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German Pages 444 [448] Year 2012
Keiichi Yamanaka Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft
Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik Band 26
Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen) (Redaktion) in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Otto Backes (Universität Bielefeld) Prof. Dr. Britta Bannenberg (Justus-Liebig-Universität Gießen) Prof. Dr. Klaus Bernsmann (Ruhr-Universität Bochum) Prof. Dr. Friedrich Dencker (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Regina Harzer (Universität Bielefeld) Prof. Dr. Michael Heghmanns (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Tatjana Hörnle (Freie Universität Berlin) Prof. Dr. Franz Salditt (FernUniversität in Hagen) Prof. Dr. Wolfgang Schild (Universität Bielefeld) Prof. Dr. Ulrich Stein (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Eberhard Struensee (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Jürgen Welp (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Prof. Dr. Gereon Wolters (Ruhr-Universität Bochum) Prof. Dr. Gabriele Zwiehoff (FernUniversität in Hagen)
Band 26 Redaktion: Zekai Dag˘as¸ an
De Gruyter
Keiichi Yamanaka
Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft
De Gruyter
Prof. Dr. Keiichi Yamanaka ist Professor für Strafrecht an der Kansai Universität in Osaka.
ISBN 978-3-11-029872-7 e-ISBN 978-3-11-029970-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ' Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................... IX
ERSTER TEIL: ALLGEMEINE DOGMENGESCHICHTE DER JAPANISCHEN STRAFRECHTSWISSENSCHAFT § 1.
Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan 100 Jahre nach Inkrafttreten des geltenden StGB .................................. 3
§ 2.
Wandlung der Strafrechtsdogmatik nach dem Zweiten Weltkrieg – Zum Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatlehre.......................................................................................... 21
§ 3.
Ryuichi Hiranos Strafrechtslehre Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts in Japan..................... 37
ZWEITER TEIL: AKTUELLE PROBLEME DER JAPANISCHEN STRAFRECHTSDOGMATIK § 4.
Dogmatische Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils aus japanischer Sicht Zu den Modellen gesetzlicher Regelung.............................................. 61
§ 5.
Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre ............................................................................... 67
§ 6.
Entwicklung und Aussichten der Unterlassungsdogmatik in der japanischen Strafrechtswissenschaft.............................................. 83
§ 7.
Begriff und systematische Einordnung der Pflichtenkollision........... 105
§ 8.
Strafrechtliche Erfassung in rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangener Straftaten .......................................... 129
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Inhaltsverzeichnis DRITTER TEIL: DIE LEHRE VON DER OBJEKTIVEN ZURECHNUNG
§ 9.
Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft............................................ 147
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen ........................................................ 169 § 11. Der „vorzeitige Erfolgseintritt“ in der japanischen Judikatur und Wissenschaft ............................................................... 187 § 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen – Betrachtungen anhand der japanischen Diskussion – .................... 205 § 13. Kritisch-dogmatische Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung ............................................................. 225
VIERTER TEIL: AUFGABEN UND TENDENZEN DER JAPANISCHEN STRAFRECHTSWISSENSCHAFT § 14. Das Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts ........................ 247 § 15. Zur Aszendententötung in Japan........................................................ 269 § 16. Die gegenwärtige Aufgabe des Wirtschaftsstrafrechts in Japan ........ 279 § 17. Zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bekämpfung der High-Tech-Kriminalität in Japan............................ 301 § 18. Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan Strafrechtliche Haftung wegen der Produktion, der Aufsichtspflichtverletzung und der ärztlichen Verschreibung von mit AIDS kontaminierten Blutprodukten.................................... 317
Inhaltsverzeichnis
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§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung in der japanischen Judikatur Eine vorbereitende Betrachtung der Begründung der Garantenpflicht bei Unterlassungsdelikten ........................................ 341 § 20. Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus im Strafrecht ............................................................... 365
FÜNFTER TEIL: KRIMINALITÄTSTENDENZEN UND JUSTIZREFORM IN JAPAN § 21. Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan Hintergrund und Bilanz des Boryokudan-Bekämpfungsgesetzes ...... 377 § 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik – Ist der Sicherheitsmythos in Japan zusammengebrochen? –....................................................... 395 § 23. Juristenausbildung in Japan Law School japanischer Art............................................................... 415 Verzeichnis der Erstpublikationen .................................................................431
Vorwort Die Beziehung zwischen der deutschen und der japanischen Strafrechtswissenschaft, die anfangs nur einseitig war, lässt sich zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Im allgemeinen ist bekannt, dass die japanische Strafrechtswissenschaft zuerst von der französischen beeinflusst worden ist und dass die deutsche Strafrechtswissenschaft erst – abgesehen von einigen Vorläufern – durch Asataro Okada (1868–1936), der von 1897 bis 1900 einen Studienaufenthalt in Frankreich und bei Franz von Liszt in Halle absolvierte, spätestens nach seiner Rückkehr intensiv übernommen und verbreitet wurde. Dass Okada seine Studienreise nicht nur nach Frankreich, dessen Sprache er schon vor der Abreise beherrschte, sondern auch nach Deutschland führte, bedeutete eine symbolische Wende des Trends in der damaligen japanischen Strafrechtswissenschaft. Beachtenswert war, dass er das japanische Strafrechtswesen in Deutschland vorstellte, indem er den „Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch für das kaiserlich japanische Reich“ (Berlin 1899) während seines Aufenthaltes ins Deutsche übersetzte und veröffentlichte. Der zweite bedeutende Strafrechtler, der die deutsche Strafrechtswissenschaft erforscht hat, war Shigema Oba (1869–1920). Er war von 1905 bis 1908 bei Karl Birkmeyer in München, und schon von dort aus hat er die von ihm geschriebenen Aufsätze bzw. Übersetzungen von Birkmeyer und auch von Liszt nach Japan geschickt und in japanischen Zeitschriften veröffentlicht. Seine wichtigste Leistung liegt darin, dass er seine auf Deutsch geschriebene Dissertation „Unverbesserliche Verbrecher und ihre Behandlung“ (Berlin 1908) in Deutschland veröffentlicht und das damals neue japanische StGB ins Deutsche übersetzt hat (Ders., Strafgesetzbuch für das kaiserlich japanische Reich vom 23. April 1907, Berlin 1908). Seither wurden viele große Theorien und auch kleinere dogmatische Themen der deutschen Strafrechtswissenschaft in Japan schon vor dem Zweiten Weltkrieg erforscht und teilweise auch eigene Theorien entwickelt. Heute, etwa ein Jahrhundert nach der ersten Begegnung, ist der strafrechtswissenschaftliche Austausch zwischen Deutschland und Japan viel häufiger, dichter, breiter und wechselseitiger als damals. Grundsätzlich wird bis heute die deutsche Wissenschaft in Japan ausführlich vorgestellt, übernommen, analysiert und auch kritisiert. Dabei sind die herausragenden Forschungsarbeiten nicht bei den bloßen Darstellungen und den kritischen Meinungsäußerungen stehen geblieben, sondern unter Anpassung an den japanischen Kontext neu begründet worden. Meistens seit Ende 50er Jahren haben viele japanische
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Vorwort
Strafrechtler einen Studienaufenthalt in Deutschland verbracht, und seit Mitte der 60er Jahren haben auch deutsche Strafrechtler vereinzelt Japan besucht. Nebenbei gesagt habe ich selber noch einen Gastvortrag von Hans Welzel gehört, als ich ab 1966 Student in Osaka war. Seit dem Ende der 80er Jahre begannen die direkten Diskussionen über verschiedene strafrechtliche Themen in Gestalt der Symposien zwischen Deutschland und Japan. Leider fehlt es noch an Informationen über die japanische Strafrechtswissenschaft in Deutschland, um den Gedankenaustausch auf der gleichen Basis durchzuführen. Als ich zum ersten Mal von 1980 bis 1982 als Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung bei Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin in München war, habe ich begonnen, auf Deutsch Aufsätze über verschiedene strafrechtlichen Themen zu schreiben, um diese Informationen zu ergänzen. Seitdem habe ich mich bemüht, die Gelegenheit möglichst zu nutzen, meine deutschsprachigen Aufsätze zu veröffentlichen. Inzwischen habe ich mir als einen meiner Forschungspläne die Aufgabe gestellt, möglichst viele strafrechtliche Diskussionen in Japan den deutschsprachigen Lesern vorzustellen, damit erstens diese von der japanischen Dogmatik eine grundsätzliche Ahnung bekommen können, und damit zweitens die sprachlich isolierte japanische Wissenschaft den kritischen Blicken von außen ausgesetzt werden kann. Heutzutage kann man manche auf Deutsch geschriebenen Dissertationen bzw. Aufsätze oder Sammelbände der internationalen Symposien über die japanische Strafrechtswissenschaft ohne Schwierigkeiten finden. Aber es geschieht noch nicht häufig, dass in die Sammelbände Aufsätze eines japanischen Verfassers über verschiedene theoretische Bereiche vor allem des Allgemeinen Teils des Strafrechts aufgenommen wurden. Im Jahre 2008 habe ich dank der Hilfe Professor Dr. Dr. h.c. Ulfrid Neumanns und seines Lehrstuhls einen Sammelband über „Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft“ (Nomos-Verlag) veröffentlicht, in dem meine relativ frühen Aufsätze aufgenommen worden sind. Im vorliegenden Sammelband finden sich hingegen meine relativ neuen Aufsätze über nicht nur aktuelle Themen, sondern auch über die geschichtliche Entwicklung der japanischen Strafrechtswissenschaft. Sonst gilt im allgemeinen auch hier, was ich schon in meinem Vorwort zum oben genannten ersten Sammelband geschrieben habe. Ich hoffe, dass der wissenschaftliche Dialog zwischen der japanischen und vor allem der deutschen Strafrechtswissenschaft vorwärts geht und sich sowohl die grenzüberschreitenden und allgemeingültigen als auch die lokalen Theorien der einzelnen Länder dadurch weiter entwickeln. Diesmal hat Herr Professor Dr. iur. Dr. phil. Thomas Vormbaum, der vor allem der Spezialist für die juristischen Zeitgeschichte ist, freundlicherweise
Vorwort
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die schwierige und mühsame Aufgabe bezüglich der Veröffentlichung dieses Sammelbandes übernommen: Ich bedanke mich bei ihm ganz herzlich für die Aufnahme dieses Sammelbandes in die von ihm herausgegebene Reihe „Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik“ und für seine redaktionelle Bearbeitung der Texte, die er mit seinen Mitarbeitern vorgenommen hat: In diesem Sinne gilt mein Dank vor allem auch Frau Anne Gipperich und Herrn Zekai Da÷aúan am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte der Fernuniversität in Hagen für die Kooperation bei den redaktionellen Arbeiten. Meine Dankbarkeit gilt auch meinen Freunden, die meine deutschsprachige Aufsätze sprachlich verbessert haben: vor allem Professor Dr. Roland Wittmann in Franfurt/O, PD Dr. Joerg Brammsen in Bayreuth und letztlich auch Dr. Moritz Vormbaum in Berlin. Suita, den 16. März 2012
Keiichi Yamanaka
ERSTER TEIL: ALLGEMEINE DOGMENGESCHICHTE DER JAPANISCHEN STRAFRECHTSWISSENSCHAFT
§ 1. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan 100 Jahre nach Inkrafttreten des geltenden StGB Vor gerade einmal hundert Jahren, am 24. April 1907, ist das geltende japanische StGB verkündet und zum 1. Oktober 1908 in Kraft getreten. Im Oktober 2008 hat es den 100jährigen Geburtstag seines Inkrafttretens begangen. Das geltende StGB war das zweite vom europäischen Strafrecht beeinflusste moderne StGB in Japan1. Seither ist das StGB zwar nicht wesentlich geändert worden, die Dogmatik hat sich im Gefolge des sozialen und des staatlichen Wandels jedoch grundlegend umorientiert2.
I. Das alte StGB von 1880 Vorgänger des heutigen Strafgesetzbuches war das sog. „alte StGB“ von 1880, das Gustave Émile Boissonade3(1825–1910) entworfen hat – ein 6 Jahre nach der Meiji-Revolution (1873) vom damaligen Justizministerium berufener „professioneller Ausländer“. Das alte StGB trat 1882 in Kraft und war stark von der französischen Strafrechtswissenschaft beeinflusst, da Boissonade, Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Paris und Schüler des dort lehrenden Professors für Strafrechtsvergleichung Elzear Ortolan (1802–1873)
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Weil „Meiji-Restauration“ (1868) eine Restauration, also Herrschaft durch den Tenno, bezweckte, versuchte die Regierung am Anfang, das Staatssystem nach den alten chinesischen bzw. alten japanischen Rechtssystemen zu übernehmen: Die zwei Strafgesetze, Karikeiritsu (Vorläufige Strafvorschriften) vom 1868, Shinritsukoryo (Das neue Strafrechtsprogramm) von 1870, waren solche. Als repräsentative Literatur zur Strafrechtsgeschichte vgl. Seiichiro Ono, Kleine Geschichte des Strafrechts (Keihogaku Shoshi), in: Keibatu no Honshitsu nituite sonota, 1955, S. 409 ff.; Chihiro Saeki / Yoshinobu Kobayashi, Geschichte der Strafrechtswissenschaft, in: Ukai / Fukushima / Kawashima / Tsuji (Hrsg.), Nippon Kindaiho Hattatsushi, Bd. 11, 1967, S. 207 ff.; Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Keiho Rironshi no Sogoteki Kenkyu (Die gesamten Studien zur Dogmengeschichte der Strafrechtstheorien), 1994, S. 1 ff. ; Hitoshi Otsuka, Keiho niokeru Shinkyu Ryoha no Keihoriron (Die moderne und klassische Strafrechtslehre im Strafrecht), 1957, S. 1 ff.; Kenichi Nakayama, Keihoshoka no Shiso to Riron (Gedanken und Lehren der Strafrechtler) 1995, S. 1 ff. Über den Lebenslauf und die Tätigkeiten von Boissonade vgl. Yasusuke Okubo, Nippon Kindaiho no Chichi: Boissonade (Der Vater der japanischen modernen Rechte: Boissonade), 1977, S. 1 ff.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
war4. Boissonades strafrechtliches Denken basierte auf der (eklektischen) neoklassischen Schule, weshalb das alte StGB sein Grundkonzept von der klassischen Strafrechtstheorie erhielt. Das erste europäisierte StGB Japans ist wegen seines liberalen, dem damaligen Staatswesen nicht angepassten Charakters schon kurz nach seinem Inkrafttreten heftig kritisiert worden5. Es wurde die Notwendigkeit betont, mit dem StGB die Gesellschaft gegen die anwachsende Kriminalität6 verteidigen zu können. Die moderne Schule in Deutschland bzw. Italien wurde deshalb von Japan importiert, wobei sie anfangs so verstanden wurde, dass mit ihrer Hilfe die Verbrechensbekämpfung durch schwerere Strafe verwirklicht werden könnte.
II. Der Sinn der historischen Strafgesetzgebung Die Kodifikation der damaligen Gesetzbücher hatte den Zweck, den Schein der rechtsstaatlichen Fassade zu wahren und dadurch die internationalen Verträge zu revidieren, damit das von den europäischen Mächten nicht als gleichberechtigt anerkannte Japan dem Klub der europäischen Mächte beitreten konnte. Ob das Gesetz für die japanische Gesellschaft überhaupt geeignet war, war damals im Grunde genommen irrelevant. Trotzdem hat man es seinerzeit nicht unternommen, die ausländischen Rechtssysteme direkt in Japan einzuführen. Die Aufgabe des Gesetzgebers lag vielmehr in der Frage, wie sie modifiziert werden sollten, um in die Institute und in die Rechtsordnung der japanischen Gesellschaft angepasst und eingebaut werden zu können7. Der Grund für den Wechsel vom alten StGB 25 Jahre nach seinem Inkrafttreten zum neuen StGB lag in dem ungenügenden „Kontextwechsel“ der Gesetzgebung durch die Rezeption des ausländischen Rechts. „Kontextwechsel“ müssen nicht nur bei Gesetzgebun4 5 6
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Boissonade vertrat zuerst die Vorlesung von Ortolan und wurde später ordentlicher Professor an der Universität Paris. In der Tat wurde das alte StGB wegen seines Charakters als Vergeltungsstrafrechts als ohnmächtig gegenüber den sich vermehrenden Verbrechen von damals angesehen. Durch die Restauration vollzog sich eine soziale Schichtänderung. Die Arbeitslosen überfluteten die Großstädte. Die Ritterschicht (Samurai-Klasse), die ihre Herren und Stellen verloren hatte, war mit der Regierung unzufrieden. Es gab damals viele Aufstände und Unruhen durch herrenlose Samurais. Vgl. Yamanaka, Wandlung der Strafrechtsdogmatik nach dem 2. Weltkrieg – Zugleich Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatlehre, in: Jehle / Lipp / Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform in deutschen und japanischen Recht, 2008, S. 173 ff.
§ 1. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan
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gen, sondern auch bei den Auslegungen der Gesetzestexte geschehen, da Rechtsnormen und die Rechtstheorie in ihrem eigenen Kontext im Rechtssystem oder in der sozialen Wirklichkeit einen bestimmten Sinn haben. Werden sie jedoch in eine andere Rechtsordnung transferiert, so wird der Kontext notwendigerweise geändert. Die japanische Gesellschaft brauchte damals kein liberales, sondern ein StGB, das den Zweck der Kriminalitätsbekämpfung besser verwirklichen konnte.
III. Die Charakteristika des geltenden StGB 1889 wurde die „Große Kaiserlich Japanische Verfassung“ verkündet. Diese Verfassung wurde von der damaligen deutschen Verfassung stark beeinflusst, weil die seinerzeitigen Machthaber das deutsche Rechtssystem eher geeignet als Vorbild für Japan erachtet hatten8. Die Aufmerksamkeit wurde deswegen auch auf die anderen Gebiete des deutschen Rechtssystems gerichtet. Das Modell für das neue japanische StGB muss mithin in Deutschland gesucht werden. Zu dieser Zeit, Anfang des 20. Jahrhunderts, war die moderne Schule in Deutschland auf ihrem Höhepunkt und schien für die effektive Verbrechensbekämpfung geeignet zu sein. Der starke Einfluss der strafrechtlichen Gedanken der modernen Schule brachte es mit sich, dass das geltende StGB vom 1907 mit möglichst kurzen und einfachen Tatbeständen konzipiert wurde. Wichtigste Aufgabe des StGB sollte nämlich sein, den Täter nicht zu Wiederholungen kommen zu lassen. Nicht die ausführliche Beschreibung oder Differenzierung der „Taten“ stand im Vordergrund, sondern die „Persönlichkeit“ des Täters. Der Dogmatik des Allgemeinen Teils ist ein umfangreicher Spielraum eingeräumt, um eine freie und ungehinderte theoretische Entwicklung zu gewährleisten. Auch die Rechtsbegriffe im Besonderen Teil sind im Allgemeinen sehr abstrakt und umfangreich gefasst, was die Möglichkeit zur Weiterentwicklung durch „elastische Auslegung“ eröffnet. Vorschriften im Allgemeinen Teil des StGB mit Bezug zur Straftatlehre betreffen nur die Rechtfertigungsgründe – gesetzmäßige bzw. legale und berufsmäßige Handlung (§ 35), Notwehr (§ 36) und Notstand (§ 37) –, den 8
Die Regierung hat den späteren Autor der Verfassung, Hirobumi Ito zu Professor Rudolf von Gneist an der Berliner Universität und zu Professor Lorenz von Stein an der Wiener Universität gesandt, um ihn die deutsche Verfassung erforschen zu lassen. Als „professionelle Ausländer“ haben zwei Deutsche, Karl Friedrich Hermann Roesler und Albert Mosse, beim Entwurf der Verfassung Ratschläge gegeben.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
Vorsatz (§ 38), die Schuldfähigkeit (§§ 39, 41), den Versuch (§§ 43, 44) und die Teilnahme (§§ 60–65). Die Tatbestände im Besonderen Teil sind im Vergleich mit dem deutschen StGB kurz und einfach. Der Strafrahmen ist im Allgemeinen sehr weit. Als Beispiele mögen der Diebstahl und die Tötungsdelikte dienen, wo nicht zwischen Mord und Totschlag differenziert wird, sondern in nur einem Tatbestand9 eine sehr einfach Regelung getroffen ist: „Wer einen anderen tötet, wird mit Todesstrafe, mit unbefristeter Zuchthausstrafe oder mit Zuchthausstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft.“ Der Diebstahlstatbestand lautet: „Wer eine Sache von anderen gestohlen hat, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 500.000 Yen bestraft.“
IV. Reformen und Reformversuche des StGB 1. Versuche einer StGB-Totalreform Versuche zur Reform des geltenden StGB begannen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, scheiterten jedoch allesamt. Der erste „Vor-Entwurf des reformierten StGB“ wurde 1927 veröffentlicht, ein weiterer zum Allgemeinen Teil und zum Besonderen Teil unter dem Titel „Der vorläufige reformierte Entwurf des StGB“ 1940. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Reformversuche 1956 neu aufgenommen und im Jahre 1960 der „Vorentwurf eines reformierten StGB“ vorgelegt. Er unterschied in seiner Grundkonzeption allerdings nicht wesentlich von dem Konzept des Entwurfs der Vorkriegszeit. Auch der letzte „Entwurf des reformierten StGB“ aus dem Jahre 1974 wurde nicht zum Gesetz. Die Versuche zur Totalreform des StGB mussten alle scheitern, weil sie zu altmodisch und zu moralisch gehalten waren. Der Versuch einer Einführung von Maßregeln als weitere Sanktionsform neben der Strafe wurde schließlich zum Stolperstein der geplanten Reformbestrebungen.
2. Die Teilreformen im 20. Jahrhundert Während des 20. Jahrhunderts ist das geltende StGB mehr als zehnmal in Teilen reformiert worden. Die umfassendste Reform fand bereits gleich nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 statt. Seinerzeit wurden die Vorschriften, die der neuen liberalen und demokratischen Verfassung widersprachen (z.B. Maje-
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Das japanische StGB kennt noch einen abgeleiteten Tatbestand für die Teilnahme am Selbstmord und die Tötung mit Einwilligung des Opfers (§ 201 StGB).
§ 1. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan
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stätsbeleidigung (1. Kapitel des 2. Teil des StGB), Ehebruch (§ 183)10 der Gattin) ersatzlos gestrichen. Im Jahre 1993 wurde das StGB textlich völlig neu geschrieben und den gewandelten sprachlichen Gegebenheiten angepasst. Der Alt-Japanische-Stil und viele alte chinesische Schriftzeichen, die für junge Japaner schwer verständlich und schwer lesbar sind, wurden in einem moderneren Stil umgeschrieben. Die Vorschriften wurden allerdings inhaltlich – außer Streichungen der Paragraphen über die Aszendententötung (§ 200) und anderen Straferschwerungen bei Taten gegenüber Aszendenten (§ 205 Abs. 2, § 218 Abs. 2, § 220 Abs. 2) – fast gar nicht geändert11.
3. Die Teilreformen im 21. Jahrhundert Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind partielle Reformen des StGB häufiger geworden. So wurden schon Anfang 2001 die Straftaten gegen elektromagnetische Zahlungssysteme (Kapitel 18a StGB) neu geregelt12, und Ende des Jahres eine Strafvorschrift u.a. gegen tödliches Fahrverhalten im Straßenverkehr (§ 208a) bei den Körperverletzungsdelikten eingefügt. 2003 wurde das negative Personalprinzip eingeführt (§ 3a), so dass nunmehr auch bei Körperverletzungsdelikten an japanischen Staatsgehörigen im Ausland das japanische StGB zur Anwendung kommt. Ebenso wurden im Dezember 2003 nach Abschluss des „UN-Zusatzprotokolls gegen Menschenhandel“13 diese Strafvorschrift (§226a) reformiert und der Strafrahmen der Freiheitsberaubung und Verführung (§224) erhöht. Allgemein ist eine beachtenswerte Erhöhung der Strafrahmen zu konstatieren. So wurde die Obergrenze der zeitlichen Freiheitsstrafen (Zuchthaus und Gefängnis) zum 1. Januar 2005 von 15 auf 20 Jahre angehoben14, der Straf10
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Diese Vorschrift, die wegen des Vorstoßes gegen Artikel 14 der neuen Verfassung verfassungswidrig geworden war, wurde gestrichen. Es gab damals die Alternative, beide zu bestrafen oder den Tatbestand zu streichen. Außerdem wurde auch § 40, der die Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit bei Taubstummheit geregelt hatte, gestrichen. Vgl. Yamanaka, Zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bekämpfungen der High-TechKriminalität in Japan, in: Emil Páywaczewski (Hrsg.), Aktualne Probemy Prawa Karnego i Kriminologii, Biaáystok/Polen 2005, S. 394 ff. Protocol to Prevent, Suppress and Punish Trafficking in Persons Especially Women and Children, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime. Beim Argument für die Verlängerung der befristeten Freiheitsstrafen hat man die Ausdehnung der durchschnittlichen Lebensdauer von Japanern als Begründung ange-
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
rahmen der Tötungsdelikte auf Zuchthaus nicht unter 5 Jahre (bisher nicht unter 3 Jahren) erweitert15. Auch wurde die Verjährungsfrist (§ 250 StPO) neu geregelt, so dass die Verjährung für mit Todesstrafe bedrohte Taten statt 15 nunmehr 25 Jahre beträgt. Im Mai 2007 wurde eine neue Strafvorschrift für „fahrlässige Tötung und Körperverletzung durch Autofahren“ eingeführt und mit bis zu 7 Jahre Zuchthaus oder Gefängnisstrafe bzw. Geldstrafe bis eine Million Yen sanktioniert (§ 211 Abs. 2). Zugleich wurde mit § 208a die Todes- und Körperverletzungsverursachung im Straßenverkehr modifiziert. Aus dem Verbot des „Fahrens mit zweirädrigem Wagen“ wurde das Verbot „Fahren mit Wagen“. Schließlich gibt es noch anstehende Teilreformen, die bereits im Gesetzgebungsausschuss beschlossen, aber noch nicht vom Parlament verabschiedet worden sind: Eine Neuregelung der Strafvorschriften gegen sog. „High-TechKriminalität“, um einen Abschluss der „Cybercrime-Konvention“ des Europarats16 zu ermöglichen17; eine Reform der Strafvorschriften gegen Behinderungen bei Zwangsvollstreckungen sowie die Einführung von „Komplottdelikten bei organisierter Kriminalität“ im Gefolge der UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität18.
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geben: Die Länge der 15 Jahre von damals entspreche heute einem kleineren Teil der Lebenszeit. Damit darf die Strafe nicht ohne Anwendung der Vorschrift über die freiwillige Strafminderung nach den Tatumständen (§ 66 StGB) zur Bewährung ausgesetzt werden, weil die Tat nur dann zur Bewährung auszusetzen ist, wenn „sie mit der Strafe von unter 3 jährigen Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafe bestraft wird. Am 8. November 2001 wurde die Cybercrime-Konvention durch den Ministerausschuss des Europarats verabschiedet und am 23. November 2001 diese Konvention von den ersten Staaten unterzeichnet. Vgl. Yamanaka, a.a.O., in: Páywaczewski (Hrsg.), Aktualne Probemy Prawa Karnego i Kriminologii, Biaáystok/Poland, S. 399 ff. „United Nations Convention against Transnational Organized Crime“ vom 15. November 2000. Über den Komplottmittäterschaftsbegriff in der japanischen Teilnahmelehre vgl. Yamanaka, Moderne Erscheinungsformen der Tatbeteiligung mehrer unter besonderer Berücksichtigung von organisierter Kriminalität wie auch krimineller Aktivitäten von Organisationen, Komplott-Mittäterschaft als Mittel zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität im japanischen Strafrecht?, in: Eser / Yamanaka, Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 280 ff.
§ 1. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan
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V. Der Schulenstreit vor dem Zweiten Weltkrieg 1. Von der klassischen zur modernen Schule Die Schüler von Boissonade, die in der Rechtsakademie des Justizministeriums unterrichteten, haben die sog. neo-klassische Schule verbreitet19. Aber bereits gegen Ende 19. Jahrhundert wurden die Gedanken der modernen Schule vorherrschend. Anfangs mehr auf die Verteidigung der Sozialordnung ausgerichtet, entwickelte sie eine Straftheorie, die mit harten Strafen und Zuchtmitteln von der Begehung von Straftaten abschrecken und den sozialen Frieden aufrecht erhalten bzw. stabilisieren sollte20. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten zur modernen Schule wurden von Kanzaburo Katsumoto (1866–1923) vorgelegt21. Katsumoto hatte ab 1899 in Deutschland, Frankreich und insbesondere bei Lombroso in Italien die Strafrechtswissenschaften erforscht. Nach seiner Rückkehr hat er als Professor für Strafrecht an der Kaiserlichen Universität Kyoto gelehrt und einen Aufsatz über den Streit zwischen Birkmeyer und von Liszt veröffentlicht. Nahezu gleichzeitig (im Jahre 1900) hat auch Asataro Okada (1868–1936) bei von Liszt in Halle über den seinerzeitigen Schulenstreit und die Strafrechtsdogmatik in Deutschland geforscht.
2. Die Hauptvertreter der modernen Schule Im Anschluss an diese Vorarbeiten wurde die moderne Schule in Japan von Eiichi Makino (1878–1970), der bereits 1907 als Assistenzprofessor an der Kaiserlichen Universität Tokyo tätig war, wesentlich weiter entwickelt22. Dem Vorbild der modernen deutschen Rechts- und vor allem Strafrechtswissen19
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Die Schüler von Boissonade, die in der Rechtsakademie des Justizministeriums studiert haben, vertraten die sog. neo-klassische Schule, die den Vergeltungsgedanken und Utilitarismus miteinander verband: Repräsentativ waren Kozo Miyagi (1850–1894) und Seiichi Inoue (1850–1936). Die beiden hatten in Frankreich vier bzw. sechs Jahre studiert. Inoue hatte den Doktortitel in Frankreich erworben. Die Vorlesung von Miyagi wurde von Studenten stenographiert und als „Keiho Kogi“ (Vorlesung über das Strafrecht) im Jahre 1884 veröffentlicht. Repräsentativ waren Seisho Tomii (1858–1935), Nobushige Hozumi (1855–1926) und Renzo Koga (1858–1942). Nach Tomii war „das Strafrecht bloß ein Instrument, um den Frieden und Ordnung zu erhalten“. Vgl. Naka / Yamanaka, Die Strafrechtslehre von Kanzaburo Katsumoto, in: Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 140 ff. Über den Lebenslauf, die Tätigkeiten und wissenschaftlichen Werke von Makino vgl. Keinichi Nakayama, Die Strafrechtslehre von Makino, in: Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 287 ff.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
schaftlichen Schule folgend, machte er die soziale Evolutionstheorie zur Grundlage seiner Strafrechtsgedanken. Nach dieser Evolutionstheorie entwickelt sich das Staatswesen vom Polizei- über den Rechts- zum Kulturstaat. In gleicher Weise entwickelt sich die Straftheorie von der Vergeltungsstrafe im Rechtsstaat zu der eher zum Kulturstaat passenden Zweckstrafe. Makino befürwortete demgemäß statt der repressiven Strafdrohung eine nach wissenschaftlichen Methoden arbeitende Verbesserungs- bzw. Erziehungsstrafe. In der Strafrechtsdogmatik hat Makino den Schwerpunkt auf eine stärkere Subjektivierung gelegt. Grund für seine höhere Gewichtung der subjektiven Tatseite war die besondere Bedeutung der „sozialen Gefährlichkeit“ des Tätercharakters für die Bestrafung: Die Strafe war primär nach dem Tätercharakter zu bemessen, für den eine den Tatbestand erfüllende Straftat lediglich Symptomfunktion hatte. Zugleich war Makino Anhänger der Freirechtsbewegung und lehnte eine Begrenzung der Auslegung ab. Nach seiner Auffassung war das Gesetzlichkeitsprinzip ein Produkt des Rechtsstaats, das es in der Zeit des Kulturstaats eher aufzuheben galt. Hauptvertreter der modernen Schule waren ferner Professor Hidenaga Miyamoto (1882–1944) von der Kaiserlichen Universität Kyoto und Kameji Kimura23 (1897–1972), der als Professor hauptsächlich an den Universitäten Kyushu und Tohoku wirkte. Miyamoto24 entwickelte eigene subjektivistische Strafrechtsgedanken und vertrat eine primär subjektiv ausgerichtete Unrechtslehre. Kimura hatte anfangs an der Universität Kyushu einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie inne, war anschließend eine Weile bei Makino und hatte bis zu seinem Weggang von Kyushu viele Aufsätze zur Straftheorie und Kriminalpolitik auf der Basis der positivistischen modernen Schule veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete er sein Interesse der Strafrechtslehre, veröffentlichte 1959 ein Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts und vertrat dort erstaunlicherweise den Finalismus, den er bis dahin in seinen Aufsätzen heftig kritisiert hatte25.
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Über den Lebenslauf und die Tätigkeiten und wissenschaftlichen Werke von Makino vgl. Haruo Nishihara, „Die Strafrechtslehre von Kameji Kimura“, Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 638 ff. Über den Lebenslauf und die Tätigkeiten und wissenschaftlichen Werke von Miyamoto vgl. Shigetsugu Suzuki, „Die Strafrechtslehre von Miyamoto“, Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 425 ff. Nishihara, „Die Strafrechtslehre von Kameji Kimura“, in Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 650 ff.
§ 1. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan
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3. Die Hauptvertreter der klassischen Schule Die klassische Schule fand Befürwortung zuerst von einem wichtigen Praktiker – Shigema Oba26 (1869–1920), der erst Richter, dann kurz Richter des Reichsgerichts war27, bevor er Rechtsanwalt und Professor an der ChuoUniversität und dann Abgeordneter des Unterhauses wurde. Oba hielt sich 1905 auf eigene Kosten in Deutschland auf und gastierte bei Birkmeyer in München28. Oba kritisierte die Prämissen der modernen Schule. Für ihn lag der Strafzweck in der Verwirklichung des Strafrechts, d.h. in der „Erhaltung der Autorität des Strafrechts und des diesbezüglichen Vertrauens.“ Allerdings sah er nicht gänzlich von der Verbesserung, Abschreckung und Spezialprävention ab, sondern berücksichtigte diese Funktionen auch nebenbei innerhalb seiner Strafzwecklehre. Vertreter der sog. „eklektischen Schule“ war Shinguma Motoji29 (1876–1947). Erst Staatsanwalt und später Generalstaatsanwalt hat er schon 1908 sein Buch über „Die reformierte Strafrechtsdogmatik“ veröffentlicht, welches später in zwei Bände aufgeteilt unter dem Titel „Japanische Strafrechtsdogmatik“ mehr als 40 Auflagen erreichte. Seine Strafrechtswissenschaft wurde als „Eklektizismus aus Sicht der Praktiker“ bezeichnet30. Weitere Hauptvertreter der klassischen Schule waren damals Professor Yukitoki Takigawa31 (1891–1962) von der Kaiserlichen Universität Kyoto und Professor Seiichiro Ono (1891–1986) von der Kaiserlichen Universität Tokyo. 26
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Über Lebenslauf, Tätigkeiten und wissenschaftlichen Werke von Oba vgl. Shozo Horiuchi, „Die Strafrechtslehre von Oba“, Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 232 ff. Er hat ein Jahr nach seiner Berufung in das Richteramt das Reichsgericht wieder verlassen. Sein Hauptwerk war „Strafrecht Allgemeiner Teil“, Bd. 1, 1912, Bd. 2 (Teilbd. 1) 1913, Bd. 2 (Teilbd. 2), 1914; Teilbd. 3, 1917; Strafrecht Besonderer Teil, Bd. 1, 1909; Bd. 2, 1910; Bd. 1, 1917, auch im Bereich der Kriminalpolitik hat er publiziert: „Grundriss der Kriminalpolitik“, 1909; „Grundprobleme der neuesten Kriminalpolitik“, 1909. Oba hat das jap. StGB ins Deutsche übersetzt: Vgl. Strafgesetzbuch für das kaiserliche japanische Reich von 23. April 1907, Berlin 1908. Er hat auch auf Deutsch einen Aufsatz geschrieben: Oba, Unverbesserliche Verbrecher und ihre Behandlung, Berlin 1908. Über Lebenslauf, Tätigkeiten und wissenschaftliche Werke von Motoji vgl. Fumiaki Uchida / Yutaka Tamiya, Die Strafrechtslehre von Makino, in: Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 373 ff. und 395 ff. Vgl. Saeki / Kobayashi, Fn. 2, S. 258. Über Lebenslauf, Tätigkeiten und wissenschaftliche Werke von Takigawa vgl. Ken Naito, Die Strafrechtslehre von Yukitoki Takigawa, in: Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 287 ff.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
An ihnen ist bemerkenswert, dass ihre Vorgänger die Hauptanhänger der modernen Schule waren32. Darüber hinaus hatte Ono als Sonderberater des Justizministeriums auch noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Einfluss auf die Strafrechtsreform. Takigawas Strafrechtswissenschaft gründete darin, dass er liberales Gedankengut auf das Strafrecht anwendete. Dies ist besonders gut erkennbar bei seinen Betrachtungen zum Zusammenhang der Institutionen und Theorien mit den „sozialen Grundlagen“, dem er seine besondere Aufmerksamkeit widmete. Einer seiner Forschungsschwerpunkte waren die Strafrechtsgedanken in der Aufklärungszeit und das Gesetzlichkeitsprinzip. Dieses basierte auf der objektivistischen Straftatlehre und dem Vergeltungsgedanken und hatte zwei Funktionen: Die Garantie der Freiheit und der Rechte sowohl der Bürger wie auch gleichermaßen der Straftäter. Die Grundzüge der Strafrechtswissenschaft von Seiichiro Ono33 finden sich sämtlich in seiner Annahme einer sittlichen Vergeltung. Ausgangspunkt seiner Auffassung war die Auseinandersetzung mit der Lehre von Makino und der Ideologie der modernen Schule. Wohl unter dem Einfluss der neukantianischen Wertphilosophie betonte er die Wichtigkeit einer Kulturgemeinschaft, die den Staat und die Individuen umfasst. Um 1940 wandelte er jedoch seine liberalistische Anschauung in Richtung einer sittlichen Staatsideologie und ersetzte den Begriff der „Kulturgemeinschaft“ durch denjenigen der „Sittengemeinschaft“34. Seine wissenschaftlichen Hauptwerke bildeten „Die Lehre vom Straftatbestand“35 und „Der Schutz der Ehre im Strafrecht“36, doch war sein Wirken nicht allein auf das materielle Strafrecht begrenzt, sondern umfasste auch viele Aufsätze und Monographien zu Kriminalpolitik, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie. Inspiriert waren die Grundlagen seines strafrechtlichen Denkens, vor allem auch zum Schuldprinzip, vom buddhistischen „Karma“.
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Takigawa hat als Student die Vorlesung von Katsumoto gehört. Der erste Aufsatz von Ono wurde in der Zeitschrift „Hogaku Shirin“, die von Makino herausgegeben wurde, veröffentlicht (vgl. Koichi Miyazawa, Die Strafrechtslehre von Seiichiro Ono, in: Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 489). Über Lebenslauf, Tätigkeiten und wissenschaftliche Werke von Ono vgl. Miyazawa, Kikkawa / Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Fn. 2, S. 475 ff. Ono, Sittlichkeit und Politik im Strafrecht – Sämtliche Kritik gegen den vorläufigen Entwurf des reformierten Strafrechts, Horitsu Jiho, Bd. 12, Heft 7 (1940), S. 705 ff. Ono, Hanzaikoseiyoken no Riron, 1953. Ono, Keiho niokeru Meiyo no Hogo, 1934.
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4. Der Schulenstreit vor dem Weltkrieg aus politischer Sicht Vor dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in der Strafrechtswissenschaft die klassische Schule als moralisch bzw. liberal geprägt und die moderne Schule als wissenschafts- und politikorientiert bezeichnen. Betrachtet man die Einflüsse der deutschen Lehre, so kann man z.B. bei Kameji Kimura37 Einflüsse der nationalsozialistischen Strafrechtideologie erkennen, die er in das japanische Strafrechtsdenken importierte. Auch bei Eiichi Makino und seiner Ablehnung des Gesetzlichkeitsprinzips finden sich Anklänge an nationalsozialistisches Gedankengut. Es bedurfte nämlich keines Gesetzlichkeitsprinzips mehr, da nach seiner Erkenntnis bereits der Wohlstandsstaat eingetreten, das Gesetzlichkeitsprinzip hingegen nur eine Ideologie aus dem Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts war. Demgegenüber hat Seiichiro Ono38, der Repräsentant der klassischen Schule, seine moralische Strafrechtslehre mit buddhistischen Gedanken und sogar mit dem Tennoismus verbunden. Für Ono war das Strafrecht das Instrument zur Verwirklichung der japanischen Staatsmoral, deren Zentrum der Tenno bildete. Er propagierte diese moralische Erhebung in einem Buch, das bezeichnenderweise den Titel „Die selbstbewusste Entwicklung der japanischen Rechtsgedanken“ trug39.
VI. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach dem Zweiten Weltkrieg Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 15. August 1945 ist der totalitäre Staat „Kaiserreich Großjapan“ untergegangen. Japan gerät unter die Besatzung der Alliierten Staaten und ist faktisch bis zur Schließung des Friedensvertrags von 1951 in San Francisco der Hoheitsmacht der USA unterworfen. Es musste sich liberalisieren und demokratisieren, was dann auch Ausdruck in der neuen Verfassung vom Mai 1947 fand.
1. Der Schulenstreit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Politisch ist das strafrechtliche Denken von der neuen demokratisierten und liberalisierten Verfassung inspiriert worden. Gleichwohl hat die Dogmatik fast keinen Einfluss von der neuen Verfassung erhalten, weil sie von den politi37
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Er hat mit anderen ein Buch herausgegeben: Sein Titel war „Nationalsozialistische Gesetze“ (1934). Man kann ihn jedoch auch als einen Opportunist bezeichnen, weil er nach dem Zweiten Weltkrieg der Anhänger der finalen Handlungslehre wurde. In das Zentrum der Moral war während des Krieges nach Ono der Tenno zu platzieren. Ono, Nihon Hori no jikakuteki Tenkai, 1942.
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schen Gedanken relativ unabhängig war. So bestand der Streit zwischen der modernen und der klassischen Schule weiter. Kriminalpolitisch sah sich die moderne Schule mit großen Änderungen konfrontiert. Ebenso wurde ihre Straftatlehre als zu subjektivistisch kritisiert und ihr wurde vorgeworfen, nicht dem Liberalismus, dem Demokratiegebot oder den rechtsstaatlichen Anforderungen der neuen Verfassung zu entsprechen. Die klassische Schule spaltete sich dagegen in eine moralische40 und liberale41 Gruppierung: Dabei hat sich die moralische Orientierung unter dem Eindruck der Geschichte vollständig vom früheren Tenno-Zentralismus verabschiedet, die liberalistische Ausführung ist dann wiederum teilweise mit marxistischen Ausführungen konform gegangen. Dogmatisch war die deutsche Strafrechtslehre aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg der Ausgangspunkt der japanischen Strafrechtswissenschaft. So wurden etwa von der klassischen Schule neben dem Kommentar von Frank die Lehrbücher von Binding, Birkmeyer, M. E. Mayer oder Mezger viel gelesen und rezipiert. Ihr seinerzeitiger Repräsentant war Shigemitsu Dando42 (*1913), ein Schüler von Ono, der maßgeblich die Lehre von der personalen Schuld43 entwickelte und vertrat. Mit den aufkommenden 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts trat der ideologische Streit zwischen dem Konservativismus und dem Reformismus stärker in den Vordergrund und wurde zum Gegenstand des Schulenstreits.
2. Die finale Handlungslehre In den 50er Jahren hielt die finale Handlungslehre von Hans Welzel in Japan Einzug. Sie war die erste neue deutsche Lehre, mit der die damaligen Strafrechtler sich ungeachtet ihrer Zustimmung oder Verweigerung konfrontiert sahen. Beispielhaft für die jungen japanischen Strafrechtler, die nach der neuen Dogmatik dürsteten, sind die Finalisten Yasuharu Hiraba (1917–2002) und Taira Fukuda (*1922) zu nennen. Die Übersetzung von Welzels „Das neue Bild des Strafrechtssystems. Einfuehrung in die finale Handlungslehre“ 40 41 42 43
Außer Ono ist der Name Tadashi Uematsu (1906–1999) zu nennen, der früher Staatsanwalt war. Als ein Repräsentant für die liberalistische Schule sind die Strafrechtsgedanken von Yukitoki Takigawa zu nennen. Shigemitsu Dando (*1913) ist der Autor von den nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentativen Lehrbüchern von Strafrecht (AT, BT) und Strafprozessordnung. Dandos Lehre von der Persönlichkeitsschuld ging mit Mezgers Lehre von Lebensführungsschuld und mit Bockelmanns Lehre von der Lebensentscheidungsschuld einher.
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(1962)44, wurde aber auch unter den damaligen Studenten viel gelesen. Extrempositionen wie die von Armin Kaufmann haben die japanischen Finalisten jedoch nicht vertreten. Man kann sie eher vielleicht mit Hans Joachim Hirsch vergleichen. Auch hat der Handlungsunwert in der japanischen Dogmatik nicht eine dermaßen starke Gewichtung erhalten wie beispielsweise in den Lehren von Zielinski oder Struensee.
3. Die liberale Strafrechtslehre In den 60er Jahren wurden im Gefolge der damaligen politischen Strömungen liberale Gedanken im Strafrecht45 sehr einflussreich. Ihre gemeinsame Grundlage ist die Konzeption eines Strafrechts, das nicht die Verbrechensprävention, sondern die Verteidigung der Rechte des Täters bezweckt. Die Existenz des Staates wird an sich schon als notwendiges Übel angesehen und der Strafrechtsdogmatik lediglich die Funktion zuerkannt, die Macht des Staates zu begrenzen. Es wird deshalb als Idealzustand angesehen, dass das Strafrecht die Nicht-Bestrafung zum Gegenstand hat. Letztlich wird damit die Strafrechtsdogmatik am Objektivismus und am Subsidiaritätsprinzip des Rechtsgüterschutzes ausgerichtet. Die positive Rolle der Kriminalpolitik bei der Resozialisierung und auch bei der Generalprävention ist dagegen nicht berücksichtigt. Die liberale Schule hat jedoch keine eigene Dogmatik entwickelt. Ihre dogmatischen Eigenheiten sind vom klassischen Straftataufbau im 19. Jahrhundert inspiriert: Statt eines eigenen Aufbausystems für die Straftat hat sie lediglich die objektive Strafrechtslehre im Lichte von Liberalismus und Demokratie restauriert und so neuen Wein in einen alten Schlauch gegossen46. Waffe zur Verbrechensbekämpfung in der modernen komplexen Gesellschaft ist und bleibt nur der Revolver des 19. Jahrhundert. Wichtige Aspekte der Strafrechtsdogmatik wie beispielsweise die Irrtums-, die Versuchs- oder die Teilnahmelehre47 sind in den
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Übersetzt von Taira Fukuda / Otsuka, Hitoshi; Hans Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, Einführung in die finale Handlungslehre, 1962. Das Strafrechtsdenken von Kenichi Nakayama (*1927) ist als repräsentativ zu nennen. Vgl. Yamanaka, Die Strafrechtsdogmatik von Dr. Ryuichi Hirano, Jurist Nr. 1281, 2004, S. 48. Über die japanische Teilnahmetheorie vgl. Yamanaka, Gedanken zum Akzessorietätsprinzip – Plädoyer für eine japanische Mindermeinung, in: Emil Páywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, 1998, S. 583 ff.
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60er und 70er Jahren der liberalen Strafrechtsschule nicht wesentlich weiter entwickelt worden48.
4. Die funktionalistisch-kriminalpolitische Strafrechtstheorie In der japanischen Strafrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich mit dem Strafrechtler Ryuichi Hirano (1920–2004) in der Strafrechtsdogmatik ein Paradigmenwechsel49. Ausgangspunkt seiner Strafrechtslehre waren eine sozialwissenschaftlich geprägte Wirklichkeitsbetrachtung des Rechts und eine Analyse der Funktion der Strafrechtsnormen50. Diese besteht nach Auffassung Hirano’s darin, gleichzeitig die Freiheit der Bürger zu gewährleisten, Rechtsgüterschutz zu bewirken und dadurch Straftatprävention zu verwirklichen. Das Strafrecht hat demnach nicht nur die Funktion, seinen materiellen Zweck der Straftatvorbeugung innerhalb des formellen Rahmens des Gesetzlichkeitsprinzips zu verwirklichen, Strafrecht und Strafe an sich unterliegen vielmehr auch einem materiellen Bestrafungsbegrenzungsprinzip. Nach Hirano ist die Gewährleistung der Menschenrechte und des Subsidiaritätsprinzips im Strafrecht durch teleologische Betrachtung aus jenen Grundsätzen abzuleiten, die im gesamten System der Sozialkontrolle die Instrumente und Funktionen des Strafrechts bestimmen. Sie sollten als ein dem Strafrechtssystem immanentes Beschränkungsprinzip verstanden und ausgeformt werden. In der funktionalistischen Betrachtungsweise von Hirano liegt – bei einer Gegenüberstellung des Systemdenkens und Problemdenkens – der Schwerpunkt eindeutig auf letzterem51. Das Problemdenken als praktische, auf Problemlösung gerichtete Denkweise hat demnach zuerst zu prüfen, ob die aus dem Gesetz oder mithilfe der Auslegungslehre erzielten Ergebnisse eine zufriedenstellende Lösung darstellen. Sodann sind Geltung oder Adäquanz der Ergebnisse, getrennt von ihrem systematischen Kontext, unter verschiedenen rechtspolitischen Hinsichten zu betätigen. Die hohe Bedeutung, die Hiranos Funktionalismus heute zukommt, ist vor allem darin begründet, dass er die japanische Strafrechtswissenschaft von der deutschen, der Ontologie und Systematik verpflichteten Denkweise befreit und 48
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Ich nenne als Namen den meines Lehrers Yoshikatsu Naka (1922–1993) als einen der Strafrechtsdogmatiker, der vor allem zur Entwicklung der Irrtumslehre bzw. Teilnahmelehre beigetragen hat. Über Persönlichkeit und Werke Hiranos vgl. meinen in Fn. 46 genannten Aufsatz. Vgl. Yamanaka, a.a.O., Jurist Nr. 1281, S. 50. Dass er diese Methode (Topik) aufgenommen ist, ist ein Zeichen dafür, dass er sich auch für die deutsche Rechtsphilosophie interessiert hat.
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dem amerikanischen Modell der empirischen bzw. funktionalistischen Methode zugewandt hat. Er bezweckte damit die Begründung einer Strafrechtswissenschaft, die an kriminalpolitischen Zielen ausgerichtet ist. Hirano war in den 70er Jahren der federführende Verfasser jenes japanischen Alternativentwurfes, der den Reformentwurf des Justizministeriums von 1974 als viel zu moralisch konzipiert kritisierte. Er wollte das Strafrecht von Moral und Diskriminierung befreien und ein kriminalpolitisch effektives Strafsystem aufbauen. Von unbestrittenem Rang unter den Strafrechtlern scheint er dem Claus Roxin im Deutschland der 70er und 80er Jahre durchaus vergleichbar.
5. Die pragmatische Strafrechtslehre In den 70er Jahren litt die japanische Gesellschaft sehr unter den negativen Folgen eines mangelnden Wirtschaftswachstums. In verschiedenen Bereichen kam es zu neuen Kriminalitätserscheinungen, die bald große Aufmerksamkeit erregten. Um diesen Straftaten mit modernen Methoden zu begegnen, wurde von der Strafrechtswissenschaft die moderne praktische Theorie entwickelt. Es war besonders Professor Hideo Fujiki (1932–1977) von der Universität Tokyo, der sich um pragmatische Lösungen für die neuen Kriminalitätsformen bemühte. Er entwarf praxisfreundliche Lösungsansätze wie z.B. die Lehre von der Komplottmittäterschaft oder die die Voraussehbarkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten erweiternde Besorgnistheorie52, welche die Bekämpfung fahrlässiger Brandschutz-, Explosions- oder Umweltdelikte erleichterte. Seine Theorien verbesserten durchweg die Strafverfolgung und Bestrafung.
6. Die Lehre vom vorrangigen Handlungs- oder Erfolgsunwert Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat die Strafrechtswissenschaft, der Debatte um die Strafrechtsreform in den 60er Jahren folgend, die idealtypischen Grundformen Präventionsstafrecht und liberales Strafrecht gespalten. Seither hat sich die Strafrechtsdogmatik hoch entwickelt und weiter präzisiert, aber auch immer mehr ideologisiert. Die ideologische Gegenübersetzung spiegelt sich in der Konfrontation zwischen der Schule vom Handlungsunwert und vom Erfolgsunwert. Das Begriffspaar Handlungs- und Erfolgsunwert bildet keinen Erklärungsbegriff in der Straftatlehre, sondern ist zum ideologisch unterschiedlich ausdifferenzier52
Vgl. Yamanaka, Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), S. 352 ff.
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ten Strafrechtsdenken geworden53. Hier bietet es jedoch weder eine geeignete Analyse noch einen weiterführenden Ausgangspunkt für den theoretischen Aufbau einer neuen Straftatlehre. Hinter dieser Konfrontation steht ein Weltbild, das zum Kulturerbe des vorigen Jahrhunderts gehört.
VII. Der normsystematische Funktionalismus Der kriminalpolitische Funktionalismus von Hirano basiert auf der Methode, einzelne Kriminalitätsursachen und empirische Gesetze zu suchen und in eine effektive Beziehung zueinander zu setzen. Das Strafrecht des 21. Jahrhunderts steht jedoch vor noch komplizierteren Aufgaben: Die gesamten Funktionen des Strafrechts erschöpfen sich nämlich nicht allein in der Kriminalitätsvorbeugung. Vielmehr sollen sie auch der sozialen Integration oder der Stabilisierung des Normensystems sowie der Gewährleistung der Menschenrechte dienen. Kriminalität schien im modernen Japan keine ernsthafte gesellschaftliche Bedrohung zu sein. Die Kriminalitätsrate war durchweg relativ klein, die Aufklärungsrate hoch und die gegenseitigen Bindungen in Gesellschaft und Gemeinschaft stark. Auch funktionierte die informelle soziale Kontrolle sehr gut. Jedoch haben die internationale und inländische Mobilisierung der Gesellschaft, die Entstehung anonymer Netzwerke und zunehmender Ungleichheit als Annexprodukt der Marktwirtschaft das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung54 erhöht. Die Informationsgesellschaft fördert, erweitert und wiederholt das Gefühl krimineller Bedrohung, da die Informationen über die Täter auch nach Strafverbüßung erhalten und verfügbar bleiben. Diese Informationsflut lässt die Angst und das „Unsicherheitsgefühl“ der Bevölkerung stetig anwachsen. In einer solchen Gesellschaft kann die Strafrechtswissenschaft kaum auf die klassischen Grundsätze der liberalen und freien Gesellschaft gegründet und zum Modell theoretischer Verbrechenskonzeption genommen werden. Die voneinander unabhängigen Verhaltensweisen der Individuen müssen gleichwohl als ein Element des sozialen Systems angesehen werden. Ein Normensystem, das diese Verhaltensweisen vorab steuern/beeinflussen und gleichzeitig
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Deswegen spreche ich auch von „Handlungsunwert- oder Erfolgsunwert-Schule“. Die festgestellte Anzahl der Kriminalität ist nach der „White Paper of Crime“ seit 2000 angestiegen. Die Aufklärungsrate sank seit 2000. 2004 war sie am niedrigsten. Man hat verschiedene Erklärungen für diese Erscheinung gegeben, und man spricht davon, dass mindestens „die gefühlte Unsicherheit“ der Bevölkerung sich vermehrt habe.
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den eingetretenen Normbruch bewältigen will, muss sowohl die Freiheit der Individuen wie auch die Sicherheit der Gesellschaft schützen. Nach meinem Dafürhalten ist die Strafrechtsdogmatik unter Berücksichtigung dieser beiden normprägenden Funktionen zu konzipieren. Strafrechtliche Normen haben zwei Seiten – sie sind einerseits Verhaltens- und andererseits Sanktionsnormen55. Dies entspricht der Straftatsvorbeugung durch Normsetzung und anschließender Straftatsaufarbeitung bei Normverletzung. Die Straftatlehre hat diese dualistische Konzeption zu berücksichtigen56. Ich nenne diese noch ausführlich zu begründende Methodologie „normsystematischen Funktionalismus“57.
VIII. Fazit Zum einhundertjährigen Jubiläum des Inkrafttretens des japanischen StGB habe ich dessen Entwicklung und die der Strafrechtswissenschaft einem kurzen Rückblick unterworfen. Die heutige Strafrechtswissenschaft hat noch kein klares Bild entwickelt, welches als Gemeingut einer neueren dogmatischen Konzeption dienen kann. Es fehlt demgemäß an einer tragfähigen Konzeption für das 21. Jahrhundert. Auch der von mir entworfene normsystematische Funktionalismus ist allenfalls ein schemenhaftes Bild. Die japanische Strafrechtsdogmatik scheint mithin ihre kriminalpolitischen und theoretischen Ziele zu verfehlen. Sie behandelt lediglich einzelne dogmatische Fragestellungen, ohne sich übergreifende Erkenntnisse oder Vorgaben zu vergegenwärtigen. Allerdings ist der Entwurf einer künftigen dogmatischen Theorie eine schwierige Aufgabe. Die japanische Strafrechtsdogmatik wird erst nach einem „Kontextwechsel“ mit Erfüllung dieser Aufgabe von bislang nur „geliehenen“ Theorien befreit werden.
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Vgl. meine Aufsätze über „Verhaltensnorm und Sanktionsnorm in der Straftatlehre“, in: Suzuki Shigetsugu Sensei Koki Shukuga Ronbunshu (Festschrift für Suzuki), Bd. 1, 2007, S. 39 ff.; Ders., Normstruktur der Straftatlehre, in: Sandai Hogaku, Bd. 34, Heft 3 (2000), S. 385 ff. Yamanaka, Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre, Kansai University Review of Law and Politics Nr. 28, 2007, S. 19 ff. Vgl. Yamanaka, Vorwort des japanisch geschriebenen Lehrbuchs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 1999, Seite i und § 53.
§ 2. Wandlung der Strafrechtsdogmatik nach dem Zweiten Weltkrieg – Zum Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatlehre 1. Einleitung In meinem Referat ist zu erörtern, inwiefern die japanische Strafrechtsdogmatik die deutsche Strafrechtsdogmatik rezipiert hat bzw. von ihr abgewichen ist. Die Erörterung erfolgt aus folgenden drei Perspektiven: Erstens ist auf eine grundsätzliche Erkenntnis über den Grund für die Abweichung der japanischen Strafrechtsdogmatik von der deutschen aufmerksam zu machen. Die Abweichung ist im allgemeinen beim rezipierenden Rechtssystem zwangsläufig. Sie bedeutet, dass die deutsche Theorie in Japan notwendiger Weise modifiziert werden und in dem anderen Kontext ihre eigene Funktion haben muss. In der japanischen Strafrechtswissenschaft lässt sich erkennen, dass der Sinn der Rezeption der deutschen Theorie heutzutage nicht einfach erklärbar ist. Die deutschen Theorien und Entscheidungen sind einerseits sehr bekannt, und es gibt fast allgemeine Vorkenntnisse in der japanischen Wissenschaft. Aber andererseits gelten heute nur noch wenige deutsche Theorien als die herrschende Meinung. Diese Diskrepanz zwischen der theoretischen Erkenntnis und der in der Wirklichkeit zu verwendenden Theorie ist der Schlüssel zur Erklärung des ständigen Einflusses der deutschen auf die japanische Strafrechtsdogmatik. Zweitens ist der Einfluss der deutschen Theorien auf die japanischen in den konkreten Entwicklungsprozessen der Strafrechtsdogmatik nach dem Zweiten Weltkrieg zu exemplifizieren. Drittens sind einige wichtige Kategorien im Straftataufbau in der japanischen Lehre darauf zu prüfen, inwiefern sie auf die deutschen Theorien bezogen sind. Diese letzte Aufgabe lässt sich im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht hinreichend erfüllen. Deswegen gebe ich bloß einfache Beispiele zu den einzelnen Gebieten.
2. Formen des „Kontextwechsels der Theorien“ Der Begriff des „Kontextwechsels der Theorien“ wird hier so verstanden, dass Theorien bzw. Grundsätze eine ganz andere Bedeutung erhalten, wenn man sie
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in eine andere Rechtsordnung versetzt. Die Rechtsnorm bzw. der Grundsatz oder die Rechtstheorie haben im Kontext ihres eigenen Rechtssystems oder seiner sozialen Wirklichkeit einen bestimmten Sinn. Wenn sie jedoch von einer anderen Rechtsordnung rezipiert werden, so wird der Kontext notwendiger Weise geändert. Damit wird auch die Rechtstheorie ihren eigentlichen Sinn ändern. Die verschiedenen Formen des Kontextwechsels der Theorien sind in den folgenden fünf Hinsichten zu prüfen: Erstens ist die Diskrepanz zwischen der positivrechtlichen Norm und der sozialen Wirklichkeit zu nennen. Diese führt auch in der gerichtlichen Entscheidung zu Unterschieden zwischen Theorie und Praxis. Zweitens ist der große Spielraum für Theorien im japanischen Strafrechtssystem zu nennen. Er beruht auf der Beschränktheit der positivrechtlichen Regelungen oder auf der Weite der Begriffe in der Rechtsnorm. Vor allem gibt es nur wenige Vorschriften im Allgemeinen Teil des StGB. Deswegen ist die theoretische Erläuterung unerlässlich, um die Bedeutung der Norm zu erfassen. Drittens ist die „Japanisierung1 der deutschen Theorien“ notwendige Voraussetzung für die Anwendung der deutschen Theorie in der japanischen Dogmatik. Um die Aufgabe der Anpassung der Norm an die soziale Wirklichkeit zu erfüllen, muss die ursprüngliche Theorie entsprechend dem japanischen sozialen Kontext modifiziert werden. Viertens haben die neuen deutschen Theorien heutzutage bloß eine ergänzende Funktion für die japanischen herrschenden Theorien bzw. Entscheidungen. Der strukturelle Umbau des systematischen Rahmens der Straftatlehre ist extrem schwierig. Deswegen spielen die neuen Theorien nur bei neuen Problemkonstellationen eine gewisse Rolle. Fünftens zeigt der Zusammenhang der ideologischen Aussage mit der Strafrechtsdogmatik manchmal ein anderes Bild als im Heimatland der Theorie.
2.1 Die Diskrepanz zwischen dem Rechtssatz und der sozialen Wirklichkeit Die Aufgabe der Juristen in der Meijizeit (1887–1912) lag darin, die europäisch-amerikanischen Rechtssysteme in Japan so einzuführen, so zu modifizieren, dass damit Rechtsinstitute und Rechtsformen, die der japanischen Gesellschaft angepasst waren, aufgebaut werden konnten. Schon in dieser Zeit kam die bloße Übernahme des ausländischen Rechtssystems nicht in Frage.
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Coing / Hirano / Kitagawa / Murakami / Nörr / Oppermann / Shiono (Hrsg.), Die Japanisierung des westlichen Rechts, 1990.
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So war, um nur ein Beispiel zu nennen, der Verfasser des Entwurfs des StGB bzw. BGB der Pariser Rechtsprofessor Gustav Boissonade, der schon 1873 als „professioneller Ausländer“ für Rechtswissenschaft berufen worden war2. Das von ihm konzipierte StGB trat im Jahre 1882 in Kraft. Es ist jedoch 1908 vom geltenden StGB ersetzt worden, weil es für das damalige japanische Staatssystem wegen des in Frankreich herrschenden Liberalismus als nicht geeignet angesehen wurde. Das BGB, das ebenfalls von Boissonade verfasst worden ist, ist letztlich aus demselben Grund3 gar nicht in Kraft getreten. Die Kodifikation der damaligen Gesetzbücher hatte den Zweck, eine rechtsstaatliche Fassade zu wahren und damit die internationalen Verträge, nach denen Japan mit den europäischen Mächten nicht gleichberechtigt war, zu revidieren und dem Klub der europäischen Mächte beitreten zu können. Davon, ob das Gesetz für die japanische Gesellschaft geeignet war, wurde damals im Grunde genommen abgesehen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Gesetzen als Fassade und den erforderlichen Maßnahmen zur Bewältigung der Wirklichkeit, wie sie sich in den konkreten Fällen ausdrückt, lässt eine typische japanische Auslegungsmethode hervortreten: Sie ist öfters als „elastische Auslegung“ bezeichnet und sogar von Juristen als „verfeinerte Technik der Rechtsanwendung“ gelobt worden.
2.2 Die Weite des Spielraums für die Theorien im japanischen StGB Die Vorschriften im AT des StGB in Bezug auf die Straftatlehre sind nur Rechtfertigungsgründe (rechtmäßige bzw. legale Berufsausübung [§ 35], Notwehr [§ 36], Notstand [§ 37]) sowie Vorschriften über Vorsatz (§ 38), Schuldfähigkeit (§ 39, 41), Versuch (§§ 43, 44) und Teilnahme (§§ 60–65). Deswegen ist der Spielraum für die Dogmatik sehr breit. Auf dieser Grundlage lässt sich die freie theoretische Entwicklung der Dogmatik gewährleisten. Dazu trägt auch bei, dass die Rechtsbegriffe im allgemeinen abstrakt und weit sind. Das eröffnet die Möglichkeit, die „elastische Auslegung“ weiterzuentwickeln.
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Gustav Emile Boissonade de Fonarbie (1825–1910); er kam 1873 nach Japan und verließ Japan 1895. Übrigens kamen aus Deutschland z.B. Albert Mosse, Ottmar von Mohl (Diplomat: 1846–1922) und Hermann Roesler (1834–1894) als Rechtswissenschaftler nach Japan. Roesler hat die Meiji-Verfassung entworfen. Ein Zivilrechtler namens Yatsuka Hozumi sagte damals: „Die Loyalität und Pietät gehen unter, wenn das BGB erscheint“. Das bedeutete, dass das geplante BGB die familiäre Moral des guten, alten Japan zerstören würde.
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Das ist auch der Grund, warum so viele Lehrmeinungen in der japanischen Strafrechtsdogmatik nebeneinander vertreten werden. Die deutschen Theorien haben deswegen eine genügende Einflussmöglichkeit auch ohne Kontextwechsel.
2.3 Japanisierung der deutschen Theorien Japan ist ein Land des Imports, gleichzeitig aber auch ein Land der Umformung: Das alte StGB vom 1879 war schon nicht mehr nur das aus Frankreich rezipierte Gesetz, sondern bereits das „japanisierte StGB“. Es hat sich aus der Diskussion zwischen dem Verfasser, Boissonade, und den japanischen Mitgliedern des Entwurfkomitees im Gesetzgebungsprozess des StGB ergeben4. Trotzdem ist das erste europäisierte StGB wegen seines zu liberalistischen und seines für das Staatswesen Japans nicht geeigneten Charakters schon gleich nach seinem Inkrafttreten kritisiert worden5. Demgegenüber ist die Notwendigkeit betont worden, dass es eines StGB bedürfe, das die Sozialverteidigung gegen die steigende Kriminalität verwirklichen könne. Die moderne Schule in Deutschland bzw. in Italien wurde in Japan importiert, wobei sie am Anfang so verstanden wurde, dass die Verbrechensbekämpfung durch Erhöhung der Strafe verwirklicht werden könne. Das geltende StGB von 1907 wurde von der damaligen deutschen modernen Schule beeinflusst. Der Unterschied zum deutschen StGB liegt darin, dass das japanische StGB sehr einfache und abstrakte Tatbestände und extrem weite Strafrahmen hatte. Die „Japanisierung“ der deutschen Theorien geschieht bei den verschiedenen Kategorien in der Straftatlehre. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Grundgedanke der Notwehr ist in beiden Strafrechtsdogmatiken aus unterschiedlichen sozialethischen Haltungen heraus wahrscheinlich ein ganz anderer. Ein Autor hat einmal geäußert, dass die Notwehr in der japanischen Judikatur als Entschuldigungsgrund behandelt zu werden scheint. Die sozialethische Einschränkung der Notwehr ist in Japan nicht notwendig. Im Gegenteil wird die Rechtsmaxime: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ als zu hart angesehen. Die konkrete Auslegung der „Angemessenheit“ der Abwehrhandlung6 erfolgt anders als in Deutschland. 4
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Das kann man den Materialien zur Strafgesetzgebung entnehmen: Nippon Keiho Soan Kaigi Hikki (Protokolle des Ausschusses für den Entwurf eines Japanischen Strafgesetzbuchs), 1976–77, Bd. 1–4. In der Tat wurde das alte StGB als ohnmächtig wegen seiner Prägung durch das Vergeltungsstrafrecht gegenüber der damals ansteigenden Kriminalität angesehen. Die japanische Notwehr-Vorschrift verwendet den Begriff der „Angemessenheit“, die sich im Strafrechtsreform-Entwurf von 1927 findet. Demgegenüber wird im geltenden
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2.4 Veränderung der rezipierten Theorie innerhalb der unveränderten herrschenden Lehre Eine Reform der Kriminalpolitik mit Auswirkung auf das japanische StGB ist ganz selten geschehen7. Deshalb ist der Einfluss der deutschen Theorie auf die dogmatische Ebene beschränkt. Aber die herrschende Meinung hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg einen festen Platz. Deswegen gibt es zwei Arten der Erforschung der deutschen Dogmatik: Die eine bezweckt nur eine rechtsvergleichende Forschung. Die zweite bezweckt, die deutsche Theorie für die Auslegung japanischer Rechtsnorm zu verwenden. Auch beim zweiten Zweck werden die deutschen Theorien manchmal ohne den erforderlichen Kontextwechsel vertreten. Im Grunde genommen kann man sagen, dass die neue deutsche Theorie heutzutage keinen Einfluss mehr auf die herrschende Meinung in Japan hat, sondern nur hinweisende Informationen liefert. Die Lehrmeinungen werden unter den Wissenschaftlern von Lehrern auf die Schüler übertragen8. Wenn man die oben erwähnten Grundzüge der japanischen Art der Rezeption zusammenfasst, so scheinen sich gewisse Widersprüche zu ergeben. Das lässt sich wie folgt erklären: Will man die Norm der sozialen Wirklichkeit anpassen, so ist es besser, wenn die Strafvorschriften abstrakter und weiter sind. Reicht dies jedoch noch nicht aus, so muss man den Gesetzestext „elastisch“ auslegen. Das gilt auch für die rezipierten Theorien: Die herrschende Meinung braucht man nicht zu ändern, sondern nur deren Inhalt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Adäquanztheorie. Man sagte: Man muss sie nicht durch die objektive Zurechnung ersetzen, sondern braucht nur den Inhalt der Adäquanztheorie mit den Maßstäben auszulegen, die durch die objektive Zurechnung entwickelt worden sind. Die deutschen Theorien haben die Funktion, die Lücken durch vertiefte Forschungen zu ergänzen9.
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deutschen StGB der Begriff „Gebotenheit“ verwendet (§ 32 Abs. 1). Vgl. Yamanaka, Seitoboei no Genkai (Grenzen der Notwehr), 1984, S. 251 ff. Es gibt freilich einige Sondergesetze zum Strafvollzug und zur Behandlung der Gefangenen. Sie beruht darauf, dass die Studenten selten lange im Ausland studieren. Doktoranden sind mehr oder weniger vom Doktorvater in Japan abhängig. In Japan erforscht ein junger Wissenschaftler die neuen deutschen Theorien bezüglich eines Themas oder zweier Themen. Spätestens wenn er über 40 Jahre alt ist, erforscht er nicht mehr die deutschen Theorien, sondern nur noch japanische. Er lässt seine Schüler die deutschen Theorien studieren oder schickt eventuell seine Schüler nach Deutschland. Indirekt durch seine Schüler erlangt er dann die Kenntnisse von deutschen
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2.5 Zusammenhang der politische Ideologien und der Dogmatik In Japan war die ideologische Auseinandersetzung in der Rechtswissenschaft, vor allem in der Strafrechtswissenschaft in der 60er Jahren sehr stark. Das dauert bis heute an. Diese Ideologie beeinflusst die Strafrechtsdogmatik. Die Verbindung zwischen der Ideologie und der Strafrechtsdogmatik ist auch in der Strafrechtswissenschaft vor dem Zweiten Weltkrieg wahrzunehmen. In der Strafrechtswissenschaft vor dem Zweiten Weltkrieg lässt sich die klassische Schule als moralistisch oder liberalistisch bezeichnen und die moderne Schule als wissenschaftlich und politikorientiert bezeichnen. Aber beide Schulen waren gerade vor dem Weltkrieg nicht unbeeinflusst von Politik: Wenn man in dieser Zeit die Einflüsse der deutschen Lehre beobachtet, so kann man die Einflüsse der nationalsozialistischen Strafrechtsideologie erkennen. Z.B. Kameji Kimura10, der ein Repräsentant der modernen Schule von damals war, führte nationalsozialistische Strafrechtgedanken in Japan ein. Eiichi Makino11, der Gründer der japanischen modernen Schule verneint das Gesetzlichkeitsprinzip, weil es nur eine Ideologie aus dem Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts sei. Seiner Erkenntnis nach existierte damals schon der Wohlfahrtsstaat. Deswegen brauche man kein Gesetzlichkeitsprinzip mehr. Darin lässt sich auch die Nazi-Ideologie wahrnehmen. Andererseits hat der Repräsentant der klassischen Schule Seiichiro Ono12 seine moralistischen Strafrechtsgedanken mit buddhistischen Gedanken und sogar mit dem Tennoismus verbunden. Der Tenno sollte nach ihm das Zentrum der japanischen Staatsmoral sein. Der Titel seines Buches hieß „Die selbstbewusste Entwicklung der japanischen Rechtsgedanken“ (1942). Ono hatte auch nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Einfluss auf Strafrechtsreform, weil er lange Sonderberater des Justizministeriums war.
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Theorien. Deswegen entsteht das nicht zu erwartende Missverständnis. Es kann sogar passieren, dass dieses Missverständnis eine herrschende Meinung produziert. Kameji Kimura (1897–1972) gehörte eigentlich zur modernen Schule. Er war Schüler von Makino. Er hat zusammen mit anderen ein Buch herausgegeben: Sein Titel war „Nationalsozialistische Gesetze“ (1934). Man kann ihn jedoch als einen Opportunisten bezeichnen, weil er nach dem Zweiten Weltkrieg der Anhänger der finalen Handlungslehre wurde. Eiichi Makino (1878–1970) war schon in Meiji-Zeit Assistenzprofessor für Kriminalrecht an der Kaiserische Universität Tokyo. Er war Anhänger des sozialen Evolutionismus. Seiichiro Ono (1891–1986) sah das Strafrecht als Instrument zur Verwirklichung der Moral an. In das Zentrum der Moral war während des Krieges nach Ono der Tenno zu platzieren.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg war anfänglich, d.h. bis Ende der 50er Jahre, der Schulenstreit noch aktuell. In den 60er Jahren ist jedoch der ideologische Streit zwischen dem Konservativismus und dem Reformismus stärker als der alte Schulenstreit geworden. Das Begriffspaar des Handlungsunwerts und des Erfolgsunwerts spiegelte die politische Tendenz: Jener entspricht dem Konservatismus bzw. Moralismus und dieser dem Liberalismus bzw. Marxismus. Dieser Entsprechungszusammenhang gilt nicht in Deutschland, sondern nur in Japan. Darin besteht der Kontextwechsel zwischen Ideologie und Dogmatik in Deutschland und in Japan.
3. Wandlung der rezipierten Theorien 3.1 Kontinuität der Dogmatik und ideologischer Kontextwechsel Der politische Teil der strafrechtlichen Gedanken ist nach der neuen demokratischen und liberalistischen Verfassung modifiziert worden, aber die Dogmatik wurde von der neuen Verfassung fast nicht beeinflusst, weil sie von politischen Gedanken relativ unabhängig war. Der Streit zwischen der modernen Schule und der klassischen Schule bestand weiter. Der kriminalpolitische Teil der modernen Schule zielte auf eine große Änderung. Die Straftatlehre der modernen Schule wurde deswegen kritisiert, weil sie zu subjektivistisch war. Sowohl die unbegrenzte Sozialverteidigung als auch die subjektivistische Straftatlehre entsprachen nicht dem Liberalismus, der Demokratie oder der Rechtsstatlichkeit der neuen Verfassung. Demgegenüber ist die klassische Schule in den moralistischen Zweig13 einerseits und den liberalistischen Zwei14 andererseits gespalten: Die moralistische Auffassung hat freilich vom Tenno-Zentralismus Abschied genommen. Der Liberalismus ist teilweise mit dem Marxismus einhergegangen. Ausgangspunkt der Strafrechtsdogmatik war die deutsche Dogmatik vor dem 2. Weltkrieg: Von der Seite der klassischen Schule waren die Lehre von Binding, Birkmeyer, der Kommentar von Frank, die Lehre von M. E. Mayer oder das Lehrbuch von Mezger am meisten gelesen. Der Schüler von Ono war Shigemitsu Dando15, der in jener Zeit der Repräsentant der klassischen Schule 13 14 15
Außer Ono ist der Name Tadashi Uematsu (1906–1999) zu nennen, der früher Strafverteidiger war. Als ein Repräsentant für die liberalistichen Schule ist der Strafrechtsgedanke von Yukitoki Takigawa (1891–1962) zu nennen. Shigemitsu Dando (*1913) ist der Autor von den nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentativen Lehrbüchern zum Strafrecht (AT, BT) und zur Strafprozessordnung.
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in Japan war und seine Persönlichkeitsschuldtheorie16 entwickelt hat. Nach den 60er Jahren galt die Systematik von Baumann als theoretischer Hüter der klassischen Straftatlehre.
3.2 Finale Handlungslehre In den 50 er Jahren ist die finale Handlungslehre von Hans Welzel in Japan eingeführt worden. Die jungen Strafrechtler von damals haben nach der neuen Dogmatik gedürstet. Der Name Yasuharu Hiraba und Taira Fukuda sind als Finalisten zu nennen. Die Übersetzung von Welzels „Das neue Bild des Strafrechtssystems. Einfuehrung in das finale Handlungslehre“ (1962)17, wurde auch von den damaligen Studenten gelesen. Die finale Handlungslehre war die erste neue deutsche Lehre, mit der sich die Strafrechtler von damals auseinander setzen mussten, unabhängig von ihrer Zustimmung oder Ablehnung. Die japanischen Finalisten waren jedoch nicht so extrem wie Armin Kaufmann. Man kann sie vielleicht mit Hans Joachim Hirsch vergleichen. Der Handlungsunwert wird in Japan auch nicht so extrem vertreten wie von Zielinski oder Struensee.
3.3 Liberalistische Strafrechtslehre In den 60er Jahren sind die liberalistischen Strafrechtsgedanken18 nach der politischen Tendenz von damals sehr einflussreich geworden. Ihre gemeinsame Grundlage liegt in folgendem: Sie sieht den idealen Zustand darin, dass die Strafrechtslehre die Nicht-Bestrafung bezweckt. Der Zweck des Strafrechts liegt nicht in der Verbrechensprävention, sondern darin, die Rechte des Täters zu verteidigen. Die Existenz des Staates ist schon an sich ein notwendiges Übel. Die Strafrechtsdogmatik hat bloß den Zweck, die Macht des Staates zu begrenzen. Dogmatisch ist sie am Objektivismus und am Subsidiaritätsprinzip des Rechtsgüterschutzes orientiert. Die positive Rolle der Kriminalpolitik ist bei der Resozialisierung und auch bei der Generalprävention nicht zu berücksichtigen.
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Dandos Lehre von der Persönlichkeitsschuld ist mit Mezgers Lehre von der Lebensführungsschuld und mit Bockelmanns Lehre von der Lebensentscheidungsschuld einhergegangen. Übersetzt von Taira Fukuda / Otsuka Hitoshi; Hans Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, Einführung in das finale Handlungslehre, 1962. Als repräsentativ ist die Strafrechtslehre von Kenichi Nakayama (1927–2011) zu nennen.
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Diese Auffassung hat jedoch keine eigene Dogmatik entwickelt. Ihre dogmatischen Eigenartigkeiten lassen sich nur im klassischen Straftataufbau des 19. Jahrhunderts sehen. Ihre Waffe zur Verbrechensbekämpfung in der modernen komplexen Gesellschaft ist nur der Revolver aus dem 19. Jahrhundert. Sie hat kein eigenes System des Aufbaus der Straftat entwickelt, sondern nur die objektivistische Strafrechtstheorie im Lichte des Liberalismus und der Demokratie wiederzubeleben versucht. Sie hat nur neuen Wein in die alten Schläuche hineingegossen19.
3.4 Funktionalistisch-kriminalpolitische Strafrechtstheorie In der japanischen Strafrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hat ein Strafrechtler den Paradigmenwechsel in der Strafrechtsdogmatik vollzogen. Es waren Ryuichi Hiranos Strafrechtsgedanken20. Der Ausgangspunkt der Strafrechtslehre von Hirano war die sozialwissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit des Rechts und die Funktionsanalyse der Norm21. Hinsichtlich des letzteren Punktes ist Hiranos Methode, die Strafrechtsnorm von ihren Funktionen her zu analysieren, nämlich den Bürgern die Freiheit zu gewährleisten, gleichzeitig den Rechtsgüterschutz zu bezwecken und damit die Straftatprävention zu verwirklichen. D.h. das Strafrecht hat nicht nur die Funktion, seinen materiellen Zweck, also die Straftatvorbeugung, innerhalb des formellen Rahmens des Gesetzlichkeitsprinzips zu verwirklichen, sondern nach seinen Gedanken gibt es „das materielle Bestrafungsbegrenzungsprinzip auch beim Strafrecht und der Strafe an sich“. Der Grundsatz der Gewährleistung der Menschenrechte oder das Subsidiaritätsprinzip im Strafrecht sind die aus teleologischer Betrachtung zu gewinnenden Grundsätze, die von den Funktionen des Strafrechts im gesamten Instrumentarium der sozialen Kontrolle abgeleitet werden können. Sie sollten als ein dem Strafrechtssystem inne wohnendes Beschränkungsprinzip gestaltet werden. Die funktionelle Betrachtungsweise von Hirano will dem „Systemdenken“ das „Problemdenken“ vorzuziehen22. Das Problemdenken ist die auf die Problemlösung gerichtete, praktische Denkweise: zuerst ist zu überprüfen, ob in der 19 20 21 22
Vgl. Yamanaka, Die Strafrechtsdogmatik von Dr. Ryuichi Hirano, Jurist Nr. 1281, 2004, S.48. Er war in 1920 geboren und 2004 gestorben. Zu Persönlichkeit und Werk vgl. Zeitschrift Jurist Nr. 1281, (vom 15.12.2004). Vgl. Yamanaka, a.a.O., Jurist Nr. 1281, S. 50. Dass er diese Methode (Topik) aufgegriffen hat, ist ein Zeichen dafür, dass er sich auch für die deutsche Rechtsphilosophie interessiert hat.
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Gesetzgebungslehre oder auch in der Auslegungslehre das Ergebnis, das aus der Problemlösung hervorgeht, zufriedenstellend ist, und danach ist die Geltung oder Adäquanz des Ergebnisses, vom systematischen Kontext getrennt, in verschiedenen rechtspolitischen Hinsichten zu bestätigen. Die große Bedeutung von Hiranos Funktionalismus liegt darin, dass er die japanische Strafrechtswissenschaft von der deutschen, in der die ontologische bzw. systematische Denkweise vorherrschend war, hin zur amerikanischen Methode, in der die empirische bzw. funktionalistische Methode vorherrschend war, geführt hat. Seine Absicht ging somit dahin, eine Strafrechtswissenschaft, die auf das kriminalpolitische Ziel ausgerichtet ist, zu begründen. Hirano hat in den 70er Jahren als Führer der „japanischen AlternativentwurfGruppe“ den Reformentwurf von 1974, der vom Justizministerium allzu sehr moralisch konzipiert wurde, kritisiert. Sein grundsätzlicher Standpunkt war die Befreiung des Strafrechts von Moral, Dekriminalisierung und Aufbau eines kriminalpolitisch effektiven Strafsystems. Er war die führende Person im Strafrechtlerkreis. Er erscheint vergleichbar mit Claus Roxin im Deutschland der 70er oder 80er Jahre.
3.5 Handlungsunwert oder Erfolgsunwert Seit den 70er Jahren hat sich die Strafrechtswissenschaft idealtypisch in das Präventionsstrafrecht und das liberale Strafrecht gespalten. Die Spaltung kommt in der Konfrontation zwischen den Schulen vom Handlungsunwert und vom Erfolgsunwert zum Ausdruck. Das Begriffspaar Handlungsunwert / Erfolgsunwert ist nicht nur zentral für die Straftatlehre, sondern auch das Kriterium, nach dem die Strafrechtslehre ideologisch ausdifferenziert ist23. Seit den 90er Jahren ist die Zeit des Kalten Kriegs beendet. Aber in der japanischen Strafrechtswissenschaft dauert der Kalte Krieg zwischen der Handlungsunwertschule und Erfolgsunwertschule noch an.
4. Identität und Abweichung bei der einzelnen Kategorien in der Straftatlehre Am Schluss meines Referates sind einige wichtige Kategorien des Straftataufbaus hinsichtlich der Rezeption und Abweichung von der deutschen Lehre zu überprüfen. 23
Deswegen benutze ich auch die Ausdrücke „Handlungsunwert- und ErfolgsunwertSchule“.
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4.1 Tatbestandslehre Der Tatbestand ist nicht nur der Unrechtstatbestand, sondern auch der Schuldtatbestand. Der Tatbestand ist auch ein schuldhafter Handlungstypus. Meiner Meinung nach hat diese Auffassung keinen Sinn, weil tatbestandliche Handlungen nicht das Handeln von schuldfähigen Menschen voraussetzen. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ist eine Mindermeinung. Durch den Objektivismus beim Straftataufbau wird der Tatbestandsvorsatz nicht anerkannt. Der Vorsatz gehört nach dieser Auffassung immer noch nur zur Schuld.
4.2 Lehre von der Unterlassungsdelikten Es gibt keine Sondervorschrift für die unechten Unterlassungsdelikte wie den § 13d StGB. Die Diskussion über die Unterlassungsdelikte konzentriert sich auf den Entstehungsgrund der Handlungspflichten24. Neuerdings ist von der Teilnahme als Unterlassungsdelikt, vor allem von Beihilfe durch Unterlassen zur Täterhandlung durch Tun die Rede, nachdem einige untere Instanzen darüber entschieden haben25.
4.3 Kausalität Bei der Bedingungstheorie (Äquivalenztheorie) ist die Auffassung nicht selten, nach der hypothetische Ersatzursachen zu berücksichtigen sind. Der sog. epidemiologische Kausalitätsbegriff26 als generelle Kausalität spielt bei der Umweltkriminalität eine wichtige Rolle. Als Beschränkungstheorie der Äquivalenztheorie ist die Adäquanztheorie herrschende Meinung. Der Oberste Gerichtshof hat einmal auf die Adäquanztheorie Bezug genommen. Aber er hat seit langem vielmehr den Gefahrrealisierungsgedanken herangezogen. In der Wissenschaft ist die Lehre von der objektiven Zurechnung dabei, Aufmerksamkeit zu gewinnen27. 24
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Yamanaka, Entwicklung und Ausblick der Unterlassungsdogmatik in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Szwarc / Wasek (Hrsg.), Das erste deutsch-japanischpolnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von HumboldtStiftung, 1998, S. 109 ff. Vgl. Yamanaka, Beihilfe durch Unterlassung, Gendaikata Hanzai no Shomondai (Festschrift für Hiroshi Itakura), 2004, S. 93 ff. Vgl. Yamanaka, Umweltkatastrophen, Massenprozesse und rechtlicher Ökologieschutz in Japan, in: Lorenz Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 1991, S. 105. Vgl. Yamanaka, Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Fritz Loos / Joerg-Martin Jehle (Hrsg.), Bedeutung der
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4.4 Rechtfertigungsgründe Das japanische StGB hat für die Rechtfertigungsgründe28 nur drei Vorschriften, nämlich die gesetzmäßige und berufsmäßige Handlung (§ 35), Notwehr (§ 36), und Notstand (§ 37). Darunter wird § 35 als eine allgemeine Vorschrift für die Rechtfertigungsgründe angesehen. Das deutsche StGB kennt keine „berufsmäßige Handlung“ als Rechtfertigungsgrund. Diese Vorschrift ist ähnlich wie im schweizerischen StGB29. Bei der Diskussion über die Notwehr hat sich „die Rechtsbewährung“ als ein Grundprinzip allmählich in der Wissenschaft eingebürgert. Bei der Auslegung der Abwehrhandlung wird die Anforderung der „Angemessenheit“, die im Entwurf von 1925 (§ 21) in Deutschland vorgeschlagen wurde, hineininterpretiert. Was den Notstand anbetrifft, so gibt es drei Theorien: Rechtfertigungsgrundtheorie (h.M.), Entschuldigungsgrundtheorie und Differenzierungstheorie. Die letztere Theorie folgt den deutschen Vorschriften (§§ 34, 35) im StGB.
4.5 Irrtumslehre Beim Irrtum über konkrete Tatsachen ist die Abstrahierungstheorie im Gegensatz zu Deutschland die herrschende Meinung in Japan. Die Konkretisierungstheorie ist in Japan immer noch Mindermeinung, obwohl sie seit 20 Jahren vermehrt vertreten wird. Beim Irrtum über den Kausalverlauf30 gibt es Streit zwischen der Irrtumlösung und der Zurechnungslösung.
4.6 Fahrlässigkeitsdelikte Bei der Fahrlässigkeitsdogmatik werden verschiedene Theorien vertreten31: die Besorgnistheorie, die den Voraussehbarkeitsbegriff ausdehnt, die Aufsichts-
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Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart (Festschrift für Maiwald), 2006, S. 57 ff. Besonders zu den medizinische Eingriffen vgl. Yamanaka, Rechtfertigung und Entschuldigung medizinischer Eingriffe im japanischen Strafrecht, in: Eser / Nishihara (Hrsg.) Rechtfertigung und Entschuldigung IV, Max-Planck-Institut, Bd. 48, 1993, S. 189 ff. § 32 des schweizerischen StGB von 1937 lautet: „Die Tat, die das Gesetz oder eine Amts- oder Berufspflicht gebietet, oder die das Gesetz für erlaubt oder straflos erklärt, ist kein Verbrechen oder Vergehen“. Vgl. Saku Machino, Berufsmäßige Handlung als Unrechtsausschließungsgrund (Festschrift für Dando), Bd. 1, 1983, 201 ff. Vgl. Yamanaka, Ein Beitrag zum Problem des sog. „Dolus Generalis“ – Kritische Erörterung der bisherigen Theorien –, Kansai University Review of Law and Politics No. 3 (1982), S. 1 ff. Vgl. Yamanaka, Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), S. 352 ff.
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fahrlässigkeitstheorie, nach der der Topmanager in Unternehmen bei Großbrandfällen strafrechtliche Verantwortung tragen soll. In Japan ist die Fahrlässigkeitsdogmatik hoch entwickelt, weil viele große Katastrophen wie Umweltschäden, Brandkatastrophen oder Gasexplosionen geschehen sind.
4.7 Schuld Die Zumutbarkeit wird als außerrechtlicher Schuldmaßstab ausgelegt. Sie hat im allgemeinen keine Basis in Vorschriften. Deswegen ist sie in der Judikatur schwer aufzufinden. In diesem Sinne ist der normative Schuldbegriff überwiegende herrschende Meinung.
4.8 Versuch Bei der Versuchslehre gibt es in Japan keine Vorschrift wie § 23 Abs. 3 dt. StGB. §43 regelt nur: „Wer die Tatausführung der Straftat anfängt und sie nicht vollendet, kann milder bestraft werden“. Bei dem untauglichen Versuch ist die konkrete Gefährdungstheorie die herrschende Meinung. Aber die objektivistische Theorie ist stärker als die subjektivistische Meinung. Was den Anfang der Tatausführung32 anbelangt, so wird die konkrete Gefährdungstheorie nicht selten vertreten. Die Zeitpunkte des Anfangs der Tatausführung und des Versuchsbeginns sind danach aufgespalten. Zum Rücktritt vom Versuch gibt es eine ähnliche Diskussion33 wie in Deutschland.
4.9 Teilnahme In der Teilnahmelehre kommen dem Akzessorietätsprinzip drei Bedeutungen zu34: 1) Abhängigkeit der Strafbarkeit der Teilnahme von der Tatausführung der Haupttat, 2) Abhängigkeit der Straftatart der Teilnahme von der Art der Haupttat, und 3) Abhängigkeit der Strafbarkeit der Teilnahme von der Haupttatstrafbarkeit (Strafgrund der Teilnahme). Wenn der Haupttäter keine Tatausführung anfängt, so ist der Teilnehmer nach Prinzip 1) nicht strafbar. Das zweite Prinzip wird teilweise bejaht und teilweise verneint. Nach der Unab32
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Vgl. Yamanaka, Zum Beginn der Tatausführung im japanischen Strafrecht, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland. Berlin 1989, S. 101 ff. Vgl. Yamanaka, Betrachtungen zum Rücktritt vom Versuch anhand der Diskussion in Japan, ZStW 98 (1986), S. 761 ff. Vgl. Yamanaka, Gedanken zum Akzessorietätsprinzip – Plädoyer für eine japanische Mindermeinung, Páywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Biaáystok 1998, S. 584.
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hängigkeitstheorie müssen der Straftatbestand des Haupttäters und der des Teilnehmers nicht identisch sein. Beim dritten Prinzip ist die Verursachungstheorie herrschende Meinung. Aber die Unrechtsteilnahmetheorie hat auch ihren festen Platz. Die reine Verursachungstheorie ist zwar Mindermeinung, aber nicht so selten wie in Deutschland. Bei der Mittäterschaft stehen die Straftatgemeinschaftstheorie und die Tatgemeinschaftstheorie einander gegenüber. Die Praxis produzierte die Lehre von der Komplottmittäterschaft35, nach der auch der Beteiligte, der keine Tatausführung begeht, Mittäter sein kann. Die Theorie ist heutzutage herrschende Meinung auch in der Wissenschaft. Die Rechtsprechung verwendet den Begriff der „eigenen Straftat oder fremden Straftat“ nach der subjektiven Theorie.
5. Fazit In der japanischen Strafrechtswissenschaft wird die deutsche Strafrechtswissenschaft zum Rechtsvergleich erforscht, und zugleich auch als ergänzende Argumentation bei der Auslegung des japanischen StGB benutzt. Dabei wird der Kontextwechsel teils beachtet, teils ohne Bewusstsein missachtet. Einerseits ähnelt die Strafrechtsdogmatik der theoretischen Physik. Ohne Kontextwechsel gilt sie überall. Andererseits wird sie als Rechtswissenschaft aufgefasst, die in der konkreten Gesellschaft und im Rechtssystem verwurzelt ist. Die „Rezeption“ geschieht eigentlich als Übertragungsvorgang von den kulturell Überlegenen zu den Unterlegenen36. Aber es ist auch wahr, dass das Übertragene für die soziale Wirklichkeit des Landes passend gemacht werden muss. Mit dieser Abweichung wird ein anderes Modell im rezipierenden Land gestaltet. Wenn man die Strafrechtssysteme weltweit ansieht, gibt es verschiedene Modelle, die sich in allen Ländern spezifisch entwickelt haben. Im Gebiet der Strafrechtsdogmatik spielen zwar kulturelle oder soziale Unterschiede eine geringere Rolle als in anderen Gebieten. Aber weil es keinen monistischen Maßstab geben kann, ist die Vorstellung eines überlegenen Systems unange-
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Yamanaka, Moderne Erscheinungsformen der Tatbeteiligung mehrer unter besonderer Berücksichtigung von organisierter Kriminalität wie auch krimineller Aktivitäten von Organisationen, Komplott-Mittäterschaft als Mittel zur Bekämpfung der organisierter Kriminalität im japanischen Strafrecht?, in: Eser / Yamanaka, Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 280 ff. Gabriel de Tarde, Gesetze der Nachahmung, (1890) 2003.
