tiefenthaler Helmut 349 Tiglat-pileser (I, III) 68–70 Traian 124
Walde Alfons 7, 303–312 Wen-Amun 50, 56, 58 Westlicht 303 Wimmer Anton 275
Unterberger 307 Vadian Joachim 237 Varro 228 Vasari Giorgio 194 Vegetius 121, 123, 127, 130 Vergil 168, 173 Vermunt Max 23 Victor 146 Vitruv 137, 148, 173, 224, 229 Vonbank Elmar 338
Xenophon 120, 121, 126, 129, 142 Xerxes I 108, 112, 163, 167–169 Zeiller Martin 259, 264, 265 Zelger Arthur 322 Zeus 97, 142, 167, 169 Zuckmayer Carl 231 Zudrell 23 Zwingli 229
389
Ortsregister Abdera 164, 168 Adrasteia 101 Adulis 169 Afghanistan 36, 37 Ägäis 164 Ägypten 6, 43–46, 48, 50, 51, 54–56, 85, 88, 91, 111, 139, 161–163, 195, 196, 198 Aisepos 101 Akkad 68 Akrotiri 173 Alexandria 145, 150, 161, 162, 170, 173, 176 Alhambra 264 Allerheiligenhof 296 Almageller Horn 231 Alpheios 146 Amanus 66, 68, 74, 75 Amarna 48, 53, 54 Ammana 70 Ammoneion 164 Ampurias 258 Amras 297 Amsterdam 199 Rijksmuseum 199 Anatolien 36, 61, 62 Andechs 260 Anholt 206 Antiochia 150 Antwerpen 193, 241, 243, 257 Ara Pacis 139, 140 Arabien 34, 86, 110, 111, 115, 125 Argos 147 Arkadien 146, 154 Arlberg 331, 336–338 Armenien 164 Arquà 221 Arzabia 72 Asklepieion 142 Assling 331 Assur 87 Assyrien (Neuassyrien) 6, 61, 63, 65, 66, 69–71, 74, 76, 88, 91, 107 Athen 95, 142, 143, 147–149 Äthiopien 87, 110, 111, 125
Athos 189 Atlas 111 Aurach 307, 308 Babylon(ien) 74, 85, 88, 91, 107, 163, 164, 167, 168 Bad Frankenhausen 206, 207 Bad Ragaz 266 Baden 353 Bagdad 39, 185 Kalifenpalast 185 Baiae 150 Bartholomäberg 315, 375, 381 Schulers Legi 381 Baschan 86 Basel 264 Basileia 146 Bayern 259, 260, 280, 294, 296, 297 Bazeilles 293 Beer-Scheeba 83 Berlin 20, 195, 282, 288, 291 Bern 253, 255 Berytos 104 Bethlehem 187 Bettelwurfspitze 295, 297 Bielerhöhe 329 Bielersee 329, 330 Bikni 71 Biruatti 72 Bludenz 278, 283 Bludesch 355 Bodensee 345 Bosporos 101, 109 Bostanci 185 Bryas-Palast 185 Bottiaia 164, 168 Bottike 168 Brandjoch 295 Bregenz 327, 328, 380 vorarlberg museum 273, 275, 278, 337, 338 Bregenzerwald 274, 345, 349 Bristol 244 Britannien (s.a. Großbritannien) 114, 122, 123 Buchara 39
Ortsregister Buchhof 294 Bürs 352 Byblos 56 Byzanz 173, 177, 186, 187, 189 Cap Misenum 150 Capri 150, 152 Chalkidike 164, 168, 169 Chebar 179 Chicago 293 China 33, 36, 39 Cornwall 243 Damaskus 39, 185 Umayyadenmoschee 185 Dan 83, 89, 90 Dauphiné 259 Davos 24 Deir el Bahari 55 Delphi 141 Delta 43 Denshire 243 Deutschland 228, 259, 276, 288 Devon 243 Dindymon 100, 102 Dolomiten 306 Domus Aurea 152 Dornbirn 282, 345, 370, 371 Achrainstraße 345 ORF-Funkhaus 370, 371 Vorarlberger Naturschau 282 Dorsetshire 243 Douglasshütte 273, 274 Drei Türme 281 Dunhuang 39 Düns 354, 355 Ebner Kapelle 305 Eggental 297 Eisacktal 297 Elam 74 Elsass 275 Eltzethalerhof 296 Emporion 258 Empuries 258 Engadin 13