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bracht. Deshalb wird man in Zukunft den Begriff der Rezeption durch die Vorstellung wechselseitiger Einflüsse zu ersetzen haben.
§ 3. Ryuichi Hiranos Strafrechtslehre* Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts in Japan
I. Einleitung Die japanische Strafrechtswissenschaft hätte nicht ihre gegenwärtige Gestalt, wenn es diese Persönlichkeit nicht gegeben hätte. Gerade Hirano hat die „funktionale Betrachtungsweise“, die sich auf die empirische Rechtswissenschaft und Kriminalpolitik stützte, entwickelt und das „Problemdenken“, mit dem das formalistische und statische „Systemdenken“ durchbrochen werden soll, als eine neue Methode der Strafrechtswissenschaft vorgeschlagen. Diese Methode hat der traditionellen rechtsphilosophischen Methode der Strafrechtswissenschaft starke Impulse zu Diskussionen über die Gesetzgebung und die strafrechtliche Dogmatik gegeben. Die gegenwärtige Strafrechtswissenschaft in Japan kann nicht betrieben werden, ohne sich mit seinem wissenschaftlichen Erbe auseinanderzusetzen. Sein Strafrechtsdenken ist, so gesehen, ein Prüfstein, wenn der Strafrechtswissenschaftler von heute seine eigene Strafrechtsdogmatik begründen will, unabhängig davon, ob er die Thesen Hiranos annimmt oder sie völlig ablehnt. Ich halte ihn für den größten Strafrechtswissenschaftler in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Beitrag versucht Hiranos1 Strafrechtsdenken unter die Lupe zu nehmen und damit einen wichtigen Impuls der Entwicklungsgeschichte der japanischen Strafrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschreiben2. *
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Dieser Beitrag basiert auf meinem auf Japanisch geschriebenen Aufsatz „Hirano Ryuichi Hakase no Kethoron“, in: Jurist Nr. 1281, S. 43–57, der aus Anlass seines Todes im Jahre 2004 geschrieben worden ist Über die Persönlichkeit von Hirano vgl. Koya Matsuo, Vorstellung der Werke von Hirano – anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Preis für Verdienste um moderne Kultur in der Präfektur Kumamoto für das Jahr 1994, in: Jurist Nr. 1281, S. 31 ff.; vgl. auch das Gespräch über die „Persönlichkeit und wissenschaftliche Leistung von Ryuichi Hirano“ von Koya Matsuo / Yoshiko Iwai / Fusaki Odanaka / Tadoahi Sakamaki / Noriyuki Nishida / Shozo Horiuchi / Atsushi Yamaguchi, in: Jurist Nr. 1281, S. 6–29. Als bisherige Literatur zu den wissenschaftlichen Leistungen Hiranos vgl. Kenichi Nakayama, Gendai Keihogaku no Kadai (Die Aufgaben der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft), 1970, S. 106 ff.; Junichs Kida, Strafrechtswissenschaft als eine empirische Rechtswissenschaft – die Strafrechtstheorie von Professor Ryuichi Hirano, in: Aichi Universität Hokei Ronschu Nr. 65, 1971, S. 35 ff.: Nakayama, Keiho no Kihon Shiso (Grundgedanken des Strafrechts), ergänzte Auflage 2008, S. 281, 162 ff.;
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II. Die strafrechtswissenschaftliche Grundposition Hiranos – ihre Entstehung und gegenwärtige Bedeutung 1. Der Ausgangspunkt der Strafrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan Die Strafrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war am Anfang vom Spannungsverhältnis zwischen dem Wertewechsel im Recht unter der neuen Verfassung und der Kontinuität der Verbrechenslehre und Straftheorie seit der Vorkriegszeit gekennzeichnet. Der Gegensatz zwischen der modernen und der klassischen Schule war noch das Grundschema der Strafrechtslehre3, obwohl doch die Aufgabe der damaligen Strafrechtswissenschaft darin bestand, eine Theorie zu entwickeln, die auf die Aufnahme der neuen Rechtswerte des Liberalismus und der Demokratie in der Lehre abzielte. In der Realität wurden die Lehren der Vorkriegszeit fast unverändert durch dieselben Strafrechtler weiter vertreten. Die Strafrechtslehre von Yukitoki Takigawa4, der schon vor dem Krieg eine liberalistische Theorie entwickelt hatte, war ein Modell für liberalistische Theorien nach dem Zweiten Weltkrieg5. Aber auch bei ihm ist der Wertewechsel nicht konstruktiv in die Strafrechtsdogmatik eingegangen, sondern nur der Wertewechsel oder das liberalistische Strafrechtsdenken von der Außenseite der Dogmatik her als Antithese den altmodischen totalitären Strafrechtstheorien gegenübergestellt worden. Die Hoffnung auf den möglichen großen Systemwechsel der Verbrechenslehre wurde vielmehr in der finalen Handlungslehre erblickt, die nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen neuen Zeitschriften und Monogra-
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Nakayama, Hirano Keiho no Kiseki (Die Strafrechtslehre von Hirano aus heutiger Sicht), in: Horitsu Jiho, Bd. 76, Heft 12, 2004, S. 66 ff. Über die Ansätze der Strafrechtstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Ken Naito, Historischer Überblick über die Strafrechtstheorien, in: Kikkawa u.a. (Hrsg.), Die gesamten Studien zur Dogmengeschichte der Strafrechtstheorien, 1994, S. 707 ff. Er ist bekannt durch die sog. „Takigawa-Affäre“ von 1933. Es ging um das Werk „Lesestock Strafrecht“ (Keiho Tokuhon) von Takigawa (1891–1962), der Strafrechtsprofessor an der Kaiserlichen Universität Kyoto war. Die Veröffentlichung des Buches wurde durch das Innenministerium wegen seiner Meinung zum Hochverrat bzw. Ehebruch verboten. Das Kultusministerium hat als Sanktion Takigawa suspendiert. Aus Protest sind alle Professoren der Juristischen Fakultät an der Universität Kyoto zurückgetreten. Vgl. Nailo, Die Entwicklung der „klassischen“ Strafrechtstheorien in Japan, in: Festschrift für Ryuichi Hirano, Bd. 1, 1990. S. 2 ff., 11 ff., 20; vgl. auch Yamanaka, Wandlung der Strafrechtsdogmatik nach dem 2. Weltkrieg – Zugleich Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatlehre, in: Jehle / Lipp / Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, 2008, S. 173 ff.
§ 3. Ryuichi Hiranos Strafrechtslehre
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phien oder Lehrbüchern aus Deutschland erstmals nach Japan importiert wurde. Bei den Rechtswerten und der Kriminalpolitik wurde der Systemwechsel nur auf der Grundlage jener Theorien durchgesetzt, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt worden waren. Die Berücksichtigung der kriminalpolitischen Gedanken im Verbrechenssystem von damals lässt sich dahin beschreiben, dass man in Erkenntnis der bestehenden theoretischen Situation lediglich die Idee der sittlichen Vergeltung einerseits und die Idee der Sozialverteidigung und Erziehungsstrafe andererseits einander gegenüberstellte.
2. Prolegomena zum Strafrechtskonzept Hiranos Ryuichi Hirano schloss im Jahre 1942 das Studium an der juristischen Fakultät der Kaiserlichen Universität Tokio ab6. Im selben Jahr wurde er als Assistent bei Professor Seiichiro Ono an der Kaiserlichen Universität Tokio aufgenommen. Er musste sodann die Wehrpflicht erfüllen und kehrte nach dem Ende des Krieges auf seine Assistentenstelle zurück. 1948 wurde er Assistenzprofessor an der Universität Tokio. Somit hat seine wissenschaftliche Karriere praktisch erst nach dem Kriegsende begonnen7. Als strafrechtswissenschaftliche Abhandlungen von Hirano lassen sich am Anfang nennen: „Eine Überlegung zur Hehlerei“8, ein Versuch, die Strafrechtssoziologie in die Dogmatik einzuführen, „Über den Vorsatz“9, unter dem
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Er ist am 29. September 1920 in Kumamoto auf der Insel Kyushu geboren und am 16. Juli 2004 in Tokyo gestorben. Sein Forschungsaufenthalt in den USA dauerte von 1954 bis 1956. Im Jahre 1957 wurde er zum Professor an der juristischen Fakultät der Universität Tokio ernannt. 1981 ist er Rektor der Universität Tokyo geworden. Er hatte dieses Amt bis 1985 inne. Im gleichen Jahr wurde er emeritiert. In: Keijiho no Riron to Genjitsu (Theorie und Wirklichkeit des Kriminalrechts, Bd. 1), (Festschrift für Seiichiro Ono), 1951, S. 343 ff. Vgl. auch Kriminalsoziologische Betrachtungen der Hehlerei, in: Horitsu Jiho, Bd. 20, Heft 7, S. 15 ff. (1) und (2), in: Hogaku Kyokai Zasshi, Bd. 67, Heft 3, S. 226 ff.. Heft 4, S. 351 ff. Er hat nachher selbst diesen Aufsatz dahin beschrieben, dass er die finale Handlungslehre von Welzel aufgegriffen hat und dass er sich zu dem Gedanken von Welzel, wonach das Recht durch den Grundaufbau des Daseins bedingt wird, hingezogen fühlte. Vgl. Jahresbericht der Forschung und Lehre an der juristischen Fakultät der Universität Tokio, 1975, S. 142. Kenichi Nakayama beschreibt den Aufsatz von Hirano wie folgt: Er hat die Rolle des Wegbereiters der Einführung der finalen Handlungslehre in die japanische Strafrechtswissenschaft gespielt. Trotzdem hat er später eine „Wendung um 180 Grad“ gemacht Vgl. Nakayama, Keiho no Kihonshiso (Grundgedanken des Strafrechts), ergänzte Auflage, 2003, S. 167, S. 180.
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Einfluss des Finalismus geschrieben, und „Rücktritt vom Versuch“10, worin die Frage nach dem Unterschied zwischen beendetem und unbeendetem Versuch und die Frage nach den Voraussetzungen der Rücktrittshandlung zum ersten Mal getrennt diskutiert werden. Danach verlegte er jedoch seinen Forschungsschwerpunkt eher auf das Strafprozessrecht und die Kriminalpolitik11. Seit den 60er Jahren tauchte in der oben geschilderten Situation der Wissenschaft allmählich die eigene Strafrechtstheorie von Hirano in ihrer klaren Gestalt und gleichsam als eine starke Botschaft der strafrechtlichen Methodologie auf12. Er präsentierte eine funktionale Strafrechtswissenschaft, die sich auf die Analyse der gegenwärtigen sozialen Lage gründet. In seinem Aufsatz „Die Zukunft und die Aufgaben des Strafrechts“ von 1960 gelangt er zum Ergebnis, dass eine sog. „empirische Rechtswissenschaft“ und die funktionale Betrachtungsweise notwendig seien. Er betont, dass Erkenntnisse über die Person, welche für die Tat verantwortlich ist, und die empirische Analyse der Funktion der Strafe, die ihr auferlegt werden muss, notwendig seien. Dabei hat er die Richtung seiner zukünftigen Forschungen angekündigt, indem er ausführt, dass die Willensfreiheit „etwas von der Empirie getrenntes Dämonisches“ sei und es sich dabei nicht um „Ja“ oder „Nein“ zur Willensfreiheit handele13. Der Beitrag zur „Funktion des Strafrechts in der Gegenwart“ von 10
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Keijiho Koza (Schriften zum Kriminalrecht), Bd. 2, 1952, S. 403 ff. Vgl. Yamanaka, Chushi Misui no Kenkyu (Studien zum Rücktritt vom Versuch), 2001, S. 201 ff. Die Rechtsprechung in Deutschland hat 1992 die Theorie angenommen, wonach es für die Unterscheidung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch auf den Zeitpunkt der Rücktrittshandlung ankommt. Vgl. dazu Yamanaka, a.a.O., S. 225. Als einen in deutscher Sprache geschriebenen Aufsatz über den Rücktritt von Versuch in Japan, vgl. Yamanaka, Betrachtungen zum Rücktritt vom Versuch anhand der Diskussion in Japan, ZStW 98, 1986, S. 761 ff. (in: Ders., Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, S. 274 ff. Über Hiranos Meinung vgl. a.a.O., S. 283; zu meiner Kritik vgl. S. 284.). In der Entwicklung des zentralen Gedankens von Hiranos Strafrechtstheorie lassen sich drei Perioden unterscheiden: Erstens die Periode bis Anfang der 50er Jahre, in der der Keim seiner späteren methodologischen Entwicklung gefunden werden kann. Die zweite Periode seit 1955, in der das empirisch-kriminologische Motiv sich durchsetzte, und die dritte Periode seit 1965, in der seine Gedanken über Kriminalpolitik und Straftheorie den Aufbau der Straftat erreicht haben. Vgl. Nakayama, Grundgedanken, (oben Fn. 2), S. 164 ff. Die Frage, ob Hiranos Forschungsaufenthalt in den USA von 1954 bis 1956 seine Gedanken über das Strafrecht geändert hat, ist durch ihn selbst negativ beantwortet. Er schrieb: „Ich bin aus Japan in die USA gekommen, um die Änderung vorzubereiten“ (vgl. a.a.O., in: Jahresbericht für Forschung und Ausbildung, S. 14.). Übrigens hat sich die Strafrechtsdogmatik Hiranos, wie sie nachher weiterentwickelt wurde, auch mit seinem genauen Verständnis der deutschen Strafrechtsdogmatik entwickelt. Jurist Nr. 195, 1960, S. 6 ff. Später wurde dieser Aufsatz mit dem geänderten Titel „Diversifizierung der Kriminalschuld“ in seinem Sammelband „Grundlagen des Straf-
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1965 machte die Methodologie der Strafrechtstheorie Hiranos ganz deutlich, denn hier stellte er die funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts, nach der das Strafrecht ein Mittel der Sozialkontrolle ist, in den Vordergrund14. Die Befreiung des Strafrechts vom Paternalismus und Moralismus und die Subsidiarität des Strafrechts waren damals die aktuellen Aufgaben der Strafrechtswissenschaft. Wenn man diese Aufgaben in die Strafrechtsdogmatik einbringen wollte, war es erforderlich, die Kriminalpolitik in die Strafrechtsdogmatik einzubauen15.
3. Strafrechtsreform Die 70er Jahre waren die Zeit, in der die Frage nach der Strafrechtsreform zum Prüfstein der Strafrechtstheorie wurde. Die Reform des Strafrechts im Ganzen, welche die ideologische und theoretische Überprüfung nach der neuen Verfassung vernachlässigte und durch die staatszentristische Ideologie und den extremen Vergeltungsgedanken16 geleitet wurde, war geradezu anachronistisch17. Hirano bildete aus den Strafrechtlern, die gegenüber dem Entwurf der Strafrechtsreform kritisch waren, die „Forschungsgruppe Strafrecht“. Diese Gruppe entwickelte sich zur Gruppe des Alternativentwurfs. Die liberalen, damals noch einigermaßen jungen Strafrechtler waren sich in der Regel in ihrer Kritik am Entwurf der Strafrechtsreform einig.
4. Vollendung seiner Strafrechtsdogmatik Die Strafrechtsdogmatik von Hirano hat sich zweistufig entwickelt: Die Dogmatik des Allgemeinen Teils ist in seinem zweibändigen Buch „Strafrecht
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rechts“ aufgenommen (S. 89). Hirano selbst hat nie den Terminus „Funktionalismus“ verwendet. Vgl. Hirano, Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), 1994, S. 5. Iwanami, Koza „Gendai Ho“ (Gegenwärtiges Recht), Bd. 11 (Das gegenwärtige Recht und die Strafe), 1985, S. 3 ff. Er wurde in seine Reihe „Grundlagen des Strafrechts“, S. 93 ff. aufgenommen. Vgl. Yamanaka, Strafrecht AT, 2. Auflage 2007, S. 44 ff.; vgl. auch Ders., Perspektiven der Strafrechtsdogmatik, in: Hanzai to Keibatsu Nr. 15, 2002, S. 42 ff. Die Strafrechtsreform nach dem Zweiten Weltkrieg stand unter dem starken Einfluss der Strafrechtsideologie von Seiichiro Ono, der während des Krieges auf Grund seiner buddhistischen Gedanken eine „tenno“istische und „tenno“zentristisch-moralische Ideologie geäußert hatte und nach dem Kriegsende aus dem Amt des Professors an der Universität Tokio entlassen wurde, aber danach lange ein hoher Berater im Justizministerium blieb. Zur grundsätzlichen Kritik vgl. Hogaku Seminar, Sonderheft für die Strafrechtsreform, S. 6 f.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
Allgemeiner Teil“ (erster Band 1972, zweiter Band 1975) enthalten, die aus seiner Aufsatzfolge „Grundlagen des Strafrechts“ hervorgingen, die er in der Zeitschrift „Hogaku Seminar“ seit 1966 veröffentlicht hatte. Die Dogmatik des „Besonderen Teils“ wurde seit 1972 in der Aufsatzfolge „Die Problematik des Besonderen Teils des Strafrechts“ veröffentlicht18. Dadurch wurde das Gesamtbild der Strafrechtswissenschaft von Hirano sichtbar, wobei er die funktionale Betrachtungsweise und das Problemdenken als Leitmotive seiner Wissenschaft aufstellte.
5. Die moderne Gesellschaft und die Strafrechtstheorie Hiranos Unter den Aufgaben des Strafrechts der 60er und 70er Jahre gibt es einen Teil, der bis heute fortdauert, und einen Teil, der sich durch die Veränderung der politischen Regime, der Wirtschaftslage und der Gesellschaft oder auch durch die Globalisierung geändert hat. Die Aufgabe, das Strafrecht vom alten Moralismus bzw. von der alten Ethik zu befreien, verbleibt nur noch als praktische Liquidationsarbeit. Heutzutage ist es vielmehr erforderlich, die neue Moral in der bürgerlichen Gesellschaft auf der Ebene des Verkehrs, der Umwelt, der Informationen und der Wirtschaftsordnung in ihrer Entwicklung zu unterstützen – dies schon deswegen, weil die informelle Sozialkontrolle im allgemeinen sich sehr abgeschwächt hat. Wie kann das Strafrecht, das eigentlich subsidiär und sekundär sein soll, die Verwaltungsregeln, die von der moralischen Flankierung befreit sind, überhaupt flankieren? Wie weit kann es also verwendet werden, um eine Verwaltungsregel als Verhaltensnorm zu verstärken? Auf der Gesetzgebungsebene ist die Kriminalisierung neuer Rechtsgutsbedrohungen in der modernen Risikogesellschaft eine unentbehrliche Aufgabe. Auch das Ausbalancieren zwischen der Resozialisierung der Strafgefangenen und der Wiedergutmachung für die Opfer ist in der mit der Vernetzung eng gewordenen Informationsgesellschaft eine aktuelle Frage. Die Wiedereingliederung des Strafgefangenen in die Gesellschaft sollte durch die Berücksichtigung des Vergeltungsbedürfnisses des Opfers nicht gestört werden. Der pastorale Liberalismus der 60er und 70er Jahre scheint vor einer Veränderung zu stehen. Die funktionale Strafrechtswissenschaft von Hirano steht in dieser Gesellschaft auf dem Prüfstein. Weitere Aufgaben liegen darin zu prüfen, ob das Problemdenken systematisiert werden kann und was für eine Normentheorie für die Verbrechensverhütungsstrafe oder die am Erfolg orientierte Strafrechts18
Vgl. Keiho Gaisetsu (Grundzüge des Strafrechts), 1977. Dieses Lehrbuch ist später erschienen. In ihm behandelt er AT und BT zusammen und gibt einen Überblick über das Strafrecht hauptsächlich durch Erklärung der Rechtsprechung.
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theorie notwendig ist. Ziel der folgenden Betrachtungen ist die Prüfung, was die Strafrechtstheorie von Hirano der Strafrechtswissenschaft von heute hinterlassen hat, sowie die Suche danach, wie sie sich nunmehr weiterentwickeln wird und soll.
III. Strafrechtsmethodologie 1. Die Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit und Funktionsanalyse der Norm Der Ausgangspunkt von Hiranos Strafrechtstheorie liegt in der soziologischen Erkenntnis der Rechtswirklichkeit19 und in der Funktionsanalyse der Norm. Er hat später aus dem Gedächtnis erzählt20, dass „es mir von Anfang an ein großes Anliegen gewesen ist, das Strafrecht soziologisch zu betrachten“. Diese Methodologie lässt sich schon in seiner ersten Abhandlung „Eine Überlegung über Hehlerei“ finden, in der er seine Theorie auf der Analyse der soziologischen Straftattypologie entwickelt. Die „Annahme“ im Sinne des § 256 Abs. l des japanischen Strafgesetzbuch (jStGB)21 hat einen „altmodischen“ (gemeinschaftlichen und feudalistischen) Charakter und Züge der „Begünstigung“. Sie ist eine „Handlung, die am Gewinn der Straftat einen Anteil nimmt“. Dagegen zeigt „Hehlerei“ im Sinne des Absatzes 222 eine gesellschaftliche und moderne Handlungstypologie, wonach die Hehlerei eine Unterstützung für die Verwendung der gestohlenen Sachen durch Austausch bedeutet, wobei die Entwicklung der Tauschwirtschaft vorausgesetzt ist. Daher zeigt die Hehlerei den Charakter der „nachträglichen Beihilfe“. Hirano hat auch in seiner Auffassung dogmatischer Kategorien, bspw. der Schuld, Erkenntnisse der soziologischen Wirklichkeit angewandt. Er schildert dies in seinem oben genannten kurzen Aufsatz über die „Diversifizierung der Kriminalschuld“. Danach konzentriert sich die Kriminalschuld nicht auf einen an die individuelle Willensfreiheit geknüpften Vorwurf. In der modernen Gesellschaft ist sie diversifiziert: In den sozialen Organisationen hat die Schuld von Teilnehmern, Betriebsherren oder juristischen Personen ihr eigenes Gepräge. Die Schuld in der modernen Gesellschaft betrifft nicht die Individu19
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Zum soziologischen Grundverständnis von Hirano vgl. Rechtssoziologie und Kriminalrecht, in: Takeyoshi Kawashima (Hrsg.), Hoshakaigaku Koza (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie), Bd. 3 (Grundlagen der Rechtssoziologie), 1972, S. 74 ff. A.a.O., Grundlagen des Strafrechts, Vorwort, S. 2. Seit der Reform im Jahre 1995 heißt es „Übernahme ohne Entgelt“. Seit der Reform im Jahre 1995 heißt es „Übernahme mit Entgelt“.
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en, die Willensfreiheit haben, sondern wird in Richtung auf die Gruppen von Individuen oder die sozialen Organisationen abgeschwächt. Die Strafrechtswissenschaft steht vor der Aufgabe, eine solche Kriminalschuld theoretisch zu begründen.
2. Funktionale Betrachtungsweise Bis zum Ende der 50er Jahre bedeutete die Strafrechtswissenschaft Strafrechtsdogmatik, und das Interesse richtete sich fast ausschließlich auf den theoretischen Verbrechensaufbau23. Die fast einzige funktionale und kriminalpolitische Seite der Strafrechtsdogmatik lässt sich im Gesetzlichkeitsprinzip finden, indem man dessen formale Seite betonte und der Willkür des Richters vorbeugen wollte. Würde funktionale Betrachtungsweise nur funktionale und effektive Prävention bedeuten, so würde es keinen materiellen Grundsatz zur Einschränkung dieser Funktionalität oder Effektivität geben, und man müsste die Einschränkung in einem formellen Grundsatz wie in der „Typustheorie“24 suchen. Nach Hirano muss man aber darauf achten, „ob es ein eigenes Einschränkungsprinzip auch für das Strafrecht und die Strafe geben kann“25. Die immanenten materiellen Einschränkungsprinzipien wie die Garantie der Menschenrechte oder die Subsidiarität des Strafrechts sind Prinzipien, die durch einen teleologischen Begriffsbau aus der Sicht der Funktion des Strafrechts innerhalb des Gesamtsystems der Mittel der Sozialkontrolle gewonnen werden können. Zu diesen Prinzipien gehören das Rechtsgüterschutzprinzip, das Stufensystem der Verbrechenslehre und auch das Gesetzlichkeitsprinzip. Diese Prinzipien haben nicht nur den Zweck der Verbrechensverhütung, sondern auch die, „dem Strafrecht eigene höhere Zweckmäßigkeit“ zu geben26. Somit ist das Verbrechenspräventionssystem des Strafrechts, das bei verschiedenen Rechtswerten und Rechtssystemen funktioniert, durch die einander gegenüberstehenden materialen Prinzipien immanent gebunden. Diese funktionale Betrachtungsweise ist eine Strafrechtsmethodologie nicht nur für die Dogmatik, sondern auch für die Strafgesetzgebung und die Kriminalpolitik.
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Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), in: Studien zum Kriminalrecht, Bd. 1, 1984, S. 2. Die Typenlehre wurde von Shigemitsu Dando vertreten. Er stützt insbesondere den Tatbestandsbegriff auf diese Typenlehre und sieht den Tatbestand als eine formelle Beschreibung der Tat an. Keiho no kinoteki Kosatsu (Die funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 4. Keiho Soron (Strafrecht AT), 1972, S. 76 ff.
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Dem Strafrecht von damals wurden mit der von Hirano neu eröffneten Perspektive neue Horizonte geöffnet.
3. Problemdenken Die schonungslose Kritik am „Systemdenken“ und die entschiedene Befürwortung des „Problemdenkens“ waren das Mittel zur dogmatischen Umsetzung der funktionalen Betrachtungsweise von Hirano. Er hat den Begriff des Problemdenkens zunächst einmal in einem Aufsatz von Thomas Württemberger gefunden27. Das Gegensatzpaar „Problemdenken“ versus „Systemdenken“ ist mit dem Buch von Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 195328, bekannt geworden. Das „Problemdenken“ fand zuerst eine große Resonanz im Zivilrecht. In den 60er und 70er Jahren ist das Begriffspaar nicht nur in Deutschland, sondern auch unter den Juristen in Japan weithin bekannt geworden. Diese Denkweise beeinflusst bis zu einem bestimmten Grad klar auch die Strafrechtsmethodologie von Claus Roxin29. Das Problemdenken ist eine Denkweise, bei der zuerst überlegt wird, ob das Ergebnis, das als Problemlösung gewonnen werden kann, zufriedenstellend sein kann. Danach wird aus verschiedenen rechts- oder sozialpolitischen Gesichtspunkten (Topoi), die vom systematischen Kontext losgelöst sind, die Geeignetheit des ins Auge gefassten Erfolgs geprüft. Es ist eine praktische Denkweise, die auf Problemlösung abzielt. Im „Vorwort“ seines Strafrechtslehrbuches schreibt Hirano: „Ich habe in diesem Lehrbuch versucht, die Bedeutung, die das einzelne Problem hat, zu analysieren und klar zu machen, wo die wahren Fragen liegen. Ich hatte vor, nicht mit ‘Systemdenken’, sondern mit dem ‘Problemdenken’ das Problem zugänglich zu machen“. Es stellt sich jedoch die skeptische Frage, ob das Problemdenken als eine umfassende strafrechtliche Methodenlehre in der Straftatlehre aufgefasst 27
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Württemberger, Grundlagen des Strafrechts, S. 247; vgl. auch Ders., Zukunft und Aufgaben des Strafrechts, in: Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 257. Hirano zitierte Thomas Würtemberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 1957, S. 11. Nach Würtemberger ist es die „Dialektik“ von beiden, wenn es den mittleren Weg zwischen dem System- und dem Problemdenken überhaupt gibt. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953. Es gibt eine japanische Übersetzung in 5. Auflage, in der Übersetzung von Hideo Uematsu, 1993; vgl. vor allem S. 53 ff. Vgl. Claus Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl., 2006, S. 220, § 7 Rdnr. 56. Zwischen dem Grundkonzept der Strafrechtswissenschaft und der Rolle in der Strafrechtsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg scheint mir bei Hirano und Roxin eine bestimmte Ähnlichkeit oder Parallelität vorhanden zu sein, vor allem hinsichtlich des Strafrechtskonzepts, das an der Kriminalpolitik orientiert ist.
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werden kann und ob es das Systemdenken ersetzen kann30. Diese Methodologie weist viele Probleme auf, wie die Gefährdung der Folgerichtigkeit der Rechtsfindung, der Voraussehbarkeit und der Gleichartigkeit der Beurteilung durch den Richter. Das Problemdenken sollte das Systemdenken nicht ausschließen, fruchtbarer ist die Synthese von beiden. Wenn man diese auf Synthese angelegte Denkweise als Methodologie in die Strafrechtsdogmatik hineinnimmt, so kann man sich eine Methode vorstellen, bei der man unter einer leitenden Idee die verschiedenen Falltypologien als Subkriterien je nach den Fallkonstellationen gestaltet. Bei der Dogmatik von Hirano scheint mir problematisch zu sein, dass das reine Problemdenken mangels Systemdenken manchmal zu kasuistischen Lösungen geführt hat.
IV. Grundlagentheorie des Strafrechts 1. Weicher Determinismus und charakterologischer Schuldbegriff Die Strafrechtsmethodologie von Hirano begann mit dogmatischen Überlegungen zu einer Dogmatik für wirksame Kriminalpolitik, die sich auf das wissenschaftliche rationale Wissen und die soziale Erkenntnis gründet. Diese Überlegungen haben den Zweck, die Schranke der Willensfreiheit zu durchbrechen und die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Willens, durch die wissenschaftliche Kriminalpolitik ermöglicht werden kann, festzustellen. Nach Hirano ist das „Ob“ der Willensfreiheit nicht zu bestimmen, wenn man danach fragt, ob der menschliche Wille determiniert oder nicht determiniert ist, die Frage ist vielmehr, wodurch die Menschen determiniert sind31. Freiheit bedeutet, dass die Handlung ein Erfolg des menschlichen Wollens ist, also nicht durch einen äußeren Zwang verursacht wurde. Dieser weiche Determinismus sieht das „menschliche Wollen als ein Element, das einerseits Gesetzmäßigkeiten folgt, andererseits das ‘Ob’ des Erfolgs bestimmt“32. Mit dieser deterministischen Freiheit wird der Schuldbegriff begründet. Die Freiheit, die durch die Persönlichkeit determinierte Gesetzmäßigkeit zu haben, ist gerade die Grundlage der Schuld. Deshalb wird die Schuld in der Regel desto schwerer, je mehr die Handlung der Persönlichkeit adäquat ist, mit anderen Worten, je adäquater die Handlung den „Zügen“ der normativen Persönlichkeitsschichten ist. Hirano nennt diese Konzeption die „Lehre von der charakterologischen 30 31 32
Über diese Kritiken vgl. Yamanaka, Keiho niokeru kyakkanteki Kizoku no riron (Die Lehre von der objektiven Zurechnung), 1997, S. 467 ff. Grundlagen des Strafrechts, S. 19. Grundlagen des Strafrechts, S. 22.
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Schuld“ bzw. die „Lehre von der materiellen Tatschuld“33. Eine Voraussetzung dafür, dem Strafrecht eine wissenschaftliche Basis zu geben und eine wirksame Kriminalpolitik zu entwickeln, war, dass man die Willensfreiheit in die Gesetzmäßigkeit einbettete. Der weiche Determinismus und der charakterologische Schuldbegriff sind für die Konzeption Hiranos grundlegend. Freilich wurde gegen seine charakterologische Schuldlehre eingewendet, sie frage im Endeffekt nach der Charaktergestaltungsschuld und habe sich deshalb vom Tatschuldprinzip entfremdet, so dass sie der Charakterschuld der modernen Schule ähnlich sei34. Um das Schuldprinzip gegenüber der Strafe einschränkend wirken zu lassen, hätte der Seite der Willensfreiheit in der Gesetzmäßigkeit Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen, in welcher der menschliche Wille einerseits von der Persönlichkeit bestimmt wird, und andererseits diese ihn „bestimmt“.
2. Strafe zur Verhütung von Straftaten35 (frühere und spätere klassische Schule) Während des Schulenstreits hatte man ein schematisches Verständnis der Auseinandersetzung zwischen der klassischen Schule und der modernen Schule. Nach dem Idealtypus der klassischen Schule sollte das Wesen der Strafe Vergeltung, der Gegenstand des Vorwurfs die Tat sein. Aber nach Hirano haben die frühere klassische Schule, die in der Aufklärungszeit durch Feuerbach repräsentiert ist, und die spätere klassische Schule, deren Vertreter am Ende des 19. Jahrhunderts Binding ist, eine völlig unterschiedliche soziale Basis und auch unterschiedlichen theoretischen Inhalt36. Die frühere klassische Schule baue auf dem individuellen Liberalismus auf, und sie sei die Strafrechtstheorie, die vom Utilitarismus ausgehend die wichtige Funktion der Strafe in der Generalprävention sieht. Dagegen sei die spätere klassische Schule die Strafrechtstheorie, die auf der Basis des Staatsliberalismus die absolute Vergeltung als das Wesen der Strafe vertritt. Sie sei eine Strafrechtslehre, die auf der moralistischen Staatsanschauung beruht. Die frühere klassische Schule habe viele Gemeinsamkeiten eher mit der modernen Schule. Denn 33 34
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Grundlagen des Strafrechts, S. 29. Vgl. auch Ders., a.a.O., S. 40 ff. (Persönlichkeitsschuld und Tatschuld, in: Keiho Koza, Bd. 3, 1963, S. 10 ff). Kida, a.a.O., in: Hokei Ronshu Nr. 65, S. 54; Nakayama, a.a.O., in: Gendai Keihogaku no Kadai (Aufgaben der Strafrechtswissenschaft der Gegenwart), S. 109. Nakayama schreibt: „Die Bewertung von Hirano gegenüber dem Gefahr-Strafrecht der modernen Schule scheint mir, ehrlich gesagt, zu tolerant zu sein“. Gemeint ist Verbrechensverhütung durch Abschreckung (engl. „deterrence“). Hirano, Strafrecht AT, S. 5.
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beide seien „grundsätzlich liberalistisch und sie beide wollen die Effektivität und Grenze der Strafe empirisch betrachten“37. Es müsse kritisiert werden, dass die Lehre der früheren klassischen Schule voraussetzt, dass das menschliche Verhalten, wie bei der Theorie vom psychischen Zwang von Feuerbach, nach dem vereinfachten Kosten-Nutzen-Prinzip entschieden wird. Aber die Auffassung dieser Schule, dass die Generalprävention die wichtigste Funktion der Strafe sei, verdiene prinzipiell Beifall. Aus dem Ausgangspunkt von Hirano, dass das Strafrecht ein Mittel der Sozialkontrolle sei, ergibt sich fast zwangsläufig, dass er die Verbrechensverhütungstheorie in die Strafzwecklehre aufnimmt. Vermutlich hat er die Strafzwecke der modernen Schule deswegen nicht aufgenommen, weil seine Strafrechtsanschauung nicht zur Spezialprävention passt. Denn die Spezialprävention, also die Resozialisierung, lässt sich keineswegs zur Hauptfigur der Verbrechensverhütungsfunktion der Strafe machen38. Außerdem hat sie bei der Garantiefunktion Probleme.
3. Rechtsgüterschutzprinzip und Entkriminalisierung Das Rechtsgüterschutzprinzip ist ein wichtiger Grundsatz, der bedeutet, dass die Aufgabe des Strafrechts nicht in der Erhaltung der sittlichen Ordnung, sondern, sofern ein fremdes Lebensinteresse verletzt oder gefährdet wurde, in seiner Funktion als Mittel der Sozialkontrolle liegt. Die 60er Jahre waren die Zeit der Befreiung des Strafrechts von der Funktion der Erhaltung von Sittlichkeit oder Moral, wie z.B. bei den Sexualdelikten39, sowohl in Japan als auch in den europäischen Ländern. Eine wichtige Aufgabe der Strafrechtsreform war die Entkriminalisierung der opferlosen Delikte. Das Strafrecht – so hieß es – dürfe nicht so gestaltet sein, dass es ein paternalistisches Mittel zur sittlichen Intervention in das bürgerliche Leben sei. Das Subsidiaritätsprinzip sei auch ein Grundsatz, der aus dem Gedanken abgeleitet werden könne, dass die Rolle des Strafrechts auf den Schutz der „bürgerlichen Sicherheit“40 eingeschränkt werden soll. Das Verlangen nach bürgerlicher Sicherheit ist in Japan außer bei Vermögensdelikten bisher nicht so stark gewesen41. Der Grund 37 38 39 40 41
Hirano, Strafrecht AT, S. 12. Die Resozialisierung ist ein modifizierender oder ergänzender Grundsatz im Strafrecht, vgl. Ders., Strafrecht AT, S. 25. Vgl. Hirano, Straftaten gegen Familie und Sexualmoral. in: Keiho no Kiso (Grundlagen des Strafrechts). S. 183 ff. Vgl. Hirano, Grundlagen des Strafrechts der Gegenwart, in: Keiho no Kiso (Grundlagen des Strafrechts), S. 115. Dazu vgl. Yamanaka, Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik, in: Kansai University Review of Law and Politics Nr. 30, 2009, S. 39 ff.
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liegt darin, dass die Bürger kein Interesse an der bürgerlichen Sicherheit hatten, und dass die Lebensqualität der Bürger von damals noch niedrig und nicht stabil war. Außerdem wurde sie vor allem in der Wirksamkeit der Kontrolle in der regionalen Gesellschaft gesucht42. Hirano hat auch hier die Vorzeichen der Veränderung bemerkt: So nennt er die Vergrößerung der Opferempfindlichkeit und Abschwächung der Kontrolle in der regionalen Gesellschaft. Nach ihm „vermehrt sich zwangsläufig die Rolle des Rechts als Mittel zur Sozialkontrolle43. Er schreibt sogar: „Das Strafrecht soll möglichst aktiv eingesetzt werden“, um das Verlangen nach bürgerlicher Sicherheit zu erfüllen.
4. Handlungsunwert und Erfolgsunwert In der Straftatlehre von Hirano ist der wichtigste Begriff wahrscheinlich „Erfolgsunwert“. Nach Hirano lässt sich aus dem Rechtsgüterschutzprinzip der Satz ableiten, dass das Recht erst dann intervenieren darf, wenn es zur Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts gekommen ist. Das Wesen des Unrechts bestehe nicht in dem Täterwillen, sondern in dem objektiven Merkmal der Rechtsgutverletzung oder -gefährdung. Es sei infolgedessen wichtig, dass man Elemente des Handlungsunwerts möglichst wenig in der Gesetzgebung oder bei der Gesetzesauslegung verwende44. Gleichwohl verneint Hirano subjektive Merkmale nicht gänzlich. Er lehnt zwar z.B. den Verteidigungswillen als subjektives Rechtfertigungselement ab, was aber subjektive Unrechtsmerkmale anbetrifft, verabschiedet er sich von der Auffassung, dass z.B. die „Verwendungsabsicht“ bei den Urkundendelikten kein subjektives Unrechtsmerkmal sei, sondern als objektive Verwendungsmöglichkeit interpretiert werden müsse. Denn diese objektive Gefahr sei zu umfangreich. Die Tat sei „deswegen zu bestrafen, weil die objektive Gefahr wegen des subjektiven Merkmals“ der Verwendungsabsicht groß ist45. In der Frage, ob der Vorsatz ein subjektives Unrechtsmerkmal ist, vertritt Hirano folgende Meinung: Der Vorsatz sei beim Versuch ein subjektives Unrechts-
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Vgl. Hirano, Keiho no Kiso (Grundlagen des Strafrechts), S. 116 ff. Hirano, Keiho no Kiso (Grundlagen des Strafrechts). S. 154. Hirano, Erfolgsunwert und Handlungsunwert, in: Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts). S. 19. Hirano, Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 32.
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merkmal, aber bei der Vollendung nicht. Er sei dort ein Schuldmerkmal46. Der Grund liege darin, dass „der Vorsatz beim Versuch als Material verwendet wird, mit dessen Hilfe die Gefahr des Erfolgseintritts beurteilt wird“. Nur das Problemdenken erlaubt es Hirano, den Vorsatz lediglich beim Versuch – anders als bei Vollendung – als subjektives Unrechtsmerkmal anzuerkennen. Allerdings kann man auch bei der vollendeten Rechtsgutsverletzung, z.B. bei der Verletzung des Rechtsguts Leben, nur nach dem Vorsatz beurteilen, ob der Täter wegen eines Tötungsdelikts oder wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge bestraft werden muss. Deswegen muss man sagen, dass auch bei der Vollendung die Gefahr des Erfolgseintritts für die Tötung oder für die Körperverletzung mit Todesfolge nach dem Vorsatz beurteilt werden muss. Ferner ist nach Hirano der Versuch ein Delikt, das als eine Anforderung den Eintritt des Erfolges der „Gefahr“ verlangt Wenn die objektiven und subjektiven Anforderungen infolgedessen einander entsprechen, dann genügt für den Vorsatz beim Versuch die Erkenntnis der Gefahr. Der „Tötungswille“ als Vollendungswille ist dann beim Versuch ein Merkmal überschießender Innentendenz und damit ein subjektives Unrechtsmerkmal47. Es ist nicht klar, ob bei Hirano der Vorsatz bis zur Gefahr oder bis zum Rechtsgutsverletzungserfolg reichen soll. Nach Hirano muss der Anstifter, der nur die Gefährdung des Opfers erkannt und die Rechtsgutsverletzung nicht gewollt hat, im agentprovocateur-Fall wegen Versuchs bestraft werden48, weil er den Eintritt des „Gefahr“-Erfolgs erkannt hat. Hieraus kann man auf Hiranos Auffassung in Bezug auf den Vorsatz beim Versuch schließen. Wenn das aber so ist, dann ist seine Auffassung widersprüchlich oder nutzlos, weil es von der unterschiedlichen Erkenntnis der objektiven Gefahr abhängt, ob z.B. in einem Fall Tötungsversuch oder Körperverletzung vorliegt. Damit wird die oben geschilderte Anforderung wegen der Unterscheidung, wonach der Vorsatz beim Versuch, anders als bei der Vollendung, ein subjektives Unrechtsmerkmal ist, widersprüchlich und sogar sinnlos. Denn die subjektive Erkenntnis der objektiven Gefahr hängt eigentlich von der objektiven Gefahr ab.
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Hirano, Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 34 ff.; Ders., Strafrecht AT, Bd. 2, 1975, S. 314. Hirano, Strafrecht AT, S. 124. Hirano, Strafrecht AT, Bd. 2, S. 350; Ders., Schuldteilnahmetbeorie und Verursachungstheorie, in: Hanzairon no Shomondai (Probleme der Straftatlehre), Bd. 1, 1981, S. 170.
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Es muss auch geprüft werden, ob seine Theorie der konkreten Gefahr beim untauglichen Versuch49 im Hinblick auf die Ablehnung der Handlungsunwerttheorie nicht widersprüchlich ist. Das Charakteristische der Theorie der konkreten Gefahr beim untauglichen Versuch liegt vor allem darin, dass bei ihr die Erkenntnis des Täters aus der Beurteilungsbasis ausscheidet. Die Beurteilungsbasis ist nach Hirano die Auffassung, dass der untaugliche Versuch als Versuch bestraft werden muss, falls es die Gefahr des Erfolgseintritts zu geben scheint, wenn man die konkrete Situation aus der Sicht der durchschnittlichen Menschen beurteilt50. Nach Hirano ist bei der Auffassung, die auf der Erfolgsunwerttheorie beruht, zu berücksichtigen, was die Durchschnittsmenschen gefährlich finden. Es sei nicht vernünftig, dass die Vertreter der Handlungsunwerttheorie der Theorie der abstrakten Gefahr nicht zustimmen51. Das Resultat von Hiranos Auffassung bei der zufälligen Notwehr52, dass in diesem Fall Versuch zu bejahen sei, ist von diesem Standpunkt aus verständlich53. Die Erfolgsunwerttheorie von Hirano schließt das subjektive Element nicht ganz aus. Beim Versuch spielt der Vorsatz als ein subjektives Unrechtsmerkmal eine Rolle. Die Gefahrbeurteilungsstruktur, die sich von der Handlungsunwerttheorie unterscheidet, beruht auf der Theorie der konkreten Gefahr beim untauglichen Versuch. Hierbei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem ex-ante-Charakter der Gefahrbeurteilung bei der Theorie der konkreten Gefahr und dem ex post zu beurteilenden Gefahrerfolg.
V. Straftatsystem Die Straftatlehre dient nach Hirano dem Zweck, einheitliche Entscheidungen der Strafjustiz zu ermöglichen; sie ist kein Selbstzweck54. Deshalb müsse jene 49 50 51 52
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In Japan ist der untaugliche Versuch nicht strafbar. Hirano, Strafrecht AT, Bd. 2, S. 325 ff.; Ders., Keiho no kinoteki Kosatsu (Die funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 37 ff. Hirano, Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 40. Das ist der Fall, wenn A mit Tötungsabsicht auf B schießt, aber nachher sich herausstellt, dass das Opfer B mit Tötungsabsicht auf C schießen wollte und A im Endeffekt das Leben des C gerettet hat. Hirano verneint überhaupt die Notwendigkeit des „Verteidigungswillens“. In diesem Fall sollte eigentlich nach dieser Auffassung Notwehr anerkannt werden. Nach Hirano ist A aber wegen Tötungsversuchs zu bestrafen. Hirano, Keiho no kinoteki Kosatsu (Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts), S. 41. Es ist möglich, auch nach der Theorie der eher objektiven Gefahr den Versuch in diesem Fall zu bejahen (vgl. Yamanaka, Strafrecht AT, 2. Aufl., 2007, S. 464 f.). Hirano, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 87.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
Methode in die Straftatlehre Eingang finden, die eher das Problemdenken als das Systemdenken in den Vordergrund stellt und der einzelnen Frage tiefer nachgeht. Leitfaden sei der Bau der Lehre, der auf den Erfolgsunwert abstellt, und die Ablehnung der an der Verhaltensnorm orientierten, auf der sittlichen Strafrechtsanschauung beruhenden Straftatlehre. Konkret gesagt, war sein Ziel, der Strafrechtswissenschaft von Seiichiro Ono und Shigemitsu Dando, die auf der moralischen Strafrechtsanschauung beruht, seine Straftatlehre als Antithese entgegenzusetzen.
1. Verbrechensverhütungsstrafe und Normentheorie Zuerst ist darauf hinzuweisen, dass Hiranos Straftatsystem hinsichtlich der Strafzwecke durch die Theorie der Verhütungsstrafe geleitet wird. Diese Theorie gehört zur Generalprävention. Der Zweck wird nur durch die Verhaltensnorm erfüllt. Die Strafrechtsanschauung, die das Strafrecht als ein Mittel der Sozialkontrolle ansieht, setzt m.a.W. den Verhaltensnormcharakter des Strafrechts voraus. Deswegen sollte diese Anschauung eigentlich eine Affinität zur Handlungsunwerttheorie haben. In der Strafrechtswissenschaft von Hirano ist die Affinität jedoch dadurch ausgeschlossen, dass sie die Anforderungen an die Straftat und das Unrecht auf die Rechtsgutsverletzung und -gefährdung einschränkt Die Ausschließung des Handlungsunrechts lässt sich kriminalpolitisch verstehen. Aber die theoretische Begründung ist nicht genügend. Die Verhütungsstrafe ist sicher keine bloße Generalprävention. Aber ihre Funktion ist unklar. Ob der Verhütungseffekt eine Nebenwirkung der nachträglichen Aufarbeitung der Straftat ist oder eine positive Generalprävention bedeutet, ist nicht geklärt. Wie das Verhältnis zwischen der Funktion des Strafrechts als Verhaltensnorm und derjenigen als Sanktionsnorm in der Straftatlehre berücksichtigt wird, ist noch erklärungsbedürftig. Die Analyse des Gefahrbegriffs oder auch die Beurteilungsstruktur der konkreten Gefahr muss noch systematisch geklärt werden.
2. Tatbestand und subjektives Merkmal Hirano lehnt den Tatbestandsbegriff von Ono und Dando ab, die ihn als „Tattypus von Unrecht und Schuld“ verstehen, während er ihn eher als „Tattypus von Unrecht“ versteht. Nach Ono und Dando sind Vorsatz und Fahrlässigkeit Unrechtsmerkmale und gleichzeitig Schuldmerkmale, also Tatbestandsmerkmale. Dagegen sieht Hirano Vorsatz und Fahrlässigkeit nur als Schuldmerkmale, also nicht als Unrechtsmerkmale. Aber bei der Erklärung der Straftatlehre verfolgt er gemäß seinem „Problemdenken“ die Methode, „zuerst als allgemeine Anforderungen der Straftat den Tatbestand sowie Vorsatz und
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Fahrlässigkeit, die beide in der Regel Schuldmerkmale sind“, zu schildern und dann die Unrechtsausschließungsgründe und die Schuldausschließungsgründe55. Wenn man dieses Straftatsystem aus der Sicht des „Systemdenkens“ betrachtet, sollte man Vorsatz und Fahrlässigkeit doch als Tatbestandsmerkmal konzipieren, weil der Straftataufbau Hiranos im Endeffekt aus positiven Anforderungen und Ausschließungsgründen besteht. Der nach Hirano den Vorsatz regulierende Versuchstatbestand soll nicht anders zu sehen sein als die Tatbestände der Tötungsdelikte, der Körperverletzung mit Todesfolge und der fahrlässigen Tötung. Wenn aber seine Begründung, warum der Vorsatz beim Versuch ein Unrechtsmerkmal ist, in der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen dem Tötungsversuch und der Körperverletzung liegen soll, müsste Hirano die Straftatbestände so konzipieren, dass sie nicht nur aus dem gemeinsamen objektiven Tatbestand, sondern auch aus einzelnen subjektiven Tatbeständen bestehen56.
3. Vorsatz und Fahrlässigkeit Eine wichtige Leistung Hiranos auf dem Gebiet des Vorsatzes, vor allem der Irrtumslehre, besteht darin, dass er die Konkretisierungstheorie unterstützt hat57. Diese Theorie58, die bisher praktisch nur von Hiraba und Naka vertreten wurde, ist erst heutzutage eine einflussreiche Mindermeinung geworden, nachdem Hirano sich auf ihre Seite gestellt hat. Die Leistungen von Hirano auf dem Gebiet der Fahrlässigkeitsdogmatik sind besonders erwähnenswert. Er hat die Ansicht vertreten, dass die fahrlässige Handlung als Verhaltensweise des „substantiellen unerlaubten Risikos“ zu verstehen sei und erst dann strafwürdig werde, wenn der Erfolg sich als die Verwirklichung dieses Risikos darstelle59. Hirano hatte bereits vorher in einem 55 56
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Hirano, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 102. Yamanaka, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 160. Dass Hirano den Tatbestand nicht als Tattypus von Unrecht und Schuld verstanden hat, und trotzdem die Schuldfähigkeit als bloßen Schuldausschließungsgrund ansieht (vgl. Ders., Strafrecht AT, Bd. 2, S. 279), ist fragwürdig, weil die Schuldfähigkeit dann nirgendwo vorher positiv begründet ist. Vgl. Hirano, Über die Konkretisierungstheorie, in: Hanzairon no Shomondai (Probleme der Straftatlehre), Bd. 1, S. 70 ff. Vgl. Yoshikatsu Naka, Aberratio Ictus, Kansai-Daigaku Hogakuionshu, Bd. 14, Heft 4, 5–6, 1985. S. 569 ff.; Yamanaka, Irrtum über konkrete Tatsachen und Irrtum über den Kausalverlauf, in: Keiho Riron no Tankyu (Forschungen zur Strafrechtslehre, Festschrift für Naka), 1992, S. 180. Vgl. Hirano, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 193 ff.; Ders., Über die Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte, in: Hanzairon no Shomondai (Probleme der Straftatlehre), Bd. 1, S. 96.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
Aufsatz die objektive Fahrlässigkeit zur Unrechts- oder Tatbestandsebene verschoben, damit bedeutet sie für ihn eine objektive Vorhersehbarkeit. Die Vorhersehbarkeit in einem bestimmten Grad ist gleichbedeutend mit der „Gefahr der fahrlässigen Handlung“. Diese Handlungsgefahr ist erforderlich als eine Anforderung der Straftat. Die systematische Einordnung der Fahrlässigkeit bleibt bei Hirano unklar. Außer Zweifel steht aber, dass er die Schaffung des „substantiellen unerlaubten Risikos“ und der „Gefahrverwirklichung“ jedenfalls vor der Schuldebene eingeordnet hat. Er hat aber auch die Schuldhaftigkeit der Fahrlässigkeit erörtert. So gesehen ist dieses System eine Anwendung des Gedankens der objektiven Zurechnung auf die Fahrlässigkeitsdelikte60. Diese Fahrlässigkeitstheorie enthält einen Keim meiner späteren Fahrlässigkeitstheorie, die auf der Tatbestandsebene die objektive Fahrlässigkeit durch die Lehre von der objektiven Zurechnung ersetzt und die subjektive Fahrlässigkeit auf der Schuldebene belässt61.
4. Tatausführung Was den Begriff des Anfangs der Tatausführung anbelangt, so soll es nach Hirano möglich sein, die Begriffe von Täterschaft und Tatausführung voneinander zu trennen. Es sei keine Frage der logischen Folgerichtigkeit, dass der Begriff des „Anfangs der Tatausführung“ nicht mit dem Täterbegriff übereinstimmen müsse, der Begriff des Anfangs der Tatausführung sei vielmehr ein abgestufter Begriff; er bedeute, dass die Strafgewalt erst einsetzt, wenn die Tat einen bestimmten Grad erreicht hat62. Der Aufsatz mit dem Titel „Täterschaft und Tatausführung“ war eine Epoche machende Arbeit, in der Hirano den Anfang der Tatausführung als einen Begriff ansah, der nur den Zeitpunkt des 60
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Vgl. Yamanaka. Strafrecht, 2. Aufl., S. 376 ff. 629 ff.; Ders., Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), S. 352 ff. (auch Ders., in: Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, S. 214 ff). Vgl. auch das ähnliche Fahrlässigkeitskonzept Roxins (Roxin, Strafrecht AT/I, 4. Aufl., S. 1065). Es handele sich für ihn nicht um den „Kausalzusammenhang“ zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg, sondern um materielle Gefahr (vgl. Über die Struktur der Fahrlässigkeit, Hanzairon no Shomondai, Bd. 1, S. 97). Das ist der gleiche Gedanke wie der Risikoerhöhungsgedanke, bei dem man danach fragt, ob der Täter das erlaubte Risiko materiell erhöht oder nicht. Vgl. Yamanaka, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 374 ff. Vgl. Yamanaka, a.a.O., Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, S. 228 f.; neuerdings auch Ders., Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte, in: Joerden / Scheffier / Sinn / Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft (Festschrift für Andrzej Szwarc), 2009, S. 279 ff. Hirano, Täterschaft und Tatausführung, in: Hanzairon no Shomondai (Probleme der Straftatlehre), Bd. 1, S. 130.
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Versuchsbeginns aufzeigt; die Täterschaft als physische Handlung sei von diesem Versuchsbeginn zu unterscheiden. Sein Aufsatz hat die Trennung zwischen Tatausführung und Versuchsbeginn zum ersten Mal begründet. Er hat aber auch die spätere Begriffsverwirrung herbeigeführt, die den Anfang der Tatausführung und den Beginn der Tatausführung oder auch Versuchsbeginn betrifft. Hier lässt sich ein schlechtes Beispiel des Straftatsystems sehen, das nach dem reinen Problemdenken aufgebaut wurde. Notwendig war eine Theorie, mit der Tatausführung und Täterschaft widerspruchsfrei identifiziert werden können63.
5. Grundlagen der Teilnahmelehre Was die Teilnahmelehre von Hirano anbelangt, so übernahm er die Analyse des Akzessorietätsbegriffs von Ueda als Ausgangspunkt. Der Akzessorietätsbegriff lässt sich dreiteilen: Akzessorietät der Tatausführung, Akzessorietät bestimmter Straftaten und Akzessorietät der Strafbarkeit (Strafgrund der Teilnahme)64. Er hat noch die „Akzessorietät von Merkmalen“ hinzugefügt; damit meinte er die Formen z.B. der limitierten oder extremen Akzessorietät usw. Seine Teilnahmelehre beruht auf der Unabhängigkeit der Teilname von einer bestimmten Straftat des Täters und auf der Verursachungstheorie beim Strafgrund der Teilnahme. Dadurch ist die Konstellation der Auseinandersetzung über die Frage nach der Akzessorietät der Teilnahme grundsätzlich geändert. Das Kontrastschema der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Teilnahme von der Täterschaft verändert den Streit innerhalb der Akzessorietätstheorie, die die Akzessorietät zur Tatausführung des Täters voraussetzt. Die grundsätzliche Stellungnahme von Hirano hinsichtlich der Teilnahmelehre nähert sich den Teilnahmelehren von Strafrechtlern im Kansai-Bereich65. Es ist aber unzweifelhaft, dass seine Teilnahmelehre eine Distanz zur reinen Verursachungstheorie aufweist. Für ihn ist die „Akzessorietät der Merkmale“ wichtig. Er hält die Form der „limitierten Akzessorietät“ für richtig. Das geht aus 63
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Versucht wird dies durch Yamanaka, Zum Beginn der Tatausführung im japanischen Strafrecht, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 101 ff. (auch in: Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft. S. 262 ff.; vgl. auch Ders., Strafrecht AT, S. 713 ff. Vgl. Shigemasa Ueda, Keiho Yosetsu (Grundriss des Strafrechts) AT, revidierte Auflage, 1966, S. 153. Als einen deutschsprachigen Aufsatz über diese Begriffsanalyse vgl. Yamanaka, Gedanken zum Akzessorietätsprinzip, in: Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 320. Das heißt hauptsächlich in Osaka und Kyoto: Ueda, Saeki, Naka und Nakayama waren Hauptvertreter dieser Lehre, die eher der reinen Verursachungstheorie ähnelt.
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
seiner Äußerung hervor, dass die Auseinandersetzung zwischen der Straftatgemeinsamkeitstheorie und der Tatgemeinsamkeitstheorie bei der Mittäterschaft „in Wahrheit bei den unechten Sonderdelikten (§ 65 jStGB) eine Auseinandersetzung zwischen der übertriebenen Akzessorietät und der extremen/limitierten Akzessorietät ist“66. Der Satz, „Unrecht ist solidarisch, Schuld ist individuell“, bestimmt die Theorie vom Strafgrund der Teilnahme. Der Teilnehmer werde nicht wegen seiner eigenen Straftat bestraft.
6. Komplott-Mittäterschaft Hirano hat auch bei der Diskussion über die Lehre von der KomplottMittäterschaft67 eine einflussreiche Stellungnahme abgegeben. Nach ihm ist es eine schädliche Erscheinungsform unserer Rechtswissenschaft, dass es viele Leute gibt, die auch zur Reform durch Gesetzgebung immer nur Einwand um Einwand äußern, ohne eine Perspektive aufzuzeigen, inwieweit der strafbare Bereich durch Auslegung eingeschränkt werden kann68. „Wenn eine Stellungnahme als ständige Rechtsprechung festgelegt ist, so dass sie als Grundhaltung der Judikatur für die Auslegung vorausgesetzt werden muss, dann muss die Änderung doch durch die Gesetzgebung erfolgen“69. Diese Stellungnahme von Hirano bezüglich der Lehre von der Komplott-Mittäterschaft hat – neben Dandos Meinungsänderung von der Ablehnung zur Zustimmung – große Resonanz gefunden. Die Lehre von der Komplott-Mittäterschaft ist danach herrschende Meinung geworden. Sicher mag es erfolglose Mühe sein, dass man sich um die Änderung der ständigen Judikatur bemüht, wenn die Meinung der Lehre, auch wenn sie zeigen würde, was keine richtige Interpretation ist, nicht gleichwertig ist, sondern nichts anderes als „die Bemühung um die 66
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Hirano, Schuldteilnahmetheorie und Verursachungstheorie, in: Hanzairon no Shomondai (Probleme der Straftatlehre), Bd. 1, S. 176. Vgl. Ders., Strafrecht AT, Bd. 2, S. 357, 366 ff. Über den Begriff ausführlich vgl. Yamanaka, Moderne Erscheinungsformen der Tatbeteiligung mehrerer unter besonderer Berücksichtigung von organisierter Kriminalität wie auch krimineller Aktivitäten von Organisationen – Komplott-Mittäterschaft als Mittel zur Bekämpfung der organisierter Kriminalität im japanischen Strafrecht?, in: Eser / Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 280 ff. (in: Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, S. 337 ff.). Hirano, Strafrecht, Lehrmeinungen und Judikatur, in: Keiho no Kiso (Grundlagen des Strafrechts), S. 248 ff. Die Originalfassung findet sich in dem Beitrag „Die Rolle der Lehrmeinung in der Rechtswissenschaft“, in: Iwanami. Koza Gendaiho Bd. 15 (Methode des modernen Rechts), 1966, S. 57 ff, insb. S. 70. Hirano, Strafrecht AT, Bd. 2, S. 403.
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richterliche Überzeugung“70. Aber es ist sicher auch die Aufgabe der Lehre, gegenüber Exzessen der Praxis Schranken zu setzen, obwohl die Situation nun einmal gegeben ist, und auch „eine Auslegung, die unrichtig ist“, unter den Voraussetzungen des geschriebenen Rechts aufzuzeigen und zu verbessern71.
VI. Ausblick Dass die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz liegt und das Strafrecht dem Subsidiaritätsprinzip unterworfen ist, sind feste Grundprinzipien des Strafrechts. In der modernen „verrechtlichten Gesellschaft“ können aber die weichen Mittel der Sozialkontrolle, die außerhalb des Rechts liegen, wie Gewohnheit, Moral oder sozialer Vorwurf, kaum noch eine größere Rolle als das Recht spielen. Das gilt auch in Bezug auf das Strafrecht. Der Anteil der Rolle des eigentlich als ultima ratio bezeichneten Strafrechts als Verhaltensnorm scheint zugenommen zu haben. Was die Globalisierung, die Informationsgesellschaft und die Risikogesellschaft mit sich gebracht haben, ist die Ausweitung der Funktionen des „Rechts“ und damit auch „Strafrechts“ als ultima ratio. Das zeigt sich z.B. bei der Vorverlagerung der Bestrafung durch Zunahme der abstrakten Gefährdungsdelikte in der Präventionsgesellschaft. Das Strafrecht muss als Mittel der Kriminalpolitik konzipiert werden. Die soziale Anschauung, dass die individuellen Freiheiten, – wie im 19. Jahrhundert noch erhofft – im Endeffekt eine Art „prästabilisierte Harmonie“ mit sich bringen könnten, muss revidiert werden. Der Liberalismus gedeiht nicht, wenn man nur die Staatsmacht einschränkt, sondern er benötigt staatliche Schutzmaßnahmen. In dieser Gesellschaft muss die Harmonie zwischen der bürgerlichen Sicherheit und der Garantie der Menschenrechte durch materielle Konfliktlösung wirklich und konkret hergestellt werden. Die Strafrechtswissenschaft von Hirano steht der Anwendung von formalen und systematischen Prinzipien ablehnend gegenüber. Er befürwortet die am Problem ausgerichtete sachliche und materielle Bewertung durch die wissenschaftliche Analyse und sieht die funktionale Betrachtungsweise, die Verbrechensverhütungsstrafe und das Problemdenken als wichtig an72. Die Methodologie Hiranos wird in der 70 71
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Hirano, a.a.O., in: Keiho no Kiso (Grundlagen des Strafrechts), S. 243. Als kritische Besprechung einer höchstrichterlichen Entscheidung über die KomplottMittäterschaft vgl. Yamanaka, Zur Frage der Komplott-Mittäterschaft wegen Waffengesetzverletzung (Besitzdelikte hinsichtlich der Pistole), Kandai-Hogaku Ronshu, Bd. 52, Heft 3, 2003, S. 180 ff. Charakteristisch für die Rechtstheorie von Hirano ist die Denkweise, die einerseits scharfe Gegenüberstellungen verwendet, um die Problematik klarzumachen, und andererseits praktisch ist durch die Berücksichtigung der politischen Geeignetheit und plas-
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1. Allgemeine Dogmengeschichte
Zukunft noch an Bedeutung gewinnen. Die Strafrechtswissenschaft ist aber nicht auf die Technologie der Flankierung von Entscheidungen eingeschränkt. Sie ist die Wissenschaft, in der das gesamte Strafrecht in das Rechtssystem eingeordnet, rational erklärt und systematisiert werden muss. Im 21. Jahrhundert muss die Strafrechtswissenschaft, die widerstreitende Rechtswerte in die Kriminalpolitik und die Dogmatik hineingetragen hat und nach einem funktionalen, theoretischen System sucht, die Strafrechtstheorie von Hirano übernehmen, weiter entwickeln und auch über sie hinaus schreiten73.
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tisch beim konkreten Beurteilungskriterium. Der dogmatische Aufbau wird durch die funktionale Betrachtungsweise geschickt vermieden. Ich habe versucht, ein Bild dieser Strafrechtswissenschaft zu konzipieren. Vgl. Yamanaka, Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre, in: Review of Law & Politics Nr. 28, 2007, S. 19 ff.
ZWEITER TEIL: AKTUELLE PROBLEME DER JAPANISCHEN STRAFRECHTSDOGMATIK
§ 4. Dogmatische Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils aus japanischer Sicht Zu den Modellen gesetzlicher Regelung
I. Drei Modelle für die Regelungen des Allgemeinen Teils Der Allgemeine Teil eines Strafgesetzbuchs enthält neben den Vorschriften über den örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich des StGB und der Regelung der Konkurrenzen grundsätzlich einen Teil mit den allgemeinen Voraussetzungen der Straftat und einen weiteren mit Sanktionsvorschriften. Zu dem Teil mit den allgemeinen Erfordernissen der Straftat gehören der Zurechnungsbegründungs- und der Zurechnungsausschließungsteil. Mein Referat befasst sich mit diesen beiden Zurechnungsteilen und demjenigen, der das Gesetzlichkeitsprinzip betrifft. Meiner Meinung nach muss man zwischen drei Modellen der Aufnahme von dogmatischen Grundprinzipien in den Allgemeinen Teil unterscheiden. Erstens gibt es ein Modell, nach dem ein Minimum von Vorschriften genügen soll. Es hat den Vorteil, dass es schwierige dogmatische Fragen offenhält und der Praxis überlässt. Dies ist aber andererseits unter dem Blickwinkel des Gesetzlichkeitsprinzips ein Nachteil. Es kann als das Minimal-RegelungsModell bezeichnet werden. Nach einem zweiten Modell sollen die Grundregeln im Allgemeinen Teil möglichst präzise bestimmt werden, weil der Spielraum des Richterrechts im Rechtsstaat möglichst gering zu halten sei. Das Schaffen genauer Vorschriften für die strafrechtlichen Grundprinzipien läuft indes auf eine – unzulässige – gesetzgeberische Rechtfertigung der gerade herrschenden Dogmatik hinaus. Man kann von einem Positivistischen Regelungs-Modell sprechen. Innerhalb dieses Modells gibt es kriminalpolitisch zwei Richtungen: Das „Strafbarkeitsausdehnungsmodell“ und das „Strafbarkeitsreduzierungsmodell“. Nach dem ersteren sind allgemeine Vorschriften über die Unterlassungsdelikte, die actio libera in causa, die mittelbare Täterschaft usw. in den Allgemeinen Teil aufzunehmen. Sie garantieren die Ergebnisse der vorherrschenden dogmatischen Lehrmeinung gesetzgeberisch zugunsten der „Strafbarkeit“, wo Meinungsstreitigkeiten bestehen. Demgegenüber wirkt nach der zweiten Richtung der liberal-rechtsstaatliche Gedanke zugunsten einer Restriktion der Gesamtheit der Tatbestände. Als Beispiel kann man Vorschriften mit dem Gebot der
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
restriktiven Auslegung (Art. 111 § 4 franz. c.p.) oder der Anordnung einer Straflosigkeit der verbotenen Tat bei geringfügiger Sozialschädlichkeit (Art. 1 § 2 poln. StGB) nennen. Ein drittes Modell will die bisherigen Grundprinzipien teilweise auflockern, um die Verfolgung von modernen Straftaten – wie Wirtschafts- oder Umweltstraftaten – zu erleichtern, beispielsweise dadurch, dass man eine Kausalitätsvermutung oder Strafvorschriften für juristische Personen einführt Dieses Modell möchte ich als Modifiziertes Grundsätze-Regelungs-Modell (oder „Ausnahme-Regelungs-Modell“) bezeichnen. Das Charakteristische liegt darin, dass es die Grundprinzipien ausnahmsweise modifiziert, vor allem um den verschiedenen modernen Kriminalitätserscheinungen zu begegnen. Beim Minimal-Regelungs-Modell werden die meisten problematischen Grenzfälle ganz der Interpretation überlassen. Deshalb entsteht die für das Gesetzlichkeitsprinzip fragwürdige Konsequenz einer ausdehnenden oder quasianalogen Auslegung. Auch in Richtung der Strafbarkeitsausschließung wird die Entwicklung mehrerer Theorien ermöglicht. Das japanische StGB ist ein typisches Beispiel für dieses Modell. Das zweite, das Positivistische Regelungs-Modell, beabsichtigt, einen großen Spielraum für die Auslegung möglichst zu vermeiden. Nach ihm sind die wesentlichen Theorien oder Prinzipien der Straftat im Grunde genommen in positivistischen Regelungen präzise zu konkretisieren. Die meisten modernen Strafgesetzbücher wie das deutsche StGB folgen diesem Modell. Beim dritten, dem Modifizierten Grundsätze-Regelungs-Modell, geht es darum, die Strafbarkeit bei bestimmten Straftaten auszudehnen. Das Strafrecht muss zwar vielen sozialen Risiken durch die Reform des Besonderen Teils begegnen; aber es kann auch geschehen, dass es durch die Modifizierung der strafrechtlichen Grundprinzipien deren teilweise Nichtanwendung gesetzgeberisch rechtfertigt.
II. Die Problematik des Minimal-Regelungs-Modells im japanischen Strafgesetzbuch Das geltende StGB Japans ist im Jahre 1908 in Kraft getreten und im Prinzip ohne große Reformen bis heute erhalten geblieben. Wenn ich kurz das Charakteristische am japanischen StGB erklären darf, so muss ich darauf hinweisen, dass man die im alten, im Jahre 1882 unter französischem Einfluss eingeführten StGB enthaltene Vorschrift über das Gesetzlichkeitsprinzip (§ 2) gestrichen hat. 1889 wurde nämlich die erste moderne „Kaiserliche Verfassung Groß-
§ 4. Dogmatische Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils
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Japans“ erlassen, und sie enthielt in ihrem § 23 das Gesetzlichkeitsprinzip. Deswegen galt es formell noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die neue Verfassung von 1947 hat es in ihrem § 31 durch die sogenannte „due process-Klausel“ ersetzt Diese Klausel wird nicht nur prozessrechtlich, sondern ebenfalls materiellrechtlich interpretiert. Sie ist also auch eine Klausel für einen sogenannten „Substantive due process“. Das geltende StGB enthält freilich auch Vorschriften über den zeitlichen Geltungsbereich. Deswegen ist das Gesetzlichkeitsprinzip auch im geltenden StGB durch das Rückwirkungsverbot teilweise geregelt. Im Allgemeinen Teil des japanischen StGB gibt es folgende Vorschriften über die Zurechnung von Straftaten: Rechtmäßiges Verhalten und berechtigte berufliche Tätigkeit (§ 35), Notwehr (§ 36), Notstand (§ 37), Vorsatz und Irrtum (§ 38), Schuldfähigkeit (§ 39), Strafunmündigkeit von Kindern (§ 41), Versuch (§ 43 und 44), Rücktritt vom Versuch (§ 43 Vorbehalt-Satz), Mittäterschaft (§ 60), Anstiftung (§ 61), Beihilfe (§§ 62, 63), Strafbarkeitseinschränkung bei Anstiftung und Beihilfe (§ 64) und Beteiligung bei den Sonderdelikten (§ 65). Bei der Gesetzgebung hat das StGB einen starken Einfluss von der damaligen „modernen Schule“ in Deutschland erfahren. Aber zu vermuten, dass dieses „Minimal-Regelungs-Modell“ gänzlich aus dem Grundgedanken der modernen Schule entwickelt worden sei, wäre sicherlich zu kurz gegriffen. Der Reformentwurf des Strafgesetzes von 1974 hat in seinem Allgemeinen Teil nur noch Vorschriften über „Begehungsdelikte durch Unterlassen“ (§ 12), „Selbst verursachte seelische Störung“ (§ 17), straflosen „untauglichen Versuch“ (§ 25), „mittelbare Täterschaft“ (§ 26 Abs. 2) und „Komplott-Mittäterschaft“ (§ 27 Abs. 2) hinzugefügt. Der Entwurf ist aber nicht geltendes Recht geworden.
III. Die Problematik des positivistischen Regelungs-Modells im deutschen StGB Dieses Modell, das in vielen Ländern, so auch in Deutschland, zu finden ist, hat einerseits einen großen Vorteil, weil es die rechtsstaatliche Klarheit der Grundprinzipien und deren Anwendung garantiert. Andererseits birgt es jedoch die Gefahr in sich, dass eine bestimmte kriminalpolitische Grundhaltung im StGB programmiert wird. So versperrt z.B. die Vorschrift über den strafbaren „untauglichen Versuch“ in § 23 Abs. 3 dStGB der deutschen Theorie die Möglichkeit der objektiven Versuchstheorie. Auch regelt § 30 dStGB, dass der Versuch der Beteiligung in gewissem Umfang strafbar ist. Fraglich ist jedoch,
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
ob die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung nicht gegen das Prinzip der Begehungsakzessorietät verstößt. Dasselbe gilt auch für Bestrafung der Vorbereitungshandlung oder Verabredung im allgemeinen (§ 30 Abs. 2 dStGB). Dieses Modell schafft das Problem, dass es eine Ausdehnung der Bestrafung, die kriminalpolitisch fraglich ist, gesetzlich rechtfertigt. Vor allem enthält es das Risiko, dass die kriminalpolitische Grundrichtung durch die politische Haltung des jeweiligen Gesetzgebers bestimmt wird.
IV. Die Problematik des Modifizierten Grundsätze-Regelungs-Modells im japanischen StGB 1. Grundsätzliche Anwendung des Allgemeinen Teils auf das Verwaltungsstrafrecht und Ausnahmen Das japanische Recht kennt weder die Differenzierung zwischen Verbrechen und Vergehen noch ein Ordnungswidrigkeitengesetz. Die Anzahl der strafbewehrten Verwaltungstrafgesetze, die der Anwendung der StPO unterliegen, ist umfangreich. Auf diese Verwaltungsstrafgesetze wird grundsätzlich auch der Allgemeine Teil des StGB angewandt (§ 8 jStGB). Soweit aber die Verwaltungsstrafgesetze „besondere Vorschriften“ für Ausnahmefälle sind, wird die Anwendung verneint. Es finden sich manche solche Ausnahmen, sei es in ausdrücklichen Vorschriften, sei es auf Grund von Interpretation. Problematisch ist, dass die Anwendung des § 8 jStGB aus kriminalpolitischer Sicht im Wege der „Auslegung“ verneint werden kann. Beispielsweise wird heute nach der jStVO das fahrlässige Nicht-bei-sich-Führen der Fahrerlaubnis bestraft (§§ 95, 121 Abs. 1 Nr. 10, Abs. 2 jStVO). Früher gab es nur eine Strafvorschrift für die Vorsatztat. Damals wurde in der Praxis trotzdem die fahrlässige Tat bestraft, weil man keinen Sinn für die Straßenverkehrsordnung darin sah, wenn die fahrlässige Tat nicht bestraft wurde. Man sagte, aus dem „natürlichen Wesen des Gesetzeszwecks“ könne diese Auslegung abgeleitet werden. Gleiches soll für die Rückwirkung eines Zeitgesetzes gelten, auch wenn es keine besonderen Vorschriften für die Rückwirkung enthält.
2. Gesetzgeberische Ausnahmen gegenüber den Grundsätzen des Allgemeinen Teils Zur Beweiserleichterung bei komplizierten Kausalabläufen wurde z.B. im „Gesetz zur Bestrafung der Umweltstraftaten“ von 1970 eine Vorschrift über die Kausalitätsvermutung (§ 2) geschaffen. Neuerdings hat man im „Gesetz über die Bestrafung von Beteiligten an der Kinderprostitution oder die Taten in
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Bezug auf Kinderpornographie und über den Schutz der Kinder“ von 1999 eine Ausnahmevorschrift über Kinderpornographie beim Irrtum über das Alter des Kindes (§ 9) eingeführt. Es heißt dort: „Wer Dienste von Kindern in Anspruch nimmt, kann sich der Bestrafung aus den Vorschriften von § 5 ff. nicht entziehen, es sei denn, dass er nicht fahrlässig gehandelt hat.“ Hier werden Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt gleichbehandelt. Dies ist eine Ausnahme vom Schuldprinzip.
3. Die Modifizierungsnotwendigkeit der Grundsätze des Allgemeinen Teils In der modernen globalen Risikogesellschaft sind die Formen und Schwerpunkte der Straftaten verändert. Um solcher Kriminalität effektiv vorzubeugen, wird versucht, die Grundsätze des subsidiären Rechtsgüterschutzes und der individuellen Schuld zu modifizieren. Was den Grundsatz des subsidiären Rechtsgüterschutzes anbelangt, so wird der Schwerpunkt von den Tatbestandsformen der Verletzungsdelikte zu den Gefährdungsdelikten verlegt. Dies kann im Wirtschaftsstrafrecht oder Umweltstrafrecht als typisch gelten. Durch diese Schwerpunktverlagerung konnten auch der Vorsatzbegriff, der Unterlassungsbegriff oder der Unrechtsbegriff bei den Gefährdungsdelikten oder Formaldelikten modifiziert werden. Fraglich ist, ob diese Modifizierungen der Grundsätze nur bei bestimmten Straftaten nötig oder allgemein bei Straftaten erforderlich sind. Der Allgemeine Teil des Strafrechts ist, basierend auf dem liberalen Strafrecht des 19. Jahrhunderts, historisch allmählich gestaltet und theoretisch verfeinert worden. Heute, bei Anbruch des 21. Jahrhunderts, hat die Strafrechtswissenschaft sorgfältig zu prüfen, ob, wie und in welchen Punkten eine Grundsatzmodifizierung erforderlich ist.
V. Schlussbemerkungen Es ist klar, dass nicht nur die einzelnen Tatbestände, sondern auch der dogmatische Bereich des Allgemeinen Teils neu geschaffen oder geändert werden muss, um der modernen Kriminalität bei der Entwicklung der Informationsgesellschaft, der Hochleistungsmedizin, der globalen Wirtschaftskriminalität, der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung und bei der international organisierten Kriminalität zu begegnen. Wie man den Allgemeinen Teil auf der Basis des Modifizierten Grundsätze-Regelungs-Modells“ konzipieren soll, muss in den einzelnen Ländern, auch innerhalb der Europäischen Union, je nach ihrer Strafrechtspraxis und deren Besonderheiten, beurteilt werden. Auch
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wenn man diese Modifizierungsnotwendigkeit nicht verneinen kann, muss man doch immer auch andere rechtliche Werte, so die individuelle Handlungsfreiheit, berücksichtigen.
§ 5. Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre* I. Einleitung Aufgabe des Strafrechts ist der Rechtsgüterschutz. Seine Verwirklichung wird von den strafrechtlichen Normen zweistufig vollzogen: Auf der ersten Stufe verkündet der Gesetzgeber den Bürgern die Strafgesetze, um ihnen mittels der im gesetzlichen Tatbestand beschriebenen Straftaten die Begehung von Rechtsgüterverletzungen zu verbieten. Diese Funktion der strafrechtlichen Normen wird als an die Bürger gerichtete und von ihnen zu befolgende „Verhaltensnorm“ bezeichnet. Demzufolge regulieren die Strafgesetze die Verhaltensweisen der Bürger, damit diese etwaige Rechtsgüter verletzende Handlungen oder Unterlassungen durch Waltung entsprechender Vorsicht gewissermaßen im Vorfeld vermeiden können. Einerseits handelt es sich also bei den Strafgesetzen um die allgemeine Vorbeugung von Rechtsgüterverletzungen durch zielorientierte Steuerung des menschlichen Verhaltens1. Auf der zweiten Stufe verwirklichen die Strafgesetze hingegen die Aufgabe, die durch die Straftat verletzte Rechtsgüterschutzfunktion des Strafrechts wieder herzustellen, indem sie den Delinquenten eine Sanktion für die bewirkte Normbruchhandlung aufbürden. Dabei hat die tatsächliche Sanktionsverhängung neben der Funktion der General- und Spezialprävention auch die zusätzliche Funktion, das Vertrauen der Bürger in die Geltung der Norm zu bestärken. Zugleich steigert die Ankündung der Sanktion Bewusstsein und Bereitschaft der Bürger zur Normeinhaltung bzw. Normbefolgung2. Insoweit hat die Strafnorm mithin nachträgliche Präventionsfunktion. Die verkündeten Straftatkataloge verlangen, dass die Bürger ihre Verhaltensweisen selbst auf eventuelle Rechtmäßigkeit und Schadlosigkeit kontrollieren. Sie sollen die Kausalverläufe ihrer Verhaltensweisen selbst auf eine künftige * 1
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Ich danke meinem Freund, Herrn Dr. Jörg Brammsen in Bayreuth, herzlich für die Unterstützung bei der Herstellung der deutschen Endfassung. Das bedeutet Straftatvorbeugung durch Verhaltensnormierung. In erster Linie ist diese Prävention dadurch verwirklicht, dass der Bürger verpflichtet wird, spontan oder aus utilitaristischen Erwägungen heraus ein rechtskonformes Vorgehen einzuhalten bzw. an den Tag zu legen. Das bedeutet negative Generalprävention und positive Generalprävention.
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Eignung hin zu Rechtsgüterverletzungen kontrollieren, um eine als gefährlich eingestufte Handlung gegebenenfalls sodann zu identifizieren. In diesem Kontext ist die „Risikoprognose“ mithin unentbehrliche Voraussetzung für die Motivsetzung der Bürger, ein zur Rechtsgüterverletzung Dritter führendes gefährliches aktives oder passives Vorgehen zu vermeiden. Es ist die Ankündungsfunktion des Gesetzlichkeitsprinzips, die den Bürger mit der „Risikoprognose“ hinsichtlich seines eigenen zukünftigen Verhaltens dem Gebot effektiver Gefahrkontrolle unterwirft. Daneben erfüllt die „Risikoprognose“ jedoch noch eine andere Funktion, nämlich diejenige der Verantwortungsbegrenzung derjenigen Täter, die sich strafnormwidrig verhalten hat. Zur oben beschriebenen Wiederherstellung des Vertrauens in die Geltung der Normen, die vom Täter verletzt oder beeinträchtigt wurden, bedarf es für die anstehende Sanktionszufügung eines durchaus problematischen Bestimmens bzw. Herausfindens, wie und mit welcher Intensität welche Norm verletzt ist. Die Grenzziehung ist von zwei Seiten vorzunehmen: Ist das Täterverhalten für die Rechtsgüter erstens objektiv in keiner Weise gefährlich, ist es nicht notwendig, auf diese Tat mit Sanktionen zu reagieren. Hat der Täter zudem zweitens subjektiv keine Gefährlichkeit seines Verhaltens für die Rechtsgüter prognostiziert, darf die Rechtsordnung ihn nicht in die Verantwortung ziehen. Die Risikoprognose spielt somit auch bei der Bestimmung der Voraussetzungen einer Sanktionszufügung eine gewichtige Rolle. In meinem Referat möchte ich die Bedeutung und Funktion der Begriffe „Risiko“ und „Prognose“ in den verschiedenen Kategorien des Straftatsaufbaus erörtern3. Für die Rechtsordnungen ist es in der modernen Risikogesellschaft immer wichtiger und schwerer geworden, die Balance zwischen der garantierten Handlungsfreiheit der Bürger einerseits und dem gleichfalls verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsgüterschutz andererseits zu wahren. Die Lehre von den Straftaten ist unter Berücksichtigung der gesamten vorherigen und nachträglichen Funktionen des Strafrechts zu konzipieren.
3
Allgemeine Gedanken zur Strafrechtsdogmatik in: Yamanaka, Keiho Soron 1, 2 (Strafrecht AT, Bd. 1, 2) (1999) auf Japanisch.
§ 5. Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“
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II. Die Risikoprognose in der Normentheorie 1. Der Sinn des Risikos und der Prognose Beide Begriffe beziehen sich auf noch nicht geschehene, zukünftige Tatsachen all jener Gegebenheiten, die Straftatbegründungen und Strafausschließungsgründe betreffen bzw. konstituieren. Einmal beschränkt auf die Straftatbegründungsgründe, gehören Risiko und Erfolg zu den Tatbestandsmerkmalen, wobei das Tatbestandsmerkmal „Risiko“ bei den Erfolgsdelikten meistens ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal darstellt. Alle tatbestandsmäßigen Handlungen setzen nämlich realiter jeweils „risikoerhöhende Tatausführungen“ voraus, soweit es sich um Erfolgs- oder Gefährdungsdelikte handelt. In der Strafrechtswissenschaft wird dem Begriff des „Risikos“ fast dieselbe Bedeutung beigemessen wie den Begriffen Gefahr oder Gefährdung. Dabei ist schon fraglich, wie das Risiko dabei zu bestimmen ist. Grob gesagt gibt es zwei Theorien: Eine subjektive und eine objektive: Der Unterschied beider Theorien zeigt sich in Beurteilungsbasis und Beurteilungszeitpunkt des Risikos. Hier erweist sich die subjektive Theorie heute letztlich als chancenlos. Der rein individuelle psychologische Eindruck hat mit dem Risikobegriff nichts zu tun. Strittig ist deswegen nur das Beurteilungskriterium im Rahmen der objektiven Theorie. Was den ersten Punkt, d.h. das Beurteilungskriterium betrifft, stehen einander die psychologische Risiko-Besorgnis eines Durchschnittsmenschen und eine objektive Wahrscheinlichkeitsprognose gegenüber. Was den zweiten Punkt des Beurteilungszeitpunkts anbetrifft, stehen der Zeitpunkt der Handlung und derjenige des Eintritts in den Bereich der konkreten Einwirkungsmöglichkeit zum geschützten Rechtsgut zur Alternative. Ich bezeichne vorläufig die Gefahr des letzten Zeitpunkts als „Gefährdungszustand“4. Dieser Gefährdungszustand erfasst das Stadium zwischen der „Gefährlichkeit der Handlung“ und dem tatsächlichen „Erfolgseintritt“. Die Beurteilung des Gefährdungszustands und der Risikoverwirklichung ist für den Zeitpunkt gleich nach der Täterhandlung zu treffen. Der Begriff des „Risikos“ bezeichnet nach meiner Auffassung in der Strafrechtsdogmatik keine psychologische Besorgnis, sondern ist als „objektive Prognose“ zu verstehen. Diese stimmt demnach mit der objektiven Wahr4
Zu meiner Theorie vom „Beginn der Tatausführung“ vgl. Yamanaka, Zum Beginn der Tatausführung im japanischen Strafrecht, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 101 ff., S. 112.
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scheinlichkeit des Erfolgseintritts überein. Sie lässt sich in Bezug auf das zukünftige Geschehen nach der Prognose vom vorherigen Zeitpunkt aus (ex ante), also spätestens zum Zeitpunkt der Handlung, und derjenigen des nachträglichen Zeitpunkts (ex post), also des Zeitpunkts des Gefahren- bzw. des Erfolgseintritts, vornehmen. In den letzten beiden Zeitpunkten wird sie auch die „objektiv-nachträgliche Prognose“ genannt5. Beide Prognosestandpunkte von ex ante und ex post sind, wie später noch beispielhaft zu zeigen sein wird, in den verschiedenen Straftatmerkmalen miteinander oder separat zu verwenden6. Für die strafrechtliche Zurechnung ist es unerlässlich zu berücksichtigen, wie das betreffende Risiko vom Täter erkannt oder vorhergesehen wurde. In diesem Sinne sind die „subjektive Prognose“ des Risikos und des Erfolgseintritts, also Vorsatz und Fahrlässigkeit, Voraussetzung für die Zurechnung und damit Voraussetzung für die spätere Sanktionszufügung.
2. Diskussion über den Normgegenstand In der gegenwärtigen strafrechtlichen Dogmatik ist umstritten, wie die Merkmale des gesamten Tatbestandes in die Merkmale der Verhaltensnorm einerseits und diejenigen der Sanktionsnorm andererseits im Straftatsaufbau eingeteilt sind. Die erste Auffassung beschränkt den Gegenstand der Verhaltensnorm nur bis zur Täterhandlung, weil die Funktion der Verhaltensnorm allein in der Regulierung der Handlung besteht. Die Verhaltensnorm dient der Vorbeugung der tatbestandlich beschriebenen gefährlichen Handlung, die zum Erfolg, d.h. zur Rechtsgüterverletzung führen kann. Der „Erfolg“ spielt nach dieser Ansicht bei der Verhaltensnorm keine Rolle, weil der Erfolgseintritt – er soll vielmehr zu den Voraussetzungen der Sanktionsnorm gehören7 – lediglich ein Zufallsmoment ist. Nach dieser Ansicht gehören das tatbestandsmäßige Verhalten und 5
6
7
Franz v. Liszt, Strafrecht 6. Aufl., 1894, § 47 II Z. 2; Rümelin, Der Zufall im Recht, 1896, S. 46; Ders., Die Verwendung der Causalbegriffe in Straf- und Civilrecht, AcP 90 (1900), S. 19. Dazu vgl. Jescheck /Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl., 1999, S. 286. Wenn man nur die ex-ante-Betrachtung in der Strafrechtsdogmatik bevorzugt, tritt der Charakter des Präventionsstrafrechts zu stark hervor; vgl. Santiago Mir Puig, Die „ex ante“-Betrachtung im Strafrecht, Festschrift für Jescheck, Bd. 1 (1985), S. 345. Vgl. Wolfgang Frisch, Vorsatz und Risiko, 1985, S. 55 ff.; Ders., Tatbestandsmäßiges Verhalten und Erfolgszurechnung des Erfolgs, 1988, S. 7 ff. u. passim; Georg Freund, Strafrecht AT, 1998, S. 31 ff., S. 404 f.
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der Erfolg mithin zu je einer anderen Norm, das erste zur Verhaltens- und der letzte zur Sanktionsnorm. Wenn der Täter durch sein Verhalten eine „rechtlich missbilligte Risikoschaffung“ bewirkt, dann ist seine Tat tatbestandsmäßig, der Verstoß gegen die Verhaltensnorm damit in der Regel rechtswidrig. Demzufolge bedeutet das strafrechtliche Unrecht auch primär Handlungsunwert. Gegenstand der subjektiven Prognose sollen nur das tatbestandsmäßige Verhalten und die Verhaltenssituation sein: d.h. Gegenstand des Vorsatzes die „Gefährlichkeit“ des Verhaltens, nicht aber der „Erfolg“. Auffassung des zweiten Standpunktes ist, dass die Verhaltensnorm den Zweck hat, die Rechtsgüterverletzung zu vermeiden, indem sie die Rechtgüterverletzungshandlung reguliert8. Dieser Ansicht nach ist der Erfolg das Tatbestandsmerkmal der Verhaltensnorm. Der Vorsatz soll bis zum Erfolg reichen. Daher fundiert das strafbare Unrecht in der Verursachung des Erfolges durch den Täter. Dieser Stellungnahme ist meines Erachtens beizupflichten.
3. Verhaltensnormverstoß und Rechtswidrigkeit Die Antwort auf die Frage nach dem Beginn des Verstoßes gegen die Verhaltensnorm9, d.h. nach dem Zeitpunkt, in dem die missbilligte Gefahr entstanden ist oder erst dem Zeitpunkt des Erfolgseintritts, fällt nach den oben benannten Auffassungen unterschiedlich aus. Wenn man einmal von diesem Unterschied absieht, gilt im allgemeinen, dass der Normverstoß eine „Vereitelung“ des Normzwecks bedeutet, der die Entstehung der Gefahr oder des Erfolgs zum Gegenstand hat. Der Normverstoß bedeutet dann, dass die „Gefahr“ sich irgendwie aktualisiert hat und der „Erfolg“ eingetreten ist. Noch verbleibende Frage ist, ob die Verhaltensnorm dann an ihrer Zweckverwirklichung „scheitert“, wenn der Täter seine Tat nicht durch eine auf Menschen einwirkende Handlungssteuerung begangen hat. Wenn es beim Normadressat an der Fähigkeit fehlt, den Inhalt der Norm zu verstehen, ihr zu folgen und seine Handlungen danach zu steuern, könnte man sagen, dass die Norm für ihn nicht gelten kann. Fraglich ist, ob gegen die Norm verstoßen worden ist oder nicht. Hier handelt es sich um den Sinn des Normverstoßes, also den der Rechtswidrigkeit. Nach herrschender Meinung ist der Sinn der Verhaltensnorm nach den 8 9
Vgl. Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 95; Joachim Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S.49. Vgl. Yamanaka, Verhaltensnorm und Sanktionsnorm in der Straftatlehre, Festschrift für Professor Shigetsugu Suzuki, 2007.
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Normfunktionen ein doppelter: „Bestimmungsfunktion“ und „Bewertungsfunktion“. Betrachtet man den Normverstoß aus Sicht der Bewertungsfunktion, wird der Eintritt des Gefährdungszustands oder des vom Täter objektiv zurechenbar verursachten Erfolgseintritts als Normverstoß bewertet. Wenn man ihn dagegen aus der Sicht der Bestimmungsfunktion sieht, ist die zum Erfolgseintritt führende gefährliche Handlung bzw. der verursachte Erfolg nicht normwidrig, weil die Verhaltensnorm wegen des Unverständnisses, der Unvorhersehbarkeit der Gefahr bzw. des Erfolgs oder der fehlenden Steuerungsfähigkeit des Täters usw. ihre Regulierungswirkung verloren hat. Die Verhaltensnorm ist als Bewertungsnorm zu verstehen10.
4. Sanktionsnorm Sanktionsnorm ist die Norm, die an den Rechtsstab adressiert ist, der dem Täter, der gegen die Verhaltensnorm verstoßen hat, die angedrohte Sanktion zufügen soll11. Sie bezweckt, die Geltung der Norm, die vom Rechtsbrecher verletzt worden ist, mit der Zufügung der Sanktion zu erhalten bzw. zu stabilisieren. Der Sanktionstatbestand besteht daher aus dem Tatbestand und der Folge, die dem Grad der Sanktion entspricht. Folglich gehören z.B. Schuldfähigkeit, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Unrechtsbewusstsein und Zumutbarkeit zum Sanktionstatbestand.
III. Kausalität und objektive Zurechnung 1. Risikoverringerung als Kriterium der Kausalitätsbeurteilung Der Risikobegriff ist als ein Begrenzungsinstrument des Kausalitätsbegriffs zu verwenden. Nach der konkreten Erfolgsbetrachtung bei der Bedingungstheorie wird der Kausalzusammenhang bejaht, selbst wenn die Änderung des Tatbestandserfolgs sehr gering ist. Beispielsweise wird der Bedingungszusammenhang zwischen einem Steinwurf und der Körperverletzung auch bejaht, wenn die Richtung des Steinfluges von Kopf zur Schulter abgeändert wird12. Das
10 11 12
Vgl. Yamanaka, Normstruktur des Straftatsaufbaus, Sandai Hogaku, S. 394 ff. Kindhäuser, Strafrecht AT, 2005, S. 36 ff. Wenn man der konkreten Erfolgsanschauung zustimmt, kann man sagen, dass die Kausalität auch dann vorliegt, wenn es bloß eine winzige Änderung des Erfolgs gibt. Aber dieser konkreten Erfolgsanschauung ist nicht beizupflichten, weil der Kausalitätsbegriff ohne rechtliche Bewertung nicht bestimmt werden kann.
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Risikoverringerungsprinzip ist ein Kriterium der Zurechnungsbegrenzung13. Das Risikoerhöhungsprinzip wird weiterhin bei der Problematik der Kausalität von Beihilfetaten verwendet14. Statt des Kausalitätsbegriffs lässt sich das Risikoerhöhungsprinzip auch bei den unechten Unterlassungsdelikten verwenden15.
2. Risikoschaffung und -verwirklichung als Kriterien der Erfolgszurechnung Der Risikobegriff spielt im Bereich der auf der Grundlage der Kausalität konzipierten Erfolgszurechnung eine wesentliche Rolle. Dabei entwickelte sich die Lehre von der objektiven Zurechnung16 aus den Aspekten der „Gefährlichkeit der Handlung“ und der „Gefahrverwirklichung“ bei der Adäquanztheorie17. Demgemäß unterscheidet auch die moderne objektive Zurechnungslehre die beiden entsprechenden Risikobeurteilungen „Risikoschaffung“ und „Risikoverwirklichung“. Die Risikoschaffung beinhaltet die Risikobeurteilung ex ante nach der allgemeinen Möglichkeit des Erfolgseintritts. Dagegen beschränkt die Risikoverwirklichung die Beurteilung ex post darauf, ob das geschaffene Risiko auch tatsächlich im konkret geschehenen Erfolg verwirklicht worden ist. Die erste Beurteilung ist die objektive Prognose des künftigen Erfolgseintritts, die letzte Beurteilung dagegen die sog. objektiv-nachträgliche Prognose, die auf der Basis aller herausgefundenen Umstände den Geschehensablauf normativ bewertet18.
13 14 15 16
17 18
Roxin, Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, Festschrift für Richard Honig, 1970, S. 136; Ders., Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2005, S. 375 f. Vgl. vor allem Schaffstein, Die Risikoerhöhung als objektives Zurechnungsprinzip im Strafrecht, insbesondere bei der Beihilfe, Festschrift für Honig, S. 169 ff. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, 2003, S. 642 ff. Yamanaka, Die Entwicklung und Tendenz der Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: W Kregu Teorii i Praktyki Prawa Karnego, Ksiega poswiecona pamieci Professora Andrzeja Waseka, Lublin / Poland, 2005, S. 396–410. Dieser Aufsatz wurde modifiziert und ergänzt in: Yamanaka, Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Fritz Loos und Joerg-Martin Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, (Festschrift für Maiwald), 2006, S. 57 ff. Vgl. Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 55, 61 ff. Ausführlich zu den verschiedenen Risikobeurteilungen in der objektiven Zurechnungslehre Yamanaka, Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht (japanisch), 1997, S. 376 ff., 455 ff.
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IV. Gefährdungsdelikte 1. Begrenzungsversuche bei den abstrakten Gefährdungsdelikten Diskutiert wird heute insbesondere die Problematik der Reichweite strafbarer abstrakter Gefährdungsdelikte19. Typische abstrakte Gefährdungsdelikte sind etwa die Inbrandsetzung von Menschen bewohnter Gebäude (§ 108 jStGB) und die Aussetzung (§ 217, 218 jStGB). Im Gegensatz zu den konkreten Gefährdungsdelikten bedarf es bei den abstrakten Gefährdungsdelikten keines Nachweises eines konkreten Gefährdungstatbestands seitens der Staatsanwaltschaft. Wenn der Täter die tatbestandsmäßige Handlung vollzieht, wird der Gefährdungseintritt als gegeben angesehen. Diese Fiktion ist fraglich: Ist ein Täter, der das einzige, allein in der Mitte eines Feldes stehende Haus nach sorgfältiger Untersuchung, ob sich jemand im Haus aufhält, in Brand setzt, trotzdem wegen Brandstiftung an dem oben genannten Gebäude zu bestrafen? Sind das Leben oder die körperlichen Integrität „unbestimmt vieler oder mehrerer Leute“ als bedroht anzusehen? Die fiktive Erweiterung der Gefährdung ist dogmatisch zu begrenzen, da sie das Prinzip des subsidiären Rechtsgüterschutzes verletzt. In der japanischen Lehre von den Gefährdungsdelikten werden ähnliche Lösungsversuche wie in Deutschland vorgeschlagen: Eine gewichtige Lehre ist die sog. Theorie der „quasi-abstrakten Gefährdung“, nach der es auch bei den abstrakten Gefährdungsdelikten des Eintritts einer „gewissen konkreten Gefahr“ bedarf. Nach dieser Theorie gehört die Brandstiftung an Gebäuden, in denen sich unbestimmt viele oder mehrere Menschen befinden, zu den „quasiabstrakten“ Gefährdungsdelikten20. Mir erscheint die Anerkennung der Kategorie dieser quasi-abstrakten Gefährdungsdelikte allerdings problematisch, da sie den Eintritt „einer gewissen konkreten Gefährdung“ ohne gesetzlichen Grund voraussetzt, den das Gesetz nicht als Tatbestandsmerkmal klar beschreibt, wenn es vom Eintritt der „Gefährdung“ als erforderlich absieht.
2. Die zwei Arten der abstrakten Gefährdungsdelikte Man kann zwei Erscheinungsformen von abstrakten Gefährdungsdelikten identifizieren21: Einerseits gibt es abstrakte Gefährdungsdelikte, bei denen das 19 20 21
Zu den dogmatischen Begründungsversuchen der deutschen Strafrechtswissenschaft Frank Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998. Atsushi Yamaguchi, Kikenhan no Kenkyu (Studie zu den Gefährdungsdelikten), 1982, S. 248. Yamanaka, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 164.
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„Risiko“-Moment der tatbestandlich benannten „Tathandlung“ innewohnt. Andererseits gibt es abstrakte Gefährdungsdelikte, in denen das Risiko zwar nicht der Tatbestandshandlung innewohnt, es jedoch hinsichtlich des Gefährdungserfolgs – bei der Brandstiftung also hinsichtlich „des Lebens oder der körperlichen Integrität unbestimmt vieler oder mehrerer Menschen“ – aus der Umschreibung der Tatbestandshandlung typischerweise abgeleitet und individualiter prognostiziert werden kann. Die Tatbestandshandlung soll in diesen Fällen aus einem bestimmten Risiko-Umstand heraus begangen werden. Die Aussetzung gehört zur ersten Gruppe22: Begrifflich bedeutet die Tatbestandshandlung „Aussetzung“ die Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit. Um dabei als Strafbarkeitsgrenze zu wirken, ist der Risikobegriff hier nicht nur als Risiko ex ante, sondern auch als Risiko ex post zu verstehen. Beispielsweise will eine Mutter in einer Sommernacht ihren Säugling auf einer Bank im Stadtgarten liegen lassen, die Großmutter, die das Vorhaben vage geahnt hat, folgt ihr jedoch und sichert anschließend das Baby. Das Wort „Aussetzung“ beinhaltet nicht nur eine „ex ante gefährliche Handlung“, sondern auch „ex post tatsächlich zu einem Gefährdungszustand führende Handlungen“, d.h. reale Risikoerhöhungen. Im obigen Beispielsfall entsteht ein solcher Gefährdungszustand aber nicht. Zur zweiten Gruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte gehört etwa die Brandstiftung (§ 108 jStGB)23. Der Begriff des Inbrandsetzens beinhaltet nicht den Eintritt einer „Gemeingefahr“24. Wenn die Brandstiftungshandlung zum „Anbrennen“25 reicht, ist die Gemeingefahr fiktiv festgestellt. Der Brandstiftungstatbestand setzt aber normalerweise einen Zustand voraus, in dem das Anbrennen des Gebäudes zu einer Gemeingefahr führt. Wird dieser typische Zusammenhang nicht hergestellt, gilt die Fiktion nicht. Dies ist etwa dann der 22 23
24
25
Yamanaka, Aussetzung und Risikobegriff, Hogaku Seminar Nr. 346 (1983), S. 52 ff. § 108 jStGB regelt wie folgt: „Wer ein Gebäude, das als Wohnraum benutzt wird oder in dem sich zur Zeit der Tat Menschen befinden, eine Eisenbahn, einen elektrischen Wagen, ein (Kriegs)Schiff oder eine (Gold- bzw. Kohlen- usw.) Grube in Brand gesetzt und zum Anbrennen gebracht hat, wird zum Tode, mit unbefristeter Zuchthausstrafe oder Zuchthausstrafe mindestens 5 Jahren bestraft.“ „Die Gemeingefahr“ wird in Japan als Gefahr für das Leben oder die körperlichen Integrität „unbestimmt vieler oder mehrerer Menschen“ definiert. In der Rechtsprechung wird auch die Gefahr für das „Vermögen“ als ausreichend erachtet. Die Gemeingefahr bedeutet praktisch die „Feuerausbreitungsmöglichkeit“ auf andere Gebäude. Nach der herrschenden Meinung und Rechtsprechung wird das „Anbrennen“ weit ausgelegt. Wenn das Objekt den Zustand des „selbständigen Brandes“ erreicht, ist die Anforderung erfüllt. Nach der Rechtsprechung ist ein Gebäude angebrannt, wenn 50 cm² der Decke verbrannt sind.
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Fall, wenn das Inbrandsetzen schon zu Beginn der Tatausführung keine Gefahren für das Leben oder die körperlichen Integrität unbestimmt vieler oder mehrerer Menschen herbeiführen kann. In diesem Sinne ist die objektive Prognose (ex ante und ex post) einer Gemeingefahr ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.
V. Fahrlässigkeitsdelikte 1. Die Theorie der doppelten Fahrlässigkeit Die klassische Fahrlässigkeitstheorie definiert den Fahrlässigkeitsbegriff als Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht. Derartige Sorgfaltspflichten, die aus einer Erfolgsvoraussichtspflicht und einer Erfolgsvermeidepflicht bestehen, entstehen deshalb mit Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit eines Erfolges. Umstritten ist sowohl das Kriterium der Erfolgsvorhersehbarkeit als auch dasjenige der Erfolgsvermeidbarkeit. Nach der subjektiven Theorie ist das Vorliegen entsprechender Fähigkeiten anhand der individuellen Fähigkeiten des Täters zu bemessen, nach der objektiven Theorie dagegen nach den Fähigkeiten eines Durchschnittsmenschen. Auch nach der modernen Fahrlässigkeitslehre ist das Wesen der Fahrlässigkeit in der Verletzung der „im Sozialleben erforderlichen Sorgfalt“ zu sehen. Die Feststellung der Sorgfaltspflichtwidrigkeit folgt den objektiven Verhaltensmustern in allen Phasen des Soziallebens. Dabei ist die objektive Fahrlässigkeit im Deliktsaufbau auf der Ebene der Rechtswidrigkeit angesiedelt, die subjektive Fahrlässigkeit dagegen der Schuldebene vorbehalten. Diese Theorie wird „doppelte Fahrlässigkeitstheorie“ benannt.
2. Objektive Fahrlässigkeit als Risikoschaffung Nun ist nach dem Sinn der objektiven Fahrlässigkeit zu fragen. Wenn man den Sinn der von der Erfolgszurechnung her bekannten „Schaffung eines unerlaubten Risikos“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten genauer in Betracht zieht, ist sie mit der objektiven Fahrlässigkeit inhaltlich identisch26. Die Erfolgsvoraussicht bedeutet die „objektive Prognose vom Standpunkt ex ante“ bezüglich des Erfolgseintritts, also einer Risikoschaffung. Folglich ist die objektive Fahrlässigkeit kein Sondererfordernis der Fahrlässigkeitsdelikte, sondern ein Kriteri26
Yamanaka, Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), S. 944; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl., S. 1605.
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um der objektiven Zurechnung. Weiteres Kriterium der Erfolgszurechnung ist die Risikoverwirklichung, die in Gestalt einer objektiv-nachträglichen Prognose vorzunehmen ist. Die Problematik des „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ ist allein bei der Risikoverwirklichung zu lösen. Das Urteil darüber, ob derselbe Erfolg auch eingetreten wäre, wenn der Täter ohne eine Pflichtverletzung gehandelt hätte, bedeutet, dass die Pflichtwidrigkeit ex ante gesehen zwar ein unerlaubtes Risiko geschaffen, nach der ex post Betrachtung die pflichtwidrige Handlung allerdings nicht die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erhöht hat. Es fehlt demnach an einer Risikosteigerung27. Eine Risikoerhöhung gehört aber zu dem Beurteilungskriterium der Risikoverwirklichung. Daher handelt es sich bei den Fahrlässigkeitsdelikten um eine dualistische Risikoprognose.
VI. Versuch 1. Der Anfang der Tatausführung Die dualistische Risikoprognose spielt auch beim „Versuch“ eine wichtige Rolle. In Japan ist die objektive Versuchstheorie die herrschende Meinung beim Strafgrund des Versuchs, hinsichtlich des Versuchsbeginns dagegen die materielle Gefahrtheorie. Darüber hinaus stehen sich die „aktuelle Gefahrtheorie“ und die „konkrete Gefahrtheorie“ gegenüber28. Nach der aktuellen Gefahrtheorie beginnt die Tatausführung mit dem Zeitpunkt, in dem der Täter das notwendige Risiko für den Erfolgseintritt in Gang setzt. Nach der konkreten Gefahrtheorie ist ein Versuchsbeginn nicht vorhanden, wenn das Tatmittel nicht den Wirkungsbereich des Verletzten erreicht. Der praktische Unterschied beider Theorien tritt offen bei den Distanzdelikten und der mittelbaren Täterschaft zu Tage, wo sich die Abschickungstheorie und Erreichungstheorie gegenüberstehen. Dieser Streit verläuft parallel zu der Letztakttheorie und der Theorie des Eintretens des Verletzten in den Wirkungsbereich der Tathandlung29. 27
28 29
Roxin, ZStW 74, S. 430 ff.; Ders., Strafrecht AT, Bd. 1, S. 386 ff.; Yamanaka, Keiho niokeru Ingakankei to Kizoku (Kausalität und Zurechnung im Strafrecht) (1984), S. 53 ff.; vgl. auch Yamanaka, a.a.O., ZStW 102 (1990), S. 942 f.; Ders., Die Entwicklung und Tendenz der Lehre von der objektiven Zurechnung (oben Fn. 16), S. 409 f. Vgl. Yamanaka, Zum Beginn der Tatausführung im japanischen Strafrecht (oben Fn. 4), S. 101 ff. Dazu vgl. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, S. 374 ff., 395 ff.
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2. Der Beginn der Tatausführung als nachträgliche Regressbewertung Meines Erachtens bestimmt sich der Zeitpunkt des Versuchsbeginns nach dem Konzept der dualistischen Risikoprognose: Der „Anfang der Tatausführung“, der in § 43 jStGB geregelt ist, bedeutet „Beginn“ der Tatausführung. Er darf folglich keinesfalls erst nach Beendigung der Tatausführung einsetzen. Deswegen widerspricht sich die konkrete Gefahrtheorie bei den Distanzdelikten. Dieser Widerspruch ist wie folgt zu lösen: Der Zeitpunkt des Versuchbeginns muss nach der dualistischen Sicht der Risikoprognosen bestimmt werden. Die Täterhandlung muss erstens eine Risikoschaffungshandlung sein, was aus Sicht ex ante beurteilt werden muss. Diese Risikoschaffungshandlung muss zweitens einen Gefährdungszustand erreichen, um zur Strafbarkeit des Versuchs zu kommen. „Tatausführung“ bedeutet eine nachträgliche „Regressbewertung“ der Täterhandlung, die das unerlaubte Risiko geschaffen hat. Dieser Gedanke bedarf näherer Erklärung: Die Tatausführung ist die Handlung, die eine direkte und aktuelle Gefahr für den Eintritt des Erfolgs bzw. Gefährdungserfolgs auslöst. Sie muss eine direkte Risikoschaffungshandlung sein, die nach der Tätervorstellung keine zweite Alltagshandlung, die eine normative Störung für den Erfolgseintritt bedeutet, dazwischen treten lässt30. Wenn der Täter z.B. an das Opfer per Post einen vergifteten Whisky schickt, um es zu töten, liegt die Gefahrschaffungshandlung mit der Abgabe des Whiskys am Schalter des Postamtes vor. Ein Gefährdungszustand tritt aber erst im Zeitpunkt der Zustellung im Hause des Verletzten ein, erst dann wird der Mordversuch strafbar. Ab diesem Zeitpunkt wird die Risikoschaffungshandlung regressiv als Tatausführung bewertet. Ich nenne diese Gedanken „nachträgliche Regressbewertungstheorie“31. Sie ist das Resultat einer dualistischen Risikoprognose. Dasselbe gilt auch für den untauglichen Versuch. Die herrschende konkrete Gefahrtheorie passt nicht recht, weil sie auf einer monistischen Risikoprognose beruht. Es ist aber auch die objektiv-nachträgliche Prognose zu verwenden32.
30 31 32
Yamanaka, Sog. verfrühte Tatbestandsverwirklichung und Erfolgszurechnung, Gendaishakaigata Hanzai no Shomondai (Festschrift für Itakura, 2004), S. 98 ff. Vgl. Yamanaka, Keiho Soron 2 (Strafrecht AT 2. Bd.) 1999, S. 681 f. Dazu ausführlich Yamanaka, Die theoretische Struktur der Gefahrbeurteilung beim untauglichen Versuch – Die Verfechtung der Theorie von der dualistischen Risikoprognose, Gendai Keijiho Nr. 17, S. 57 ff.
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VII. Unechte Unterlassungsdelikte 1. Die Erfolgsvermeidbarkeit als Voraussetzung der Unterlassungsstrafbarkeit? Die japanische Unterlassungsdogmatik enthält mit der Verwechselung von Tatausführung und Erfolgszurechnung ein Phänomen: Die vorherrschende Lehrmeinung vertritt die Auffassung, dass kein strafbarer Versuch gegeben ist, wenn es an der Kausalität zwischen Unterlassung und Erfolg mangelt33. Nach dieser Lehre sind die unechten Unterlassungsdelikte überhaupt nicht strafbar, wenn keine Erfolgsvermeidemöglichkeit existiert. Wie man mit einem bekannten japanischen Praxisfall34 beispielhaft erklärt, ist der Totschlag durch Unterlassen selbst dann strafbar, wenn das Leben des Opfers nur mit der Wahrscheinlichkeit von 80 bis 90 Prozent (wörtlich: in 8 bis 9 von 10 Fällen) hätte gerettet werden können, falls der Täter seine Handlungspflicht erfüllt hätte. Die oben genannte Lehre vertritt nun die Auffassung, dass bei einer fehlenden Erfolgsvermeidemöglichkeit keine Handlungspflicht begründet werden kann35. Meines Erachtens verwechselt sie damit die Anforderungen von Versuch und Vollendung bei den Unterlassungsdelikten, da nicht genügend zwischen Tatausführung und Erfolgszurechnung differenziert wird. Es ist aber zweifelhaft, auch die Versuchshaftung zu verneinen, nur weil die Erfolgsvermeidbarkeit nicht ex post gegeben ist.
2. Erfolgsvermeidbarkeit und Risikovermeidbarkeit Bei den Unterlassungsdelikten ist die Handlungspflicht zu bejahen, wenn eine faktische Rettungsmöglichkeit bzw. Erfolgsvermeidbarkeit vorliegt. Allerdings gibt es verschiedene Fälle, in denen von einer „Handlungsmöglichkeit“ geredet wird: Erstens wird die Existenz einer Handlungspflicht bei fehlender individueller Handlungsfähigkeit verneint: Wenn etwa der Vater seinen Sohn, den die Strömung fortschwemmt, sehenden Auges nicht rettet, wird er nicht wegen eines Tötungsdelikts bestraft, wenn er ihn auf Grund mangelnden eigenen 33
34 35
Vgl. Yamanaka, Entwicklung und Ausblick der Unterlassungsdogmatik in der japanischen Strafrechtswissenschaft, Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, (Hrsg. v. Szwarc / Wasek), 1998, S. 109 ff., insbes. S. 128 ff.. Urteil des OGH vom 15.12.1989, Keishu 43, 13, 879; vgl. Yamanaka (Fn. 32), S. 132. Vgl. Noriyuki Nishida, Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Keiho Riron no Gendaiteki Tenkai, Bd. 1, S. 67 ff., S. 74; Yamaguchi, Mondai Tankyu Keiho Soron 1998, S. 44; Masahide Maeda, Keiho Soron Kogi, 3. Aufl., 1998, S. 133.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
Schwimmvermögens nicht retten konnte. Er wird aber zweitens auch dann nicht bestraft, wenn er seinen Sohn wegen einer auf die vorhandene hohe Strömungsgeschwindigkeit zurückgehenden faktischen Handlungsunmöglichkeit nicht retten konnte. Drittens wird nach der oben benannten Theorie mangels Erfolgsvermeidbarkeit nicht bestraft. Im dritten Fall kann er aber nur nicht wegen Vollendung bestraft werden. Dies wird theoretisch damit erklärt, dass die Begründung der Handlungspflicht von der Erfolgszurechnung zu trennen ist. Hingegen ist im zweiten Fall kein Risiko entstanden, welches den Versuch begründet, weil schon beim Anfang der Tatausführung keine Risikovermeidbarkeit vorliegt. Bei der mangelnden Erfolgsvermeidbarkeit ist in der Tat die Risikovermeidbarkeit aus Sicht ex ante vorhanden, es gibt nur im Zeitpunkt nach der Tat keine Erfolgsvermeidbarkeit mehr. Ein Beispiel: Der Vater will absichtlich seinen im See ertrinkenden Sohn nicht retten, obwohl er, wenn er wollte, ihn retten könnte. Der Sohn ist jedoch von einem Taucher unter Wasser mit einer Harpune getötet worden, bevor er ertrunken ist. Faktisch war eine Risikovermeidbarkeit vorhanden, als der Vater sich entschloss, seinen Sohn nicht zu retten – Resultat der ex ante Betrachtung. Im Zeitpunkt der Unterlassung liegt aber bei ex post Betrachtung keine Erfolgsvermeidbarkeit mehr vor, weil der Sohn bereits vom Taucher getötet wurde. Das bedeutet, dass die Handlungspflicht in diesem Fall begründet wird, weil die Risikovermeidbarkeit gegeben ist. Die Erfolgszurechnung wird dagegen verneint. Der Täter wird wegen des Tötungsversuchs bestraft.
3. Risikobeurteilungen bei den Unterlassungsdelikten Auch bei den Unterlassungsdelikten ist zwischen folgenden drei Risikobeurteilungen zu differenzieren: Erstens hinsichtlich der Gefährlichkeit der Unterlassung als Täterverhalten, welches das Risiko zum Erfolg gesteigert hat. Zweitens bezüglich des Eintritts jenes konkreten Gefahrenzustandes, welcher die Versuchsstrafbarkeit begründet. Und drittens rücksichtlich der Erfolgszurechnung, die hauptsächlich nachträglich regressiv beurteilt werden muss. Die erste Beurteilung ist vom Zeitpunkt ex ante aus zu treffen. In den anderen beiden Fällen dagegen bestehen die Beurteilungen in nachträglichen Prognosen36.
36
Im zweiten Fall lassen sich jedoch beide Prognosen nicht klar unterscheiden, weil der Beginn der Tatausführung bei den Unterlassungsdelikten im Täterverhalten im Zeitpunkt des Entstehens des Gefährdungszustandes vorliegt.
§ 5. Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“
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VIII. Fazit Wie die oben entwickelten Ansätze gezeigt haben, sind im gesamten Straftataufbau Analysen und Ausdifferenzierungen zur „Risikoprognose“ notwendig. Mit ihrer Hilfe ist in den modernen Risiko- und Präventionsgesellschaften für eine hinreichende Ausbalancierung und Harmonisierung zwischen den „Tendenzen einer verfrühten Bestrafung“ und dem „Prinzip des subsidiären strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes“ zu sorgen. Die japanische Strafrechtsdogmatik hat, grob gesagt, eine Neigung zum Objektivismus, während die deutsche Strafrechtsdogmatik mehr einen Subjektivismus präferiert. Neuerdings finden sich aber auch in der Versuchslehre Objektivierungstendenzen37. Die Analyse der Bedeutung des Risikobegriffs für die Entwicklung der Versuchstheorie wird daher immer wichtiger. In meinem Referat habe ich mich bemüht, die dualistischen Verwendungen der Risikoprognose auf der Grundlage der zweistufigen Normfunktion zu begründen und ihre Nützlichkeit anhand verschiedener dogmatischer Fragen zu exemplifizieren.
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Vgl. u.a. Thomas Maier, Die Objektivierung des Versuchsunrechts, 2005; s. auch Thomas Weigend, Die Entwicklung der deutschen Versuchslehre, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 113 ff.
§ 6. Entwicklung und Aussichten der Unterlassungsdogmatik in der japanischen Strafrechtswissenschaft 1. Einleitung Die japanische Lehre von den unechten Unterlassungsdelikten ist sehr von der deutschen Unterlassungsdogmatik beeinflusst Allerdings weist die Unterlassungsproblematik in Japan einige Eigenarten auf: 1. Das in Japan geltende StGB enthält keine Vorschriften über die unechten Unterlassungsdelikte1. 2. Darüber hinaus neigen Theorie und Praxis in Japan dazu, den Strafbarkeitsbereich der unechten Unterlassungsdelikte auf einen engeren Kreis als in Deutschland zu begrenzen. 3. Desweiteren konzentrierte sich die dogmatische Diskussion bisher vornehmlich auf die Begründung von Garantenpflichten und die damit verbundene Problematik ihrer Begehungsgleichheit. Dagegen wurden der Sinn der Garantenpflichten, sowie damit zusammenhängende Fragen nach der Handlungsmöglichkeit oder der Kausalität in der modernen Unterlassungsdogmatik nur sehr wenig systematisch erörtert2. 4. Besonders häufig werden in richterlichen Entscheidungen die Fälle der Tötung von Säuglingen durch Nichternährung, Nichtrettung des Opfers mit Tötungsvorsatz nach Verkehrsunfällen und Inbrandsetzungen durch Nichtlöschen als unechtes Unterlassungsdelikt behandelt. 5. Es ist jetzt schon voraussehbar, dass die Frage nach der fahrlässigen Unterlassung von Amtsträgern, die eine bestimmte Aufsichtspflicht innehaben, in der nahen Zukunft stärker diskutiert werden wird. An dieser Stelle sei bereits das Fallbeispiel des Direktors des Gesundheitsministeriums angeführt, durch 1
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Der Entwurf des reformierten Strafgesetzbuches von 1974 enthielt zwar in § 12 eine Regelung über die Gleichstellung der Unterlassungsdelikte mit den Begehungsdelikten, er ist jedoch nicht verkündet worden. Das bedeutet nicht, dass die Fragen überhaupt nicht diskutiert wurden, sondern nur, dass die systematischen Zusammenhänge der Garantenpflicht, Handlungsmöglichkeit und Kausalität nicht genügend überdacht wurden. Vgl. K. Yamanaka, Der systematische Umbau der Unterlassungsdogmatik, Keiho Zasshi, Bd. 36, Nr. 1, S. 91 ff.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
dessen Versäumnis, die Verwendung falsch aufbearbeiteter Medikamente zu verhindern, ein Bluter gestorben ist.
2. Lehrmeinungen zur Stellung der Unterlassungsdelikte im Verbrechensaufbau 2.1. Von den Anfängen im Schrifttum bis zur Garantentheorie Anfangs3 wurde in der japanischen Strafrechtswissenschaft der Schwerpunkt der Unterlassungsdogmatik im Problem der „Kausalität der Unterlassung“ gesehen4. Inzwischen ist anstelle der Kausalitätsfrage das Problem der „Handlungspflicht“ in den Vordergrund gerückt worden; Eiichi Makino5 schrieb schon in den dreißiger Jahren, dass der Erfolgseintritt durch das Unterlassen dann dem Begehen gleichgestellt werden sollte, wenn der Unterlassende trotz der rechtlichen Erwartung die erforderliche Handlung nicht vorgenommen habe. Das Erfordernis der Handlungspflicht sei für die Unterlassungsdelikte notwendig und in folgenden Fällen zu bejahen: 1) Falls sie im Gesetz beschrieben sei, 2) falls ihre Entstehung aus Verträgen oder sonstigen Geschäftshandlungen ableitbar sei und 3) falls die Unterlassung die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verletze. Nach Makino ist die Unterlassung daher in der Regel nicht rechtswidrig, sondern nur bei einem Ordnungsverstoß oder einem Verstoß gegen die guten Sitten6. Die Handlungspflicht ist auf der Ebene der Rechtswidrigkeit einzuordnen, so dass in seiner Vorstellung vom Verbrechensaufbau die Tatbestandsmäßigkeit bereits dann zu bejahen ist, wenn die Kausalität vorliegt7. Damit aber kann auch das Unterlassen desjenigen, der keine Handlungspflicht innehat, tatbestandsmäßig sein. In diesem Fall soll allerdings die Tatbestandsmäßigkeit 3
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Nach Makino wurde die dogmatische Frage nach den Unterlassungsdelikten in der japanischen Strafrechtswissenschaft durch Asataro Okada zum ersten Mal im Jahre 1900 behandelt, indem er die Lehre von Liszt vorgestellt hat. Z.B. erörterte Kanzaburo Katsumoto in seinem Lehrbuch „Keiho Yoron Sosoku“ (Grundzüge des Strafrechts AT, 1913) das Thema „Unterlassungsdelikte“ unter dem Titel „Unterlassen und Kausalität“. E. Makino, „Nippon Keiho“ (Japanisches Strafrecht), Bd. 1, 1937, S. 124 ff. E. Makino, a.a.O. (Fn. 5), S. 130. E. Makino, Die Rechtswidrigkeit des Unterlassens, in: Koi no Iho / Fusakui no Ihosei 1925, S. 93 ff.; vgl. Kameji Kimura, Keiho Kaishakugaku no Shomondai (Verschiedene Probleme der Strafrechtsdogmatik), 1939, 188 ff.
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nicht die Rechtswidrigkeit indizieren, da diese erst auf der Unrechtsebene mit der positiven Feststellung der Handlungspflicht erörtert werden müsste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Hauptaugenmerk einerseits auf die systematische Einordnung der Unterlassungsdelikte in den Verbrechensaufbau und andererseits auf die Wurzeln der Handlungspflicht gerichtet. Seiichiro Ono8 etwa sah die Kardinalfrage der Unterlassungsdelikte nicht auf der Unrechts-, sondern auf der Tatbestandsebene. Er stellte zudem die Frage nach der „Tatausführung durch Unterlassen“ in den Vordergrund. Shigemitsu Dando hingegen stellte die Frage nach dem Tatbestandstypus in den Mittelpunkt der Diskussion9, wobei er den Typus der Unterlassungsdelikte eng mit dem Unrechtsurteil verknüpfte. Man müsse außerdem, um die Tatbestandsmäßigkeit der Unterlassungsdelikte zu beurteilen, zugleich die tragende Rechtswidrigkeit beachten. Weil das Unterlassen jedoch häufig in unserem Sozialleben akzeptiert wird, bildet es keinen Verbrechenstypus, soweit es nicht besonders rechtswidrig ist10.
2.2. Die Garantenstellungstheorie und ihre Entwicklung Nagler begründete die Theorie der Garantenstellung11, die in den 60er Jahren auch in Japan übernommen wurde12. Danach ist derjenige Garant, der die Pflicht übernimmt, die Rechtsgutsverletzung zu verhindern. Nur derjenige, der eine solche Garantenpflicht innehat, kann tatbestandsmäßig handeln. Die Garantentheorie ist seither die herrschende Meinung; doch besteht Uneinigkeit über ihren Inhalt und ihre Ausgestaltung. Dabei stehen sich ebenso wie in Deutschland verschiedene Lehrmeinungen über die Garantenstellungen und Garantenpflichten gegenüber.
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S. Ono, Keiho Kogi Soron (Vorlesung zum Strafrecht AT), 1950, S. 104. S. Dando, Keiho Koyo Soron (Grundzüge des Strafrechts AT), 1. Aufl. 1957, S. 99 ff. Dando betonte in der dritten Auflage seines Lehrbuchs, dass er die systematische Ordnung des Verbrechensaufbaus von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit nicht umkehren wollte. Nach ihm muss bloß die Rechtswidrigkeit bei der Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit mitberücksichtigt werden (S. Dando, a.a.O., 3. Aufl. 1990, S. 147). Nagler, Die Problematik der Begehung durch Unterlassen, in: Der Gerichtssaal, Bd. 111 (1938), S. 51 ff.; Ausführlich vgl. Y. Nakamori, Zur Garantenlehre in: Hogaku Ronso 84 (1969), Nr. 4, S. 1 ff. Kimura, Keiho Soron (Strafrecht AT), 1959, S. 196 ff.; Ders. Hanzairon no Shinkozo (Neue Konstruktion der Verbrechenslehre), Bd. 1, 1966. S. 43 ff.
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Die erste Meinung geht dahin, dass sowohl die Garantenstellung, als auch die Garantenpflicht aus sozialen Vorstellungen heraus identisch verstanden werden müssen (Identifizierungstheorie13). Die zweite Meinung differenziert zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht (Trennungstheorie14): Sie ordnet dem Tatbestand die konkrete Garantenstellung zu und scheint die Handlungspflicht als Rechswidrigkeitsproblem zu sehen. Dabei soll zwischen der Garantenstellung als tatsächlicher und als rechtlicher Umstand und der daraus resultierenden Garantenpflicht weiter differenziert werden. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass die Tatbestandsmäßigkeit keine normative Beurteilung, sondern eine tatsächliche und typisierte Beurteilung sei. Ferner lässt sich der Standpunkt erkennen, dass der Irrtum über die Garantenstellung ein Tatsachenirrtum und der Irrtum über die Garantenpflicht ein Rechtsirrtum sei.
3. Entstehungsgründe der Garantenpflichten 3.1. Die Entwicklung der formellen Rechtspflichtslehre Bisher werden als Entstehungsgründe der Handlungspflicht Gesetz, Vertrag oder vernünftige Erfahrungssätze (Dgyori) genannt; so hieß es etwa vor dem Zweiten Weltkrieg explizit: „Die Handlungspflicht braucht nicht immer auf dem Gesetz oder Vertrag zu beruhen“, ausreichend seien auch „soziale Sittenvorstellungen“15. In der Gegenwart gibt es einen solchen moralischen Ansatz nicht mehr, es werden aber zur Begründung einer Handlungspflicht auch vorangegangenes Tun (Ingerenz), „vernünftige Erfahrungssätze“ oder „Gewohnheit“ herangezogen. Allerdings wird die „Bestimmtheit“ der vernünftigen Erfahrungssätze, die auch bloße moralische oder sittliche Wertvorstellungen beinhalten können, in Frage gestellt. Wird die Rechtspflicht auf unbestimmte (wenn auch vernünftigen) Erfahrungssätze gegründet, so ist das Prinzip der Gesetzmäßigkeit tangiert.
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H. Otsuka, Keiho Gaisetsu Soron (Allgemeine Erklärung des Strafrechts AT). 3. Aufl. 1997, S. 147; Ders., Hanzairon no Kihonmondai (Grundlagenprobleme der Verbrechenslehre), 1982, S. 100; K. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 2), S. 94. T. Fukuda, Keiho Soron (Strafrecht AT), 3. Aufl. 1996, S. 94; Ders., Keihokaishakugaku no Shuyomondai (Hauptprobleme der Strafrechtsdogmatik), S. 58 ff.; Ken Naito, Keiho Soron Kogl (Vorlesung zum Strafrecht AT), 1983, S. 230; F. Uchida, Keiho Soron, 1986, S. 137; H. Kawabata, Keiho Soron Kogi, 1995, S. 221. E. Makino, Nippon Keiho, Bd. 1, 1937, S. 125 f.
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Wenn man andererseits die Entstehungsgründe der Garantenpflicht aus Gesetz oder Vertrag untersucht, ist fraglich, ob sie in der konkreten Situation die konkrete Handlungspflicht, den Erfolgseintritt zu verhindern, begründen können. Wird zum Beispiel ein Verkehrsunfall mit einer schweren Körperverletzung verursacht, entsteht die Hilfeleistungspflicht des Unfallsverursachers aus § 72 Abs. 1 jStVO. Derjenige, der diese Pflicht nicht erfüllt, wird nach § 72 Abs. 1 und § 117 jStVO bestraft. Diese Pflichtwidrigkeit ist aber nicht mit der Garantenpflicht z.B. bei der Aussetzung mit Todesfolge oder bei den Tötungsdelikten durch Unterlassen vergleichbar. Ob die Verkehrspflichtwidrigkeit die Handlungspflicht, den Erfolgseintritt im Sinne der Tötungsdelikte (§ 199), oder der Aussetzung mit Todeserfolg (§ 219) zu verhindern, oder überhaupt Handlungspflichten für einen Tatbestand des StGB begründen kann, hängt von den konkreten Umständen ab. Deshalb rückte die Gleichstellungsfrage seit den 70er Jahren in der japanischen Unterlassungsdogmatik in den Vordergrund. Die „Gleichwertigkeit“ sollte als materielles Beschränkungselement der Unterlassungshaftung dienen. Ob die Gleichwertigkeit in der Garantenpflicht zu sehen ist oder daneben ein unabhängiges Tatbestands- oder Unrechtselement bildet, ist in der Literatur umstritten.
3.2. Die Entwicklung der materiellen Rechtspflichtslehre In der deutschen Unterlassungsdogmatik wurde seit langem versucht, den materiellen Grund der Handlungspflicht mit möglichst einem Kriterium zu erklären. Um Beispiele zu nennen: „Gefahrschaffungstheorie“16, „Vertrauenstheorie“17, „Erwartungstheorie“18 oder „Herrschaftstheorie“19. In der japanischen Unterlassungsdogmatik hatte man diese Tendenz in den 80er Jahren. Man kann das jeweils Charakteristische in beiden Ländern, grob gesagt, zwischen einem eher soziologisch-normativen Ansatz in der deutschen Dogmatik und einem eher tatsächlich-physischen Ansatz in der japanischen Dogmatik sehen.
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Arzt, JA 1980, S. 560, 714, 717. Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 178 ff., 189 ff. Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 129. Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 229 ff., 236.
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Nach der „Ingerenztheorie“ ist eine Handlungspflicht nur dann begründet, wenn ein vorangegangenes Tun gegeben ist20. Daneben ist die „konkrete Abhängigkeitstheorie“ (Theorie der tatsächlichen Übernahme) aufzuführen, nach der eine Handlungspflicht entsteht, wenn ein konkretes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unterlassenden und dem Opfer vorhanden ist21. Die „Herrschaftstheorie“22 erblickt das Element für die Gleichwertigkeit darin, dass der Unterlassende den Kausalverlauf zum Erfolgseintritt „in seine Hand“ nimmt, ihn m.a.W. konkret-wirklich beherrschen kann. Sie differenziert danach, ob der Unterlassende aus eigenem Willen eine „tatsächlich-exklusive Herrschaft“ besitzt oder ob er die Situation nicht aus eigenem Willen tatsächlich beherrscht. Diese drei monistisch orientierten Theorien haben allesamt das Problem, Garantenpflichten nicht in geeigneter Weise begründen zu können. Zudem sind ihre Ergebnisse allzu oft kriminalpolitisch nicht zu billigen. Die Ingerenztheorie enthält die Auffassung, dass der Unterlassende selber einen Kausalverlauf zur Rechtsgutsverletzung in Gang gesetzt haben muss, bevor er alles weitere unterlässt. Nach dieser Theorie wird Unterlassen angenommen, wenn das vorangegangene Tun vom Ingerenten mit Vorsatz oder Fahrlässigkeit begangen wurde. Verlässt z.B. ein Fahrer nach einem von ihm verursachten Unfall den Unfallort und nimmt er dabei den möglichen Tod des Opfers billigend in Kauf, soll er wegen Totschlags durch Unterlassen bestraft werden. Nach dieser Theorie müsste Totschlag durch Unterlassen auch dann angenommen werden, wenn der Täter eines erfolgsqualifizierten Delikts nach Erfüllung des Grundtatbestandes Tötungsvorsatz fasst. Im Gegensatz dazu müsste Mord zu Unrecht abgelehnt werden, wenn Adoptiveltern ihren fünfjährigen Adoptivsohn verhungern lassen, wenn sie zuvor kein vorsätzliches oder fahrlässiges vorangegangenes Tun verwirklicht haben23. Nach der Theorie der tatsächlichen Übernahme entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, wenn die Erhaltung eines Rechtsgutes von einem Dritten tatsächlich übernommen worden ist. Erfolgt eine Übernahme dadurch, dass eine Mutter dem Kind wiederholt und dauernd Nahrung gibt, entsteht eine Handlungs-
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Y. Hidaka, Fushinsei Fusakuihan no Riron (Die Lehre von den unechten Unterlassungsdelikten), 1979, S. 155 ff. S. Horiuchi, Fusakuihanron (Unterlassungsdogmatik), 1978, 254 ff. N. Nishida, Die Lehre von den Unterlassungsdelikten, in: Keihoriron no Gendaitekitenkai (hrsg. v. Shibahara / Horiuchi / Machino / Nishida), 1988, S. 89 ff. Vgl. N. Nishida, a.a.O. (Fn. 22), S. 87 f.
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pflicht. Diese Theorie nennt als Kriterium für die tatsächliche Übernahme drei Voraussetzungen24: Erstens ist erforderlich, dass die unterlassene Handlung gerade beginnt oder schon begonnen hat. Zweitens ist notwendig, dass der Unterlassende die „tatsächliche Übernahme“ wiederholt und dauernd ausführt. Drittens ist Exklusivität nötig, d.h. andere können für die Rechtsguterhaltung nicht eintreten. Dieser Theorie ist nicht zu folgen: Geht der Vater mit seinem Sohn am See spazieren und rettet das Kind nicht, obwohl es ertrinken könnte, gibt es keine Rechtsguterhaltungshandlung und, wenn daneben kein Dritter existiert, keine Handlungspflicht. Gleiches gilt, wenn der Verursacher eines Verkehrsunfalls, der schon von Anfang an die Absicht hatte, das Opfer auszusetzen, es nun zu einem abgelegenen Ort transportiert und unterwegs den Tötungsvorsatz fasst: Mangels Rechtsguterhaltungshandlung gibt es keine Wiederholung und Fortsetzung. Das Tötungsdelikt durch Unterlassen wäre somit abzulehnen. Nach der Herrschaftstheorie lassen sich drei Fallgruppen differenzieren25: Fälle, in denen der Unterlassende eine tatsächliche exklusive Herrschaft über den Kausalverlauf hat; Fälle, in denen der Kausalverlauf in seinem Herrschaftsbereich liegt; Fälle, in denen er eine normative Herrschaft über den Kausalverlauf hat. Bei der ersten Fallgruppe hat der Unterlassende dann eine Handlungspflicht, wenn er die exklusive Herrschaft aus eigenem Wille besitzt oder errungen hat. Zu dieser Gruppe gehören die Handlungspflicht aufgrund des Ernährungsvertrages oder des Adoptiveltern-Kind-Verhältnisses. Die zweite Fallgruppe wird dadurch charakterisiert, dass der Unterlassende keinen Willen bezüglich seiner tatsächlich bestehenden Garantenstellung hat und er den Kausalverlauf tatsächlich beherrschen kann. Zu ihr gehören diejenigen, die auf dem Personenstand oder dem sozialen Stand beruhen, wie z.B. das Eltern-Kind-Verhältnis, der Eigentümer oder der Verwalter des Gebäudes, die im Sozialleben dauernd eine Schutz- oder Verwaltungspflicht innehaben. Die dritte Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der Unterlassende auf der Stelle zur Handlung verpflichtet ist. Hier handelt es sich nur um normative Elemente. Nach dieser Theorie ist in der letzten Fallgruppe fraglich, ob dem Unterlassenden die Stellung für die Herrschaft über den Kausalverlauf zuzurechnen ist. Der Vater, dessen Kind im Meer ertrinkt, könnte nicht wegen 24 25
Vgl. Horiuchi, a.a.O. (Fn. 21), S. 260. N. Nishida, a.a.O. (Fn. 22), S. 90 ff.
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Mordes an seinem Kind bestraft werden, wenn andere Personen die Rettungshandlung vornehmen könnten. Gegen diese Theorie lässt sich einwenden, dass der Begriff „Herrschaft über den Kausalverlauf“ zu unbestimmt bzw. inhaltslos ist26. Unklar ist auch, ob diese Theorie voraussetzt, dass die Unterlassung den Erfolg verursachen kann. Wenn man den Begriff „Herrschaft“ als Steuerung des Kausalverlaufs ansieht, kann der Unterlassende ihn nur in der Weise steuern, dass er die wirklichen oder möglichen Interventionen von dem sich verwirklichenden Kausalverlauf abhält. Es ist aber fraglich, ob der Adoptivvater immer diese tatsächliche Herrschaft über den Kausalverlauf zum Todeserfolg seines Adoptivsohnes hat. Auch bei der zweiten Fallgruppe ist es zweifelhaft, ob der Kausalverlauf im Herrschaftsbereich des Unterlassenden liegt, wenn der Eigentümer des Gebäudes den Obdachlosen, der in seinem Gebäude übernachtet hat und verhungert, entdeckt und liegen lässt. Nach der Theorie muss der unterlassende Eigentümer wegen eines Tötungsdelikts bestraft werden, da der Obdachlose sich in seinem Herrschaftsbereich befand. Der Unterlassende hätte hier eine Beschützerstellung ohne eigenen Willen inne. Die materiellen Theorien, die in Japan einen monistischen Ansatz vertreten, führen letztlich zu nicht sachgerechten Lösungen.
4. Rechtsprechung zu den Unterlassungsdelikten Die unechten Unterlassungsdelikte, die in den richterlichen Entscheidungen zu finden sind27, beziehen sich auf Tötung28, Brandstiftung, Betrug oder Leichenaussetzung (190)29. Die häufigsten Tötungsdelikte sind die Tötung von Säug26 27
28
29
Vgl. schon Brammsen, a.a.O. (Fn. 18), S. 75 ff. gegen die Lehre von Schünemann. Über die Rechtsprechung zu den Unterlassungsdelikten vgl. Y. Hidaka, Hanrei Keiho Kenkyu (hrsg.v. Nishihara u.a.), Bd. 1, 1980, S. 95; Kamiyama, Shin Hanrei Kommentar Keiho (Kommentar zu neuen Entscheidungen in Strafsachen) (hrsg. v. Otsuka / Kawabata), Bd. 1 (1996), S. 205 ff. Außer der Tötung von Säuglingen durch Nichternährung und der Tötung durch Nichtrettung nach einem Verkehrsunfall gibt es auch eine andere Art von Sachverhalten: Der Täter wurde gegenüber einem seiner Angestellten gewalttätig und fügte ihm dabei mehrere Knochenbrüche zu. Da er das Entdecken seiner Tat befürchtete, unterließ er jede Maßnahme, um den Verletzten ärztliche Versorgung zukommen zu lassen. Das Opfer starb. In diesem Fall bejahte das Gericht die Tötung durch Unterlassen (Urteil des Landgerichts Tokyo, Zweigstelle Hachioji, vom 22.12.1982, Hanrei Times 494, 142). Wird z.B. durch einen Totenfeierpflichtigen die Leiche, die von der Täterin im Wandschrank versteckt wurde, an diesem Ort gelassen, begeht er das Leichenaussetzungsde-
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lingen durch Nichternährung und die Nichtrettung der Opfer nach Verkehrsunfällen.
4.1. Tötung von Säuglingen durch Nichternährung In einem Fall, in dem ein Pflegevater einen Säugling übernahm und ihn verhungern ließ, verurteilte das japanische Reichsgericht am Anfang des Jahrhunderts den Mann wegen vorsätzlicher Tötung. Im Urteil hieß es dazu: „Eine Tötung i.S.d. § 199 ist dann gegeben, wenn jemand zur Betreuung verpflichtet ist, egal ob sich diese Pflicht aus Gesetz oder Vertrag ergibt“30. Ohne auf die Frage der Tötung durch Unterlassen oder aktives Tun einzugehen, hat das Reichsgericht in einem Urteil des Jahres 1925 in einem ähnlichen Fall das Unterlassungsdelikt als eine Tötung i.S.d. § 199 angenommen31. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die unteren Gerichte in Fällen dieser Art den Straftatbestand des § 199 als erfüllt an.
4.2. Brandstiftung Diesbezüglich möchte ich auf zwei Entscheidungen des Reichsgerichts und eine des Obersten Gerichtshofs eingehen.
4.2.1. Urteil des jRG vom 18.12.1918, Keiroku 21, 90 Der in diesem Fall Angeklagte hatte sich mit seinem Adoptivvater gestritten und ihn während der Auseinandersetzung mit einem Küchenmesser getötet. Er beschloss, den Leichnam zu beseitigen. Der Angeklagte bemerkte, dass das Stroh im Innenhof durch ein vom Stiefvater angezündetes Stück Holz in Brand geraten war. Er löschte das Feuer nicht, obwohl es ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre. Der Hof brannte völlig ab. Das Reichsgericht hat wie folgt entschieden: „Obwohl das Anzünden des Hofes dem Angeklagten nicht als vorsätzliche Tat zugerechnet werden kann, kann das Unterlassen von Löschungsmaßnahmen als eine Handlung i.S.d. ‘Brandstiftung’ verstanden werden. Das ist dann der Fall, wenn derjenige, der gesetzlich zur Vornahme von Löschungsmaßnahmen verpflichtet ist, diese mit dem Willen unterlässt, das schon ausgebrochene Feuer für seine Zwecke zu
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likt (Urteil vom 19.7.1965, Kokeishu, Bd. 18, H. 5, S. 506). Die Leichenaussetzung ähnelt der „Störung der Totenruhe“ (§ 168) im deutschen StGB. Urteil des jRG vom 10.2.1914, Keiroku 21, 90. Urteil des jRG vom 25.10.1925, Hanrei Taikei 34, 30.
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nutzen“. Als Verpflichtungsmoment bezeichneten die Richter den Kampf zwischen dem Adoptivvater und dem Angeklagten. Besondere Aufmerksamkeit ist der Formulierung zu schenken: „mit dem Willen, das schon ausgebrochene Feuer für seine Zwecke zu nutzen“. Das Reichsgericht bezeichnet dies als übervorsätzlichen Zweck, der die vorher begangene Tat verdecken sollte.
4.2.2. Urteil des RG vom 11.3.1938, Keishu 17, 237 Der Angeklagte war Eigentümer eines Hauses, in dem er allerdings nicht lebte. Vielmehr besuchte er es 3 bis 4 mal am Tag im Rahmen seiner geschäftlichen Tätigkeit als fliegender Händler. Einmal übernachtete er jedoch zufällig in diesem Haus und zündete morgens am Familienaltar zwei Kerzen zum Gebet an. Obwohl er klar erkannte, dass durch die Position der Kerzen der Altar in Kürze in Brand geraten würde, verließ er das Haus ohne die Kerzen zu löschen. Der Angeklagte bezweckte damit, einen fahrlässigen Brand vorzutäuschen und auf diese Weise die Versicherungsgelder betrügerisch zu erlangen. „Bricht ein Feuer im eigenen Haus aus und werden Maßnahmen zur Verhinderung des Brandes mit dem Willen unterlassen, das ausgebrochene Feuer für sich zu nutzen, ist das Unterlassen der Brandstiftung durch aktives Tun gleichzusetzen“.
Die Handlung besteht im „Inbrandsetzen“. „Die Pflichtwidrigkeit bei Unterlassungsdelikten muss nicht auf die Merkmale dieser Handlung beschränkt werden. Es sind auch die Maßnahmen zu fordern, die im konkreten Einzelfall nach sozialen Vorstellungen selbstverständlich sind und von der öffentlichen Ordnung und nach den guten Sitten erwartet werden. Die Pflichtwidrigkeit liegt dann in der Nichtvornahme dieser Handlungen“. Das Urteil verwendet auch hier den Wortlaut „Wille, das ausgebrochene Feuer für seine Zwecke zu nutzen“ im Sinne einer betrügerischen Absicht. Außerdem betont es, dass die Handlungspflichten nicht nur durch Gesetze oder Vertrag, sondern auch durch „vernünftige Erfahrungssätze“ begründet werden.
4.2.3. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 9.9.1958 Der Angeklagte machte als Angestellter Überstunden in seinem Büro. Um sein Zimmer zu heizen, verwendete er ein Kohlenbecken unter seinem Tisch. Daneben befanden sich drei mit Papier gefüllte Kartons. Als er das Zimmer verlassen hatte und in einem anderen Raum eingeschlafen war, fingen die Kartons Feuer und begannen zu brennen. Als der Angestellte den Brand entdeckte, unternahm er nichts. Er verließ stattdessen das Gebäude und nahm
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dabei billigend in Kauf, dass sich das Feuer im Gebäude ausbreiten würde. Das Gebäude brannte völlig nieder. „In diesem Fall hat der Angeklagte das Gebäude fahrlässig in Brand gesetzt. Er hat neben der Pflicht, das Feuer in seinem Büro zu löschen, auch die Pflicht verletzt, das Ausbreiten des Feuers im Gebäude zu verhindern. Er hat das Feuer fahrlässig verursacht, aber mit dem Willen, das schon ausgebrochene Feuer zu nutzen und das Gebäude niederbrennen zu lassen“.
In diesem Urteil wurde der Begriff „Wille, das schon ausgebrochene Feuer zu nutzen“, anders als in den beiden vorangegangenen Entscheidungen verwendet Hier bezeichnet der Wille nichts anderes als den Vorsatz.
4.3. Fahrerflucht 4.3.1. Züge und Tendenzen In den Fällen, in denen ein Angeklagter einen Verkehrsunfall verursachte und die Verletzten später starben, wurde früher niemand wegen der Tötung eines Menschen verurteilt32. So wollte z.B. ein Angeklagter den Verletzten nach dem Unfall zur medizinischen Versorgung ins Krankenhaus bringen, überlegte sich jedoch während der Fahrt, dass er identifiziert und verhaftet werden könnte. Er beschloss, das Opfer auf einer entlegenen Straße liegen zu lassen und weiterzufahren. Das Opfer verstarb. Bis zur Mitte der 60er Jahre behandelte die Rechtsprechung diese Fälle als Aussetzung mit Todesfolge. Danach lassen sich jedoch Entscheidungen finden, in denen die unteren Gerichte die Angeklagten auch wegen der Tötung eines Menschen verurteilten.
4.3.2. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 30.9.1965, Kakeisini 7.9.1828 Nachdem der Angeklagte das Opfer fahrlässig angefahren hatte, nahm er es in seinem Auto mit, um es ins Krankenhaus zu bringen. Während der Fahrt überlegte er sich jedoch, dass das Geschehen aufgeklärt und er verurteilt werden würde. So fuhr er mit dem Verletzten ca. 29 Kilometer, ohne dem Verletzten rettende Hilfe zukommen zu lassen. Das Opfer verstarb noch im Auto, weil es einen Verletzungsschock erlitt und verblutete. 32
In einer Entscheidung verurteilte das Gericht den Täter nicht wegen vorsätzlicher Tötung, obwohl er zweifelsfrei den Tod des Opfers wollte und es deshalb am Unfallort liegen ließ (Urteil des Landgerichts Gifu – Zweigstelle Ogaki – vom 3.10.1967, Kakeishu 9.10.1303).
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik „Es kann klar festgestellt werden, daß der Angeklagte den Tod des Opfers bedingter Weise vorausgesehen hat. Er wollte das Opfer auf jeden Fall nicht zum Krankenhaus bringen, obwohl er die Notwendigkeit erkannte. Durch die ununterbrochene Fahrt kann davon ausgegangen werden, daß er den Willen hatte, das Opfer zu töten oder er es zumindest billigend in Kauf nahm, daß das Opfer sterben würde“.
Die Literatur interpretiert die Rechtsprechung so, dass durch das Verbringen in den Wagen des Angeklagten das Opfer in den Herrschaftsbereich des Fahrers gelangte und jeder Rettungschance beraubt wurde. Damit hätten die Erfordernisse „Herrschaftsbereich“ und „Exklusivität“ vorgelegen, die jede Rettungsmaßnahme eines jeden Dritten verhinderten.
5. Aufsichtsfahrlässigkeit und Unterlassungsdogmatik 5.1. Entstehung des Begriffs ,,Aufsichtsfahrlässigkeit“ In Japan traten in den 70er Jahren sehr häufig Brandkatastrophen in Hotels und Hochhäusern auf. Sie waren das Resultat fehlender Sicherheitsvorkehrungen in der Zeit eines hohen Wirtschaftswachstums nach dem 2. Weltkrieg33. Häufig wurden die Manager oder mittlere Angestellte zur Verantwortung gezogen. So rückte vor allem die strafrechtliche Haftung des Top-Managers für die Praxis in den Vordergrund. Man entwickelte deshalb die Besorgnistheorie34: Durch den Begriff der „Vorhersehbarkeit“ versuchte man, die Fahrlässigkeitshaftung zu erweitern. Insbesondere wollte man damit die sogenannte „Katastrophe modernen Typs“ erfassen: Fahrlässige Tötung durch Umweltverschmutzung, Vergiftungsunfälle durch Nahrungsmittel oder pharmakologische Unfälle. Nach dieser Besorgnistheorie genügt es, wenn nur eine leichte Besorgnis oder die Angst besteht, dass ein unerwünschter, strafrechtlich relevanter Erfolg eintritt. Diese Theorie wurde jedoch heftig kritisiert Ein Kernelement des Strafrechts sei die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs. Zudem würde der Schuldbegriff unter diesen Umständen völlig leer laufen35. In den 80er Jahren trat an die Stelle der Besorgnistheorie die „Aufsichtsfahrlässigkeitstheorie“, die ebenso den Top-Manager zur Verantwortung ziehen 33
34 35
Dazu vgl. K. Yamanaka, Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, in: ZStW 102, 928 ff.; Ders.. Umweltkatastrophen und Theorie der Aufsichtsfahrlässigkeit in der neuen japanischen Judikatur, in: Kansai University Review of Law & Politics Nr. II, S. 85 f. Von Hideo Fujiki ist die Theorie begründet und entwickelt worden (vgl. Ders. Kasitsuhan (hrsg.v. Fujiki), 1975, S. 22 ff.). M. Mitsui, Kashitsuhan (Fn. 34), S. 145.
§ 6. Unterlassungsdogmatik in der jap. Strafrechtswissenschaft
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wollte. Im Gegensatz zur Besorgnistheorie erweitert sie nicht die Voraussehbarkeit, sondern lässt den Manager für seine Aufsichtspflichtverletzung gegenüber seinen Angestellten haften. Anfangs bezog sich die Aufsichtspflicht nur auf Personen. Später wurde sie jedoch auch auf die Fälle der Verwaltungshaftung für Gebäude, Anstalten oder Sachen ausgedehnt Man bezeichnet sie nun als „Verwaltungs-Aufsichtsfahrlässigkeit“36. Ich möchte beide Gruppen aber weiterhin unter dem Begriff „Aufsichtsfahrlässigkeit“ im weiteren Sinne zusammenfassen.
5.2. Aufsichtsfahrlässigkeit und fahrlässige Unterlassungsdelikte Die Aufsichtspflichten lassen sich wie folgt differenzieren37: 1. Fallgruppe der „gleichzeitigen Aufsichtspflicht“; 2. Fallgruppe der „vorherigen Aufsichtspflicht“. Bei der ersten Fallgruppe entsteht die Pflicht, nachdem eine tatsächliche Gefahr eingetreten ist. Bei der zweiten handelt es sich um Fälle, in denen schon von vornherein eine Gefahr besteht Ein Beispiel für die erste Gruppe ist der Fall, in dem ein Hotel-Manager während eines Hotelbrandes nichts unternommen hat, obwohl er die Hotelgäste ohne weiteres hätte zu einer sicheren Treppe führen lassen können. Durch den Ausbruch des Feuers bestand eine tatsächliche Gefahr für die Gäste. Bei der 2. Gruppe geht es um die Fahrlässigkeitshaftung des Hoteleigentümers, der trotz mehrfacher Hinweise des Feuerwehramtes keine Brandschutztüren und Feuerlöschgeräte einbauen ließ. Diese Fallgruppe ist besonders problematisch. Hier ist unklar, ob es sich um ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt oder um ein Begehungsdelikt handelt. Das Gericht qualifizierte diesen Fall als Unterlassungsdelikt. Im Urteil heißt es: „Die Verpflichtung, den Erfolg zu vermeiden, kann nur mit den vernünftigen Erfahrungssätzen wie Gesetze, Vertrag oder Gewohnheit begründet werden.“38 Dieser Satz lässt sich dahin auslegen, dass damit die Garantenstellung begründet wurde. Doch geht aus dem Urteil nicht hervor, ob es sich um ein Begehungs- oder Unterlassungsdelikt handelt. Es kommt somit darauf an, ob die Installierung einer Feuerschutzanlage unterlas36 37 38
Vgl. M. Mitsui, Die Problematik der Verwaltungs-Aufsichtsfahrlässigkeit. In: Keiho Zasshi, Bd. 28, H. 1, S. 18. Vgl. Yamanaka, Kausalität (objektive Zurechnung), in: Kasai to Keijisekinin (hrsg.v. Nakayama / Yoneda), 1993, S. 84 f. Das Urteil des Landgerichts Fukuoka vom 11.11.1991, Keishu 45.8.221 (vgl. K. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 37), S. 79).
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
sen wurde oder ob der Hoteleigentümer das Hotel ohne die Anlage betreiben wollte. Was ist hier das entscheidende Differenzierungskriterium? In diesen Fällen der gleichzeitigen Aufsichtsfahrlässigkeit ist es unzweifelhaft, dass es sich um ein Unterlassungsdelikt handelt, weil der Täter in diesem Moment keine positive Ursache zum Erfolg gesetzt hat. Wenn z.B. ein Hotel-Manager beim Hotelbrand anstatt die Gäste an einen sicheren Ort führen zu lassen, versucht, das Feuer mit einem Eimer Wasser zu löschen, und deshalb zahlreiche Gäste zu Tode kommen, kann man bloß Unterlassen feststellen. Allerdings bestand noch keine tatsächliche Gefahr i.S.d. „vorherigen Aufsichtsfahrlässigkeit“ zur Zeit der Aufnahme des Hotelbetriebes. Die Begründung einer Garantenstellung zu dieser Zeit erscheint mir zweifelhaft. Sie entsteht vielmehr erst dann, wenn eine tatsächliche Gefahr für den Erfolgseintritt besteht. Deshalb ist von den unechten Unterlassungsdelikten erst dann zu sprechen, wenn die Gefahr des Erfolgseintritts unmittelbar bevorsteht39. In der japanischen Strafrechtsdogmatik dominiert heute die Auffassung, dass es sich im eben dargestellten Fall um ein Unterlassungsdelikt handelt40. Wie nach der herrschenden Meinung in Deutschland werden die Probleme der Haftung eines Vorgesetzten mit Hilfe der Unterlassungsdelikte gelöst Aber nach meiner Ansicht handelt es sich vielmehr um Begehungsdelikte41. Denn es lässt sich nur derjenige wegen Tötung oder Körperverletzung bestrafen, der den Erfolg positiv verursacht hat Diese Konstruktion führt dazu, dass der Organisator des betreffenden Systems, z.B. der Top-Manager des Hotels oder Eigentümer des Gebäudes, als fahrlässiger Verursacher des Todeserfolges bestraft werden kann. Die ihm untergeordneten Personen und Verwalter sollten dagegen nicht zur Verantwortung gezogen werden, es sei denn, sie haben das mangelhafte System selbst organisiert
39 40
41
K. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 2), S. 99 ff. Matsumiya, Zum Urteil über den Shiroishi-Chuo-Krankenhaus-Brand-Fall, in: Keiho Zashi, Bd. 28, H. 1, S. 54; Ders., Keiho Soron Kogian 1997, S. 196; A. Ishizuka, Ermittlung, Strafverfolgung und Beweisführung vor dem Gericht, in: Keiho Zassbi Bd. 28, H. 1, S. 28 ff.; T. Kamiyama, Der große Kommentar des Strafrechts (hrsg. v. Otsuka. Kawakami, Sato), Bd. 2, 1989, S. 732; M. Hayashi, Die Grundlage der Aufsichtsfahrlässigkeit, Festschrift für Ryuichi Hirano, 1990, S. 328 ff.; Naito, Keiho Soron Kogi, 1991, S. 1174 f. Ausführlich vgl. K. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 37), S. 88 ff.
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5.3. Fahrlässige Unterlassungsdelikte eines Amtsträgers 5.3.1. Die Strafbarkeit der Teilnahme am fahrlässigen Unterlassungsdelikt In der japanischen Rechtsprechung sind die „Beihilfe durch Unterlassen“ und die fahrlässig begangenen Unterlassungsdelikte anerkannt. Auch die fahrlässige Beihilfe bei vorsätzlich begangenen Delikten ist unstreitig dann strafbar, wenn die objektive Zurechnung oder ein Regressverbot vorliegt. Was aber die vorsätzliche Teilnahme an Fahrlässigkeitsdelikten anbetrifft, so stehen sich zwei verschiedene Lehrmeinungen gegenüber: Die herrschende Meinung behandelt sie als mittelbare Täterschaft Die Mindermeinung bejaht eine vorsätzliche Teilnahme an Fahrlässigkeitsdelikten42. Ob es daneben auch die fahrlässige Teilnahme bei fahrlässiger Täterschaft gibt, ist in Japan ebenso umstritten. Nur eine extreme Mindermeinung bejaht sie43. Da letzteres von der herrschenden Meinung abgelehnt wird, bildet die Aufsichtsfahrlässigkeit keine fahrlässige Teilnahme an Fahrlässigkeitsdelikten, sondern wird als fahrlässige Täterschaft behandelt. Im Falle der „gleichzeitigen Aufsichtsfahrlässigkeit“ kommt es so lediglich auf die fahrlässige Täterschaft an, obwohl die Aufsichtsperson ihre Aufsichtspflicht gegenüber der zu beaufsichtigenden Person nur fahrlässig verletzt hat
5.3.2. Fahrlässige Unterlassungsdelikte des Ministerialdirigenten beim AIDS-Medikamentenfall Das Gesundheitsministerium (Koseisho) Japans ist befugt, die Produktion und den Import von Medikamenten zu genehmigen, die mit Blut verarbeitet wurden. Bei der Medikamentenproduktion wird das Blut entweder erhitzt oder ohne weiteres zum Medikament verarbeitet. Das letztere Verfahren stellt eine besondere Gefahr für die Übertragung von Aids dar. Der für die Genehmigung zuständige Ministerialdirigent des Gesundheitsministeriums kannte die Gefahr, unterließ es aber fahrlässig, diese Medikamente aus dem Verkehr zu ziehen. So kam ein Bluter zu Tode, weil das Medikament mit dem Aids-Erreger verseucht war.
42
43
Ich befürworte diese Mindermeinung (vgl. K. Yamanaka, Gedanken zum Akzessorietätsprinzip – Plädoyer für eine japanische Mindermeinung, hrsg. v. E.W. Páywaczewski, 1998). E. Makino, Nippon Keiho, Bd. 1, 1958, S. 458; Chihiro Saeki, Keiho Kogi AT, 1978, S. 354; Kimura / Abe, Keiho Soron, 1978, S. 412.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
Vor kurzem begann die Hauptverhandlung zu diesem Fall, in dem erstmals einem Amtsträger die Tötung eines Menschen vorgeworfen wird. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zum „AIDS-Medikamentenfall – Gesundheitsministerium Route“ vom 12. März 1997 hieß es dazu: „Der Angeklagte war in der Zeit vom Juli 1984 bis Juni 1986 als Ministerialdirigent für die Medikamenten-Abteilung im Gesundheitsministerium zuständig. Seine Aufgabe war es, die Produktion und den Import von mit Blut verarbeiteten Medikamenten zu überwachen und die Sicherheit der Medikamente zu gewährleisten, um die Allgemeinheit vor negativen Folgen zu bewahren. Damals wurde nicht erhitztes Blut in den medizinischen Anlagen zur Herstellung von Medikamenten verwendet Die Medikamente wurden vom Gesundheitsministerium speziell zum Stoppen innerer Blutungen, die keine Lebensgefahr bedeuteten, genehmigt. Obwohl der Ministerialdirigent die Aids-Gefahr und die Übertragung des HIV-Virus als möglich voraussah, hat er keine Maßnahmen getroffen, um die Ausgabe der Medikamente durch die Ärzte zu verhindern. Einige der Medikamente waren mit dem HIV-Erreger verunreinigt. Durch das Unterlassen des Ministerialdirigenten gab ein Arzt in der TeikyoUniklinik während der Zeit vom Mai 1989 bis Juni desselben Jahres eines dieser importierten und verunreinigten Medikamente an einen Patienten aus. Der Patient litt lediglich an innerer Blutung im Handgelenk und wurde durch das Medikament mit dem HIV-Erreger infiziert. Im Jahre 1991 erkrankte der Patient an AIDS und verstarb in der Klinik“.
So hat das japanische Strafgericht das erste Mal einen Fall zu entscheiden, indem sowohl das fahrlässige Unterlassen als auch die Haftung eines Amtsträgers problematisch ist. Bedenklich ist bei der Frage der Fahrlässigkeit, ob der Kausalverlauf vorhersehbar war, da der mit dem HIV-Erreger infizierte Patient nicht zwangsläufig sofort an AIDS erkranken muss, vielmehr der Ausbruch der Krankheit Jahre dauern kann. Zudem hielt man damals die Anwendung der Medikamente, die mit nicht erhitztem Blut verarbeitet wurden, für Bluter als unvermeidbar. Daraus ergibt sich die Frage, ob der Ministerialdirigent den Erfolg mit der Sperrung des Medikaments überhaupt hätte vermeiden können. Letztlich ist die Frage nach der Garantenstellung nicht ohne weiteres zu beantworten. Möglicherweise war der Ministerialdirigent nicht befugt, die Anwendung des Medikaments zu untersagen. Zwar ist das Gesundheitsministerium generell dazu berechtigt und verpflichtet, aber möglicherweise lag die Befugnis nicht in seinem Zuständigkeitsbereich.
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6. Systematischer Aufbau der Unterlassungsdelikte 6.1. Fehlen an systematischer Unterlassungsdogmatik In der japanischen Unterlassungsdogmatik stehen die verschiedenen Merkmale, wie Handlungspflicht, Handlungsmöglichkeit, Gleichwertigkeit oder Kausalität des Unterlassens, systematisch ungeordnet nebeneinander. Ihr Verhältnis untereinander ist bisher nicht geklärt worden44.
6.2. Handlungspflicht, Handlungsmöglichkeit und Kausalität Der Begriff der Handlungsmöglichkeit ist mehrdeutig. Er betrifft einmal die Frage, ob der Unterlassende die erforderliche Handlung überhaupt vornehmen kann, und ein andermal die Frage nach der „Erfolgsvermeidbarkeit“. Wenn z.B. der Vater seinen ertrinkenden Sohn auf hoher See aufgrund der zu großen Entfernung nicht retten kann, dann lässt sich der Erfolg objektiv nicht vermeiden. Ist der Vater dagegen nur aufgrund seiner körperlichen Verfassung nicht in der Lage, so hat er subjektiv keine Handlungsmöglichkeit. Der Fall gestaltet sich noch komplizierter, wenn die Kausalität des Unterlassens fehlt. Es fragt sich, welches der beiden Kriterien zuerst im Verbrechensaufbau einer Prüfung unterzogen werden soll. Ob die Handlungsmöglichkeit Voraussetzung der Handlungspflicht ist oder ob sie neben ihr als unabhängiges Unrechtsmerkmal steht, wird unterschiedlich beantwortet45. Das Beurteilungskriterium für die Handlungsmöglichkeit ist nach herrschender Meinung das Verhalten eines Durchschnittsmenschen46. Weil die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit eine allgemeine ist, ist auch kein konkretes individuelles Verhalten maßgebend.
6.3. Tatausführung und Kausalität bei der Unterlassung In der japanischen Unterlassungsdogmatik wird neuerdings eine von den ursprünglichen Meinungen stark abweichende Ansicht vertreten: 44 45
46
Ich habe in meinem Aufsatz (Fn. 2) versucht, die Unterlassungsdogmatik neu umzubauen. Die Meinung, nach der die Handlungsmöglichkeit die Voraussetzung der Garantenpflicht ist, wird vertreten von Kimura / Abe, a.a.O. (Fn. 43), S. 200; Otsuka, a.a.O. (Fn. 13), S. 152; Die andere Meinung wird z.B. von Hirano, Keiho Soron, Bd. I 1972, S. 154; Naito, a.a.O. (Fn. 39), S. 234, vertreten. Bei Minoru Nomura (Keiho Soron, 1990, S. 187) und Atsushi Yamaguchi (Hogaku Kyoshiisu, Nr. 177, S. 67) ist entgegen der herrschenden Meinung (z.B. Otsuka, a.a.O. (Fn. 13), S. 148) die Handlungsmöglichkeit des Unterlassenden entscheidend.
100
2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik „Die Kausalität ist bei den Unterlassungsdelikten dann zu bejahen, wenn der Erfolg nicht eingetreten wäre, wenn eine bestimmte Handlung vorgenommen worden wäre. Daraus ist wiederum zu schließen, daß bei nicht vorliegender Kausalität auch 47 kein Versuch gegeben ist“ .
Anders ausgedrückt: „Die Eigenart der Unterlassungsdelikte liegt darin, daß die Vermeidbarkeit des Versuchserfolges, welche die Vorstufe des Vollendungserfolges bildet, zu verneinen ist, wenn die Vermeidbarkeit des eingetretenen Tatbestandserfolges verneint wird“48.
Denn in diesem Fall könne „das Unterlassen an sich als Tatausführung nicht existieren49. Meines Erachtens ist dieser Meinung nicht beizupflichten: Einerseits soll nach dieser Theorie der Kausalzusammenhang die Beziehung zwischen der Tatausführung und dem Erfolg darstellen50. Und andererseits soll die Tatausführung gleichzeitig Voraussetzung für den Kausalzusammenhang sein. So ist nicht klar, warum bei den Unterlassungsdelikten die Tatausführung bei fehlender Kausalität verneint werden soll. Meiner Meinung51 nach sind Tatausführung und Kausalzusammenhang ganz unabhängig voneinander zu prüfen. Um die Problematik der Theorie zu verdeutlichen, ein Beispiel: Der zur Rettung verpflichtete Vater lässt seinen Sohn ertrinken und sieht dem ganzen „Schauspiel“ zu. Als der Sohn im Begriff ist unterzugehen, erschießt ihn jemand mit einer Pistole. In diesem Fall ist ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unterlassen und dem Todeserfolg abzulehnen. Die Meinung verneint nun auch die Tatausführung. Aber gerade hier muss der Versuch der Tötung zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellt werden: Die Gefahr des Erfolgseintritts stand unmittelbar bevor, d.h. sie war tatsächlich mit dem Untergang des Sohnes, also objektiv gegeben.
6.4. Gefahrvermeidbarkeit und objektive Zurechnung Der Grund für das unbillige Ergebnis der eben dargestellten Meinung liegt in der mehrfachen Anwendung des Begriffs „Erfolgsvermeidbarkeit“ mit jeweils
47 48 49 50 51
Nishida, a.a.O. (Fn. 22), S. 74.; Yamaguchi, a.a.O., S. 62; Masahide Maeda, Keiho Soron Kogi, 2. Aufl. 1994, S. 179. Yamaguchi, a.a.O., S. 62. Nishida, a.a.O. (Fn. 22), S. 74. Yamaguchi, Hogaku Kyoshitsu Nr. 175, S. 65 ff.; Maeda, a.a.O. (Fn. 45), S. 222 ff. K. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 2), S. 97 f.
§ 6. Unterlassungsdogmatik in der jap. Strafrechtswissenschaft
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unterschiedlichem Inhalt. Einmal i.S.d. „Handlungsmöglichkeit“ und einmal i.S.d. „Bedingungszusammenhanges“ als Kausalzusammenhang. Wie bereits oben festgestellt, ist der Begriff „Handlungsmöglichkeit“ mehrdeutig. Aus diesem Grund möchte ich stattdessen den Begriff „Gefahrvermeidbarkeit“ verwenden. Die Gefahrvermeidbarkeit umfasst das Vermeidbarkeitsurteil ex ante. Das bedeutet, dass die Schaffung der Gefahrenlage verneint wird, wenn die Vermeidbarkeit abzulehnen ist. Die Vermeidbarkeit der Gefahr ist Voraussetzung für die Garantenstellung. Wird sie also verneint, entsteht keine Garantenpflicht, d.h. es gibt keinen Versuch. Die Gefahrvermeidbarkeit entscheidet in der Lehre der objektiven Zurechnung über das Vorliegen eines Versuchs- oder Vollendungsdelikts. Dieser Prüfung folgt die Beantwortung der Frage nach der „Risikoverwirklichung“. Da sich das Risiko im oben angesprochenen Fall „Tod des Sohnes durch Ertrinken“ nicht verwirklicht hat, hat der Vater nur einen Versuch begangen.
6.5. Systematische Neukonstruktion der Unterlassungsdogmatik Wie ich bereits oben erwähnt habe, ist die Systematisierung der einzelnen Merkmale und Kriterien in der japanischen Unterlassungsdogmatik nicht ausreichend. Deshalb schlage ich folgenden systematischen Aufbau thesenhaft vor:
6.5.1. Garantenstellung (-Pflicht) Die Voraussetzungen zur Begründung einer Garantenstellung sind das Bestehen einer tatsächlichen Gefahrenlage und die Garantenpflicht. Die Entstehungsgründe der Garantenpflicht lassen sich in zwei große Gruppen teilen: 1. Rechtsgutsschutzpflicht und 2. Aufsichtspflicht gegenüber der Gefahrenquelle.
6.5.1.1. Tatsächliche Gefahrenlage Eine tatsächliche Gefahrenlage ist dann gegeben, wenn die Gefahr des Erfolgseintritts unmittelbar bevorsteht, es also nur noch einer kurzen Zeit bedarf, bis der Erfolg sich realisiert. Erst dann kann eine Unterlassung relevant werden.
6.5.1.2. Entstehungsgründe der Garantenpflicht Die obige kritische Prüfung führte zum Ergebnis, dass alle monistischen Lehrmeinungen zur Erklärung des Entstehungsgrundes versagten. Nach meiner
102
2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
Meinung ist er dualistisch zu begründen; d.h. der Ausgangspunkt ist die funktionelle Dichotomie von Armin Kaufmann. a) Rechtsgutsschutzpflichten Zur Gruppe der Rechtsgutsschutzpflichten gehören drei Typen: 1. die Garantenpflichten aufgrund normativer Schutzverhältnisse, z.B. Garantenpflichten aufgrund familiärer Verhältnisse; 2. die Garantenpflichten aufgrund freiwilliginstitutioneller Verhältnisse, z.B. Garantenpflicht aufgrund eines BabysitterVertrages; und 3. Garantenpflicht aufgrund funktioneller Schutzverhältnisse, z.B. die Pflicht zur Rechtsguterhaltungshandlung wegen aktiver Übernahme von Schutzpflichten. b) Aufsichtpflichten gegenüber Gefahrenquellen Auch diese Gruppe lässt sich in 3 weitere Teilbereiche aufteilen: 1. Garantenpflicht aufgrund einer Verwaltungspflicht bezüglich gefährlicher Sachen oder Anlagen; 2. Garantenpflicht aufgrund einer Aufsichtspflicht über Handlungen anderer Personen; und 3. Garantenpflicht aufgrund vorangegangener Schaffung einer Gefahrenlage.
6.5.2. Gefahrvermeidbarkeit Wenn es dem Unterlassenden ex ante unmöglich war, die Gefahr zu vermeiden, so ist er kein Garant i.S.d. Unterlassungsdelikts. Die Gefahrvermeidbarkeit ist vielmehr individuell zu beurteilen. Denn der behinderte Vater ist persönlich nicht in der Lage, die Rettungshandlung vorzunehmen, obwohl jeder andere es tun könnte52.
6.5.3. Beginn der Tatausführung (Versuch) Mit dem Begriff „Beginn der Tatausführung“ ist der Zeitpunkt für die Strafbarkeit des Versuchs zu bestimmen. Allein die Feststellung der Risikoschaffung oder der Gefahrvermeidbarkeit genügt dazu nicht. Vielmehr muss das geschaffene Risiko rückblickend betrachtet die konkrete Gefahr zum Erfolgseintritt geschaffen haben53.
52 53
Vgl. K. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 2), S. 100 ff. K. Yamanaka, Zum Beginn der Tatausführung im japanischen Strafrecht, in: Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, Hirsch / Weigend (Hrsg.), 1989, S. 111 ff.
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6.5.4. Die objektive Zurechnung (Vollendung) Um den Erfolg der Tat dem Täter objektiv zurechnen zu können, muss ein Zusammenbang zwischen der Tatausführung und dem Erfolg bestehen54. Dieser Zusammenhang ist zu bejahen, wenn sich das geschaffene Risiko verwirklicht hat. Die Risikoschaffung wird allerdings schon bei der Gefahrvermeidbarkeit festgestellt. Die Kausalität der Unterlassung ist als Risikoerhöhungszusammenhang zu bezeichnen und dann als gegeben zu betrachten, wenn der Erfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit (8 bis 9 von 10 Fällen) bei der Vornahme der erforderlichen Handlung nicht eingetreten wäre55. Die Frage nach dem Gefahrverwirklichungszusammenhang im engeren Sinne stellt sich nur dann, wenn ein abweichender Kausalverlauf vorliegt. So muss dieser Zusammenhang verneint werden, wenn der Vater zwar seinen Sohn im letzten Moment rettet, aber der Sohn aufgrund eines von einem Dritten im Krankenhaus verursachten Brandes stirbt. Das Unterlassen der Rettungsmaßnahme im Zeitpunkt der Strafbarkeit des Versuchs ist nicht die Todesursache. Diese Skizze muss freilich noch präzisiert und in ihren Details ergänzt werden. Dem werde ich mich in der Zukunft widmen.
7. Schlusswort Hier wurden die kurze Entwicklungsgeschichte und ein Ausblick der vorherzusehenden Probleme in der japanischen Unterlassungsdogmatik skizziert. Die Teilnahme durch Unterlassen und auch die Teilnahme an Unterlassungsdelikten habe ich kaum erörtert. Kritische Betrachtungen zur Strafbarkeit unechter Unterlassungsdelikte vom Standpunkt des Gesetzlichkeitsprinzips oder vom finalistischen Standpunkt habe ich ebenfalls außer Betracht gelassen. Die japanische Unterlassungsdogmatik ist immer an vernünftigen Einschränkungen der Strafbarkeit unechter Unterlassungsdelikte interessiert. In meinem Referat habe ich lediglich die derzeitige Situation der japanischen Unterlassungsdogmatik dargestellt.
54 55
Ausführlich vgl. K. Yamanaka, Keiho niokeru kyakkanteki Kizoku no Riron (Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht), 1997, S. 432 ff., 509 ff. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 15.12.1989, Keishu, Bd. 43, H. 13, S. 879.
§ 7. Begriff und systematische Einordnung der Pflichtenkollision I. Problemstellung 1. Der neue Analysebedarf der Problematik der Pflichtenkollision Die Problematik der Pflichtenkollision scheint heutzutage in ihrem Problembereich und ihrer systematischen Stellung eine im Prinzip übereinstimmende Lösung gefunden zu haben: Anders als der rechtfertigende Notstand ist der Begriff der Pflichtenkollision erstens nach der herrschenden Meinung in Deutschland auf die Kollision mehrerer Handlungspflichten eingeschränkt1. Die Problematik der Kollision zwischen mehreren Unterlassungspflichten oder auch zwischen Handlungspflicht und Unterlassungspflicht ist ein Unterfall des rechtfertigenden Notstandes2. Was die Problematik der systematischen Stellung der Pflichtenkollision betrifft, ist zweitens die Auffassung vorherrschend, dass die Pflichtenkollision zu einem selbständigen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund gehöre3. Die Lösung des Problems auf der Ebene des Entschuldigungsgrundes, die früher vorherrschend war4, nimmt heutzutage stark ab. Die Lösung auf der Tatbestandsebene wird jüngst auch von manchen vertreten. 1
2
3
4
Schönke / Schröder / Lenckner, StGB 27. Aufl., 2006, Vorbem. § 5, 32 ff.; Neumann, Nomos-Kommentar (NK), 3. Aufl., § 34, Rdn. 125. Neumann hat mir freundlicherweise das NK-Manuskript für § 34 zur Verfügung gestellt; Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl., § 16, Rn. 122; Zur Erlaubniskollision vgl. Joerden, Erlaubniskollision im Strafrecht, in: Festschrift für Otto, 2007, S. 331 ff. Früher wurde die Problematik üblicherweise zusammen mit der Notstandsproblematik diskutiert: Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Aufl. 1978; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979. Neumann unterscheidet zwischen der phänomeno-ontologischen und der strafrechtsdogmatischen Pflichtenkollision (vgl. NK § 34, Rn. 124). Zu den rechtsphilosophischen Problemen vgl. auch Roland Wittmann. Utilitaristische Entscheidbarkeit in Grenzsituationen, in: Schweighofer / Leibwald / Drachsler / Geist (Hrsg.), e-Staat und e-Wirtschaft aus rechtlicher Sicht, 2006, S. 479 ff. Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht, 11. Aufl., 2003, § 17 Rn. 132; Hirsch, Leipziger Kommentar 11. Aufl. (1978 ff.), Rn. 172; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, Bd. 1, 5. Aufl. 2004, § 9 Rn. 123; Roxin, a.a.O., § 16 Rn. 122. Oetker, Notwehr und Notstand, in: Festgabe für Frank, Bd. 1, S. 364; v. Weber, Die Pflichtenkollision im Strafrecht, in: Festschrift für Wilhelm Kisselbach. 1947, S. 235; Gallas. Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, in: Festschrift für Mezger, 1954, S. 312 ff.; Andoulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelik-
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
Wenn man aber weiter danach fragt, ob die Kollision verschiedenwertiger Pflichten auch noch zu diesem selbständigen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund gehört, so ist das schon umstritten. Es fehlt jedenfalls noch an der theoretisch-systematischen Begründung. Wenn man einerseits diesen Problemkreis unter den einheitlichen Oberbegriff der „Pflichtenkollision“ stellt, die der selbständigen Lösung bedarf, so sollte die Lösung der Pflichtenkollision bei gleichwertigen und bei verschiedenwertigen Pflichten einheitlich sein. Es ist doch klar, dass die Interessenabwägung beim rechtfertigenden Notstand auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe auch dann stattfindet, wenn die beiden abzuwägenden Interessen wesentlich verschiedenwertig sind. Man kann die Problematik jedoch andererseits auch aus dem Gesichtspunkt der Anwendbarkeit des rechtfertigenden Notstandes überprüfen: Sie hängt im deutschen StGB vom Ob des wesentlichen Überwiegens ab. Deswegen erfüllt der Fall der Kollision von (wesentlich) verschiedenwertigen Handlungspflichten die Anforderung des rechtfertigenden Notstandes, nur die Kollision gleichwertiger Handlungspflichten erfüllt sie nicht. Also ist der Fall der eigentlichen Pflichtenkollision, bei dem keine Anwendbarkeit des rechtfertigenden Notstandes vorhanden ist, nur bei Kollision gleichwertiger Handlungspflichten gegeben5. Dieser Beitrag beabsichtigt, überzeugend zu begründen, dass die Pflichtenkollision ganz und gar zu einem selbständigen Rechtfertigungsgrund gehört. Es handelt sich darum, wie man mit einem klaren Maßstab zwischen rechtfertigendem Notstand und Pflichtenkollision unterscheiden kann. Um diesen Maßstab zu bekommen, ist es wichtig, die tatsächliche und die normative Bedeutung beider Fälle klar zu machen. Dafür ist die Auseinandersetzung mit den aktuell vertretenen Meinungen6 unerlässlich. Nebenbei habe ich auch vor, die theoretische und praktische Lage der Diskussion um die Pflichtenkollision in Japan vorzustellen, weil sie außer in Japan noch kaum vorgestellt wurde. Der Beitrag hat auch die Bedeutung, dass ich
5 6
te, 1963, S. 127 f.; Jescheck / Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 33 VI c. 2; Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, Vor § 32 Rn. 11; Paeffgen, NK Vor § 32 bis 35, Rn. 74 ff. Vgl. Gropp, Die „Pflichtenkollision“: weder eine Kollision von Pflichten noch Pflichten in Kollision, in: Festschrift für Hirsch, 1999, S. 210, 216 f. Gropp, a.a.O., (Fn. 5); Neumann, Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen – Rechte, Pflichten und Interessen als Elemente der rechtfertigenden „Pflichtenkollision“, in: Festschrift für Roxin, 2001, S. 421 ff.
§ 7. Begriff und syst. Einordnung der Pflichtenkollision
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meine Meinung, die ich früher geäußert habe7, ändere. In Deutschland wird neuerdings die Theorie vertreten, wonach bei der Pflichtenkollision schon die objektive Zurechnung verneint werden muss8. Meine Meinungsänderung wird auch in Auseinandersetzung mit dieser Theorie dargestellt, die freilich auf einer ganz anderen dogmatischen Begründung basiert.
2. Begriff und Sinn der Pflichtenkollision Pflichtenkollision liegt vor, „wenn und soweit zwei oder mehr koinzidierende Pflichten in der konkreten Situation in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, dass die Erfüllung einer der Pflichten zugleich die Verletzung einer der anderen Pflichten bedeutet“9. Bei dieser Definition fehlt noch die Einschränkung des Begriffs auf die Kollision zwischen „gleichwertigen“ Pflichten. Deswegen ist die Pflichtenkollision im engeren Sinne dahingehend einzuschränken, dass „zwei oder mehr koinzidierende gleichwertige Pflichten“ kollidieren. Diese Einschränkung hat einen guten Grund, weil die Pflichtenkollision inhaltlich gesehen in die rechtlich lösbare und unlösbare eingeteilt worden ist10. Falls die gleichwertigen Pflichten rechtlich unlösbar kollidieren, kann das Recht dem Verpflichteten keine klare Verhaltensanweisung geben. Das Recht „wird vor ein entscheidendes Dilemma gestellt, das sein Wesen als rationale Normierung des Lebens betrifft“11. Diese Ausdrücke zeigen schon die Lösung. Die Kollision, die für das Recht „nicht lösbar“ ist, kann nicht durch die Rechtswidrigkeitsbeurteilung, sondern nur durch die Entschuldigungsbeurteilung gelöst werden. Freilich kann man die Unlösbarkeit nur so verstehen, dass die Rechtsordnung die konkrete Wahl dafür, welche Pflicht zu erfüllen ist, dem Täter überlassen will.
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Yamanaka, Über die Pflichtenkollision im Strafrecht. Festschrift für Professor Gan. Bd. 1, 2002. Taipeh. S. 153 ff. (in japanischer Sprache). Meine Meinung von früher war kurz gesagt, dass die objektive Zurechnung des Erfolgseintritts des nicht geretteten Rechtsgutes zuerst mit der Begründung der fehlenden Vermeidbarkeit vom ex post Standpunkt aus verneint und dann auf der Ebene des Rechtfertigungsgrundes der vorgezogene Wert des geretteten Rechtsguts anerkannt wird. Vgl. unten IV 3. Vgl. Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 30. Vgl. Hruschka, Pflichtenkollisionen und Pflichtenkonkurrenzen, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 259; vgl. Gropp, a.a.O., S. 207. Gallas, Festschrift für Mezger, S. 312 ff.. Mangakis, Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, in: ZStW 84 (1972), S. 449.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
Die oben genannte Definition zeigt auch, dass die Kollision nicht abstrakt, sondern konkret sein muss. D.h.: Es handelt sich nicht um eine Situation, in der die Rechtsordnung als solche unabhängig von einer konkreten Situation abstrakt kollidiert, sondern um die Situation, in der der Täter unter den konkreten Umständen mit der Kollision der ihm auferlegten Pflichten konfrontiert wird. Die erstere wird als „abstrakte Kollision“ bzw. „logische Kollision“ bezeichnet12. Dagegen ist die letztere als „konkrete Kollision“ bzw. „materielle Kollision“ zu bezeichnen13. Bei der ersteren ist die abstrakte Norm an sich schon widersprüchlich. Die Norm muss deswegen selbst den Widerspruch aufheben. Dagegen handelt es sich bei der letzteren um die Anwendung der Norm auf den konkreten Fall.
3. Fallgruppen der Pflichtenkollision Bei der Pflichtenkollision im weiteren Sinne handelt es sich um drei Kombinationen, die unter dem Gesichtspunkt der Verbots- und der Gebotsnorm gebildet werden können: Sie sind erstens die Kollision der Unterlassungspflichten miteinander14, zweitens die der Handlungspflichten miteinander, und drittens die der Handlungs- und Unterlassungspflichten15. Die erstere und letztere Art der Kollision werden als der Fall der „unechten“ Pflichtenkollision bezeichnet, weil sie als ein Unterfall des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB; § 37 jStGB) eingeordnet werden können. Dagegen stellt die zweite die „echte“ Pflichtenkollision dar16. Der theoretische Unterschied zwischen der echten und der unechten Pflichtenkollision scheint darin zu liegen, dass die Pflichten beim Notstand erst dann kollidieren, wenn der Notstandstäter überhaupt mit einer Eingriffshandlung gegen den nichtrechtswidrigen Angreifer oder Dritten 12
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v. Weber bezeichnet die logische Kollision als rechtlich lösbare und die materielle Kollision als rechtlich unlösbare v. Weber, a.a.O., S. 234 f. Zur Kritik daran vgl. Mangakis, a.a.O., S. 454. Vgl. Georg Maria Scheid, Grund- und Grenzfragen der Pflichtenkollision beim strafrechtlichen Unterlassungsdelikt. 2000, S. 22. Zur Terminologie vgl. Gallas. a.a.O., in: Festschrift für Mezger, 1954, S. 314. Nach v. Weber ist eine Pflichtenkollision nur dort denkbar, wo wenigstens eine der Pflichten sich auf ein Tun richtet. v. Weber, a.a.O., S. 236. Vgl. Hruschka, Pflichtenkollisionen und Pflichtenkonkurrenzen, in: Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 263. Dieser Begriff wird gelegentlich synonym mit der unlösbaren Pflichtenkollision verwendet. Die lösbare Pflichtenkollision wird dagegen als eine „unechte“ genannt. Gallas bezeichnet den Fall als „echte“ Pflichtenkollision, wo sie demselben Normsystem, als „unechte“, wenn sie verschiedenen Normsystemen entstammt. Gallas, a.a.O., S. 314 (Fn. 4).
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beginnt. Hier verletzt der Täter das Handlungsverbot gegenüber fremden Rechtsgütern, um die Verletzung eigener Rechtsgüter oder der Rechtgüter Dritter zu vermeiden. Der Täter kann die Kollision der Pflichten dadurch lösen, dass er die Rechtsgutsverletzung beim eigenen oder fremden Rechtsgut duldet, also durch Unterlassung17. Wenn dieser strukturelle Unterschied zwischen Handlungs- und Unterlassungsgeboten zu dogmatisch differenzierten Folgen führen sollte, wäre er auf den Unterschied beider Arten von Normen zurückzuführen. Die Frage aber ist, wie der normstrukturelle Unterschied zu begründen ist. Im Folgenden ist hauptsächlich die Problematik der echten Pflichtenkollision zu erörtern.
II. Typologie der Fälle der Handlungspflichtenkollision 1. Kollision verschiedenwertiger Handlungspflichten Bei dieser Fallgruppe gilt im Endergebnis heute noch der Satz von Binding aus dem Jahre 1885: „Im Falle echter Pflichtenkollision ist die höhere Pflicht auf Kosten der minder wichtigen zu erfüllen“18. Die deutsche Rechtsprechung ist im Prinzip dieser Auffassung. Die leitende Entscheidung war das Urteil des RG von 1927, das einen Fall der Abtreibung behandelte, die ein Arzt bei einer unehelich Schwangeren wegen Nervenstörungen und wegen ernstlicher Suizidgefahr durchgeführt hatte. Das RG hat wie folgt argumentiert: „In Lebenslagen, in welchen eine den äußeren Tatbestand einer Verbrechensform erfüllende Handlung das einzige Mittel ist, um ein Rechtsgut zu schützen oder eine vom Recht auferlegte oder anerkannte Pflicht zu erfüllen, ist die Frage, ob die Handlung rechtmäßig oder unverboten oder rechtswidrig ist, an der Hand des dem geltenden Recht zu entnehmenden Wertverhältnisses der im Widerstreit stehenden Rechtsgüter oder Pflichten zu entscheiden – Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung“. „Für den Fall des Widerstreits von Pflichten – des Pflichtennotstands – hat sich das Reichsgericht schon wiederholt zu dem Grundsatz bekannt, dass die höhere Pflicht auf Kosten der minder hohen zu erfüllen und das Nichterfüllen der letzteren nicht rechtswidrig ist“19. Die deutsche Rechtsprechung folgte diesem Urteil auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Urteil des Amtsgerichts Balingen von 1981 betreffend die Verlet17 18 19
Scheid, a.a.O., S. 11. Vgl. auch Otsuka, Keiho Caisetsu Soron, 4. Aufl. 2008, S. 431. Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 762. RGSt 61, 242, 254.