391
England 238, 240, 242, 243, 245, 246, 248, 280, 348 Ephraim 89, 90 Epinal 275 Eridanos 113 Erytheia 112 Escorial 205 Esfahan 39 Esquilin 138, 139, 145, 151 Euganeische Hügel 222 Euphrat 66, 84, 85, 87 Fars 67 Feldkirch 23, 279 Flexenpass 344 Florenz 344 Frankfurt a.M. 246, 265, 291 Frankreich 258, 348 Frau Hitt 295 Freiburg 230 Frome 245 Fuschgel 355 Gabii 142, 146 Gadeira 112 Gaeta 263 Ganges 87 Gardasee 257 Gargellen(tal) 275, 280, 315, 322, 382 Gaschurn 5, 8, 273, 278–281, 320, 380 Ganeu 380 Garnera-See 281 Rössle 278 Gauertal 354, 357, 376, 377 Brunellamaisäß 377 Gaza 16 Gebra 3053 Gedrosische Wüste 163, 164 Germania 236, 237 Gihon 87 Gilead 89, 90 Glarus 267 Golgota 176, 204 Golm 278 Gönen Cay 101 Gortipohl 315 Granikos 163
392
Ortsregister
Graubünden 21, 267, 349 Griechenland 102, 115, 142, 152, 163, 164, 348 Großbritannien (s.a. Britannien) 235–248 Große Salzwüste 39 Großes Walsertal 354 Großglockner-Hochalpenstraße 344 Großvenediger 305 Gweilspitze 275 Hahnenkamm 310, 311 Halikarnassos 109 Hall 294, 295, 297 Hamburg 259, 291 Hampshire 243 Hantshire 243 Hatti 74 Hawila 81, 86 Heidiland 17 Heiligenberg 260 Heiterwand 300 Heliopolis 198 Hellas 168 Hellespont 109, 163, 167 Hephaisteion 142 Herat 39 Hiddekel 87 Hierankopolis 50 Hindukusch 164 Hochjoch 324, 325, 329 Hochkitzbühel 310, 311 Horn (Afrika) 55 Hydaspes 163 Hyphasis 163 Ilissos 149 Illyrien 164 Indien 36, 108–110, 115, 163, 164 Indus 110, 111, 163 Inn 333 Innerberg 280, 284 Innerbraz 353 Innsbruck 7, 262, 282, 287, 292–295, 301, 307, 331–334, 336, 339 Alpenverein-Museum 331, 333, 338, 340 Ambras 262, 294, 298 Berg Isel (Bergisel) 7, 287, 289, 292–296, 299, 301
Englischer Garten 333 Ferdinandeum 332 Hofburg 332, 334 Hungerburg 340 Kaiserjägermuseum 296 Rennweg 294 Sillbrücke 296 Tirol Panorama 294 Inntal 300 Ionien 107, 163 Irak 70, 119 Iran 6, 33–36, 39, 66, 67, 70, 72, 73 Irland 238, 240, 242, 283 Isère 259 Israel 83, 84, 89–91 Issos 163, 164 Istanbul 183, 184 Hagia Sophia 184 Kalenderhane Camii 183 Istros 112, 113 Italien 152, 163, 164, 186, 194, 213, 236, 237, 257, 260, 263, 348 Jericho 89 Jerusalem 83, 85–88, 175, 198, 204, 290 Jordan(tal) 83, 89, 179 Jordanien 90 Juda 89, 90 Kaisergebirge 294, 297, 298, 308 Kaprun 328 Kār-Šarrukin 71 Karien 163 Karmanien 163 Karmel 86 Karnak 55 Karthago 164, 168 Karwendelgebirge 295 Kaschgar 39 Kaspisches Meer 110 Kaukasus 110 Kellerjoch 297 Kent 239 Kerschbuchhof 296 Khartoum 125 Kilikien 163, 164 Kissieberg 127