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zung des „Gesetzes über das Schlachten von Tieren“ hat diesen Fall als Pflichtenkollision zwischen Schächtungsverbot und dem Grundrecht der freien Religionsausübung aufgefasst. Nach dem Urteil ist die freie Religionsausübung als ein höherer Wert als das Schächtungsverbot anerkannt worden und ist das religiös gebotene Schlachten durch den Rechtfertigungsgrund der rechtfertigenden Pflichtkollision gedeckt20. Auch der BGH hat im SchleyerFall in seinem Urteil von Einschränkung des Kontaktes der Beschuldigten mit ihren Verteidigern gesprochen „In voller Würdigung der sonach getroffenen Grundentscheidung des Gesetzgebers für die völlig freie Verteidigung kann sich der Senat gleichwohl nicht der Notwendigkeit verschließen, in außergewöhnlicher Lage aufgrund einer Abwägung der in Betracht kommenden Rechtsgüter eine Verletzung des § 148 Abs. 1 StPO für rechtmäßig zu halten. Es entspricht einem allgemeinen Rechtsgedanken, dass die Verletzung eines Rechts in Kauf genommen werden muss, wenn es nur so möglich 21 erscheint, ein höheres Rechtsgut zu retten“ .
2. Kollision gleichwertiger Handlungspflichten Die Konstellation der Kollision gleichwertiger Handlungspflichten kann mit folgender Frage ausgedrückt werden: In dem Fall, wo zwei gleichwertige Rechtsgüter, z.B. das Leben des Sohnes A und des Sohnes B, in Verletzungsgefahr geraten und der Garant beider Rechtsgüter, also der Vater, nur eines der Rechtsgüter, z.B. das Leben des A, rettet, stellt sich die Frage, ob seine Handlungspflichtwidrigkeit gegen den anderen, also B, gerechtfertigt wird, wenn er zwar die abstrakte Möglichkeit hatte, die beiden gefährdeten Rechtsgüter zu retten, aber in concreto keine Möglichkeit, gleichzeitig beide zu retten, sondern nur eine Möglichkeit, eins von den beiden zu retten? In diesem Fall konnte der Vater seine Handlungspflicht gegenüber B nicht erfüllen, gerade weil er die Handlungspflicht gegenüber A erfüllt hat. Für diesen Fall gilt der oben genannte Grundsatz des RG nicht, weil die kollidierenden Handlungspflichten gleichwertig sind. Dieser Fall wird deshalb als Fall der „rechtlich unlösbaren Pflichtenkollision“ bezeichnet. Im Fall der gleichwertigen Pflichtenkollision gibt die Rechtsordnung dem Handelnden keine klare Verhaltensrichtlinie. Es scheint ungerecht zu sein, dass die Rechtsordnung dem Handelnden trotzdem die strafrechtliche Verantwortung aufbürdet. Auch für die Rechtsordnung scheint es inakzeptabel zu sein, im einheitlichen Normsystem, in dem sie für den Normadressaten eine verbindliche Folge hervorbringen will, widersprüchliche Pflichten überhaupt aufzu20 21
AG Balingen NJW 1982, 1006. BGHSt 27, 260 ff., 262.
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stellen. Vielmehr sollte die Rechtsordnung so ausgelegt werden, dass sie bei der Kollision zwischen gleichwertigen Pflichten dem Täter die Auswahl überlässt, welche Pflicht von den kollidierenden zu erfüllen ist22. Die Versuche der Lösung des Problems durch die Judikatur und durch Lehrmeinungen sind zu prüfen.
III. Judikatur und Lehrmeinungen 1. Die institutionellen Voraussetzungen in Deutschland und Japan Die Frage, ob die Vorschriften im StGB über die Lösung der Fallgruppe der gleichwertigen Pflichtenkollision überhaupt eine Richtlinie gegeben haben, ist dahin zu beantworten, dass die rechtlichen Grundlagen in den beiden Ländern verschieden sind. Nach § 34 des deutschen StGB ist es für den rechtfertigenden Notstand erforderlich, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte „wesentlich überwiegt“. Daraus ergibt sich klar, dass diese Voraussetzung schon nicht erfüllt ist, wenn die beiden Rechtsgüter gleichwertig sind. Schon deswegen ist es ausgeschlossen, die Vorschrift für den Notstand auf den Fall der Pflichtenkollision anzuwenden. Dagegen ist nach der japanischen Vorschrift für den Notstand (§ 37 jStGB)23 die Abwendungshandlung „nur dann nicht strafbar, wenn der aus der Handlung entstehende Schaden das Maß des abzuwendenden Schadens nicht überschreitet“. Das bedeutet, dass die Anwendung der Vorschrift für den Notstand auch auf den Fall der gleichwenigen Interessenkollision nicht schon von Anfang an ausgeschlossen ist. Deshalb ist die Anwendbarkeit der Notstandsvorschrift auf den Fall der Pflichtenkollision nur von der Auslegung des Paragraphen abhängig: d.h., die Anwendbarkeit hängt davon ab, ob eine strukturelle Identität von Notstand und Pflichtenkollision vorhanden ist, oder ob die Rechtsfolge des Notstands, die in der Vorschrift nur als „nicht strafbar“ ausgedrückt wird, einen Rechtfertigungsgrund, einen Entschuldigungsgrund oder eine differenzierte Folge zwischen beiden mit sich bringt.
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Nach Paeffgen, NK Vor § 32 bis § 35, Rn. 174, und Fischer, StGB, Vor § 32 Rn. 11a hat der Täter dabei das „Wahlrecht“. § 37 des japanischen StGB lautet: „Eine Handlung, die unvermeidlich ist, um eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib, persönliche Freiheit oder Vermögen von sich oder einem anderen abzuwenden, ist nur dann nicht strafbar, wenn der aus der Handlung entstehende Schaden das Maß des abzuwendenden Schadens nicht überschreitet; bei Begehung einer das Maß überschreitender Handlung kann jedoch nach den Umständen des Falles Strafmilderung oder Straffreiheit eintreten“.
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2. Kurzer Überblick über die deutschen Lehrmeinungen Die Entscheidungen, in denen der Fall der Pflichtenkollision als Unterfall des Notstandes behandelt wurde, gab es schon seit der Zeit des RG24. Unter den deutschen Lehrmeinungen sind die Lösung auf der Entschuldigungsebene, die Lösung im rechtsfreien Raum, die Lösung auf der Ebene eines Rechtfertigungsgrundes und die Lösung beim Tatbestand zu nennen25. Nach der Entschuldigungslösung26 ist die Pflichtenkollision ein übergesetzlicher Entschuldigungsgrund. Auf der Ebene eines Rechtfertigungsgrundes bestehen beide Pflichten rechtlich vollständig27, weil keine der beiden Pflichten aufgehoben wird. Diese Auffassung wurde durch v. Weber damit begründet, dass die Handlungsunmöglichkeit nicht den Bestand der Norm, sondern die Verantwortlichkeit für Ihre Befolgung betreffe28. Die wichtigste Kritik bezieht sich darauf, dass das Recht niemanden zum Unmöglichen verpflichten kann. Das Sprichwort: „impossibilium nulla obligatio est“ (zu Unmöglichem besteht keine Rechtspflicht) bzw. „ultra posse nemo tenetur“ (jenseits des Möglichen wird niemand verpflichtet) drückt dies aus. An der durch v. Weber vertretenen Auffassung wird als „nicht sachgemäß“ kritisiert, dass sie das Verhalten des Retters der mehreren Gefährdeten und des völlig Untätiggebliebenen gleich als rechtwidrig behandelt29. Die Lösung im rechtsfreien Raum30 wird in dem Punkt kritisiert, dass sie die Tat, die tatbestandsmäßig ist, zum rechtsfreien Raum gehören lässt. Die
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RGSt 20, 190; 36, 78; 38; 62; 61, 242. Ausführlicher über die Lehrmeinungen vgl. Scheid, a.a.O., S. 102 ff. und über den neueren Stand der Lehrmeinungen Rönnau, LK, 12. Aufl., Vor § 32, Rdn. 115 ff.; Paeffgen, NK Vor § 32 bis 35, Rdn. 170 ff.; Neumann, NK § 34 Rdn. 124 ff. Zu den Vertretern dieser Auffassung siehe oben Fn. 4. Vgl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 75: Jescheck / Weigend, a.a.O., § 33 V 2. v. Weber, in: Festschrift für Kiesselbach, S. 235. v. Weber, in: Festschrift für Kiesselbach, S. 235. Vgl. Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, S. 780 f.; Neumann, in: Festschrift für Roxin S. 431. Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: Festschrift für Maurach. 1972, S. 333; Dingeldey, Pflichtenkollision und rechtsfreier Raum, in: Jura 1979, S. 478 ff; besonders S. 483 ff.
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Beurteilung der das Unrecht indizierenden tatbestandsmäßigen Tat sollte auf der Ebene des Rechtsfertigungsgrundes nicht zurückgezogen werden31. Die Rechtfertigungslösung32 ist heutzutage die herrschende Meinung. Die Pflichtenkollision wird als selbständiger übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund eingeordnet33. Die Vorschrift des § 34 StGB über den rechtfertigenden Notstand regelt nicht die Fälle der Kollision gleichwertiger Rechtsgüter, sondern verlangt das „wesentliche Überwiegen“ des geschützten Rechtsguts. Deswegen ist § 34 StGB nicht auf die Fälle der gleichwertigen Rechtsgüterkollision anzuwenden. Die Problematik dieser Lösung ist später noch zu erörtern. Die Tatbestandslösung34 verneint die Tatbestandsmäßigkeit der pflichtwidrigen Unterlassung des Täters, wenn die Situation der Pflichtenkollision vorliegt. Die Tatbestandslösung kritisiert zuerst die Rechtfertigungslösung wie folgt: Nach der Rechtfertigungsgrundtheorie lasse sich die Unterlassung des Täters insofern nicht rechtfertigen, als er mindestens eine Handlungspflicht erfüllt hat. Fraglich sei, ob zwei Pflichtwidrigkeiten vorhanden sind, wenn der Täter beide Pflichten nicht erfüllt. In diesem Fall lässt es sich nicht sagen, dass der Täter eine seiner Pflichten wegen der Erfüllung der anderen Pflicht nicht erfüllen kann. Das bedeute, dass je eine Pflichtwidrigkeit nicht gerechtfertigt werden darf. Wenn es so wäre, dann müsse man in diesem Fall zwei rechtswidrige Unterlassungen anerkennen. Freilich vertritt auch die Rechtfertigungsgrundtheorie nicht die Auffassung, dass es in diesem Fall zwei Pflichtwidrigkeiten gebe. Die Tatbestandslösung vertritt dagegen die Auffassung, dass der Grund für die Rechtfertigung nicht in der tatsächlichen Pflichtenkollision, sondern in der Situation der Pflichtenkollision als solcher liege35. Das bedeutet, dass die Tatbestandsmäßigkeit ausgeschlossen ist, wenn die Situation der Pflichtenkol31
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Als Kritik gegen diese Theorie vgl. Yamanaka. Kritische Betrachtungen über die Lehre vom rechtsfreien Raum, in: Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft. 2008, S. 141 ff. Als Unterfall des Notstandes betrachtete die Pflichtenkollision schon Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. I. 1885, S. 759 f.. S. ferner Mangakis, ZStW 84, S. 467: Maurach / Zipf, Strafrecht AT I, 8. Aufl. 1992, § 27, Rn. 52: Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 294. Neumann, NK, § 34 Rdn. 124: Rönnau, LK, 12. Aufl., Vor § 32, Rdn. 119. Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 81.: Ders., Strafrecht AT, 2. Aufl., 2009, S. 88: Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, S. 84 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 32 ff., Rn. 73. Schönke / Schröder / Lenckner, a.a.O., Vorbem. §§ 32 ff., Rdn. 73; Scheid, a.a.O., S. 156.
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lision vorhanden ist36. Die tatbestandliche Einschränkung der Pflicht wird auch damit begründet, dass der Unrechttypus der Unterlassungsdelikte nicht das der tatsächlichen, sondern das der normativen Pflichtwidrigkeit ist37. Diese Lösung hat erstens schon in ihrem Ausgangspunkt ein Problem: Wenn die Kollisionssituation als solche ein Tatbestandsausschließungsgrund ist, dann müssen die zwei tatbestandsmäßigen Unterlassungen festgestellt werden, wenn der Täter keine seiner zwei Pflichten erfüllt. Zweitens ist die Handlungsmöglichkeit auf der Tatbestandsebene nicht aus der normativen, sondern aus der physisch-realen Aussicht zu beurteilen. Die Abwägung der kollidierenden Normen ist jedoch gerade die Aufgabe des Rechtfertigungsgrundes, nicht der Tatbestandmäßigkeit.
3. Die Lehrmeinungen in Japan a) Die Entwicklung der Lehrmeinungen und Problemstellung Gründliche Studien zur Pflichtenkollision in Japan begannen am Ende der 1950er Jahre38. Bis dahin wurde das Thema im BT bei der Kollision zwischen Aussagepflicht (§ 161 jStPO) und Geheimhaltungspflicht (§ 134 jStGB) behandelt. Erst danach wurde begonnen, das Thema als einen Teil des AT zu behandeln. Seit den 60er Jahren wurden mehrere Abhandlungen veröffentlicht39. Auch in Japan ist im allgemeinen als Voraussetzung anerkannt, dass 36 37 38
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Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 281 ff. Scheid, a.a.O., S. 152 ff. Junji Abe, „Kollision der Pflichten“ im Strafrecht, in: Hogaku, Bd. 22 (1958), H. 2, S. 50 ff.; H. 4, S. 54 ff.: Tadashi Morishita, Die rechtliche Struktur der Pflichtenkollision, in: Okayama-Hokeigakkai-Zasshi Nr. 32 (1959), S. 1 ff. Als ein Werk vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Hideo Sakamoto, Pflichtenkollisionslehre, in: Horitsu Ronso, Bd. 17 (1938), H. 1, S. 1 ff. Als das Thema relativ früh behandelnde Lehrbücher vgl. Shigemitsu, Dando, Keiho Koyo AT, 1957, S. 114; Kameji Kimura, Keiho Soron. 1959, S. 275 ff. Kazuyasu Oshima, Pflichtenkollision im Strafrecht. Sammelband für das 35-jährige Bestehen der Universität Fukuoka (Teilband für Rechtswissenschaft), 1969, S. 29 ff.; Katsuhiko Nishimura, Pflichtenkollision und Notstand, in: Kenshu Nr. 269, 1970, S. 1 ff.; Susumu Komatsu, Über die Pflichtenkollision, in: Hitotsubashi Roso, Bd 64, H. 3 (1970), S. 294 ff.; Kazuyasu Oshima, Pflichtenkollision und Notstand im Strafecht, in: Fukuoka Universität Hogaku Ronso, Bd. 21, H. 3–4 (1977), S. 275 ff.; Ken Naito, Keiho Soron Kogi, Teilbd. 3, 1986, S. 637 ff.; Takeshi Tsuchimoto, Kollision der Pflichten, in: Tsukuba Hosei, Nr. 12, (1989). S. 48 ff.; Noriyuki Yoshida, Die Diskussion über Pflichtenkollision im Strafrecht – Über die unlösbare Pflichtenkollision, Ihosei no Honshitsu to Koimukachi (Wesen der Rechtswidrigkeit und Handlungsunwert), 1992, S. 183 ff.: Kazuyasu Oshima. Kollision der Pflichten, in: Keiho Kihon Koza (Grundlegende Abhandlungen des Strafrechts), Bd. 3 (1994), S. 105 ff.; Fujihiko Katsumata,
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das Problem der Pflichtenkollision auf folgende Fälle eingeschränkt wird: Erstens wird die Erfüllung mindestens einer der kollidierenden Pflichten mit einer Strafvorschrift erzwungen. Zweitens müssen die beiden Pflichten Rechtspflichten sein. Drittens ist die echte Pflichtenkollision auf die Kollision zwischen Handlungspflichten beschränkt. Aber auch die Fälle der Kollision zwischen Unterlassungs- und Handlungspflichten werden meistens nebenbei bei der Pflichtenkollision behandelt, obwohl diese Kollision zum Fall des Pflichtnotstandes gehört und deswegen als ein Fall des rechtfertigenden Notstandes geregelt werden muss.
b) Rechtsprechung In der japanischen Judikatur gibt es keine Entscheidung, in der es sich um die echte Pflichtenkollision zwischen Handlungspflichten handelt. In einer alten Entscheidung wurde der Fall40 behandelt, in dem die Handlungsund die Unterlassungspflicht kollidiert haben. Die strafprozessuale Pflicht der Wahrnehmung des Interesses für den Angeklagten (§ 293 Abs. 2 jStPO) und die strafrechtliche Pflicht zur Geheimnishaltung (§ 134 jStGB) haben in diesem Fall kollidiert. Die Entscheidung hat die Rechtwidrigkeit der Geheimnishaltungs-Pflichtwidrigkeit verneint. Die Bedeutung dieses Urteils ist umstritten. Eine Meinung geht dahin, dass dieses Urteil die Handlung als Handlung des Anwalts in Ausübung eines berechtigen Berufsgeschäfts (§ 35 jStGB)41 gerechtfertigt hat42. Nach der anderen Ansicht hat dieses Urteil das objektive Interesse an der Geheimhaltung in diesem Fall verneint, weil der wahre Täter in die Offenbarung des Geheimnisses eingewilligt hat43. Nach der dritten Meinung wird zwar dieser Fall als ein Fall der Pflichtenkollision angesehen, aber in der Wertabwägung der Pflichten wird das allgemeine Interesse dem individuellen Interesse vorgezogen44.
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Betrachtungen über Pflichtenkollision als Rechtfertigungsgrund und ihre Typologien. (1)–(4). Hoken Ronshu Nr. 74. (1995), S. 85 ff.; Nr. 75, S. 55 ff.; Nr. 77, (1996), S. 27 ff.; Nr. 78, S. 69 ff.; Ders., Über die Selbständigkeit in der Kollision zwischen Handlungspflichten miteinander, Festschrift für Haruo Nishihara, Bd. 1 (1998), S. 339 ff. Urteil des RG vom 7.2.1930, in: Keishu, Bd. 9, S. 51; Abe, Kollision der Pflichten, in: Fukuda / Otsuka (Hrsg.), Enshu Keiho Soron, 1983, S. 172; Naito, a.a.O., S. 640. § 35 lautet: „Eine Handlung, die auf Grund eines Gesetzes oder einer Verordnung oder in Ausübung eines berechtigen Berufsgeschäftes vorgenommen wird, ist nicht strafbar“. Naito, a.a.O., Keiho Soron, Teilbd. 3, S. 640. Oshima, a.a.O., Keiho Kihon Koza, S. 109. Tsuchimoto, a.a.O., Tsukuba Hosei Nr. 12, S. 65.
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In einer Entscheidung des OGH handelte es sich um die Verweigerung einer eidlichen Aussage (§ 161 jStPO), die unter Berufung auf die Meinungsfreiheit von einem Journalisten begangen wurde, der einen Artikel über ein Geheimnis bei Ermittlungen gegen einen Beamten wegen der Verletzung des Staatsbeamtengesetzes in einer Zeitung veröffentlicht hatte. Nach dem OGH ist die Meinungsfreiheit in der Verfassung „überhaupt nicht so zu verstehen, dass sie das Recht zur Aussageverweigerung in bezug auf die journalistische Informationsquelle auch durch Aufopferung der Aussagepflicht garantiert hat, die für die faire Ausführung der Justiz, welche im übrigen für das Gemeinwohl sehr wichtig ist, unentbehrlich ist“45. In diesem Fall kollidieren die Unterlassungspflicht zur Verheimlichung der Informationsquelle und die Handlungspflicht der Aussagepflicht nach § 161 StPO46. Ob die Pflicht zur Verheimlichung der Informationsquelle eine Rechtspflicht ist, ist diskutabel. Aber die herrschende Meinung bejaht dies47. Ob die verfassungsrechtliche Meinungsfreiheit zur „Pflicht“ zur Verheimlichung der Informationsquelle führt, scheint mir fraglich zu sein, vielmehr ist sie nur Grundlage für die „Freiheit“ des Zugangs zur Informationsquelle. Deswegen ist dieser Fall kein Fall der Pflichtenkollision. Vielmehr ist die Handlung des Journalisten als Handlung „in Ausübung eines berechtigen Berufsgeschäfts“ im Sinne von § 35 jStGB zu rechtfertigen. Das AG Kobe hat die Strafvereitelung durch einen Pfarrer als Tätigkeit in Ausübung eines berechtigten Berufsgeschäfts gerechtfertigt. Der Pfarrer hat die Verdächtigen etwa eine Woche in seinem Pfarrhaus übernachten lassen, während die Polizei wegen des Verdachts des Hausfriedensbruchs und anderer Delikte nach ihnen gefahndet hat48. Dem Pfarrer wird verfassungsrechtlich die „Freiheit“ religiöser Tätigkeiten garantiert. Das bedeutet nicht, dass er eine berufliche Handlungspflicht hätte, Verdächtige zu verstecken. Der Fall scheint mir deswegen kein Fall der Pflichtenkollision zu sein49.
c) Lehrmeinungen und Kritiken aa) Lehrmeinungen. Zur Lösung der Problematik der Pflichtenkollision lassen sich grob vier Lehrmeinungen unterscheiden. 45 46 47 48 49
Urteil des OGH vom 6.8.1952, in: Keishu, Bd. 6, H. 8, S. 974. Abe, Kollision der Pflichten, in: Fukuda / Otsuka (Hrsg.), Enshu Keiho Soron, 1983, S. 172; Naito, a.a.O., S. 640. Naito, a.a.O., S. 640. Urteil des AG Kobe vom 20.2.1975, in: Hanrei Times Nr. 318, S. 219. Oshima, a.a.O., Kihon Koza S. 111 ff., sieht den Fall als Pflichtenkollision an und hält das Urteil für richtig.
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Die erste Auffassung betrachtet die Pflichtenkollision als einen Sonderfall des Notstandes50. Diese Auffassung hat je nach ihrer Grundauffassung vom Notstand zwei Varianten: Die erste basiert auf der Differenzierungstheorie beim Notstand51. Die Pflichtenkollision wirkt nach dieser Theorie teilweise als Rechtfertigungsgrund und teilweise als Entschuldigungsgrund, je nachdem, was für eine Rechtgutsverletzung vorliegt. Nach der anderen Variante wird die Pflichtwidrigkeit bei der Pflichtenkollision einheitlich gerechtfertigt. Diese Auffassung basiert auf der einheitlichen Rechtfertigungsgrundtheorie beim Notstand. Nach der zweiten Auffassung ist die Pflichtenkollision als Handlung auf Grund eines „Gesetzes oder einer Verordnung“ (§ 35 jStGB) zu rechtfertigen. Nach dieser Auffassung bedeutet die Handlung als Pflichterfüllung wie bei der berechtigten Handlung als Rechtsausübung „die Konkretisierung der Rechtsnorm und an sich einen Teil der Rechtsordnung“52. Nach der dritten Auffassung gehört auch die Pflichtenkollision zwischen Handlungspflicht und Unterlassungspflicht zur Pflichtenkollision und ist ein selbständiger Rechtfertigungsgrund, der vom Notstand begrifflich unterschieden werden kann. Während die Notstandshandlung durch Tun ausgeführt wird, erfolgt die Pflichtverletzung bei der Pflichtenkollision durch Unterlassung. Der Unterschied zwischen Notstand und Pflichtenkollision liegt auch darin, dass im ersteren Fall möglich ist, dass man die Gefahr in Kauf nimmt, während im letzten Fall rechtlich verlangt wird, jeweils die Pflicht zu erfüllen53. Nach der vierten Auffassung ist die Pflichtenkollision ein selbständiger Rechtfertigungsgrund für die Unterlassungsdelikte54. Sie setzt dabei voraus, dass die
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52 53 54
Kimura / Abe, Keiho Soron, Revidierte Aufl. 1978, S. 275; Abe, a.a.O., Enshu Keiho Soron. S. 170. Da § 37 des jStGB für nicht strafbar erklärt, „wenn der aus der Handlung entstehende Schaden das Maß des abzuwertenden Schadens nicht überschreitet“, ist die Notstandshandlung auch bei gleichwertigem Schaden nicht Straftat. Nach einer der Differenzierungstheorien wirkt die Notstandshandlung als Entschuldigungsgrund bei der Kollision gleichwertiger Interessen. Die andere Differenzierungstheorie unterscheidet danach, ob es sich um vergleichbare oder unvergleichbare Rechtsgüter handelt. Bei den ersteren wird die Notstandshandlung gerechtfertigt und bei den letzteren, z.B. bei der Kollision des Lebens mit Leben, nur entschuldigt. Shigemitsu Dando, Keiho Koyo AT, 3. Aufl., 1990, S. 203: Taira Fukuda, Keiho Soron, 4. Aufl., 2004, S. 169 f. Hitoshi Otsuka, Keiho Gaisetsu Soron, 4. Aufl. 2008, S. 431 (Fußn. 1). Naito, a.a.O., Keiho Kogi Soron, Teilbd. 3, S. 641 ff.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
echte Pflichtenkollision auf die Kollision gleichwertiger Handlungspflichten begrenzt werden muss. bb) Kritiken. Gegen die erste Auffassung lässt sich einwenden, dass die Rechtfertigung bei der gleichwertigen Kollision durch das Interessenabwägungsprinzip nicht begründet wird. Das geschützte Rechtsgut überwiegt nicht gegenüber dem verletzten Rechtsgut, weil die beiden gleichwertig sind. Nach der Differenzierungstheorie beim Notstand ist die gleichwertige Pflichtenkollision ein Entschuldigungsgrund. Zu dieser Auffassung gilt auch die gleiche Kritik wie bei der deutschen Entschuldigungsgrundtheorie. Gegen die zweite Auffassung lässt sich folgende Kritik vorbringen: Die Erfüllung einer Handlungspflicht scheint die Handlung auf Grund eines „Gesetzes“ zu sein, weil die Handlungspflicht vom Recht gefordert ist. Diese Theorie übersieht den Kernpunkt des Problems. Es ist unzweifelhaft, dass die erfüllte Handlungspflicht rechtmäßig ist. Die zu rechtfertigende Unterlassung ist aber die Kehrseite der erfüllten Handlungspflicht55. Bei der Kritik gegen an der dritten Auffassung, welche die Pflichtenkollision als einen Rechtfertigungsgrund auf Grund eines allgemeinen Rechtfertigungsprinzips ansieht, geht es um den Inhalt des allgemeinen Rechtfertigungsprinzips. Diese Theorie kann freilich verschiedenartig sein, je nachdem, wie sie den Inhalt des allgemeinen Rechtfertigungsprinzips versteht. Eine Variante dieser Theorie betrachtet die Sozialadäquanz als einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund. Nach dieser Theorie ist die Pflichtverletzung als sozial adäquat und rechtlich erlaubt anzusehen, wenn die nicht erfüllte Pflicht mit der erfüllten Pflicht wenigstens gleichwenig ist56. Die Voraussetzung dieser Theorie ist, dass bei der Pflichtwidrigkeit, die durch Unterlassung begangen wurde, die Notstandsklausel nicht anwendbar ist. Diese Theorie verneint das Interessenabwägungsprinzip als allgemeinen Rechtfertigungsgrund. Es ist jedoch widersprüchlich, dass sie trotzdem substantiell die „Abwägung der Pflichten“ oder „des zu rettenden Interesses“ verwendet. Die vierte Auffassung sieht die Besonderheit der Pflichtenkollision darin, dass zwei Handlungspflichten aufgebürdet werden und es hierbei zur einer Kollision zwischen zwei gleichwertigen Interessen kommt. Sie löst das Problem mit 55
56
Man kann allerdings feststellen, dass diese Theorie auch einen richtigen Ausgangspunkt aufweist, sofern man eine Spekulation über den Sinn dieser Meinung anstellt, obwohl sie eigentlich einfach ohne Begründung vertreten wurde. S. hierzu später unter „eigene Überlegungen“. Minoru Oya, Keiho Kogi Soron, Neue 2. Aufl., 2007, S. 277. Vgl. Otsutka, a.a.O., S. 431.
§ 7. Begriff und syst. Einordnung der Pflichtenkollision
119
dem Prinzip des „impossibilium nulla obligatio est“57. Diese Auffassung ordnet die Pflichtenkollision in den § 35 jStGB ein58. Die Problematik, die diese Theorie hat, ist die Frage, ob es sich bei den Unterlassungsdelikten nicht um den rechtfertigenden Notstand handeln kann. Auf diese Frage wird später einzugehen sein.
IV. Eigene Überlegungen 1. Der Unterschied zwischen Pflichtenkollision und Notstand Die theoretische Unterscheidung zwischen Pflichtenkollision und Notstand hängt von dem strukturellen Unterschied zwischen beiden ab. Dieser muss der Ausgangspunkt sein. Das Ob des wesentlichen Überwiegens ist die zweite Frage, weil es dabei um ein Argument von der Rechtsfolge her geht. Der erste Maßstab der Betrachtung zum strukturellen Unterschied zwischen Notstand und Pflichtenkollision ist, ob die „Gefahr“ der Rechtsgüter als Singular oder als Plural zu verstehen ist59. Beim Notstand kann sie die Mindestzahl sein. Dagegen müssen es bei der Pflichtenkollision, bei der Gefahrensituationen vorausgesetzt sind, mindestens zwei sein. Die unechten Unterlassungsdelikte setzen eine die Handlungspflicht begründende Gefahrensituation voraus. Bei der Kollision zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht wird die Unterlassungspflicht erst dadurch gefährdet, dass der Täter sich zur Tatausführung entschlossen hat. Es gibt davor keine vom Täter unabhängige Gefahr. Die These muss noch bei der Prüfung der begrifflichen Begrenzung der Pflichtenkollision anschaulich gemacht werden.
a) Kollision zwischen Unterlassungspflichten Nehmen wir als bekanntestes Beispiel den Autofahrer, der auf der Autobahn irrtümlich in der Gegenrichtung in die Fahrbahn eingefahren ist. Er darf nicht weiterfahren. Er darf weder wenden, noch rückwärts fahren. In diesem Fall 57 58 59
Oshima, a.a.O., Fukuoka Hogaku Ronshu, Bd. 21, H. 3–4, S. 276 ff.; Naito, a.a.O., Keiho Kogi Soron, Bd. 3, S. 646. Oshima, a.a.O., Keiho Kihon Koza S. 116. Bisher wird erklärt, dass der Unterschied darin liegt, dass beim Notstand die aktive Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses vorliegen muss, dagegen bei der Pflichtenkollision die Unterlassung der Rettung eines gefährdeten Interesses. Vgl. Neumann, Jahrbuch für Recht und Ethik 2, S. 93. Doch kann auch bei Unterlassungsdelikten Notsand vorliegen, wie das unten zu nennende Beispiel (Fall 2) zeigt.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
gibt es nur eine gegenwärtige Gefahr, also die Gefahr eines Zusammenstoßes mit anderen Wagen. Sein Pflichtenverstoß, für den er sich als die minimale Gefahr entschieden hat, ist also als Notstand gerechtfertigt.
b) Kollision zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht Bei dieser Fallgruppe gibt es zwei logisch mögliche Fallvarianten. Bei der ersten Fallvariante erfüllt der Täter die Handlungspflicht mit der Aufopferung der Unterlassungspflicht, so z.B. dann, wenn der Täter, der die kostbare Kleidung des A getragen hat, in einen Teich hineingesprungen ist, um eine Handtasche des B mit wertvollen Akten, zu deren Aufbewahrung er verpflichtet ist, zu retten (Fall 1). Im gegenteiligen, zweiten Fall ist der Täter nicht in den Teich für die Rettung der Tasche hineingesprungen, weil er die kostbare Kleidung von A schützen musste (Fall 2). Im Fall 1 ist die Gefahr nur eine: sie besteht darin, dass die Handtasche ins Wasser sinkt. Hier handelt es sich deswegen um rechtfertigenden Notstand. Die Gefahr der Zerstörung der Kleidung wurde bloß durch die Abwehrhandlung verursacht. Im Fall 2 gibt es auch nur eine und dieselbe Gefahr. Deswegen ist zu prüfen, ob die Unterlassung ein Fall des rechtfertigenden Notstands ist60. Um als Beispiel einen Fall zu nennen, in dem es sich um zwei Gefahren handeln könnte: Eine Frau ist in einem Fluss mit ihrem Kind geschwommen. Sie sieht dabei ein fremdes Kind, das zu ertrinken droht. Sie hat dieses Kind im Fluss festgehalten. In diesem Moment sieht sie, dass ihr eigener Sohn zu ertrinken droht. Sie hat das fremde Kind nicht losgelassen, weil es zum Tode kommen würde, wenn sie es loslassen würde. Ihr Sohn ist ertrunken und tot (Fall 3). In diesem Fall ist zunächst zu fragen, ob ihr Loslassen Unterlassen oder Tun ist. Wenn es Unterlassen ist, liegt ein Fall der Pflichtenkollision vor61. Denn sie hat auf Grund Ingerenz eine Garentenstellung, ist also zur Rettung des fremden Kindes verpflichtet. Wenn es ein Tun ist, dann ist ihr
60
61
Dieses Beispiel zeigt, dass die Frage des rechtfertigenden Notstands sich auch bei Unterlassungsdelikten stellt. Deswegen ist die Auffassung (Neumann, NK, § 34 Rdn. 126; Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 17, Rn. 132) nicht richtig, dass es sich bei den Unterlassungsdelikten nicht um den rechtfertigenden Notstand, sondern nur um die Pflichtenkollision handele. Man denke auch an den Fall, in dem es sich darum handelt, dass ein Arzt zum Zweck der Rettung eines anderen Patienten die Herz-Lungen-Maschine einschaltet. In diesem Fall kann das Verhalten des Arztes ein Unterlassen sein. Seine Handlung kann daher nur durch Notstand entschuldigt sein.
§ 7. Begriff und syst. Einordnung der Pflichtenkollision
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Loslassen ein Fall des rechtfertigenden Notstandes62, weil die Gefahr für das fremde Kind nicht mehr existiert. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen sollte in diesem Fall danach beurteilt werden, ob das zu rettende Opfer schon in dem Kausalverlauf in Richtung zur Rettung steht. Mit diesem Kriterium ist der Fall des Arztes einzuordnen, der Informationen über einen Patienten an Dritte weitergibt (Verletzung von Privatgeheimnissen, § 203 StGB; § 134 Abs. 1 jStGB), um die anderen Patienten vor Infektionen zu bewahren. Er hat die Unterlassungspflicht verletzt, um eine Handlungspflicht zu erfüllen. In diesem Fall besteht von Anfang an nur eine Gefahr, und zwar für die Gesundheit der anderen Patienten. Es handelt sich hier also nicht um Pflichtenkollision.
2. Kollision von Handlungspflichten miteinander Die Pflichtenkollision entsteht beim Konflikt von Handlungspflichten miteinander. In diesem Fall gibt es mindestens je zwei die Verpflichtung zur Handlung begründende Gefahren. Beim rechtfertigenden Notstand erlaubt die Norm das Tun des Täters, welches das fremde Rechtsgut verletzen wird. Die Norm verpflichtet ihn jedoch nicht, das Tun, das einen anderen verletzen wird, zu begehen. Er darf die Gefahr und seinen Schaden in Kauf nehmen. In diesem Sinne ist die Norm hier eine „Dürfensnorm“. Dagegen steht der Täter im Fall der Pflichtenkollision vor zwei widersprüchlichen „Sollensnormen“. Der Täter hat im Endeffekt zwar eine dieser Normen befolgt. Die Folge der Befolgung der einen Sollensnorm stellt aber auf ihrer Kehrseite unvermeidbar die Rechtsgutsverletzung dar. Die Rechtsordnung darf nicht das Unterlassen, das auf Grund der Befolgung der Sollensnorm unvermeidbar verursacht worden ist, für rechtswidrig erklären63.
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In diesem Fall ist die Situation die gleiche wie in dem Fall, in dem der Täter einen Fremden tötet, um das Leben seines Sohnes zu retten: Z.B. sieht der Vater, wie dünn die Wurzel eines Baums ist, an der sich sein Sohn und darunter ein fremdes Kind festhalten, die beim Bergsteigen durch einen Bergsturz in einen Wasserfall gefallen sind. Der Vater schneidet den Teil der Wurzel, an dem das fremde Kind sich festhält, ab, um seinen Sohn zu retten, weil die Wurzel nicht stark genug war, um zwei Kinder zu tragen. Dieser Fall ist offensichtlich der des entschuldigenden Notstandes. Nach Gropp, Wenn der Täter etwas tun soll, dann kann dies nicht gleichzeitig rechtswidrig sein. in: Festschrift für Hirsch, S. 216.
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3. Ist die Kollision verschiedenwertiger Handlungspflichten eine Pflichtenkollision? Gropp hat zwischen der formalen und der materiellen Rechtspflicht unterschieden und die erstere auf der Tatbestandsebene und die letztere auf der Rechtswidrigkeitsebene angesiedelt64. „Die Rechtspflicht zum Handeln besteht materiell dann nicht, wenn die Befolgung einer anderen vorrangigen Unterlassungspflicht die Befolgung dieser ersten formalen Rechtspflicht verbietet. Man kann nur zu etwas materiell verpflichtet sein, was erlaubt ist“. „Die Materialisierung der Rechtspflichten bedeutet mithin eine Reduzierung des Begriffs der Pflichtenkollision. ‘Pflichtenkollision’ liegt zumindest überall dort nicht vor, wo materiell nur eine Rechtspflicht besteht“. Bei der Kollision abgestufter Handlungspflichten gibt es deswegen keine materielle Rechtspflicht zur Rettung des nachstehenden Interesses65. Wenn der Vater im Fall des Ertrinkens seines Sohnes und seines Hundes den Hund rettet, besteht die materielle Rechtspflicht zur Rettung des Hundes nicht. Nur beim Zusammentreffen gleichrangiger Handlungspflichten könne von einer (rechtfertigenden) Pflichtenkollision gesprochen werden66. Diese Einschränkung des Pflichtenkollisionsbegriffes von Gropp geht zu weit. Die materielle Rechtspflicht ist nicht schon von Anfang an gegeben, sondern ist ein Resultat der Interessenabwägung, die auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe vorgenommen werden muss. Wenn Gropp sich mit seiner Meinung durchsetzt, ist auch die Pflichtenkollision zwischen gleichwertigen Handlungspflichten kein Fall von Pflichtenkollision, weil letztlich nur eine Rechtspflicht, die von Täter ausgewählt wurde, gültig ist67. Es ist klar, dass die Interessenabwägung beim Rechtfertigungsgrund auch zwischen verschiedenwertigen Interessen durchzuführen ist. Auch bei der Pflichtenkollision darf deswegen die Interessenabwägung auch zwischen verschiedenwertigen Interessen durchgeführt werden. Es scheint so zu sein, dass bei Gropp noch der alte Gedanke übrigbleibt, dass für die unlösbare Pflichtenkollision eine besondere Behandlung nötig sei.
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Gropp. Festschrift für Hirsch, S. 210. Gropp, Festschrift für Hirsch, S. 210. Gropp. Festschrift für Hirsch, S. 216. Er spricht nicht mehr von Pflichtenkollision, sondern von gleichrangiger Pflichtenmehrheit. Vgl. Gropp, Festschrift für Hirsch, S. 217.
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4. Pflichtenkollision oder Interessenkollision! 68
Neumann möchte die Pflichtenkollision im Wesentlichen auf die Kollision von Interessen bzw. Rechtsgütern zurückführen69. Er will zeigen, dass die Wertstruktur des Instituts der rechtfertigenden Pflichtenkollision durch die Kollision nicht von Pflichten, sondern von Rettungsinteressen gekennzeichnet ist. Nach ihm ist die Kollision von Pflichten keine Voraussetzung für die Anwendung der im bisherigen Sinne gemeinten Pflichtenkollision70. Er nennt als Beispiel einen als Sanitäter ausgebildeten Passanten, der nach einem Bootsunglück vor der Entscheidung steht, entweder einem lebensgefährlich Verletzten, der sich ans Ufer retten konnte, erste Hilfe zu leisten, oder aber einen anderen Verunglückten vor dem sonst nahezu sicheren Tod durch Ertrinken zu bewahren. Geht man davon aus, dass P als schlechter Schwimmer bei dem Versuch der Rettung des Ertrinkenden selbst in Lebensgefahr geraten würde, so besteht eine Hilfeleistungspflicht (§ 323c StGB) nur gegenüber dem anderen. Nach Neumann ist in diesem Fall die Pflichtenkollision, genau gesagt, die Interessenabwägung zu bejahen. „Vorzugswürdig dürfte sein, den Begriff der ‘Pflichtenkollision’ grundsätzlich durch den der ‘Kollision von Rettungsinteressen’ zu ersetzen“71. Der Erwägung, dass hinter der Pflichtenkollision die Interessenabwägung steht, ist zuzustimmen. Dieser Gedanke enthält einen richtigen Ausgangspunkt. Doch hat die Pflichtenkollision deswegen einen selbständigen Sinn neben den anderen Rechtfertigungsgründen, weil es sich bei ihr um die Kollision von Pflichten handelt. Der Fall, den Neumann genannt hat, ist nicht ein seltener Fall, ähnliche Fälle kann man sich leicht vorstellen: Ein Mann (X) hat gesehen, wie zwei Hunde im Wasser ertrinken: Ein Hund (A) gehört seinem Nachbarn, der ihn mit der Betreuung des Hundes beauftragt hat, der andere (B), der den gleichen Wert hat wie der Hund des Nachbarn, gehört einem Fremden. X hat eine Garantenstellung für das Rechtsgut (A). Er hat keine Hilfeleistungspflicht gegenüber B, denn dessen Ertrinken stellt keine gemeine Gefahr dar72. Er kann die beiden nicht gleichzeitig retten. Er hat den fremden 68 69 70 71 72
Neumann. a.a.O.. Festschrift für Roxin, S. 421 ff.; Ders., NK, § 34, Rn. 127; Ders., Jahrbuch für Recht und Ethik 2, (1994), S. 92 f. Neumann. Festschrift für Roxin, S. 421 ff. Neumann, ebd., S. 422. Vgl. auch Ders., Jahrbuch für Recht und Ethik 2, S. 93. Neumann, Festschrift für Roxin, S. 434. Bei der Sachgefahr ist eine gemeine Gefahr für die Anwendung des § 323c StGB vorausgesetzt. Vgl. Schönke / Schröder / Cramer / Sternberg-Lieben, StGB 27. Aufl., § 323c Rn. 5. Deswegen ist der Mann zu keiner Hilfeleistung verpflichtet.
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Hund gerettet. Hier kollidieren die Pflichten nicht. Der Mann ist nur verpflichtet, den Hund des Nachbarn zu retten. Die bloße Interessenkollision kann nicht gerechtfertigt werden. Auch wurde die Sollensnorm nicht befolgt. Zwischen dem zu rettenden Interesse und dem aufzuopfernden Interesse gibt es kein Verhältnis des wesentlichen Überwiegens. Der entschuldigende Notstand wegen der Sachgefahr kommt hier auch nicht in Betracht. Beim Beispiel von Neumann handelt es sich nur um rechtfertigenden Notstand. Denn es gibt dort keine Pflichtenkollision, wo keine Pflicht vorhanden ist. Bei seinem Beispiel hat der Passant das gewichtigere Interesse des menschlichen Lebens mit der Aufopferung des leichteren Interesses der konkreten Gefahr gerettet73. Es gibt dazwischen ein Verhältnis des wesentlichen Überwiegens. Deswegen ist die Tat des Täten, der § 323c StGB verletzt hat, als rechtfertigender Notstand zu rechtfertigen.
5. Zurechnungsfrage? Jäger hat neuerdings eine neue Lösung der Fälle der Pflichtenkollision vorgeschlagen74. Er findet, dass die Konstellation der Pflichtenkollision bislang zu Unrecht als Rechtfertigungsgrund begriffen worden sei. Das Recht und insbesondere auch das Strafrecht könnten keine Verhaltenspflichten aufstellen, die dem Einzelnen unmöglich sind. Deswegen müsse die Pflichtenkollision schon den Tatbestand ausschließen, also ein Tatbestandsausschließungsgrund sein. „Der eigentliche Grund dafür besteht darin, dass das Handeln in einer echten Pflichtenkollision in Wahrheit eine besondere Form der Risikoverringerung darstellt“75. Wenn wir nun dies an dem bekannten Beispiel des Vaters erklären, der von seinen beiden ertrinkenden Söhnen nur einen gerettet hat, so wird das bestehende doppelte Risiko, in das beide Söhne geraten sind, dann auf ein Einzelrisiko halbiert, wenn der Vater einem seiner Söhne hilft. Nach Jäger „ist eben falsch, die Risiken getrennt zu sehen, wenn sich die Opfer aus der Sicht des Retters in einer Gefahrengemeinschaft befinden und der Pflichtige keine getrennten Handlungsmöglichkeiten besitzt“. Es ist bei Jäger nicht klar, warum der rechtfertigende Notstand noch ein Rechtfertigungsgrund bleibt. Die Gefahr stammt teilweise nicht von dem 73 74 75
Man muss hier das zu schützende Rechtsgut des Lebens gegenüber dem verletzten Rechtsgut der Lebensgefährdung abwägen. Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorienprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 30. Jäger, a.a.O., S. 30.
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Opfer, die Fallkonstellation ist anders als die bei der Notwehr, die er auch als Tatbestandsausschließungsgrund sieht76. Bei der Gefahrgemeinschaft, wie im modifizierten Bergsteigerfall, in dem der Sohn und ein fremder Junge über dem Hang an einem Seil schweben, das zu reißen droht und der Vater das Seilstück, an dem der fremde Junge sich festhält, abschneidet, um seinen Sohn zu retten, ist das doppelte Risiko durch die Handlung des Vaters halbiert. Ich habe früher aus einem anderen Grund die Erfolgszurechnung bei der Pflichtenkollision verneint77. Die Zurechnung des eingetretenen Erfolgs habe ich deswegen verneint, weil der Täter die Gefahr nicht verwirklicht hat. Der Täter konnte ex ante gesehen das Risiko schaffen, weil er die physisch reale Risikovermeidungsmöglichkeit hatte. Aber für ihn bestand ex post gesehen keine Erfolgsvermeidbarkeit, weil er ex post gesehen keine Chance gehabt hat, den anderen zu retten. Denn er hat wegen seiner gesollten Tätigkeit, also der Rettung des anderen Gefährdeten, nicht mehr die physisch-wirkliche Erfolgsvermeidbarkeit gehabt. Seine Unterlassung ist nur der Versuch. Deswegen neigt die Interessenabwägung zum Geretteten. Denn die Vollendung ist wesentlich überwiegend gegenüber dem Versuch. Meine frühere Meinung war systematisch verwirrend. Bei der Erfolgszurechnung auf der Tatbestandsebene ist der Umstand der normativen Handlungsunmöglichkeit wegen der anderen Handlungspflicht nicht zu berücksichtigen78. Deswegen ist die Erfolgsvermeidbarkeit, die für die Erfolgszurechnung erforderlich ist, zu bejahen. Erst auf der Rechtswidrigkeitsebene kann der Umstand der Verpflichtung zur alternativen Handlung die Wirkung haben, die Handlungspflicht des Täters zu verneinen.
6. Pflichtenkollision als ein Rechtfertigungsgrund Bei der Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit sind die ausnahmsweisen Umstände, wie Situationen der Notwehr oder des Notstandes, außer Acht zu lassen. Die Pflichtenkollision gehört auch zu diesen ausnahmsweisen Umständen. Die Rolle der Rechtfertigungsgründe liegt darin, dass die tatbestandsmäßige Handlung vom Standpunkt der gesamten einheitlichen Rechtsordnung aus 76 77 78
Jäger, a.a.O., S. 31. Yamanaka, a.a.O., Festschrift für Gan, Bd. 1, 2002, S. 33. Auch wenn man die Problematik vom tatsächlichen Standpunkt aus auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit beurteilt, ist die Erfolgszurechnung nicht ausgeschlossen. Denn die Beurteilung der Erfolgsvermeidbarkeit vom Standpunkt ex post aus bedeutet hier keine Verschiebung des Beurteilungszeitpunkts, sondern die Berücksichtigung der Umstände, die nach der Tatausführung entstanden sind.
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überprüft werden soll. Die kollidierenden Normen müssen hier meistens vom Standpunkt der Interessenabwägung aus vereinheitlicht werden. Die Handlungsmöglichkeit auf der Tatbestandsebene muss von einem physisch-realen Standpunkt aus beurteilt werden. Bei der Pflichtenkollision ist diese physisch-reale Handlungsmöglichkeit zu bejahen. Denn der Täter kann einen Gefährdeten retten, wenn man nur diesen einzelnen Fall sieht. Erst auf der Ebene des Rechtfertigungsgrundes kann das normative Verlangen gewürdigt werden, auch den anderen Gefährdeten zu retten. Die Impossibilität der Erfüllung der Handlungspflicht entsteht nur dann, wenn man zwei Handlungspflichten berücksichtigt. Deswegen taucht die Unmöglichkeit der Rettung beider Rechtsgüter erst auf der Ebene eines Rechtfertigungsgrundes auf. In dem Fall, wo der Täter überhaupt keine der beiden Handlungspflichten erfüllt, wird zwar die Tatbestandmäßigkeit beider Unterlassungsdelikte bejaht, aber es wird nur eine Rechtswidrigkeit der Unterlassung bestätigt, weil niemand auf das Unmögliche verpflichtet wird. Auf der Rechtfertigungsebene sollte die Handlungsmöglichkeit vom normativen Standpunkt aus beurteilt werden. Normativ darf die Rechtsordnung dem Normadressaten, der die Norm befolgen soll, keine unmögliche Pflicht aufbürden. Deswegen wird mindestens eine der beiden Tatbestandmäßigkeiten der Unterlassungsdelikte gerechtfertigt.
V. Fazit Die Pflichtenkollision ist ein selbständiger, übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund. Der Begriff der Pflichtenkollision lässt sich nur auf die Kollision zwischen Handlungspflichten miteinander anwenden. Die anderen angeblichen Pflichtenkollisionen können als Fälle des rechtfertigenden Notstandes gelöst werden. Das erste Abgrenzungskriterium zwischen Fällen der Pflichtenkollision und Fällen des rechtfertigenden Notstands ist das Vorhandensein der pluralen Gefahrensituationen, welche die Handlungspflichten begründen. Die Frage, ob die Kollision verschiedenwertiger Pflichten auch zur Pflichtenkollision gehört, ist zu bejahen. Beim Rechtfertigungsgrund muss die Rechtsordnung das Verhältnis der Pflichten, die miteinander kollidierten, widerspruchslos lösen. Auch wenn die materielle Rechtspflicht als Resultat eine einheitliche sein muss, werden sie erst auf der Ebene der Rechtfertigung vereinheitlicht. Deswegen gehören die Fälle der Kollision verschiedenwertiger Pflichten auch zur Pflichtenkollision, obwohl das Ergebnis der Interessenabwägung schon von Anfang an klar ist. Es ist klar, dass hinter der Pflichtenkollision die Interessenkollision steht. Aber bei der Pflichtenkollision müssen die „Pflichten“ kollidieren. Wenn es bei einem der beiden Interessen an einer
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Rechtspflicht fehlt, so ist dieser faktische Konflikt durch den rechtfertigenden Notstand zu lösen. Schließlich irrt die Zurechnungslösung der Pflichtenkollision in der Anwendung des Risikoverringerungsprinzips, da dieses bei je einem Tatobjekt (Rechtsgut) beurteilt werden muss.
§ 8. Strafrechtliche Erfassung in rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangener Straftaten I. Die Schuldfähigkeit bei alkohol- und drogenbedingten Rauschzuständen 1. Vorschriften und Definitionen § 39 des japanischen StGB regelt: „Die Tat der geistesgestörten Person wird nicht bestraft“ (Abs. 1). „Bei der Tat der geistesschwachen Person wird die Strafe gemildert.“ (Abs. 2). Die Definitionen der „Geistesstörung“ und der „Geistesschwäche“ finden sich nicht im japanischen StGB. Der Entwurf der Strafrechtsreform in 1974 regelte: „Die Tat desjenigen, der wegen der Geistesstörung keine Fähigkeit hat, das Recht oder Unrecht seiner Tat einzusehen und nach diesem Verständnis zu handeln, wird nicht bestraft“ (§ 16 Abs. 1 EjStGB). „Die Tat desjenigen, bei dem wegen Geistesstörung die in Abs. 1 beschriebene Fähigkeit erheblich reduziert ist, wird milder bestraft“ (§ 16 Abs. 2 EjStGB). Diese Definition der Schuldunfähigkeit entspricht der Definition der Schuldunfähigkeit nach der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung. Sie ist nach der gemischten Methode von biologischen und psychischen Kriterien definiert: D.h. sie besteht aus zwei Komponenten: die „Geistesstörung“ sowie „die Fähigkeit, das Recht oder Unrecht seiner Tat einzusehen und nach diesem Verständnis zu handeln“. Die erste Komponente bedeutet Krankhaftigkeit. Die zweite bedeutet „Einsichtsfähigkeit“ und „Steuerungsfähigkeit“1. Das Gesetz zur Wohlfahrtsförderung der geistigen Gesundheitspflege definiert den Geistesgestörten als „denjenigen, der Schizophrenie, eine Geisteskrankheit wegen Süchtigkeit, Schwachsinn oder Psychopathie oder eine andere Geisteskrankheit hat“ (§ 5 GWG). Die Definition der Geistesstörung nach dem japanischen StGB scheint etwas enger als die Definition in § 20 des deutschen StGB zu sein, der die „tiefgreifende Bewusstseinstörung“ und die „andere schwere seelische Abartigkeit“ beinhaltet.
1
Vgl. Keiichi Yamanaka, Strafrecht AT I (1999), S. 560 ff.
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2. Geistesstörung und Schuldfähigkeit In der japanischen Judikatur2 wird die schwere Schizophrenie, bei der die Patienten von Halluzinationen bzw. Wahnvorstellungen beherrscht sind, als Geistesstörung behandelt. Was die sonstigen Schizophrenien, bei denen die Patienten nicht durch Wahnvorstellungen beherrscht sind, anbelangt, so sind die Urteile auffällig, die „in Rücksicht auf alle Umstände wie den Krankheitszustand bei der Tat, die Lebensführung vor der Tat, die Motivation und Modalität der Tat“, die Geistesstörung verneint haben. In der Regel wird in solchen Fällen bloß die Geistesschwäche anerkannt3. Beim manisch-depressiven Irresein bejaht die Rechtsprechung eine Geistesstörung, wenn sie schwer ist und der Täter aufgrund eines krankhaften Impulses seine Tat ausgeführt hat4. Hinsichtlich der Tatausführung während eines Epilepsieanfalls tendiert sie dazu, eine Geistesstörung anzuerkennen. Bei den Geistesschwachen hingegen pflegt die Judikatur nicht die Schuldunfähigkeit, sondern die verminderte Schuldfähigkeit festzustellen.
3. Drogensucht und Schuldfähigkeit Was die Weckaminsucht anbelangt, so tendiert die Rechtsprechung dazu, nicht die Schuldunfähigkeit, sondern die verminderte Schuldfähigkeit festzustellen. Es gibt nur zwei veröffentlichte Entscheidungen, die in Fällen der actio libera in causa die Schuldunfähigkeit anerkennen5. Auch in der Literatur lassen sich nur zwei entsprechende Stellungnahmen zu Taten unter der Weckaminsucht finden. Einmal wird der Standpunkt vertreten, dass es in der Regel an der Schuldfähigkeit fehlt. Eine andere Meinung hält es nicht für richtig, dass man automatisch die Schuldfähigkeit verneint, weil die krankhaften Erfahrungen wie Wahnvorstellungen nicht zwangsläufig die gesamte Person beherrschen. Bei anderen Drogensüchten als der Weckaminsucht handelt es sich um Straftaten unter dem Einfluss von geschnüffeltem Verdünner und von Schlafmitteln. In einem Fall, wo der schnüffelsüchtige und sich in einem Wahn, genannt das
2
3 4 5
Als Überblick über die Judikatur vgl. Shimada / Shimada, Geistlosigkeit und Geistesschwäche, in: Otsuka (Hrsg.), Groß-Kommentar zum StGB, 2. Aufl., Bd. 3, 1999, S. 374 ff. Urteil des LG Tokyo vom 26.1.1981, in: Kokeishu 34.2.276; Urteil des OG Tokyo 25.4.1985, in: Hanrei Jiho 1168, 154. Urteil des LG Kobe vom 10.1.1953, Daiisshinkeishu 1.1.5. Urteil des OG Nagoya vom 19.4.1956, in: Saitoku 3.12.593.; Urteil des LG Kyoto Senat Maizuru vom 8.2.1976, in: Hanrei Jiho 958, 135.
§ 8. Straftaten in rauschbedingter Schuldunfähigkeit
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„Capgras-Symptom“6, befindliche Täter seit langem geglaubt hatte, dass Fremde vor ihm in Gestalt seiner Eltern erscheinen, und deshalb mit einem Bergmesser die Eltern erstochen hatte, hat das Gericht verminderte Schuldfähigkeit festgestellt7. In einem anderen Fall wollte der Angeklagte seine mit einem anderen verheiratete Geliebte töten und danach Selbstmord begehen. Tatsächlich tötete er die Frau unter dem Einfluss des Schlafmittels „Halcion“ (Triazolam), konnte danach sich aber nicht mehr selbst töten und überfuhr stattdessen während einer Bummel-Fahrt mit dem Auto infolge Unachtsamkeit den B und verletzte ihn schwer. Das Obergericht Tokyo hat das Urteil der ersten Instanz aufgehoben, das die Schuldfähigkeit hinsichtlich aller Taten, also von der Tötung über die schwere fahrlässige Tötung gegen B bis hin zur Fahrt mit Alkohol, bejaht hatte. Das Obergericht hat hinsichtlich der Tötung volle Schuldfähigkeit bejaht, während es hinsichtlich der anderen Taten, die nachher unter dem Einfluss der vielen Schlaftabletten begangen worden waren, lediglich verminderte Schuldfähigkeit angenommen hat8.
4. Alkoholtrunkenheit und Schuldfähigkeit Bei der alkoholbedingten Trunkenheit wird zwischen der „einfachen Trunkenheit“ und der „abnormalen Trunkenheit“ unterschieden. Hinsichtlich der abnormalen Trunkenheit wird weiterhin zwischen der „komplexen Trunkenheit“ und der „pathologischen Trunkenheit“ unterschieden. Die einfache Trunkenheit bedeutet die normale Trunkenheit. Die komplexe Trunkenheit ist jene Trunkenheit, die sich an abnormalen Verhaltensweisen zu erkennen gibt. Bei der pathologischen Trunkenheit leidet der Patient an rapider Bewusstseinstörung, Dämmerzustand und Wahn, die in der Regel durch Epilepsie oder Alkoholabhängigkeit verursacht werden. Bei der einfachen Trunkenheit wird die Schuldfähigkeit in der Regel bejaht. Bei der komplexen Trunkenheit wird meistens die verminderte Schuldfähigkeit bejaht. Bei der pathologischen Trunkenheit wird im allgemeinen auf Schuldunfähigkeit erkannt.
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Ein französischer Psychiater namens Capgras hat den Wahn im Jahre 1923 als „Illusion des sosies“ benannt. Urteil des OG Tokyo vom 26.5.1987, Hanrei Jiho 1239, 150; Urteil des LG Chiba vom 1.9.1986, in: Hanrei Jiho 1239, 156. Urteil des OG Tokyo vom 9.8.1993, in: Hanrei Jiho 1494, 158.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
II. Fälle von „actio libera in causa“ in der Rechtsprechung 1. Vorsatzdelikte a) Rauschgiftgesetz Der Oberste Gerichtshof hat in folgendem Fall die Lehre von der actio libera in causa auf die Vorsatzdelikte zum ersten Mal angewandt: Der § 4 Abs. 4 des Rauschgiftgesetzes von 1948 regelt: „Niemand darf die unten genannte Tat begehen: 4. wegen Rauschgift die öffentliche Sicherheit stören oder die Selbstbeherrschung verlieren“. § 60 des Gesetzes schreibt vor: „Derjenige, der gegen § 4 Abs. 4 verstoßen hat, wird mit Zuchthausstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr bestraft.“ Der Angeklagte war Rauschgiftsüchtiger und hatte unter Suchteinwirkung zweimal Kleidung bzw. eine Sofa-Matratze aus fremden Häusern entwendet. Diese Taten wurden als Handlungen unter Verlust der Selbstbeherrschung angesehen. Der Anwalt hat in seiner Revision geltend gemacht: Erstens: Der Verlust der Selbstbeherrschung sei keine Handlung und deswegen auch keine Straftat. Die Entwendung der Kleidung könne deshalb nicht angeklagt werden. Zweitens: Während die Staatsanwaltschaft die Störung der öffentlichen Sicherheit angeklagt habe, habe die Appellationsinstanz den Verlust der Selbstbeherrschung als „die angeklagte Tatsache“ angesehen. Das verstößt gegen § 378 Abs. 3 jStPO. Dass er drittens die Selbstbeherrschung verloren habe, bedeute nichts anderes, als dass er sich im Zustand der Schuldunfähigkeit befunden habe. Deswegen müsse die Schuld ausgeschlossen werden. Der Oberste Gerichtshof hat darauf wie folgt geantwortet: Der Verlust der Selbstbeherrschung bedeute nach angemessener Auslegung, dass eine Handlung ausgeführt wird, bei der als Ergebnis der Rauschgiftsucht und infolge des fortdauernden Drogengebrauchs ein Verlust der Selbstbeherrschung eintritt. Weiter führt er aus: „Auch wenn es an der Schuldfähigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt des Verlustes der Selbstbeherrschung fehlt, ist es wohl möglich, dass man ihn wegen actio libera in causa bestraft, soweit er hinsichtlich des fortdauernden Drogengebrauchs schuldfähig ist und mit dolus eventualis erkannt hat, dass er aufgrund des fortwährenden Drogen-Gebrauchs rauschgiftsüchtig wird“9.
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Der OGH schreibt weiter: „Gegenstand der Bestrafung ist in diesem Fall nicht der Zustand des Verlustes der Selbstkontrolle, sondern die Handlung im Zustand der Selbstbeherrschungslosigkeit, die als Ergebnis des Drogeneinflusses ausgeführt wur-
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Dieser Fall scheint sehr interessant zu sein, weil es hier darum geht, ob eine Bestrafung aus dem Tatbestand der „Selbstbeherrschungslosigkeit“ mit dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes10 vereinbar ist. Als subjektives Tatbestandsmerkmal verlangt der Oberste Gerichtshof lediglich „Wissen und Wollen (dolus eventualis) des Täters dahingehend, dass er rauschgiftsüchtig werden wird“.
b) Die Verletzung der StVO Das zweite Mal hat der Oberste Gerichtshof die Lehre von der actio libera in causa nicht offensichtlich, aber im materiellen Sinne auf das Vergehen der Trunkenheitsfahrt nach der StVO bei Geistesschwäche angewandt11. Er führt aus: „Auch wenn der Täter infolge der Trunkenheit während der Trunkenheitsfahrt in den Zustand der Geistesschwäche geraten ist, soll die Strafe dann nicht gemäß § 39 Abs. 2 gemildert werden, wenn trotz der Trunkenheit sein Wille zur Fahrt im Zeitpunkt der Alkoholeinnahme angenommen werden kann“.
c) Urteil des OG Nagoya Aus den Entscheidungen der unteren Instanzen gibt es ein Urteil des Obergerichts Nagoya, das ein Urteil der ersten Instanz, das eine Geistesschwäche festgestellt und § 39 Abs. 2 angewandt hatte, aufgehoben und nicht express verbis, aber stillschweigend aufgrund der Lehre von der actio libera in causa die Anwendung des § 39 Abs. 2 verneint hat12. Der Sachverhalt war folgender: Der Angeklagte, der eigentlich einen abnormalen Charakter hat und ein sogenannter „Hiropon“ (Phenylmethylaminopropan)-Süchtiger ist, hatte sich Hydrochlorid-Ephedrin injiziert, was sein Zentralnervensystem erheblich in Unordnung brachte. Als er daraufhin halluzinierte und pessimistisch wurde, kam er auf die Idee, seine Schwester zu töten und Selbstmord zu begehen. Tatsächlich erstach er seine Schwester mit einem Dolch. Das Obergericht hat in Bezug auf diesen Sachverhalt einen Vorsatz des Täters zu Gewalttätigkeiten bei der Drogeneinnahme festgestellt und ihn wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 205 jStGB) schuldig gesprochen. „Der Angeklagte hat sich
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de“. Nach ihm muss diese Handlung nicht Straftat sein. Aber sie kann auch in der Form der Straftat erscheinen Mit anderen Worten: Verstoß gegen den Grundsatz des „substansive due process“ (§ 31 der Verfassung). Beschluss des OGH vom 27.2.1968, Keishu 22.2.67. Urteil des OG Nagoya vom 19.4.1956, Kokeishu 9.5.411.
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Drogen in seinen Körper gespritzt, wobei er die Möglichkeit der Verwirklichung einer Straftat in Kauf genommen hat, obwohl er Sorge dafür zu tragen hat, dass er keine Halluzinationen und Wahnvorstellungen bekommen und anderen Personen mit seinem mit sich geführten Messer irgendwelche Verletzungen zufügen wird, wenn er Drogen spritzt, so dass er die X, beeinflusst durch die oben beschriebene Wahnvorstellung, mit dem Messer gestochen und getötet hat. Deswegen kann er seiner Schuld für die Körperverletzung mit Todesfolge nicht entkommen.“ Bei diesem Fall lässt sich der Tötungsvorsatz im Zeitpunkt des Stiches feststellen. Aber das Obergericht Nagoya hat den Vorsatz zu Gewalttätigkeiten nur bejaht, weil der Angeklagte bei der „actio in causa“ (also der ursächlichen Handlung), in concreto bei der Injektion der Droge, mit bloßem Gewalttätigkeitsvorsatz gehandelt hatte13. Nach dem Urteil hat der Angeklagte „vor der Injektion vorhergesehen, dass er in einen Zustand der Geistesstörung geraten und Wahnvorstellungen haben würde, so dass er möglicherweise andere Personen verletzen könnte. Er hat dies in Kauf genommen und sich die Droge injiziert. Unter diesen Umständen lässt sich ein dolus eventualis zu Gewalttätigkeiten bejahen“. Allerdings ist bei diesem Urteil nicht klar, ob das Gericht in der Injektion den Anfang der Ausführung der Gewalttätigkeiten sieht. Deshalb ist es unklar, ob das Gericht eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip macht oder nicht.
d) Urteil des LG Osaka Das Landgericht Osaka hat im Jahre 197614 die Voraussetzungen der actio libera in causa relativ ausführlich erörtert: Der Sachverhalt ist folgender: Der Angeklagte hatte die Gewohnheit, dass er Gewalt gegen andere immer dann verübte, wenn er Alkohol getrunken hatte. Ein Jahr zuvor war er vom Landgericht Osaka wegen Raubversuchs zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, wobei wegen „komplexer Trunkenheit“ der Zustand der Geistesschwäche festgestellt und die Strafe deshalb zur Bewährung auf vier Jahre ausgesetzt worden war. Als Sonderauflage war ein Alkoholverbot verhängt worden. Nachdem der Angeklagte sich am Tattag infolge übermäßigen Alkoholgenusses in pathologische Trunkenheit und den Zustand der Einsichts- und Steuerungsunfähigkeit gebracht hatte, war er in ein Taxi eingestiegen und hatte den Taxifahrer mit 13
14
Denn die Körperverletzung ist das erfolgsqualifizierte Delikt der Gewalttätigkeit, und die Körperverletzung mit Todesfolge ist das erfolgsqualifizierte Delikt der Körperverletzung. Urteil des LG Osaka vom 4.3.1976, Hanrei Jiho 822, 109.
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einem großen Messer bedroht, ihm Geld zu geben, obwohl er Kenntnis davon hatte bzw. voraussehen konnte, dass er, wenn er trinkt, die Selbstkontrolle verliert bzw. nicht verhindern kann, so viel zu trinken, dass infolge Geistesschwäche wegen „abnormaler“ Trunkenheit die Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit wenigstens erheblich reduziert ist. Der Taxifahrer konnte schließlich fliehen. Im Urteil heißt es: „Bei Vorsatzdelikten in Fällen der sog. actio libera in causa findet sich ein positiver Wille des Täters, den Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit wegen der Geistesstörung, die der Täter selber verursacht hat, zur Ausführung der Straftat zu verwenden. Deshalb wirkt der Wille auch im Zeitpunkt der Ausführung fort. Hinsichtlich der ausgeführten Tat sind Schuldunfähiger (einfaches Werkzeug) und vermindert Schuldfähiger (schuldhaftes Werkzeug) Werkzeuge. Gewissermaßen macht sich der Täter selbst zum Werkzeug und ist also mittelbarer Täter. Andererseits wirkt der psychische Zustand der Unsorgfältigkeit im Zeitpunkt der Ursachenhandlung, die schuldfähig ausgeführt ist, auch im Zeitpunkt der direkten Unfallverursachung fort. Deshalb hat man zu prüfen, ob der Täter in diesem Zeitpunkt nicht nur – wie oben geschildert – einfaches Werkzeug oder schuldiges Werkzeug ist, sondern auch, ob der Täter ein schuldfähiger unsorgfältiger Täter ist. Deswegen lässt sich auch feststellen, dass bei Vorsatzdelikten im Ausführungszeitpunkt und bei Fahrlässigkeitsdelikten im Zeitpunkt der Unfallverursachung die jeweilige Tatbestandsverwirklichung als schuldfähige mittelbare Täterschaft angesehen werden kann und das Koinzidenzprinzip zwischen Handlung und Schuld gewahrt ist“.
2. Fahrlässigkeitsdelikte Es gibt viele Entscheidungen, die bei fahrlässigen Taten in Trunkenheit Fahrlässigkeitsdelikte nur deshalb bejaht haben, weil sie die Lehre von der actio libera in causa herangezogen haben15. Ein Urteil des Landgerichts Osaka16 behandelte etwa folgenden Sachverhalt: Der Angeklagte hatte während eines Neujahrfestes bei X viel getrunken. Auch nach Ende des Festes hatte er noch reichlich weiter Alkohol getrunken. Er hat in diesem Zustand, in dem er wegen der Trunkenheit und ihrer Auswirkungen keine normale Fahrt hätte führen können, trotzdem einen Lastzug gefahren. Als er mit einer Geschwindigkeit von 40 km per Stunde fuhr, ließ er seinen Lkw auf eine Ampel prallen und verlor die Kontrolle. Dabei fuhr er A und B, 15 16
Vgl. Toshimasa Nakazora, Eine Betrachtung über die actio libera in causa bei den Fahrlässigkeitsdelikten, in: Festschrift für Yasumasa Shimomura, Bd. 1, 1995, S. 175 ff. Urteil des LG Osaka vom 29.5.1989, Hanrei Times 756, 265.
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2. Aktuelle Probleme der japanischen Strafrechtsdogmatik
die am Straßenrand gingen, so an, dass A getötet und B schwer verletzt wurde. Der Fahrer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung während des Betriebs eines Fahrzeugs (§ 211 jStGB) und wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss angeklagt. Im Urteil wurde zum ersten Delikt wie folgt argumentiert: Der Angeklagte befand sich im Zustand der Geistesstörung bzw. der Geistesschwäche. Jedoch „ist schon mit Beginn des Trinkens bei X die konkrete Gefahr dafür entstanden, dass er, sofern er in gleicher Weise weitertrinkt, unter Einfluss der Betrunkenheit später keine normale Fahrt durchführen kann, den Verkehrsunfall verursachen und einen anderen Menschen töten oder verletzten wird. Die Pflicht, das weitere Trinken zu vermeiden oder zumindest über einem adäquaten Umfang hinaus zu unterdrücken, um nicht in den Zustand der Trunkenheit zu geraten, ist bereits in diesem Zeitpunkt entstanden und verletzt worden.“ Der Angeklagte konnte im Zeitpunkt des Trinkens bei X die Entstehung des Unfalls vorhersehen, weil er sich der eigenen Gewohnheiten im Zustand der Betrunkenheit bewusst war. Was die Fahrt mit dem Alkohol anbetrifft, so hatte er Kenntnis davon und es in Kauf genommen, dass er in einem Zustand, in dem er befürchten musste, wegen des Alkoholeinflusses keine normale Fahrt mehr führen zu können, trotzdem den Wagen fuhr. „Die Fahrt unter Alkoholeinfluss wurde mit bedingtem Vorsatz beim Beginn des Trinkens bei X, bei der die Schuldfähigkeit nicht fehlt, geführt und durch das Trinken verursacht. Deshalb war der Angeklagte als vollständig Schuldfähiger nach der Lehre von der actio libera in causa schuldig zu sprechen“. Andererseits finden sich nicht wenige Entscheidungen17, die in Fällen von Geistesschwäche, wo also der Erfolg durch die Handlung schon im Zeitpunkt der Geistesschwäche eingetreten war, die Strafe wegen der Geistesschwäche gemildert haben. Gleichwohl gibt es auch viele Entscheidungen18, in denen mit der Lehre von der actio libera in causa volle Schuldfähigkeit bejaht worden ist.
III. Actio libera in causa in der Lehre Zu den Fällen der actio libera in causa existieren auch in Japan zwei Ansätze je nach Auslegung des Koinzidenzprinzips: Die eine Meinung verlangt formelle Koinzidenz zwischen „Tatausführung“ und Schuld. Sie kann wie in Deutsch17
18
Urteil des OG Sendai vom 27.4.1954, Tokuho 36.74; Urteil des OG Tokyo vom 8.5.1956 Saitoku 3.9.467; Urteil des OG Tokyo vom 27.10.1976, Toji 17.10.224; Urteil des LG Kyoto vom 24.1.1968, Hanrei Jiho 515, 88. Urteil des OG Sapporo vom 15.11.1951, Kokeishu 4.11.1482; Urteil des OG Tokyo vom 9.11.1955, Saitoku 2.22.1160; Urteil des LG Yokohama, Senat Yokosuka vom 22.1.1965, Kakeishu 7.1.72; Urteil des OG Tokyo vom 14.7.1971, Keigetu 3.7.845.
§ 8. Straftaten in rauschbedingter Schuldunfähigkeit
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land als „Tatbestandsmodell“ bezeichnet werden. Demgegenüber lässt die zweite Auffassung eine Koinzidenz zwischen der „Handlung vor der Tatausführung“ und der Schuld genügen. Sie kann als „Ausnahmemodell“ bezeichnet werden.
1. Ursächliche Handlung als Tatausführung Die Lehre, welche die ursächliche Handlung als Tatausführung ansieht, begründet ihre These mit einer Analogie zur mittelbaren Täterschaft, wonach der Täter, der im Zustand der Schuldunfähigkeit die Tat begeht, als Werkzeug angesehen wird. Der Anfang der Tatausführung beginnt mit der „ursächlichen Handlung“, also jener Handlung, die noch im Zeitpunkt der Schuldfähigkeit vollzogen wird (also das Trinken bzw. der Anfang des Trinkens). Die Vertreter dieser Lehre halten es für möglich, dass man die Tatausführung bei den Fahrlässigkeitsdelikten und den Unterlassungsdelikten in jener „ursächlichen Handlung“ enthalten findet. Gleichwohl bezeichnet es schon ihr Hauptvertreter selbst in Bezug auf die Vorsatzdelikte als schwer, den Anfang der Tatausführung in jener „ursächlichen Handlung“ (dem Beginn des Trinkens) zu sehen19: D.h. es erscheint bereits den Vertretern dieser Lehre als nicht angemessen, in der Trinkhandlung die Tötungs- bzw. Mordhandlung zu sehen.
2. Modifiziertes Koinzidenzprinzip Diese Lehre lockert das Koinzidenzprinzip: Eine Koinzidenz zwischen Tatausführung und Schuld ist nicht erforderlich20. Es genügt, dass die Schuld im frühen Stadium vorhanden ist und sie die Tatausführung beherrschen oder kontrollieren kann. Voraussetzung dieser Lehre ist, dass sie den Anfang der Tatausführung in dem Zeitpunkt der „Erfolgshandlung“, also der Handlung im Zeitpunkt der Schuldunfähigkeit, sieht. Nach Naka21 kann man die Schuld anerkennen, wenn der Täter während der Schuldfähigkeit die Herrschaftsmöglichkeit hatte, sich für die Tatausführung zu entscheiden. Nach Nishihara22 ist es nicht notwendig, dass die Koinzidenz 19 20
21 22
Dando, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 19. Saeki behauptete das nur. Er hat keine konkreten Voraussetzungen für die Auflockerung des Koinzidenzprinzips entwickelt (Vgl. Chihiro Saeki, actio libera in causa, in: Keijiho Koza, Bd. 2, S. 295 ff.). Yoshikatsu Naka, actio libera in causa, in: Kandai Hogaku Ronshu, Sonderheft zum 70jährigen Bestehen der Kansai-Universität, 1955, S. 159 ff. Haruo Nishihara, Der Zeitpunkt des Vorhandenseins der Schuldfähigkeit, in: Festschrift für Saeki, Bd. 1, S. 453 ff.
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zwischen Tatausführung und Schuld vorhanden ist. Vielmehr genüge es, wenn sie zwischen der aufgrund derselben Willensentscheidung mit der Erfolgshandlung geführten früheren Handlung und der Schuld vorhanden ist. Dieser Ansatz entwickelt sich zu einer neuen Theorie, nach der nicht die Schuldform, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit, sondern allein der Schuldgrund bei der früheren Handlung zurechnungsrelevant ist23. Diese Lehre sieht zwar in der Erfolgshandlung die Tatausführung. Aber wenn die ursächliche Handlung fahrlässig erfolgt, so bejaht sie die Schuld. Wenn daher ein tatsächlicher Vorsatz bei der Tatausführung und Fahrlässigkeit bei der ursächlichen Handlung vorhanden sind, so wird insgesamt ein schuldhafter Vorsatz angenommen. Also wird eine vorsätzliche Tat bejaht.
3. Rückbeziehung der Schuld auf die ursächliche Handlung Diese Lehre unterscheidet zwischen der Tatausführung und dem Anfang der Tatausführung24. Die Tatausführung bedeute eine körperliche Tätigkeit, die den Beginn der Kausalverläufe zum tatbestandlichen Erfolg markiert. Der Anfang der Tatausführung bedeutet nach dieser Lehre bloß einen Begriff für die Festlegung des Zeitpunktes, an dem die Versuchsbestrafung beginnt. Der Anfang der Tatausführung wird erst im Zeitpunkt der Entstehung des Gefahrerfolges anerkannt. Also ist die „Tatausführung“ an sich an der ursächlichen Handlung festzumachen, während der „Anfang der Tatausführung“ bei der Erfolgshandlung einsetzt, bei der die konkrete Gefahr entsteht. Die Kernthese dieser Lehre liegt im adäquaten Kausalzusammenhang und Schuldzusammenhang von der Ursachenhandlung über die Erfolgshandlung bis zum Erfolg. Mit anderen Worten ist entscheidend für die Beurteilung der schuldhaften Handlung, ob die Erfolgshandlung von der Ursachenhandlung adäquat verursacht ist bzw. als Risikoverwirklichung der Ursachenhandlung angesehen werden kann und ob der Wille zur Ursachenhandlung sich im Willen zur Erfolgshandlung fortsetzt. In concreto spielt nach dieser Theorie die Beurteilung darüber eine wichtige Rolle, ob zwischen dem Handlungswillen bei der Ursachenhandlung und dem 23 24
Fumiaki Uchida, Über die „actio libera in causa“, in: Festschrift für Haruo Nishihara, Bd. 2, S. 175 ff., 184 ff. Ryuichi Hirano, Strafrecht AT, 1975, S. 303 ff.; Ders., Täterschaft und Tatausführung, in: Festschrift für Chihiro Saeki, Bd. 1, S. 404 ff.; Atsushi Yamaguchi, actio libera in causa – Vom Standpunkt der Lehre des Regressverbotes, in: Gendai Keijiho Nr. 20 (2000), S. 31 ff.; Ders., actio libera in causa, in: Festschrift für Shigemitsu Dando, Bd. 2 (1984), S. 162 ff.
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Handlungswillen bei der Erfolgshandlung Kontinuität besteht oder nicht. Ob nach dieser Lehre die Schuld bei der Handlung, die im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit ausgeführt wird, zu bejahen oder zu verneinen ist, hängt also auch davon ab, ob die Willenskontinuität vorhanden ist. Wenn die Willenskontinuität besteht, wird die volle Schuld damit bejaht, dass man beide Schuldgehalte des Täters, d.h. verminderte Schuld bei der Erfolgshandlung und Schuld als Quasi-Beteiligung bei der Ursachenhandlung, zur eigenen Täterschaft hinsichtlich der Erfolgshandlung zusammen bewertet. Fraglich ist allerdings zunächst der Begriff des „Anfangs der Tatausführung“ nach dieser Theorie. Problematisch sind ferner Ergebnis und Begründung in den Fällen eigener verminderter Schuldfähigkeit.
4. Einschränkung der Berufung auf das Schuldprinzip Diese Lehre wird in zweierlei Weise vertreten. Beide Theorien erkennen eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip an. Jedoch meint die eine Theorie25, dass die Berufung auf das Prinzip als Einrede insofern aus dem Grund des „Rechtsmissbrauches“ nicht erlaubt ist, als der Täter mit Willen den eigenen Zustand der fehlenden normalen Zurechnungsfähigkeit verursacht hat. Die andere Theorie ist dagegen der Auffassung, dass die actio libera in causa ein die Schuld ergänzendes Prinzip darstellt. Nach dieser Theorie liegt die Tatausführung in der Erfolgshandlung, und sie hält einen Schuldvorwurf für möglich, wenn Erkenntnis, Inkaufnehmen der Straftat und Fahrlässigkeit bei der Ursachenhandlung, sich in den Zustand der Schuldunfähigkeit zu begeben, beim Täter vorhanden sind. Diese Theorie bejaht eine fahrlässige Schuld zur vorsätzlichen Tat, wenn der Täter bei der Erfolgshandlung Vorsatz hat, bei der Ursachenhandlung aber bloße Fahrlässigkeit zeigt.
5. Theorie der Straflosigkeit und Theorie der Gesetzgebungslösung Als Mindermeinungen gibt es zum einen die Ansicht, nach der die Anwendung des § 39 verneint werden soll26. Diese Meinung fasst das Koinzidenzprinzip streng und entsprechend auch den Begriff der Anfang der Tatausführung. Aber es ist nicht nötig, hartnäckig auf deren formaler und prinzipieller Anwendung
25 26
Osamu Maruyama, Eine Betrachtung über actio libera in causa, in: Hokkaigakuen Hogaku Kenkyu, Bd. 19, H. 1, S. 53 ff. Kazushige Asada, Actio libera in causa – Entwicklung der Straflosigkeitstheorie, in: Gendai Keijiho, Bd. 20, S. 42 ff.
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zu beharren, wenn die ausdehnende Auslegung, die zum kriminalpolitisch angemessenen Ergebnis führt, auch dogmatisch begründet werden kann. Nicht überzeugend ist auch die Theorie27, die die koinzidentale Kontrolle über die Tatausführung als zentral bewertet, bei einer Tatausführung im Zustand der Schuldunfähigkeit aber eine koinzidentale Kontrolle für unmöglich hält28 und daher ein Eingreifen des Gesetzgebers verlangt, wenn man zur Bestrafung in Fällen der actio libera in causa gelangen will. Indes: Wenn man die Tatausführung in die Ursachenhandlung hineininterpretieren kann, ist das Erfordernis der koinzidentalen Kontrolle erfüllt. D.h. es ist nicht erforderlich, zur Problemlösung auf den Gesetzgeber zu verweisen.
6. Eigene Meinung Der Begriff der „Anfang der Tatausführung“ in der japanischen Strafrechtswissenschaft erscheint mir nicht nur chaotisch und irreführend, sondern weicht auch weit von internationalen Verständnissen ab. Der Anfang der Tatausführung muss mindestens bedeuten, dass die durch körperliche Bewegung geführte Tatausführung begonnen hat. Unsinnig und widersprüchlich ist jene abwegige Terminologie, derzufolge der Anfang der Tatausführung erst nach der Beendigung der Tatausführung einsetzt. Da die japanische Theorie sich darum bemüht, den Anfang der Tatausführung möglichst von der Nähe zur Rechtsgutsverletzung aus zu bestimmen, wurde dieser Widerspruch als vernachlässigbarer kleiner Fehler angesehen. Meiner Meinung nach sind zwei gegensätzliche dogmatische Aufgaben zu bewältigen: einerseits den Anfang der Tatausführung möglichst nahe an der Rechtsgutsverletzung auszurichten, und andererseits eine „natürliche“ Terminologie zu verwenden. Beide Aufgaben sind dahin zu lösen, dass der Begriff der „Anfang der Tatausführung“ als „Bewertungsbegriff“ verstanden werden sollte. Danach ist die Gefahrschaffungshandlung ex ante vorläufig eine bloß „potenzielle Tatausführung“. Erst wenn der Kausalverlauf sich zum konkreten Risiko steigert, ist die potenzielle Tatausführung nachträglich als reale Tatausführung zu bewerten29. 27 28 29
Toshimasa Nakazora, Die Lehre der actio libera in causa, in: Waseda Hoken Ronshu Nr. 52, S. 173 ff.; Nr. 53, S. 141 ff.; Nr. 54, S. 217 ff. Munenobu Hirakawa, actio libera in causa – Straflosigkeitstheorie und Gesetzgebungsvorschlag, in: Gendai Keijiho, Bd. 20, S. 36 ff. Vgl. Yamanaka, Strafrecht AT, Bd. II, 1999, S. 681 ff.; Ders., Zum Beginn der Tatausfüllung, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und in Deutschland, 1989, S. 111 ff.
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Überträgt man diese Gedanken auf die Fälle der actio libera in causa, so kommt es darauf an, ob die am Endpunkt der vorhandenen Schuldfähigkeit ausgeführte Handlung den Charakter jener potenziellen Tatausführung hat. Dafür ist die Risikoschaffung der Handlung ex ante zu beurteilen. Wenn das geschaffene Risiko sich in einer konkreten Gefahr verwirklicht, dann wird die potenzielle Tatausführung in die reale Tatausführung verwandelt. Im Zeitpunkt der Erfolgshandlung ist der Täter schon im Zustand der Schuldunfähigkeit. Deshalb kommt dem Handelnden schon keine normative Störung zur Tat zugute. Das bedeutet, dass der Handelnde der Täter ist. Wenn z.B. A die Körperverletzung gegen B durch den Einsatz seiner Gewohnheit, unter Alkoholeinfluss Gewalttätigkeiten gegen nahestehende Menschen zu verüben, beabsichtigt, dann lässt sich die Risikoschaffung durch den Trinkakt in Richtung der Körperverletzung anerkennen, wenn die Gewohnheit des Täter in einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zur Erfolgshandlung steht und die Tatumstände günstige Forderungsfaktoren darstellen. Auch wenn es zum Körperverletzungsakt ohne Erfolg kommt, ist die konkrete Gefahr zum Erfolg anzuerkennen. Erst in diesem Zeitpunkt hat sich die potenzielle Tatausführung, zurückbewertet, in die reale Tatausführung gewandelt. Und in diesem Zeitpunkt wird der Versuch zur Körperverletzung nach dem deutschen StGB (§ 223 Abs. 2) strafbar. Wenn A schon nach dem Trinken einschläft, dann kommt es auf den Versuch noch nicht an. Wenn der A im obengenannten Beispiel in einen Zustand verminderter Schuldfähigkeit gerät und in einem solchem Zustand die Straftat ausführt, dann lässt sich die Gefahrschaffung nur bei der Erfolgshandlung anerkennen, und auch bei der Ursachenhandlung. Aber die Ursachenhandlung hat keinen Täterschaftscharakter, weil seine nachträgliche Handlung im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit eine normative Störung zur Tat bedeutet. Deshalb kommt der Täter in diesem Fall in den Genuss der Anwendung des § 39 Abs. 2.
IV. Die Lehre, die die Berufung auf das Schuldprinzip einschränkt Diese Lehre wird in zweierlei Weise vertreten. Beide Theorien erkennen eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip an. Aber nach einer derTheorien30 soll die Berufung auf das Prinzip als Einrede insofern aus dem Grund des „Rechts30
Osamu Maruyama, Eine Betrachtung über actio libera in causa, Hokkaigakuen Hogaku Kenkyu, Bd. 19, H. 1, S. 53 ff.
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missbrauches“ nicht erlaubt sein, als der Täter mit Willen den eigenen Zustand der fehlenden normalen Zurechnungsfähigkeit verursacht hat. Die andere Theorie ist dagegen der Auffassung, dass die actio libera in causa ein die Schuld ergänzendes Prinzip darstellt. Nach dieser Theorie liegt die Tatausführung in der Erfolgshandlung, und sie hält einen Schuldvorwurf für möglich, wenn Erkenntnis, Inkaufnehmen der Straftat und Fahrlässigkeit bei der Ursachenhandlung, sich in den Zustand der Schuldunfähigkeit zu begeben, beim Täter vorhanden sind. Diese Theorie bejaht eine fahrlässige Schuld zur vorsätzlichen Tat, wenn der Täter bei der Erfolgshandlung Vorsatz hat, bei der Ursachenhandlung aber bloße Fahrlässigkeit zeigt.
V. Theorie der Straflosigkeit und Theorie der Gesetzgebungslösung Als Mindermeinungen gibt es zum einen die Ansicht, nach der die Anwendung des § 39 verneint werden soll31. Diese Meinung fasst das Koinzidenzprinzip streng und entsprechend auch den Begriff der Anfang der Tatausführung. Aber es ist nicht nötig, hartnäckig auf deren formale und prinzipielle Anwendung zu beharren, wenn die ausdehnende Auslegung, die zum kriminalpolitisch angemessenen Ergebnis führt, auch dogmatisch begründet werden kann. Nicht überzeugend ist auch die Theorie32, die die koinzidentale Kontrolle über die Tatausführung als zentral bewertet, bei einer Tatausführung im Zustand der Schuldunfähigkeit eine koinzidentale Kontrolle für unmöglich hält33 und daher ein Eingreifen des Gesetzgebers verlangt, wenn man zur Bestrafung in Fällen der actio libera in causa gelangen will. Indes: Wenn man die Tatausführung in die Ursachenhandlung hineininterpretieren kann, ist das Erfordernis der koinzidentalen Kontrolle erfüllt. D.h. es ist nicht erforderlich, zur Problemlösung auf den Gesetzgeber zu verweisen.
VI. Eigene Meinung Der Begriff der „Anfang der Tatausführung“ in der japanischen Strafrechtswissenschaft erscheint mir nicht nur chaotisch und irreführend, sondern weicht 31 32 33
Kazushige Asada, Actio libera in causa – Entwicklung der Straflosigkeitstheorie, Gendai Keijiho, Bd. 20, S. 42 ff. Toshimasa Nakazora, Die Lehre der actio libera in causa, Waseda Hoken Ronshu, Nr. 52, S. 173 ff.; Nr. 53, S. 141 ff.; Nr. 54, S. 217 ff. Munenobu Hirakawa, Action libera in causa – Straflosigkeitstheorie und Gesetzgebungsvorschlag, Gendai Keijiho, Bd. 20, S. 36 ff.
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auch weit von internationalen Verständnissen ab. Der Anfang der Tatausführung muss mindestens bedeuten, dass die durch körperliche Bewegung geführte Tatausführung begonnen hat. Unsinnig und widersprüchlich ist jene perverse Terminologie, derzufolge der Anfang der Tatausführung erst nach der Beendigung der Tatausführung einsetzt. Da die japanische Theorie sich darum bemüht, den Anfang der Tatausführung möglichst von der Nähe zur Rechtsgutsverletzung aus zu bestimmen, wurde dieser Widerspruch als vernachlässigbarer kleiner Fehler angesehen. Meiner Meinung nach sind zwei gegensätzliche dogmatische Aufgaben zu bewältigen: einerseits den Anfang der Tatausführung möglichst nahe an der Rechtsgutsverletzung auszurichten, und andererseits eine „natürliche“ Terminologie zu verwenden. Beide Aufgaben sind dahin zu lösen, dass der Begriff „Anfang der Tatausführung“ als „Bewertungsbegriff“ verstanden werden sollte. Danach ist die Gefahrschaffungshandlung ex ante vorläufig eine bloß „potentielle Tatausführung“. Erst wenn der Kausalverlauf sich zum konkreten Risiko steigert, ist die potentielle Tatausführung nachträglich als reale Tatausführung zu bewerten34. Überträgt man diese Gedanken auf die Fälle der actio libera in causa, so kommt es darauf an, ob die am Endpunkt der vorhandenen Schuldfähigkeit ausgeführte Handlung den Charakter jener potentiellen Tatausführung hat. Dafür ist die Risikoschaffung der Handlung ex ante zu beurteilen. Wenn das geschaffene Risiko sich in einer konkreten Gefahr verwirklicht, dann wird die potentielle Tatausführung in die reale Tatausführung verwandelt. Im Zeitpunkt der Erfolgshandlung ist der Täter schon im Zustand der Schuldunfähigkeit. Deshalb kommt dem Handelnden schon keine normative Störung zur Tat zugute. Das bedeutet, dass der Handelnde der Täter ist. Wenn z.B. A die Körperverletzung gegen B durch den Einsatz seiner Gewohnheit, unter Alkoholeinfluss Gewalttätigkeiten gegen nahestehende Menschen zu verüben, beabsichtigt, dann lässt sich die Risikoschaffung durch den Trinkakt in Richtung der Körperverletzung anerkennen, wenn die Gewohnheit des Täters in einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zur Erfolgshandlung steht und die Tatumstände günstige Forderungsfaktoren darstellen. Auch wenn es zum Körperverletzungsakt ohne Erfolg kommt, ist die konkrete Gefahr zum Erfolg anzuerkennen. Erst in diesem Zeitpunkt hat sich die potentielle Tatausführung, zurückbewertet, in die reale Tatausführung gewandelt. Und in diesem Zeit34
Vgl. Yamanaka, Strafrecht AT, II, 1999, S. 681 ff.; Ders., Zum Beginn der Tatausführung, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und in Deutschland, 1989, S. 111 ff.
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punkt wird der Versuch zur Körperverletzung nach dem deutschen StGB (§ 223 Abs. 2) strafbar. Wenn A schon nach dem Trinken einschläft, dann kommt es auf den Versuch noch nicht an. Wenn der A im obengenannten Beispiel in einen Zustand verminderter Schuldfähigkeit gerät und in einem solchen Zustand die Straftat ausführt, dann lässt sich die Gefahrschaffung nur bei der Erfolgshandlung anerkennen, und auch bei der Ursachenhandlung. Aber die Ursachenhandlung hat keinen Täterschaftscharakter, weil seine nachträgliche Handlung im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit eine normative Störung zur Tat bedeutet. Deshalb kommt der Täter in diesem Fall in den Genuss der Anwendung des § 39 Abs. 2.
VII. Schlussworte In der Diskussion über die Fälle der actio libera in causa in Japan hat das Thema sich seit langem auf die Bemühungen um die dogmatischen Begründungen der Bestrafung bei den Taten in der Schuldunfähigkeit bzw. verminderter Schuldfähigkeit konzentriert. Der gesetzgeberische Lösungsversuch beim Reform-Entwurf für das StGB im Jahre 1974 hat bloß folgendes Resultat gezeigt: „Die vorige Vorschrift (für die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit) wird auf denjenigen, der dadurch die Straftaten verursacht hat, dass er selber vorsätzlich die Geistesstörung heraufbeschworen hat, nicht angewandt“ (§ 17 Abs. 1)35. Deshalb scheint es noch nötig zu sein, dogmatisch zu begründen, mit welchem Grund die actio libera in causa bestraft werden kann, um eine überzeugende Erklärung zur Bestrafung zu geben. Meine Begründungsbemühung ist ein solcher Versuch. Auf mein eigentliches Vorhaben, auch die sukzessive Schuldunfähigkeit in die Betrachtung einzubeziehen, verzichte ich diesmal aus Zeitgründen.
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Absatz 2 des § 17 regelt ebenso wie beim Absatz 1, aber bei den fährlässigen Taten.
DRITTER TEIL: DIE LEHRE VON DER OBJEKTIVEN ZURECHNUNG
§ 9. Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft*,** I. Einführung Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist in Japan heutzutage bereits unter den Jurastudenten wohlbekannt. Hinter ihr liegt jedoch ein langer und schwieriger Kampf um Anerkennung1, weil durch die vorherrschende Adäquanztheorie die Entwicklung der neu entstandenen und zunehmend erstarkenden Theorie sehr beeinträchtigt wurde. Aber nach einer Reihe von höchstrichterlichen Entscheidungen in den 1990er Jahren, die der Adäquanztheorie nicht mehr gewogen waren, scheint die Zurechnungslehre nun die Chance erhalten zu haben, auch in der Literatur Beachtung zu finden, weil sie sich nicht als eine zwar neue, jedoch für die Praxis ungeeignete deutsche Lehre erwiesen hat, sondern als eine praktikable Denkmethode für die Beurteilung konkreter Fälle.
II. Krise der Adäquanztheorie in der Judikatur und Literatur 1. Einführung In der ersten Hälfte der 1990er Jahre ist in Japan von der Krise der Adäquanztheorie die Rede gewesen. Diese Krise wurde einerseits durch die Zurechnungslehre verursacht; andererseits ist sie auch bedingt gewesen durch die innere Diskrepanz zwischen ihrer Urform und ihrer „elastischen“ Anwendung auf die verschiedenen Fälle aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit. Dieser innere Bruch der Adäquanztheorie bot der Lehre von der objektiven Zurech* **
1
Ich danke Herrn Kollegen Gunnar Duttge herzlich für die Unterstützung bei der Herstellung der deutschen Endfassung. Dieser Aufsatz bildet die überarbeitete Version meines Beitrages „Die Entwicklung und Tendenzen der Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft“, in: W Kregu Teorii i Praktyki Prawa Karnego, Ksiega poswiecona pamieci Professora Andrzeja Waseka, Lublin / Poland, 2005, S. 396–410. Die Anfänge der Studien zur Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan erfolgten nahezu übereinstimmend mit dem Beginn meiner wissenschaftlichen Karriere: Im Jahre 1972 habe ich meinen Aufsatz veröffentlicht zum „Verhältnis zwischen der Pflichtwidrigkeit und dem Erfolg im Strafrecht“ (in: Hogaku Ronso, Bd. 92, Heft 3, S. 60 ff.; Bd. 93, Heft 2, S. 54 ff.; Heft 5, S. 29 ff.); im Jahre 1984 folgte die Monographie „Kausalität und Zurechnung im Strafrecht“. Meine umfassende, über 800-seitige Monographie zur „Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht“ ist 1997 erschienen.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
nung die Chance, auf sich aufmerksam zu machen. Seither zählt die Zurechnungslehre zum gesicherten Bestand der Strafrechtswissenschaft2. Was aber war genau die „Krise“ der Adäquanztheorie in der japanischen Strafrechtsdogmatik3? Hier sind zusammenfassend drei Aspekte zu nennen: Erstens die Erkenntnis der theoretischen Problematik der Adäquanztheorie, zweitens die Abstandnahme des OGH von der Adäquanztheorie und drittens die Kritik an der Adäquanztheorie durch die Lehre von der objektiven Zurechnung.
a) Theoretische Problematik der Adäquanztheorie Sie zeigt sich in folgenden Punkten: 1) Es ist zweifelhaft, ob der Unterschied zwischen der „Risikoschaffung“ und der „Risikoverwirklichung“, der seinerzeit auch von der Adäquanztheorie anerkannt worden ist, vor allem hinsichtlich des Beurteilungszeitpunkts mit der eigentlichen Prüfungsmethode der Adäquanztheorie noch vereinbar ist, weil die Einschätzung der Risikoverwirklichung vom Standpunkt ex post aus getroffen werden muss, obwohl die Adäquanzbeurteilung von der begrenzten Basis der ex ante-Betrachtung ausgehen soll4. 2) Die Adäquanzbeurteilung setzt eine bloße Form, bildet aber nicht das inhaltliche Kriterium: Die „Adäquanz“ ist als Kriterium viel zu vage und unklar. Wissenschaft und Judikatur entwickelten deshalb eine typologische Struktur unter Ausprägung verschiedener Fallgruppen. In der Sache sind somit die verschiedenen Unterkriterien dieser Fallgruppen die praktischen Kriterien der Adäquanzbeurteilung geworden. 3) Der methodische Wandel in der Strafrechtsdogmatik von der tatsächlichen zur normativen Denkweise hat auch die Adäquanztheorie einer teleologischen 2
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Vgl. dazu meine auf Japanisch geschriebenen Beiträge: Überprüfung der Adäquanztheorie vom Standpunkt der Lehre von der objektiven Zurechnung (in: Keiho Zasshi, Bd. 37, Heft 3, S. 310 ff.) und „Die Krise der Adäquanztheorie und der Auftritt der Lehre von der objektiven Zurechnung“, in: Festschrift für Professor Lin Shan-Den (Taipeh), 1998, S. 25 ff.; Von der Adäquanztheorie zur Lehre von der objektiven Zurechnung, in: Hanyang Law Review, Vol. 15 (1998), S. 389 ff.; Perspektiven der Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan, in: Gendai Keijiho 1999, N. 8, S. 4 ff. Dazu Makoto Ida, Hanzairon no Genzai to Mokutekitekikoiron (Gegenwärtige Straftatlehre und finale Handlungslehre), 1995, S. 79 ff.; Kensuke Ito, Der Sinn der Krise der Adäquanztheorie und meine Lehre von der objektiven Zurechnung, in: Gendai Keijiho 199, Nr. 8, S. 16 ff. Selbst die objektive Theorie begrenzt nach Rümelin die Beurteilungsbasis der nach der Tat eintretenden Umstände auf jene, die allgemein vorhersehbar sind.
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Sichtweise zugeführt5. Als normative Methode besser geeignet ist jedoch der Zurechnungsgedanke.
b) Die Aufnahme der Adäquanztheorie in die Judikatur der 1960er Jahre und ihre spätere Verwerfung 1) Die Entscheidung des OGH aus dem Jahre 19676 (sog. Fluchtfall von amerikanischen Soldaten) ist die letzte, in der die Adäquanztheorie zugrunde gelegt wurde; danach sind keine Beschlüsse dieser Art mehr ergangen. 2) In den Erkenntnissen des OGH der 1990er Jahre gab es einige Judikate, in denen die Gedanken der Risikoschaffung oder Risikoverwirklichung aufgenommen wurden. Die drei höchstrichterlichen Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit sind so auszulegen, dass sie auf die Adäquanztheorie bewusst verzichtet haben. 3) Die Äußerung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters des OGH über die Kausalitätsfrage in der Rechtsprechung hat bestätigt, dass die Gerichte keine bestimmte Kausallehre wie die Adäquanztheorie aufgenommen, sondern je nach Fallgestaltung verschiedene Kriterien entwickelt haben7. Dabei scheint es offensichtlich zu sein, dass der OGH den in der Zurechnungslehre fundamentalen Grundsatz der „Risikoschaffung und -verwirklichung“ zur Grundlage seiner „Kausalitäts“beurteilung genommen hat.
2. Die Judikatur und Literatur in der letzten Hälfte der 1960er Jahre a) Fall „Flucht der amerikanischen Soldaten“ Eine kritische Prüfung der Adäquanztheorie begann, als der OGH im „Fluchtfall“ vom Standpunkt der Adäquanztheorie aus die „strafrechtliche Kausalität“ zum Erfolg verneinte. Der Sachverhalt war folgender: Ein Auto, das von einem amerikanischen Soldaten gesteuert wurde, prallte infolge fahrlässigen Fehlver5
6 7
Vgl. Yoichi Hayashi, Keiho niokeru Ingakankei Riron (Kausaltheorie im Strafrecht), 2000, S. 231 ff.; Mikito Hayashi, Adäquanztheorie und Generalprävention, in: Jochi Hogaku, Bd. 40, Heft 4, S. 21 ff. – Zur Kritik vom Standpunkt der Lehre von der objektiven Zurechnung dagegen vgl. Shigetzugu Suzuki, Adäquanztheorie und objektive Zurechnung, in: Matsuo Koya Sensei Koki Shukuga Ronbunshu (Festschrift für Koya Matsuo), 1998, S. 167 ff. Urteil des OGH vom 24.10.1967, Keishu, Bd. 21, Heft 8, S. 1116. Toshio Nagai, Saikosaibansho Hanrei Kaisetu (Erläuterungen zu den Entscheidungen des OGH für Strafsachen), 1988, S. 275; Naoto Otani, Saikosaibansho Hanrei Kaisetu (1990 Nendo), S. 241.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
haltens auf einen Mann, der auf das Dach des Autos aufsprang, ohne dass dies der Fahrer bemerkte. Nach einer Weiterfahrt von etwa 4 km bemerkte der Mitfahrer den Mann und zog diesen während der Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 10 km/h auf das Asphaltpflaster hinunter. Das Opfer ist infolge einer Gehirnblutung verstorben. Der OGH argumentierte wie folgt: „Dass der Mitfahrer das Opfer vom Dach des fahrenden Autos mit dem Kopf auf die Asphaltstraße hinunterziehen würde, war erfahrungsgemäß in der Regel nicht voraussehbar“: „Dass der Todeserfolg des Opfers durch die oben genannte fahrlässige Handlung eintreten würde, ist nach unserer Erfahrung nicht selbstverständlich voraussehbar“. In der Literatur ist diese Wendung so ausgelegt worden, dass dieser Beschluss der Adäquanztheorie gefolgt ist und den Adäquanzzusammenhang erstmalig in der höchstrichterlichen Rechtsprechung verneint hat.
b) Die Frage der Urteilsbasis nach der Adäquanztheorie Anlässlich dieser Entscheidung wurde die Adäquanztheorie in zweierlei Richtung diskutiert: Einerseits interessierte die Reichweite der Adäquanz, d.h. die Frage, ob die Adäquanzverneinung der Entscheidung richtig ist. Eine Meinung vertritt den Standpunkt, dass die Adäquanz nur dann verneint werden kann, wenn der Erfolgseintritt ganz selten ist bzw. eindeutig außerhalb der regelmäßigen Erfahrung liegt. Nach einer Gegenauffassung sollte hingegen die Adäquanz schon dann verneint werden, wenn der Erfolgseintritt nicht ein regelmäßiger ist. Von größerer Wichtigkeit war jedoch, dass bei dieser Gelegenheit über die Urteilsbasis diskutiert wurde, also darüber, welche Umstände bei der Beurteilung zugrunde gelegt werden können. Damit wurde der Sinn der Adäquanzbeurteilung in Frage gestellt. Die japanische Strafrechtswissenschaft kennt drei Theorien zur Frage der Urteilsbasis bei der Adäquanzbeurteilung: a) Die subjektive Theorie, nach der nur diejenigen Umständen verwendet werden können, die der Täter bei seiner Handlung kannte oder die ihm vorhersehbar waren; b) die objektive Theorie, nach der alle Umstände Berücksichtigung finden dürfen, die zum Zeitpunkt der Handlung vorhanden waren, und zudem die erst nach der Handlung eintretenden Umstände, die von einem durchschnittlichen Menschen oder dem Täter selbst voraussehbar sind; und schließlich c) die vermittelnde Theorie, nach der jene Umstände relevant sind, die ein durchschnittlicher Mensch oder besonders der Täter erkennen oder voraussehen kann. Die Entscheidung des OGH enthält zum Problem der Beurteilungsbasis – wie meist – so gut wie keine Hinweise. Darüber hinaus hat die Entscheidung die „Voraussehbarkeit“ des Erfolgseintritts mit der „Adäquanz“ in eins gesetzt.
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Eigentlich sollte aber die „Voraussehbarkeit“ das Kriterium für die Begrenzung der Beurteilungsbasis sein, die Adäquanzbeurteilung hingegen auf der so begrenzten Basis, die nur aus den „voraussehbaren“ Umständen besteht, erst getroffen werden. Die Entscheidung und ihre Interpreten meinten jedoch, dass die „Voraussehbarkeit“ mit der „Adäquanzbeurteilung“ gleichbedeutend sei8. In Frage gestellt ist damit die Struktur der Adäquanzbeurteilung: ob es nämlich richtig ist, diese vom Standpunkt der Tatausführung ex ante zu treffen. Nach einer damals vertretenen Theorie sind in die Adäquanzbeurteilung nicht alle sich aus der Tat entwickelnden (und ex ante voraussehbaren) Verläufe einzubeziehen, sondern es ist je nach Geschehensverlauf von einem sich verschiebenden Standpunkt aus zu prüfen, ob eine Phase des Kausalverlaufs in der nächsten fortwirkt oder nicht9. Diese Sicht lässt sich begrifflich als „modifizierte Adäquanztheorie“ kennzeichnen.
c) Risikoschaffung und Risikoverwirklichung Das dahingehende Nachdenken hat die Ansicht befördert, dass eine Begrenzung der Beurteilungsbasis nicht zwingend ist. Damals fiel die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung Engischs zwischen der „Handlungsgefahr (Adäquanz im weiteren Sinne)“ und der „Gefahrverwirklichung (Adäquanz im engeren Sinne)“10. Ich habe, ausgehend von der unterschiedlichen Beurteilungsstruktur dieser beiden Adäquanzbegriffe, die Meinung vertreten, dass die Adäquanz bei der Beurteilung des Risikoverwirklichungszusammenhangs ex post betrachtet werden muss: d.h., dass insoweit die Begrenzung der Beurteilungsbasis ohne Bedeutung ist11. Aufgrund dessen ging meine Argumentation dahin, dass die Adäquanztheorie deswegen nicht zur Beurteilungsstruktur der Risikoverwirklichung passt. Zum Beleg ihrer fehlenden Tauglichkeit habe ich seinerzeit ein einfaches Beispiel genannt12: Täter A lässt den B aus dem Balkon eines Hochhauses hinabstürzen. Bevor das Opfer auf den Boden aufschlägt, gibt ein Polizist, der einen Räuber verfolgt hat, einen Warnschuss auf diesen derart ab, dass die Kugel den Kopf des abstürzenden B trifft und diesen tötet. Fraglich ist, ob in diesem Beispielsfall die Adäquanzbeurteilung auf der Basis begrenzt berücksichtigungsfähiger Umstände einen Unterschied 8 9 10 11 12
Hitoshi Otsuka, Hanrei Hyoron, Nr. 117, S. 46 ff. Yuji Inoue, Koimukachi to Kashitsuhanron (Handlungsunwert und Fahrlässigkeitsdogmatik), 1973, S. 185, 224. Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 55 ff. Yamanaka, Kausalität und Zurechnung im Strafrecht, 1984, S. 230 ff. Yamanaka, (Fn. 11), S. 232.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
zum herkömmlichen Geschehensverlauf überhaupt zu begründen vermag: Wenn man die nicht voraussehbare Tatsache der treffenden Pistolenkugel nicht einbezieht, lässt sich gar nicht die Alternative bilden, entweder den Todeserfolg durch den tödlichen Schuss als inadäquat zu betrachten oder von einem adäquaten Todeserfolg infolge des Sturzes auf der Straße auszugehen. Daraus ergibt sich, dass die Erfolgszurechnung nicht von der Begrenzung der Beurteilungsbasis abhängig ist, sondern von der abstrahierten oder konkretisierten Bestimmung des Erfolges. Deswegen spielt die Begrenzung der Beurteilungsbasis meiner Ansicht nach keine Rolle für die Adäquanzbeurteilung. Diese Frage der Risikoverwirklichung ex post kann nicht mehr im Kontext der Adäquanztheorie, sondern nur im neuen Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung konzipiert werden. Diese Sichtweise hat heftige Kritik erfahren insbesondere mit der Begründung, dass sie wegen der Unbegrenztheit ihrer Beurteilungsbasis und der ex postBeurteilung zur Bedingungstheorie zurückführe13. Ich habe dem jedoch widersprochen, weil die ex post-Beurteilung der Kausalverläufe keine rein tatsächliche, sondern eine normative ist. Deswegen können die Verläufe nicht wie nach der Bedingungstheorie nur mangels Fortwirkung, sondern infolge normativer Bewertung als unterbrochen angesehen werden14. Gegen dieses Argument ist freilich wiederum die Kritik geäußert worden, dass diese Theorie methodologisch zu normativ sei.
3. Krise der Adäquanztheorie in der Rechtsprechung der 1990er Jahre Die Adäquanztheorie hat sich anschließend von ihrer ursprünglichen Fassung weit entfernt: Die objektive Theorie zur Begrenzung der Beurteilungsbasis hat an Zustimmung gewonnen und die typologische Analyse der dazwischentretenden Umstände wichtige Kriterien für die Adäquanzbeurteilung zutage befördert. Im Anschluss an den Fluchtfall ist vom OGH kein einziges Mal mehr die Adäquanztheorie erwähnt worden, obwohl er durchaus über Fälle zu entscheiden hatte, in denen nach bisheriger Sichtweise die Adäquanz der Kausalverläufe zu behandeln gewesen wäre. Z.B. in dem Fall, in welchem das Opfer Gewalt ausgeübt hatte, sich davon distanzieren wollte und sich mit
13 14
Saku Machino, Gendai Keiho Koza, Bd. 1, S. 347; Haruo Nishihara, Hogaku Seminar 1981, Heft 12, S. 12. Yamanaka, Bedingungstheorie und Adäquanztheorie, in: Keihogaku (Hrsg.: Nishihara / Fujiki / Morishita), Bd. 1, 1977, S. 168 ff.
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tödlicher Folge in den Teich stürzte15. Seit dem Jahre 1986 finden sich Entscheidungen des OGH zu verschiedenen Fällen, in denen die Begriffe der „Gefahr der Handlung an sich“ und der „Gefahrverwirklichung“ verwendet werden. Der OGH scheint die Adäquanztheorie daher aufgegeben zu haben.
a) Fall „Judo-Knochen-Wiederhersteller“16 Ein Judo-Knochen-Wiederhersteller17 (bone setter) ist in Japan derjenige, der mit der Qualifikation für die Therapie eine traditionelle, medizinische Knochen-Wiederstellung vornimmt. Eine solche Person hat bei dem Opfer, das sich erkältet hatte, therapeutische Heilmaßnahmen vorgenommen. Dabei hat er ihm verordnet, das Fieber zu erhöhen und Wassertrinken und Essen zu unterlassen. Wegen dieser Anweisung verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Opfers, das eine Dehydrierung erlitt und wegen Bronchitis verstorben ist. Der OGH hat wie folgt entschieden: „Da der Tat des Angeklagten diejenige Gefahr immanent war, die die Krankheit des Opfers verschlechtern und sogar im Endeffekt den Todeserfolg herbeiführen konnte, besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der Tat des Angeklagten und dem Tod des Opfers, obwohl es nicht verneint werden kann, dass das Opfer auch einen Fehler gemacht hat, indem es sich keiner Therapie eines Arztes unterzogen und sich nur jener des Angeklagten anvertraut hat“. Wenn die Handlungsgefahr so groß ist, dass sie das dazwischentretende Fehlverhalten des anderen verdrängt, so ist die „Kausalität“ nicht zu verneinen. Als eine Ausprägung der Adäquanztheorie kann dies allerdings nicht mehr gesehen werden.
b) Fall „Baumaterialien-Lager“18 Der an einer Baustelle auf dem Gebiet der Mie-Präfektur tätige Angeklagte hat das von ihm geschlagene Opfer am Kopf getroffen und dadurch eine Gehirnblutung verursacht. Danach transportierte er das Opfer mit dem Auto zu einem Baumaterialienlager in Nanko (Südhafen) in Osaka und ließ es dort liegen. Das Opfer wurde anschließend von einer unbekannt gebliebenen Person mit einem kantigen Holz einige Male erneut am Kopf getroffen. Diese Gewalttat hat die Gehirnblutung und schließlich den Todeseintritt beschleunigt. Der OGH 15 16 17
18
Beschluss des OGH vom 6.7.1984, Keishu, Bd. 38, Heft 8, S. 2793. Beschluss des OGH vom 11.5.1988, Keishu, Bd. 42, Heft 5, S. 807. Wer Judotraining anbietet, betreibt diesen Beruf mit einer entsprechenden Qualifikation, indem er die Technik des Judo zur Knochenwiederherstellung verwendet. Deswegen ist der obige Fall in diesem Sinne benannt. Beschluss des OGH vom 20.11.1990, Keishu, Bd. 44, Heft 8, S. 837.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
urteilte wie folgt: „Ist die Körperverletzung des Angeklagten, die zur Todesursache wurde, durch einen Gewaltakt geprägt, lässt sich der Kausalzusammenhang zwischen dieser Gewaltanwendung und dem Tod des Opfers auch dann bejahen, wenn die Todeszeit durch die nachherige Gewalttat eines Dritten beschleunigt worden ist. Die Verurteilung durch die vorigen Instanzen ist richtig“. In dieser Entscheidung war jedoch keine Rede davon, ob die Gewaltanwendung des Dritten „voraussehbar“ oder „erfahrungsgemäß in der Regel vorhersehbar“ gewesen ist. Dieses Judikat hat nicht auf die Adäquanztheorie zurückgegriffen und ist daher ein Beleg für deren fehlende Tauglichkeit19. Gleichzeitig hat der Fall gezeigt, dass auch bei Dazwischentreten einer vorsätzlichen Tat die Gefahrverwirklichung nicht verneint werden kann, wenn die Erfolgsförderungs- bzw. Herbeiführungskräfte der dazwischentretenden Umstände wie die Vorsatzhandlung des Drittens so gering sind, dass die Ausgangsursache direkt zum Todeserfolg führen könnte. Das beim vorsätzlichen Dazwischentreten einer von anderen Personen verübten Tat angenommene Regressverbot scheint nicht immer richtig zu sein, falls die zuerst gesetzte Gefahr groß ist. Die Zurechnungskriterien sind nicht nur von den dazwischentretenden Umständen her, sondern auch aus der Perspektive des geschaffenen Risikos zu konzipieren. Wichtig ist außerdem, dass ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des OGH, der am Entscheidungsentwurf mitgewirkt zu haben scheint, in seiner Besprechung folgende Erläuterung gegeben hat: „Die vorgenommene Handlung gegenüber dem Opfer ging im vorliegenden Fall objektiv nicht über den Rahmen des vom Angeklagten geschaffenen Risikos hinaus. Sie ist als eine Art und Weise der Verwirklichung dieser Gefahr zu verstehen“20. Der wissenschaftliche Mitarbeiter hat dabei auch den Begriff der „Veranlassung“ gebraucht: Seiner Meinung nach liegt ein charakteristischer Zug dieses Beschlusses darin, dass er die Opferhandlungen nur als „veranlasste“, aber nicht als „erfahrungsgemäß im Regelfall voraussehbar“ ausgewiesen hat21.
19 20 21
Yamanaka, Entscheidungsbesprechung, in: Juyo Hanrei Kaisetsu (Erläuterungen zu den wichtigen Entscheidungen von 1990), S. 142. Hiromichi Inoue, in: Saikousaibansho Hanreikaisetsu (Erläuterungen zu den Entscheidungen des OGH für Strafsachen von 1992), 1994, S. 225. Inoue (Fn. 20), S. 233.
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c) Nachttauchen-Fall22 Der Sachverhalt lag wie folgt: Der Angeklagte, ein Tauchlehrer, führte in einer Nacht, in der das Meer sehr stürmisch war, mit Hilfe von drei Helfern eine nächtliche Tauchübung unter Einsatz von Sauerstoffflaschen für sechs Personen durch, zu denen auch das Opfer gehörte. Der Angeklagte ging dabei ohne Rücksicht auf seine Schützlinge und ohne besondere Anweisung zur schlechten Wetterlage voran in der Annahme, dass die anderen ihm folgen würden. Die zurückgebliebenen Helfer ordneten gegenüber den Teilnehmern die Bewegung unter Meer an, weil sie eine Fortbewegung an der Meeresoberfläche wegen des Windes und der Wellen für unmöglich hielten. Ein Übungsteilnehmer geriet in Panik, ließ die Luft in seinem Sauerstoffbehälter entweichen und starb. Der OGH beurteilte diesen Fall folgendermaßen: Der Angeklagte hat gegenüber „der Gefahr für das Opfer, im Meer die Luft zu verbrauchen, keine angemessenen Maßnahmen getroffen, die den Erfolg des Ertrinkens hätten ausschließen können“: „Die Mangelhaftigkeit der Verhaltensweise der Übungshelfer, die (ebenfalls) Personen zurückgelassen haben, lasse sich zwar nicht verneinen. Dies ist jedoch durch das Verhalten des Angeklagten veranlasst worden. Es ist daher kein Grund ersichtlich, den Kausalzusammenhang zwischen der Handlung des Angeklagten und dem Tod des Opfers nicht zu bejahen“. In diesen Entscheidungen hat der OGH keine Redewendungen gebraucht, die auf die Adäquanztheorie zurückgeführt werden könnten. Vielmehr verwendete er die Begriffe „Gefahr“ bzw. „Veranlassung“, was vermuten lässt, dass den Beschlüssen des OGH annäherungsweise die Gedanken der Lehre von der objektiven Zurechnung zugrunde liegen.
4. Nähe der jüngsten Rechtsprechung des OGH zur objektiven Zurechung Diesen Eindruck haben drei jüngst ergangene höchstrichterliche Entscheidungen nicht nur bestätigt, sondern damit zugleich deutlich gezeigt, dass die Judikatur der Denkweise der Lehre von der objektiven Zurechnung stark zugeneigt ist:
22
Beschluss des OGH vom 17.12.1992, Keishu, Bd. 46, Heft 9, S. 68.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
a) Fall „Flucht auf die Autobahn“23 Die vier Angeklagten haben das Opfer in einem Park heftig misshandelt. Danach setzten sie die Gewaltanwendung in einer Wohnung etwa 45 Minuten fort. Das Opfer konnte schließlich fliehen, lief jedoch aufgrund äußerster Angst auf die von der Wohnung ca. 800 Meter entfernte Autobahn. Dort wurde es von einem Auto an- sowie von einem nachfolgenden Pkw überfahren. Der OGH hat in diesem Fall wie folgt entschieden: Die Verhaltensweise des Opfers, d.h. das Flüchten auf die Autobahn, war zwar „an sich äußerst gefährlich“, aber nicht „erheblich unnatürlich und inadäquat“. Dieses Judikat scheint äußerlich betrachtet der Adäquanztheorie zu folgen, weil es die Formulierung „inadäquat“ gebraucht. In der Sache meint der OGH aber, dass die an sich gefährliche Handlung des Opfers mit den Gewalttaten des Angeklagten innerlich zusammenhängt, d.h. dadurch als „nicht erheblich unnatürliche und inadäquate“ Reaktion erst veranlasst wurde. Sehr interessant ist, dass der OGH nicht die Beurteilungskriterien der „Außergewöhnlichkeit aus der Perspektive der normalen Menschen“ oder der „Voraussehbarkeit“ verwandte, obwohl die zweite Instanz wie bereits die erste das Opferverhalten (Flucht auf die Autobahn) stärker gewichtet hatten.
b) Fall „Heilungshinderungsverhalten des Opfers“24 Der Sachverhalt stellt sich wie folgt dar: Der Angeklagte hat mit Bierflaschen das Opfer geschlagen und ihm eine Verletzung zugefügt. Das Opfer wurde deshalb ins Krankenhaus transportiert und dort ärztlich behandelt. Dann entschloss sich das Opfer jedoch, ohne ärztliche Genehmigung das Krankenhaus zu verlassen, und entfernte zu diesem Zweck wütend einen Behandlungsschlauch. Dadurch verschlechterte sich plötzlich sein Zustand und führte rasch seinen Tod herbei. Nach Auffassung des OGH ist „die Verletzung des Opfers, die vom Angeklagten verursacht wurde, eine Körperverletzung, die für sich zum Tode führen konnte. Deswegen besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung, die der Angeklagte zugefügt hatte, und dem Tod des Opfers, auch wenn die Umstände so lagen, dass die letztlich erfolgsursächliche Wirkung erst durch das Dazwischentreten weiterer Umstände im Kausalverlauf bis zum Eintritt des Todeserfolges bedingt war, dass nämlich das Opfer sich nicht darum bemüht hatte, den ärztlichen Anweisungen zu folgen und sich in der Ruhelage zu halten“. Diese 23 24
Beschluss des OGH vom 16.7.2003, Keishu, Bd. 57, Heft 7, S. 950. Beschluss des OGH vom 17.2.2004, Keishu, Bd. 58, Heft 2, S. 169.
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Entscheidung zeigt deutlich, dass die Zurechnung selbst durch ein dazwischentretendes Selbstgefährdungsverhalten des Opfers nicht in Frage gestellt wird, wenn die Körperverletzungshandlung für sich ein gefährliches Verhalten darstellt.
c) Fall: „Haltenlassen auf der Autobahn“25 Während der Fahrt auf einer unbeleuchteten Autobahn am frühen Morgen ärgerte sich der Angeklagte über die Fahrweise eines LKW-Fahrers. Er ließ den LKW auf der dritten Fahrbahn anhalten, zog den Fahrer aus dem LKW und übte gegen diesen Gewalt. Nach Wegfahrt des Angeklagten musste der Fahrer des LKW noch einige Minuten an jenem Ort halten bleiben, um den Zündschlüssel zu suchen, den er gegen A verteidigt und zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatte. In der Zwischenzeit prallte ein nachfolgender Wagen auf den LKW; der Fahrer und drei Beifahrer kamen zu Tode, ein weiterer wurde verletzt. Der OGH hat in seinem Beschluss entschieden, dass „diese fahrlässige Tat für sich die große Gefahr eines tödlichen oder Körperverletzungen herbeiführenden Unfalls etwa durch das Auffahren eines nachfolgenden Wagens in sich barg. Nach dem Beschluss ist dieser Unfall dadurch eingetreten, dass eine nicht untypische Verhaltensweise einer anderen Person dazwischentrat; d.h. nach der fahrlässigen Tat des Angeklagten hat der Fahrer des LKW vergessen, dass er den Zündschlüssel in seine Tasche gesteckt hatte. Dadurch hat der Angeklagte das Halten des LKW an der gefährlichen Stelle für die weiteren ca. 7–8 Minuten nach seiner Wegfahrt bewirkt. Die zwischengetretenen Ereignisse sind durch die fahrlässige Handlung des Angeklagten und durch eine Reihe damit eng zusammengehängter Gewaltübungen veranlasst worden. Daraus ergibt sich, dass zwischen der fahrlässigen Handlung des Angeklagten und den Todeserfolgen bzw. Verletzungen der Opfer ein Kausalzusammenhang besteht. Dieser Beschluss stützt sich auf die Gefährlichkeit der fahrlässigen Tat und eine Veranlassung der hernach dazwischengetretenen Umstände. Dies bedeutet aber noch nicht, dass dem Beschluss die Zurechnungslehre zugrunde liegt. Allerdings ist auch bei diesem Beschluss zu erkennen, dass der OGH auf den von den Vorinstanzen verwendeten Begriff der Voraussehbarkeit nicht zurückgreift, sondern nur den Begriff der „Veranlassung“ übernommen hat26. Die erste Instanz verwendete ersichtlich den Begriff der Risikoverwirklichung. 25 26
Beschluss des OGH vom 19.10.2004, Keishu, Bd. 58, Heft 7, S. 645. Vgl. Urteil des LG Mito (Filiale Tsuchiura) vom 10.1.2003 und des OLG Tokyo vom 26.5.2003, Keishu Bd. 58, Heft 7, S. 654, 670.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Daraus lässt sich mit gutem Grund die Schlussfolgerung ziehen, dass der OGH seinen „Kausalitätsbegriff“ im Begriffsrahmen der „Risikoschaffung und -verwirklichung“ konzipiert hat. Daraus ergibt sich, dass der OGH die Adäquanztheorie seit seiner (einzigen) Entscheidung von 1967 nicht mehr aufgenommen hat. Auch die Bedingungstheorie sah er nicht als genügend an. Er hat vielmehr innerhalb des begrifflichen Rahmens der „Kausalität“ oder „strafrechtlichen Kausalität“ die verschiedenen Kriterien für die Zurechnung gesucht und seinen „Kausalbegriff“ innerhalb des Schemas von Risikoschaffung und -verwirklichung konzipiert. Die Verwendung von Begriffen, die auf die Adäquanztheorie zurückgeführt hätten, vermied er bewusst. Er hat auch zwischen dem geschaffenen Risiko und dem Selbstgefährdungs- oder unvernünftigen Verhalten des Opfers oder eines Dritten auszubalancieren versucht. Es erscheint mir deshalb die Annahme nicht fernliegend, dass der japanische OGH von der Lehre der objektiven Zurechnung beeinflusst worden ist.
III. Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung 1. Die Konzeption der Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan In der deutschen Strafrechtswissenschaft ist die Lehre von der objektiven Zurechnung in ihrer modernen Fassung in den 1970er Jahren entwickelt worden. Die moderne Lehre rückt die Begriffe der „Risikoschaffung“ und „Risikoverwirklichung“ in den Mittelpunkt der Betrachtung. Objektiv zurechenbar ist „ein durch menschliches Verhalten verursachter Unrechtserfolg nur dann, wenn dieses Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen und diese Gefahr sich auch tatbestandlich im konkreten erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat“27. Dabei betrifft die Risikoschaffung meistens Kriterien, welche der Zurechnung entgegenstehen, d.h. Fälle, in denen kein unerlaubtes Risiko vorhanden ist. Bei der Risikoverwirklichung geht es dagegen um das dazwischentretende Selbstgefährdungsverhalten des Opfers oder eines Dritten. In der japanischen Literatur wurde die deutsche Lehre von der objektiven Zurechnung schon vor den 1990er Jahren erforscht
27
Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK/StGB), Stand: 40. Lfg. (Febr. 2005), Vor § 1 Rn. 57.
§ 9. Objektive Zurechnung in der jap. Strafrechtswissenschaft
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und hat in der Strafrechtswissenschaft inzwischen als eine neue deutsche Theorie allgemeine Anerkennung gefunden28. Die deutsche Zurechnungslehre verwendete hauptsächlich das dazwischentretende Verhalten als Zurechnungskriterium, das typischerweise zur Verneinung einer Zurechnung führen könne. Aber im allgemeinen wird das Verhältnis zwischen der Größe des geschaffenen Risikos und dem normativen Sinn der dazwischentretenden Umstände nicht analysiert. Nur ab und zu benutzte Kategorien wie die einer „Verdrängung“29 der vorherigen Kausalreihe, einer „Neutralisierung“30 des geschaffenen Risikos oder einer „Veranlassung“ der weiteren Kausalentwicklung deuten die Wichtigkeit dieses Verhältnisses zwischen dem ursprünglich geschaffenen Risiko und der Art der dazwischentretenden Handlungen an. In der japanischen Zurechnungslehre sind die aus diesen Kategorien gebildeten Zurechnungskriterien hingegen unerlässlich, wie die vorstehend erwähnten Entscheidungen zeigen. Freilich gibt es in Japan auch kritische Stellungnahmen, die in ihrem argumentativen Gehalt wenigstens thesenartig skizziert werden sollen.
2. Die spezifischen Gegenargumente zur Einführung der Zurechnungslehre in Japan 1) In der deutschen Strafrechtswissenschaft war die Bedingungstheorie vorherrschend. Deswegen ist es hier erforderlich gewesen, die neue Lehre von der objektiven Zurechnung als eine Lehre von der Zurechnungsbegrenzung zu entwickeln und aufzunehmen. In der japanischen Strafrechtswissenschaft, in der die Adäquanztheorie vorherrschend ist, bestehe dagegen – so heißt es – keine Notwendigkeit, die neue Zurechnungslehre aufzunehmen31. Es fänden sich keine Probleme, die nicht gelöst werden könnten, wenn es keine Zurechnungslehre gebe. 2) Die gegenwärtige Adäquanztheorie ist eine in Japan entwickelte, eigene Theorie. Die japanischen Vertreter der Zurechnungslehre kritisieren die (japanische) Adäquanztheorie derart, dass diese von ihrem eigentlichen Sinngehalt 28
29 30 31
Shigetsugu Suzuki, (Fn. 5) S. 159 ff.; Saku Machino, Lehre von der objektiven Zurechnung, Keiho no Soten, 3. Aufl., S. 24 f.; Kentaro Kobayashi, Kausalität und objektive Zurechnung, 2003, S. 246. Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1998, S. 436. Vgl. OLG Hamm VRS 10, 367. Masahide Maeda, Keiho no Kiso Soron (Grundlage des Strafrechts AT), 1993, S. 295; Takehiko Sone, Die Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan, in: Uchida Fumiaki Sensei kokishukuga Ronbunshu (Festschrift für Fumiaki Uchida), 2002, S. 41 f.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
gelöst werde und danach nicht mehr als Adäquanztheorie bezeichnet werden könne32. Es sei aber nicht ausgeschlossen, diese japanische Lehre dennoch eine „Adäquanztheorie“ zu nennen33. 3) Die Zurechnungslehre beruhe auf den Gedanken des Handlungsunwertes34. Auch sei der Begriff der Schaffung eines „unerlaubtes Risikos“ zu normativ. Diese Denkweise sei der japanischen Strafrechtswissenschaft nicht adäquat, die den theoretischen Schwerpunkt eher auf den Erfolgsunwert lege. 4) Die von Zurechnungslehre entwickelten normativen Kriterien seien begrifflich sehr vage und unklar35, letztlich nicht praktikabel. 5) Der Normativismus als die der Zurechnungslehre eigene Denkweise sei methodologisch für Japan nicht geeignet36. Die Strafrechtswissenschaft in Japan habe sich bemüht, die verwendeten Begriffe möglichst objektiv und tatsachenbezogen zu konzipieren. Die Zurechnungslehre mache alle bisherige Mühe zunichte, indem sie zu normative, wertende und unklare Kategorien eingeführt habe37.
3. Die Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan Wenn man in dieser Situation der japanischen Strafrechtswissenschaft die Zurechnungslehre entwickeln will, muss man die deutsche Lehre etwas modifizieren, um den Anforderungen von Theorie und Praxis Rechnung zu tragen. Nachfolgend findet sich beispielhaft für die japanische Strafrechtswissenschaft die von mir konzipierte Zurechnungslehre38 skizziert39:
32 33 34 35 36
37 38 39
Z.B. Yamanaka, Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht, 1997, S. 6. Masahide Maeda, (Fn. 31), S. 302. Diese Argumentation ist ersichtlich gegen meine Kritik an der Adäquanztheorie gerichtet. Masahide Maeda, (Fn.31), S. 295; Atsushi Yamaguchi, Mondai Tankyu Keiho Soron, 1998, S. 29 f. Sone, (Fn. 31), S. 29. Sone, Die methodologische Überlegung zur Lehre von der objektiven Zurechnung, in: Tamiya Yutaka Hakase Tsuito Ronshu (Gedächtnisschrift für Dr. Yutaka Tamiya), Bd. 1, 2001, S. 346 ff. Sone, (Fn. 31), S. 42. Dazu ausführlich meine oben (in Fn. 32) genannte Monographie, S. 455 ff. Vgl. Sonderheft der Zeitschrift „Gendai Keijiho“ über die „Perspektiven der Lehre von der objektiven Zurechnung“, 1999, Nr. 4, S. 4 ff.
§ 9. Objektive Zurechnung in der jap. Strafrechtswissenschaft
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a) Risikoschaffungszusammenhang Die Beurteilung der Risikoschaffung ist vom Standpunkt ex ante aus zu fällen. Die Risikoschaffung beinhaltet die Handlungsgefahr in Richtung des abstrahierten, tatbestandlichen Erfolges. Die „Risikoschaffungshandlung“ ist eine zur Tatausführung geeignete Handlung, d.h. die sog. „potentielle Tatausführungstat“, die nachher zur wirklichen Tatausführung werden kann, wenn sie die Stufe der konkreten Gefahr zum Erfolgseintritt hin überschreitet40. Deswegen ist die Risikoschaffung auch das Kriterium für den Versuch. Im Erbonkelfall handelt es sich nicht erst um eine Frage der objektiven Zurechnung, sondern schon der Tatausführung: Wer seinen Onkel im Gewitter über einen Berghügel zur Stadt schickt, begeht keinen Tötungsversuch, obwohl er Tötungsabsicht hat. Die Risikoschaffung ist dreigeteilt zu betrachten: Einmal zeigt sich die Fallgruppe, in der die Zwischenereignisse schon auf der Stufe des geschaffenen „direkten Risikos“ geschehen. Wie der Baumaterialien-Lager-Fall gezeigt hat, spielt die Vorsatztat des Dritten für die Unterbrechung der Zurechnung keine Rolle. Es gibt zweitens die weitere Fallgruppe, in der die Zwischenereignisse auf der Stufe des „indirekten Risikos“ eintreten, also nachdem das direkte Risiko schon neutralisiert und quasi-normalisiert wurde. In der dritten Fallgruppe ist schließlich nur die „Risikosituation“ geschaffen worden. Hier wird der Erfolg überhaupt nur eintreten, wenn die direkte Zwischenhandlung des Dritten oder des Opfers erfolgt. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten kann man den Fall von Aufsichtsfahrlässigkeit nennen: Die Fahrlässigkeitshaftung des Hoteleigentümers, der das Hotel nicht mit Sprinkleranlagen gegen Feuer ausgerüstet hat (Hotelbrandfall), lässt sich nur durch die Schaffung einer Gefahrsituation begründen41.
b) Risikoverwirklichungszusammenhang Der Erfolg ist der Tat erst dann zuzurechnen, wenn das geschaffene Risiko sich im Erfolg verwirklicht hat. Diese Beurteilung sollte ex post getroffen
40 41
Vgl. Yamanaka, Zum Beginn der Tatausführung, in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 111 ff. Über die Aufsichtsfahrlässigkeit vgl. meinen Beitrag zur „Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels“, in: ZStW 102 (1990), S. 928 ff. – Zur individuellen Verantwortlichkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten innerhalb von Organisationen vgl. Yamanaka, Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen, in: Zeitschrift für Japanisches Recht 2002, Heft 14, S. 191 ff., bes. 203 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
werden. Wichtig ist zuerst eine Differenzierung des Risikogrades und sodann die Analyse der dazwischentretenden Umstände:
aa) Analyse der Fallgruppen Das Kriterium für die Verwirklichung des geschaffenen Risikos ist im Perspektivenkomplex des „tatsächlichen Risikos“ und des „normativen Sinnes der dazwischentretenden Risiken“ zu finden. Die Beurteilung der Risikoverwirklichung orientiert sich an der Funktion dieser beiden Elemente. (1) Fallgruppe des Dazwischentretens auf der Stufe des direkten Risikos In dieser Fallgruppe sind die Kausalkräfte des geschaffenen Risikos so groß, dass die dazwischentretenden Risiken verdrängt werden und keinen Sinn mehr haben können. Der Risikoverwirklichungszusammenhang ist bei dieser Fallgruppe zu bejahen. So wurde z.B. im eingangs geschilderten BaumaterialienLager-Fall die „Todesursache“ schon durch den ersten Schlag gesetzt. Daher kommt dem Dazwischentreten des vorsätzlich handelnden Dritten nicht die Bedeutung eines die Zurechnung unterbrechenden Moments zu. (2) Fallgruppe des Dazwischentretens auf der Stufe des indirekten Risikos Trifft das geschaffene Risiko mit einer potentiellen Gefahrenquelle zusammen wie z.B. einer Idiosynkrasie oder einem heimlichen Leiden des Opfers, so lässt sich die Frage der Risikoverwirklichung unter Berücksichtigung der Größe des Risikos, der Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens mit der potentiellen Gefahr und seinem Anteil an der Erfolgsverursachung beantworten. Dies gilt etwa für einen Fall, in dem das Opfer eines Verkehrsunfalls durch ein nachfolgendes Auto überfahren wird, oder für den weiteren Fall, in welchem der Erfolgseintritt bedingt ist durch ein irrationales oder eigenverantwortlich selbstgefährdendes Verhalten des Opfers, das sich dadurch etwa aus einer Notlage (z.B. im Wege der Flucht) befreien will. Hier ist maßgeblich, ob das geschaffene Risiko schon quasi-neutralisiert wurde, ob es also eine Unterbrechung des Geschehensverlaufs gibt: Wenn das Opfer sich etwa wie im Flucht auf die Autobahn-Fall der Verfolgung des Täters bereits entzogen hat oder das allgemeine Lebensrisiko dazwischentritt, nachdem sich das Risiko schon „neutralisiert“ hat, ist der Risikoverwirklichungszusammenhang unterbrochen. Tritt ein medizinischer Fehler dazwischen, der nicht typisch und unerlässlich zur Heilung der Wunde ist, so muss die Risikoverwirklichung verneint werden.
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(3) Die Fallgruppe des Dazwischentretens auf der Stufe der Risikosituation Das Vorliegen einer Risikosituation bedeutet, dass das geschaffene Risiko zu der Zeit seiner Entstehung an sich keine konkrete Gefahrenpotenz in Richtung des tatbestandlichen Erfolges aufweist und nur allgemein eine gefährliche Situation geschaffen worden ist. Zu dieser Fallgruppe zählen dazwischentretende Umstände wie etwa ein Selbstgefährdungsverhalten des Opfers, wie es im Flucht auf die Autobahn-Fall bereits analysiert worden ist. Hier ist die Furchtsamkeit des Opfers situationsbeherrschend bis zum Betreten der Fahrbahn und tritt als Selbstgefährdungsverhalten während des Weiterwirkens des ersten Risikos in Erscheinung. Deswegen ist der Risikozusammenhang durch das selbstgefährdende Verhalten nicht unterbrochen. In der Regel lässt sich die Risikoverwirklichung bei dieser Fallgruppe nur dann bejahen, wenn das Risikoverhalten als „Förderung erkennbarer Tatgeeignetheit“42 zu werten ist. Ob die Schaffung einer Gefahrensituation auch bei Fahrlässigkeitsdelikten die „Förderung erkennbarer Tatgeeignetheit“ begründen kann, ist schwer zu beurteilen. Im Autobahn-Flucht-Fall ist diese Förderung erkennbarer Tatgeeignetheit in der geschaffenen Gefahrensituation zu sehen.
bb) Fallgruppe des Dazwischentretens eines rechtspflichtgemäßen oder eigenverantwortlichen Verhaltens Wenn ein eigenverantwortliches Verhalten beim indirekten Risiko, vor allem in der Stufe der Risikosituation, dazwischentritt, so ist die Zurechnung zu verneinen. Auch wenn sich das Verhalten des Dritten als durch das geschaffene Risiko „veranlasst“ verstehen lässt, bilden die Eigenverantwortlichkeit und das Bestehen einer Rechtspflicht normative Grenzen der Zurechnung. (1) Fallgruppe des bewusst eigenverantwortlichen Verhaltens Wenn dem geschaffenen Risiko ein bewusst eigenverantwortliches Verhalten des Opfers oder eines Dritten nachfolgt, so ist der Risikoverwirklichungszusammenhang unterbrochen. Dabei muss zwischen dem Selbstverletzungs- und einem Selbstgefährdungsverhalten unterschieden werden: Zur erstgenannten Gruppe zählt der Fall, in dem der Verletzte als Angehöriger der Zeugen Jehovas die Bluttransfusion verweigert, obwohl es ersichtlich ist, dass ihre Verweigerung den Tod herbeiführen wird. Für die zweite Gruppe kann der Fall der Mitfahrt in einem Auto43 genannt werden, wenn dem mitfahrenden Unfallopfer 42 43
Vgl. Roxin, Bemerkungen zum Regreßverbot, in: Festschrift für Tröndle, 1989, S. 190. Vgl. OLG Zweibrücken JR 1994, 518.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
die Trunkenheit des Fahrers erkennbar ist. In einem solchen Fall ist der Risikoverwirklichungszusammenhang zu verneinen. Dies lässt sich anhand eines Urteils des LG Chiba44 gut veranschaulichen: Dort konnte der das sog. „Dirt Trial“ ausprobierende Fahrer nicht richtig in die Kurve einfahren, verlor die Herrschaft über das Auto und raste auf eine Schutzschranke; ein Pfeil der Schutzschranke bohrte sich in den Sitz des Beifahrers und tötete diesen, der in Kenntnis von der Gefährlichkeit des „Dirt Trials“ mitfuhr. Das Urteil befand hierüber: „Wenn der Mitfahrer diese Kenntnis und die Voraussicht über die Umstände hatte, so bildet dies den Grund, um einen Unrechtsausschluss in bezug auf die Risikoverwirklichung zu bejahen“. Denn „dieser Mitfahrer hat die Fahrmethode in Kauf genommen, die der Fahrer innerhalb der Reichweite der Voraussicht des Mitfahrers praktizierte, und er hat die Gefahr, die daraus hervorgehen konnte, als eigene Gefahr übernommen“. Es handelt sich jedoch nicht um einen Rechtfertigungsgrund, sondern um eine Frage der Risikoverwirklichung45. Es gibt freilich auch Fälle, in denen die Risikoverwirklichung nicht verneint wird: Bei diesen findet sich die berufsbezogene Sorgfaltspflicht als Risikoübernahme gegenüber einem Selbstgefährdungsverhalten stärker gewichtet, weil der Täter das selbstgefährdende Verhalten erst veranlasst hat. So argumentierte z.B. im Kugelfischvergiftungsfall46 der Verteidiger wie folgt: „Das Opfer war sog. Feinschmecker und hat genügend gewusst, dass es sehr gefährlich sei, die Leber eines Kugelfisches zu essen. Dass er dies trotzdem gewagt hat, steht in seiner Verantwortung. Die Verantwortlichkeit des Angeklagten ist unterbrochen“. Das Gericht hat demgegenüber mit Recht die Fahrlässigkeitshaftung bejaht und den Angeklagten verurteilt. (2) Fallgruppe des Dazwischentretens bewusster Taten des Drittens oder des Täters Hier handelt es sich um das Dazwischentreten einer bewussten und eigenverantwortlichen normwidrigen Handlung auf der Stufe der indirekten oder eine Risikosituation begründenden Erfolgsgefahr. Zu dieser Fallgruppe gehört der Flucht der amerikanischen Soldaten-Fall, weil der Mitfahrer das Opfer vor44 45
46
Urteil des LG Chiba vom 13.12.1994, Hanrei Jiho 1565, 144. (Dirt Trial-Fall). Zu den verschiedenen Ansätzen zur Lösung dieser Problematik vgl. Takeshi Shiotani, Higaisha no Shodaku to Jikotosekisei (Einverständnis des Verletzten und Selbstverantwortlichkeit), 2004, S. 286 ff. Urteil des LG Kyoto vom 26.5.1978; Beschluss des OGH vom 18.4.1980, Keishu, Bd. 34, Heft 3, S. 149.
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sätzlich auf die Straße hat herunterfallen lassen. In Fällen, in denen der Täter selbst in das Wirken seiner vorsätzlichen Tat eingreift, kommt es wie beim Dazwischentreten eines Dritten freilich darauf an, ob von einer „fortdauernden Wirkung“ des geschaffenen Risikos oder vom „Beginn einer neuen Kausalreihe“ ausgegangen werden kann. Hinzu kommt noch die Frage, ob eine „Motivationsunterbrechung“ des Täters feststellbar ist47. (3) Fallgruppe des Dazwischentretens einer selbstgefährdenden oder rechtspflichtgemäßen Rettungshandlung In der deutschen Zurechnungslehre sind dazu viele Fälle diskutiert worden: Wenn der Retter sich auf eigene Gefahr in die Risikosituation begibt, z.B. der Bruder des Opfers beim Hausbrand ins Haus hineinzugehen wagt und verstirbt, so geht es um die Frage, ob der Verursacher des ersten Risikos, d.h. der Brandstifter, für diesen Tod strafrechtlich verantwortlich ist48. Wenn das Rettungsunternehmen aufgrund einer Rechtspflicht unternommen wurde, endet die Verantwortung des ersten Täters bei einem solchen Dazwischentreten. Im Rücklicht-Fall49 hat der BGH den Fahrer verurteilt, weil die fahrlässige Handlung des Polizisten keine neue Kausalreihe eröffnet habe und vorhersehbar gewesen sei. Hat aber die Polizei einmal die Verkehrssicherheit übernommen, fällt das sich anschließende Geschehen in den Verantwortungsbereich des zum Einschreiten verpflichteten Retters. In der japanischen Judikatur findet sich hierzu der Fall des Landgerichts Nagoya50: Ein Polizist hat sorglos eine Fluoreszenzlampe angeschaltet, um den mit Gas hantierenden Selbstmörder in dem dunklen Zimmer zu retten. Dadurch explodierte das Gas und verletzte weitere Polizisten. Das Gericht hat die Tat des Selbstmörders, der das Gas austreten ließ, als fahrlässige Körperverletzung bewertet und diesen verurteilt. Das Verhalten des Polizisten sei zwar leichtfertig und grob fahrlässig gewesen, habe aber innerhalb der in der Regel voraussehbaren Kausalentwicklung gelegen. Deshalb könne keine Kausalunterbrechung angenommen werden, weil die fahrlässige Handlung des Polizisten 47
48 49 50
Zu einem Fall, in welchem die spätere (vorsätzliche) Tat das Wirken der ersteren durch Fahrlässigkeit ausgelösten Gefahr beeinflusst, vgl. den Bär-Schuss-Fall des OGH vom 22.3.1978, Keishu, Bd. 32, Heft 2, S. 381. Zum Motivationszusammenhang bei den sog. dolus generalis-Fällen vgl. Yamanaka, Dazwischentreten der Täterhandlung in das Wirken der ersten Tat, in: Keijihohogaku no Sogotekikento (Gesamte Prüfung der Strafrechtswissenschaften, Festschrift für Otsuka und Fukuda), Bd. 1, 1994, S. 247 ff. BGHSt 39, 322. BGHSt 4, 360. Urteil des LG Nagoya vom 30.6.1981, Keijisaiban Geppo, Bd. 13, Heft 6=7, S. 467.
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während der Rettungsaktion durch das Austretenlassen des Gases vom Angeklagten „veranlasst“ worden sei. Freilich ist der Polizist zur Vornahme der Rettung trainiert, und im konkreten Fall erhielt er vor dieser Rettungsaktion die gesonderte Instruktion, im dunklen Zimmer keinesfalls das elektrische Licht anzuschalten. Das vom Täter geschaffene Risiko deckt aber keine leichtfertige Handlung des zum Einschreiten verpflichteten Dritten. Wird dagegen durch Fahrlässigkeit ein Benzinbehälter im Rahmen einer Löschaktion von einem Feuerwehrmann versehentlich weggekickt und damit der Brand verstärkt, so ist diese fahrlässige Handlung als noch innerhalb des Dauerrisiko liegend und von dem zuerst entstandenen indirekten Risiko „veranlasst“ anzusehen. In solchem Falle unterbricht die pflichtwidrige Handlung des Feuerwehrmanns nicht den Zurechnungszusammenhang51.
c) Risikoerhöhungszusammenhang Was das Verhältnis zwischen pflichtwidrigem Verhalten und Erfolg bei den fahrlässigen Delikten angeht, so wird dieses Thema in der japanischen Judikatur als „Kausalitätsfrage des fahrlässigen Verhalten“, kurz „Kausalität der Fahrlässigkeit“ abgehandelt. Schon das japanische RG hat in einer Entscheidung aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anlässlich eines Eisenbahnunfalls den Lokomotivführer freigesprochen, weil dieser den Zug vor dem auf den Schienen befindlichen Kind nicht rechtzeitig hätte anhalten können, selbst wenn er pflichtgemäß gehupt und gebremst hätte. Nach Ansicht des RG war das Nicht-Bremsen und Nicht-Hupen keine Ursache für den Tod des überfahrenen Kindes52. Interessant ist weiterhin noch ein Urteil des LG Tokyo, das einen Verkehrsunfall zum Gegenstand hat. Dieses Urteil steht offensichtlich unter dem Einfluss der deutschen Rechtsprechung und Literatur. Es behandelt einen Fall, in welchem der Angeklagte der vorgegebenen Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/Std. zuwider mit 70 km/Std. gefahren und auf einen Wagen geprallt ist. Das Gericht53 berücksichtigt das pflichtgemäße Alternativverhalten: Auch bei einer Fahrt mit 60 km/Std. wäre der Unfall geschehen. Es hat deshalb die Ursächlichkeit des Überschreitens der zulässigen Geschwindigkeit für die Körperverletzung des Opfers verneint. Aber das Gericht hat weiter überlegt, ob die Kausalität bejaht werden könnte, wenn der Angeklagte 51 52 53
Vgl. Urteil des OG Osaka vom 16.10.1997, Hanrei Jiho 1634, 152, siehe auch Yamanaka, Keiho Soron (Strafrecht AT) I, 1999, S. 276. Urteil des RG vom 11.4.1929, Horitsu Shinbun Nr. 3006, S. 15. Urteil des LG Tokyo vom 6.5.1970, Kokeishu, Bd. 23, Heft 2, S. 374.
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von dem noch weiter entfernt liegenden Ort aus mit 60 km/Std. oder umgekehrt viel schneller gefahren wäre. Es hat insoweit den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der Fahrt von dem noch ferner liegenden Ort und der Körperverletzung des Opfers verneint. In Wahrheit geht es hier aber um den Schutzbereich der verletzten Norm. Das Problem des rechtmäßigen Alternativverhaltens ist meiner Ansicht nach im allgemeinen mit dem Risikoerhöhungsprinzip zu lösen. Diese Frage gehört zum Bereich des Risikoverwirklichungszusammenhangs.
IV. Schlussbemerkung Die erste wissenschaftliche Analyse über die Lehre von der objektiven Zurechnung war mein früher Aufsatz zum „Verhältnis zwischen der Pflichtwidrigkeit und dem Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten“ im Jahre 197254. Seit dieser Zeit bis zum Erscheinen meiner Monographie über die „Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht“ 1997 war die japanische Lehre von der objektiven Zurechnung nur eine Mindermeinung, obwohl sie als japanische Dogmatik55 vertreten wurde. Durch meine Auslegung der Rechtsprechung des OGH tritt immer mehr in das allgemeine Bewusstsein, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung nicht eine allein wissenschaftliche Theorie ist, die der Praxis fremd bleiben muss, sondern eine Theorie, die der Praxis die nötige systematische Grundlage geben kann. Jene Ansicht, nach der die Adäquanztheorie genügt und die objektive Zurechnung überflüssig ist, dürfte in näherer Zukunft allmählich schwächer werden. Der Streit wird sich auf die Alternative beschränken, ob nur die objektive Zurechnung oder beide bestehen bleiben. Aber es gibt meines Erachtens keine Notwendigkeit mehr, die Adäquanztheorie, die in der Lehre von der objektiven Zurechnung aufgelöst werden wird, weiter am Leben zu erhalten.
54 55
Vgl. Fn. 1. Ich habe mich bei der Entwicklung der Zurechnungslehre in Japan schon zu Beginn darum bemüht, diese Lehre nicht nur als deutsche Theorie, sondern auch als eine Theorie zu verstehen, die für die japanische Dogmatik geeignet und wertvoll ist. Deswegen habe ich in meinen veröffentlichten Aufsätzen viele Entscheidungen der japanischen Judikatur analysiert und als Anschauungsmaterial dargestellt.
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen
I. Einleitung In der japanischen Strafrechtswissenschaft wird bei der Fahrlässigkeitstheorie zwischen der klassischen, der neuen und der modifiziert-klassischen Fahrlässigkeitstheorie und der Besorgnistheorie unterschieden1. Der Fahrlässigkeitsbegriff wird im allgemeinen als Synonym mit dem Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung interpretiert2. Nach der klassischen Theorie gehört die Sorgfaltspflichtverletzung zu einem Schuldmerkmal. Der Inhalt der Sorgfaltspflicht besteht aus Erfolgsvoraussichts- und Erfolgsvermeidungspflicht, die jeweils Erfolgsvoraussehbarkeit und -vermeidbarkeit voraussetzt3. Nach der neuen Theorie gehört der Fahrlässigkeitsbegriff zur Tatbestandsebene. Diese objektive Fahrlässigkeit ist identisch mit der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung. Die Voraussichts- oder Vermeidungspflicht wird aus der Sicht eines allgemeinen oder durchschnittlichen Menschen danach beurteilt, ob es die Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts gibt. Diese neue Theorie verlangt nochmals die subjektive Fahrlässigkeit auf der Ebene der Schuld, die nach den Fähigkeiten des Täters beurteilt werden muss (sog. doppelter Fahrlässigkeitsbegriff). Nach dieser Theorie bezieht sich der Begriff der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt als die äußere Sorgfaltspflicht zwar nicht auf den inneren Zustand des Täters, sondern auf die Täterhandlung, aber das Wesen der Fahrlässigkeit wird noch in der Voraussehbarkeit und in der Vermeidbarkeit des Erfolgs gesehen. Es kommt also in erster Linie nicht auf die äußere Sorgfaltspflicht an, sondern auf die Voraussehbarkeit des Erfolgs. 1
2
3
Vgl. Yamanaka, Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), S. 352 ff.; Ders., Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 214 ff. Vgl. dazu auch Yamanaka, Keiho Soron (Strafrecht AT), 2. Aufl., 2008, S. 369 ff. Der Begriff der „Sorgfaltpflicht“ bedeutet eigentlich die „fehlende innere Willensanspannung“. Aber er wird verwendet als der Oberbegriff der Erfolgsvoraussichtspflicht und -vermeidungspflicht. Nach der klassischen Theorie wurde die Sorgfaltspflicht zwar im Wesentlichen als die Pflicht zur „Anspannung des inneren Willens“ verstanden, aber in der Wirklichkeit als die Voraussichts- und Vermeidungspflicht betrachtet.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Dagegen hat die Besorgnistheorie, die den objektiven Voraussehbakeitsbegriff bis zur vagen Besorgnis oder zum Unsicherheitsgefühl hinsichtlich des möglichen Erfolgseintritts erweitert hat, die Fahrlässigkeit in erster Linie in der Vermeidbarkeit, also in der Verletzung der im sozialen Leben erforderlichen Verhaltensregeln, gesehen. Diese Theorie hat in dieser Hinsicht eine epochemachende Perspektive zur Fahrlässigkeitsdogmatik aufgezeigt. Sie hat jedoch die „Verletzung der Verhaltensregeln“ als solche als das praktisch fast einzige Zurechnungskriterium angesehen, weil die Voraussehbarkeit nach dieser Theorie keine einschränkende Funktion für die fahrlässige Haftung erfüllt. Sie wurde wegen der extremen Betonung des Handlungsunwerts und der Vernachlässigung des Schuldprinzips kritisiert. Diese Theorie ist deswegen heutzutage fast verschwunden. In diesem Beitrag ist zunächst die theoretische Systematisierung der fahrlässigen Erfolgsdelikte in die Betrachtung einzubeziehen. Dabei ist die normtheoretische Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte zu analysieren. Wenn man das Resultat vorwegnimmt, so beruht meine Fahrlässigkeitstheorie auf der sog. modifiziert-klassischen Theorie, die den eigentlichen Fahrlässigkeitsbegriff als subjektive Voraussichts- und Vermeidungspflichtwidrigkeit auf der Schuldebene belässt. Die objektive Fahrlässigkeit ist dagegen in die Lehre von der objektiven Zurechnung aufzulösen4. Der Ausgangspunkt der Betrachtung bildet das Urteil des Obersten Gerichtshofes im Jahre 20035.
II. Das Urteil des Obersten Gerichtshofes Der Sachverhalt und das Urteil (=Gelbsignalfall) Ein Taxifahrer (der Angeklagte) hat die geschäftliche Sorgfaltspflicht6 zur Geschwindigkeitsverminderung und Feststellung der Verkehrssicherheit der 4
5 6
Vgl. Yamanaka, ZStW 102, S. 365. Soll die individuelle Fähigkeit des Täters die Tatschuld eingrenzen, so hat die subjektive Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit in der Schuldebene eine Rolle zu spielen. In diesem Sinne ist meine Theorie von derjenigen Roxins zu unterscheiden. Vgl. Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl., 2006, § 24, Rn. 3 ff., 10 ff., S. 1065, Fn. 16. Vgl. auch Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 121, Fn. 634. Vgl. dazu meinen auf Japanisch geschriebenen Aufsatz, „Der Sinn der ‘Vermeidbarkeit’ in der Fahrlässigkeitstheorie“, in: Kenshu Nr. 704, 2007, S. 3 ff. Im japanischen StGB gibt es einen qualifizierten Tatbestand der „geschäftlichen fahrlässigen Tötung“ und „geschäftlichen fahrlässigen Köperverletzung“ (§ 211 Abs. 1 jStGB). Derjenige, der geschäftlich durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht hat, wird schwerer bestraft als der Täter einer normalen fahrlässigen Körperverletzung oder Tötung (§ 209, § 210 jStGB).
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte
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kreuzenden Straße beim Einfahren in die Kreuzung mit dem gelben, sich abwechselnd ein- und ausschaltenden Signal vernachlässigt. Er ist mit seinem Auto mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 40 km/h weitergefahren und ist mit dem von links kommenden, von A gefahrenen Auto zusammengestoßen. Der mit dem A mitfahrende B, der auf dem Rücksitz gesessen hatte, kam durch den Unfall ums Leben. Eine weitere Person, die auf dem Platz neben dem Fahrer gesessen hatte, wurde verletzt. Der A hatte Alkohol eingenommen und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h, obwohl eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf unter 30 km/h galt. Er ist überdies in die Kreuzung gefahren und übersah dabei die rote Ampel, weil er sein Handy auf den Boden des Autos fallengelassen hatte. Wenn der Angeklagte daher seine Pflichten zur Geschwindigkeitsverminderung (von 10 bis 15 km/h) und zur Feststellung der Verkehrsicherheit eingehalten hätte, „muss man sagen, dass es schwer ist, festzustellen, dass das Auto vom Angeklagten vor dem Ort des Zusammenstosses hätte angehalten und der Zusammenstoß vermieden werden können“. Der OGH hat den Angeklagten, der wegen geschäftlicher fahrlässiger Tötung und Körperverletzung angeklagt wurde, freigesprochen7. Die erste und die zweite Instanz haben festgestellt, dass der Angeklagte den Zusammenstoß hätte vermeiden können, wenn er die Geschwindigkeit vermindert und die Verkehrssicherheit festgestellt hätte. Aber der OGH hat die „Vermeidbarkeit“ verneint.
III. Voraussehbarkeit? Die Frage ist, wie das Urteil die „Voraussehbarkeit“ des Erfolgseintritts beurteilt hat. Im Urteil liest man folgendes: „Es ist in der Regel schwer vorhersehbar, dass es einen Wagen geben kann, der, ohne anzuhalten oder die Geschwindigkeit zu mindern, mit der Geschwindigkeit von 70 km/h beim gelben, abwechselnd sich ein- und ausschaltenden Signal aus der kreuzenden Strasse in die Kreuzung einfahren wird“.
Dieser Satz könnte so verstanden werden, dass auch die „Voraussehbarkeit“ verneint werde. Aber der Satz wurde bei der Beurteilung der fehlenden Vermeidbarkeit verwendet. Er bedeutet zumindest nicht, dass „Nichtvoraussehbarkeit“ bei dieser Situation als ein Merkmal der Sorgfaltspflicht betrachtet wird. In der Urteilsbegründung des OGH heißt es: „Man muss sagen, dass es an sich vorwerfbar war, dass der Angeklagte als Taxifahrer, der die allgemeine Pflicht zur Sicherung des Fahrgastes hat, in der oben beschriebenen Weise 7
Urteil des OGH von 24. Jan. 2003, Hanrei Jiho 1806, 157. Zu diesem Urteil vgl. auch Yamanaka, Kenshu Nr. 704, S. 3 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
gefahren ist, weil diese Fahrweise auch aus der Sicht der geschäftlichen fahrlässigen Tötung oder Körperverletzung eine riskante Fahrweise war“. Das bedeutet, dass das Urteil die Fahrweise des Angeklagten als eine unerlaubte gefährliche Fahrweise betrachtet, bei welcher der Erfolgeintritt leicht voraussehbar war. Daraus ergibt sich, dass das Urteil einerseits die Voraussehbarkeit bejaht, jedoch die Vorhersehbarkeit des Erscheinens des Autos der Verletzten verneint hat. Auch die Vermeidbarkeit wurde verneint. Die Frage ist, wie man diese Redewendungen des Urteils verstehen kann.
IV. Bisherige Entscheidungen In Betracht zu ziehen ist, wie die Judikatur bei diesem Sachverhalt in anderen Fällen das Problem gelöst hat. Es gibt manche Entscheidungen in Japan, die Fälle behandelt haben, in denen der Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn der Täter seine Sorgfaltspflicht erfüllt hätte. Die leitende Entscheidung ist das Urteil des japanischen Reichsgerichts von 19298. Hier ist der Fall als „Bahnübergangfall“ zu bezeichnen.
1. Bahnübergangfall (Urteil des RG vom 11.4.1929, Shinbun Nr. 3006, S. 15) Sachverhalt: Der Lokomotivführer X führte einen Express-Zug mit einer Geschwindigkeit von 40 Meilen/Stde. Als er sich mit dem Zug einem Bahnübergang näherte, vernachlässigte er die geschäftlich gebotene Pflicht, seine Aufmerksamkeit nach vorne zu richten, führte den Zug aus Nachlässigkeit weiter und überfuhr A, ein etwa 2-jähriges Kind, das auf dem Bahnübergang stand. A ist gestorben. Urteil: Der Angeklagte hat das Kind A nicht gesehen, weil er beim Sichannähern an den Bahnübergang die Pflicht, seine Aufmerksamkeit nach vorne zu richten, vernachlässigt hat. Es ist deswegen zu prüfen, ob der Tod des A der Erfolg der Vernachlässigung dieser Pflicht durch den Angeklagten ist. Es ist klar, dass der X den A hätte sehen können, wenn er seine Pflicht erfüllt hätte. Aber auch wenn er dabei unmittelbar die Signalpfeife betätigt und die Notbremse gezogen hätte, muss vermutet werden, dass das ein Jahr und neun Monate alte Kind A nicht vom Bahnübergang hätte weggehen können. Da davon auszugehen ist, dass der Angeklagte die Verletzung des A nicht recht8
Als Urteilsbesprechung vgl. Yukinori Naruse, Keiho Hanrei Hyakusen (100 ausgewählte Entscheidungen in Strafsachen) I, AT, 5.Aufl., 2003, S. 17.
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte
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zeitig verhüten konnte, auch wenn er die Signalpfeife betätigt und gebremst hätte, gibt es auch keinen Grund dafür, das Unterlassen der beiden Maßnahmen als die Ursache des Todes von A anzusehen9. Nach der Urteilsbegründung hätte die Pflichterfüllung durch Betätigung der Signalpfeife und Notbremsung die Verletzung des A nicht verhindern können. Deswegen ist das Unterlassen der Pflichterfüllung keine Ursache des Erfolgs, also gibt es keinen „Kausalzusammenhang“ zwischen der Sorgfaltspflichtwidrigkeit und dem Erfolg.
2. Aufprallunfall (Urteil des Obergerichts Tokyo vom 6.5.1970, Kokeishu Bd. 23, Heft 2, S. 374) Sachverhalt: Das Auto des Angeklagten X, das auf der Nationalstraße von West nach Ost trotz der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h geradeaus fuhr, stieß in einer Kreuzung ohne Verkehrsregelung mit dem Auto des A zusammen, das auf der Landstraße von Süd nach Nord verkehrwidrig bis zur Mitte der obengenannten Nationalstraße vorfuhr, um in die Nationalstraße nach rechts einzubiegen. A wurde dabei verletzt. Urteil: „Es ist äußerst fraglich, ob der Aufprallunfall hätte vermieden werden können, wenn man den Bremsweg und den Straßenzustand berücksichtigt, auch wenn der Angeklagte mit der gesetzlich erlaubten Maximalgeschwindigkeit von 60 km/h gefahren wäre. Wenn es keine Sorgfaltspflicht des Angeklagten gibt, seine Geschwindigkeit noch auf die verminderte Geschwindigkeit herabzusetzen, lässt es sich nicht feststellen, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung eine Ursache des Unfalls war“. Im Urteil heißt es in Klammern weiter: „Man könnte den Fall wohl so betrachten, dass der Angeklagte den Eintritt des Unfalls hätte verhindern können, wenn er schon von einem vorigen Ort aus, der von der Stelle, wo er in Wirklichkeit auf den Wagen des Opfers traf, weiter entfernt war, mit der Geschwindigkeit von 60 km/h gefahren wäre, weil er noch vom Unfallort entfernt gefahren wäre, als das Opfer in die Nationalstraße hineinfuhr“. „Aber es ist schwer, den strafrechtlichen Kausalzusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung des Angeklagten und dem Unfall festzustellen, weil schwerlich gesagt werden kann, dass die erstere 9
Zu diesem Urteil vgl. auch meinen deutsch geschriebenen Aufsatz über „Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft“, in: Loos / Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 74. Als auf Japanisch geschriebene Urteilsbesprechung vgl. Yamanaka, in: Keiho Hanrei Hyakusen AT, 2. Aufl. 1984, S. 38 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
über den erfahrungsgemäß in der Regel voraussehbaren Ablauf zum letzteren geführt hat. Der Unfall in diesem Fall ist nicht nur dadurch eingetreten, dass er mit einer solchen hohen Geschwindigkeit gefahren ist, sondern auch dadurch, dass der ungewöhnliche Umstand der nicht voraussehbaren verkehrsrechtlichen Gesetzesverletzung des Opfers dazwischengetreten ist“. „Deswegen lässt sich diese Geschwindigkeitsüberschreitung nicht als die Fahrlässigkeit ansehen, die als Ursache dieses Unfalls betrachtet werden kann“. Das Urteil10 hat den „adäquaten Kausalzusammenhang“ zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung am vorigen Ort und dem Erfolg verneint, auch wenn die Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie bejaht werden müsste. Die Argumentation dieses Urteils ähnelt sehr einem Beispiel in deutschen Kommentaren11.
3. Wendefall (Urteil des Obergerichts Fukuoka (Zweigstelle Naha) vom 6.2.1986, Hanrei Jiho Nr. 1184, S. 158) Sachverhalt: Der Angeklagte hat bei seiner Fahrt nach rückwärts blickend damit begonnen, nach rechts zu wenden. Das Opfer A fuhr auf seinem Motorrad, auf dem auch der B mitfuhr, verkehrswidrig mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h in die Gegenfahrbahn hinein, um den Angeklagten rechts zu überholen. A hat eine Notbremsung vorgenommen, weil der Wagen des Angeklagten unerwartet quer zur Fahrbahn gewendet hat. A hat dadurch das Gleichgewicht verloren, ist ins Schleudern geraten und ist auf den Wagen des Angeklagten aufgeprallt. A wurde verwundet und starb. Urteil: Die Sorgfaltspflicht des Angeklagten, die Sicherheit nach rückwärts zu festzustellen, besteht. Aber auch wenn er diese Pflicht erfüllt hätte, wäre es schwer, ein mit der hohen Geschwindigkeit von etwa 100 km/h fahrendes Motorrad zu erkennen. Es gibt den Fall, in dem der Fahrer keine geschäftliche Sorgfaltspflicht hat, das mögliche Fahrzeug, das verkehrsrechtswidrig mit solch hoher Geschwindigkeit das eigene Auto überholen will, vorauszusehen 10 11
Zu diesem Urteil vgl. schon Yamanaka, Kausalität und Zurechnung im Strafrecht, 1984, S. 1 ff. Heute in: Cramer / Sternberg-Lieben, Schönke / Schröder, StGB 27. Aufl., 2006, § 15, Rn. 157 ff.. Das Urteil argumentiert ganz ähnlich mit dem Beispiel, das im Kommentar von Schönke / Schröder von damals genannt wurde: Z.B. heißt es im Urteil: Wie wäre es denn, wenn der Angeklagte schon von seinem Ausgangspunkt der Fahrt, ShizuokaPräfektur bis Kanagawa-Präfektur, wo der Unfall eingetreten ist, zu schnell gefahren wäre. Der japanische Richter hat den Kommentar tatsächlich gelesen, wie mir bei meinem Referat bei der Strafrechtslehrertagung nachher von dem betreffenden Richter bestätigt wurde.
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte
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und die Wendung zu unterlassen. Der Angeklagte durfte auf die richtige Fahrweise des nachfolgenden Motorrads des A vertrauen, der dem Verkehrsrecht folgend einen Aufprallunfall von hinten vermeiden kann, und konnte mit der Wende beginnen. „Die Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht, die Sicherheit nach rückwärts festzustellen, steht mit diesem Unfall in keinem adäquaten Kausalzusammenhang“. Dieses Urteil unterscheidet zwischen der Pflicht zur verkehrsrechtlichen Sicherheitsfeststellung nach rückwärts und der geschäftlichen Sorgfaltspflicht zur Unterlassung der Wende als strafrechtlicher Sorgfaltspflicht. Nach dem Urteil sieht die Beurteilungsstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte wie folgt aus: Wenn es zwischen der erstgenannten Pflichtwidrigkeit und dem Erfolg keinen adäquaten Kausalzusammenhang gibt, so wird die letztgenannte Sorgfaltspflicht verneint.
4. Die Ansätze zum Problem in den Entscheidungen Wenn man den Ansätzen zur Problemlösung Aufmerksamkeit schenkt, so kann man, grob gesagt, vier typisierte Ansätze in den Entscheidungen sehen12. Erstens ist die Problematik als die Kausalität zwischen der „Fahrlässigkeit“ oder „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ und dem „Erfolg“ anzusehen, wie beim Bahnübergangfall. Es gibt noch andere Entscheidungen, die zu dieser Gruppe gehören13. Die Kausalität lässt sich als „Bedingungs“-kausalität (Bedingungstheorie) verstehen. Zweitens gibt es die Entscheidungen, in denen es sich um die Anwendung des Vertrauensprinzips beim verkehrwidrigen Verhalten des Angeklagten handelt, wie beim Wendefall. Bei diesen Entscheidungen wird die „Sorgfaltspflicht“ oder die „Fahrlässigkeit“ verneint14. Drittens ist die Gruppe der Entscheidungen zu nennen, in denen die Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie zwischen z.B. der verkehrrechtlichen Pflichtwidrigkeit und 12
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Als die erste ausführliche Untersuchung zu dieser Problematik in Japan vgl. Yamanaka, Kausalität und Zurechnung im Strafrecht. 1984, S. 1 ff., S. 78 ff. Als neuere ausführliche Forschungsarbeit vgl. Nobuhiko Furukawa, Keiji Kashitsuhan Josetsu (Einführung in die Strafrechtstheorie der Fahrlässigkeitsdelikte), 2007. Als Entscheidungen, die die Problematik als Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg behandelten, vgl. Urteil des Komatsu AG vom 18.4.1959, Kakeishu, Bd. 1, Heft 4, S. 1039; Urteil des OG Nagoya (Zweigstelle Kanazawa) vom 25.1.1966, Kakeishu, Bd. 8, Heft 1, S. 2; Urteil des Distriktsgerichts (DG) Osaka vom 21.12.1966, Hanrei Times Nr. 208, S. 205; Urteil des DG Osaka vom 9.2.1972, Hanrei Times, Nr. 276, S. 303. Z.B. Urteil des OGH vom 17.11.1970, Keishu, Bd. 24, Heft 12, S. 359; Urteil des OGH vom 22.12.1970, Hanrei Times Nr. 261, S. 267; Urteil des OG Osaka vom 17.8.1971, Hanrei Times Nr. 269, S. 260.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
dem Erfolg bejaht, aber der adäquate oder gesetzliche Kausalzusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg verneint wird15. Viertens lässt sich erkennen, dass es auch eine Gruppe von Entscheidungen gibt, in denen die „Vermeidbarkeit“ des Erfolgs verneint wird, wie beim Gelbsignalfall des Obersten Gerichtshofes16. Der Ansatz, der das Problem als die Frage nach dem Verhältnis zwischen „Fahrlässigkeit“ und „Erfolg“ behandelt, findet sich auch in den anderen Entscheidungen zur objektiven Zurechnung17, bei denen es sich nicht um das pflichtmäßige Alternativverhalten gehandelt hat. Beim sog. „Auf der Autobahn Haltenlassen-Fall“18 hat der OGH einen Kausalzusammenhang zwischen „fahrlässiger Handlung“, also dem unsorgsamen Anhaltenlassen als Handlung des Angeklagten, und dem Todeserfolg bzw. den Verletzungen der Opfer anerkannt. Der Angeklagte ließ den LKW auf der dritten Fahrbahn der Autobahn anhalten, übte gegen ihn Gewalt. Nachdem der Angeklagte weggefahren war, musste der Fahrer des LKW noch einige Minuten an jenem Ort halten, um den verlorengegangenen Zündschlüssel zu suchen. In der Zwischenzeit prallte ein nachfolgender Wagen auf den LKW. Der Fahrer und drei weitere Insassen des Wagens kamen zu Tode, eine weitere Person wurde verletzt. In diesem Beschluss hat der Oberste Gerichtshof den „Kausalzusammenhang“ bejaht. Es ist klar, dass der Kausalzusammenhang hier nicht im Sinne der Bedingungstheorie gemeint ist, weil diese Kausalität ohne Zweifel besteht. Es handelt sich bei diesem Fall um die Erfolgszurechnung der fahrlässigen Handlung, die über das Dazwischentreten der fahrlässigen Handlungen des LKW-Fahrers und des Fahrers des nachfolgenden Wagens zum Todes- bzw. Verletzungserfolg geführt hat.
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Vgl. auch das Urteil des DG Tokyo vom 31.1.1994, Hanrei Jiho, Nr. 1521, S. 153. Vgl. auch Urteil des DG Osaka vom 18.12.1972, Hanrei Times Nr. 291, S. 297; Urteil des OG Fukuoka vom 25.1.1995, Hanrei Jiho Nr. 1559, S. 147. Zu diesem Urteil vgl. auch meinen auf Deutsch geschriebenen Aufsatz über „Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft“, in: Loos / Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart. 2007, S. 74. Als auf Japanisch geschriebene Urteilsbesprechung vgl. Yamanaka, in: Keiho Hanreihyakusen AT, 2. Aufl. 1984, S. 38 ff. Beschluss des OGH vom 19.10.2004, Keishu, Bd. 58, Heft 7, S. 645. Vgl. Yamanaka, a.a.O., Loos / Jehle (vorige Fn.), S. 66.
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V. Der Sinn von Pflichtwidrigkeit und Erfolg 1. Sorgfaltspflichtwidrigkeit oder Verwaltungsnormwidrigkeit Wie schon oben geschildert, hat die Besorgnistheorie, die als Fahrlässigkeitsbetrachtung vom Verstoß gegen die „Handlungsregel“ ausgeht, den richtigen Ansatz in einem bestimmten Sinne gehabt. Fragwürdig war, dass diese Theorie die richtige Einschränkungstheorie der Zurechnung nicht entwickelt, sondern umgekehrt den Vorhersehbarkeitsbegriff zu stark erweitert hat. Aber was bedeutet hier die Handlungsregel? Nach der Besorgnistheorie bedeutet sie die konkreten Verwaltungsvorschriften in der konkreten Unfallssituation. In der Diskussion um die Fahrlässigkeitsdelikte in Japan bedeutet jedoch die „Pflichtwidrigkeit“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten nicht den Verstoß gegen die Verwaltungsvorschriften oder sonstigen Sondernormen an sich. Man unterscheidet zwischen den bloßen Verletzungen von Verwaltungsvorschriften und der Sorgfaltspflichtwidrigkeit. Im Allgemeinen sind Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften nicht immer Sorgfaltspflichtwidrigkeit, sondern bloßes Indiz dafür19. Theoretisch sind die Sorgfaltspflicht bei den Fahrlässigkeitsdelikten und die verwaltungsrechtliche Sonderpflicht wie folgt zu unterscheiden: Der Zweck der Sonderpflichten ist in erster Linie die Verwirklichung des Verwaltungszwecks oder des ordentlichen Soziallebens. Sie haben nebenbei den Zweck der Vermeidung der Verletzung von geschützten Rechtsgütern durch Unfälle. Die Verkehrsordnung hat z.B. als Nebenzweck die Prävention solcher Körperverletzungen oder tödlicher Verletzungen von Verkehrsteilnehmern bei Verkehrsunfällen, die durch den Verstoß gegen diese Verkehrsordnung erfahrungsgemäß typischerweise verursacht werden könnten. Die Einhaltung der Verkehrsordnung dient zur generellen Verhütung fahrlässiger Erfolgsdelikte. Aber im konkreten Fall ist es nicht immer richtig, dass die Einhaltung solcher Verkehrvorschriften in der Wirklichkeit diesem Zweck gedient hat. Deswegen muss man zwischen konkret wichtigen Sorgfaltspflichten und nicht wichtigen Sonderpflichten unterscheiden. Wichtig ist deswegen, die Kriterien dafür zu klären, wie man die zwei Pflichten voneinander abgrenzen kann. Es muss dabei nur der Grad der Gefahr des Erfolgseintritts untersucht werden. Bei den allgemeinen Sonderpflichten ist die Gefahr des Erfolgseintritts aus der Sicht vor dem Verhalten im Allgemeinen zu 19
In der deutschen Literatur vgl. auch schon Lenckner, Technische Normen und Fahrlässigkeit, in: Engisch-Festschrift, 1969, S. 490 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
sehen. Dagegen ist bei den Fahrlässigkeitsdelikten in concreto zu prüfen, ob ein solches sonderpflichtwidriges Verhalten einigermaßen den konkreten Erfolg mit sich bringen kann. Nur ein mit dem Erfolg konkret verbindbares sonderpflichtwidriges Verhalten begründet die Sorgfaltspflichtwidrigkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten. Am Beispiel des Gelbsignalfalls erklärt, ist das gegen das Gelb-Signal verstoßende Verhalten nicht die konkrete Gefährdung im Hinblick auf den Erfolgseintritt, wenn keine Wagen auf der kreuzenden Strasse fahren oder keine Fußgänger auf der Strasse gehen. In dem vom OGH entschiedenen Fall war das sonderpflichtwidrige Verhalten des Angeklagten sorgfaltspflichtwidrig, weil aus der Sicht ex ante konkret schon die Gefährdung vorlag, die zum Erfolgseintritt führte.
2. Verhältnis zwischen Sorgfaltspflicht und Erfolg Was bedeutet das „Verhältnis“, das zwischen der Sorgfaltspflichtwidrigkeit und dem Erfolg als notwendig angesehen wird? Ist es die „Kausalität“ der Handlung des Täters für den Erfolg? Oder besteht dieses Verhältnis in der „Vermeidbarkeit“ des Erfolgseintritts durch die hypothetische Pflichterfüllung? Die Klärung dieser Frage setzt die systematische Analyse der Fahrlässigkeitsdogmatik voraus, die auf dem richtigen Verstehen der Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte beruhen muss.
VI. Der Sinn der Vermeidbarkeit 1. Die Interpretation des „Vermeidbarkeitsbegriffs“ durch den OGH Der OGH hat in dem am Anfang dieser Abhandlung zitierten Fall die „Vermeidbarkeit“, die eigentlich zur Voraussetzung des Fahrlässigkeitsdelikts gehört, verneint20. Nach der klassischen Theorie oder der neuen Theorie war es nicht ausgeschlossen, dass er die Vermeidbarkeit als Voraussetzung der Vermeidungspflicht verneinte. Der OGH hat, wie schon oben angeführt wurde, die „riskante Fahrweise“, die zum tödlichen Erfolg usw. führen konnte, also die „Voraussehbarkeit“ des Erfolgseintritts bejaht. Wenn die Voraussehbarkeit vorhanden ist, ist dann auch die Vermeidbarkeit im Zeitpunkt des sorgfaltspflichtwidrigen Verhaltens gegeben? Denn wäre der Erfolg dann nicht einge20
Vgl. Kiyoshi Hirano, Gendai Keijiho, Bd. 6, Heft 3 (Nr. 59, 2004), S. 89. Als Urteilsbesprechung vgl. auch Hiroyuki Yamamoto, Hogaku Sinpo, Bd. 111, Heft 3–4 , S. 453 ff.; Yoshihiro Matsubara, Hogaku Kyoshitsu Nr. 282, Hanrei Select von 2003, S. 27; Masayuki Miyata, Kenshu Nr. 658, S. 155 ff; Shigeto Kadota, Hogaku Seminar Nr. 582, S. 116.
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treten, wenn der Täter auf Grund der allgemeinen Voraussehbarkeit des möglichen Erfolgseintritts die notwendige Maßnahme zur Erfolgsvermeidung getroffen, also vor der Kreuzung angehalten hätte, wenn es für die Erfolgsvermeidung notwendig gewesen wäre. Deswegen wurde bei den nicht wenigen Urteilsbesprechungen das Vorhandensein der Sorgfaltspflicht an sich bejaht21.
2. Zwei Vermeidbarkeitsbegriffe Es ist jedoch die Interpretation nicht ausgeschlossen, dass die Vermeidbarkeit als eine Voraussetzung der Sorgfaltspflicht zu verneinen sei. Es gibt auch Entscheidungen, in denen die Vermeidbarkeit und damit die Fahrlässigkeit verneint wurde. Deswegen lassen sich zwei Interpretationsmöglichkeiten in Bezug auf den Vermeidbarkeitsbegriff aufzeigen: Die Vermeidbarkeit als eine Voraussetzung der Sorgfaltspflicht oder als ein anderes Merkmal als die Sorgfaltspflicht. Die letztere Auffassung setzt voraus, dass diese Vermeidbarkeit auftaucht, nachdem die Bejahung der Vermeidbarkeit im ersteren Sinne festgestellt wurde. Diese zwei Begriffe lassen sich als „Vermeidbarkeit vom ex ante-Standpunkt“ und als „Vermeidbarkeit vom ex post-Standpunkt“ bezeichnen22.
VII. Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit aus der Sicht ex ante und ex post 1. Die Voraussehbarkeit ex ante und ex post Der Voraussehbarkeitsbegriff in der Fahrlässigkeitsdogmatik wurde bisher von zwei Fragestellungen aus analysiert: Einmal handelt es sich um die Beurteilungskriterien, also die Menschenbilder, auf die sich die Beurteilung der Voraussehbarkeit gründet: Die Frage ist, ob der Täter oder die Durchschnittsmenschen das maßgebliche Kriterium für die Voraussehbarkeit sind. Die andere Frage ist, ob der Gegenstand der Voraussehbarkeit der konkrete Kausalverlauf bzw. Erfolg oder der allgemeine ist. Bei dieser letzteren Diskus-
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Nach Kadota, a.a.O., Hogaku Seminar Nr. 582, S. 116, hat das Urteil keine Sorgfaltspflicht verneint. Diese Unterscheidung habe ich schon in meiner Urteilsbesprechung, Keiho Hanrei Hyakusen I, 2. Aufl., 1984, S. 38, vertreten. In der Gegenwart wird diese Unterscheidung von manchen Autoren verwendet: Vgl. z.B. Yuji Otsuka, Keihogaku no Shindoko (Neue Tendenzen der Strafrechtswissenschaft = Festschrift für Shimomura), Bd. 2, 1995, S. 166; Naruse, a.a.O. (oben Anm. 8), S. 17.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
sion sollten nach der herrschenden Meinung die Grundzüge bzw. der grobe Umriss eines einigermaßen konkreten Kausalverlaufs maßgeblich sein. Aber die Diskussion um den Grad der Konkretheit der Voraussehbarkeit muss noch analysiert werden: Es kommt darauf an, mit welchem Zweck die Kriterien diskutiert worden sind; ob dieser Begriff die Sorgfaltspflicht begründet oder ein Kriterium der Erfolgszurechnung zum gefährlichen Verhalten des Täters. Die Diskussion um diese Fragen wird in der japanischen Strafrechtswissenschaft noch nicht bewusst geführt. Wenn wir aber die Beurteilung der Gefahr bei der Risikoschaffung und bei der Risikoverwirklichung parallel mit dem Voraussehbarkeitsbegriff sehen, so ist zwischen der Voraussehbarkeit vom ex ante-Standpunkt und der vom ex post-Standpunkt zu unterscheiden. Die Voraussehbarkeit im Sinne der Voraussetzung der Sorgfaltspflicht ist im ersteren Sinne zu verstehen, es reicht also aus, wenn die Voraussehbarkeit des einigermaßen abstrakten Erfolgs vorhanden ist. Als Voraussetzung einer Erfolgszurechnung ist sie im letzteren Sinne zu verstehen, also als Voraussehbarkeit des konkreten Erfolgs, der in der Wirklichkeit eingetreten ist.
2. Zwei Vermeidbarkeitsbegriffe Den zwei Voraussehbarkeitsbegriffen entsprechen zwei Vermeidbarkeitsbegiffe. Die Beurteilung der Vermeidbarkeit ex ante setzt die der vorherigen Voraussehbarkeit voraus: Der Tod eines Menschen auf dem Bahnübergang ist z.B. beim Bahnübergangsfall im Allgemeinen vorhersehbar, wenn der Lokomotivführer keine Maßnahmen wie Pfeifsignal und Bremsen getroffen hätte. Die allgemeine Vermeidbarkeit des Todes eines Menschen auf dem Bahnübergang wäre auch klar, wenn der Lokomotivführer rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen getroffen hat. Beim Gelbsignalfall gilt dieser Gedanke auch: Wenn der Angeklagte ohne die gesetzlich vorgeschriebene Geschwindigkeitsverminderung in die Kreuzung einfährt, so ist der Zusammenstoß mit irgendeinem anderen Wagen, der von rechts oder links näher kommt, allgemein vorhersehbar. Die Vermeidbarkeit in diesem Sinne kann jedoch trotz der allgemeinen Erfolgsvorhersehbarkeit etwa in dem folgenden Fall verneint werden. Wenn ein Selbstmordkandidat plötzlich gerade vor einem Fahrer aus einem Busch neben der Autobahn in die Fahrbahn springt, kann der Fahrer trotz der Voraussehbarkeit seines Todes im Zeitpunkt des letzten Augenblicks vor dem Aufprall den Unfall nicht vermeiden. Demgegenüber wird die Vermeidbarkeit ex post auch auf der Basis der nachträglich entdeckten Umständen geprüft und die Frage gestellt, ob der Täter den konkreten Erfolg hätte vermeiden können. Beim Bahnübergangsfall war die
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Vermeidung des Kindstodes nicht möglich, weil das etwa zweijährige Kind nicht schnell genug hätte reagieren können, auch wenn der Lokomotivführer rechtzeitig ein Pfeifsignal gegeben oder gebremst hätte. Das gilt auch für den Gelbsignalfall des OGH: Der Fahrer konnte im Allgemeinen das Näherkommen eines Wagens vorhersehen und er hätte, wenn er die Geschwindigkeit vermindert hätte, den Unfall im Allgemeinen vermeiden können. Deswegen ist die Sorgfaltspflichtwidrigkeit des Täters zu bejahen23. Aber die nachträgliche Vermeidbarkeit des konkreten Todeserfolgs, der im nachfolgenden Wagen eingetreten ist, ist zu verneinen, weil der konkrete Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn er die Sorgfaltspflicht eingehalten hätte24.
3. Ex ante- und ex post-Beurteilungen als Methode der Straftatlehre Der Gefahrbegriff spielt eine wichtige Rolle in der Straftatehre im Allgemeinen. Nach meiner Methode der Strafrechtsdogmatik ist der systematische Aufbau der Straftatlehre unter Heranziehung der Gefahrbeurteilung ex ante und ex post zu analysieren25. Diese Methode ist als das dualistische Konzept der Straftatlehre zu bezeichnen26. Die oben geschilderte Konzeption ist eine Anwendung dieses Gedankens auf die Fahrlässigkeitsdogmatik.