Ortsregister Kitzbühel 7, 303–311 Grubschanze 309 Kitzbüheler Alpen 305 Kitzbüheler Horn 304 Kleinasien 163, 164 Kleonai 147 Knidos 150 Köln 26 Konstantinopel 173, 174, 178, 181–183, 185, 186, 188, 189, 290 Großer Kaiserpalast 183, 184 Korinth 142 Kranebitten 296 Kristiania 308 Krumau 307 Kültepe 62 Kusch 87 Kyrenaika 163 Kyros 164 Kyzikos 100, 101 Lech 336–338 Huber-Hus 336, 337, 339 Lechmuseum 331, 336, 337 Postgarage 337 Walsermuseum 338 Lednice-Valtice 344 Leiden 265 Lemmenhof 297, 298 Leopontinisches Tal 266 Levante 56, 163 Libanon 66, 70, 84, 86, 90, 92 Libyen 109, 111–114, 163, 164 Liechtenstein 371 Lienz 331 Lissos 164 Litz 315 Litzner 281, 327, 328 London 226, 227, 240–242, 290, 299 Leicester Square 290 Westminster School 240 Lübeck 205 Lünersee(werk) 274, 278, 328 Luoyang 39 Luxor 44 Luzern 253 Lydien 163
393
Lykien 163 Lyon 253, 259 Lyssos 164 Madlener Haus 281 Madrid 195, 196 Prado 195, 196 Madrisa 315, 321, 322 Magnesia 144, 145 Mahr 297 Makedonien 161–164, 168 Makrische Höhen 100, 101 Mallau 71 Manasse 89, 90 Mantua 226 Palazzo Ducale 226 Manuaf 370, 374 Marathon 137 Martinswand 294–296 Marul 353 Maschhad 39 Matterhorn 318–320 Medien 163, 164 Medina 34 Megalopolis 143 Megisba 115 Mekka 34 Memphis 163, 164 Meran 297 Meroe 125 Mesopotamien 6, 64–68, 73 Mexiko 344 Midlands 245 Mittelmeer 348 Mongolei 33 Mons Cemmenus 253 Mont Ventoux 229 Montafon 5–8, 13, 273, 275–285, 315–317, 319, 320, 322–327, 329, 330, 349, 354, 361–365, 367–373, 375–377, 379–383 Monte Baldo 257, 258, 260, 261 Montiel 365 Muli 70 München 260, 278–283, 291–293, 332, 334 Alpenverein-Museum 334 Isarinsel 334 Praterinsel 332
394
Ortsregister
Theresienhöhe 293 Musasir 72 Mysien 101 Mysische Hügel 101 Naftali (Naphtali) 89, 90 Neapel 263 Nebo 89 Negev 83 Nemea 142 Nenzing 276, 352 Nenzinger Berg 352, 354 Nepeische Ebene 101 Neuchatel 221 Niederlande 193 Niesen 255, 256 Nikippa 72 Nil 43, 46, 48, 50–54, 85, 87, 125, 139 Ninive 74, 75 Nipur 73 Nordkette 333, 336, 339 Nottinghamshire 245 Nubien 46, 54 Nüziders 352 Nysa 164 Oberinntal 294, 296, 300 Oberndorf 303 Ochsentaler Gletscher 24 Okeanos 161 Olymp 97 Olympia 162, 167 Olynthos 164, 168, 169 Orchomenos 146 Orlèans 293 Osmaniye 67 Österreich 259, 316, 326, 328, 329, 331, 342, 344, 348, 373, 374, 380 Osttirol 293, 331 Oxford 240, 241 Padua 221 Palästina 55, 175 Palermo 290 Pamphylien 163 Paris 13, 186–188, 202, 204, 290, 292 Partenen 5, 13, 15
Sonne 15 Pasargadei 164, 169 Paschberg 297 Paznaun 279 Pella 162 Pelusion 164 Pergamon 139, 145, 146, 148, 150 Persepolis 108, 169 Persien 41, 91, 159, 163, 164 Persis 163, 164 Persischer Golf 39 Pessinus 100 Phasis 108, 109 Phoinikische Küste 163 Phrat 87 Phrygien 100, 163, 164 Pilatus 253 Pischon 81, 86 Pisga 89 Pitztaler Gletscher 293 Piz Buin 14, 20–30, 279–281 Piz Fliana 28 Planötzenhof 296 Poitiers 264 Pompeji (Pompeij) 151, 173 Pontos Euxinos 109 Poros 164, 166 Praeneste 139, 146 Priene 150 Propontis 109 Punt 50, 55, 56, 58 Pustertaler Höhenstraße 331 Radspitze 23 Raggal 353 Rätikon 278, 281 Ravenna 119, 178–181 San Vitale 178–180 Sant’Apollinare in Classe 178, 180, 181 Ravensburg 282 Reselehof 299 Rhein 265 Rheintal 345 Rhodin 150 Rhodos 100, 138, 148–150 Rimini 119
Ortsregister Rom 109, 115, 127, 139, 140, 146, 168, 173, 237, 239, 288, 290 Kaiservilla 288 Römisches Reich (Hl.) 235, 236, 238, 239, 243, 244, 248 Röns 354, 355 Rossano 174, 175 Rotes Meer 111, 115, 164, 169 Röthis 341 Rubicon 119 Rüti 275 Sachsen 297 Salamis 169 Samaria 90 Samarqand 39 Sangibutu 72 St. Gallen 266 St. Gallenkirch 8, 275, 282, 315, 365, 382 Adler 8 St. Justina 332 Sardeis 163, 167 Sarnthal 296 Sarnthein 299 Satrapien 163 Scharon 86 Schesaplana 278 Schiras 39 Schnifis 354 Schönberg 299 Schönebach 349 Schoppernau 274 Schottland 238, 240, 242, 247 Schruns 277, 281–283, 315, 319, 322, 325, 374 Gauenstein 277 Montafoner Heimatmuseum 277, 322 Schwarzes Meer 124, 164 Schwarzwald 230 Schwaz 297 Schweiz 21, 22, 24, 253, 256, 265, 266, 277, 310, 315, 348, 349, 352, 353 Schwyz 267 Sedan 293 Seehorn 281, 328 Seidenstraße 6, 33, 34 Semiramis 5 Semmering 344
395
Shaftesbury 267 Sharon 81 Shephela 81 Silbertal 278, 280 Sill 294 Sillhöfe 297 Silvretta(gletscher, Hochalpenstraße) 6, 13, 21, 24, 27, 278, 281, 328–330, 344, 345 Silvrettahorn 24 Silvrettasee 27 Simirria 73 Sinahulzi 72 Sinai 177, 178, 181, 182 Katharinenkloster 177, 178, 181, 182 Siwa163, 164 Sizilien 163, 168 Soi 265 Somalia 55 Somersetshire 243, 244 Sorrent 152 Sott 30 Spanien 258, 348 Sperlonga 150 Sri Lanka 115 Stabiae 150, 151 Stauroniketa 188, 189 Steiermark 259 Stein am Rhein 277 Sterzing 296 Stockhorn 253, 255 Stormberg 127 Stuttgart 282 Sudan 55, 87, 125 Südtirol 310, 374 Sulz 353 Wannenbrücke 353 Susa 169 Swat 163 Syrien 54, 55, 164, 183 Tal der Totengebeine 186, 187 Taminaschlucht 266 Tanais 114 Tannberg 338 Taprobane 109, 115, 116 Taq-e Bustan 34 Tarim 39
396
Ortsregister