VIII. Verhaltens- und Sanktionsnorm bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten 1. Verhaltens- und Sanktionnorm Die Tatbestände der fahrlässigen Erfolgsdelikte bestehen aus der Verhaltensnorm und der Sanktionsnorm. Das ist nicht anders als bei den vorsätzlichen
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Von der Fahrlässigkeitstheorie, die zum Handlungsunwert tendiert, wird der Vermeidbarkeitsbegriff auf Vermeidbarkeit ex ante begrenzt. „Es ist eher überzeugend, wenn man nur die Vermeidbarkeit ex ante als Voraussetzung der Vermeidungspflicht behandelt“. Vgl. Yamamoto, a.a.O. (Anm. 20), S. 463. Hirano, a.a.O., Gendai Keijiho Nr. 59, S. 89 sieht das Urteil auch so, dass es die Vermeidbarkeit ex post behandelt hat. Aber er merkt kritisch an, dass es schon die ex ante Vermeidbarkeit hätte verneinen sollen. Aber wenn man meine Erklärung im Text versteht, dann ist es undenkbar, dass der OGH schon die Vermeidbarkeit ex ante hätte verneinen können. Über die dualistische Konzeption der Straftatlehre vgl. Yamanaka, Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre, in: Kansai University Review of Law and Politics No. 28, 2006, S. 19 ff., vor allem 26 ff. Dazu vgl. Yamanaka, Keiho Soron, 2. Aufl., 2008, S. 713 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Delikten27. Die Rolle der Verhaltensnorm liegt darin, dass sie den Schutz der Rechtsgüter bezweckt, indem sie die Verhaltensweise der Menschen reguliert. Diese Regulierung wird dadurch herbeigeführt, dass die verbotenen Verhaltensweisen in den verschiedenen Tatbeständen vorher beschrieben sind. Die Bürger müssen den Inhalt der Tatbestände kennen, um die verbotenen Verhaltensweisen zu vermeiden. Die Rolle der Sanktionsnorm liegt darin, dass sie eine Verhaltensregel für die Rechtsanwender, also Richter, ist, wenn die Verhaltensnorm an ihrer Aufgabe des Rechtsgüterschutzes gescheitert ist und auch die Voraussetzungen der Wirkung der Sanktionsnorm erfüllt wurden. Die Straftatbestände bestehen aus diesen zwei Normen. Das gilt auch für die fahrlässigen Erfolgsdelikte. Was den Sinn der Verhaltensnorm anbelangt, so gibt es in der deutschen Strafrechtswissenschaft zwei Auffassungen: Einerseits die Theorie des Verbots der gefährlichen Handlung28 und andererseits die Theorie des Verbots der Verletzungsverursachung29. Nach der ersteren Auffassung ist die Zurechnung kein Merkmal des Tatbestandes der Verhaltensnorm, sondern die Erfolgszurechnung ist Teil der Sanktionsnorm. Meiner Ansicht nach ist der richtige Ausgangspunkt die Verletzungsverursachungstheorie. Die Voraussetzung der Wirkung der Sanktionsnorm muss der vollkommene Bruch der Verhaltensnorm sein. Der Normbruch lässt sich im verbotenen Erfolgsunwert sehen, der aus der geschaffenen unerlaubten Gefahr entstanden ist, weil die Aufgabe der Verhaltensnorm, die den Schutz der Rechtsgüter bezweckt, damit gescheitert ist.
2. Die Struktur der Verhaltensnorm bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten Der Fahrlässigkeitsdeliktstatbestand befiehlt als Verhaltensnorm nicht nur in der Weise, dass der Fahrer bei der Fahrt vor der mit Signal versehenen Kreuzung vor der verwaltungsrechtlichen Pflicht steht: „Du sollst dich nach dem Signal verhalten“, er steht vielmehr auch vor der strafrechtlichen Pflicht: „Du sollst dich sorgfältig verhalten, um den Todeserfolg usw. zu vermeiden“. D.h. 27
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Zur japanischen Literatur über die Verhaltensnorm bei den Fahrlässigkeitsdelikten, vgl. Norio Takahashi, Eine Betrachtung zur Verhaltensnorm der Fahrlässigkeitsdelikte, in: Festschrift für Kamiyama, Bd. 1, 2006, S. 3 ff. Ders., Kihanron to Keihokaishakuron (Normtheorie und Strafrechtsdogmatik), 2007, S. 76 ff. Vgl. Wolfgang Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs. 1988, S. 71 ff.; Yamanaka, Festschrift für Suzuki, Bd. 1, S. 60 ff. Vgl. Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 13 ff.; Joachim Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 49; Vgl. Yamanaka, Festschrift für Suzuki, Bd. 1, S. 59.
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ihn trifft die strafrechtlich wichtige Pflicht, die den Erfolg verursachende Handlung zu unterlassen. Der Täter darf keine gefährliche Handlung, die zum Erfolg führen könnte, begehen. Diese Handlung ist hier als „normwidrige Handlung“, oder bloß „Normwidrigkeit“, zu bezeichnen30. Diese normwidrige Handlung erscheint zwar als die „Sorgfaltswidrigkeit“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten. Diese Handlung ist jedoch noch kein strafrechtlich genügender „vollkommener Normbruch“31, weil die Rechtsgüter noch nicht verletzt wurden. Der „Normbruch“ entsteht erst dann, wenn der konkrete Erfolg nachträglich zur unsorgfältigen, normwidrigen Verhaltensweise zugerechnet wird32. Diese Beurteilung wird nachträglich durchgeführt. Deswegen ist die Norm noch nicht gebrochen, wenn die unsorgfältige Handlung aus der Sicht ex ante nachträglich keine Verwirklichung der normwidrigen Handlung gewesen wäre. Dieser Verstoß gegen die Verhaltensnorm ist als „Normbruch“ im Unterschied zur „Normwidrigkeit“ zu bezeichnen.
3. Die Wichtigkeit der sorgfaltspflichtwidrigen Handlung? Die „Normwidrigkeit“ spielt bei den Fahrlässigkeitsdelikten eine weniger wichtige Rolle als der „Normbruch“, der praktisch das Scheitern der Verhaltensnorm bedeutet. Die Normwidrigkeit, also die „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten, bedeutet nur eine Voraussetzung für die nachträgliche Erfolgszurechnung, die im Rahmen der materiellen Beurteilung nachher verneint werden könnte. So gesehen ist die Diskussion um die „Sondernorm“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten in Deutschland nur für die Auffassung der Theorie des Verbots der „gefährlichen Handlung“ wichtig33. Nach der
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Die Verhaltensnorm ist durch die normwidrige Gefährdungshandlung in erster Linie verletzt, aber sie ist noch nicht entscheidend gebrochen. Meine Beschreibung in meinen vorherigen Aufsätzen hat diese Unterscheidung nicht klar gemacht. Vgl. Yamanaka, Perspektive der Strafrechtstheorien, Hanzai to Keibatsu Nr. 15, (2002), S. 48; Ders., Normstruktur der Straftatlehre, Sandai Hogaku, Bd. 34, Heft 3, (2000), S. 385. Über den Begriff von Normbruch vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, S. 5, S. 9. Über diesen Streit vgl. auch Yamanaka, Keiho niokeru Kyakkanteki Kizoku no Riron (Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht), 1997, S. 783 ff. Vgl. Gunnar Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 273 ff.; Rudolf Alexander Mikus, Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts, 2002, S. 19 ff.; Aurelia Colombi Ciacchi, Fahrlässigkeit und Tatbestandsbestimmtheit, 2005, vor allem S. 87 ff.; Hans Kudlich, Die Verletzung gesetzlicher Sondernormen und ihre Bedeutung bei der Sorgfaltspflichtverletzung, OttoFestschrift, 2007, S. 373 ff.; auch Heinz Koriat, Fahrlässigkeit und Schuld, JungFestschrift, 2007, S. 397 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Verletzungsverursachungstheorie ist diese Normwidrigkeit nur eine Szene im Erfolgszurechnungsverfahren.
4. Die Struktur der Sanktionsnorm bei den Fahrlässigkeitsdelikten Der Fahrlässigkeitstatbestand besteht nicht nur aus der Verhaltensnorm, sondern auch aus der Sanktionsnorm, weil er die Voraussetzungen, unter denen die fahrlässigen Erfolgsdelikte mit der Strafe sanktioniert werden können, enthält. Der vollkommene Normbruch bei der Verhaltensnorm ist die Voraussetzung der Sanktionierung.
IX. Nachträgliche Vermeidbarkeit als Risikoverwirklichung Eine formelle Sonderpflichtswidrigkeit bedeutet noch keine Sorgfaltspflichtwidrigkeit als Normwidrigkeit, sondern es bedarf dazu der materiell gesehen das Risiko des Erfolges schaffenden Normwidrigkeit. Der Verstoß gegen die StVO, die regelt, dass bei Rot vor der Kreuzung zu halten ist, ist z.B., wenn niemand und kein Wagen auf den näheren Straßen vorhanden ist, noch keine Sorgfaltspflichtwidrigkeit, wie sie für fahrlässige Erfolgsdelikte erforderlich ist. Die Sorgfaltspflichtwidrigkeit ist dasselbe wie die Vorhersehbarkeit des einigermaßen abstrakten Erfolgs, der bei der unsorgsamen Handlung im Allgemeinen vorhergesehen werden kann. Dies ist parallel zur „Risikoschaffung“ bei der Lehre von der objektiven Zurechnung34. Dagegen bedeutet die nachträgliche Voraussehbarkeit die „Risikoverwirklichung“ bei der Lehre von der objektiven Zurechnung. Die Frage nach der „Kausalität“ der Sorgfaltspflichtwidrigkeit für den Erfolg betrifft in der Wirklichkeit die Frage nach der Risikoverwirklichung. Die objektive Sorgfaltspflichtwidrigkeit als ein Fahrlässigkeitsmerkmal drückt nur einen Teil der Lehre von der objektiven Zurechnung aus. Sie hat keinen eigenen Sinn für die Fahrlässigkeitsdelikte, sondern stellt ein Merkmal dar, das in die Zurechnungslehre aufgelöst werden kann35. Die Fahrlässigkeit im
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Vgl. Yamanaka, Keiho Soron, 2. Aufl., 2008, S. 375 ff. Man kann diesen Zusammenhang auch als „Risikoerhöhungszusammenhang“ bezeichnen, weil es sich darum handelt, ob die sorgfaltspflichtwidrige Handlung, nachträglich materiell gesehen, das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat oder nicht.
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte
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eigentlichen Sinne funktioniert nur als die individuelle Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit, die auf der Schuldebene angesiedelt werden können36.
X. Fazit Bei den Fahrlässigkeitdelikten ist in erster Linie nicht nach der Voraussehbarkeit des Erfolgs zu fragen, sondern nach der Verletzung der verschiedenen Sonderpflichten, die der Täter bei der Handlung einhalten sollte. Diese Sonderpflichten, wie auch die Verwaltungsvorschriften usw. sind nicht alle „Sorgfaltspflichten“ bei den Fahrlässigkeitsdelikten. Zu den letztgenannten Sonderpflichten gehören nur diejenigen, welche im konkreten Fall, ex ante und materiell gesehen, die Schaffung des Risikos des Erfolgseintritts verhüten können. Man kann diese Sondernormwidrigkeit als „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ bezeichnen. Aber dieses verhaltensnormwidrige Verhalten drückt zwar die Tatausführung der Fahrlässigkeitsdelikte aus, aber sie hat keine eigene Bedeutung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, bei denen der Versuch nicht strafbar ist. Der Inhalt der objektiven Vorausehbarkeit ist zweizuteilen: Erstens im Sinne der vorherigen Voraussehbarkeit des abstrakten Erfolgs. Es handelt sich dabei darum, ob z.B. der Fußgänger stirbt, nachdem der unsorgsame Fahrer mit der unerlaubten Geschwindigkeit von 90 km/h ihn auf der Straße angefahren hat. Wenn der Fall so ist, dann ist die Voraussehbarkeit des Erfolgseintritts zu bejahen. Zweitens muss die sorgfaltspflichtwidrige Handlung, die ex ante das unerlaubte Risiko des Todes des Verletzten geschaffen hat, ex post gesehen, in dem konkret verursachten Erfolg verwirklicht werden. Die vom OGH geforderte nachträgliche Vermeidbarkeit ist nichts anderes als die Beurteilung der Risikoverwirklichung. Die „Sorgfaltspflichtwidrigkeit“, „Kausalität der Fahrlässigkeit“ und „Vermeidbarkeit“ in der japanischen Judikatur sind in die Lehre von der objektiven Zurechnung, also die unerlaubte Risikoschaffung und die Risikoverwirklichung, aufzulösen. Die Sorgfaltspflichtwidrigkeit nach der neuen Fahrlässigkeitstheorie ist nichts anderes als die unerlaubte Risikoschaffung. Die bloße unerlaubte Risikoschaffung ist zwar die „Normwidrigkeit“ im Sinne der Sondernormen, wie der Verstoß gegen die StVO, und man kann dabei von der „normwidrigen Handlung“ sprechen, aber sie ist noch kein „Normbruch“ bei 36
Vgl. Yamanaka, a.a.O. (Anm. 34), S. 629 ff., vor allem 633 ff. Wenn man das Schuldprinzip berücksichtigt, so muss man wenigstens nach der individuellen Voraussehbarkeit durch den Täter als einer Voraussetzung der Sanktionierung fragen.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
den fahrlässigen Erfolgsdelikten. Der Normbruch hat nicht nur den Sinn einer Voraussetzung der Sanktionsnorm, sondern auch den des endgültigen Scheiterns der Verhaltensnorm. Wenn man vom „Verhaltensnormbruch“ sprechen will, muss man festgestellt haben, dass das unerlaubt geschaffene Risiko sich im Erfolg verwirklicht hat.
§ 11.Der „vorzeitige Erfolgseintritt“ in der japanischen Judikatur und Wissenschaft I. Einleitung Der vorzeitige Erfolgseintritt betrifft jenen Sachverhalt, „in dem der Täter den Erfolg, der nach seiner Vorstellung erst durch einen Zweitakt bewirkt werden sollte, schon durch einen vorhergehenden Erstakt herbeiführt“1. Als Schulbeispiel ist hier der sog. Stockfall2 zu nennen, dessen Täter nach seinem Tatplan das Opfer erst mit Stockhieben betäuben und den Bewusstlosen anschließend zur Vortäuschung eines Selbstmordes aufhängen wollte, den Tod aber bereits durch die Schläge bewirkte. Diese Geschehensvariante wird auch als „umgekehrter dolus generalis“ bezeichnet3. Da der Fall des dolus generalis nach herrschender Meinung aber als Problem des Irrtums über den Kausalverlauf anzusehen und zu lösen ist4, sollte der umgekehrte Fall auch in solcher Weise behandelt werden. Allerdings ist insoweit Voraussetzung, dass der Erstakt des Täters in das Stadium des Versuchsbeginns eingetreten ist. Mit entsprechenden Erwägungen hat der Jubilar in einer Urteilskommentierung5 dem Verdikt des BGH zugestimmt6: Der Fall stellt ein Problem des Irrtums über den Kausalverlauf dar, „wenn der Täter im Hinblick auf die relevante Tathandlung bereits das Versuchsstadium erreicht hat“. Abgesehen von der Einordnung des Falles als Kausalitätsirrtum scheinen mir die Lösungen des Jubilars und der deutschen Judikate zuzutreffen7.
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Roxin, Strafrecht AT, Bd. I, 4. Aufl. 2005, § 12, Rdn. 182. Vgl. Wolter, Der Irrtum über den Kausalverlauf als Problem objektiver Erfolgszurechnung – zugleich ein Beitrag zur versuchten Straftat sowie zur subjektiven Erkennbarkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt – , ZStW 89, S. 655. Sowada, Der umgekehrte „dolus generalis“: Die vorzeitige Erfolgsherbeiführung als Problem der subjektiven Zurechnung, in: JURA 2004, S. 814 ff.; Roxin (wie Fn. 1). Zu meiner Lösung des dolus generalis vgl. Yamanaka, Ein Beitrag zum Problem des sog. „dolus generalis“, in: Kansai University Review of Law & Politics Nr. 3, 1982, S. 1 ff. Nach meiner Ansicht ist der Fall im Rahmen der objektiven Erfolgszurechnung zu lösen (S. 31 f.). Otto, JURA 2002, Heft 11, JK 11/02. BGH NJW 2002, 1057 = NStZ 2002, 309. Vgl. auch Sowada, JURA 2004, S. 817 f.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Mein Beitrag erörtert nicht die deutsche8, sondern ist auf die japanische Literatur und Rechtsprechung zentriert9. Zwar ist das Thema unter Bezeichnungen wie „verfrühte Tatbestandsverwirklichung“10 oder „vorzeitiger Erfolgseintritt“11 auch in den Lehrbüchern der japanischen Strafrechtswissenschaft angesprochen. Eine ausführliche Diskussion hat aber erst in neuerer Zeit begonnen, nachdem eine entsprechende Fallkonstellation von der Rechtsprechung des OGH12 erstmals entschieden worden war. Zur Erläuterung der Problematik und der japanischen Diskussionslage sind zuerst die entscheidungsrelevanten Fälle in Fallgruppen auszudifferenzieren: Am Anfang ist der Küchenschrank-Fall zu nennen, in dem eine Frau vergifteten Kuchen in den Küchenschrank einlagert, um ihn zu Tötungszwecken ihrem Gatten nach dessen Heimkehr zu servieren, letzterer aber unerwartet früher zurückkehrt, ihn sich während ihrer Abwesenheit selber nimmt, verspeist und daran verstirbt. Für diese Fallkonstellation wird gemeinhin ein begonnener Tötungsversuch verneint und stattdessen neben einer bloßen Vorbereitungshandlung ein fahrlässiges Tötungsdelikt bejaht. In der zweiten Fallvariante will der Täter beispielsweise sein am Halse ergriffenes Opfer mit dem Kopf ins Meer tauchen, um es zu ertränken – der Tod tritt jedoch bereits durch Ersticken mit den Täterhänden ein (Erstickungs-Fall). In diesem Fall hat der Täter mit der geplanten Tötungstat begonnen, so dass es ausschließlich auf den Irrtum über den Kausalverlauf ankommt. Drittens gibt es Fälle, in denen der Erfolg schon vom vorbereitenden Täterhandeln für eine erst später geplante letzte entscheidende Tat verursacht wird, wie etwa im oben genannten Stockfall. Und schließlich gibt es noch jene Fallkonstellationen, in denen der Täter sein argloses Opfer durch das insgesamt fünfmalige Darreichen für sich genommen nicht tödlicher Arsenmengen ermorden wollte, jenes aber schon nach der dritten Dosishingabe verstorben ist. Sowohl bei dem vorletzten als 8
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Zur Rechtsprechung in Deutschland vgl. RG DStR 1939, 177; BGH GA 1955, 123; BGH NStZ 2002, 309; BGH NStZ 2002, 475. Aus der neueren Literatur vgl. Matthias Schliebitz, Die Erfolgszurechnung beim „misslungenen“ Rücktritt, 2002, S. 63 ff., 128 ff.; Roxin, Zur Erfolgszurechnung bei vorzeitig ausgelösten Kausalverlauf, in: GA 2003, S. 257 ff.; Sowada, JURA 2004, S. 814 ff. Deutsche Literatur und Judikatur habe ich erörtert in Yamanaka, Sog. verfrühter Erfolgseintritt und Erfolgszurechnung, Gendaishakaigata Hanzai no Shomondai (Festschrift für Hiroshi Itakura), 2004, S. 97 ff. Seiji Saito, Tokubetsu Kogi Keiho, 1991, S. 30; Yamaguchi, Mondai Tankyu Keiho Soron, 1998, S. 140; Yamanaka, Keiho Soron 1, 1999, S. 341 f.; Mikito Hayashi, Keiho Soron, 2000, S. 254; Yamanaka, Law School Kogi Keiho Soron, 2005, S. 182. Maeda, Keiho Soron Kogi, 3. Aufl. 1998, S. 326. Urteil des OGH vom 22.3.2004, Keishu 58.3.187.
§ 11.Der „vorzeitige Erfolgseintritt“
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auch bei den letzten Fällen kommt es darauf an, ob Tatbeginn und Tötungsvorsatz zu bejahen sind13. Das Ziel dieses Beitrags ist, die Eigenheiten der japanischen Theorie und Praxis aufzuzeigen und die eigene Lösung dieser Fallvarianten dogmatisch zu begründen.
II. Deutsche und japanische Judikatur Zuerst sind die einschlägigen Entscheidungen der deutschen Judikatur vorzustellen, unter deren Heranziehung sodann theoretische Betrachtungen zur Problematik des „vorzeitigen Erfolgseintritts“ erfolgen. Dabei ist allerdings von einer Erörterung der deutschen Literatur14 abzusehen, da sie nicht den Gegenstand dieses Beitrages bildet. In der deutschen Wissenschaft konzentriert sich die Diskussion auf die Fragen Versuchsbeginn, Vollendungsvorsatz und Irrtum über den Kausalverlauf aufgrund abweichender Vorstellungen von der Wirklichkeit. Die Überlegungen der deutschen Strafrechtsdogmatik stehen hinter den Ergebnissen meiner nachfolgenden Betrachtungen.
1. Übersicht über die deutsche Judikatur Es gibt insgesamt vier bekannte Entscheidungen zum „vorzeitigen Erfolgseintritt“, an deren Ausgangspunkt mit dem Schraubenschlüssel-Fall ein Urteil des RG aus dem Jahre 1939 steht: Hier hatte der Angeklagte geplant, seine Ehefrau während einer Eisenbahnfahrt durch einen Schlag mit einem schweren Schraubenschlüssel widerstandsunfähig zu machen und sie anschließend durch Hinauswerfen aus dem Zuge zu töten. Es war aber nicht die Möglichkeit auszuschließen, dass sie bereits an einer von dem Schlag verursachten Gehirnblutung verstorben ist15. Das zweite Urteil ist der Scheinstandgerichts-Fall des BGH aus dem Jahr 1954, in dem der Angeklagte das Opfer im Rahmen eines angeblichen standgerichtlichen Verfahrens umbringen wollte, es aber bereits durch Würgehandlungen während eines Kampfes und nicht erst durch das anschließende Aufhängen an einem Baum getötet wurde. Das Gericht hat in 13 14
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Es ist möglich, Vorsatz bzw. Tatausführung einer Körperverletzung zu bejahen, auch wenn der Tötungsvorsatz oder die Ausführung der Tötungshandlung verneint wird. Zur neueren Literatur in Deutschland vgl. Roxin, Zur Erfolgszurechnung bei vorzeitig ausgelösten Kausalverlauf, GA 2003, S. 257 ff.; Schliebitz, a.a.O. (Fn. 8), S. 47 ff.; Wolter, Vorsätzliche Vollendung ohne Vollendungsvorsatz und Vollendungsschuld?, in: Festschrift für Leferenz, 1983, S. 545 ff. Zur Prüfung der Judikatur und Literatur in Deutschland vgl. Yamanaka, Festschrift für Itakura (Fn. 9), S. 103 ff. RG DStR 1939, 177.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
beiden Fällen den Versuchsbeginn schon für den Erstakt und demzufolge das Vorliegen eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikts bejaht. Im Autotransport-Fall des BGH aus dem Jahre 200116 wollte der Angeklagte zunächst seine Ehefrau durch Fesselung und Knebelung widerstandslos machen und sodann nach dem Transport an einen anderen Ort töten. Sie verstarb jedoch schon während des Transportes. Der BGH hat hier den Versuchsbeginn verneint, weil „der erste Zugriff des Angekl. auf seine Ehefrau im Wohnhaus der Familie noch nicht als unmittelbares Ansetzen zu deren vorsätzlicher Tötung gewertet werden“ könne. Ein unmittelbarer Angriff auf das geschützte Rechtsgut liege noch nicht vor, „da nach dem Plan des Angekl. bis zum eigentlichen Tötungsakt noch weitere wesentliche Zwischenschritte durchlaufen werden mussten“. Schließlich ist als viertes Urteil der Luftinjektions-Fall des BGH von 2002 zu nennen: Die Angeklagten vereinbarten, das Opfer durch eine Luftinjektion in die Armvene zu töten. Sie schlugen ihm mit der Faust ins Gesicht, an den Kopf und auf den Hals, einer von ihnen stach es mit der Spritze in die linke Armbeuge und alle glaubten, dass es infolge der Luftinjektion gestorben war. Tatsächlich aber war das Opfer an einem Abbruch seines Kehlkopffortsatzes infolge der Schläge erstickt. Nach Auffassung des BGH liegt bereits ein unmittelbares Ansetzen zur Tötung i.S. des § 22 StGB in Gestalt der tödlichen Gewaltanwendung vor, „da die gewaltsame Wehrlosmachung des Opfers und die Beibringung der Injektion in jeder Hinsicht eine Einheit bilden“. Aufgrund der fehlenden Wesentlichkeit der kausalen Abweichung wurde der vollendete Totschlag bejaht17. Die deutsche Rechtsprechung vertritt folgende dogmatische Konstruktion: Wenn der Versuchsbeginn des Erstaktes zu bejahen ist, handelt es sich um einen Irrtum über den Kausalverlauf. Ist die Erheblichkeit der kausalen Abweichung anzuerkennen, fehlt es an einem Vollendungsvorsatz
2. Brandstiftungsfall Bis vor kurzem war der Brandstiftungsfall des Landgerichts Yokohama aus dem Jahre 198318 das einzige Gerichtsurteil zum „vorzeitigen Erfolgseintritt“. Ihm lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte hatte ca. 64 Liter Benzin in seiner Wohnung verschüttet, die er in Brand setzen wollte. Als er aber zuvor noch sich auf dem Gang mit einem Taschenfeuerzeug eine Zigarette anzünden wollte, entzündete das verdunstende Benzin, explodierte und 16 17 18
BGH NStZ 2002, 309, 310. BGH NStZ 2002, 475, 476. Urteil des Landgerichts Yokohama vom 20.7.1983, Hanrei Jiho 1108.138.
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191
verbrannte dann das gesamte Haus. Das Gericht erkannte den Anfang der Tatausführung des Inbrandsetzens in dem Vergießen des Benzins, da bereits in diesem Zeitpunkt das dringende Risiko des späteren Abbrennens des Hauses entstanden sei. „Die Folgen des Geschehensverlaufs, d.h. dass das verdunstende Benzin sich entzündet, wenn man ein Taschenfeuerzeug anzündet, ist für jeden Menschen leicht verständlich und nicht unvorhersehbar. Auch ist nicht festgestellt worden, dass der Angeklagte seinen Willen, das Haus in Brand zu setzen, aufgegeben habe. Daher ist die „Kausalität“ nicht aus dem Grund verneint, dass der Erfolg durch den oben genannten, von der Tätervorstellung abweichenden Entzündungsverlauf verursacht worden ist. Der Angeklagte kann der Erfolgszurechnung einer vollendeten Brandstiftung nicht entgehen“. Den Anfang der Tatausführung begründet das Gericht damit, dass als Erfolg des Benzinvergießens folgende Umstände festgestellt sind: Der Geruch des Benzins erfüllte die Wohnung, der Angeklagte fühlte Schmerz in seiner Nase und konnte die Augen nicht mehr offen halten. Mit dem Verteilen des Benzins hatte er den größten Teil seines Brandstiftungsplans beendet. Wenn man nun der starken Entzündbarkeit des Benzins Rechnung trägt, ist mit diesem Zeitpunkt eine Situation eingetreten, in der das Feuer durch Entzündung des vergossenen Benzins notwendigerweise entstehen muss, wenn irgendein Feuer entfacht wird“. „Die festgestellten Umstände dokumentieren, dass die dringende Gefahr der Rechtsgutsverletzung, d.h. einer Inbrandsetzung des Hauses, schon in diesem Zeitpunkt entstanden ist. Deswegen ist die Schlussfolgerung angemessen, dass mit der Entzündungshandlung der Anfang der Tatausführung vorliegt“. Das Urteil bestätigt drei Aspekte: Erstens: Ein Anfang der Tatausführung liegt mit der Verursachung der dringenden Gefahr vor. Zweitens: Der Inbrandsetzungswille wurde nicht widerrufen, sondern aufrechterhalten. Also ist Vorsatz vorhanden. Drittens: Der Kausalverlauf ist für einen durchschnittlichen Menschen nicht unvorhersehbar. Aus diesen Tatsachen wird die vollendete Brandstiftung abgeleitet.
3. Der Balkonfall Es ist zweifelhaft, ob der Balkonfall des Obergerichts Tokyo von 200119 auch zur Fallgruppe des „vorzeitigen Erfolgseintritts“ gehört20. Ihm liegt in etwa
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Urteil des Obergerichts Tokyo vom 20.2.2001, Tokyo-Kotosaibansho Keiji Hanketsu Jiho 52, 1=12, 7. Urteilsbesprechungen b. Hiroshi Oyama, Hogaku Seminar 565, 109; Norio Takahashi, Gendai Keijiho 4, 1, 103; Hisatoshi Matsubara, Juken Shinpo 611, 19; Tsuyoshi Shio-
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte A hat seiner Frau B mit Tötungsabsicht in der gemeinsamen Wohnung im 9. Stock mehrfach mit einem Küchenmesser in die Brust gestochen. Als die B an der Seitenwand des Balkons entlang zur Nachbarwohnung zu entkommen versuchte, wollte der A der davonlaufenden B nacheilen und sie ergreifen. Sie ist jedoch hinuntergefallen und an den Folgen des Aufpralls auf dem Gelände verstorben. Hintergrund und Sinn der ungewöhnlichen „Täterhandlung“ sind noch ausführlicher darzustellen:
a) Der Sinn der Zugriffshandlung Zur Zugriffshandlung des Angeklagten auf das Opfer auf dem Balkon erklärt das Gericht: „Der Angeklagte hatte sein Zustechen beendet und das Messer zum Abwaschen in die Küche zurückgelegt. Danach hat er gedacht, dass sein Opfer an übermäßigem Blutverlust versterben würde, wenn er es außerhalb seiner Herrschaft liegen lassen würde. Er hat deshalb das durch die Fronttür und vom Balkon fliehende Opfer ergreifen wollen, um es zurückzubringen und mittels Gasvergiftung zu töten“.
b) Die Dauerhaftigkeit des Tötungsvorsatzes Das Gericht schließt aus diesem Sachverhalt: „Inhalt des Vorsatzes des Angeklagten war im Zeitpunkt des Zustechens, das Opfer durch Messerstiche zu töten, danach das Sterben des im eigenen Herrschaftsbereich liegenden Opfers abzuwarten oder es anschließend mittels einer Gasvergiftung zu töten. Obwohl die Tötungsmodalität sich also je nach Entwicklung des Sachverhaltes ändern sollte, war der Tötungsvorsatz identisch. Es ist demnach angemessen, die Motivation des Täters so auszulegen, dass sein Tötungsvorsatz vom Zeitpunkt des Zustechens an bis zum Zeitpunkt der Zugriffshandlung fortgesetzt war“21.
c) Kontinuität der Handlung vom Zustechen bis zur Gasvergiftung. Nach Auffassung des Gerichts ist die Zugriffshandlung im allgemeinen eine Gewalttätigkeit und damit schwerlich als Tötungshandlung zu qualifizieren. Der Angeklagte habe aber die Absicht gehabt, das Opfer zu ergreifen, in die Wohnung zurückzubringen und es mit Gas zu vergiften. Auch das Opfer habe
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tani, Hanrei Select 2001, 26; Mitsuo Okano, Juyo Hanrei Kaisetsu vom 2001 (Jurist Nr. 1224), 149; Tetsuya Ishii, Gendai Keijiho 4, 10, 89. Die zweite Instanz hat anders als die erste Instanz noch angefügt, dass auch die „Tatausführung“ der Tötung durch Messerstiche ein Warten auf den Opfertod erfordert und die Zugriffshandlung auf dem Balkon bis hin zur geplanten Gasvergiftung fortdauert.
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seinen Tod als Konsequenz erkannt, wenn es vom Angeklagte ergriffen werde. Es habe deswegen beabsichtigt, dem Angeklagten davonzulaufen und ihn abzuschütteln, ohne dabei die Gefahr seines Herunterfallens zu bedenken. Das Verhalten sei deshalb vom Zustechen bis zum Ergreifen eine kontinuierliche Handlung. Der Tötungsvorsatz sei trotz der inhaltlichen Verschiedenheit der Handlungen fortdauernd gewesen und die Zugriffshandlung sogar unerlässliche Voraussetzung der geplanten Gasvergiftung. Unter diesen Umständen sei es angemessen, in ihr einen Teil der Tötungshandlung zu sehen. Es sei folglich nicht richtig, dass die des Tötungshandlung Angeklagten bereits mit Zurücklegen des Küchenmessers beendet gewesen sei.
d) Kausalität und Vollendung Die Kausalität zwischen der Zugriffshandlung des Angeklagten und dem Herunterfallen des Opfers bejaht das Gericht „wie das Urteil der ersten Instanz“. In Konsequenz daraus ist dem Angeklagten ein vollendeter Mord zuzurechnen.
e) Konstruktionsmöglichkeit des Falles Den Sachverhalt kennzeichnet erstens die inhaltliche Verschiedenheit eines kontinuierlichen Tötungsvorsatzes: Vorsatz bezüglich des Zustechens, bezüglich des tödlichen Verblutenlassens und bezüglich der geplanten Gasvergiftung. Zweitens ist das vorsatzgetragene Zustechen eine Ausführung der Tötungshandlung. Drittens wird die Zugriffshandlung auf dem Balkon als Teil der Tatausführung einer Gasvergiftung begangen, so dass beide Handlungen in Wirklichkeit nur eine kontinuierliche Handlung sind. Viertens wird die Kausalität zwischen der Zugriffshandlung und dem Herunterfallen bejaht, die Fortsetzung der Handlung also auf die Fortdauer des Vorsatzes gegründet. Das Opfer wurde also durch eine Fortsetzungstat getötet. Wichtigster Punkt dieser Konstruktion ist, dass das Herunterfallenlassen einen Teil der Gasvergiftung darstellt. Auch der Balkonfall ist folglich als Fall des vorzeitigen Erfolgseintritts anzusehen. Problematisch ist allerdings, ob man den Anfang der Tatausführung einer Gasvergiftung schon in der Zugriffshandlung erkennen kann. Wenn man dieses verneint, bleibt nur eine fahrlässige Handlung des Angeklagten, die nach dem vorsätzlichen Zustechen dazwischen getreten ist. In diesem Fall hat der Fall einen dem dolus generalis ähnlichen Charakter.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
4. Chloroformfall Der OGH hat erstmals im Jahre 2004 einen Fall des vorzeitigen Erfolgseintritts entschieden und sogleich umfangreiche Aufmerksamkeit der Wissenschaft erfahren22. Die Diskussion wird sich damit weiter entwickeln.
a) Sachverhalt Die drei Angeklagten hatten geplant, ihr Opfer mit seinem Wagen ins Meer zu stürzen, um nach seinem Tode die Versicherung zu betrügen. Zur Tötung wollten sie Chloroform benutzen, um das Opfer im Wagen bewusstlos zu machen. Als sie mit einem chloroformdurchtränkten Tuch die Nase bedeckt und es betäubt hatten, fiel das Opfer in Ohnmacht. Etwa 2 Stunden später haben sie das Opfer von einem etwa 2 km entfernten Kai mit dem Wagen ins Meer hinabstürzen lassen. Ob das Opfer an dem eingeatmeten Chloroform oder durch Ertrinken gestorben ist23, war nicht aufzuklären.
b) Entscheidung Nach Auffassung des OGH24 ist das Einatmenlassen des Chloroforms „die Handlung, die schon einen Teil des Tötungsverhaltens darstellt, das die Angeklagten geplant haben, da diese Handlung eng mit der direkten Tötungshandlung, dem Hinabstürzenlassen des Wagens ins Meer, zusammenhängt und eine wichtige Bedingung dafür ist, ob diese direkte Tötungshandlung gelingen wird oder nicht“. Im Beginn des Erstaktes wird „die zur Tötung führende objektive Gefahr“ erkannt und deshalb der „Anfang der Tatausführung“ bejaht. Es ist jedoch durchaus zweifelhaft, ob das Einatmenlassen als Beginn der Tötungsausführung anzusehen ist. Zwischen den Erstakt und den Zweitakt ist nämlich als allgemeine und alltägliche Tätigkeit die Fahrt mit dem Pkw über 2 km getreten.
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Urteilsbesprechungen u.a. von Shigeto Kadota, Hogaku Seminar 594, 116; Takanori Takamori, Kenshu 672, 121; Shinji Ogawa, Kenshu 673, 3; Takuto Yasuda, Juyo Hanrei Kaisetsu von 2004 S. 157; Mikito Hayashi, Hanrei Jiho 1869, 3; Masahiro Hiraki, Jurist 1284, 134; Masahide Maeda, Hogaku Kyoshitsu 288, 114; Masao Okumura, Hanrei Select 2004, S. 31; Atsushi Yamaguchi, Hogaku Kyoshitsu 293, 104; Taira Fukuda, Hanrei Times 1177, 123; Keiichi Yamanaka, Gegenwärtige Tendenzen der Rechtsprechung bezüglich des Strafrechts AT, Keijiho Journal Nr. 1, S. 29, 30 ff. Es gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“. Im Interesse des Angeklagten ist von einem Tod durch Chloroform auszugehen. Beschluss des OGH vom 22.3.2004, Keishu 58.3.187.
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III. Die japanischen Theorien 1. Die Behandlung der Problematik In Japan ist der eigentliche Streitgegenstand der Frage nach dem „vorzeitigen Erfolgseintritt“ nicht immer exakt identifiziert. Es bleibt vielmehr mitunter unklar, ob ein Versuchsbeginn vorauszusetzen oder die Diskussion weitergehend sogar bis in das Vorbereitungsstadium auszudehnen ist. Beispielsweise wird vertreten, auch den Fall zu erfassen, „in dem der Erfolg im Vorbereitungsstadium eingetreten ist“25 oder es werden die Fälle so behandelt, als ob kein Unterschied zwischen dem vorzeitigen Erfolgseintritt im Vorbereitungsstadium und demjenigen im Versuchsstadium gäbe26. Ebenso scheint der Vorsatz kein Diskussionsthema zu sein. So werden etwa im Erstickungsfall (oben unter I.) Absicht bzw. Tatplan des Täters für den Zeitpunkt des Erstaktes nicht geschildert27. Gleiches gilt für jenen Fall, in dem der Täter bei den Worten „keine Bewegung, sonst schieße ich“ sein Gewehr versehentlich fallen lässt und das Opfer von dem unerwartet abgefeuerten Schuss getötet wird, bleibt doch auch hier der Tötungsvorsatz zur Zeit des Gewehrvorhaltens offen. Schließlich ist selbst im Keramikfall – der Täter will eine Keramik aus einem Museum draußen zerstören, lässt sie aber vorzeitig fallen28 – nicht erläutert, ob der Beginn der Sachbeschädigung in der Verbringenshandlung erkannt wird. Zur weiteren Diskussion ist aber vorauszusetzen, dass der Täterentschluss zur Tatbestandsverwirklichung spätestens im Zeitpunkt des Erstakts vorhanden ist. Ob man ihn als „Vorsatz“ während der Tatausführung anerkennt, ist dagegen eine andere Frage. Der Tatausführungsbeginn des Erstaktes bildet jedenfalls den Ausgangspunkt der nachfolgenden Betrachtungen.
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Norio Takahashi, Tatausführung und der Zeitpunkt, in dem der Vorsatz vorhanden sein muss, in: Gendai Keijiho 33 (2002), 105. Yamaguchi, Keiho Soron S. 194 schreibt: „Die bisherige Lehrmeinung bezeichnet den Zweitakt als ‘Tatausführung’ und den Erstakt als ‘Vorbereitung’. Er sieht aber das Tragen der Vase, die der Täter zerstören will, als Erstakt, und die Handlung, sie zu zerstören, als Zweitakt an (S. 195). Daraus ergibt sich, dass der Verfasser den von der Vorbereitungshandlung herbeigeführten Erfolgseintritt auch als „vorzeitigen Erfolgseintritt“ erachtet. Masahide Maeda, Keiho Soron Kogi, S. 326. Mikito Hayashi, Keiho Soron, S. 254; Atsushi Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 193.
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2. Die Theorie vom fehlenden Vorsatz Nach dieser Theorie kennzeichnet den „vorzeitigen Erfolgseintritt“ das Fehlen eines Tatausführungsvorsatzes. Sie erläutert das an dem Beispielsfall eines Täters, der einen Dritten, um ihn zu betäuben und anschließend zu erwürgen, mit einer Stange auf den Kopf schlägt, das Opfer aber bereits daran verstirbt29. Der Täter habe hier keine Absicht gehabt, die Tötung durch den Schlag zu verursachen. Mithin sei das Vorsatzdelikt zu verneinen, da der konkret eingetretene Erfolg nicht durch eine von entsprechendem Tötungswillen getragene Erfolgsverwirklichungshandlung herbeigeführt wurde. Damit ist letztlich irrelevant, ob die Handlung schon das Versuchstadium erreicht oder noch im Vorbereitungsstadium verbleibt. Der Grund für die Ablehnung der Vorsätzlichkeit scheint darin zu liegen, „dass der Täter keine Absicht hatte, den Erfolg durch Schläge auf den Kopf herbeizuführen“. Die Problematik dieser Theorie findet ihren Ursprung in der Zergliederung einer Täterhandlung je nach eingesetzten Tatmitteln in einzelne Teilakte und einer entsprechenden Aufspaltung des Vorsatzes auf jeden konkreten Teilakt. Die Tatausführung besteht aber aus einer Serie von Teilakten, die als bestimmtes Ganzes eine Einheit konstruieren. Als Resultat dieser Auffassung ist der Tötungsvorsatz eigentlich beispielsweise dann zu verneinen, wenn der Täter sein Opfer mit nur einem Stich getötet hat, obwohl er dafür anfänglich ein mehrmaliges Zustechen geplant hatte. Dem ist zu widersprechen, weil der gesamte Komplex der Handlungen eine natürliche Einheit und dem Ganzen einen Sinnzusammenhang formt. In diesem wie in dem obigen Ausgangsfall ist es für die theoretische Betrachtung wichtig, ob die Ersthandlung das Tatausführungsstadium erreicht oder noch im Vorbereitungsstadium stecken bleibt. Im Tatausführungsstadium haben die Einzelakte nämlich einen einheitlichen Sinn, weshalb sich der Vorsatz nur auf die Tatausführung, nicht aber den einzelnen Akt beziehen muss. Der Tatbestandsvorsatz ist kein singulärer Wille, der jeweils die einzelnen körperlichen Bewegungen getrennt herrscht, sondern ein die gesamte Tatausführung beherrschender Tatbestandsverwirklichungs- und Geschehensgestaltungswille30. Im oben genannten Erstickungsfall, in dem der Täter sein Opfer im Meer ertränken will, kann man nicht behaupten, dass der Täter nicht den Vorsatz hatte, das Opfer durch Ersticken zu töten. Ist das Einschlagen auf das Opfer schon die Tatausführung des Mordes, dann liegt der Vorsatz zum Ermorden vor. Es bleibt nur 29 30
Saku Machino, Keiho Soron Kogian, 1995, S. 248. Vgl. Yamanaka, Keiho Soron I (1999), S. 300 ff.
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die Frage, ob der eingetretene Erfolg auch zum Vorsatz zurechnet werden kann.
3. Die Lehre vom Regressverbot Ein japanischer Regressverbotsansatz verneint beim „vorzeitigen Erfolgseintritt“ den Vollendungsvorsatz. Zwar seien im Keramikfall Vorstellung oder Voraussicht der Keramikbeschädigung nicht zu verneinen, die Frage sei jedoch, ob man diese Vorstellung/Voraussicht noch als Vorsatz zu einer Sachbeschädigung bezeichnen kann, weil der Täter sich seine vorsätzliche Tat noch vorbehalten hatte. Ein „vorsätzlicher“ Erstakt mit dem Vorbehalt des vorsätzlichen Zweitakts schließt aber nach dem Regressverbotsprinzip eine tatbestandsmäßige Tat aus, die Vorstellung oder Voraussicht des Erfolges beim Erstakt mithin ist mangels tatbestandsmäßiger Tathandlung kein Vorsatz31. Allerdings führt der Autor fort: „Man kann objektiv gesehen die tatbestandsmäßige Handlung zwar bejahen, aber mangels Vollendungsvorsatz nicht das vorsätzliche Delikt. Wird in diesem Fall die Fahrlässigkeitstat sanktioniert, dann ist nur das Fahrlässigkeitsdelikt zu bejahen“32. Andererseits meint er aber dann: „Beim Versuch wird das Regressverbotsprinzip wegen der Vorverlagerung der Bestrafung modifiziert und in der Stufe, in der sich der Täter seinen weiteren Zweitakt vorbehält, der Versuch bejaht“33. Deswegen ist im Brandstiftungsfall der Versuch der Brandstiftung zu bejahen34. Somit verneint diese Auffassung die Vollendung mangels Adäquanz und Vorsatz, bejaht aber beim Versuch den „Vorsatz zum Versuch“, weil zwischen Vollendungs- und Versuchstatbestand zu differenzieren sei35. Letzterer sei ein Gefährdungstatbestand, für den es des subjektiven Tatbestandsmerkmals des Gefährdungsvorsatzes bedürfe. Der Versuchsvorsatz ist danach vom Vollendungsvorsatz zu trennen. Dieser Auffassung sind mehrere Kritikpunkte entgegen zu halten: Erstens sieht sie im Regressverbot fälschlicherweise ein Abgrenzungskriterium für Täterschaft und Teilnahme. Werde die Haupttat nämlich vom „Vorsatz zum Tatbestandserfolg“ getragen, dann soll mangels (adäquaten) Kausalzusammenhangs 31 32 33 34 35
Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 194; Ders., Mondaitankyu Keiho Soron, 1998, S. 141. Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 194. Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 195 Vgl. Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 195. Vgl. Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 229 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
zwischen „Beteiligungshandlung“ des Hintermannes und Tatbestandserfolg des Vordermannes eine „Täterschaft“ des Hintermannes nicht vorliegen36. Damit aber wäre beim „vorzeitigen Erfolgseintritt“ ein täterschaftlicher Erstakt zu verneinen. Wenn der Regressverbotsansatz gleichwohl den Versuch bejaht, begibt er sich mit dem angenommenen Versuch des Täterschaftstatbestands ohne Täterschaft in einen begrifflichen Widerspruch. Zweitens ist der Unterscheidung zwischen Vollendungs- und Versuchsvorsatz als aliud nicht beizupflichten. Zwar beinhaltet der Versuch ein Gefährdungsdelikt, doch muss der Vorsatz stets auf den Tatbestandserfolg gerichtet sein (überschießende Innentendenz). Der Regressverbotsansatz verneint nicht nur den Vorsatz zum Tatbestandserfolg und die Tatbestandshandlung des Vollendungsdelikts, er bejaht vielmehr gleichzeitig auch die Erfüllung des Versuchstatbestandes und trägt damit nur zur Verwirrung anerkannter Straftatskategorien bei. Drittens benutzt diese Auffassung keinen Tatausführungsbegriff, kann mithin die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens hinsichtlich Erfolg oder Gefährdung immer nur nachträglich entscheiden. Es fehlt ihr demnach an Praktikabilität, muss doch die Grenze der tatbestandsmäßigen Handlung in einem präventionsorientierten Strafrecht immer ex ante bestimmt werden können.
4. Kenntnis vom Risiko des Erfolgseintritts? Kernpunkt der Argumentation einer neueren Publikation speziell zum „vorzeitigen Erfolgseintritt“37 ist das Innehaben einer positiven Kenntnis vom diesbezüglichen Risiko. Danach ist der Vorsatz ausgeschlossen, wenn der Täter das Risiko des künftigen Erfolgseintritts nicht erkennt – selbst wenn die Kausalität oder die objektive Zurechnung zu bejahen ist38. Im Balkonfall wird der Vollendungsvorsatz abgelehnt, weil der Täter das Opfer ergreifen und insoweit das Risiko zum tödlichen Absturz mindern wollte: „Der Täter erkennt nur die Tatsache der Risikoverringerung. Insofern er das Risiko zum Sturztod nicht wenigstens erkennt, ist Tötungsvorsatz zu verneinen“39. Leider ist der von dieser Theorie verwendete Begriff der „Erkenntnis des Erfolgseintrittsrisikos“ nicht hinreichend geklärt. Meiner Ansicht nach erkennt 36 37 38 39
Yamaguchi, Keiho Soron, 2001, S. 260. Tetsuya Ishii, Zur sog. verfrühten Tatbestandsverwirklichung, Nara Hogakkai Zasshi 15, 1=2, 2002, S. 1 ff. Ishii, a.a.O., S. 34. Ishii, a.a.O., S. 36
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der Täter im Balkonfall zwar nicht den Todeserfolg, sicher aber das objektive „Todesrisiko“ seiner Zugriffshandlung. Er hat demnach Risikoerkenntnis. Im Schraubenschlüssel-Fall bejaht der Autor hingegen Vorsatz zum Tötungsversuch, weil der Täter mit dem Herauswerfen des unmittelbar zuvor mit dem Schraubenschlüssel bewusstlos geschlagenen Opfers aus dem Zugfenster das Versuchsrisiko verwirklicht habe. Grund und Resultat dieses Satzes sind allerdings unklar. Der Autor unterscheidet zwischen Vollendungs- und Versuchsvorsatz, belässt den Inhalt beider Vorsatzarten begrifflich aber undifferenziert.
IV. Theoretische Betrachtung 1. Der Lösungsweg Ausgangspunkt ist die Frage, ob der Erstakt schon den Beginn der Tatausführung erreicht oder noch in der Vorbereitungsstufe verbleibt. Sodann ist zweitens der Zusammenhang von Tatausführung und Vorsatz zu problematisieren: Sind beispielsweise Fälle denkbar, in denen trotz fehlenden Vorsatzes der Anfang der Tatausführung eines Vorsatzdeliktes gegeben ist? Kommt es für den Vollendungsvorsatz auf die Vorstellung des Täters an, ob schon der Erstakt zum Erfolgseintritt genügend ist? Werden der Beginn der Tatausführung und auch der Vorsatz bejaht, bleibt drittens noch die Frage der objektiven Zurechnung oder eines Irrtums.
2. Der Beginn der Tatausführung a) Beginn nach Beendigung? Hinsichtlich des Beginns der Tatausführung ist die materiell-objektive Theorie in Japan herrschende Meinung. Daneben werden noch die Theorie der aktuellen Gefahr und diejenige der konkreten Gefahr vertreten, die sich insbesondere in Fällen der Distanzdelikte und der mittelbaren Täterschaft unterscheiden: Nach der Theorie von der aktuellen Gefahr ist der Beginn der Tatausführung, etwa eines Absendens vergifteten Weines, auf dem Postamt bzw. im Zeitpunkt des „Aus-der-Hand-Lassens“, erreicht. Diese Theorie wird gemeinhin auch „Abschickungstheorie“ genannt. Im Gegensatz dazu ist nach der Theorie von der konkreten Gefahr auf den Zugang, also den Zeitpunkt des Gefahreintritts in der Herrschaftssphäre des Verletzten abzustellen. Sie wird als „Erreichungstheorie“ bezeichnet. Im japanischen StGB ist der Versuch wie folgt geregelt: „Wer die Ausführung einer Straftat angefangen, sie jedoch nicht verwirklicht hat, kann in der Strafe
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
gemildert [...] werden“. Der Täter muss also seine „Ausführungshandlung“ (die Tatbestandshandlung) begonnen haben, wenn er wegen Versuchs bestraft werden soll. Der Anfang der Ausführung darf daher nicht nach Beendigung der Ausführungshandlung beginnen. Dazu steht die „Erreichungstheorie“ begrifflich im Widerspruch. Gleichwohl scheint die „Erreichungstheorie“ im Ergebnis kriminalpolitisch adäquat und richtig zu sein. In der deutschen Wissenschaft wird der Versuchsbeginn beim beendeten Versuch in dem Eintritt des Opfers in den Wirkungskreis des Tatmittels oder in der Beendigung der Täterhandlung gesehen. Die vorherrschende Lehre von der Alternativ-Formel40 bejaht Versuchsbeginn, wenn der Täter den Geschehensverlauf aus seinem Herrschaftsbereich entlassen hat. Es ist nicht notwendig, dass in engerem Zusammenhang mit der Tatbestandsverwirklichung auf das Opfer bzw. seine Sphäre eingewirkt wird. In Japan ist nach der Theorie von der konkreten Gefahr in diesem Fall kein Versuchsbeginn gegeben, weil noch keine konkrete Gefahr besteht. Beginn und Beendigung der Tatausführung bedeuten Anfang und Ende der tatbestandsmäßigen Handlung. Der beendete Versuch beginnt nicht nach der Beendigung der tatbestandsmäßigen Handlung, weil es logisch keinen Beginn nach der Beendigung geben kann. Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Die Antwort lautet: Anfang der Tatausführung ist kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff. Begeht der Täter eine ex ante gesehen risikoschaffende Handlung, begeht er eine potenzielle Tatausführungshandlung. Diese potenzielle Tatausführungshandlung entsteht mit dem konkreten Risikozustand, wird ex post als konkret gefährliche bewertet und somit dann als „Tatausführung“ qualifiziert41. Ist der notwendige Kausalverlauf zum Erfolgseintritt in Gang gesetzt, liegt die aktuelle Gefahr, also die Risikoschaffung der Handlung, vor. Um dieser risikoschaffenden Handlung die Eigenschaft einer potenziellen Tatausführung zu attestieren, bedarf es einer weiteren Bedingung, damit die Tatausführung auch eine Täterhandlung darstellt: Zwischen dem geschaffenen Risiko und dem Erfolgseintritt darf keine Handlung eines Fremden treten, der normativ verantwortlich handelt42. Es ist problematisch, ob zum Erstakt eines 40 41
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Dazu Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, 2003, S. 397 f. Zur Theorie der nachträglichen Regressbewertung Yamanaka, Keiho Soron Bd. 2, 1999, S. 681; Ders., Zum Beginn der Tatausführung in: Hirsch / Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 111 ff. In Deutschland wird die Zwischenakttheorie wegen ihrer Unbestimmtheit kritisiert; vgl. Otto, Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl., 2004, S. 253 (= § 18 Rn. 29). Ich beschränke den Zwischenakt auf normativ sinnvolle und alltägliche Akte.
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„vorzeitigen Erfolgseintritts“ auch das Dazwischentreten eines eigenen Zweitaktes gehört.
b) Tatausführung beim vorzeitigen Erfolgseintritt Die konkrete Gefahrschaffung der vollzogenen Handlung muss im Zeitpunkt ihrer Ausführung ex ante prognostiziert werden können. Es bedarf daher der Prüfung, ob im Falle eines vorzeitigen Erfolgseintritts das zuvor notwendige Risiko eines solchen trotz unterbliebenen Zweitakts von dem Erstakt begründet bzw. erhöht worden ist. Objektiv betrachtet scheint beispielsweise das Einatmenlassen des Chloroforms oder das Bewusstlosschlagen mit einem Stecken eine gefährliche Handlung zu sein, da es in den beiden oben benannten Fällen tatsächlich direkt zum Erfolgseintritt geführt hat. Im Küchenschrank-Fall führt die Lagerung der Frau nur zusammen mit der dazwischen tretenden Opferhandlung zu dessen Tode. Die Opferhandlung ist aber nicht normativ sinnvoll, weil das Opfer keine Ahnung von den konkreten Umständen hat. Nur aus objektiver Perspektive ist das Problem nicht zu lösen. Vielmehr ist bei der Beurteilung der Risikoschaffung der subjektive Tatplan des Täters zu berücksichtigen: Wenn der Täter seinen eigenen Zweitakt noch vorsieht, müssen auch diese subjektiven Umstände für die Risikobeurteilung hinzugezogen werden. Eigentlich muss die Festsetzung der Risikoschaffung ex ante, d.h. auf der Basis der objektiven und subjektiven Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Täterhandlung, vorgenommen werden. Eine solche genügende Risikoschaffung, die notwendigerweise zum Erfolgseintritt führen kann, liegt noch nicht vor, wenn der Täter sich seinem Tatplan nach noch Zweitakte, die einen normativen Sinn haben, vorbehält43. Das letzte Hindernis vor der eigentlichen Tathandlung muss überwunden werden44. Die potenzielle Tatausführung muss deshalb eine Handlung sein, die keinen weiteren eigenen Zweitakt vorbehält. Diese Erklärung ist jedoch nicht überzeugend, ist doch im Fall des unbeendeten Versuchs der Anfang der Tatausführung auch dann zu bejahen, wenn der Täter einen eigenen Zweitakt vorsieht. Tatbeginn liegt vor, selbst wenn der Täter noch einen entscheidenden eigenen Akt geplant hat. Das Zielen mit der Pistole ist folglich schon Beginn des Versuchs, obwohl erst noch auf das Opfer 43 44
Nach der Teilaktstheorie bzw. Zwischenaktstheorie; vgl. BGHSt 26, 201; Roxin, a.a.O., S. 370, Fn. 147. BHG, NStZ 2002, 309, 310.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
geschossen werden muss. Ebenso bedeutet die Inbrandsetzung der Zeitung schon Beginn der Tatausführung am Gebäude, obwohl zur Inbrandsetzung des Gebäudes die eigentlich entscheidende Handlung – der Einsatz der brennenden Zeitung als Tatmittel im Gebäude – fehlt. Um einen geplanten Zweitakt als normativ wesentlichen dazwischen tretenden Akt bezeichnen zu können, ist sein Charakter zu definieren: Es genügt nicht, dass zwischen dem ausgeführten Erstakt und dem geplanten Zweitakt keine große räumlich-zeitliche Distanz45 besteht, es dürfen vielmehr nicht alltägliche, das spezielle Risiko des Erfolgseintritts steigernde Handlungen hinzukommen. Im deutschen Autotransport-Fall gibt es Fahrten, die an sich nicht das Todesrisiko speziell steigern, und auch im Küchenschrank-Fall treten eine Reihe alltäglicher häuslicher Handlungen der Frau dazwischen. Der Erstakt ist deshalb nicht als tatbestandsmäßige Handlung zu bezeichnen. Das eher indirekte Risiko ähnelt mehr demjenigen eines Teilnahmeakts, der zwischen dem Erfolg und der Täterhandlung vorkommt.
3. Der Vorsatz beim Erstakt Bei den Erfolgsdelikten bedarf der Vorsatz einer Vorstellung der Risikoschaffung durch eben die einschlägige Tathandlung sowie eines Willens zur Erfolgsverwirklichung. Es kommt aber nicht auf die Vorstellung an, dass die Handlung die letzte entscheidende Handlung zum Erfolgseintritt ohne weitere Zwischenakte ist. Vorsatz ist lediglich die subjektive Spiegelung der Tatausführung, so dass die Vorstellung, alles für den Erfolgseintritt notwendige getan zu haben, nicht erforderlich ist46. Im Luftinjektions-Fall liegt die Tatausführung schon mit der täterschaftlichen Ausübung der Gewalt über das Opfer vor, d.h. Vorsatz besteht schon in diesem Zeitpunkt. Der Vorsatz beim Erstakt „verursacht“ den Tatbestandserfolg. Der Kausalverlauf zu diesem Erfolg weicht jedoch von der Vorstellung des Täters ab. Der
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BGHSt 26, 201; BGH NStZ 2002, 309, 310. Die Entscheidung im letzten Autotransportfall erachtet noch „weitere wesentliche Zwischenschritte“ und „großen räumlichen und zeitlichen Abstand“ nach dem ersten Zugriff auf das Opfer als notwendig. Wolter, Vorsätzliche Vollendung ohne Vollendungsvorsatz und Vollendungsschuld. Zugleich ein Beitrag zum Strafgrund der Vollendung, in: Festschrift für Leferenz, 1983, S. 549; vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, S. 300 f.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 623.
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Irrtum über den Kausalverlauf schließt nicht den Vorsatz aus, sondern der abweichende Kausalverlauf die objektive Zurechnung47.
4. Die Falllösung im Balkonfall Beim Balkonfall ist fraglich, ob das Ergreifen „Tatausführung“ der geplanten Gasvergiftung ist. Nach oben entwickelter Theorie sind zwischen Ergreifen und Opfertod durch Gasvergiftung mehrere alltägliche Handlungen getreten: Der Täter muss das Opfer zuerst ins Zimmer bringen, die Türen schließen, das Opfer so fesseln, dass es sich nicht bewegen kann, und am Ende noch den Gashahn aufdrehen. Dem Ergreifen folgen mithin mehrere alltägliche Zwischenhandlungen. Die Handlung ist deshalb nur Vorbereitungshandlung. So gesehen scheint eher ein Fall des dolus generalis vorzuliegen: Zuerst hat der Täter die Tat mit Tötungsvorsatz begangen, nach der Tat trat aber sein fahrlässiges Herunterfallenlassen dazwischen. Objektiv ist ihm der Tod durch den Sturz nach dem vorsätzlichen Zustechen zurechenbar, da es ein Risiko der Tötung geschaffen und dieses sich im Todeserfolg realisiert hat. Eine dazwischentretende fahrlässige Täterhandlung unterbricht in der Regel nicht die Zurechnung. Am Ergebnis des Falles ändert sich nichts: Vollendetes Tötungsdelikt48.
5. Die Falllösung im Chloroformfall Trotz der Entscheidung des OGH ist es zweifelhaft, ob das Einatmenlassen des Chloroforms schon Teil der von den Angeklagten geplanten Tötung ist. Die Entfernung von 2 km und der zeitliche Abstand von 2 Stunden nach dem Chloroform-Verabreichen sprengt den „engen Zusammenhang“, das Fahren als alltägliche Handlung trennt beide Geschehen. Der Transport des Opfers mit dem Wagen ist keine spezielle Risikoschaffungshandlung zum konkret eingetretenen Erfolg, sondern nur eine reine Vorbereitungshandlung. „Die zur Tötung führende objektive Gefahr“ des Erstakts wird nach dem Tatprojekt der Täter durch die geplante Transporthandlung unterbrochen. Der Tatausführungscharakter des Erstakts ist demnach zu verneinen, die Körperverletzung
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Yamanaka, Von dem Irrtum über den Kausalverlauf und der Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs, in: Kansai University Review of Law and Politics, No. 2 (1981), S. 35 ff.; Ders., Keiho Soron, Bd. 1, 1999, S. 331 ff. Im Balkonfall scheint es mir so zu sein: Hätte das Gericht dolus eventualis hinsichtlich des „Ergreifen“ festgestellt, wäre der Fall einfacher, d.h. nicht mit derart komplizierten dogmatischen Konstruktionen, gelöst worden.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
mit Todeserfolg (§ 205 jStGB) neben der Tötungsvorbereitung (§ 201 jStGB) hingegen zu bejahen.
V. Fazit Im Fall des vorzeitigen Erfolgseintrittes geht es grundsätzlich darum, ob der Erstakt den Beginn der Tatausführung bedeutet. Der Anfang der Tatausführung ist danach zu bestimmen, ob erstens der Erstakt eine direkte risikoschaffende Handlung darstellt und zweitens das geschaffene Risiko den konkreten Risikozustand herbeigeführt hat. Die erste Beurteilung wird ex ante, die zweite ex post gefällt. Dabei ist der Tatplan des Täters in die Beurteilungsbasis einzustellen. Wenn danach ein Dazwischentreten alltäglicher Handlungen vorgesehen ist, ist eine direkte aktuelle Risikoschaffung zu verneinen: Eine „potenzielle Tatausführung“, die Gegenstand der Regressbewertung ex post werden kann, ist nicht vorhanden – der Erstakt deswegen keine Tatausführung. Bezüglich des Vorsatzes bedarf es keines besonderen „Vollendungsvorsatzes“. Vorsatz ist der subjektive Zustand bei der Tatausführung. Es handelt sich mithin nur um die Frage nach einem Irrtum über den Kausalverlauf, die aber eigentlich kein Problem des Irrtums darstellt, sondern ein solches der objektiven Zurechnung. Im Fall des vorzeitigen Erfolgseintrittes wird die objektive Zurechnung grundsätzlich bejaht, so dass die Frage des Kausalitätsirrtums ein bloßes Scheinproblem ist. In der japanischen Wissenschaft und Judikatur ist der vorzeitige Erfolgseintritt erst im Begriff, näher erörtert zu werden. Der Beitrag will die zukünftige Diskussion anregen.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen – Betrachtungen anhand der japanischen Diskussion –
I. Einleitung Aktueller Anlass der jüngeren umfangreichen Erörterung zur Beihilfe durch sog. neutrale Handlungen1 war das BVerfG-Urteil im Dresdner-Bank-Fall2 aus dem Jahre 1994. Die Thematik war allerdings bereits lange zuvor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts3 in der Lehre und dann nach der Wende zum 20. Jahrhundert vermehrt auch in der Judikatur des Reichgerichts4 erörtert worden. Das heutige wissenschaftliche Interesse5 ist maßgeblich einem Aufsatz6 des Jubilars zu verdanken, der im Jahre 1977 die Aufmerksamkeit auf die Problematik der „neutralen Beihilfe“ gelenkt hat. Ausgangspunkt des Jakobschen Lösung war es, die neutrale Beihilfe als Zurechnungsgrenze bei mehreren Tatbeteiligten zu verstehen, die allesamt kausal zum Haupttaterfolg beigetragen haben. Für Jakobs ist die Zurechnung eines sog. mittelbar verursachenden Verhaltens mittels der deliktischen Planung zu definieren, wenn der Beteiligte sein Verhalten durch eigene delikti1
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Andere Bezeichnungen sind: „Alltagshandlung“, „berufstypisches Verhalten“, „professionelle Adäquanz“ (Winfried Hassemer, wistra 1995, 41, 43 ff.) oder „übliche Geschäftstätigkeit“; vgl. dazu Harald Niedermaier, Straflose Beihilfe durch neutrale Handlungen?, ZStW 107 (1995), S. 507; Kai Müller, Beihilfe durch wirtschaftliches Handeln, Schreiber-Festschrift (2003), S. 344. BVerfG wistra 1994, 221 ff. Die Entscheidung hat bei anderen Geldinstituten viele Durchsuchungen wegen ähnlicher Fälle veranlasst; vgl. Hendrik Schneider, Neutrale Handlungen: Ein Oxymoron im Strafrecht?, NStZ 2004, 314. Joseph Kitka, Über das Zusammentreffen mehrer Schuldigen bey einem Verbrechen und deren Strafbarkeit (1840), S. 62 f. RGSt 37, 321; 39, 44; 60, 6; 75, 112 usw.; vgl. dazu Monika Wolff-Reske, Berufbedingtes Verhalten als Problem mittelbarer Erfolgsverursachung (1995), S. 41 ff. Schneider (Fn. 2) hat die Problematik der Beihilfe durch neutrale Handlungen in drei Entwicklungsphasen eingeteilt: Die erste Phase von 1840 bis 1920 behandelte die Frage als Vorsatzproblem. Danach war bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Latenzzeit. Die zweite Phase begann mit dem Aufsatz des Jubilars (vgl. Fn. 6) im Jahre 1977 und dauerte bis 1993. Die dritte Phase währt seit dem oben benannten Dresdner-BankFall (Fn. 2) bis heute. Günther Jakobs, Regressverbot beim Erfolgsdelikt, ZStW 89 (1977), S. 1 ff., S. 20.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
sche Planung motiviert hat oder es sich in entsprechende Tatpläne eines Dritten einpassen lässt7. Die hier zu behandelnde Zurechnungsfrage bezieht sich auf die Zurechnung der Handlungen mehrerer scheinbar Beteiligter und unterliegt der Lehre vom Regressverbot8. Diese Konzeption führt bei beruflich bedingten mittelbaren Erfolgsverursachungen zu der These, dass für „die üblichen Austauschgeschäfte des täglichen Lebens“ nicht gehaftet wird9. Nach Jakobs ist die Haftung für berufliche Handlungen, obwohl als Unterstützungshandeln allein zu verbrecherischen Zwecken ausgenützt, dann auszuschließen, wenn „der Inhalt des Verhaltens stereotyp und von Dritten nur abrufbar, nicht aber formbar“ ist10. Deshalb bleibt der Verkauf eines Schraubenziehers selbst dann straflos, wenn der Verkäufer weiß, dass er nur zur Durchführung eines Einbruchsdiebstahls erworben wurde11. Wenn der Bäcker dem Kunden das Brötchen, in welchem dieser das Gift verbergen will, in Kenntnis von dessen Mordplan verkauft, ist der Bäcker nicht wegen Beihilfe zum Mord zu bestrafen, es sei denn, er hätte ein speziell gebackenes und ansonsten nicht veräußerbares Brötchen verkauft12. Roxin kritisiert diese Ergebnisse, weil Jakobs damit die alltäglichen Geschäfte gemeinhin für straflos erklärt. Seine Argumentation ist folgende: Der deliktische Sinnbezug ist in den Fällen gegeben, in denen der Verkäufer von diesem einzigen Zweck des Kunden weiß. Durch dieses Wissen verliert nämlich das Handeln den Charakter der neutralen Alltagsgeschäfte. Trotz Tätigung eines „üblichen“ Verkaufs werde man eine Beihilfe schwerlich bestreiten können, wenn der Käufer dem Verkäufer geradezu mitteilt, dass er die gekauften Gegenstände für einen Einbruch bzw. einen Giftmord benutzen will. Warum solle es anders sein, wenn er diese Informationen auf sonstige Weise erhält13? Trotz unterschiedlicher Argumentationen und konkreter Resultate ist heutzutage der Ausgangspunkt von Jakobs, die Frage neutraler Beihilfe auf der Ebene der objektiven Zurechnung zu lösen, weithin anerkannt. Mir scheint deshalb die gegenwärtige Aufgabe der Wissenschaft eher darin zu liegen, die Problematik unter geeigneten Blickwinkeln differenzierend zu analysieren und
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Jakobs, ZStW 89, S. 23. Jakobs, Strafrecht AT (2. Aufl. 1991), 24. Abschn., Rn. 13. Jakobs, (Fn. 8), 24. Abschn., Rn. 17. Jakobs, ZStW 89, S. 27. Jakobs, ZStW 89, S. 20; Claus Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2 (2003), S. 209. Jakobs, (Fn. 8), 24. Abschn., Rn. 17; Ders. ZStW 89, S. 27 Anm. 83. Roxin, AT, S. 210; Ders., Was ist Beihilfe?, Miyazawa-Festschrift (1995), S. 514.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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entsprechende Fallgruppen zu klassifizieren14. Es bedarf der Bildung von Subkriterien je nach Fallgruppe innerhalb der Zurechnungslehre. So erscheint mir z.B. im Bezug auf die oben genannte Meinungsverschiedenheit zwischen dem Jubilar und Roxin eine Differenzierung danach notwendig, ob der Haupttäter absprachemäßig, nur einseitig oder überhaupt nicht den Teilnahmewillen des Hilfeleistenden kennt. Die bisher vertretenen Lehrmeinungen scheinen drei Lösungsansätze zu vertreten: Erstens eine Einordnung, die das Problem als Vorsatzproblem lösen will. Zweitens ein Lösungsversuch unter Rückgriff auf die Lehre von der objektiven Zurechnung15 und drittens eine Ausrichtung an der Sicht der Teilnahmelehre. Der erste Ansatz ist heute fast überwunden16. Im zweiten Ansatz ist unklar, welche konkreten Zurechnungskriterien bei den verschiedenen Fallgruppen der neutralen Beihilfehandlungen geeignet sind. Der dritte Ansatz wird in der Literatur vereinzelt berücksichtigt, etwa im Solidarisierungsgedanken von Schumann17 oder in der Konzeption der Solidarisierungsbekundung von Schild Trappe18. Hauptsächlich ist bei der Diskussion zweifelhaft, ob ein „Voneinanderwissen vom Tatplan“ zwischen dem Täter und dem „scheinbaren Gehilfen“ vorausgesetzt ist oder nicht. Der Meinungsstreit zwischen dem Jubilar und Roxin beruht auf den verschiedenen Ausgangspunkten hinsichtlich der Kommunikation zwischen Täter und Gehilfen: Es scheint mir eine große Rolle bei den Teilnahmeverhältnissen zu spielen, ob auch der Kunde davon weiß, dass der Verkäufer die einschlägigen Waren in Kenntnis des Tatplanes ausgehändigt hat. Die kommunikativen Verhältnisse beeinflussen nach meiner Auffassung hier die objektive Zurechnung der Teilnahme. Der Beitrag stellt den Meinungsstreit und Entscheidungen aus Japan vor und versucht anhand der deutschen und japanischen Überlegungen eine Differenzierung in Fallgruppen und Unterkriterien der objektiven Zurechnung für die
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Zu bisherigen Eingruppierungen der Fälle vgl. z.B. Marcus Wohlleben, Beihilfe durch äußerlich neutrale Handlungen (1996), S. 13 ff. Zur Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan vgl. meinen Aufsatz: Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Fritz Loos und Joerg-Martin Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, (Festschrift für Maiwald), 2006, S. 57 ff. Die RG-Entscheidungen (Fn. 4) haben das Problem als Vorsatzfrage gelöst. Heribert Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen (1986), S. 54 ff.; 58 ff. Er verwendet das Kriterium der „Tatbzw. Unrechtsnähe“ oder vom „Kern des Unrechts“ (S. 57). Grace Marie Luise Schild Trappe, Harmlose Gehilfenschaft? (1995), S. 96 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
„neutrale Beihilfe“ zu entwickeln. Da nicht Ziel dieses Beitrages19, sehe ich von der Erörterung der deutschen Lehren und Entscheidungen völlig ab, obwohl die folgenden Überlegungen auch auf den deutschen Lehren basieren.
II. Japanische Lehren und Entscheidungen 1. Japanische Lehren Die Arbeiten, die sich in Japan näher mit der Frage der „neutralen Beihilfe“ befassen, sind allesamt im Gefolge der neueren deutschen Lehren entstanden20. Eigenständige Theorien sind deshalb, wenn man von einigen Abweichungen zu den deutschen Arbeiten absieht, nicht zu finden. Meistens beschränken sich die japanischen Beiträge auf eine Vorstellung der theoretischen Lösungsvorschläge in Deutschland, um dann den dortigen Vorgaben zu folgen. Dabei bleiben allerdings sowohl die konkrete Anwendung der jeweils präferierten Theorie als auch die Analysen der aufgeführten Fälle in der Hauptsache vielfach offen.
a) Geschäftsadäquanz und zurücktretende Verhaltensnorm Dieser Ansatz versucht, das Beihilfeproblem aus Sicht der Lehre von der objektiven Zurechnung zu lösen21. Danach ist es für die anstehende Beurteilung überaus wichtig, ob die einschlägige Handlung „den Sinn hat, die Haupttat in den konkreten Tatumständen zu fördern“. Der Verkauf des Schraubenziehers begründet beispielsweise nicht immer eine Beihilfe, da „die 19
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Ausführlich zu den deutschen und schweizerischen Lehren und Entscheidungen mein japanischer Aufsatz: Yamanaka, Strafbarkeit der Beihilfe durch neutrale Handlungen?, Kansai Daigaku Hogaku Ronshu, Bd. 56, H. 1 (2006), S. 34–134. Hier nenne ich nur wichtige Monographien, die ich dort nachgewiesen, aber jetzt nicht zitiert habe: Klaus Pilz, Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch neutrale Handlungen von Bankmitarbeitern (2000); Hans Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten (2004). Zur bisherigen Literatur in Japan vgl. Mitsumasa Matsuo, Die Beihilfe durch neutrale Handlungen, Himeji Hogaku, Nr. 27=28, S. 204 ff.; Nr. 31=32, S. 238 ff.; Soichiro Shimada, Die allgemeinen Anforderungen der Teilnahme im engeren Sinne – Anhand der neuerlichen Diskussion über sog. Beihilfe durch neutrale Handlungen, Rikkyo Hogaku, Nr. 57, S. 76 ff.; Osamu Magata, Alltagshandlung und Beihilfe, Hogaku Shinpo Bd. 111, Heft 2=3, S. 141 ff.; Ders. Alltagshandlung und Beihilfe – Hauptsächlich anhand der japanischen Diskussion, Hogaku Shinpo Bd. 112, Heft 1=2, S. 443 ff.; Takaaki Matsumiya, Keiho Soron Kogi (3. Aufl. 2004), S. 269 ff.; Keiichi Yamanaka, Law School Kogi Keiho Soron (2005), S. 408 f. Matsuo, Himeji Hogaku, Nr. 31=32, S. 293 f.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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Handlung an sich, die fremde Handlungen unterstützt oder fördert, eigentlich neutral und in der alltäglichen und rechtmäßigen Welt ist“. Derartige geschäftlich und regelmäßig gewordene oder in die Organisation eingegliederte Handlungen beruhen nämlich auf Rechtspflichten oder entsprechen ansonsten zumindest sozialen Verpflichtungen – auf ihren Vollzug erstreckt sich eine „normative Handlungserwartung“. Dagegen ist die durch den Gehilfen verletzte Verhaltensnorm eine sog. Ergänzungsnorm, die eine Förderung der normwidrigen Haupttat untersagt. Die Verhaltensnormwidrigkeit der Beihilfe nimmt ihren Inhalt mithin in der Förderung der rechtswidrigen Haupttat. Deswegen tritt der Sinn der Haupttatförderung immer dann zurück, wenn rechtliche Handlungserwartungen existieren, die von den fremden (Täter-)Handlungen völlig getrennt sind22. Diese Auffassung ist wie folgt zu kritisieren: Sie erklärt erstens nicht, was „konkrete Umstände“ bedeutet und wann und warum die Verbotsnorm gegenüber der Haupttatförderung als Ergänzungsnorm zurücktreten muss23. Zweitens ist diese Auffassung auch aus der Sicht der Teilnahmelehre problematisch, weil sie die Verhaltensnormen der Haupttat und der Beihilfe zueinander in das Verhältnis von Haupt- und Nebennorm setzt, für den Täter und den Teilnehmer mithin ganz verschiedene Normen postuliert. Aus Sicht der Verursachungstheorie, die das Verhalten beider Handelnder als gleichermaßen durch die Norm der Erfolgsverursachung verboten erachtet, ist ihr nicht beizupflichten24.
b) Berücksichtigung hypothetischer alternativer Erfolgsursachen Diese Theorie geht davon aus, dass „bei der Beihilfe der Vergleich zwischen dem realen Geschehen und der Situation, in der die Handlung hinweggedacht wurde, unerlässlich ist bei der Beurteilung, ob die Teilnahmehandlung die Gefahr des konkreten Erfolgseintritts durch die Haupttat erhöht hat“25. Hypothetische alternative Erfolgsursachen wie Naturgeschehen, deren Dazwischen22 23
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Matsuo (Fn. 19), S. 294. Es gibt auch die Kritik einer wenig oberflächlichen, einseitigen und nicht überzeugenden Auffassung sowie an dem Ausschluss der Geltung der strafrechtlichen Verhaltensnormen bei äußerlich gewöhnlichen geschäftlichen Verhaltensweisen; vgl. Magata (Fn. 20), Hogaku Shinpo, Bd. 112, Heft 1=2, S. 451. Vgl. Yamanaka, Gedanken zum Akzessorietätsprinzip – Plädoyer für eine japanische Mindermeinung, in: E. Páywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie (1998), Biaáystok, S. 583 ff., bes. 589 ff. Shimada, Rikkyo Hogaku Nr. 57, S. 85; Vgl. auch Shimada, Seihan Kyohanron no Kisoriron (Grundlagentheorie der Täterschaft und Teilnahme) (2002), S. 360 ff.
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treten regelmäßig „mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusehen ist“, sind mithin zu berücksichtigen, menschliche Straftaten als Alternativursachen dagegen nicht26. Die Haupttat des Täters oder Straftaten Dritter dürfen nicht hypothetisch angenommen werden, weil die Erwartung, dass ein anderer keine Straftat begeht, ihre Erfüllung voraussetzt, die den letzten Erfolg verursachende und vom Teilnahmeakt kausal beeinflusste Täterhandlung hingegen schon als „hypothetische Haupttat“ anzusehen ist. „Ob die Haupttat durch den Teilnahmeakt gefördert bzw. die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erhöht worden ist, ist eine über die Haupttat zu fällende Beurteilung. Deswegen muss die tatsächlich begangene mit der hypothetisch angenommenen Haupttat verglichen werden.“27 Für die vor dem Beginn der Tatausführung begangene Beteiligungshandlung gilt dasselbe. Die Tatsache, dass z.B. dem Täter A das Jagdgewehr vom B aushändigt wurde, aber er ansonsten von C ebenfalls ein solches Jagdgewehr bekommen hätte, darf nicht hinzugedacht werden, da das Unterlassen des C wegen Verstoßes gegen das „Gesetz zur Kontrolle der Gewehre und Schwerter“ erwartet wird. Andere „Handlungen außer Straftaten“ dürfen dagegen hinzugedacht werden. Deshalb ist eine Gefahr selbst dann nicht erhöht, wenn dem Täter ein Schraubenzieher aushändigt wurde, den er leicht auch in einem anderen Geschäft hätte erwerben können. Die Berücksichtigung hypothetischer Erfolgsursachen ist nicht überzeugend: Es gibt keinen Grund, die nicht realisierte Ersatzursache hinzuzudenken28. Das Unterkriterium der nicht hinzuzudenkenden alternativen Straftat erklärt nicht das Warum des Hinzudenkens täterschaftlicher Erfolgsverursachung29. Der Versuch, die Straflosigkeit der „neutralen Beihilfehandlung“ durch Berücksichtigung hypothetischer Erfolgsursachen zu erklären, scheint mir nicht die richtige Perspektive zu haben.
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Shimada, Rikkyo Hogaku Nr. 57, S. 88. Shimada, Rikkyo Hogaku Nr. 57, S. 87. In der deutschen Literatur vertreten eine Berücksichtigung hypothetischer Erfolgsursachen u.a. Wolfgang Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (1988), S. 270; Löwe-Krahl, Steuerstrafrechtliche Risiken typischer Banktätigkeiten (1989), S. 116 ff. Zur Kritik gegen diese Theorie aus japanischer Sicht vgl. Magata, Hogaku Shinpo, Bd. 112, Heft 1=2, S. 451 ff. Shimada, Rikkyo Hogaku Nr. 57, S. 86 ff.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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c) Subjektiver Eindruck 30
Diese von Schumann beeinflusste Theorie sieht das Wesen der Straftat in der Pflicht- bzw. Normwidrigkeit. Strafgrund der Teilnahme ist danach, dass der Beteiligte jene Situation verursacht hat, die von den Bürgern als „ein für die Gemeinschaft unerträgliches Beispiel“ eingestuft wird31. Ausgehend von dem Handlungswillen als Grundkonstituens der Normwidrigkeit ist die Beihilfehandlung zur unerlaubten Risikoschaffung des Haupttäters dem Gehilfen zuzurechnen, wenn sein Verhalten aus Sicht der Allgemeinheit unter Berücksichtigung seiner subjektiven Seite und des Grades seiner Normwidrigkeit so zu beurteilen ist, dass es den Eindruck einer Gefahr für die Gemeinschaft hervorruft32. Der Autor Magata folgt diesem Ansatz grundsätzlich. Er bejaht Beihilfe bei Beiträgen, die mit bestimmtem Vorsatz begangen wurden, verneint sie dagegen in den Fällen des unbestimmten Vorsatzes (z.B. dolus eventualis). Bestimmter Vorsatz bedeutet dabei, dass der Beteiligte vom Tatplan des Täters weiß, unbestimmter Vorsatz den Fall gehilfenschaftlicher Ahnungslosigkeit33. Es gibt aber jeweils eine Ausnahme: Im ersten Fall ist dies die eine Verwendung der Sache ermöglichende Hingabe, welche für die betreffende Straftat keinen Eindruck direkter Nützlichkeit hervorruft, z.B. das Aushändigen von Getränken oder Kleidung an den Täter. Hier ist die Beihilfe zu verneinen. Eine Ausnahme der ansonsten abzulehnenden Beihilfe ist bei einer aus objektiver Sicht sehr wahrscheinlichen Ausnützung zur Straftat und diesbezüglicher Täterkenntnis anzunehmen. Beihilfe ist z.B. zu bejahen, wenn ein Mann einem wegen einer Streiterei gerade erregt in seinen Garten eintretenden Fremden den von diesem erbetenen Baseball-Schlager gibt und der Fremde seinen Gegner nun damit erschlägt. Diese Theorie postuliert eine Parallelität des Ob des Wissens um die gegenseitige Kooperation und der Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit des Vorsatzes, obwohl beides eigentlich etwas anderes ist. Die „gegenseitige Kommunikation“ zwischen Täter und Teilnehmer ist kein Vorsatzkonstituens, sondern subjektive Anforderung der Teilnahme. Fehlerhaft ist darüber hinaus der Ausgangspunkt, dass die objektive Zurechnung bei der Beihilfe nach dem bestimmten oder unbestimmten Vorsatz zu differenzie30 31 32 33
Vgl. Schumann, (Fn. 15), S. 49 f. Den Strafgrund der Teilnahme sieht Schumann in der „Solidarisierung mit fremden Unrecht“. Magata, Hogaku Shinpo, Bd. 111, Heft 2=3, S. 187 ff.; vgl. auch Ders., Hogaku Shinpo, Bd. 112, Heft 1=2, S. 458 ff. Magata, Hogaku Shinpo, Bd. 111, Heft 2=3, S. 195. Magata, a.a.O., S. 195 ff.
212
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
ren ist. Es ist methodisch nicht korrekt, wenn diese unterschiedlichen Vorsatzarten die Frage nach der objektiven Risikoschaffung beeinflussen.
2. Japanische Entscheidungen Auch in Japan finden sich Entscheidungen, in denen die „Beihilfe durch neutrale Handlungen“ durchaus hätte näher behandelt werden können.
a) Spielwetten-Fall Schon 1932 hat das japanische Reichsgericht in einem Urteil entschieden: „Auch derjenige, der beruflich Hähne verkauft, wird wegen Beihilfe zur Glücksspielveranstaltung34 bestraft, wenn er das Veranstalten der Spiele durch den Verkauf und die Abgabe eines Kampfhahnes erleichtert, obwohl er weiß, dass der Hahn zu Spielwetten verwendet werden soll“. Das Reichsgericht hat demgemäß den Angeklagten als Gehilfen verurteilt35. Nach der Revisionsbegründung ist zu vermuten, dass im konkreten Fall das Verkaufsgeschäft gerade dort vollzogen wurde, wo die Spieler zwar noch nicht gewettet, sich aber schon zu diesem Zweck versammelt hatten.
b) Ölhandelssteuer-Fall Ein für die Steuererhebung nach dem Gemeindesteuergesetz zuständiger Amtsträger hat Ölhandel zum Zwecke der Steuerhinterziehung betrieben und dadurch ein Steuerdelikt begangen. Der Angeklagte hat wissentlich von diesem Ölhändler/Amtsträger Öl preiswerter als sonst üblich gekauft, was als Mittäterschaft oder als Beihilfe zur Steuerhinterziehung unter dem Gesichtspunkt der alltäglichen Handlungen wie folgt beurteilt wurde36: Das Gericht hat in diesem Fall Mittäterschaft verneint, weil der andere Beteiligte nicht als Mittäter bestraft werden darf, wenn nur einer der einander gegenüberstehenden Beteiligten bei der notwendigen Teilnahme straftatbestandsmäßig erfasst ist. Es hat darüber hinaus auch eine Beihilfe abgelehnt: „Der Angeklagte hat auch das Geschäft mit der T-Chemical-Tec-AG – es ist 34
35 36
„Glücksspielveranstaltung“ bedeutet, dass man als Wettspielleiter einen Platz einrichtet, an dem andere Personen unter fremder Leitung Spielwetten betreiben (jStGB § 186 Abs. 2). Urteil des RG vom 26.9.1932, Keishu 11, 1367. Zu diesem Urteil vgl. Shimada, Rikkyo Hogaku, Bd. 57 (2001), S. 50. Urteil des LG Kumamoto vom 15.3.1994, Hanrei Jiho 1514, 169.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
213
zu vermuten, dass er in der Überzeugung gehandelt hat, der Ölhändler wolle das Ölgeschäft an der Steuer vorbei vornehmen – nicht mit der Absicht einer Hilfeleistung zur Straftat des Händlers die Geschäftsausführung begonnen hat. Er hat vielmehr eher den Verkauf des Öls seitens des Händlers wie schon bisher nur mit der Absicht eigener geschäftlicher Gewinnerzielung durchführen wollen. Dadurch dass er Partner des Ölgeschäfts wurde, hat er nur die Rolle gespielt, die Straftat des Händlers zu verwirklichen. Das war aber nur eine Folge davon, dass er mit der Absicht, seine eigenen materiellen Interessen zu verwirklichen, die Geschäftstätigkeit begonnen hat.“ Das Urteil hat das Kriterium der subjektiven Theorie verwendet, ob der Täter in der Absicht handelt, eigene Interessen zu verwirklichen und außerdem dann für die Beihilfe auf die Lehre von der notwendigen Teilnahme verwiesen, weil die gesetzliche Vorschrift keinen Straftatbestand für den Geschäftspartner beinhaltet. Man kann diese Entscheidung deshalb nicht eindeutig als Beispielsfall einer Beihilfe durch neutrale Handlungen bezeichnen.
c) Sonstige Entscheidungen Daneben sind weitere Entscheidungen zu nennen, in denen die „Beihilfe durch neutrale Handlungen“ vorgenommen, aber nicht immer erörtert wurde. aa) Pistolen-Schmuggel-Fall: Der Angeklagte, der als Japaner in den USA ein Reisebüro betrieb, wurde von dem ihm bekannten Busfahrer A um Pistolen für den Japaner B gebeten. In den USA ist das Geschäft mit Pistolen an sich legal. Der Angeklagte hatte A und B am Flughafen miteinander sprechen gesehen und ohne deren Wissen und Zutun ihre Absicht verstanden, dass sie die Pistolen heimlich in Japan einführen wollten. Die vom Angeklagten ausgehändigten Pistolen wurden wie vorhergesehen nach Japan geschmuggelt, er selbst deshalb wegen Beihilfe zum Waffenschmuggel verurteilt. Die Besonderheit des Falles liegt darin, dass hier der Angeklagte den Tatplan der beiden Täter direkt erkannte, während die Täter nichts von seiner Tatplankenntnis wussten. bb) Flugblätter-Fall: Ein Drucker hatte im Auftrage von A, der berufsmäßig Prostituierte vermittelte, Reklameflugblätter für die Prostitution gedruckt und ausgeliefert37. Nach dem Gericht handelte es sich dabei um Beihilfe zur Prostitutionsförderung: „Da die einschlägige Handlung alle Anforderungen der 37
Urteil des LG Tokyo vom 20.12.1990, Hanrei Times 752, 246. Hier ist noch ein ebenso entschiedener Fall zu benennen: Der Angeklagte druckt und liefert mit dem Vorsatz der Beihilfe zur Vermittlung zur Prostitution (§ 6 Abs. 2 Nr. 3 Prostitutionsgesetz) auf Bestellung des Täters Flugblätter zur Prostitutionsreklame; vgl. Urteil des LG Osaka vom 21.10.1986, Hanrei Times 630, 230.
214
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Beihilfe zur Prostitutionsförderung erfüllt, ist es ausgeschlossen, dass der Angeklagte von seiner Verantwortung entbunden werden kann, weil das Drucken eine rechtskonforme betriebliche Handlung38 ist und er kein Sonderinteresse hinsichtlich der Prostitutionsförderung hatte.“ cc) Wizard-Fall: Der Angeklagte hat für Kfz-Nummernschilder als „Wizard“ benannte Schutzhüllen hergestellt und verkauft, die automatische Fotoaufnahmen bei Geschwindigkeitskontrollen (sog. OBIS) im Straßenverkehr erschweren. Er hat damit die Geschwindigkeitsverletzung den Käufern erleichtert. Hier lässt sich aus der Tatsache, dass der „Wizard“ zum Zweck der Erschwerung von Fotoaufnahmen hergestellt wurde und keine anderen Nutzungsmöglichkeiten gestattete, eine Beihilfehandlung konstatieren. dd) Kuppeleifinanzierungs-Fall: Der Geschäftsführer einer Filiale der Kreditanstalt hatte einem vermeintlichen Bordellbetreiber das Geld für die Eröffnung eines geplanten „privaten Badehauses“ geliehen. Hier kommt für den Geldverleih ein Verstoß gegen § 13 Abs. 1 Prostitutionsgesetz in Betracht, der eine Sondervorschrift für die Beihilfe zum Betreiben von Bordellbetrieben enthält. Der Anwalt hat dagegen argumentiert: „Wenn das Geldverleihen an Bordellbetreiber ein Delikt wäre, dann würden Behörden, die dem Badehausbetreiber die Erlaubnis gegeben haben oder Unternehmen, die ihm Elektrizität bzw. Wasser geliefert haben, gleichfalls Beihilfe zum Delikt des § 11 Abs. 2 Prostitutionsgesetz begehen.“ ee) Unterschlagungs-Fall: Als der Täter einer berufsmäßigen Unterschlagung (§ 253 jStGB) Spargelder, die im Namen einer Gewerkschaft angelegt waren, abheben wollte, hat der Kassierer der Sparkasse dessen (die formellen Anforderungen der Rückzahlung erfüllenden) Rückzahlungsverlangen anstandslos akzeptiert, obwohl er sich dessen unrechter Absichten bewusst war. Das Gericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur berufstätigen Unterschlagung verurteilt und dem Kassierer damit eine Pflicht zur Rückzahlungsverweigerung auferlegt. Mir scheint zweifelhaft, ob der Kassierer über seine formellgesetzliche Pflicht hinaus eine Schutzpflicht für die Spargelder hat.
38
§ 35 jStGB regelt: „Handlungen auf Grund der Gesetze oder von Anordnungen oder ordnungsmäßige betriebliche Handlungen sind straflos.“
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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III. Leitaspekte der Falltypisierung 1. Die Ordnungsgrundlagen Die Problematik der „neutralen Beihilfe“ ist eine solche der objektiven Zurechenbarkeit der Täter- zur „Gehilfenhandlung“. Deren Strafbarkeit als Beihilfe ist danach zu beurteilen, ob die Gehilfenhandlung das Risiko der Tatausführung des Täters geschaffen und sich dieses Risiko in dessen Tat verwirklicht hat39. Dabei ist ausführlicher zu prüfen, welche Fälle welcher Fallgruppe auf der Ebene der Risikoschaffung und welche auf der Ebene der Risikoverwirklichung zu lösen sind40. Die hier zu behandelnde Teilnahmeproblematik gehört eigentlich zum Bereich der objektiven Zurechnung, wobei das „Voreinanderwissen“ von Täter und Gehilfen ein Unterproblem bildet. Nachfolgend ist die „neutrale Beihilfe“ unter Hinzuziehung der verschiedenen Fallentscheidungen und Lehrmeinungen zu untersuchen in Hinblick auf: 1.) Das Ob und Wie der Kommunikation zwischen Täter und Gehilfen, 2.) die Hilfeleistung vor oder nach der Tatausführung des Täters, 3.) die Art und Weise des einseitigen Gehilfenwissens in Fällen fehlender gegenseitiger Kommunikation, 4.) den Grad der Voraussicht des Gehilfen über den Täterplan, 5.) die Abgabe der zur Tatausführung verwendeten Sachen bzw. Informationen oder sonstige Dienstleistungen vor Tatausführung, 6.) ob die Hilfeleistung ausschließlich zu verbrecherischen oder objektiv auch zu sozialnützlichen Zwecken erbracht wurde und 7.) ob die Handlung direkt den „Kernbereich“ der Tatausführung oder indirekt bloß deren „Peripheriebereich“ fördert.
39
40
Vgl. Wolff-Reske (Fn. 4), S. 142. Vertreter der Lösung nach der Risikoerhöhungslehre sind u.a. Niedermaier, ZStW 107 (1995), 523 und Lüder Meyer-Arndt, Beihilfe durch neutrale Handlungen?, wistra 1989, 285. Als Vertreter der Lösung über den Risikoschaffungsbegriff vgl. Hero Schall, Strafloses Alltagsverhalten und strafbares Beihilfeunrecht, Meurer-Gedächtnisschrift (2002), S. 118. Über die Grundstruktur der Beurteilung nach Risikoschaffung und Risikoverwirklichung vgl. Yamanaka, Keiho niokeru kyakkanteki Kizoku no Riron (Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht) (1997); Ders., Keiho Soron (Strafrecht AT), Bd. 1 (1999), § 88, § 6 ff. In deutscher Sprache zur Zurechnungslehre näher Yamanaka, Die Entwicklung und Tendenz der Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: W Kregu Teorii i Praktyki Prawa Karnego, Ksiega poswiecona pamieci Professora Andrzeja Waseka, Lublin / Poland (2005), S. 396–410. Dieser Aufsatz wurde modifiziert und erweitert: vgl. Yamanaka Fn. 15. Zu den verschiedenen Fallgruppen, in denen die Beihilfehandlung sich nicht in der Täterhandlung verwirklicht hat, instruktiv Klaus Letzgus, Vorstufen der Beihilfe, Theo VoglerGedächtnisschrift (2004), S. 49 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
2. Fallgruppen miteinander kommunizierender Täter und Gehilfen a) Beihilfe im Versuchs- oder im Vorbereitungsstadium Die objektive Zurechnung wirft keine Zweifel auf, wenn der Täter die Tatausführung unter gegenseitiger Verständigung vor dem Gehilfen begeht, sofern die Gehilfenhandlung das Erfolgsrisiko der Tat erhöht. Auch die Beihilfe im Versuchsstadium beinhaltet keine Besonderheit, weil der Täter hier normalerweise mit dem Bewusstsein des „Hilfeleistens“ handelt. Das gegenseitige Bewusstsein transformiert das Verhältnis zwischen Täter und Gehilfen von einem anfänglichen, anonymen und unpersönlichen Umgang in ein solches der psychisch solidarischen Kooperation. Hier ist die objektive Zurechnung der Gehilfenhandlung zum Haupttaterfolg grundsätzlich zu bejahen, während die Hilfeleistung im Vorbereitungsstadium der nachfolgenden Differenzierung bedarf.
b) Beihilfe im Kern- oder im Peripheriebereich Förderung im Kernbereich bedeutet, dass die Beihilfehandlung unmittelbar auf die Tatbestandsmerkmale der Täterhandlung oder die Tatmittel gerichtet ist. Hingegen bedeutet Förderung im Peripheriebereich eine Zentrierung auf alltägliche Handlungen des Täters statt direkt auf die Tatbestandshandlung. Letztere Fallgruppe bilden die Fälle, in denen z.B. der Waffenhändler dem Täter die zu schmuggelnden Waffen besorgt oder der Kfz-Verleiher dem Täter wissentlich ein Auto überlässt, mit dem dieser zum Tatort fährt. Charakteristikum der Tatausführung des Täters ist hier die unmittelbare Förderung der Tat in ihrem Kernbereich. Zur ersten Gruppe gehören die Fälle, in denen der Restaurantinhaber dem hungrigen Räuber im Wissen um dessen Tatplan das Essen serviert. Diese Gruppe kennzeichnet keine spezielle Risikoschaffung über das allgemeine Lebensrisiko hinaus, sondern nur normale Lebensrisiken, die eine Befriedigung alltäglicher, grundlegender Lebensbedürfnisse41 so mit sich bringen. Deswegen ist die unerlaubte Risikoschaffung durch Hilfeleistung zu verneinen. Wer einem Fabrikanten zur betrieblichen Verwendung die Materialien liefert, wird nicht wegen Beihilfe zur Verletzung der Umweltschutzgesetze bestraft. Ebenso wenig hat die Frau, die ihrem einen Diebstahl planenden Mann wie immer das Essen besorgt, eine Risikoschaffung bewirkt. Freilich wäre es anders, wenn die Frau ihrem Mann die Lunch-Box selbst extra zum Tatort liefert. 41
Zum Begriff der „Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse“ näher Andreas Ransiek, Pflichtwidrigkeit und Beihilfeunrecht, wistra 1997, 45.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
217
Risikoschaffung bedeutet Schaffung eines speziellen Erfolgsrisikos, nicht eines allgemeinen Lebensrisikos. Die Schaffung allgemeiner Lebensrisiken im Peripheriebereich begründet kein unerlaubtes Risiko, das objektiv zurechenbar ist. Deswegen spielt es keine Rolle, ob entweder eine berufstätige oder eine persönliche Handlung begangen wurde. Das Urteil der Risikoschaffung ist ex ante zu fällen, das Ob der Verständigung zwischen Täter und Gehilfe irrelevant. Strafbare Beihilfe wird deshalb immer verneint.
3. Fallgruppen fehlender gegenseitiger Kommunikation zwischen Täter und Gehilfe a) Bevorstehen und Voraussicht der Tatausführung Straflose Beihilfe durch neutrale Handlungen entsteht typischerweise in Fällen sog. „einseitiger Beihilfe“, in denen nur der Gehilfe wissentlich beteiligt, der Täter hingegen ohne Ahnung von der „Hilfeleistung“ ist42. Hier ist zuerst jene Fallgruppe zu nennen, in der die Tatausführung des Täters für Jedermann als zeitlich bevor- und räumlich nahe stehend erkennbar ist, obwohl die Hilfeleistung noch im Vorbereitungsstadium stattfindet (Fallgruppe bevorstehender Fallausführung). Ein solcher Fall ist beispielsweise dann gegeben, wenn ein Verkäufer einem gerade geschlagenen und verwundeten Mann, der wütend den Rücken seines Gegners betrachtet, ein Küchenmesser verkauft. Bei derartigen Hilfeleistungen wird strafbare Beihilfe im Prinzip bejaht, weshalb diese Fälle bei den folgenden Betrachtungen außer Betracht bleiben. Daneben ist zweitens eine Fallgruppe zu nennen, in welcher der Gehilfe die Information über die Sicherheit der möglichen Tatausführung ohne Zutun des Täters von Dritten erhält oder sie von sich aus selber entdeckt (Fallgruppe vorhersehbarer Tatausführung). Dazu bedarf es objektiv der festen unmittelbaren Kenntnis von der subjektiv vorausgesehenen Wahrscheinlichkeit der späteren Tatausführung – z.B. wenn ein Messerhändler dem Räuber ein Küchenmesser verkauft, obwohl er aufgrund dessen bisheriger Lebensführung vorhergesehen hat, dass jener einen Raub begehen will43. 42
43
Es gibt hier zwei Fallgruppen: Einerseits hat der Täter überhaupt keine Ahnung von der Existenz des Gehilfen. Andererseits kennt er zwar dessen Dasein, weiß aber nicht, dass jener seinen Tatplan kennt. Ob die Nichtanzeige geplanter Straftaten bestraft wird (§ 138 StGB), bleibt ohne Einfluss auf die Strafbarkeit der neutralen Beihilfe bei tatbestandsmäßigen Taten des § 138.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
b) Eindeutige Tatförderung und gleichzeitige Sozialnützlichkeit Die Fallgruppe der „einseitigen Beihilfe“ ist darüber hinaus in zwei weitere Fallgruppen zu unterteilen: Zum einen die Fälle der eindeutigen Tatförderung, in denen objektiv besehen die Beihilfe ausschließlich oder auch deswegen begangen wird, um die Tatbegehung des Täters zu fördern. Beispiel ist hier der Fall, wo ein Taxifahrer zufällig in einem Restaurant am Nebentisch vom Komplott einer Räuberbande hört, an einem bestimmten Ort einen Raub zu begehen, und er sie anschließend nach ihrem Taxiruf zu dem betreffenden Ort fährt. Zum anderen die Fälle der gleichzeitigen Sozialnützlichkeit, wo die Hilfeleistung objektiv ein normales Geschäft darstellt und zugleich einen sozialnützlichen Sinn hat, es sei denn, der Hilfeleistende weiß vom Tatplan des Täters. Beispiel ist hier ein in derselben Situation wie der eben beschriebene Taxifahrer befindliche Omnibusfahrer, der die Räuber von der Bushaltestelle bis zu ihrem Zielort mitnimmt. In diesen Fällen sind die geeigneten Zurechnungskriterien je nach Fallgruppe nacheinander zu kombinieren.
IV. Die Fallkonstellationen der einseitigen Kommunikation Die Fallkonstellationen der einseitigen Kommunikation sind in die Fälle der ab- bzw. hingegebenen Tatgegenstände/Tatmittel und in die Fälle der tatausführungsfördernden Dienstleistungen zu unterteilen. Hintergrund dieser Differenzierung ist die Verschiedenartigkeit der Hilfeleistungen hinsichtlich der dauernden Einwirkungen auf die Tatausführung des Täters: Die kausalen Verbindungen bei der Abgabe von Gegenständen oder bei technischen Informationen über das Sicherheitssystem des zum Einbruch erwählten Unternehmens sind hier objektiv plausibel und in ihren Einwirkungen bis zur Tatausführung des Täters offensichtlich fortwirkend. Es gibt aber auch Fallkonstellationen psychischer Ermunterung oder sonstiger Dienstleistungen wie ein Tätertransport zum Tatort, die im Vorbereitungsstadium einen schwer nachweisbaren, unsicheren Kausalzusammenhang konstituieren.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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1. Das Aushändigen gefährlicher Gegenstände a) Tatbewirkende Gegenstände 44
Im Flugblätter-Fall ist unverkennbar, dass die Flugblätter bzw. Broschüren zum Zwecke der besseren Vermittlung von Prostituierten hergestellt wurden. Zudem hat der Drucker vom Inhalt der Flugblätter gewusst und es ist mehr als nahe liegend, dass diese Gegenstände für die Straftat der Werbung für Prostitution verwendet werden. Sie gehören deswegen quasi zum „Kernbereich“ der Straftat des Täters. Entsprechend ist der Angeklagte auch im PistolenSchmuggel-Fall45 wegen Beihilfe zu verurteilen, weil er die Gegenstände der Straftat wissentlich ausgehändigt hat.
b) Besitz bzw. Verkauf gesetzlich verbotener Gegenstände Wenn Gegenstände, deren Besitz bzw. Verkauf zur Kriminalitätsbekämpfung gesetzlich verboten/reguliert ist (z.B. Pistolen, Gewehre, gefährliche Arzneien), einer einen Mord oder eine Körperverletzung planenden Person vorsätzlich überlassen werden, ist in der Regel strafbare Beihilfe zu der betreffenden Straftat zu bejahen. Derartige Besorgungen der Tatmittel sind prinzipiell eine rechtlich verbotene Risikoschaffung. Diese Verbote bzw. Regulierungen haben gerade die Verbrechensbekämpfung zum Gegenstand und die mit diesen Gegenständen handelnden Geschäftsleute deswegen die Pflicht, sie bei Kenntnis des Tatplans des Kunden nicht zu verkaufen.
c) Gefährliche Alltagsgegenstände Auch in dieser Fallgruppe lassen sich die Kriterien der eindeutigen Tatförderung oder der gleichzeitigen Sozialnützlichkeit verwenden. Wenn gefährliche Gegenstände, die nicht nur zu verbrecherischen Zwecken sondern auch im Alltagsleben verwendet werden (z.B. Küchenmesser, Schlafmittel, Benzin), einer Straftaten planenden Person wissentlich ausgehändigt werden, ist die konkrete Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, welche objektiven Anhaltspunkte für einen verbrecherischen Tatplan oder welche Informationen für eine bevorstehende Planverwirklichung gegeben sind. In dem oben genannten „Wizard-Fall“ (II. 2. c. cc.) gibt es beispielsweise keinen Zweck außer den Gebrauch der Schutzhüllen zur Erschwerung der 44 45
LG Tokyo vom 10.12.1990, Hanrei Times 752, 246; LG Osaka vom 21.10.1986, Hanrei Times 630, 230. Urteil des LG Tokyo vom 28.7.1982, Hanrei Times 486, 117.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Fotoaufnahmen von Nummerschildern. Der verkaufte Gegenstand hat eine hohe Wahrscheinlichkeit zum Einsatz bei Geschwindigkeitsüberschreitungen, was für den Durchschnittsmenschen leicht vorauszusehen ist46. Gleiches gilt für den Verkauf von Hacker-Software47 und den Schweizer Fall der ScannerEmpfangsgeräte48, deren Erwerb oder Besitz nicht verboten, deren Verwendung ohne Konzession jedoch illegal ist, wenn der Käufer hinterher das gekaufte Gerät nun entsprechend unbefugt nutzt. Der Verkauf von Gegenständen, die im alltäglichen Leben verwendet werden, gehört zu den erlaubten Risiken, obwohl mitunter einige Grade der Gefährlichkeit durchaus vorhersehbar sind. Hier wird die Risikoverwirklichung durch den Vertrauensgrundsatz verneint49. Erkennt der Verkäufer jedoch aus sicherer Informationsquelle die Verwendungsmöglichkeiten, ist eine Risikoschaffung zum Zeitpunkt ex ante uneingeschränkt zu bejahen, wenn man bei der Beurteilung die vom Täter erkannten Umstände in Betracht zieht. Der Verkauf dieser auch für das Alltagsleben nützlichen Gegenstände ist eigentlich nicht verboten, wenn der Verkäufer keine Kenntnis vom Tatplan hat, da er in diesem Fall keinen normativen Anlass hatte, die Gegenstände nicht zu verkaufen. Deswegen ist die Risikoverwirklichung vom Standpunkt ex post zu verneinen, weil derselbe Verkauf auch geschehen wäre, wenn die im Bewusstsein des Tatplans gemachte Risikoschaffung in Unkenntnis des Tatplans passiert wäre. Der Verkäufer eines 46
47
48 49
Im Frequenzsperrenfilter-Fall des Schweizerischen Bundesgerichts aus dem Jahre 1988 (BGE 114, 112) wurde deshalb der Verkauf des Filters, mit dem man unentgeltlich Pay-TV empfangen und sehen kann, als Beihilfe zur versuchten Leistungserschleichung (Art. 151 schweiz. StGB) beurteilt. Vgl. Stefan Jaeger, Anbieten von „Hacker-Tools“ – Zur Strafbarkeit „neutraler“ Handlungen als Beihilfe-, RDV 1998, 252 ff. Interessant ist der japanische „WinnyFall“, dessen Name der Software entstammt, mit der man Filme frei „downloaden“ kann. Der Angeklagte hatte mit dieser Software zwei Filme ins Internet gestellt, damit eine unbestimmte Nutzermehrheit sie frei sehen konnte. Diese Handlung verletzt das Urheberrecht an den Filmen, vgl. Urteil des LG Kyoto vom 30.11.2004, Hanrei Jiho 1879, 153. Hier wurde die Frage der Beihilfe durch neutrale Handlungen nicht erwähnt, obwohl der Anwalt behauptete, dass der Täter in diesem Fall eigentlich der Erfinder der Software sei, zu der der Angeklagte nur Beihilfe geleistet habe. Das Urteil führt dazu aus: „Der Angeklagte hat die Filme von selbst gekauften DVDs heruntergeladen und in das Netz eingestellt. Er hat selber die Tatausführung begangen, um seinen Plan zu verwirklichen, mehreren Leute Filme anzubieten, damit die Benutzer der ‘WinnySoftware’ auch Filme ‘downloaden’ können. Daraus ergibt sich, dass der Angeklagte selbst Täter dieses Falls ist.“ BGE 111, 32. Urteil des Kassationshofes vom 18.2.1985. Vgl. Yamanaka, Keiho Soron (Strafrecht AT), Bd. 1 (1999), § 99, 2, (4) c.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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Küchenfachgeschäfts kann z.B. den Verkauf von Küchenmessern nicht prinzipiell versagen, da man in der modernen Marktwirtschaft als anonymer Kunde das Geschäft selbstverständlich ohne persönlichen Kontakt betreten und benutzen kann50. Das geschaffene Risiko, welches ex ante unter Berücksichtigung der Gehilfenkenntnis zu beurteilen ist, bleibt vom Standpunkt ex post ohne Risikoverwirklichungszusammenhang, weil jener ihm das Messer bei fehlender Kenntnis der Umstände sicher verkauft hätte. Der Verkäufer hat folglich mit seiner Hilfeleistung kein Risiko der Tatausführung des Täters erhöht.
d) Alltägliche oder geschäftliche Gegenstände Die Aushändigung alltäglicher oder geschäftlicher Gegenstände an den Täter begründet kein unerlaubtes Risiko, selbst wenn der Handelnde den Tatplan des Täters einseitig wusste – solange er keine sicheren Informationen unmittelbar selbst vom Täter bekommen hat. Hier hat die Aushändigung einen sozialnützlichen Sinn, wenn von der Kenntnis vom Tatplan des Täters abgesehen wird. Der Bäcker begeht deshalb keine Beihilfe zum Mord, wenn er das Brötchen, in welches der Kunde später Gift verstecken will, an den präsumtiven Mörder verkauft. Das gilt auch für die Lieferung besonders hochwertigen Qualitätspapiers an einen Drucker, wenn der Lieferant dessen Tatplan kennt, damit falsche Banknoten zu produzieren.
2. Die Erfüllung von Dienstleistungen a) Dienstleistungen mit eindeutigem Straftatzweck Zu dieser Fallgruppe gehören jene Fälle, in denen die Hilfeleistung nur auf Verlangen oder Anweisung begangen wurde und allein verbrecherischen Zwecken des Täters nützt. Als Beispiel ist der Taxifahrer zu nennen, der mehrere Täter trotz zufälliger Kenntnis ihres räuberischen Vorhabens zum Tatort transportiert. In diesem Fall ist Beihilfe zum Raub zu verneinen, obwohl er der Fallgruppe der eindeutig verbrecherischen Handlung zuzuordnen ist. Der Grund der Straflosigkeit liegt darin, dass der Taxifahrer im Rahmen seiner alltäglichen Berufstätigkeit handelt. Straflosigkeit ist allerdings nur bei unpersönlichen Kontakten begründet.
50
Anders zu beurteilen ist es, wenn der Verkäufer mit den Kunden eine persönliche Freundschaft aufgebaut hat.
222
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Wenn der Handelnde dagegen über den Bereich der alltäglichen geschäftlichen Tätigkeit hinaus besondere Maßnahmen zugunsten des Täters trifft, wird er wegen Beihilfe zu dessen Straftat bestraft. Wenn also ein Bankkaufmann einem Kunden, der „spurlosen Kapitaltransfer“ ins Ausland zur beabsichtigten Steuerhinterziehung wünscht, ohne Bezeichnung des Kundennamens das Geld nur mit Kontonummer der Auslandsbank überweist51, also von dem geregelten normalen Tätigkeitsablauf abgeweicht, wird er selbst dann wegen Beihilfe bestraft, wenn das geschaffene Risiko seiner Hilfeleistung nachträglich nicht in der Tatausführung des Täters verwirklicht wird.
b) Sozialnützliche Dienstleistungen Wenn die Hilfeleistung außer der Tatausführung des Täters normalerweise nebenbei auch zwangsläufig andere sozialnützliche, alltägliche Geschehen fördert, schafft sie kein unerlaubtes Risiko. Die strafbare Beihilfe ist in dieser zweigeteilten Fallgruppe zu verneinen: aa) Vorbestimmten Regeln folgende Handlungen: Hier ist z.B. der oben benannte Busfahrer-Fall einzuordnen, in dem der Busfahrer wissentlich die Räuber zusammen mit anderen Passagieren zum Tatort transportiert hat52. Der Busfahrer muss seine berufliche Pflicht erfüllen, andere Fahrgäste zu transportieren. Ein Transport von Räubern zum Tatort ist objektiv ein allgemeines Lebensrisiko. bb) Allgemeine Ratschläge: Wenn ein Fachmann vor mehreren anonymen Kunden bestimmte Informationsangebote oder Ratschläge im Rahmen seiner alltäglichen Geschäftstätigkeiten macht und ein Kunde später auf Grund dessen eine Straftat begeht, fragt es sich, ob die Hilfeleistung des Ratgebers als Beihilfe zur Tatausführung zu bewerten ist. Ein wichtiges Kriterium ist dabei, ob die Ratgebung oder Erläuterung allgemeinen oder konkreten Charakter hat. Bleibt sie bei allgemeiner Informierung, besteht daneben eine sozialnützliche Handlung: Nimmt man beispielsweise einen Rat zur Investition an, bleibt dieser innerhalb der allgemeinen Ratgebung, sofern er eine Information des Anlegers über die Wirtschaftslage oder das System des Warenterminhandels zum Inhalt hat. Wenn der Ratgeber dagegen als Rechtsanwalt in Kenntnis von der betrügerischen Investition wissentlich an der Prospekterstellung mitwirkt53, ist diese Hilfeleistung nicht mehr innerhalb der allgemeinen, sondern eine 51 52 53
BGHSt 46, 107. Vgl. oben III. 3. b. (a.E.). Vgl. BGH NStZ 2000, 34.
§ 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen
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konkrete Ratgebung, die für den Betrug ein spezifisches Risiko schafft. Sie gehört deshalb zur obigen Fallgruppe der „Dienstleistungen mit eindeutigem Straftatzweck“54.
V. Zusammenfassung in Thesen Die Frage der Straflosigkeit neutraler Beihilfehandlungen wird in Deutschland ausführlich diskutiert und verschiedenen Lösungsansätzen unterworfen. Mir scheint momentan eine Lösung auf der Ebene der objektiven Zurechnung die herrschende Meinung zu sein. Dabei haben sich bislang die theoretischen Begründungen noch nicht genügend entwickelt, um eine Einordnung nach verschiedenen Fallgruppen mit geeigneten Kriterien systematisch vorzunehmen. In meinem Beitrag habe ich versucht, einen Vorschlag zur Systematisierung der Fallgruppen zu machen. Thesenartig zusammengefasst sind die Kernpunkte: 1) Es bedarf der Erfüllung der objektiven Beihilfeanforderungen, um die Strafbarkeit neutraler Beihilfehandlungen zu bestimmen. Gefordert ist, dass die Beihilfe den Haupttaterfolg durch Erleichterung/Förderung der Tatausführung des Täters objektiv zurechenbar verursacht. Dazu bedarf es der Risikoschaffung und Risikoverwirklichung. 2) Bei der Beihilfe durch neutrale Handlungen gibt es zwei Fallgruppen: Die Fälle einer gegenseitigen Kommunikation zwischen Täter und Gehilfen und die Fälle einseitiger Kommunikation. In der ersten Fallgruppe ist psychische Kausalität nicht zu verneinen, sofern die neutrale Hilfehandlung zur Beihilfe geeignet und ein Risiko zur Täterhandlung geschaffen ist. Man muss allerdings weiter unterteilen: Befriedigt die Hilfeleistung nur alltägliche Lebensbedürfnisse, bleibt sie eine Förderung im Peripheriebereich. Dann ist die Risikoschaffung zu verneinen, die Unterstützungshandlung mithin straflos. 3) Bei einseitiger Kommunikation zwischen Täter und Gehilfen – sog. einseitige Beihilfe – ist die objektive Zurechnung nicht mehr nur mit der psychischen Kausalität zu begründen. Es bedarf noch weiterer Kriterien, die nach der Informationsquelle der einseitigen Gehilfenkenntnis differenzieren: Erstens die Fallgruppe eines vom Täter oder einem Dritten informierten Gehilfen. Und zweitens die Gruppe der Gehilfen, die den Tatplan davon unabhängig mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhergesehen haben. Hier wird die Risikoschaffung verneint, wenn die Wahrscheinlichkeit objektiv nicht genügend hoch ist. Auch 54
Vgl. oben IV. 2. a.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
in der ersten Fallgruppe sind noch die Fälle des vom Täter direkt und die des mittelbar von Dritten informierten Gehilfen zu differenzieren. 4) Die Fälle lassen sich zwischen Beihilfe im Vorbereitungsstadium und Beihilfe im Versuchsstadium unterscheiden. Im letzten Fall ist die Erleichterung/Förderung des Täters normalerweise klar. Falls die Tatausführung des Täters dringend und erkennbar ist, ist auch in der ersten Fallgruppe die objektive Zurechnung ohne Zweifel. 5) Bei der Beihilfe im Vorbereitungsstadium ist zwischen der Ausgabe von Gegenständen und dem Anbieten von Dienstleistungen zu differenzieren. Ersterenfalls ist die Strafbarkeit bei Gegenständen nicht zweifelhaft, die ersichtlich den Inhalt der Straftat zeigen oder deren Besitz, Verkauf oder Anbieten aus Gründen der Verbrechensprävention rechtlich verboten ist. Sodann ist weiter nach der eindeutigen Tatförderung und nach der gleichzeitigen Sozialnützlichkeit zu unterteilen: In der Fallgruppe eindeutig tatfördernder Ausgaben von Gegenständen oder Informationen wird in der Regel strafbare Beihilfe bejaht, während sie bei der Erfüllung von Dienstleistungen mangels Risikoschaffung zu verneinen ist. 6) Bei den „eindeutig tatfördernden Dienstleistungen“ wird die Risikoverwirklichung vom Standpunkt ex post verneint. Das im Standpunkt ex ante geschaffene Risiko hat nämlich das Risiko der Förderung der Täterhandlung ex post nicht erhöht, weil es im Fall der Unkenntnis auch durch alltägliche Tätigkeiten bewirkt worden wäre. Der Grund dafür liegt darin, dass die Geschäftstätigkeit unpersönlich und anonym ist und Unterlassungspflichten außer durch gesetzliche Aufbürdung hier nicht entstehen.
§ 13. Kritisch-dogmatische Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung I. Einleitung Die Rechtsfigur der „hypothetischen Einwilligung“1, die vom BGH in strafrechtlichen Entscheidungen2 aufgegriffen und von Kuhlen als ein Zurechnungskriterium bei Rechtfertigungsgründen begründet und nachhaltig vertreten worden ist3, hat Zustimmung4 und Ablehnung5 erfahren. Die Waage zwischen Pro und Contra scheint sich neuerdings zur Ablehnung hin geneigt zu haben6, weil die meisten Autoren, die sich damit in Aufsätzen ausführlich auseinandergesetzt und als Folge dessen in letzter Zeit eine Meinung darüber geäußert haben, diese Rechtsfigur als eine Art der objektiven Zurechnung abgelehnt haben7.
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Diese Rechtsfigur stammt aus zivilrechtlichen Entscheidungen: Vgl. BGH NJW 1980, 1333; BGHZ 90, 96; BGHZ 106, 391; BGH NJW 1995, 2410 usw. BGH JR 1996, 69 = NStZ 1996, 34; BGH JR 1996, 69; NStZ-RR 2004, 16. Kuhlen, Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen, Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 331 ff.; Ders., Ausschluss der objektiven Zurechnung bei Mängeln der wirklichen und der mutmaßlichen Einwilligung, Festschrift für Heinz Müller-Dietz, 2001, S. 431 ff.; Ders., Ausschluss der objektiven Erfolgszurechnung bei hypothetischer Einwilligung des Betroffenen, JR 2004, 227 ff.; Ders., Hypothetische Einwilligung und „Erfolgsrechtfertigung“, JZ 2005, S. 713 ff. Im Prinzip wird es von folgenden Autoren befürwortet: Rönnau, JZ 2004, S. 801; Ders., Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Bd. 2, vor § 32, Rnr. 230 ff.; Mitsch, Die „hypothetische Einwilligung“ im Arztstrafrecht, JZ 2005, S. 279 ff.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, S. 179. Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei mangelnder Aufklärung über eine Behandlungsalternative. Zugleich Besprechung von BGH, Urteil vom 3.3.1994 und 29.6.1995, GA 2003, 774 ff.; Otto, Einwilligung, mutmaßliche, gemutmaßte und hypothetische Einwilligung, Jura 2004, S. 679 ff.; Eisele, Hypothetische Einwilligung bei ärztlichen Aufklärungsfehlern, JA 2005, S. 252 ff. Als nachhaltige Befürworter sind zu nennen: Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, S. 590 ff.; Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 51 ff. Duttge, Die „hypothetische Einwilligung“ als Strafausschlussgrund: wegweisende Innovation oder Irrweg?, Festschrift für Friedrich Christian Schroeder. 2006, S. 179 ff.; Gropp, Hypothetische Einwilligung im Strafrecht?, Festschrift für Friedrich Christian Schroeder, 2006, S. 197 ff.; Jäger, Die hypothetische Einwilligung – ein Fall der rückwirkenden juristischen Heilung in der Medizin, Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 345 ff.; Ders., Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006;
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
In einem in japanischer Sprache geschriebenen Aufsatz von 20068 habe auch ich kritische Betrachtungen angestellt und bin dabei zum Ergebnis gekommen, dass diese Rechtsfigur nicht innerhalb der Lehre von der objektiven Zurechnung, egal, ob auf der Tatbestandsebene oder auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe, behandelt werden und überdies in der Straftatlehre nicht einmal die Stellung einer eigenen Rechtsfigur haben sollte. Da dieser Aufsatz in japanischer Sprache geschrieben worden und die Notwendigkeit entstanden ist, meine Auffassung – angesichts der nach der Veröffentlichung meines Aufsatzes erschienenen vielen Publikationen9, in denen sich vor allem kritische Stellungnahmen finden – nochmals zu überprüfen und mein Ergebnis bestätigen zu lassen, habe ich mich entschlossen, das Thema erneut aufzugreifen. Der Zweck dieses Aufsatzes liegt auch darin, für deutsche Leser die Gegenargumente gegen die hypothetische Einwilligung logisch kurz und klar darzulegen. Um dies effektiv zu verwirklichen, ist von Problemen, deren Behandlung zu keinem dieser Zwecke dienlich erscheint, völlig abzusehen, auch wenn sie im Problemzusammenhang insgesamt betrachtet als wichtig erscheinen10.
II. Entscheidungen und die Thesen von Kuhlen 1. BGH-Entscheidungen Um die Problematik der hypothetischen Einwilligung klar zu stellen, sind zunächst die strafrechtlichen Entscheidungen in Betracht zu ziehen:
a) BGH JR 1996, 69 Die erste Entscheidung, das Urteil des BGH vom 29.6.1995, beschäftigt sich mit folgendem Sachverhalt: Der Angeklagte, Chefarzt einer Universitätsklinik, hat bei Operationen Surgibone-Dübel als Abstandhalter zwischen den angrenzenden Wirbelkörpern einsetzt. Die Patienten mussten nach den Operationen wegen der Spankomplikationen, deren Gefahr oft durch die Verwendung von
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Sickor, Die Übertragung der hypothetischen Einwilligung auf das Strafrecht, JA 2008, 11 ff.; Ders., Logische Unstimmigkeiten in der höchstrichterlichen Prüfungsformel zur hypothetischen Einwilligung, JR 2008, 179 ff. Yamanaka, Über die ärztliche Aufklärungspflicht und sog. hypothetische Einwilligung des Patienten, Kamiyama Toshio Sensei Koki Shukuga Ronbunshu (Festschrift für Toshio Kamiyama), Bd. 1, 2006, S. 253–283 . Geilen, Handbuch des Fachanwalts: Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, S. 362 ff.: Merkel, Der Schwangerschaftsabbruch, Handbuch des Medizinstrafrechts. 3. Aufl., S. 195 f., Z.B. wird von der Problematik des Strafprozesses abgesehen.
§ 13. Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung
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Surgibone-Dübeln verursacht worden ist, zum Teil noch einmal operiert werden. Sie waren über die spezifischen Vor- und Nachteile der verschiedenen Materialien der Interponate nicht aufgeklärt worden. In die Operation mit dem Surgibone-Dübel hatten sie eingewilligt. Das LG hat die Einwilligung der Patienten als unwirksam betrachtet, weil der Arzt sie über die bestehenden Behandlungsalternativen und die damit verbundenen Vor- und Nachteile nicht aufgeklärt habe. Der BGH war aber der Meinung, dass der Angeklagte die Patienten über die Behandlungsalternativen nicht schlechthin, sondern deshalb aufklären musste, weil Surgibone-Dübel nicht zugelassen waren, so dass er die Patienten über die Nichtzulassung der eingesetzten Surgibone-Dübel hätte aufklären müssen. Da der Angeklagte nicht wusste, dass die Surgibone-Dübel nicht zugelassen waren, komme wegen der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes durch den Angeklagten bloß fahrlässige Körperverletzung in Betracht. Der Senat hat für die neue Hauptverhandlung Hinweise gegeben: „Aufklärungsmängel können eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte“. Verblieben Zweifel, so „sei davon auszugehen, dass die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erteilt worden wäre“. „Der neue Tatrichter wird seine Aufmerksamkeit auch der Frage zu widmen haben, ob zwischen den eingetretenen Spankomplikationen und der von dem Angeklagten verletzten Aufklärungspflicht der erforderliche Zusammenhang gegeben ist“. Für die hier interessierende systematische Betrachtung ist wichtig, dass der BGH in der neuen Hauptverhandlung zwei Überprüfungen verlangt hat: sie betreffen „die hypothetische Einwilligung“ und „den erforderlichen Zusammenhang“11. Die letztere betrifft die Frage, ob der eingetretene Erfolg innerhalb des Schutzzwecks der verletzten Aufklärungspflicht bleibt. Es ist uns klar, dass die letztere Überprüfung zur Frage nach der objektiven Zurechnung gehört. Die erstere bedeutet, dass eine vollendete Körperverletzung nur dann besteht, wenn der Patient die Einwilligung, falls der Arzt ihn über die Behandlungsalternative genügend aufgeklärt hätte, nicht erteilt hätte. Fraglich ist, ob die erste Frage tatsächlich erforderlich ist.
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Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, S. 177; Nach Ulsenheimer handelt es sich bei dieser Frage um verschiedene Umschreibungen derselben Sachproblematik. Vgl. auch Geilen, Handbuch, S. 362 ff.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
b) BGH NStZ-RR 2004, 16 Dem Beschluss des BGH vom 15.10.2003 lag folgender Sachverhalt zugrunde. Der Angeklagte war Chefarzt der Klinik. Bei einer Patientin wurde ein Bandscheibenvorfall, der operativ behandelt werden sollte, festgestellt. Die zweite Oberärztin K führte die Operation durch. Dabei irrte sie sich in der Bandscheibenetage; die Entfernung des irrtümlichen Bandscheibenvorfalls verursachte eine Nervenbeeinträchtigung. K informierte den Angeklagten und fragte ihn, schockiert über ihren Kunstfehler, um Rat. Der Angeklagte riet ihr, sie solle der Patientin den Fehler verschweigen und ihr die Notwendigkeit einer nochmaligen Operation im tatsächlich nicht operierten Fach mit einem Frührezidiv erklären. „Entsprechend wahrheitswidrig aufgeklärt, erteilte die Patientin ihre Einwilligung zur zweiten Operation“. Im Rahmen der zweiten Operation entfernte K entsprechend dem Rat des Angeklagten auch den rechten Wirbelhalbbogen am fünften Lendenwirbel. Das Landgericht stellte fest, die Patientin hätte möglicherweise auch einer zweiten Operation durch K aufgrund der Notwendigkeit und Dringlichkeit zugestimmt. Da jedoch weder K noch der Angeklagte hiervon ausgegangen seien, hat es den Angeklagten wegen Anstiftung zu vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Es kam auf die Rechtswidrigkeit der Anstiftung zu vorsätzlich begangener Körperverletzung an. Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf und ordnete eine neue Hauptverhandlung vor einer anderen Strafkammer an. „Die Rechtswidrigkeit entfällt“ – so der BGH – „wenn der Patient bei wahrheitsgemäßer Aufklärung in die tatsächlich durchgeführte Operation eingewilligt hätte. Der nachgewiesene Aufklärungsmangel kann nur dann zur Strafbarkeit wegen Körperverletzung und wegen der Akzessorietät auch nur dann zur Strafbarkeit der Anstiftung zu dieser Tat führen, wenn bei ordnungsgemäßer Aufklärung die Einwilligung unterblieben wäre“. „Verbleiben Zweifel, so ist nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ zugunsten des Arztes davon auszugehen, dass die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erfolgt wäre“.
Unter dem Stichwort „Kausalität des Aufklärungsmangels“ stellte der BGH im nächsten Absatz die weitere Frage, ob die Patientin in eine zweite Operation gerade durch K, und ob sie herbei auch in die Entfernung des Wirbelhalbbogens am fünften Lendenwirbel eingewilligt hätte. Aber auch in diesen Ausführungen, mit denen die Zurückverweisung begründet wurde, ging es – so auch ausdrücklich der BGH – in Wirklichkeit um die Frage der hypothetischen Einwilligung. Die Frage nach der hypothetischen Einwilligung und nach der Kausalität der Aufklärungspflichtwidrigkeit ist also im Beschluss als dasselbe Problem behandelt. Doch der BGH hat, wie oben zitiert, es offensichtlich auch unter „Rechtswidrigkeitsausschluss“ eingeordnet. Beim BGH-Urteil von 1995
§ 13. Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung
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wurden diese zwei Fragen noch differenziert. Im jetzigen Beschluss aber ist die Frage vereinheitlicht und in die Rechtfertigungsebene eingeordnet. Diese Unklarheit in Bezug auf die systematische Einordnung der Frage verlangt von der Wissenschaft eine ausführliche dogmatische Erklärung.
2. Die Thesen von Kuhlen Kuhlen hat sich mit dieser Aufgabe beschäftigt und die dogmatische Systematisierung der Frage vorgeschlagen. Er meint: Die Lehre von der objektiven Zurechnung wird ganz überwiegend als Teil der Tatbestandslehre aufgefasst. Aber sie ist daneben auch in der Lehre von der Rechtswidrigkeit bedeutsam. Ein vollendetes Erfolgsdelikt erfordert nicht nur, dass der Erfolg objektiv zurechenbar auf dem prima facie normwidrigen (...) Verhalten beruht, was im Rahmen des objektiven Tatbestandes zu prüfen ist; es setzt vielmehr auch voraus, dass der Erfolg objektiv zurechenbar auf ein definitiv normwidriges, weil nicht gerechtfertigtes Handeln zurückzuführen ist, was im Rahmen der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes und dort des näheren dann zu prüfen ist, wenn sich ergibt, dass die Handlung, ex ante beurteilt, nicht die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllte. Dann steht zwar fest, dass das Handeln nicht gerechtfertigt war und damit definitiv rechtwidrig erfolgte. Das objektive Unrecht einer vollendeten Tat ist damit aber noch nicht notwendig verbunden.
Nach seiner Analyse stellt die Frage nach der hypothetischen Einwilligung die Erfolgszurechnung auf der Rechtfertigungsebene dar. Die Rechtsfolge ist der Ausschluss des objektiven Unrechts des Vollendungsdelikts. Beim Vorsatzdelikt ist die Folge also nicht die Vollendung, sondern der Versuch. Aber Kuhlen verallgemeinert diesen Gedanken: das objektive Unrecht einer vollendeten Tat setzt nach Kuhlen „vielmehr voraus, dass der tatbestandliche Erfolg objektiv zurechenbar darauf beruht, dass keine Rechtfertigung eingreift. Das wiederum ist nur der Fall, wenn das jeweilige Rechtfertigungsdefizit mit dem Erfolg durch Pflichtwidrigkeits- und Risikozusammenhang verbunden ist“12. Was das bedeutet, hat Kuhlen mit folgendem Beispiel erklärt: „E ruft dem Dieb, der mit E’s Brieftasche fliehen will, zu, er solle stehenbleiben. Als D weiterläuft, gibt E sogleich einen, D am Bein treffenden, Schuss ab, obwohl die Situation zunächst einen Warnschuss zugelassen hätte. Der Tatbestand der vollendeten Körperverletzung ist erfüllt. Der Schuss war objektiv nicht durch Notwehr gedeckt, weil er angesichts des zumutbaren, aber unterlassenen Warnschusses zur Abwehr des Angriffs auf E’s Eigentum nicht erforderlich war. Dennoch ist keine vollendete Körperverletzung gegeben, wenn D den Warnschuss ignoriert hätte. Denn dann hätte dieser Schuss „nichts genützt. E hätte anschließend (...) auf D schießen dürfen“. 12
Kuhlen, Festschrift für Müller-Dietz, S. 432.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Nach Kuhlen ist also die Körperverletzung auf den Rechtfertigungsmangel nicht objektiv zurechenbar. Zuerst zu dieser Verallgemeinerung der objektiven Zurechnung in der Rechtfertigungsebene nach Kuhlen. Das Beispiel zeigt schon die Sinnlosigkeit der Frage. Otto hat mit Recht ein Gegenargument mit dem folgenden Beispiel aufgezeigt: Der Dieb sei nicht gerechtfertigt, wenn der Bestohlene nachträglich erklärt, er hätte dem Dieb die gestohlene Sache geschenkt, wenn dieser ihn vorher gefragt hätte13. Neuerdings hat auch Gropp14 mit diesem Beispiel auf die Irrelevanz der Reserveursache hingewiesen. Das rechtmäßige Alternativverhalten beim Fahrlässigkeitsdelikt stellt den Schutzzweck der verletzten Norm in Frage. Deswegen ist der Sinn der hypothetischen Pflichtmäßigkeit völlig anders als bei der Berücksichtigung der Reserveursache. Mitsch erhebt folgenden Vorwurf gegen die These von Kuhlen: Er behandle diese Problematik „zu früh“ als objektive Zurechnung15 auf der Rechtfertigungsebene. Nach Mitsch sollte Kuhlen keine Terminologie der „Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs“ verwenden, weil es sich auf der Ebene der Rechtfertigung um „Zurechnung des Erfolgsunrechts“ handele. Über die Bedeutung der ex post-Beurteilung bei der hypothetischen Einwilligung streiten sich Kuhlen und Mitsch. Der Streitpunkt liegt darin, ob nur die im Handlungszeitpunkt vorhandenen Umstände einschließlich der erst nachträglich herausgefundenen16, wie Kuhlen meint17, in die Urteilbasis einbezogen werden sollen, oder, wie Mitsch meint18, auch der im nachträglichen Verlauf erfolgreiche oder misslungene Operationserfolg. Kuhlen nennt die erstere eigene Konzeption als „entscheidungsbezogen“ und die letztere Mitschs als
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Otto, Jura 2004, S. 683. Vgl. auch Eisele, JA 2005, S. 254. Rönnau, LK, vor § 32, Rnr. 231, hat auf dieses Argument wie folgt erwidert: „Das von Otto präsentierte Beispiel ist zudem deshalb problematisch, weil er als rechtmäßiges Alternativverhalten für den Vergleich eine vollständig andere Handlung (...) auswählt und damit den Kreis möglicher rechtmäßiger Alternativhandlungen über Gebühr ausdehnt“. Dieses Gegenargument ist nicht zutreffend, weil es Kuhlen war, der zuerst den Kreis über Gebühr ausgedehnt hat. Das Beispiel von Otto war nur eine Variante des oben im Text genannten Warnschuss-Beispiels von Kuhlen. Gropp, Festschrift für Schroeder, S. 201 f. Mitsch, JZ 2005, S. 283. Kuhlen nennt das Beispiel der Bluttransfusion, bei der die absolute Abneigung des Patienten gegenüber der Bluttransfusion für den Arzt bei der Operation nicht erkennbar war (Kuhlen, JZ 2005, S. 715). Kuhlen, JZ 2005, S. 715. Mitsch, JZ 2005, S. 281.
§ 13. Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung
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„erfolgsorientiert“19. Hier scheint mir die Konzeption von Mitsch doch richtig zu sein. Die ex post-Beurteilung hätte keinen Sinn, wenn nicht auch nachträglich sich entwickelnde Verläufe mitberücksichtigt würden. Bei der hypothetischen Einwilligung handelt es sich darum, ob der Patient die Einwilligung gegeben hätte, auch wenn er vom Arzt über die Behandlungsalternative aufgeklärt worden wäre. Für die Feststellung der inneren Seite des Patienten ist es nötig, nachträglich ihn danach zu fragen, ob er eingewilligt hätte. Da er schon den Ablauf der Operation kennt, ist es unmöglich, dass er jetzt diese Tatsache bei seiner Entscheidung außer Acht lassen könnte. Beim rechtmäßigen Alternativverhalten sind auch die Abläufe und Erfolge, die sich nachher entwickelt haben, in die ex post- Beurteilung einzubeziehen. Sonst ist der hypothetische Verlauf nicht richtig zu beurteilen20.
III. Bisherige Kritiken an der Rechtsfigur der „hypothetischen Einwilligung“ 1. Kritik von Puppe gegen die Feststellungsmethode der Kausalität Die Kritik von Puppe gegen die These von Kuhlen bezieht sich erstens auf die Unbeantwortbarkeit der Frage nach der hypothetischen Einwilligung und zweitens auf die Frage, ob es sich bei dieser Frage um die „Kausalität“ von Rechtfertigungsgründen und Erfolg handelt. Puppe weist zunächst darauf hin, dass der Patient die Frage, ob er auch bei genügender Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte, nicht beantworten kann. Nach Kuhlen soll, wenn die Antwort zweifelhaft ist, die hypothetische Einwilligung zugunsten des Angeklagten angenommen werden. Der Grund für die Unbeantwortbarkeit der Frage, ob der Patient eingewilligt hätte, sind jedoch nach Puppe21 nicht Beweisschwierigkeiten, „sondern die Tatsache, dass die Entscheidung des Patienten nicht durch allgemeine Gesetze strikt determiniert ist“. Die Antwort auf die Frage, ob ein bestimmter Patient auch bei vollständiger Aufklärung in die vom Arzt gewählte Heilmethode eingewilligt hätte, sei nicht zweifelhaft, sondern sinnlos, weil es keine Methode gebe, um über ihre Richtigkeit oder Falschheit zu entscheiden. Deshalb sei hier auch 19 20
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Kuhlen, JZ 2005, S. 715. Z.B.: Auch wenn der Fahrer die Geschwindigkeitsbeschränkung eingehalten hätte, wäre das Opfer in die Kreuzung hineingefahren und wegen des Aufpralls des Wagens gestorben. Bei dieser Beurteilung ist es unentbehrlich, auch die nachträglich ablaufende hypothetische Einfahrt des Opfers in die Kreuzung mitzuberücksichtigen. GA 2003, S. 769.
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3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
kein Raum für die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes; die Frage sei vielmehr im strengen Sinne des Wortes unsinnig22. Zum zweiten stellt Puppe die kritische Frage, aus welchem Grund die hypothetische Einwilligung geprüft werden müsse, also warum der Erfolg auf dem Rechtfertigungsmangel beruhen müsse. Nach Puppe würden etwa beliebige Rechtfertigungsgründe hypothetisch angenommen, auch wenn es in einem Fall kein einziges Rechtfertigungselement gibt23. Für jede Rechtsgutsverletzung lasse sich mindestens eine Notwehrsituation fingieren. Nach Puppe entsteht dieser Fehler im Endeffekt aus dem fehlerhaften Verständnis, dass zwischen Rechtfertigungsgründen und Erfolg ein Kausalzusammenhang bestehen müsse. Was die erste Kritik anbetrifft, so kann sie bestreitbar sein. Wie jemand in einer bestimmten Situation entschieden hätte, ist zwar nicht mit naturgesetzlicher Exaktheit, in vielen Fällen aber doch – so Roxin – mit einer den Beweisanforderungen der Rechtsordnung genügenden Bestimmtheit zu entscheiden24. Die zweite Kritik scheint mir theoretisch wichtiger zu sein, obwohl Roxin sie nicht erwähnt hat.
2. Kritik von Gropp Gropp hat zunächst die Argumente gegen die Anerkennung einer hypothetischen Einwilligung als Zurechnungsausschluss in folgenden vier Punkten zusammengefasst25: 1) Unvereinbarkeit mit Grundsätzen des Strafverfahrens: Wie kann man die hypothetische Einwilligung feststellen? 2) Kein Kausal-Nexus bei Rechtfertigungsgründen: Rechtfertigungsgründe stünden außerhalb des Kausal-Nexus. 3) Die Irrelevanz der Reserveursache: Ein Diebstahl entfalle nicht dadurch, dass der Bestohlene vortrage, er hätte dem Täter die gestohlene Sache bei Kenntnis der Sachlage geschenkt. 4) Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechts: Die Entlastung des Arztes über eine hypothetische Einwilligung übergehe die Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten zum Zeitpunkt des Eingriffs. 22 23 24 25
Über die Gegenargumentation Kuhlens vgl. vor allem seinen Aufsatz, in: JR 2004, S. 228 f. Puppe, GA 2003, S. 770. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, S. 594 f. Gropp, Festschrift für Schroeder, S. 200 f.
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Sodann überprüft er ausführlich die strukturelle Parallelität zwischen der hypothetischen Einwilligung und dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Nach ihm ist die additive Formulierung von Reserve-Ursachen unzulässig. Davon gebe es nur wenige Ausnahmen: Erstens bei den unechten Unterlassungsdelikten und zweitens im Rahmen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beim Fahrlässigkeitsdelikt. Die unterlassene Aufklärung liege noch im Vorfeld des tatbestandsmäßigen Heileingriffs. In Frage gestellt wird, ob eine Parallelität des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beim Fahrlässigkeitsdelikt zum Rechtswidrigkeitszusammenhang der hypothetischen Einwilligung beim Vorsatzdelikt vorhanden ist. Hypothetische Einwilligung und Pflichtwidrigkeitszusammenhang sind nach Gropp strukturell unvereinbar, da bei der ersteren es um Vorsatzdelikte und beim letzteren um Fahrlässigkeitsdelikte gehe. Gropp kritisiert die BGHEntscheidungen, in denen die Zurechnungsfrage nicht zwischen Aufklärung und „Eingriffserfolg“, sondern innerhalb des Zusammenhangs zwischen Aufklärung und „Einwilligung“ gestellt werde. Aber die Erklärung der Einwilligung stelle nicht erst den Erfolg, sondern eine der Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes „Einwilligung“ dar. Auch die Rechtfertigung als Ergebnis des Rechtfertigungssachverhalts könne nicht dessen „Erfolg“ sein. Denn die Rechtfertigung sei ein Urteil, ein Ergebnis der Bewertung einer rechtfertigenden Sachlage26. Die Betrachtung von Gropp geht nicht weiter: Sicher ist die Frage, ob die fiktive Einwilligung vorhanden wäre, anders als die Frage, ob der Eingriffserfolg auch bei genügender Aufklärung entstehen würde. Es lässt sich zwar anerkennen, dass der Eingriffserfolg schon vorhanden wäre, wenn die Einwilligung des Patienten gegeben würde. Denn es ist in der Tat nicht denkbar, dass der Arzt trotz der Einwilligung des Patienten nicht operieren würde, solange die sonstigen, in der Regel nicht zu ändernden Umstände unverändert bleiben. Gropp hätte allerdings seine Gedanken zum Urteilscharakter der Rechtfertigung noch weiter entwickeln müssen. Die Frage ist, welche Kriterien dem Urteil über die Rechtfertigung zugrunde liegen sollen.
3. Kritik von Jäger und Duttge Jäger kritisiert den Versuch als Ergebnis bei der Berücksichtigung der hypothetischen Einwilligung. Nach ihm ist die Versuchstrafbarkeit fragwürdig, da der Arzt wohl meist darauf vertrauen wird, dass der Patient ohnehin eingewil26
Gropp, Festschrift für Schroeder, S. 206.
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ligt hätte. Damit würde es nach Jäger am Körperverletzungsvorsatz fehlen. Deswegen sei es wohl richtiger, „das Rechtsinstitut der hypothetischen Einwilligung überhaupt abzulehnen und Strafbarkeit wegen vollendeter Körperverletzung anzunehmen, wenn die Operation ohne vorherige rechtswirksame Einwilligung des Patienten erfolgt“27. Offen bleibt bei Jäger, ob der Arzt tatsächlich meist auf die schließliche Einwilligung des Patienten vertrauen wird. Duttge kritisiert die Übertragung der Zurechnungsprüfung auf die Ebene der Rechtfertigungsgründe durch Kuhlen. Er legt dar, dass dem beabsichtigten Export des Zurechnungsgedankens in der vorgestellten Weise ein prinzipieller strafrechtsdogmatischer Einwand entgegensteht. „Im Kern wird damit nämlich die spezifische Eigenart der Rechtswidrigkeitsstufe in ihrer Divergenz zum Tatbestand missachtet; denn die ‘Komplettierung’ des ‘Gesamtunrechts’ und – damit einhergehend – die Berechtigung des Unwerturteils über die Tat resultiert hier nicht etwa aus weiteren unrechtsbegründenden Elementen, sondern vielmehr umgekehrt allein aus dem Fehlen der einen Unrechtsausschluss bedingenden Anforderungen“. Es könne „einen Zurechnungszusammenhang zum tatbestandlichen (!) Erfolg daher von vornherein nicht auf Rechtswidrigkeits-, sondern nur auf Tatbestandsebene geben, während eine normative Beziehung im Rahmen der ‘objektiven Rechtswidrigkeit’ strukturell allein am Vorhandensein (!) unrechtsausschließender Momente (...) anknüpfen und demzu28 folge einzig für die Rechtfertigung der Tat relevant sein kann“ .
Ob die objektive Zurechnung auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe eine richtige Rechtsfigur ist, ist später noch überzuprüfen.
4. Kritik von Sickor Die Kritik von Sickor betont die logische Unhaltbarkeit der Vergleichbarkeit der hypothetischen Einwilligung mit dem rechtmäßigen Alternativverhalten29. Sein Ausgangspunkt ist der Begriff der „Einwilligung“: Man kann ihn im normativen oder im tatsächlichen Sinne verstehen. In der ersteren Bedeutung geht es um die rechtlich wirksame oder unwirksame Einwilligung. In der letzteren kommt es auf das Ob der tatsächlichen Einwilligung an. Was zunächst die Interpretation der Einwilligung im normativen Sinne betrifft, so ist nach Sickor im realen Ausgangsfall die Einwilligung auf Grund der 27 28 29
Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 26. Duttge, Festschrift für Schroeder, S. 185 f. Sickor, JR 2008, S. 179 ff.
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unvollständigen Aufklärung und der daraus resultierenden Willensmängel „unwirksam“. Dagegen führe die hypothetisch ordnungsgemäße Aufklärung zu einer wirksamen Einwilligung. Wenn man dieses Ergebnis mit dem rechtsmäßigen Alternativverhalten vergleicht, so kommt man bei jenem zu einem normativ gleichen Ergebnis, bei der hypothetischen Einwilligung hingegen zu einem abweichenden Ergebnis. Wenn man die Einwilligung als tatsächliche Zustimmung interpretiert, führt eine Ersetzung der tatsächlich mangelhaften durch eine hypothetisch ordnungsgemäße Aufklärung ebenso zum Fortbestand der tatsächlichen Zustimmung. „Da eine Ersetzung der Prämissen den Zustand des Zurechnungsobjektes ‘tatsächliche Zustimmung’ mithin nicht verändert, könnte analog zum rechtmäßigen Alternativverhalten gefolgert werden, dass der Aufklärungsmangel auf die tatsächlich erteilte Zustimmung des Patienten keinen Einfluss ausgeübt haben kann“. Die Folgerungsseite des logischen Schlusses bei Vergleichung der Strukturen von hypothetischer Einwilligung und rechtmäßigem Alternativverhalten sei unterschiedlich, weil bei der ersteren das strafbarkeitsausschließende Element fortbestehe, während bei dem letzteren der strafbarkeitsbegründende Deliktserfolg auch bei sorgfaltsgemäßem Handeln bestehen bleibe. Also wirke bei der hypothetischen Einwilligung die Schlussfolgerung günstig für den Täter, während beim rechtmäßigen Alternativverhalten es darum gehe, dass derselbe, dem Täter ungünstige Deliktserfolg auch rechtmäßig hätte herbeigeführt werden können. Die hypothetische Einwilligung des Patienten sei im Hinblick auf eine Straflosigkeit des Arztes nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung. Eine erteilte Zustimmung führe noch nicht zu einer Rechtfertigung. Hinzutreten müssten zahlreiche weitere Voraussetzungen, von der Einwilligungsfähigkeit über die Dispositionsbefugnis bis hin zur Freiheit der Zustimmungserklärung von Willensmängeln. „Eine Auslegung des ‘Einwilligens’ als tatsächliche Zustimmung stimmt damit zwar auf ‘Voraussetzungsseite’ mit der logischen Struktur des rechtmäßigen Alternativverhaltens überein, bietet auf ‘Schlussfolgerungsseite’ aber nur die nicht weiterführende Erkenntnis, dass eine tatsächliche Zustimmung des Patienten nicht nur mittels einer unvollständigen und deshalb zur Rechtfertigung untauglichen, sondern – hypothetisch – auch vermittels einer ordnungsgemäßen Aufklärung zu erlangen gewesen wäre.“
Als Ergebnis der Betrachtung schlägt Sickor folgende Prüfungsformel vor: Es müsste die Frage danach gestellt werden, ob bei hypothetisch unterstellter, vollständiger (...) Aufklärung alle Voraussetzungen einer rechtfertigenden Einwilligung unverändert bestehen bleiben. „Nur dann wäre der Aufklärungsmangel in Bezug auf die Unwirksamkeit der Einwilligung und damit auch
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bezüglich der Rechtswidrigkeit des Erfolgseintritts nicht zurechenbar“30. Daher sei auch zu prüfen, ob die Willensmängel oder die Einwilligungsfähigkeit auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung fortbestünden. „Auf logisch zulässigem und dogmatisch überzeugendem Wege wäre der von der Rechtsprechung erstrebte Erfolg einer Unbeachtlichkeit der Aufklärungspflichtverletzung für die ‘Einwilligung’ nur dann erreichbar, wenn neben der Frage, ob der Patient dem Eingriff auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zugestimmt hätte, zugleich diejenige gestellt würde und bejaht werden könnte, ob der Patient auch dann noch an den zuvor bestehenden Willensmängeln gelitten hätte“.
Der Ausgangspunkt der Analyse von Sickor ist zutreffend: Die Konsequenz der Formelanwendung bei der Einwilligung im normativen Sinne und im tatsächlichen Sinne ist unterschiedlich. Nach der Formel vom rechtmäßigen Alternativverhalten ist es notwendig, dass derselbe Erfolg auch dann entstanden wäre, wenn der Täter pflichtmäßig gehandelt hätte. Also muss der Erfolg derselbe sein. Die Einwilligung ist, wenn man sie normativ betrachtet, damit nicht vergleichbar, weil es den Unterschied zwischen der „wirksamen“ und der „unwirksamen“ Einwilligung gibt. Das Ergebnis von Sickor, dass die Formel der hypothetischen Einwilligung nur dann bejaht werden kann, wenn beim Patienten auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung die Willensmängel bestehen bleiben würden, kann aber in Wirklichkeit nicht durch die Anwendung dieser Formel erreicht werden. Das bedeutet nur, dass die erteilte ungenügende Aufklärung nichts mit den Willensmängeln des Patienten zu tun hat. Der Verletzungserfolg liegt in diesem Fall außerhalb des Schutzbereichs der Aufklärungspflichtwidrigkeit31. Denn der Erfolg ist unabhängig von der Aufklärungspflichtwidrigkeit eingetreten. Aber die Einwilligung des Patienten ist ohnehin unwirksam, weil beim Patienten Willensmängel vorhanden waren. In diesem Fall wird der Vorsatz des Arztes ausgeschlossen, weil er normalerweise diese Willensmängel des Patienten nicht erkennen kann. Da der Erfolg außerhalb des Schutzbereiches der Aufklärungspflichtwidrigkeit liegt, wird der Arzt nicht wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts verurteilt werden, wenn seine Pflichtwidrigkeit nur in seiner Aufklärungspflichtwidrigkeit liegt.
IV. Kritische Betrachtungen Die bisherigen Kritiken an der Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung treffen schon irgendwie zu. Aber die Argumentationen dürften die Befürworter 30 31
Sickor, JR 2008, S. 184. Damit ist gemeint, dass sie in Wirklichkeit zur oben im Urteil des BGH vom 29.6.1995 genannten Frage des Schutzbereichs der Norm gehört.
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dieser Rechtsfigur noch nicht überzeugen. Im folgenden ist meine Kritik aus dem normativen Sinn der Aufklärung zu entwickeln.
1. Der normative Sinn der Aufklärungspflicht a) Der Sinn der Aufklärungspflicht Die ärztliche Aufklärungspflicht ist eine Voraussetzung der wirksamen Einwilligung des Patienten. Die Einwilligung ist nur dann wirksam, wenn der Arzt den Patienten über das Für und Wider prinzipiell unterrichtet und ihm dadurch informatorische Entscheidungshilfe geleistet hat32. Die Einwilligung des Patienten ist in diesem Sinne nur insofern wirksam, als er seine Einwilligung gut informiert ohne beachtlichen Irrtum erteilt hat. Die Aufklärung ist also notwendig, um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu garantieren33. Die Einwilligung ist in der Regel dann unwirksam, wenn der Einwilligende in einen rechtsgutbezogenen Irrtum geraten ist und Willenmängel bei ihm vorhanden sind. Die Aufklärungspflichtwidrigkeit führt dann zur Unwirksamkeit der Einwilligung, wenn sie Willensmängel des Patienten verursacht hat. Wenn die Aufklärungsmängel keine Willensmängel verursachen, dann kann die Einwilligung theoretisch wirksam sein. Aber die Aufklärungspflichtwidrigkeit ist in der Regel ein Indiz für Willensmängel. Umgekehrt kann die Einwilligung des Patienten ohne ärztliche Aufklärung auch wirksam sein, wenn der Patient sich in keinem beachtlichen rechtsgutbezogenen Irrtum befindet34.
b) Normzweck der Aufklärungspflicht Die Aufklärungspflicht hat den Zweck, der Wirksamkeit der Einwilligung eine Grundlage zu liefern35. Sie hat eigentlich nicht den direkten Zweck, den Verletzungserfolg (z.B. Körperverletzung) zu verhüten. Denn der Verletzungserfolg beim Opfer entsteht dann nicht, wenn der Arzt überhaupt nicht damit begonnen hat, es zu operieren. Die Norm verbietet im Vorfeld die Verursachung des Verletzungserfolges bei den Körpervervetzungsdelikten noch nicht. Die Aufklärungspflicht an sich verlangt vom Arzt nur, dem Patienten genü32 33
34 35
Geilen, Handbuch, S. 351. Man nennt diesen Zweck der Aufklärung „Selbstbestimmungsaufklärung“. Hier ist von der „therapeutischen Aufklärung“, die mit der Wirksamkeitsfrage nichts zu tun hat, nicht die Rede. Vgl. Geilen, Handbuch S. 352. Der Patient kann auch auf die ärztliche Aufklärung verzichten (Aufklärungsverzicht). Vgl. Geilen, Handbuch, S. 360. Vgl. schon Yamanaka, Festschrift für Kamiyama, Bd. 1, S. 278.
238
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
gende Informationshilfe für seine Entscheidung über die Einwilligung zu geben, damit er seine Einwilligung wirksam erteilen kann. Erst mit dem unmittelbaren Ansetzen der Operation beginnt die Tatausführung der vorsätzlichen Köperverletzung. Vielleicht hat die Aufklärungspflicht in dieser Tatausführungsphase auch den Zweck, einen rechtwidrigen Körperverletzungserfolg zu verhüten. Aber das bedeutet nur, dass die Norm die „Operation ohne wirksame Einwilligung“ verbietet. Bevor wir den Normzweck auf dieser Ebene ausführlicher überprüfen, müssen wir noch den Sinn der Aufklärungspflicht im Vorfeld der Tatausführung in Betracht ziehen.
2. Verhältnis zwischen Aufklärungspflichtwidrigkeit und Einwilligung a) Aufklärungspflicht im Vorfeld der Tatausführung Als Ausgangspunkt der Betrachtung ist zu beachten, dass die Problematik der hypothetischen Einwilligung sich immer nur im Vorfeld der tatbestandlichen Körperverletzung abspielt36. Die Formel: „Auch wenn die ordnungsgemäße Aufklärung erteilt würde, wäre die Einwilligung des Patienten gegeben“, bedeutet, dass es sich nur um das Verhältnis zwischen der Aufklärungspflichtwidrigkeit und der „Einwilligung“ im Vorfeld der eigentlichen Tatausführung handelt37. Da die Einwilligung des Patienten jedenfalls erteilt wurde, scheint die „Einwilligung“ an sich bei dieser Situation unabhängig von Pflichtwidrigkeit oder Pflichtmäßigkeit der Aufklärung erteilt zu werden. Aber was bedeutet das?
b) Kausalzusammenhang zwischen der „Handlung“ und dem Erfolg Zuerst nehmen wir an, dass dieses Verhältnis den Kausalzusammenhang oder die objektive Zurechnung darstellt38. Denn die Frage nach der Kausalität oder der objektiven Zurechnung kommt immer dann in Betracht, wenn es sich um das Verhältnis zwischen „Handlung“ und Erfolg handelt, mit anderen Worten, wenn geprüft werden muss, ob die Handlung den Erfolg „verursacht“ hat. Dabei kann man davon absehen, ob es sich dabei um „Handlung“ auf der 36 37
38
Vgl. auch Gropp, Festschrift für Schroeder, S. 202. Denn die Operation wird durchgeführt, wenn der Patient seine Einwilligung erteilt hat. Der Ablauf des Geschehens nach Erteilung der Einwilligung ist in tatsächlicher Hinsicht derselbe sein, egal, ob die Aufklärung pflichtgemäß oder pflichtwidrig ist. Unten verwende ich nur die Terminologie der „Kausalität“ in diesem Kontext, weil sie die Grundlage der objektiven Zurechnung bildet.
§ 13. Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung
239
Ebene der Tatausführung oder auf der Ebene der Vorbereitung handelt39. Wenn man so denkt, dann hat diese Annahme einen guten Grund. Das Unterlassen der genügenden Aufklärung ist auch menschliche Handlung und die Einwilligung ist deren Erfolg, weil die letztere von der ersteren abhängen kann. Hier ist das Vorhandensein der Kausalität im natürlichen Sinne40 zwischen dem Unterlassen genügender Aufklärung und der erteilten Einwilligung zweifelsfrei. Das erstere und das letztere stehen nach der herrschenden Meinung in Verhältnis der condicio sine qua non. Aber diese tatsächliche Kausalität löst das Problem der hypothetischen Einwilligung nicht. Das Problem liegt in der normativen Bewertung der Einwilligung.
c) Kausalität der hypothetischen Einwilligung? Erhöht die mangelhafte Aufklärung vom Standpunkt ex post nicht das Risiko der Einwilligung? Hat die Norm der Aufklärungspflicht ex post gesehen keinen Sinn gehabt, die Einwilligung zu vermeiden? Diese Fragen sind ohnehin zu bejahen, wenn es sich dabei nur um die „Einwilligung“ an sich handelt, weil die „Einwilligung“ unabhängig von der mangelnden oder ordnungsgemäßen Aufklärung erteilt worden ist. Ohne eine Aufklärung – welcher Art auch immer – kommt es praktisch nicht zur einer Einwilligung. Hat aber die Norm, die eine genügende Aufklärung vor dem medizinischen Eingriff verlangt, den Zweck, die „Einwilligung“ überhaupt zu unterdrücken? Offensichtlich „Nein“. Wenn man vom Standpunkt des Normzwecks die Frage überprüft, so bezweckt die Aufklärungspflicht nur, die „unwirksame“ Einwilligung zu verhindern. Man muss also aus dieser Sicht nochmals die Frage nach der Risikoerhöhung beantworten. Das Risiko der „unwirksamen“ Einwilligung ist durch die mangelhafte Aufklärung wesentlich erhöht. Die hypothetische genügende Aufklärung kann diese Erhöhung nicht verhindern, weil sie einen anderen Erfolg, also die „wirksame“ Einwilligung, verursacht hätte41.
39 40 41
Dieser Satz ist zweifelsfrei, weil man auch von der Vorbereitungs-„Handlung“ oder Teilnahme-„Handlung“ sprechen kann. Vgl. Manfred Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 5 ff. Auch nach Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, S. 25, ist der Fall mit den bekannten Konstellationen des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht vergleichbar.
240
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
d) Kausalität der Rechtfertigungsgründe? Puppe und Gropp stellen es in Frage, ob die Anforderung des Kausalzusammenhangs zwischen Rechtfertigungsgründen und Erfolg überhaupt denkbar oder notwendig ist42. Wenn die Frage nur wäre, ob es überhaupt eine „Kausalität der Rechtfertigungsgründe“ geben kann, wäre es in Ordnung, weil wir nur die Möglichkeit der „Kausalität der Rechtfertigungsgründe“ überprüfen würden. Aber es verbleibt dann noch die Möglichkeit, sie auf der Tatbestandsebene einzuordnen. Nach meiner Auffassung ist die Frage, ob es sich um Kausalität zwischen Aufklärungspflichtwidrigkeit und Einwilligung handelt, unabhängig von der Einordnung der Frage der hypothetischen Einwilligung zu verneinen, wie unten näher ausgeführt wird.
e) Zwischenergebnis Die Aufklärungspflicht ist eine Anforderung (Voraussetzung) der Wirksamkeit der Einwilligung. Die Kausalität zwischen beiden ist nicht geboten. Die Tatbestandsmerkmale, die an sich nicht ein Element der Handlung, sondern nur eine Bewertung darstellen sollten, können nur insofern im Kausalzusammenhang stehen, als ihnen eine menschlichen Handlung zugrunde liegt. Deswegen ist es sinnlos, die Frage nach der Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Unwirksamkeit der Einwilligung zu stellen.
3. Verhältnis zwischen dem ärztlichen Eingriff ohne genügende Aufklärung und dem tatbestandlichen Erfolg Die Tatausführung der vorsätzlichen Körperverletzung beginnt mit dem unmittelbaren Ansetzen zum ärztlichen Eingriff. Im Zeitpunkt der mangelhaften Aufklärung liegt noch kein Versuchsbeginn vor. Wenn der ärztliche Eingriff ohne genügende Aufklärung durch einen solchen mit ihr hypothetisch ersetzt würde, so würde der tatbestandliche Körperverletzungserfolg im einschlägigen Fall auch eingetreten sein. Es ist völlig klar, dass der ärztliche Eingriff den Körperverletzungserfolg verursacht hat. Verneint wird hier nur die Ursächlichkeit des ärztlichen Eingriffs mit mangelhafter Aufklärung. Es wird in Frage gestellt, ob diese Ursächlichkeit für die Tatbestandserfüllung überhaupt notwendig ist.
42
Ich prüfe später in diesem Aufsatz noch diese Frage nach der objektiven Zurechnung der Rechtfertigungsgründe ausführlicher.
§ 13. Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung
241
a) Schutzbereich der Norm als Wirkungsbereich der Einwilligung Klar ist, dass der Arzt nicht immer den Tatbestand der Körperverletzung oder der Körperverletzung mit Todesfolge verwirklicht hat, wenn er seine Aufklärungspflicht verletzt hat. Wenn nämlich der eingetretene Erfolg außerhalb des Schutzbereiches der verletzten Norm, in diesem Fall also der Aufklärungspflicht, liegt, mit anderen Worten, wenn der Erfolg keine Verwirklichung des aufzuklärenden Risikos darstellt, ist der Erfolg nicht objektiv zurechenbar. Diese Frage ist jedoch keine Kausalitätsfrage, sondern die Frage des „Wirksamkeitsbereichs“ der Einwilligung. Wenn z.B. der Arzt den Patienten zwar über die Nebenwirkungen des eventuell zu verwendenden Medikaments nicht aufgeklärt hatte und als Folge der Operation, über deren Risiken der Arzt genügend aufgeklärt hat, die Lähmung einer Hand eingetreten ist, liegt der Erfolg außerhalb des Schutzzwecks der einschlägigen Aufklärungspflicht. Es ist zwar die „Grundaufklärung“ notwendig43, „wenn aber sonst über den entstandenen konkreten Erfolg aufgeklärt wurde, ist die Einwilligung insoweit wirksam.
b) Keine Parallelität zum rechtmäßigen Alternativverhalten Wenn der Erfolg auch dann entstanden wäre, wenn der Arzt ordnungsgemäß aufgeklärt hätte, dann stellt sich die Frage, ob der Erfolg außerhalb des Schutzzwecks der Norm liegt. Im Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens beim Fahrlässigkeitsdelikt ist die Frage zu bejahen. Denn die Norm hat vom Standpunkt ex post keine Funktion erfüllt. Die verletzte Verkehrsnorm hat z.B. keine Rolle gespielt, wenn der Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn der Täter diese Norm eingehalten hätte. Bei der hypothetischen Einwilligung dagegen gilt diese Formel nicht44. Die Aufklärungspflicht hat eigentlich, wie gesagt, nicht den Zweck, dem tatbestandlichen Erfolgseintritt vorzubeugen, sondern nur den, die wirksame Einwilligung zu garantieren. Wenn der Arzt diese Pflicht verletzt, ist die Einwilligung im Prinzip unwirksam. Aber der tatbestandliche Erfolg tritt schon dann ein, wenn der ärztliche Eingriff mit der, egal ob wirksamen oder unwirksamen, wenn überhaupt, Einwilligung des Patienten durchgeführt wurde. Die 43 44
Vgl. Geilen, a.a.O., S. 364 f.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis. 4. Aufl. 2008, S. 176. Sickor, JR 2008, S. 183 zeigt auch, dass der Deliktserfolg kein gewinnbringendes Zurechnungsobjekt ist: „Eine nach hypothetisch ordnungsgemäßer Aufklärung und gleichwohl erteilte tatsächliche wirksame Einwilligung vermag den Eintritt des Deliktserfolgs ja nicht zu hindern, sondern ihn ‘lediglich’ zu rechtfertigen“.
242
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Aufklärungspflicht hat nur indirekt den Zweck, den „Unrechtserfolg“, der ohne eine wirksame Einwilligung eintreten würde, zu verhindern, indem sie der unwirksamen Einwilligung vorbeugt. Die Aufklärungspflichtwidrigkeit führt zum Unrechtserfolg. Die Erfüllung der Aufklärungspflicht führt dagegen nicht zum Unrechtserfolg. Die hypothetische ordnungsgemäße Aufklärung kann, normativ gesehen, nicht den gleichen Erfolg wie die wirkliche mit sich bringen.
c) Keine Frage der objektiven Zurechnung Problematisch jedoch ist es, ob die Frage der hypothetischen Einwilligung überhaupt bei der objektiven Zurechung eingeordnet werden kann. Der Umstand, dass der Erfolg auch bei wirksamer Einwilligung eingetreten wäre, ändert nichts an der Unwirksamkeit der Einwilligung. Auch wenn hier die Terminologie des Normzwecks verwendet wird, bedeutet das nicht, dass die hypothetische Einwilligung zur Zurechnungsfrage gehört. Denn die Aufklärungspflichtwidrigkeit wirkt sich nur auf die Wirksamkeit der Einwilligung aus, nicht auf die Verhinderung des Erfolges. Kurz gesagt ist die Erfüllung der Aufklärungspflicht eine Voraussetzung der wirksamen Einwilligung.
4. Einwilligung als Zurechnungsausschluss bei den Rechtfertigungsgründen oder im Tatbestand a) Keine objektive Zurechnung auf der Rechtfertigungsebene Wenn man die Einwilligung bei den Rechtfertigungsgründen einordnet, wird die Struktur der hypothetischen Einwilligung noch klarer. Hier verhindert der ärztliche Eingriff, der durch keine wirksame Einwilligung gedeckt ist, die Rechtfertigung der tatbestandlichen Körperverletzung. Der Umstand, dass der Erfolg auch bei wirksamer Einwilligung eingetreten wäre, hat keinen Sinn, weil die wirksame Einwilligung die „Rechtfertigung“ gebracht hätte. Eingetreten ist nicht derselbe Erfolg, eingetreten sind vielmehr normativ verschiedene Erfolge. Denn die Wirksamkeit der Einwilligung ist nur die Voraussetzung für die Rechtfertigung des Tatbestandes von Körperverletzung. Die unwirksame Einwilligung führt nur dazu, dass die Rechtfertigung der ganzen tatbestandsmäßigen Tat und auch des Erfolges scheitert45. Die Rechtfertigungsbeurteilung 45
Es gibt Fälle, in denen nur der Erfolg gerechtfertigt wird, z.B.: der Todeserfolg wird gerechtfertigt, wenn der tödliche Schuss des Täters in mangelnder Kenntnis der Notwehrsituation zufällig das Leben des B, den der C gerade töten wollte, gerettet hat. Dieses Ergebnis wird erreicht, wenn man die Auffassung vertritt, dass es bei der Notwehr keinen Verteidigungswillen braucht.
§ 13. Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung
243
ist im Prinzip die normative Bewertung des gesamten Tatgeschehens, das von der tatbestandsmäßigen Handlung bis zum Erfolgseintritt verläuft. Ein Kriterium dieser Bewertung ist die Wirksamkeit der Einwilligung, die wiederum die ärztliche Aufklärung voraussetzt. Diese Bewertung als solche hat mit der Kausalität nichts zu tun. Die Frage nach der Struktur der hypothetischen Einwilligung hat daher nichts zu tun mit der Frage, wo im Straftataufbau, ob im Tatbestand oder bei den Rechtfertigungsgründen, die Einwilligung eingeordnet werden soll. Die Frage, ob der eingetretene Erfolg innerhalb des Schutzbereichs der Aufklärungspflicht bleibt, ist in Wahrheit keine Frage der objektiven Zurechnung, sondern die Frage des Wirksamkeitsbereichs der Pflicht. Dieses Element kann freilich auch ein Teil des Bewertungsobjekts für die Rechtfertigung sein.
b) Einwilligung als Zurechnungsausschluss? Die Einwilligung kann die Tatbestandsmäßigkeit ausschließen, weil es damit an der Erforderlichkeit des Rechtsgüterschutzes fehlt, also nicht an der objektiven Zurechnung. Die Einwilligung des Opfers verschiebt im Allgemeinen nicht die Verantwortlichkeit für die Erfolgsverursachung vom Täter zum Opfer46. Die Beihilfe zum Suizid ist z.B. in Deutschland nicht strafbar, aber in Österreich (§ 78 öStGB)47 oder in Japan (§ 202 jStGB)48 strafbar. Die Einwilligung des Opfers in den Tod schließt in diesen Ländern – wenn man nach der normativen Ansicht urteilt - die Verantwortlichkeit des Gehilfen nicht aus. Die Verallgemeinerung der Einwilligung als Zurechnungsgrund würde eine logische Verwirrung bei der Einwilligung als Tatbestandsmerkmal verursachen: Die Einwilligung des Hausbesitzers in das Betreten des Hauses durch einen Fremden schlösse z.B. nach dieser Theorie nicht die Tatobjektsverletzung, also die Hausrechtsverletzung, sondern die objektive Zurechnung aus. Um die 46
47
48
Jäger vertritt diese Theorie vor allem aus Anlass von Rothenfusser, Kausalität und Nachteil, 2003, S. 90 ff.; vgl. Jäger, a.a.O., S. 22 ff. Nach ihm müssen mehrere andere bisherige Rechtfertigungsgründe, wie Pflichtenkollision, Notwehrprovokation und mutmaßliche Einwilligung usw. zum Ausschluss der Tatbestandmäßigkeit verschoben werden. Mitwirkung beim Selbstmord: „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen“ (§ 78 öStGB). Vgl. Bruckmüller / Schumann, Die Heilbehandlung im österreichischen Strafrecht, in: Roxin / Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 686 ff. § 202 jStGB: „Wer einen anderen zum Selbstmord anstiftet oder ihm beim Selbstmord Hilfe leistet, oder auf sein Verlangen oder mit seiner Zustimmung tötet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis von sechs Monaten bis zu sieben Jahren bestraft“.
244
3. Die Lehre von der objektiven Zurechnung
objektive Zurechnung welchen Erfolgs würde es aber gehen? Der Einwilligende verzichtet auf den rechtlichen Schutz seines Hausrechts, d.h. er hat kein Rechtsgut mehr. Trotzdem ist der Unrechtserfolg eingetreten?
V. Fazit Die Lehre von der objektiven Zurechnung hat im Bereich der Einschränkung des natürlichen Kausalzusammenhangs reichliche Ernte mit sich gebracht. Andererseits wurde ihr Anwendungsbereich bereits sehr erweitert49. Über sie ist gesagt worden, sie erfasse immer mehr Anwendungsbereiche „wie ein riesiger Krake mit zahllosen Tentakeln“50. Die Frage der hypothetischen Einwilligung, die zur objektiven Zurechnung zu gehören scheint, gehört nicht zur objektiven Zurechnung, sondern zur Voraussetzung der wirksamen Einwilligung. Der Schutzbereich der Aufklärungspflicht begrenzt die Reichweite der ärztlichen „Aufklärung“. Deshalb führt die Aufklärungspflichtwidrigkeit nicht zum Unrechtserfolg, wenn der Erfolg nicht aus dieser Pflichtverletzung entstanden ist. Die hypothetische ordnungsgemäße Einwilligung kann die Pflichtwidrigkeit des Arztes nicht rückgängig machen. Das Argument der Parallelität zum rechtmäßigen Alternativverhalten macht beim Grundgedanken einen wesentlichen Fehler, da es sich hier um die normative Bewertung des Erfolgs handelt. Wenn man dies mit einer Formel ausdrücken würde, so würde sie lauten: Der bei der hypothetischen Einwilligung eintretende Erfolg ist „als Unrecht wirksam“, während bei der realiter erteilten Einwilligung der Erfolg „unwirksam“ ist. Die Formel bringt deswegen nichts.
49
50
Der Versuch von Frisch, die tatbestandsmäßige Handlung nach außerhalb der objektiven Zurechnung zu verschieben, war auch ein Versuch der Einschränkung der Lehre von der objektiven Zurechnung. Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Erfolgszurechnung, 1988, S. 7 ff. Vgl. Schünemann, Über die objektive Zurechnung, GA 1999, S. 207.
VIERTER TEIL: AUFGABEN UND TENDENZEN DER JAPANISCHEN STRAFRECHTSWISSENSCHAFT
§ 14. Das Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts I. Einleitung 1. Ein Beispiel am Anfang: Verkehrzeichen in Deutschland und in Japan Vor 20 Jahren habe ich in München den Führerschein erworben. Unmittelbar danach bin ich in Deutschland noch manchmal Auto gefahren. Heutzutage fahre ich in Japan nur ganz selten. Beim Fahren kann man den Unterschied des Rechtsdenkens in Deutschland und in Japan deutlich erkennen: Will man in Deutschland von der Autobahn durch die Ausfahrt zur Landstraße fahren, braucht man nur den Verkehrszeichen zu folgen. Wenn man sich vor der Ausfahrt an den Hinweis „Noch 100 m“ hält, dann kann man problemlos und sicher über die Ausfahrt zur Landstrasse kommen. Das gilt in Japan nicht. Wenn ich z.B. aus Richtung Kyoto über den Highway nach Hause nach Osaka fahre und die Ausfahrt erreichen will, muss ich an der Suita etwa fünf Fahrbahnen sehr schnell überqueren. Bis kurz vor der Ausfahrt gibt es darauf kein Hinweiszeichen. Es ist sogar nicht selten so, dass sich die Highway-Ausfahrt nicht auf der linken Straßen-Seite befindet. Dem Fahrer wird vor der Ausfahrt eine abenteuerliche Fahrweise abverlangt. Die Ausfahrt vom Highway hat nicht selten eine scharfe Kurve, in der man schon bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h in fahrerische Schwierigkeiten gerät. Wenn man über eine Nationalstraße – sie entspricht einer deutschen Bundesstraße – die wie ein Highway ausgestattet ist, über Land fährt, sieht man Verkehrszeichen, die absurder Weise die Geschwindigkeit auf „80 km/h“ beschränken. In Wirklichkeit fahren fast alle Autos mit einer Geschwindigkeit von über 130 km/h. Bei Einhaltung der Norm würde eher die Gefahr bestehen, einen Verkehrsunfall zu verursachen. Die auf „Grün“ folgende Ampelfarbe „Gelb“ bedeutet in Japan „Halten, wenn es nicht gefährlich ist“. Aber in Osaka versteht man sogar das Rot der Ampel, das nach „Gelb“ kommt, als Zeichen für „Noch schneller fahren, solange keine anderen Autos die Kreuzung überqueren“. Wenn man rechtzeitig bei Rot hält, erhöht man das Risiko erheblich, dass es durch nachfolgende Autos zu Auffahrunfällen kommt.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
2. Hinweis auf das japanische Normbewusstsein Die genannten Beispiele deuten darauf hin, dass Normen in Japan keine allgemeine Geltung haben, da ihre Einhaltung den Bürger nicht immer zu einem seiner Lage entsprechendem Verhalten veranlasst. Eine faktische Geltung der Rechtsnorm ist also nicht immer gegeben. Wenn das aber der Fall ist, wie soll man sich dann in Japan verhalten, woran sich dabei orientieren? Einerseits mag die wirkliche Norm die Sozialnorm sein, die besser zur sozialen Wirklichkeit passt, andererseits gibt es die Rechtsnorm, bei deren Verletzung die Wahrscheinlichkeit einer Sanktionszufügung relativ hoch ist. In Japan herrschen also zwei Normen: Die Sozialnorm als eine lebende und geltende Norm und die Rechtsnorm nur als Sanktionsnorm, die eine hohe Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Geltendmachung aufweist. Daraus ergibt sich, wenn man die Sache umgekehrt sieht, die Diskrepanz zwischen dem bürgerlichen Bewusstsein von „formalem“ und „strafwürdigem“ Unrecht. Für das letztgenannte Bewusstsein ist ein normwidriges Verhalten zwar rechtswidrig, aber nicht in strafwürdiger Art und Weise1, wenn die Normwidrigkeit zu keinem konkreten Schaden führt. Die Diskrepanz zwischen Sozialnorm und Rechtsnorm2 im Bereich des Kernstrafrechts ist indes nicht groß. Die Rechtsnormen werden dort von der sozialen Ethik flankiert. Aber es gibt ein breites Feld von Verwaltungsstrafrecht im japanischen Rechtssystem. Ein Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gibt es in diesem System nicht. Die Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten werden z.B. mit Strafe bedroht. Beim Verwaltungsstrafrecht sind die technischen Verwaltungsstrafvorschriften nicht immer durch die soziale Ethik flankiert. Insoweit garantiert nur die Wahrscheinlichkeit der Sanktionierung, also die Entdeckungsgefahr im Falle der Begehung einer Straftat, die Normbefolgung3. Die
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In Japan entwickelt sich die Lehre von der Strafrechtswidrigkeit. Als deutsche Monographie vgl. Hans-Ludwig Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983. Vgl. Yamanaka, Wandelung der Strafrechtsdogmatik nach dem 2. Weltkrieg – Zugleich Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatlehre –, in: Jehle / Lipp / Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, 2008, S. 173 ff. Eine Untersuchung durch eine Forschungsgruppe für „den internationalen Vergleich von Rechtsbewusstsein“ zeigt ein solches japanische Rechtsbewusstsein. Es wurde untersucht, wer unter Japanern, Amerikanern und Chinesen die Frage, „ob man meint, es sei absurd, dass man auch dann das Gesetz einhält, wenn die Gesetzverletzung nicht entdeckt wird“, am meisten mit „ja“ beantwortet haben. Das Ergebnis: Japaner bejahten die Frage am meisten (26%). Dreiviertel der Amerikaner antworteten mit „nein“. Vgl.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts
249
informelle Sozialkontrolle in der japanischen Gesellschaft ist in den großen Städten heutzutage ziemlich schwach geworden4. Einflussreich ist nur der soziale Vorwurf durch die Massenmedien.
II. Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gesellschaft im Bereich der „Strafgesetzgebung“ 1. Entstehung des geltenden StGB Das geltende japanische StGB ist gerade vor 100 Jahren, im Jahre 1908, in Kraft getreten5. Unmittelbar nach der Meiji-Restauration hat die damalige Regierung dreimal Strafgesetzbücher erlassen, die dem alten japanischen und chinesischen Rechtsdenken folgten: das „Karikeiritsu“ vom 1868, das „Shinritsu Koryo“ von 1870 und das „Kaitei Ritsurei“ von 1873. Diese Strafgesetzbücher wiesen starke Züge der alten japanisch-chinesischen Strafvorschriften auf und sind, wie damals üblich, der Bevölkerung nicht verkündet worden6. Erst das erste japanische StGB, das europäische Rechtsgedanken enthielt, wurde 1880 öffentlich bekannt gemacht und ist 1882 in Kraft getreten. Heutzutage bezeichnet man dieses StGB als das „alte StGB“. Die Motivation für die Rezeption des StGB aus Europa lag teilweise darin, dass die fehlende Harmonie zwischen dem StGB und den Nebenstrafgesetzen bzw. der Strafprozessordnung auffällig geworden war. Der hauptsächliche Grund für die Rezeption des europäischen Rechtssystems war jedoch die aus Sicht der damaligen Regierung bestehende Notwendigkeit, eine Fassade der Modernisierung Japans vor den europäischen Ländern zu errichten, um eine
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Hayao Kawai / Masanobu Kato (Hrsg.): Menschliche Psyche und Recht (Ningen no Kokoro to Ho), 2003, S. 212 ff. Vgl. Yamanaka, Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik – Ist der Sicherheitsmythos in Japan zusammengebrochen?, Kansai University Review of Law and Politics Nr. 30, 2009, S. 39 ff. Vgl. Yamanaka, Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan – 100 Jahre nach dem Inkrafttreten des geltenden StGB, in: Páywaczewski (Hrsg.), (noch nicht erschienen) In polnischer Sprache ist die Veröffentlichung in der Zeitschrift „Pastwo i Prawo“ geplant. Diese Erlasse waren nur Sanktionsnormen für die Beamten, die nach diesem Erlass die Fälle aufarbeiten sollten. Die Untertanen brauchten keine Kenntnisse von der Norm zu haben.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Reform der mit mächtigen Ländern geschlossenen ungleichen Verträge7 zu erreichen und die darin vorgesehene Exterritorialität abzuschaffen. Das alte StGB hatte der französische Rechtslehrer Gustave Boissonade (1825– 1910) entworfen, der 1873 als Rechtsberater aus Paris gekommen war8. Sein Entwurf wurde durch ein Beratungskomitee für den Strafgesetzentwurf geprüft und modifiziert. Das StGB stand nicht nur unter den Einflüssen des französischen Strafrechtsdenkens, sondern auch des belgischen StGB usw.9 Als Grund, gerade die Gedanken des französischen Strafrechts zu rezipieren, wurden verschiedene Faktoren genannt: Erstens hat schon von früher eine freundschaftliche diplomatische Beziehung zwischen dem Shogunat und Frankreich bestanden10. Zweitens dachte man damals, dass der Code Napoléon von 1810 ein Muttergesetz der anderen europäischen Strafgesetze sei. Schon vor der Meiji-Restauration (1868) gab es Übersetzungen der französischen Gesetze. Drittens hat man als Folge davon Boissonade aus Frankreich als Rechtsberater eingeladen11. Kritik am alten StGB erhob sich schon während der 10 Jahre nach seinem Inkrafttreten: Die Strafrechtslehre des Neo-Klassizismus war erstens nach Ansicht der modernen Schule, die damals mit der Devise „Sozialverteidigung mit härterer Strafe“ einflussreich geworden war, zu „tolerant und schwach“ gegenüber den Kriminellen und für die Kriminalprävention ungeeignet. Hintergrund waren Umstände, unter denen in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine starke Zunahme der Kriminalität zu verzeichnen war. Zweitens wechselte man im Zuge der Rezeption ausländischer Rechtssysteme damals gerade vom französischen zum deutschen Rechtssystem. Die wichtigste Aufgabe der damaligen Regierung war die Schaffung einer Verfassung, um einen zentralisierten Tenno-Staat zu festigen. In der preußischen Verfassung sah man ein Vorbild. Die „Große Kaiserliche Verfassung“ von 1889 wurde mit diesem 7
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Das Shogunat hat im Jahre 1859 mit 5 Ländern, nämlich USA, England, Frankreich, Niederlande und Russland, je einen ungleichen Handelsvertrag abgeschlossen, in dem z.B. deren Exterritorialität anerkannt wurde. Er war Assistenzprofessor an der Universität Paris. Boissonade sammelte möglichst neue und weltweite Kenntnisse über das StGB in den damaligen entwickelten Ländern. Er war Schüler von Elzear Ortolan (1802–1905), der der Repräsentant der neu-klassischen Schule an der Universität Paris war. Das Shogunat hat in der Endphase der Shogunatszeit das militärische System Frankreichs übernommen. Vgl. Toshio Sawanobori, Boissonade und die Strafrechtslehre in der frühen Meiji-Zeit, in: Naito / Nakayama / Odanaka / Mitsui (Hrsg.), Keihorironshi no Sogotekikenkyu (Gesamtstudien zur Geschichte der Strafrechtslehre), 1994, S. 2 ff.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts
251
Hintergrund entworfen. Aus Anlass dieser Wende begann die Rezeption des deutschen Rechts auf allen Rechtsgebieten. In Deutschland herrschte damals die moderne Schule, deren Züge das japanische StGB daher trägt. 1907 ist dieses geltende StGB verkündet worden und 1908 in Kraft getreten. Wie die Gesetzgebungsgeschichte des alten StGB gezeigt hat, war dem Gesetzgeber vor allem die Vortäuschung eines europäischen Inhalts des Gesetzes wichtig. Das StGB ist insgesamt in Kraft getreten. Bei der Schaffung des BGB ist demgegenüber die Rezeption des französischen Rechts gescheitert, weil es nicht zu der japanischen Anschauung über die Familie und den japanischen Sitten passte. Ein damals bekannter Jura-Professor, Yatsuka Hozumi (1860– 1912), kritisierte den BGB-Entwurf von Boissonade auf folgende Wiese: „Das BGB erscheint, Loyalität und Gehorsam verschwinden“. Das Inkrafttreten des alten StGB spiegelte nicht die Wirklichkeit und das Sozialbewusstsein der damaligen Gesellschaft wider, sondern funktionierte als symbolische politische Gesetzgebung. Die Proklamation des noch heute geltenden StGB von 1907 war wahrscheinlich auch nicht mit dem Sinn und der Erwartung einer zur damaligen Gesellschaft passenden Gesetzgebung verknüpft, sondern hat auch den Zweck gehabt, einen neuen symbolischen Wert zu vermitteln12.
2. Zurückhaltung des Gesetzgebers In Japan waren Gesetzgebungsakte im Bereich des Kriminalrechts bis vor kurzem nicht häufig13. Wie später gezeigt wird, mussten die Gerichte deshalb den alten Gesetzen durch eine extrem ausdehnende Auslegung ein neues Leben geben, um sie an die sich ständig weiterentwickelnde soziale Wirklichkeit anzupassen14. Der Grund für die Zurückhaltung des japanischen Gesetzgebers, Straftatbestände anzupassen oder neu einzuführen, liegt wohl darin, dass in Japan eine allgemeine Abneigung gegenüber präventiven Lösungen zu neu aufgetauchten sozialen Konflikten besteht, da es den meisten zu unsicher erscheint, ob die präventive strafrechtliche Sanktionierung später auch zu den richtigen und politisch gerechten Lösungen führen 12
13 14
Die erträumte Vertragsreform, einen auf Gleichheit beruhenden Handels- und Schifffahrtsvertrag mit den obengenannten fünf Ländern neu abzuschließen, ist teilweise schon 1894 mit England und erst 1911 mit den USA verwirklicht worden. Vgl. Yamanaka, Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan, in: Páywaczewski (Hrsg.) (Fn. 4). Vgl. Yamanaka, Das Gesetzlichkeitsprinzip im japanischen Strafrecht, Kansai University Review of Law and Politics Nr. 11, 1990, S. 109 ff..
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
kann15. Es gibt vielmehr Tendenzen, die Lösung des Problems zunächst der Verwaltungsanleitung (Gyoseishido), den „Richtlinien“ der halbautonomen Gruppen oder sonstigen sozialen Normen zu überlassen.