Tartessos 112 Taurus 66, 67, 70, 71, 73 Tell-el-Amarna 53, 58 Terracino 146 Thebanisches Gebirge 44 Theben 48, 164, 169 Theisoa 146 Thera 173 Thessaloniki 178 Hosios David 178 Thrakien 100, 101, 164 Thule 109, 114, 115 Thunersee 266 Thüringen 355 Tibet 33 Tienschan 39 Tigris 66, 87 Tirol 7, 276, 279, 289, 292–294, 300, 301, 307–309, 322, 331, 334 Tivoli 146 Tjuta National Park 344 Todnauberg 230 Tölz 374 Totes Meer 88 Triton 112 Tschagguns 278, 280, 315, 353–355, 357, 366, 367, 374, 377 Tschechien 344 Tübinger Hütte 281 Tunni 70 Tuoi 30 Türkei 55, 67 Turkestan 36 Tyros 102, 103, 163, 164 Tyrrhenisches Meer 263
Uruk 107 Ürümqi 39 Vanovagasse 354, 355 Vaucluse 219 Venedig 257 Vergina 139 Vermunt (-werk, -gletscher) 24, 26, 27, 326, 327–329 Verona 227, 257 Verwall 278 Vesuv 150, 223, 264 Via Aemilia 119 ViaValtellina 349, 354 Vienne 259 Vintschgau 296 Vorarlberg 14, 22, 23, 25, 26, 277, 278, 281, 282, 292, 317, 329, 341, 344, 345, 347–352, 354, 356, 357, 361, 365, 370, 375, 376
Uaus 73 Uizuku 71 Ukku 73, 74 Ultental 301 Uluru-Kata 344 Ungarn 373 Unterinntal 294, 297 Upa 72 Urartu 72, 107
Zagros 66–68, 71, 72 Zeinisjoch 280 Zermatt 318 Zimur 70 Zoar 89 Zugertal 337 Zürich 228, 229, 253, 255 Zürichsee 267
Wachau 344, 348 Wachters Dieja 366, 367 Wales 238, 240, 242, 243 Walgau 352, 354 Weingarten 282, 354 Westfalen 16 Wien 173, 175, 282, 294, 299, 303, 304, 306, 328, 349 Wilder Kaiser 305 Wilten 293–296 Wiltshire 243 Wingat 355 Wipptal 296, 299 Wittenberg 259 Xinjiang 36
MICHAEL KASPER, MARTIN KORENJAK, ROBERT ROLLINGER, ANDREAS RUDIGIER (HG.)
ALLTAG – ALBTRAUM – ABENTEUER GEBIRGSÜBERSCHREITUNG UND GIPFELSTURM IN DER GESCHICHTE (MONTAFONER GIPFELTREFFEN, BAND 1)
Seit es Menschen gibt, gehen sie ins und übers Gebirge. Für viele ist das einfach Alltag und Arbeit, andere werden wider Willen und zu ihrem Entsetzen in eisige Höhen verschlagen, und wieder andere suchen diese aus eigenem Antrieb als Ort heroischer Bewährung auf. Das Thema »Mensch und Berg« wird meist aus der klar umgrenzten Perspektive einzelner Disziplinen betrachtet. Der vorliegende Band wählt dagegen bewusst einen universalhistorischen Zugang. Die in ihm versammelten Beiträge repräsentieren zahlreiche Fächer von der Geschichte über die Literaturwissenschaft bis zur Kulturanthropologie, schlagen einen Bogen von der Steinzeit bis zur Gegenwart und stellen das Regionale neben die Berge der Welt. Zwischen ihnen entwickelt sich ein Dialog, in dem die unterschiedlichsten Sichtweisen, Epochen und Räume zur Sprache kommen. 2015. 373 S. 50 S/W-ABB. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-79651-0
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
JOHANNES HÖRL, DIETMAR SCHÖNDORFER (HG.)
DIE GROSSGLOCKNER HOCHALPENSTRASSE ERBE UND AUFTRAG (SCHRIFTENREIHE DES FORSCHUNGSINSTITUTES FÜR POLITISCHHISTORISCHE STUDIEN DER DR.-WILFRIEDHASLAUER-BIBLIOTHEK, BAND 53)
Das Buch »Die Großglockner Hochalpenstraße – Erbe und Auftrag« beschäftigt sich mit dem Österreichischen Monument »Großglockner Hochalpenstraße« als eine der wichtigsten Tourismusdestinationen des gesamten Alpenraumes. Dreißig Autoren spannen den Bogen von der Entstehungsgeschichte des Symbolbildes für österreichische Ingenieurskunst und die Leistungsfähigkeit Österreichs in den schweren Jahren der Weltwirtschaftskrise über die Bedeutung für den Tourismus und die regionale Wirtschaft der angrenzenden Länder bis in die Gegenwart. Zudem werden der große Stellenwert des Umweltgedankens und des Naturschauspiels inmitten des größten Nationalparks Mitteleuropas sowie die großen Herausforderungen im Hochgebirge der Hohen Tauern eingehend beleuchtet. Neben dem seit einem dreiviertel Jahrhundert währenden Status als Nationales Monument hat die Fachwelt vor allem im Laufe der letzten Jahre das internationale Erbe in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. 2015. 504 S. 463 S/W- UND FARB. ABB. GB. 210 X 270 MM. ISBN 978-3-205-79688-6
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
DEUTSCHER ALPENVEREIN, ÖSTERREICHISCHER ALPENVEREIN, ALPENVEREIN SÜDTIROL (HG.)
HOCH HINAUS! WEGE UND HÜTTEN IN DEN ALPEN
Ein Wege- und Hüttennetz ist die Grundlage für den Bergsport im Gebirge. Im vormals für Touristen unwegsamen und unwirtlichen Ostalpenraum errichteten die alpinen Vereine seit den 1860er-Jahren einen Großteil dieser Infrastruktur. »Hoch hinaus!« erzählt von den Zielen und Werten dieser Organisationen und ihrer Mitglieder sowie von ihren Pionierleistungen bei der Erschließung der Bergwelt. Das zweibändige Werk ist opulent ausgestattet. Zahlreiche Abbildungen, ein umfangreiches Register sowie ein Hüttenverzeichnis mit allen bestehenden und ehemaligen Hütten machen das Buch zu einem Muss für alle an der Bergwelt Interessierten. 2016. 674 S. 570 S/W- UND 308 FARB. ABB. 2 BDE. GB. MIT SU. 210 X 275 MM. ISBN 978-3-412-50203-4
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MICHAEL SPAN
EIN BÜRGER UNTER BAUERN? MICHAEL PFURTSCHELLER UND DAS STUBAITAL 1750–1850
Große Veränderungen, die mit noch größeren Schlagworten in Verbindung gebracht werden, prägten die Jahre zwischen 1750 und 1850. Die Entwicklungen dieser „Sattelzeit“ werden in diesem Buch aus einem besonderen Blickwinkel betrachtet, aus der Perspektive einer Peripherie, eines Alpentals. Im Fokus steht dabei eine Person: Michael Pfurtscheller. Am Gerüst seiner Biografie wird – auf einer Fülle von Quellen basierend – die Geschichte einer ländlichen Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne montiert. Es ergeben sich Einblicke in die Lebenswelten Pfurtschellers und seines Umfeldes, die einerseits zeigen, wie die Zeitgenossen von der „großen Geschichte“ beeinflusst wurden, die andererseits jedoch auch verdeutlichen, welche Handlungsspielräume sich ihnen eröffneten und wie diese genutzt wurden. 2017. 468 S. 16 S/W-ABB. FRANZ. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-20144-1
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