3. Keine flankierende Wirkung der Moral auf dem Gebiet der nebenstrafrechtlichen Regelungen In Japan wird die Strafe zur Flankierung von Verwaltungsnormen überall verwendet. Das Verwaltungsstrafrecht umfasst die Strafgesetze, deren Hauptziel in verschiedenen Verwaltungsregulierungen liegt, z.B. in der Sicherung des Straßenverkehrs, des Umweltschutzes oder des Schutzes von Staatsorganen. Dieser Zweck des Verwaltungsstrafrechts wird in Deutschland mit dem Ordnungswidrigkeitsgesetz verwirklicht. Man hat in Japan den Eindruck, die Bereiche der Liberalität und der Regulation in der Gesellschaft seien fleckenartig miteinander vermischt. Der baurechtliche Schutz vor Verunstaltung des Städtebilds ist z.B. sehr großzügig und locker. Die Städte werden mit bunten Reklamenschildern überflutet; ungleichartige Häuser, Hochhäuser und Fabriken stehen nebeneinander. Japanische Städte zeugen ein chaotisches, uneinheitliches Stadtbild. Wenn ich noch ein anderes Beispiel nennen darf, möchte ich den Fall des Verbots der Pornographie anführen: Die Strafvorschriften gegen pornographische Schriften sind in Japan eigentlich breiter und strenger als in Deutschland. Trotzdem gibt es eine Flut von halb-pornographischen Zeitschriften oder Mangas (Comics) in den Buchhandlungen und Kiosken in Japan. Die Polizei deckt die Straftaten betreffend des Verkaufs pornographischer Schriften (u.a. § 175 StGB) nur manchmal auf. Das im StGB enthaltene Pornographieverbot ist wie eine Fassade. Auch Kinder sind in Wirklichkeit dadurch nicht geschützt. Außerhalb der Kerngebiete der traditionellen Moral, „Du sollst einen anderen nicht töten“ oder „Du sollst fremde Sachen nicht stehlen“ sind die hindernden Kräfte der Moral oder der informellen Sozialkontrolle sehr schwach geworden. Das gilt besonders für Verletzungen der Verwaltungsstrafgesetze, die keine individuellen Opfer haben. Dort gibt es keine Flankierung der Gesetze durch
15
Vgl. Yamanaka, Der Menschen Leben und Tod – Der Schutz des werdenden und des endenden Lebens im japanischen Recht, in: Kitagawa / Nörr / Oppermann / Shiono (Hrsg.), Das Recht vor der Herausforderung eines neuen Jahrhunderts; Erwartungen in Japan und Deutschland, 1998, S. 412 f.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts
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die bürgerliche Moral16. Nur die Entdeckungswahrscheinlichkeit und das Bewusstsein der Bestrafungsgefahr haben einen gereralpräventiven Effekt. Es ist unklar, ob diese Uneinheitlichkeit der Gesetzgebung das Bewusstsein der Bevölkerung widerspiegelt oder ob es an politischer Anleitung fehlt. Jedenfalls scheint mir die neue bürgerliche Moral im alltäglichen Leben in der japanischen Gesellschaft noch nicht genügend entwickelt zu sein.
III. Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gesellschaft im Bereich der „Auslegung“ des Strafrechts 1. Normgestaltungskräfte der Tatsachen Wenn es eine Diskrepanz zwischen Norm und der Realität der Gesellschaft gibt, muss man die Situation dadurch lösen, dass man die erstere an die letztere anpasst oder umgekehrt. Die Normgestaltungskraft der Tatsachen kann in zwei Formen funktionieren: Einerseits im Wege einer Reform des Gesetzes, andererseits in Gestalt der teleologischen Auslegung der bestehenden Norm. Dort, wo der Gesetzgeber häufig die Gesetze reformiert, ist das Spannungsverhältnis durch die erstgenannte Methode besser zu lösen. Wenn der Gesetzgeber hingegen aus irgendeinem politischen Grund die Gesetze nicht reformieren kann oder will, ist die Problemlösung der Justiz zu überlassen.
2. Analogieverbot Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip17 spielt eine Rolle bei der Verhinderung grenzenloser teleologischer Auslegung. Die der sozialen Realität entsprechende Auslegung ist nur insofern erlaubt, als sie dem Gesetzlichkeitsprinzip nicht widerspricht. Das Gesetzlichkeitsprinzip hat heutzutage im japanischen Strafrecht eine unerschütterliche, sichere Stellung, obwohl es keine besondere Vorschrift dazu im StGB gibt18. Unter den verschiedenen aus ihm ableitbaren Prinzipien ist die Bedeutung des Analogieverbots bei konkreten Anwendungsfällen im materiellen Recht fragwürdig. Die Grenze der extensiven Auslegung scheint ziemlich weit zu sein. Schon früher hat die Judikatur in Japan der elastischen Auslegung 16
17 18
Vgl. Yamanaka, Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik – Ist der Sicherheitsmythos in Japan zusammengebrochen? Przeglad Policyjny, Jahrgang Nr. 2 (90), 2008, S. 5 ff. Vgl. Yamanaka, Review of Law and Politics Nr. 11, S. 109 ff. Die Grundlage für das Gesetzlichkeitsprinzip ist Art. 31 der japanischen Verfassung.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
den Vorzug gegeben. Die Praktiker sind sehr stolz darauf, dass sie die formellen und manchmal unpraktischen Gesetze mit ihrer Auslegungstechnik mit Leben füllen können. Noch während der Zeit des alten StGB hat das japanische RG etwa den Diebstahl von Elektrizität als „Diebstahl der Sache“ beurteilt19. Dabei hat das jap. RG unter den Begriff „Sachen“ nicht „körperliche“ Gegenstände, sondern „verwaltbare“ Gegenstände subsumiert. Auch im geltenden StGB gibt es Paragraphen, die die Elektrizität als „Sache“ ansehen (§ 245, 251). Vor relativ kurzer Zeit hat die Judikatur den Urkundencharakter von Fotokopien bejaht und auch die magnetischen Daten der Scheckkarte als Urkunden eingestuft. Das Gericht argumentiert für die Urkundeneigenschaft des Teils der magnetischen Daten wie folgt: Es bedarf zwar der „Lesbarkeit“ oder „Sehbarkeit“ der Urkunde, aber bei der Scheckkarte sei der Teil der Kartenoberfläche und der Teil der magnetischen Daten als ein einheitlicher Gegenstand zu sehen20. Fälle des Kreditkartenmissbrauchs hat die Judikatur als Betrug (§ 247) angesehen.
3. Fälle des Analogieverbots a) Fall 1: „Hineinguck“-Fall Nach dem Bagatelldeliktegesetz (BDG) wird „derjenige, der ungerechtfertigterweise in eine fremde Wohnung, ein Badezimmer, einen Umkleideraum, eine Toilette oder sonstigen Ort, wo man sich in der Regel, ohne eine Kleidung zu tragen, aufhält, heimlich hineingesehen hat“ (§ 1 Nr. 23 BDG), „mit Haftstrafe oder leichter Geldstrafe“21 bestraft (§ 1 BDG). Ein Mann schlich sich in den Toilettenraum für Damen in einem Supermarkt ein, um den benachbarten Einzelraum, der gerade benutzt wurde, mit seiner Videokamera heimlich aufzunehmen. 19
20
21
Urteil des japanischen Reichsgerichts vom 21.5.1903, Keiroku 17, 197. Dagegen hat das RG in Deutschland den Elektrizitätsdiebstahl nicht als Diebstahl angesehen (RGSt, 32, 165=Urteil vom 1.5.1899). Vgl. Yamanaka, a.a.O., Review of Law and Politics, Nr. 11, S. 114 ff. Diese Auslegung gilt heute nicht mehr, weil der Gesetzgeber 1987 eine neue Vorschrift für die Herstellung der elektro-magnetischen Daten eingefügt (§ 161b) und sogar seit 2001 eine neue Vorschrift für die Herstellung der elektro-magnetischen Daten für die Bezahlungskarte geschaffen hat (§ 163b). Dazu vgl. Yamanaka, Zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bekämpfungen gegen die High-Tech-Kriminalität in Japan, in: Emil Páywaczewski (Hrsg.), Aktualne Probemy Prawa Karnego i Kriminologii, 2005, S. 394 ff. Die „Haftstrafe“ muss nicht unter einem Tag und weniger als 30 Tage sein (§ 16 StGB). Die „leichtere Geldstrafe“ (auf Japanisch: „Karyo“) bedeutet eine Geldstrafe „nicht unter 1.000 Yen“ und „weniger als 10.000 Yen“ (§ 17 StGB). Die normale „Geldstrafe“ (auf Japanisch: „Bakkin“) muss „nicht unter 10.000 Yen“ sein (§ 15 StGB). Die Obergrenze der Geldstrafe wird in jedem Strafrahmen vorgeschrieben.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts
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Er hat eine Frau im benachbarten Raum unter der Trennwand hindurch aufgenommen, ohne dabei durch den Sucher des Video-Gerätes zu schauen. Er wurde festgenommen, bevor er die aufgenommene Szene, die nur aus einem Teil des Klos und den Unterschenkeln und den Schuhen der Frau bestand, angesehen hatte. Die Frage war, ob seine Handlung den Tatbestand des § 1 Nr. 23 BDG erfüllte. Das Gericht22 bejahte diese Frage und hat den Mann wegen des vollendeten Guck-Delikts verurteilt. Die Begründung des Amtsgerichts war folgende: „§ 1 Nr. 23 BDG bezweckt den Schutz des Rechts auf den Schutz der Intimsphäre. In materieller Hinsicht gibt es bzgl. der Verletzung der Intimsphäre keinen Unterschied zwischen eigenem Hinsehen und der Aufnahme mit einem VideoGerät. Vielmehr ist es nicht nur möglich, das Videoband mehrmals wiederholt wiederzugeben, sondern auch der Grad der Verletzung der Intimsphäre ist erheblich schwerer als bei eigenem Hinsehen, weil man das aufgenommene Band vervielfältigen kann...“. Diese Art und Weise der Argumentation vergleicht den Grad beider Rechtsgutsverletzungen, „Hineinsehen“ und „Aufnahmehandlung ohne eigenem Hinsehen“. Das Resultat der Argumentation war, dass die Rechtsgutsverletzung durch die Aufnahmehandlung schwerer sei als durch eigenes Hinsehen. Deswegen sei die Aufnahme „ohne weiteres“ zu bestrafen (argumentum a fortiori). Wenn man jedoch von einer Auslegung verlangt, dass sie innerhalb des möglichen Wortsinns liege, so muss man danach fragen, ob die Aufnahme mit der Videokamera innerhalb des Wortsinns von „Hineinsehen“ bleibt. Die Argumentation des Gerichts war daher eine Analogie.
b) Fall 2: Bestrafung von Fahrlässigkeitsdelikten § 38 Absatz 1 StGB trifft folgende Regelung: „Die Tat ohne den Willen, eine Straftat zu begehen, ist nicht strafbar. Das gilt jedoch nicht, wenn es eine Sonderregelung im Gesetz gibt“. Der „Wille, eine Straftat zu begehen“ meint den Vorsatz. Deswegen bedarf es einer besonderen Anordnung, wenn eine fahrlässige Straftat bestraft werden soll. Das gilt auch für die Delikte des Nebenstrafrechts (§ 8 StGB). A hat Dieselöl beim Tanken eines Transportschiffs fahrlässig ins Meer fließen lassen. Das alte „Gesetz betreffend die Verhinderung der Meerverschmutzung durch Öl von Schiffen“ regelt in seinem § 5 Abs. 1 „Vom Schiff darf im folgenden Teil des Meeres kein Öl ins Meer fließen“. § 36 des Gesetzes bestimmt als Strafe Freiheitsstrafe bis zu 3 Monaten oder Geldstrafe bis zu hunderttausend Yen). Es gab keine Sonderregelung für fahrlässige Bege22
Urteil des Amtgerichts Kesennuma vom 5. November 1991, Hanrei Times Nr. 773, S. 271.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
hungsweise. Der OGH hat den Täter verurteilt23: Er begründete dies mit dem Satz, das Gesetz habe den Zweck, auch fahrlässige Taten zu bestrafen. Die Vorinstanz, das OLG Tokyo argumentierte wie folgt: „Auch wenn es nach dem Wortlaut des Gesetzes die Bestrafung eines Fahrlässigkeitsdelikts nicht ausdrücklich umfasst ist, besteht eine Sonderregelung im Sinne des § 38 Abs. 1, da man eine Interpretation vornehmen kann, wonach es für die einschlägige Bestrafungsvorschrift angesichts des Sinns und Zwecks der einschlägigen Gesetzgebung und im Zusammenhang mit den einschlägigen Vorschriften ersichtlich ist, dass auch fahrlässige Taten bestraft werden sollen“24. Ob die Auslegung der „Sonderregelung“ vom Gericht noch innerhalb des möglichen Wortsinns bleibt, ist fraglich: § 38 Abs. 1 verlangt eine Vorschrift für die Bestrafung fahrlässiger Taten expressis verbis bestimmt ist. Eine mögliche extensive Auslegung käme in Betracht, wenn die Vorschrift nicht Worte wie „fahrlässig“ , „leichtfertig“ oder „unsorgsam“ verwendete, sondern das Wort „nachlässig“ oder „außer Acht lassen“. Die Auslegung, die aus dem Zweck oder Sinn des Gesetzes abgeleitet wird, ist zu weit und unklar. Die Judikatur hat einmal die frühere Vorschrift der StVO25, die das „Fahren, ohne einen Führerschein bei sich zu tragen“ unter Strafe stellte, so interpretiert, dass auch das fahrlässige Fahren ohne Führerschein strafbar sei. Da fast niemand absichtlich ohne Mitführen des Führerscheins fahre, hätte diese Vorschrift keinen Sinn, wenn man mit ihr nicht auch die fahrlässigen Taten bestrafen könnte. Mir scheint es aber nicht Sache der Justiz zu sein, Fehler des Gesetzgebers durch (unrichtige) Auslegung auszugleichen.
IV. Das Spannungsverhältnis zwischen der Norm und ihrem Vollzug im Bereich des „Verwaltungsstrafrechts“ 1. „Ideal“ und „Wirklichkeit“ im Recht Das Recht soll das Ziel, die Idee, das Ideal oder Prinzip zeigen, wie es sein soll oder was man tun soll. In der Wirklichkeit läuft es anders. Wenn man das Gesetz auf die Tatsachen anwenden will, muss man mit der Wirklichkeit einhergehen. Wir brauchen keine Gesetz-Anwendungs-Maschinen, sondern Menschen, die das Gesetz elastisch, je nach Situation anwenden können. 23 24 25
Urteil des OGH vom 2. April 1982, Keishu, Bd. 36, Heft 4, S. 503. Urteil des OLG Tokyo vom 20. September 1982, Kokeishu, Bd. 32, Heft 2, S. 179. Die geltende Vorschrift der StVO (§§ 95, 121 Abs. 2) bestraft expressis verbis auch das fahrlässige Fahren ohne Führerschein.
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Zwischen dem StGB als Norm und seiner Anwendung bzw. seinem Vollzug steht die „Anklageerhebung“ durch die Staatsanwaltschaft. Die japanische Strafprozessordnung geht vom Opportunitätsprinzip aus (§ 248 StPO). Deswegen brauchen nicht alle Straftaten angeklagt zu werden. Aber es gibt auch die Strafvorschriften, die selten angewandt werden wie das Verbot der Doppelehe, Hochverrat oder Aufruhr.
2. Strafnormen praktisch ohne Anwendung Fall 1: Abtreibung Das japanische StGB regelt die Abtreibungsdelikte in den §§ 212 ff. Es gibt keine Vorschrift im StGB, die eigens für die Abtreibung einen Rechtfertigungsgrund regelt. Wir haben jedoch ein besonderes Gesetz über die Rechtfertigung der Abtreibung, das sog. „Mutterleibschutzgesetz“ (MSG). Der sog. künstliche Schwangerschaftsabbruch ist nach diesem Gesetz erlaubt (§ 14 Abs. 1 MSG). Als Folge dieser Erlaubnisnorm haben die Abtreibungstatbestände praktisch keinen Sinn mehr. Als Indikationen anerkannt sind die körperliche, die soziale und die sittliche Indikation (§ 14 Abs. 1 MSG). Die Frist für den Schwangerschaftsabbruch ist auf die Zeit innerhalb 22 Wochen nach der Befruchtung beschränkt. Erforderlich sind die Einwilligung der Schwangeren und ihres Ehemanns. Die Maßnahme muss durch einen von der Ärztekammer bestimmten Arzt durchgeführt werden. Künstliche Schwangerschaftsabbrüche wurden im Jahr 2006 in Japan insgesamt in 276.352 Fällen ausgeführt. Dagegen gibt es keinen Fall strafbarer Abtreibung im Jahrbuch der Justizstatistik (2005) oder im jährlichen „Weißbuch zur Kriminalität“. Unter den drei genannten wird fast nur die „soziale Indikation“ wirklich angewandt. Die Verbotsnorm der Abtreibung scheint im Bewusstsein der Bevölkerung keinen Platz mehr zu haben. Jahr 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Schwangerschaftsabbruch Anzahl Vollzugsrate (%)26 341.146 11,7 341.588 11,8 329.326 11,4 319.831 11,2 301.673 10,6 289.127 10,3 276.352 9,9
Rate gegen Geburtenanzahl (%) 28,7 29,2 28,5 28,5 27,2 27,2 25,3
Tabelle 1 Anzahl von Schwangerschaftsabbrüchen seit 2000 bis 2006 26
Vollzugsrate bedeutet den Anteil der Frauen im Alter zwischen 15 und 50 Jahren, die einen Schwangerschaftsabbruch hatten, unter 1.000 Frauen (in Promille).
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
3. Strafnormen mit seltenem Vollzug Die Umweltkriminalität bezieht sich in Japan nicht auf Tatbestände im StGB, sondern auf solche im Neben- und/oder Verwaltungsstrafrecht. Das sog. Gesetz über Straftaten gegen die Umwelt27 ist seit dem 1. Juli 1971 in Kraft. Dieses Gesetz besteht nur aus insgesamt sieben Paragraphen. § 1 erläutert die Zweckbestimmung. Das Gesetz gehört zum Nebenstrafrecht, weil es nur als Straftatbestände ausgestaltete Vorschriften enthält. Nach einigen praktischen Anwendungen28 wird dieses Gesetz heutzutage fast nicht mehr angewandt. Zum Verwaltungsstrafrecht gehören das „Gesetz zum Schutz der Wasserqualität“, das „Gesetz zur Regulierung der Fabrikabwässer“ und das „Gesetz zur Vorbeugung von Beeinträchtigungen der Wasserqualität“, die jeweils im Jahre 1970 entstanden sind. Verletzungen des Abfälleaufarbeitungsgesetzes sind nach der Justizstatistik am häufigsten und zwar neuerdings mit steigender Tendenz. Im Jahr 2006 wurden 7850 Personen zur Staatsanwaltschaft geschickt. Verstöße gegen die anderen Umweltschutzgesetze erscheinen fast nicht mehr in der Kriminalitätsstatistik. Der Grund liegt darin, dass die Luftverschmutzung bzw. Wasserqualitätsverschmutzung nicht so leicht messbar und feststellbar ist wie die Verletzung des Abfälleaufarbeitungsgesetzes. Diese Straftaten haben keine konkreten Opfer, die Anzeige erstatten würden. Ein Strafprozess beginnt vor allem deshalb nicht, weil es keine Anzeige durch die zuständige Behörde gibt. Die Ämter, die für diese Angelegenheiten zuständig sind, haben manchmal kein ausreichendes Personal. Die Behörden stehen zudem in ständiger Beziehung zu den Betriebsinhabern oder Unternehmen, die das Abwasser ablassen oder den Russ freisetzen. Sie müssen diese Betriebe usw. anleiten und kontrollieren und Verbesserungsauflagen erlassen. Die Behörden machen keine Anzeige, weil sie das Vertrauensverhältnis zum Betreiber nicht verlieren möchten. Entsprechendes gilt auch im Bereich der Wirtschaftskriminalität und der arbeitsrechtlichen oder baurechtlichen Straftaten. Im Bereich des Verwaltungsstrafrechts funktioniert die moralische Flankierung der Norm nicht. Das moralische Bewusstsein darüber, dass auch die Verwaltungsgesetzwidrigkeit Straftat ist, erwacht erst dann, wenn eine Gesetzesverletzung aufgeklärt, der Täter festgenommen wird und die Massenmedien darüber reißerisch berichten. De Manipulation des Haltbarkeitsdatums, des Produktionsorts oder des Inhalts
27 28
Vgl. Yamanaka, Umweltkatastrophen – Massenprozesse und rechtlicher Ökologieschutz in Japan, in: Lorenz Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 1991, S. 121 f. Vgl. Urteil des OGH vom 22.9.1987, Keishu, Bd. 41, Heft 6, S. 255; Urteil des OGH vom 27.10.1988, Keishu, Bd. 42, Heft 8, S. 1109.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts
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im Bereich der Lebensmittel wird seit dem vor einigen Jahren aufgeklärten Yukijirushi-Molkerei-KK-Fall29 immer wieder aufgedeckt.
V. Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis im Bereich des Strafrechts 1. Theorie und Praxis Wie schon erwähnt, begann die japanische Strafrechtswissenschaft mit der Rezeption der französischen und deutschen Lehre vor mehr als 100 Jahren. Seit dem Inkrafttreten des geltenden StGB wurde vor allem die deutsche Lehre erforscht und sofort in Aufsätzen ausgewertet. Es kann nicht bezweifelt werden, dass das Entwicklung des Systems der Strafrechtswissenschaft auf der deutschen Lehre beruhte und immer noch beruht. Man darf jedoch nicht von der Vorstellung ausgehen, dass die japanische Wissenschaft die deutsche einfach importiert hätte. Schon zu Beginn wurde ein „Kontextwechsel“ vorgenommen30: Die fremde Lehre wurde dem japanischen Umfeld angepasst. Die Wissenschaft kann zwar unabhängig von der sozialen Realität eine durch die politischen Ideen gedeckte Lehre vertreten, um eine soziale Reform zu gestalten. Aber die Praxis muss die Normen auf die konkreten Taten, die im sozialen Leben begangen werden, anwenden. Sie kann sich von der sozialen Wirklichkeit nicht abscheiden. In diesem Sinne stehen Wissenschaft und Praxis allgemein in einem Spannungsverhältnis. Im japanischen Strafrecht ist dieses Spannungsverhältnis noch auffälliger als in anderen Ländern. Dieser Unterschied lässt sich an folgenden Punkten erkennen: 1) Verbot von Zitaten aus der Lehre in richterlichen Entscheidungen31; 2) Prinzipieller Mangel am Personalaustausch zwischen Wissenschaftlern und Praktikern; 3) Geringere praktische Perspektive in der wissenschaftliche Lehre; 4) Unterschiedlichkeit der Ausbildungssysteme nach der Absolvierung des rechtswissenschaftlichen Studiums an den Juristischen Fakultäten; 29 30 31
Vgl. Yamanaka, Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen, Zeitschrift für Japanisches Recht 2002, Heft 14, S. 191 ff., S. 192. Vgl. Yamanaka, in: Jehle / Lipp / Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, S. 174 f. Es gibt freilich keinen gesetzlichen Grund. Aber es wird offensichtlich so gesagt.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
In japanischen Gerichtsentscheidungen sind keine Zitate aus der Lehre, aus Aufsätzen der Strafrechtler zu finden. Die Begründung der Entscheidung muss offiziell unabhängig von einer bestimmten Lehre erstellt werden. Man sagt: Der OGH verbietet Zitate aus der Lehre. Die Ernennung von Jura-Professoren zum Richter oder zum Staatsanwalt kommt nur ganz selten vor32. Umgekehrt war die Ernennung von Praktikern zum Professor früher häufiger33. Diese zwei voneinander unabhängigen Systeme dienen der Herausbildung einer Gruppenidentität innerhalb des eigenen engen Kreises. Es ist nicht selten, dass beide Gruppen eine gegenseitige Verständigung nicht für möglich halten. Manche Praktiker kritisieren die Wissenschaftler: Sie würden eine „unnütze reine Lehre“ vertreten. Die Wissenschaftler kritisieren umgekehrt die Praktiker: Sie hätten kein Verständnis nicht nur für neue, sondern auch für grundsätzliche Lehren. Was die erste Kritik seitens der Praktiker anbetrifft, so ist zuzugeben, dass es auch Aufsätze gibt, denen es an der praktischen Perspektive fehlt und die durch einen ungenügenden „Kontextwechsel“ gekennzeichnet sind. Eine Ursache der Trennung von Wissenschaft und Praxis war, wie es scheint, die Unterschiedlichkeit der Ausbildungssysteme. Wenn man Praktiker, also praktisch tätiger Jurist, werden will, muss man das Staatsexamen bestehen. Wenn man die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen will, muss man meistens Doktorandenkurse an einer Universität besuchen. Die Gründung der Law Schools34 seit 2004 bezweckt auch, das Problem der Trennung von Wissenschaft und Praxis zu lösen. Das Juristenausbildungssystem ist nunmehr so konzipiert, dass auch die meisten zukünftigen Wissenschaftler das Staatsexamen bestehen müssen. Mit dem Law School-System ist dieser Zweck teilweise schon verwirklicht: Nach der Gründung der Law Schools ist allerdings der Wissenschaftlernachwuchs vorläufig stark zurückgegangen.
32 33 34
Beim Richteramt am OGH ist nach Gewohnheitsrecht ein Platz für einen Jura-Professor vorbehalten. Nach der Gründung der Law Schools haben Richter (auch emeritierte) große Chancen, zu Professoren an den Law Schools ernannt zu werden. Vgl. Yamanaka, Juristenausbildung in Japan, – Law School japanischer Art –, (Hrsg.) Jehle / Lipp / Yamanaka, Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, 2008, S. 250 ff.; Ders. (mit James Maxeiner), The new Japanese law schools: Putting the professional into legal Education, Pacific Rim Law & Policy Journal Vo. 13, No. 2, 2004, S. 303 ff.
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2. Beispiel einer aus der Judikatur stammenden Lehre Die Lehre von der sog. „Komplott-Mittäterschaft“ (Kyobo-Kyodo-Seihan-Ron) ist von der japanischen Judikatur entwickelt worden35. Nach dem Wortlaut des § 60 StGB ist es für die Mittäterschaft erforderlich, dass alle Beteiligten die Tat „gemeinsam begehen“. Das bedeutet, dass nicht nur der „Wille zur gemeinsamen Tatausführung“, sondern auch die „Tatsache der gemeinsamen Tatausführung“ vorliegen, also beide Anforderungen erfüllt sein müssen. Aber die Judikatur hat schon seit langem die Lehre entwickelt, nach der auch eine Person, die keinen Teil der Tatbestandshandlung vorgenommen hat, als Mittäter verantwortlich sein kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Beteiligten vorher die gemeinsame Verwirklichung der Straftat miteinander verabredet haben36. Heute ist diese Lehre ganz herrschende Meinung in der Wissenschaft37, obwohl es noch vor 30 Jahren nicht wenige kritische Stimmen gab. Aufmerksamkeit hat diese Lehre durch einen Aufsatz Hideo Fujikis in den 60er Jahren erhalten, in dem er die Lehre von der quasi-mittelbaren Täterschaft vorgeschlagen hat38. Die entscheidende Wende brachte die Zustimmung durch Ryuichi Hirano, der in seinem Lehrbuch die Meinung äußerte, dass die Lehre von der KomplottMittäterschaft schon „feste Rechtsprechung“ sei und deswegen „für die Auslegung als Grundlinie der Judikatur vorausgesetzt werden muss“39. Die kompromisslose Konfrontation mit der Judikatur bringe keine effektive Kontrolle gegenüber der schon gefestigten Praxis zur Erweiterung des Begriffs der Mittäterschaft. Die Funktion der Lehre bestehe vielmehr darin, die Praxis mit der Anerkennung der Grundlinie der Rechtsprechung einschränkend zu kontrollieren. Tendenziell gesehen, haben die Wissenschaftler heutzutage die Neigung, mehr Aufmerksamkeit auf die inländische Praxis oder Wissenschaft zu richten. Es ist zu befürchten, dass sich diese Tendenz dadurch beschleunigt, dass sich die 35
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38 39
Yamanaka, Moderne Erscheinungsformen der Tatbeteiligung mehrerer unter besonderer Berücksichtigung von organisierter Kriminalität wie auch krimineller Aktivitäten von Organisationen – Komplott-Mittäterschaft als Mittel zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität im japanischen Strafrecht?, in: Eser / Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 127 ff., S. 133 ff. Diese Lehre hat eine praktische raison d’être, weil sie eine sehr wichtige Rolle für die Bekämpfung der Bandenkriminalität spielt. Das symbolische Ereignis für diese Umkehrung war die Meinungsänderung des Richters Dando in seiner in einem Urteil des Obersten Gerichts von 1982 enthaltenen Meinungsäußerung. Er war ein einflussreicher Vertreter der Gegenmeinung gewesen. Hideo Fujiki, Kabatsuteki Ihosei no Riron, 1962, S. 340. Ryuichi Hirano, Keiho Soron, II, 1975, S. 402 f. Vgl. Yamanaka, in: Eser / Yamanaka, S. 138.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Ausbildung an den Law Schools stärker als bisher nur an der inländischen Rechtswissenschaft orientiert40.
VI. Das verbleibende Spannungsverhältnis nach der normativen Entscheidung 1. Problemstellung Das Strafrecht verfehlt seinen Zweck, wenn es sich der sozialen Wirklichkeit nicht anpasst. Umgekehrt kann die Strafdrohung durch das StGB eine Sozialgestaltungsfunktion haben. Es gibt jedoch Fälle, in denen der Gesetzgeber zwar nach heftiger Diskussion um die kriminalpolitische Entscheidung zu einem Ergebnis gekommen ist, das Strafrecht aber trotzdem keine einhellige soziale Meinung herbeiführen konnte und der Meinungsstreit fortdauert. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Problematik des Todesbegriffs und der Organtransplantation zu nennen. In Japan ist die Herztodtheorie immer noch die herrschende Meinung in der Strafrechtswissenschaft. Die Hirntodtheorie ist zwar bei der Organtransplantation gesetzlich anerkannt. Aber die Herztransplantation hat nicht zugenommen. Als weiterer Punkt ist die Diskussion um die Todesstrafe bemerkenswert. Das japanische StGB kennt die Todesstrafe (§ 9, 11 StGB). Der OGH hat sie schon 1945 für verfassungsgemäß41 erklärt42. Aber die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe fand ständige Anhänger.
2. Diskussion um Hirntod und Organtransplantation Die Diskussion um den Hirntod ist noch immer nicht zu einem Ende gekommen. Die Herztodtheorie ist bisher herrschende Lehre in der Strafrechtswissenschaft, obwohl die Hirntodtheorie bei den Ärzten die Mehrheit für sich hat43.
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Weil die Studenten nur daran interessiert sind, das Saatsexamen zu bestehen. Deswegen wollen sie keine Fremdsprache üben, die die Zeit zum Lernen nimmt, oder Vorlesungen über ausländische Rechtssysteme hören. Die japanische Verfassung hat eine „grausame Strafe“ verboten (§ 36 Verfassung). Urteil des OGH vom 12.3.1948, Keishu, Bd. 2, Heft 3, S. 191. 80% der Ärzte sind für den Hirntod. Vgl. Yamanaka, Rechtfertigung und Entschuldigung der medizinischen Eingriffe im japanischen Strafrecht, in: Eser / Nishihara (Hrsg.) Rechtfertigung und Entschuldigung IV, 1993, S. 189 ff., S. 208 ff.; Ders., Der Menschen Leben und Tod – Der Schutz des werdenden und des endenden Lebens im japanischen Recht, in: Kitagawa / Nörr / Oppermann / Shiono (Hrsg.), Das Recht vor
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Über den Todesbegriff wurde nicht nur unter den Juristen, sondern auch in der Bevölkerung nach Meinungsäußerungen von Intellektuellen diskutiert. 1990 wurde das „Sonderenquêtekomitee über Hirntod und Organtransplantation“ ins Leben gerufen. Das Komitee hat in seinem Schlussbericht vom 22. Januar 1992 mehrheitlich die Hirntodtheorie befürwortet44 und die Meinung geäußert, dass insoweit ein weitgehender sozialer Konsens bestehe. Der Schlussbericht enthielt jedoch auch eine Mindermeinung, die den Herztod unterstützte. Im Jahre 1997 ist das Organtransplantationsgesetz in Kraft getreten. In § 6 enthält es folgende Regelung: „Der Arzt darf dem Leichnam (dazu zählt auch der Körper des Hirntoten) nur dann Organe entnehmen, wenn der Verstorbene während seines Lebens den Willen zur Organspende schriftlich erklärt hat und die Hinterbliebenen der Organentnahme nicht widersprechen oder er keine Hinterbliebenen hat.“ § 6 Abs. 2 bestimmt: „Der ‘Körper des Hirntoten’ im vorigen Absatz bedeutet den Körper desjenigen, aus dessen Körper die Organe entnommen werden sollen, die zur Transplantation vorgesehen sind, nachdem die Beurteilung vorliegt, dass die Funktion seines gesamten Gehirns einschließlich des Stammhirns irreversibel beendet worden ist“. Diese Regelung hat einen Interpretationsspielraum offen gelassen: Die herrschende Meinung legt § 6 des Gesetzes so aus, dass eine Wahlmöglichkeit zwischen Hirntod oder dem relativen Hirntodbegriff besteht. Die Mindermeinung sieht es dagegen so, dass das Gesetz unter der Voraussetzung der Herztodtheorie bloß das Verfahren und die Voraussetzungen der Organentnahme bestimmt hat. Es gibt auch die Meinung, nach der das Gesetz die Herztodtheorie unterstützt und bei der Erfüllung der Tatbestände dieses Gesetzes die Organentnahme gerechtfertigt wird. Die Voraussetzungen der Organtransplantation in diesem Gesetz scheinen zu streng zu sein: Der Verstorbene muss während seines Lebens den Willen zur Organspende und auch den Willen zum Einverständnis mit der Beurteilung nach
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der Herausforderung eines neuen Jahrhunderts; Erwartungen in Japan und Deutschland, 1998, S. 430. Der Ausschuss hat davor einen Zwischenbericht veröffentlicht: „Zu wichtigen Problemen von Hirntod und Organtransplantation (Zwischenbericht)“ vom 14.6.1991. Vgl. Jurist Nr. 987, 1991, 30 ff.: Vgl. hierzu Matsuo, Koya, Noshi Rincho Chukan Iken ni tsuiteno Ichi Kosatsu (Eine Betrachtung zum Zwischenbericht des Sonderuntersuchungsausschusses zum Hirntod), Jurist Nr. 987, 1991, 10 ff.; Maruyama, Eiji, Noshi Rincho Chukan Iken ni taisuru jakkan no Kanso (Einige Gedanken zum Zwischenbericht des Sonderuntersuchungsausschusses zum Hirntod), Jurist Nr. 987, 1991, 14 ff.; Tachibana, Takashi, Noshi Rincho Hihan (Kritik am Sonderuntersuchungsausschuss zum Hirntod), 1992, S. 27 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
dem 2. Absatz schriftlich erklärt haben und die Hinterbliebenen dürfen der Organentnahme nicht widersprechen. Die zweite Voraussetzung entfällt, wenn der Hirntote keine Hinterbliebenen hat (§ 6 Abs. 3). In beiden Fällen müssen zwei Ärzte in ihrer Beurteilung übereinstimmen (§ 6 Abs. 4). Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes von 1997 bis 2006 gab es 50 Fälle, in denen ein Hirntod festgestellt wurde. Die Anzahl der Patienten, an denen Organtransplantationen aus Hirntoten vollzogen wurden, erreichten 178 Personen bis Juni 2006 (unter 47 Fällen). Die Anzahl der Inhaber eines Organspenderausweises liegt bei 10,5%45. Die meisten Anträge für einen Organspenderausweis erfolgten in dem Zeitraum von 1997 bis 2000. Danach hat die Anzahl nicht mehr stark zugenommen46. Das Ministerium für Gesundheit und Arbeit plant eine Reform des Gesetzes mit dem Ziel, die Voraussetzungen der Einwilligung zu lockern. Das Gesetz soll erstens so geändert werden, dass es ermöglich wird, die Organtransplantation und Hirntodbeurteilung ohne Einwilligung des Verstorbenen zu erlauben, wenn die Hinterbliebenen zustimmen. Zweitens sollen nunmehr auch schon Personen, die das 12. Lebensjahr vollendet haben, die notwendige Einwilligung erklären können47.
3. Diskussion um die Abschaffung der Todesstrafe a) Enquete zur Todesstrafe Nach der Umfrage des Kabinettsamts betrug der Anteil der Befürworter der Todesstrafe im Jahre 1975 56,9% der Gesamtbevölkerung. 2004 erreichte er 81,4%. Der Anteil derer, die sich für ihre Abschaffung aussprachen, betrug 1975 20,7%, 2004 sank er auf nur noch 6,0%. Die Tabelle 2 zeigt die Entwicklung der Prozentsätze der Befürworter und Gegner seit 1956. Die Resultate scheinen von der Methode der Nachfrage abzuhängen. Nach einer Umfrage48, bei der zwischen Pro und Contra die Wahlmöglichkeit der „Abschaffung nach Einführung der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussetzung der Strafe“ hinzugefügt wurde, war das Ergebnis anders: Für die Todesstrafe waren unter 50%, für die dritte Alternative etwa 30%.
45 46 47 48
Nach der Meinungsuntersuchung des Kabinettsamts im August 2004. Nach der Yomiuri-Zeitung vom 10. Januar 2007. Yomiuri-Zeitung vom 29. Oktober 2006. Sie wurde im Februar 2003 bei 1.000 Personen durchgeführt. Die Rate der gültigen Antworten belief sich auf 57,1%.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts Jahr 1956 1967
Abschaffung 18.0% 16.6%
Beibehaltung 65.5% 70.5%
Sonstige 17.0% 13.0%
1975
20.7%
56.9%
22.4%
1980
14.3%
62.3%
23.4%
1989
15.7%
66.5%
17.8%
1994
13.6%
73.8%
12.6%
1999
8.8%
79.3%
11.9%
2004
6.0%
81.4%
12.6%
265
Tabelle 2 Todesstrafe: Pro und Contra
Die Anzahl der Personen, die in der allgemeinen ersten Instanz zur Todesstrafe verurteilt wurden, ist gestiegen. Die unten stehende Tabelle zeigt die Anzahl der in der allgemeinen ersten Instanzen zur Todesstrafe verurteilten Personen von 1997 bis 2006. Jahr 1997 1998
Verurteilung zur Todesstrafe 3 7
1999
8
2000
14
2001
10
2002
18
2003
13
2004
14
2005
13
2006
13
Tabelle 3 Anzahl der Personen, die in der allgemeinen ersten Instanz zur Todesstrafe verurteilt wurden (1997–2006) (Weißbuch zur Kriminalität von 2007, S. 55)
b) Hintergrund – Tendenz zur schwereren Bestrafung In Japan gibt es ein Sprichwort: „Wasser und innere Sicherheit sind in Japan kostenlos“. Bis vor kurzem war dieser „Sicherheitsmythos“ in der Welt verbreitet. Neuerdings scheint er aber in Frage gestellt worden zu sein. Die Strafzumessung fiel in Japan bislang ziemlich niedrig aus. Die nachfolgenden Tabellen 4 und 5 zeigen die zeitigen Freiheitsstrafen (Zuchthaus- und Gefängnisstrafe). Die durchschnittlich am häufigsten zugemessene Strafe war die von 1 bis zu 2 Jahren (etwa 41%). Eine Strafe von über 20 Jahren wurde nur in sehr wenigen Fällen verhängt. Der Gesetzgeber hat die Strafrahmen im Jahre 2004 erhöht. Die Obergrenze des Strafrahmens für die befristete Freiheitsstrafe (d.h. Zuchthaus- und Gefängnisstrafe) wurde von 15 Jahre auf 20 Jahre erhöht (§§ 12, 13 jStGB). Zur
266
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Begründung wurde angeführt, das durchschnittliche Lebensalter der Menschen seit der Verkündung des StGB (1907) sei wesentlich höher geworden. Damals lag es bei nur etwa 50, heutzutage bei etwa 80 Jahren. Die damaligen 15 Jahre entsprächen heute 20 Jahren. Daher kann man voraussehen, dass die ausgesprochenen Strafen im Allgemeinen länger werden. Tabelle 5 zeigt die prozentualen Anteile der nach der Reform verlängerten befristeten Freiheitsstrafen gestaffelt nach ihrer Dauer. Gesamt
25 J–20
20–15
15–10
10–5
5–3
3–2
2–1
1–6 M
bis 6 M
76.264
3
136
392
1.764
4.027
24.330
31.598
11.107
2.907
100%
0,0
0,2
0,5
2,3
5,3
31,9
41,4
14,6
3,8
Tabelle 4 Befristete Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, die durch LG ausgesprochen wurden, in 200549 (Weißbuch zur Kriminalität, 2006, S. 55)
Gesamt
30 J–25
25–20
20–15
15–10
10–5
5–3
3–2
2–1
1–6 M
bis 6 M
72.39
9
17
137
357
1.655
3.853
22.532
29.994
11.279
2.506
100%
0,0
0,0
0,2
0,5
2,3
5,3
31,1
41,5
15,6
3,5
Tabelle 5 Befristete Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, die durch LG ausgesprochen wurden, in 2006 (Weißbuch zur Kriminalität, 2007, S. 56)
Jahr
Insgesamt
Tötung
Raub mit tödlichem Erfolg usw.
1997
33
5
25
1998
47
13
34
1999
72
22
45
2000
69
20
47
2001
88
20
62
2002
98
22
72
2003
99
15
80
2004
125
33
82
2005
119
38
77
2006
99
26
71
Tabelle 6 Unbefristete Zuchthausstrafen, die durch LG ausgesprochen wurden, seit 1997 bis 2006 (Weißbuch zur Kriminalität, 2007, S. 55)
49
Bei Tabelle 4 und Tabelle 5 hat die Frist der Freiheitsstrafe (wie z.B. 20J–15J) folgende Bedeutung: Die Obergrenze der Strafe bedeutet „einschließlich 20 Jahre“. Die Untergrenze der Strafe bedeutet dagegen „ausschließlich 15 Jahre“. Im Jahre 2005 wurden keine Strafen zwischen 30–25 Jahren ausgesprochen.
§ 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts
267
Die Anzahl der registrierten Straftaten hat zugenommen. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Auch wenn sich die Anzahl der tatsächlich verübten Straftaten womöglich nicht erhöht hat, so scheinen jedenfalls die Mitteilungen oder Anzeigen an die Polizei zugenommen zu haben. Vermutlich ist die veränderte und strenger gewordene Haltung des Bürgers gegenüber Bagatelldelikten eine weitere Ursache für den Anstieg der registrierten Straftaten. Gegenüber Schadenszufügung ist die Bevölkerung nicht mehr so tolerant wie früher. Die soziale Aufmerksamkeit, die dem Verbrechensopfer im Allgemeinen geschenkt wird, hat auch zur Vermehrung der Zahl der Strafanzeigen beigetragen. Dahinter steht auch das verstärkte Rechtsbewusstsein der Bürger. Fälle, die bisher in der Gemeinschaft gelöst worden sind, werden häufiger zur Polizei gebracht. Der Grund liegt darin, dass die Konfliktlösungsfunktion der Gesellschaft wegen des Gemeinschaftszerfalls schwächer geworden ist. Soweit die Kriminalität durch die Verschlechterung der wirtschaftlich-sozialen Lage bedingt ist, ist eine für die Kriminalität günstige Lage in den 90er Jahren entstanden. Nachdem die sog. Seifenblasen-Wirtschaft (bubble economy) am Ende der 80er Jahre zerplatzt war, hat die wirtschaftliche Stagnation in den 90er Jahren das kriminelle Potential ausgeweitet: Die Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse ist eine der möglichen Ursachen der Zunahme der Kriminalität. Der Ausbau der Marktwirtschaft zerstörte die traditionellen Arbeitsverhältnisse, in denen die Arbeiter ihre Arbeitsplätze im Prinzip nicht häufig wechselten und umso besser verdienten, je länger sie bei einem Unternehmen arbeiteten.
VII. Schlusswort Das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Gesellschaft im Bereich des Strafrechts reicht in das Zeitalter der modernen Kodifikationen in der MeijiZeit zurück. Das Gesetz war damals eine bloße Fassade nach außen. Die Gesetzlichkeit war eine Tracht für den Feiertag, an dem auch viele Auswärtige die Leute betrachteten, nicht für das Alltagsleben der Bewohner des Dorfes. Das kann man auch mit dem Begriffspaar „Tatemae“ in der Bedeutung „was so sein soll“, und „Honne“, in der Bedeutung „was tatsächlich ist oder sein wird“, erklären50, zu dem Zweck, die Züge der japanischen Gesellschaft zu analysieren. Das Recht ist nicht etwas, das realisiert werden soll, sondern bloß ein Symbol zur Dekoration einer Fassade. Diese Denkweise über das Recht deutet 50
Die Japanischen Wörter „Tatemae“ und „Honne“ werden öfters für die Erklärung der Innenseite (Psychologie) der Japaner verwendet.
268
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
auf ein unreifes Bürgerbewusstsein hin. In der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft ist die Diskrepanz zwischen Gesetz und Moral immer noch groß. Wenn man von „Moral“ spricht, dann wird diese mit einer „altmodischen“ Weltanschauung gleichgesetzt. Das bedeutet, dass die neue Moral in der bürgerlichen Gesellschaft, die durch die „Rechtsstaatlichkeit“ flankiert wird, im 21. Jahrhundert noch nicht genügend entwickelt ist. Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gesellschaft lässt sich daher auch als Aufgabe verstehen, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen.
§ 15. Zur Aszendententötung in Japan I. Einführung 1. Der Sinn der Abschaffung der Oualifizierungsvorschrift für den Aszendentenmord Bei der aktuellen Diskussion um die Aszendententötung in Japan handelt es sich um eine nutzlose Wiederaufnahme eines Problems, das schon und endlich erledigt wurde. Als Strafrechtsdogmatiker scheint das Thema mir nicht aktuell, unproduktiv und deswegen uninteressant zu sein. Aber die gesetzgeberische Abschaffung der Aszendententötung in Japan stellt eine große Wende dar, wenn man die lange Vorgeschichte berücksichtigt. Denn das Problem wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt, und schon 1950 wurde vor dem Obersten Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift bestritten. Die endgültige gesetzgeberische Lösung des Problems erfolgte erst 22 Jahre nachdem der Oberste Gerichtshof im Jahre 1973 die zu hohe Strafdrohung für die Aszendententötung für verfassungswidrig erklärt hat. Es lohnt sich, zum heutigen Zeitpunkt einen kurzen Blick auf den geschichtlichen Entwicklungsprozess zu werfen. Dieser entspricht, grob gesagt, dem Prozess des Zusammenbruchs der Familiengemeinschaft, der Fixierung des Gleichheitsgedankens und des Individualismus an Stelle des konfuzianischen Gedankens in der japanischen Gesellschaft. Das geltende StGB von 1907 regelte die Aszendententötung bis zur Abschaffung der einschlägigen Vorschrift im Jahre 1995 wie folgt: „Wer einen anderen, der mit ihm selbst oder seinem Ehegatten in aufsteigender gerader Linie verwandt ist, tötet, wird mit dem Tode oder mit lebenslänglichen Zuchthaus bestraft“ (§ 200 StGB)1. Der einfache Tötungstatbestand dagegen ist so bestimmt: „Wer einen anderen tötet, wird mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus oder mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bestraft“ (§ 199 StGB).
1
Kinsaku Saito / Haruo Nishihara, Das abgeänderte japanische Strafgesetzbuch, 1954, S. 29.
270
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
2. Streichung aus dem StGB im Jahre 1995 Das japanische StGB von 1907 wurde durch die Strafrechtsreform im Jahre 1995 im wesentlichen ohne inhaltliche Änderung stilistisch und sprachlich völlig neu gestaltet. Das neue StGB verwendet das moderne Japanisch. Die wichtigste Inhaltsänderung war die Streichung der Vorschriften über die qualifizierte Strafdrohung bei den Aszendententötung bzw. den Aszendentenverletzungen: Körperverletzung mit Todesfolge gegenüber Aszendenten2 (§ 205 Abs. 2), Aussetzung eines Aszendenten3 (§ 218 Abs. 2), Festhaltung und Einsperrung eines Aszendenten4 (§ 220 Abs. 2) und Festhaltung und Einsperrung eines Aszendenten mit Todesfolge (§ 221). Der Grund für die Streichung liegt ausdrücklich darin, dass das oben genannte Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1973 die Vorschrift, da sie für die Aszendententötung eine zu schwere Strafe androht, für verfassungswidrig erklärt hat. Als Alternative zur Streichung der Vorschrift wäre es zwar nicht ausgeschlossen gewesen, nur die Untergrenze des Strafrahmens für die Aszendententötung etwas niedriger, etwa bei 5 bzw. 7 Jahren anzusetzen, weil der Oberste Gerichtshof die Vorschrift nur wegen der zu hohen Strafdrohung für verfassungswidrig gehalten hat. Das war allerdings zu dieser Zeit schon nicht mehr möglich. Denn in der Praxis wurde nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes auf die Aszendententötungsfälle 22 Jahre lang die normale Tötungsvorschrift (§ 199) angewendet. Daher hätte die Senkung der gesetzlichen Mindeststrafe bei § 200 durch die Strafrechtsreform in der Praxis zu einer Anhebung des Strafrahmens geführt. Betrachtet man die Strafzumessungspraxis, ergibt sich auf der einen Seite, dass bei den Aszendententötungsfällen häufiger schwere Strafen verhängt werden als bei normalen Tötungen, auf der anderen Seite gibt es aber eine nicht geringe Anzahl von Fällen, in denen Zuchthausstrafe unter 5 Jahren verhängt wird. Das bedeutet, dass die Judikatur auf die brutalen, vorwerfbaren Fälle streng reagiert, aber in den Fällen, in 2
3
4
§ 205 Abs. 2 lautet: „Wer durch Körperverletzung den Tod eines anderen, der mit ihm selbst oder seinem Ehegatten in aufsteigender gerader Linie verwandt ist, verursacht, wird mit lebenslänglichem Zuchthaus oder mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bestraft“. § 218 Abs. 2 lautet: „Wenn eine der im obigen Absatz erwähnten Straftaten gegen eine Person, die mit dem Täter selbst oder seinem Ehegatten in aufsteigender gerader Linie verwandt ist, begangen wird, so ist auf Zuchthaus von sechs Monaten bis zu sieben Jahren zu erkennen“. § 220 Abs. 2 lautet: „Wenn eine der im obigen Absatz erwähnten Straftaten gegen eine Person, die mit dem Täter selbst oder seinem Ehegatten in aufsteigender gerader Linie verwandt ist, begangen wird, so ist auf Zuchthaus von sechs Monaten bis zu sieben Jahren zu erkennen“.
§ 15. Zur Aszendententötung in Japan
271
denen es für die Angeklagten begünstigende Umstände gibt, milde bestraft. Wenn dem so ist, könnte die Strafe nicht mehr richtig bemessen werden, wenn die Untergrenze des Strafrahmens auf 5 oder 7 Jahre festgesetzt wird. Der Gesetzgeber hat sich deswegen für die Streichung der Vorschrift entschieden5. Durch die Streichung der Vorschrift über die Aszendententötung hätten die anderen Qualifizierungsvorschriften für Aszendentenverletzungen die Balance verloren. Die Sanktionierungspraxis bei diesen Fällen zeigt auch ausdrücklich eine Tendenz zur Konzentration der Strafzumessung bei der Untergrenze der jeweiligen Strafrahmen. Z.B. konzentrieren sich 60 Prozent der Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge gegenüber Aszendenten, bei der der Strafrahmen lebenslängliche oder Zuchthausstrafe nicht unter 3 Jahren vorsieht, auf ein Strafmaß von etwa 3 Jahren. Deshalb dachte der Gesetzgeber, dass es besser sei, wenn auch diese Qualifizierungsvorschriften gestrichen würden.
II. Das für verfassungswidrig erklärende Urteil des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 1973 1. Verschiedene Meinungen im Urteil Der Oberste Gerichtshof hatte mehrmals über die Verfassungsmäßigkeit des § 200 zu urteilen gehabt und befand die Norm bis 1973 immer für verfassungsgemäß. Im Jahre 1973 dann hat der Grosse Senat des Obersten Gerichtshofes erklärt, dass die Qualifizierungsvorschrift für die Aszendententötung gegen § 14 Abs. 1 der japanischen Verfassung verstößt. Dieser lautet: „Alle Staatsbürger sind gleich vor dem Recht und dürfen in den politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnissen aufgrund von Rasse, Ansichten, Geschlecht, sozialem Stand oder Abstammung nicht diskriminiert werden“. Der Artikel wird so ausgelegt, dass er nur die „rationale Unterscheidung“ erlaubt. In dem Urteil des Obersten Gerichtshofes hat die Mehrheit der Richter, nämlich 14 von 15 Richtern, die Vorschrift des § 200 für verfassungswidrig gehalten. 8 Richter davon vertraten die das Urteil tragende Mehrheitsmeinung, nach der die Vorschrift nicht wegen der Qualifizierung selbst, sondern nur wegen der zu schweren Strafdrohung verfassungswidrig war. Demgegenüber haben 6 Richter die ergänzende Meinung geäußert, dass die Vorschrift an sich verfas-
5
Vgl. Aso / Inoue / Miura / Sonobe, Zum Gesetz zur Teilreform des Strafrechts, in: Koya Matsuo (Hrsg.), Keiho no Heiika (Vereinfachung des Strafrechts), 1995, S. 58 ff.
272
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
sungswidrig sei. Nur ein Richter hat die Gegenmeinung geäußert und den § 200 StGB für verfassungsmäßig gehalten.
2. Resultat der Mehrheitsmeinung Die Mehrheit argumentierte wie folgt: „Die Strafdrohung für die Aszendententötung ist insofern zu streng, als sie auf die Todesstrafe und die lebenslängliche Zuchthausstrafe beschränkt ist. Sie ist die schwerste Strafdrohung mit Ausnahme der Strafe für Hochverrat gemäß § 81 StGB. Diese schwere Bestrafung kann nicht mit hinreichender Überzeugungskraft durch den oben geschilderten Gesetzgebungszweck, d.h. durch den bloßen Gesichtspunkt der natürlichen Liebe oder der universalen Verhaltensethik gegenüber Aszendenten wie Verehrung oder Dankesbezeugung, erklärt werden. Sie kann als Ungleichbehandlung aus rationalen Gründen überhaupt nicht gerechtfertigt werden.“ „§ 200 des StGB überschreitet das für die Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks Erforderliche, soweit er die Strafdrohung bei Aszendententötung nur auf Todesstrafe und lebenslängliche Zuchthausstrafe beschränkt. Er stellt eine außerordentlich irrationale Ungleichbehandelung gegenüber der Strafdrohung des § 199 StGB bezüglich des normalen Tötungsdelikts dar. Deswegen ist er wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 1 der Verfassung für nichtig zu erklären“.
3. Die Argumentation der Mehrheitsmeinung Die Mehrheitsmeinung verwendet eine zweistufige Argumentation: Auf der ersten Stufe wird die „Rationalität des Gesetzgebungszweckes“ des § 200 StGB beurteilt; auf der zweiten Stufe folgt dann die Beurteilung der „Rationalität des Mittels für die Erreichung des Zwecks“, d.h. der Verhältnismäßigkeit der Strafdrohung in bezug auf den Normzweck. (a) „Der Gesetzgebungszweck des § 200 StGB wird so interpretiert, dass er darin liegt, dass der Tötung von Aszendenten durch Deszendenten oder ihre Ehegatten, generell gesehen, eine hohe soziale und moralische Vorwerfbarkeit innewohnt und diese Taten daher auch besonders streng zu verbieten sind, indem das Strafrecht sie strenger als normale Tötungsdelikte bestraft. Im übrigen werden Verwandte durch Ehe und Blutsverwandtschaft miteinander durch natürliche Verehrung und intime Gefühle verbunden; und zugleich gibt es zwischen ihnen naturgemäß eine bestimmte Ordnung, die entsprechend dem Alter oder der Verantwortungsverteilung entstanden ist: In der Regel sind die Deszendenten durch Aszendenten in aufsteigender gerader Linie wie Eltern oder Grosseltern erzogen worden. Die Aszendenten tragen sogar für die Taten von Deszendenten eine gesetzliche und sittliche Verantwortung. Daher gehört die Verehrung und Dankesbezeugung gegenüber Aszendenten zur elementaren Sittlichkeit im sozialen Leben. Somit ist zu sagen, dass die Aufrechthaltung dieser natürlichen Liebe bzw. universalen Verhaltensethik Aszendenten gegenüber strafrechtlich schutzwürdig ist. Wenn man das in Betracht zieht, ist es nicht irrational, wenn das Strafrecht es für richtig hält, dass die Tötung
§ 15. Zur Aszendententötung in Japan
273
von Aszendenten prinzipiell im Vergleich mit der normalen Tötung den höheren sozialen Vorwurf verdienen sollte.“ (b) „Es kann jedoch gesagt werden, dass es auch Fälle gibt, in denen eine schwerere Bestrafung nicht angezeigt ist. Wenn daher die Qualifizierung eine extrem hohe Strafdrohung vorsieht und als Mittel zur oben geschilderten Zweckerreichung erheblich außer Verhältnis steht und man daher keinen Grund finden kann, aus dem die hohe Strafdrohung der Qualifizierung gerechtfertigt werden kann, ist zu sagen, dass diese Ungleichbehandlung erheblich irrational ist. Aus diesem Grunde ist die Vorschrift wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 1 der Verfassung nichtig.“
Die Mehrheitsmeinung nennt noch einige Gründe, warum die Strafdrohung für die Aszendententötung zu hoch ist: 1) Der Strafrahmen des § 200 StGB ist auf Todesstrafe und lebenslängliche Zuchthausstrafe begrenzt. Somit gibt es keinen Raum für die Strafaussetzung (Die Obergrenze ist Zuchthausstrafe oder Gefängnis bis zu drei Jahren, § 25 Abs. 1 StGB.). Denn auch wenn man zweimal, was das Maximum gesetzlich erlaubter Strafmilderung darstellt, die Strafe mildert, kann die Untergrenze der auszusprechenden Strafe nicht unter drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus liegen. 2) Auch die schweren Fälle können von dem normalen Tötungstatbestand abgedeckt werden. 3) Es gibt viele Fälle, in denen die Tat bei Aszendententötung keinen so harten Vorwurf verdient, dass man ihr mit einer strengen Strafe begegnen muss6. 4) In der Strafzumessungspraxis wird die Strafe in den meisten Fällen gemildert, und es kommen nicht selten Fälle vor, in denen nach zweimaliger Strafmilderung die minimale Strafe ausgesprochen wird.
4. Vier ergänzende Meinungen Diese Meinungen halten die Vorschrift ebenfalls wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 1 der Verfassung für verfassungswidrig. Sie halten aber bereits den Gesetzgebungszweck an sich für verfassungswidrig. „Die Qualifizierungsvorschrift für die Aszendententötung hat ihre Wurzeln im sog. „Familiensystem“ und steht auf der Basis von einer Art Standesmoral. Sie widerspricht der Idee der Demokratie, die auf der Basis der Achtung der individuellen Personen und 6
Der einschlägige Sachverhalt, der Gegenstand des Urteils des Obersten Gerichtshofes war, gehört auch zu diesen nicht schwer vorwerfbaren Fällen: Die Angeklagte wurde von ihrem Vater vergewaltigt, als sie Schülerin der Mittelschule und 14 Jahre alt war. Sie wurde seither gezwungen, mit ihrem Vater zusammenzuleben, als ob sie ein Ehepaar gewesen wären. Sie musste sich 5 Kinder von ihm zeugen lassen. Als sie 29 Jahre alt geworden war, verliebte sie sich in einen jungen Mann und wollte diesen heiraten. Der Vater, dem sie diese Absicht anvertraute, hat daraufhin gegen sie Gewalt ausgeübt und sie misshandelt. Am Tag, an dem sie die Tat begangen hat, wurde sie vom stark betrunkenen Vater gehässig geschimpft. Da beschloss sie, den Vater zu erdrosseln, um aus ihrer Lage zu entkommen.
274
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
der Gleichheit aller Personen fußt“ (Richter Tanaka). „Es ist adäquat, dass man die Aufrechterhaltung der Verehrung usw. zwischen den Aszendenten und den Deszendenten der Ausströmung der natürlichen Liebe überlässt“ (Richter Shimomura). „Sie basiert auf einer dem alten Gedanken der „Treue“ verhafteten Denkweise und kann mit der Verfassungsidee, die auf der Verehrung des Individuellen und der Gleichheit des Einzelnen basiert, nicht einhergehen“ (Richter Irokawa). „Sie hat als Hintergrund die Moral des „alten Familiensystems“, in dem im Zentrum der Familienvater stand.“ (Richter Osumi).
5. Die Gegenmeinung Die Gegenmeinung behauptet, dass § 200 StGB nicht dem § 14 Abs. 1 der Verfassung widerspreche (Richter Shimokawa): „Die Frage, ob eine Strafdrohung zu schwer ist oder nicht, sollte der Beurteilung der Regierung überlassen werden. Mir ist es schwer verständlich, warum die Mehrheitsmeinung die Norm trotzdem so leicht für verfassungswidrig erklärt hat. Es ist keineswegs unvernünftig, die Verehrung und Dankbarkeit gegenüber Aszendenten als wichtig anzusehen und eine Strafe mit der in § 200 StGB geregelten Höhe vorzusehen. Die Vorschrift ist sowohl nach ihrem Gesetzgebungszweck als auch nach dem Mittel zur Zweckerreichung keineswegs verfassungswidrig.“
Aufmerksamkeit ist der Tatsache zu schenken, dass der Oberste Gerichtshof auch nach diesem Urteil des Großen Senates alle anderen Qualifizierungsvorschriften hinsichtlich Aszendenten für verfassungsmäßig gehalten hat7.
III. Die Entwicklung der Gesetzgebung 1. Vor der Meiji-Revolution In Japan wurde nach der Lehre des Konfuzianismus neben der Rebellion oder dem Landesverrat als schwerstes Verbrechen nicht nur die Tötung bzw. Misshandlung der Großeltern oder Eltern („Akugyaku“ genannt), sondern auch die Tötung eines Onkels oder älteren Geschwisters („Fudo“ genannt) angesehen8. 7
8
Als Entscheidungen, die die Körperverletzung mit Todesfolge gegenüber Aszendenten auch nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes für verfassungsmäßig gehalten haben vgl. Urteil des OGH vom 26.9.1974 Keishu, Bd. 28, H. 6, S. 329; Urteil des OGH vom 20.11.1975 Hanrei Jiho Nr. 797, S. 153; Urteil des OGH vom 28.11.1975 Hanrei Jiho Nr. 797, S. 156; Urteil des OGH vom 6.2.1976 Keishu, Bd. 30, H. 1, S. 1. Das Urteil des OLG Fukuokas vom 14.5.1974 Keiji Saiban Geppo, Bd. 6, H. 5, S. 545 beurteilte die Qualifikation des § 220 Abs. 2 bei Festhaltung und Einsperrung eines Aszendenten für verfassungsmäßig. Kenzo Mihara, Geschichtliche Betrachtung des Aszendentenmordes, Soka Daigaku Kaigaku Kinen Ronbunshu, 1971, S. 347 ff.
§ 15. Zur Aszendententötung in Japan
275
In der Tokugawa-Zeit (Edo-Zeit) wurden Tötungs- oder Körperverletzungsakte gegenüber Eltern oder Herren als „Gyakuzai“ (Verrat-Verbrechen) bezeichnet und mit der Höchststrafe bestraft. Denn der konfuzianistische Gedanke, der auf die tugendhafte Wahrung der Beziehungen zwischen Herrn und Gefolge oder zwischen Eltern und Kindern den höchsten Wert legt, bildete den Hauptgedanken im damaligen Feudalsystem.
2. Das StGB in der frühen Meiji-Zeit Nach dem „Shinritukoryou“ (etwa: „Neuer Codex Criminalis“) von 1870 wurde derjenige, der die Eltern, Grosseltern, Onkel, älteren Geschwister, Großeltern (Eltern der Mutter) oder die Ehegattin tötete oder töten wollte, mit der Todesstrafe bestraft. Dieselbe Vorschrift gab es auch in dem „Kaiteirittsurei“ (etwa: „Revidierter Codex Criminalis“) von 1873 (§ 228). Diese Codices waren überhaupt entsprechend dem Staatzweck der „Restauration“ erlassen worden. Sie wurden nach dem Vorbild des alten chinesischen (TaugStrafrecht) und japanischen Strafrechts (Yororitsu von 718 bzw. das Strafrecht der Tokugawa-Zeit) geschaffen. Das Strafrecht von 1880, das von dem aus Paris berufenen Professor Gustave Boissonade entworfen wurde, wurde von dem französischen Strafrecht beeinflusst und regelte so: „Wenn der Deszendent seine Grosseltern oder Eltern getötet hat, wird er mit der Todesstrafe bestraft“ (§ 362 Abs. 1). Auch hier ist die Strafe auf die Todesstrafe beschränkt. Die Notwehr gegen Aszendenten war nicht erlaubt. § 362 regelte weiterhin: „Wenn der Deszendent seine Grosseltern oder Eltern misshandelt hat (Gewalt geübt oder ihre Körper verletzt hat) und dadurch zum Tode gebracht hat, wird er mit der Todesstrafe bestraft“9. Das geltende StGB, das im Jahre 1907 verkündet worden ist, hat den Kreis der „Aszendenten“ auf „die in aufsteigender Linie“ verwandten Personen beschränkt. Hinzu kamen allerdings die entsprechenden Aszendenten aus der Familie der Gattin. Als Strafe trat die lebenslängliche Zuchthausstrafe neben die Todesstrafe10.
9
10
Am Anfang des Entwurfsprozesses wurde diese Vorschrift im „13. Abschnitt: Straftaten gegen Großeltern oder Eltern“ in § 404 und 405 geregelt. Vgl. Nippon Keiho Soan Hikki (Stenographisches Dokument des Entwurfs für das japanische Strafrecht) (Bd. 2, 1977) S. 2164 ff. Zum Beratungsprozess im Parlament vgl. Keiho Enkaku Soran (Allgemeiner Überblick über die Strafrechtsentstehung), S. 1598 ff.
276
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
3. Reformarbeiten des Strafgesetzbuches Der Vorentwurf für die Strafrechtsreform von 1940 (§ 258) und der vorläufige Entwurf für das reformierte Strafgesetz von 1907 (§ 336) sahen dieselbe Vorschrift vor wie das geltende StGB bis 1995. Aber im Vorentwurf für das reformierte Strafrecht nach dem Zweiten Weltkrieg (von 1961) ist die Qualifizierungsvorschrift gestrichen. In seiner Begründung heißt es: „Denn es gibt nicht nur Zweifel, ob die schwere Bestrafung für die Aszendententötung gegen § 14 der Verfassung verstößt, sondern es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es Fälle gibt, in denen man für den Täter Sympathie empfindet. Zudem sieht auch der normale Tötungstatbestand die Strafdrohungen der Todesstrafe und der lebenslänglichen Zuchthausstrafe vor, so dass es genügt, wenn man diesen Tatbestand auch auf Aszendentenfälle anwendet.“
Auch im „Entwurf für die reformierte Strafrecht“ von 1974 befindet sich eine Vorschrift über die Aszendententötung nicht.
IV. Die Problematik des Qualifizierungsgedankens bei Aszendentenverletzungen Nach dem, was ich bis hierher geschildert habe, kann man zur Zeit sagen, dass es keinerlei gesetzgeberische Absichten mehr gibt, für die Aszendententötung oder andere Aszendentenverletzungen wieder Qualifikationen im StGB zu schaffen. Es gibt keinen Grund, solche Vorschriften heutzutage wieder einzuführen, auch weil die Idee der nur auf den Rechtsgüterschutz beschränkten Aufgabe des Strafrechts unter den Bürgern verbreitet und verwurzelt ist. Da das Strafrecht keine Moralgestaltungsfunktion, sondern nur eine subsidiäre Rechtsgüterschutzfunktion hat, ist klar, dass das Strafrecht den Bürger zu keiner rein moralischen Haltung zwingen darf. In unserer Verfassung ist jeder Einzelne vor dem Recht gleich. Heutzutage sind auch in Japan die familiären Bindungen erheblich geschwächt, und so manche Familie funktioniert nicht mehr als intime Gemeinschaft. Die Erziehungsfunktion, Funktion der gegenseitigen Hilfe und psychische Besänftigungsfunktion der Familie schwindet. Ganz allgemein zeigt sich, dass der Verlust der Autorität oder der Verzicht auf die erzieherische Verantwortung durch die Eltern gegenüber ihren Kindern einen zunehmenden Egoismus, einen Verlust der Kontrolle der Lehrer über die Schulkinder in den Klassen und sogar eine Förderung der Jugendkriminalität mit sich gebracht haben. Klar ist aber auch, dass eine härtere strafrechtliche Sanktionierung von Straftaten gegen Aszendenten nicht hilft, um die Autorität der Eltern wiederherzustellen. Die Sonderbehandlung der Aszendententötung
§ 15. Zur Aszendententötung in Japan
277
durch die schwerere Bestrafung ist ein bloßer Rückstand des alten „Familiensystems“ vor dem Zweiten Weltkrieg. Heutzutage ist er nichts anderes als ein nutzloser Fremdkörper im Strafrecht geworden.
V. Schlusswort In meinem Referat habe ich Ihnen einen kurzen Überblick über den langen Weg bis zur Abschaffung der Aszendententötung usw. gegeben. Diese Entwicklung ist mit dem Untergang des asiatischen Konfuzianismus und des darauf aufgebauten Familiensystems sowie der Entwicklung des modernen Individualismus einhergegangen. In einer individualistischen Gesellschaft müssen sowohl die Eltern als auch die Kinder oder sowohl ältere als auch junge Leute als individuelle Personen beachtet und respektiert werden. Freilich schließt auch eine individualistische Gesellschaft nicht aus, die Kinder zu lehren, dass man die älteren Familienmitglieder ehren soll. Aber man darf den Bürger dazu keineswegs mit den Mitteln des Strafrechts zwingen. Die Länder, die diese Vorschrift bisher noch im StGB beibehalten haben, sollten sie sofort abschaffen.
§ 16. Die gegenwärtige Aufgabe des Wirtschaftsstrafrechts in Japan A) Definition und Klassifikation des Wirtschaftsstrafrechts I. Wirtschaftsstrafrecht im engeren und im weiteren Sinne In Japan findet sich der Begriff „Wirtschaftsstrafrecht“ weder im Strafgesetzbuch, noch wird er in der Wissenschaft genau definiert. Indes besteht weitgehende Einigkeit über ein „Wirtschaftsstrafrecht im engeren Sinn“: Es umfasst die Strafvorschriften, die die Überwachung der Güterproduktionen, der Güterverkäufe oder der Warenpreise, die Regeln von Ein- und Ausfuhr sowie Kartellrechtsverstöße betreffen1. Diese Vorschriften schützen als Rechtsgüter entweder das überindividuelle Interesse an der Wahrung der Volkswirtschaftsordnung oder individuelle wirtschaftliche Interessen. In einem weiteren Sinn versteht man unter „Wirtschaftsstrafrecht“ alle Strafvorschriften, die die unternehmerische Tätigkeit oder den Handel schlechthin betreffen2. Jedoch differieren die Auffassungen darüber, worauf beim Wirtschaftsstrafrecht im weiteren Sinn der Schwerpunkt gelegt werden muss, je nach dem historischen Kontext oder dem persönlichen Anliegen des einzelnen Forschers. Zwar finden sich vielfache Ansätze zu einer Systematisierung und Typisierung des Wirtschaftsstrafrechts, deren Begründungen und Entscheidungskriterien indes im Dunkeln bleiben. So teilt etwa die vorherrschende Auffassung die Gebiete des Wirtschaftsstrafrechts folgendermaßen ein3: 1) Strafvorschriften zum Schutz des Vermögens von natürlichen Personen und Gesellschaften, 2) Strafvorschriften zum Schutz der Wirtschaftsordnung als solcher, 3) Strafvorschriften, die den Ungehorsam gegen Verwaltungsvorschriften als solche erfassen.
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Vgl. Kuniji Shibahara, Der Schutz des bürgerlichen Wirtschaftslebens durch das Wirtschaftsstrafrecht, Horiuu Jiho, Bd. 58, H. 5 (1984), S. 98. Shibahara, a.a.O. (Fn. 1), S. 98; Toshio Kamiyama, Keizai Hanzai no Kenkyu (Studien zur Wirtschaftskriminalität), 1991, S. 2 ff. Shibahara, a.a.O. (Fn. 1), S. 98.
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Das Einordnungskriterium für die ersten beiden Gruppen ist die Art des geschützten Rechtsgutes: Die Vorschriften der ersten Gruppe schützen individuelle Rechtsgüter, die der zweiten Gruppe Rechtsgüter der Allgemeinheit. Hingegen stellt man bei der dritten Gruppe nicht auf die geschützten Rechtsgüter, sondern auf die Funktion der Verwaltungsvorschriften ab. Diese Dreiteilung lässt sich daher nicht mit systematischen Erwägungen begründen. In dieser Weise wird der Begriff „Wirtschaftsstrafrecht“ weder genau definiert noch systematisch klassifiziert4. Charakteristisch für diesen Forschungsansatz ist die weite und offene Begriffsbildung, um alle Erscheinungsformen von Wirtschaftsdelinquenz als wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand erfassen zu können.
II. Typisierung des Wirtschaftsstrafrechts Mein Vortrag setzt keinen abschließenden Entwurf eines Systems des Wirtschaftsstrafrechts voraus. Vorbehaltlich späterer Präzisierungen werde ich daher nur folgende Einteilung vornehmen5: Als erstes ist die Gruppe der Strafvorschriften zum Schutz der Volkswirtschaftsordnung zu nennen. Letztlich geht es hierbei um den Schutz der wirtschaftlichen Interessen aller Verbraucher. Im Vordergrund steht jedoch die Bewahrung von Institutionen wie z.B. eines freien Wettbewerbs. Typisch für die erste Gruppe ist etwa das Kartellgesetz (Dokkinho). Zur zweiten Kategorie gehören die Strafvorschriften, die das Unternehmen als solches schützen sollen. Hierzu gehören etwa das Sonderdelikt der Untreue eines Vorstandsmitgliedes (§ 486 HGB), die Gefährdung des Gesellschaftsvermögens (§ 489 HGB) oder der Verrat von Betriebsgeheimnissen. Schutzobjekt dieser Delikte ist das Vermögensinteresse des Unternehmens. Auch die Vorschriften gegen unlauteren Wettbewerb gehören zur zweiten Gruppe, obwohl ihnen neben dem Unternehmensschutz die weitere Funktion zukommt, die Fairness des Wettbewerbs zu gewährleisten. Zur 4
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Kamiyama, a.a.O. (Fn. 2), S. 7 ff. klassifiziert die Wirtschaftskriminalität in sechs Gruppen. Aber dort konnte er auch nicht theoretisch-systematisch gruppieren. Seine Klassifikation ist wie folgt: Die erste Gruppe betrifft die Straftaten, die das Wirtschaftsleben der Verbraucher verletzen; die zweite die Straftaten, die die Interessen der Unternehmen verletzen; die dritte Straftaten, die Unternehmen durch Absprache bei der Ausschreibung den Vermögensverlust verursachen; die vierte die Straftaten, die die abstrakte Geschäftsordnung verletzen; die fünfte internationale Wirtschaftskriminalitäten; die sechste die Straftaten, die durch Verletzung des Finanzwesens einen Vermögensverlust des Staates bzw. der Gemeinden verursachen. Vgl. Harro Otto, Konzeption und Grundsätze des Wirtschaftsstrafrecht, ZStW 96 (1984), 351 ff.; Ders., Die Tatbestände gegen Wirtschaftskriminalität im Strafgesetzbuch, Jura 1989, 28 ff.
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dritten Gruppe rechne ich die Strafvorschriften zum Schutz der Verbraucher und der Investoren. Dazu gehören etwa das Gesetz gegen den Haustürverkauf und gegen Kettenverkaufssysteme nach dem Schneeballsystem (Homonhanbaiho) sowie Gesetze über Kreditgeschäfte (Shusshiho) oder über die Warenbörse (Shohintorihikiho). In Japan bezeichnet man die betrügerische Werbung zum Abschluss von Kaufverträgen, von Börsentermingeschäften oder zur Vornahme sonstiger Investitionen, wörtlich übersetzt, als „Lasterhandelssystem“ (Akutokushoho). Die Rechtsgüter dieser Delikte sind das individuelle Vermögen der Verbraucher und der Geldgeber. Die vierte Gruppe bilden die Vorschriften zum Schutz des Finanzwesens, so etwa das Steuerstrafrecht, der Subventionsbetrug oder die heimlichen Preisabsprachen bei öffentlichen Ausschreibungen. Das Rechtsgut dieser Delikte ist die Funktionstüchtigkeit des staatlichen Finanzwesens. Aus Zeitgründen möchte ich meinen Vortrag auf die ersten drei Gruppen beschränken, da gerade hier für das japanische Wirtschafts- und Rechtssystem besonders charakteristische Probleme auftreten6.
B) Historische Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts I. Wirtschaftsstrafrecht während der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft Die wissenschaftliche Erfassung des Wirtschaftsstrafrechts als eigenständige Materie beginnt mit dem Anfang der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft in den 30er Jahren7. Das System staatlicher Wirtschaftslenkung wurde nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Japan und China im Jahre 1937 mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes für die allgemeine Staatsmobilisierung“ (Kokkasodoinho) vollendet.
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Das bedeutet nicht, dass z.B. die Bestechung der Politiker von Seiten der Wirtschaftskreise nicht typisch für die Wirtschaftskriminalität in Japan ist. Ich meinte nur, dass die Strafrechtsnormen für die Bestechung als Wirtschaftsstrafrecht nicht so typisch japanisch und interessant für die Deutschen seien. Man denke an die Zenekon-VerdachtsFälle seit Herbst 1993, in denen die Unternehmensgruppen der großen Baufirmen den Politikern bei den Ausschreibungen der öffentlichen Bauarbeiten Bestechungsgelder gezahlt haben. Zur Forschungsgeschichte des Wirtschaftsstrafrechts vgl. Toyoji Saito, Die Abwandlung der Perspektive in der Forschung des Wirtschaftsstrafrechts und der -kriminalität, Keiho Zasshi, Bd. 30, H. 4 (1990), S. 1 ff.; zum Zwangswirtschaftsstrafrecht vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Osamu Niikura, Zum gelenkten Wirtschaftsstrafrecht vor dem Zweiten Weltkrieg, Hoken Ronshu (Waseda-Universitat) Nr. 15 (1977), S. 139 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Die staatliche Kontrolle reichte von der Vermarktung der Rohstoffe über die Lenkung des Arbeitsmarktes bis hin zu strenger Kontrolle der Preise. Auf diese Weise sollten die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Kriegsführung geschaffen werden. Im August 1938 wurde eine eigene „Wirtschaftspolizei“ gegründet, um die Wirtschaftskontrolle und die Verfolgung von Straftätern zu verbessern. Im Jahr 1941 wurde das Gesetz für die allgemeine Staatsmobilisierung verschärft und durch die neuen Straftatbestände der Wirtschaftsordnungswidrigkeiten als „Delikte gegen die Sicherheit und Ordnung“ (§ 105a, b, c StGB a. F.) ergänzt. Die damalige Strafrechtswissenschaft betonte den sittenwidrigen Charakter der Wirtschaftskriminalität. Sie behauptete vor allem, dass sich auch die Verwaltungsdelikte im Laufe der Zeit in Kriminaldelikte (delitto naturale) umwandeln könnten8. Damit trug die Strafrechtswissenschaft von der theoretischen Seite zur Verstärkung der präventiven Wirkung der Wirtschaftsstrafgesetze bei. Dies gilt insbesondere für die dogmatische Behandlung des Unrechtsbewusstseins bei den Wirtschaftsdelikten9. Die „Lehre vom Zeitgesetz“, nach der das zeitlich begrenzte Gesetz eine Nachwirkung haben kann, hat vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität die Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips und damit des Verbots rückwirkender Bestrafung ausnahmsweise als nicht erforderlich angesehen10. Ein derartiges „Wirtschaftsstrafrecht in einer gelenkten Wirtschaft“ findet man noch heute etwa beim Lebensmittelverwaltungsgesetz (Shokuryokanriho), bei der Verordnung zur Warenpreiskontrolle (Bukkatoseirei) oder beim Gesetz zur Überwindung der Notstandssituation des bürgerlichen Lebens (KokuminSeikatsu-Antei-Kinkyusochiho).
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Tatsukichi Minobe, Keizaikeiho no Kisoriron (Grundlehre des Wirtschaftsstrafrechts), 1944, S. 13 f.; Chihiro Saeki, Shinhogaku no Kadai (Neue Aufgabe der Rechtswissenschaft), mitverfasst von Osumi, 1942, S. 293. Vgl. Han Yagi, Keizai Keiho no Kihon Mondai (Grundlagenprobleme des Wirtschaftsstrafrechts), 1944, S. 151 ff. Nach Yagi ist es erforderlich, dass bei den Wirtschaftsstraftaten in der Regel das Unrechtsbewusstsein zu bejahen ist. Aber wenn ausnahmsweise Fahrlässigkeit vorliegt, kann die Tat wegen des Fahrlässigkeitsdelikts bestraft werden, auch wenn die Vorschriften für die Bestrafung von fahrlässigen Delikten nicht vorhanden sind. Über die damaligen Entscheidungen vgl. S. 153 ff. In der Literatur war die sog. Motivtheorie, nach der die Nachwirkung entweder nach der Änderung der Rechtsauffassung oder der Tatsachen differenziert wird, herrschend. Vgl. Eiichi Makino, Rechtscharakter der Zwangswirtschaftsrechtswidrigkeit, Keisatsu Kenkyu, Bd. 12, H. 1 (1941), S. 16; Jiro Tanaka, Rechtsprobleme über die Zwangswirtschaftsstrafe, Hogaku Kyokai Zasshi, Bd. 59 (1941), S. 1147 f.
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II. Kritik am Wirtschaftsstrafrecht in der Zwangswirtschaft Mit dem Kriegsende stellte die Besatzungsmacht die japanische Wirtschaftspolitik vor zwei Aufgaben: Zum einen war die „Demokratisierung der Wirtschaft“ ein wichtiges Ziel der alliierten Besatzungspolitik. Zum zweiten ging es um den Wiederaufbau der darnieder liegenden Nachkriegswirtschaft. Charakteristisch für diese Zeit ist ein Beitrag von Inoue, der die Wissenschaft vom Wirtschaftsstrafrecht vor dem Kriegsende scharf kritisiert11.
III. Unternehmenskriminalität und „White-Collar-Kriminalität“ Im Jahr 1947 trat das Kartellgesetz (Dokkinho) in Kraft12. Dieses Gesetz sollte die Auflösung der Großkonzerne als Ziel der Demokratisierung der Wirtschaft verwirklichen und das „Grundgesetz für die Wirtschaft“ bilden. Das anfangs strenge Monopolverbot wurde jedoch mehr und mehr durchlöchert. Bereits Anfang der 50er Jahre stagnierte die Umsetzung des Kartellgesetzes. Schon vor 1960 fanden große Unternehmenszusammenschlüsse sogar mit Billigung des Ministeriums statt. Aus tatsächlichen Gründen stand somit die Untersuchung des Kartellgesetzes in den 50er Jahren nicht im Mittelpunkt des strafrechtswissenschaftlichen Interesses. Vielmehr übte die Übersetzung des Buches „White-Collar-Crime“ von Sutherland (1955)13 großen Einfluss auf die damalige Kriminalitätsforschung in Japan aus. Das Hauptinteresse der Wissenschaftler richtete sich damit auf die Delinquenz der Führungsebene in den Unternehmen, Täter waren einzelne Personen. Somit könnte man das Hauptgebiet der damaligen Kriminalitätsforschung als „Wirtschaftsstraftaten aus individuellen Motiven“ bezeichnen.
IV. Unternehmenskriminalität Im Verlauf der 70er Jahre zeigten sich die nachteiligen Nebenwirkungen der Hochwachstumsphase der 60er Jahre. Umweltverschmutzungen ungeahnten Ausmaßes, massenhafte Lebensmittelvergiftungen sowie furchtbare Brandkatastrophen in Hotels und Kaufhäusern waren Gegenstand langwieriger Ge11
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Masaharu Inoue, Keizai Keiho (Wirtschaftsstrafrecht), 1951. Inoue kritisierte dort die Auffassung vor dem Weltkrieg, dass das Wirtschaftsrecht auch moralische Natur habe (S. 44 ff.). Vgl. Yoshio Kanazawa, Keizaiho no shiteki Kosatsu (Historische Betrachtung des Wirtschaftsrechts), 1985, S. 245 ff., 311 ff.; Mitsuo Matsushita, Keizaiho Gaisetsu (Grundriss des Wirtschaftsrechts), 1984, S. 28 ff. Vgl. die Übersetzung von Ryuichi Hirano / Koji Iguchi, 1955.
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richtsverfahren. Dahinter verbargen sich strukturelle Mängel von Bauweise, Feuerschutzeinrichtungen oder Produktionsprozessen, die als Folgen der Gewinnmaximierungsstrategien der Unternehmen in den 60er Jahren angesehen werden können14. Für diese strukturellen Mängel sollten die Unternehmen selbst zur Verantwortung gezogen werden. Erstmals wurden aufgrund des Preiskartells und der Mengenabsprachen zwischen den Ölgesellschaften während der Ölkrise von 1973 vom Kartellamt (Koseitorihikiinkai) Strafanzeigen erstattet. Auch bei den für die verschiedenen „Lasterhandelssysteme“ verantwortlichen Firmen, die mit zwielichtigem Geschäftgebaren auffielen, geriet die Tätigkeit des Unternehmens selbst in den Blickpunkt. Dennoch standen zu dieser Zeit wohl noch die Fälle im Mittelpunkt des Interesses, in denen Unternehmen aufgrund organisatorischer Mängel die Anforderungen von außen nicht bewältigen konnten. Diese These wird vor allem durch die große Anzahl von Fahrlässigkeitsdelikten belegt. Das Wirtschaftsstrafrecht dieser Zeit beschäftigt sich somit mit der Haftung für katastrophale Unfälle.
V. Die Struktur der japanischen Gesellschaft und das Wirtschaftsstrafrecht In den 80er Jahren verschiebt sich der Schwerpunkt der Wirtschaftskriminalität zu den „Lasterhandelssystemen“. Ein Grund dafür besteht im Wandel der Wirtschaftstypen von an Produktion orientierten zu an Kredit orientierten. Auch unter gewöhnlichen Bürgern verbreitete sich damals die Spekulationslust. Man findet Kettendividendengemeinschaften vergleichbar den Kettenbrieffällen in Deutschland, Schneeballsysteme beim Verkauf von Waren, verschiedene Formen des Anlagebetruges, in denen den Auftraggebern ungedeckte Warengutscheine verkauft wurden, betrügerische Warentermingeschäfte, Suggestivverkaufsmethoden vergleichbar den Kaffeefahrten usw.15 An diesen dubiosen Machenschaften zeigt sich die Spekulationswut der Gesellschaft der 80er Jahre. Eine sog. „Seifenblasen-Wirtschaft“ (bubble economy)16 begünstigte diese Erscheinungsformen von Kriminalität, die aus der politi14
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Vgl. dazu Keiichi Yamanaka ,,Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW, Bd. 102 (1990), S. 928 ff; Ders., Umweltkatastrophen und Theorie der Aufsichtsfahrlässigkeit in der neuen japanischen Judikatur. in: Kanai University Review of Law and Politics Nr. 11 (1990), S. 85 ff. Vgl. Rudolf Müller / Heinz-Bernd Wabnitz, Wirtschaftskriminalität. 3. Aufl. 1993, S. 191 ff. Sie ist vergleichbar der Gründerzeit in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland.
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schen und wirtschaftlichen Struktur der japanischen Gesellschaft heraus geboren wurde. Typische Beispiele sind die rechtswidrige Verlustübernahme durch Effektenfirmen, Insiderhandel, Kartelldelikte, Aktienmanipulationen, verbotene Absprachen bei öffentlichen Ausschreibungen. Die inzwischen zur allgemeinen Sitte gewordene Geschäftsmethode japanischer Unternehmen ist erst als kriminelle stigmatisiert worden. Die Bereitschaft zur Vermeidung von Konkurrenz in Großkonzernen, die Wirtschaftskontrolle durch die Bürokratie, der allmächtige und allgegenwärtige Verwaltungsstaat („Gyosei ShidoStaat“)17 anstelle eines Rechtsstaats und die traditionell die Unternehmen bevorzugende Wirtschaftspolitik produzierten die Brutstätte der Wirtschaftskriminalität. Damit ist dieses Wirtschaftsstrafrecht als ein Strafrecht aus wirtschaftlicher Struktur zu bezeichnen.
C) Der Schutz der-Volkswirtschaftsordnung Die bedeutendsten Erscheinungsformen von Wirtschaftskriminalität in diesem Bereich sind Verletzungen des Kartellgesetzes und des Effektenhandelsgesetzes.
I. Das Kartellgesetz 1. Wesentlicher Inhalt und Bedeutung des Kartellgesetzes Das Kartellgesetz18 formuliert sein Ziel in § 1. Sein vordringlichster Zweck ist die „Förderung der freien Konkurrenz“, daneben bezweckt es den allgemeinen Verbraucherschutz und die „Förderung einer gesunden Entwicklung der Volkswirtschaft“. Regelungsgegenstände des Gesetzes sind das „private Monopol“, die „unlautere Handelsbeschränkung“ und die „unfaire Handelsmethode“. Die ersten beiden Verbote sind mit Kriminalstrafe, d.h. Zuchthausstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bis zu 5 Millionen Yen bewehrt (§ 89 Abs. 2). „Die materielle Beschränkung der Konkurrenz in einem bestimmten Gebiet“ durch eine Unternehmensgruppe (§ 8 Abs. 1 S. 1) ist verboten und wird bestraft (Nr. 2). Dieses Sanktionsvorschriften stellen einen besonderen Typus dar (Ryobatsukitei, wörtlich übersetzt: „Beidebestrafungsvorschrift“). Sie regeln die Strafdrohung zugleich für den konkreten Täter (Angestellten) und für das 17 18
Über „Gyosei Shido“ vgl. Muneyuki Shindo, Gyosei Shido (Iwanami-Shinsho-Serie Nr. 218), 1992. Über das japanische Kartellgesetz vgl. in englischer Sprache Akira Negishi, Administrative Guidance and the Japanese Antimonopoly Law, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, 1985, 277 ff.
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Unternehmen, sei es eine Einpersonengesellschaft oder eine juristische Person. Die Geldstrafe für das Unternehmen beträgt bis zu 100 Millionen Yen (§ 95) und der Strafrahmen ist unabhängig von der Höhe der Strafe des Angestellten bestimmt. Die Delikte der §§ 89 bis 91 verlangen als Prozessvoraussetzung eine Anzeige des Kartellamtes; der Behörde kommt ein ausschließliches Anzeigeprivileg zu (§ 96). Entschließt sich die Staatsanwaltschaft trotz Vorliegens einer Anzeige des Kartellamtes gegen eine Anklageerhebung, ist der Generalstaatsanwalt verpflichtet, dem Premierminister über den Justizminister darüber zu berichten (§ 73 Abs. 2). In erster Instanz ist das Obergericht Tokio zuständig. Der Fall wird dort in einer Kammer vor 5 Richtern verhandelt. Im Jahr 1973 verursachte die Ölkrise eine erhebliche Verteuerung der Waren. Ursachen der Preissteigerung lagen in massiven Hamsterkäufen, Zurückhalten der Ölprodukte und Kartellabsprachen durch die großen Handelsfirmen, so dass sich die Kritik an den Unternehmen und der Zorn der Bürger erhöhte. 1977 wurde das Kartellgesetz zum ersten Mal bei einer Reform verschärft. Die Umsetzung des Gesetzes nahm in der Folgezeit zu. In den 80er Jahren wurden zwei Fälle aus der Zeit der Ölkrise von den Gerichten entschieden, die ich anschließend erörtern werde. 1989 begann die „structural impediments initiative“ zwischen Japan und den USA. Dabei forderten die USA von Japan einen Abbau konkurrenzbeschränkender Handelshemmnisse. Insofern war eine Verbesserung des Kartellgesetzes noch dringlicher.
2. Ölkartell-Fälle Das Ölkartell während der Ölkrise trat auf zwei Arten in Erscheinung. Der erste Fall betrifft Absprachen bezüglich der Produktionsmengen, im zweiten Fall wurden Preiserhöhungen zwischen den beteiligten Firmen abgestimmt. Der erste Fall wurde vom Obergericht Tokio 1980 entschieden19. Das Wirtschaftsministerium hatte aufgrund des Ölgeschäftsgesetzes (Sekiyugyoho) die Regulierung zwischen Angebot und Nachfrage der Ölprodukte, vor allem die Beschränkung der Produktion durch Verwaltungsleitung (Gyoseishido) beschlossen. Auch die Ölgesellschaften bei der Ölgeschäftsunion, einer „Unternehmensgruppe“ (Jigyoshadantai), hatte sich für eine Regulierung der Produktion entschieden. Das Kartellamt erhob Strafanzeige, da diese Produkti19
Urteil des Obergerichts Tokio vom 26.9.1980, Hanrei Jiho 983.22.
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onsbeschränkung innerhalb der Ölgeschäftsunion eine „materielle Beschränkung von Konkurrenz“ (§ 89 Abs. 1 S. 1) darstelle. Nach Auffassung des Obergerichts erfüllte die Handlung den Tatbestand des § 89 Abs. 1 Nr. 1 und war auch rechtswidrig. Dennoch gelangte das Gericht zu einem Freispruch, da ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorgelegen habe. Zwar sei die Produktionsbeschränkung als private Handlung rechtswidrig, da sie nicht ausschließlich aufgrund einer Anordnung (Leitung) des Wirtschaftsministeriums, wie es in bestimmten Fällen notwendig ist, sondern aufgrund eigener Beurteilung der Ölgeschäftsunion erfolgt war. Trotzdem habe das Kartellamt keine Warnungsmaßnahme dagegen getroffen. Unter diesen Umständen sei anzunehmen, dass das mangelnde Unrechtsbewusstsein der Angeklagten auf einem überzeugenden Grund beruht. Daher verneinte das Gericht den Vorsatz. Beim Preiskartell-Fall wurden 12 Ölvertriebsgesellschaften und ihre Vorstände wegen Verletzung des Verbots unlauterer Handelsbeschränkung (§ 3) angeklagt, weil sie die Steigerung des Ölpreises und den Termin seiner Erhöhung miteinander abgestimmt hatten. Der Oberste Gerichtshof bejahte Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit sowie (potentielles) Unrechtsbewusstsein20. In diesem Fall wurde zum ersten Mal nach 37 Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes eine Strafe wegen unlauterer Handelsbeschränkung verhängt.
3. Einführung der Geldbuße (1977) Erst 1977 wurde das Kartellgesetz verschärft. Die Reform enthielt folgende Schwerpunkte: Zunächst wurde eine Berichtspflicht über den Grund von Preiserhöhungen vorgeschrieben, wenn ein Unternehmen anderen folgend den Preis erhöhen will. Des weiteren wurde eine Möglichkeit zur Regulierung von „Monopolzuständen“ vorgesehen. Drittens wurde die Größe der Anteile, die eine Großgesellschaft an einer anderen Gesellschaft halten darf, eingeschränkt (§ 10). Als bedeutendster Reformteil wurde die Geldbuße (Kachokin) als Sanktion gegen Unternehmen neu eingeführt (§ 7a). Mit der Geldbuße besitzt das Kartellamt ein Instrument, um Zuwiderhandlungen mit einem wirtschaftlichen Nachteil zu sanktionieren und so die Bildung von Kartellen zu verhüten und den freien Wettbewerb zu fördern. Hierbei handelt es sich nicht um eine Kriminalstrafe, sondern um eine Verwaltungssanktion. Das Bußgeld soll so bemessen werden, dass der Betrag im Verhältnis 20
Urteil des Obersten Gerichtshofes vom 24.2.1984, Keishu 38, 287. Urteilsbesprechung vgl. Mikito Hayashi, Strafrechtliche Haftung des Ölkartells, in: Gendai no Keizai Hanzai, 1989, S. 40 ff.; Kamiyama, Prüfung des Preiskartell-Urteils des Obersten Gerichtshofs, Keizaiho Gakkai Nenpo Nr. 6 (1985), S. 38.
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zum Umsatz während der Zeit der Kartellabsprache steht. Auf diese Weise soll dem Kartell der unrechtmäßig erlangte wirtschaftliche Nutzen entzogen werden. Die USA haben im Rahmen der „structural impediments initiative“ die Bemessungsrate des Bußgeldes als zu niedrig kritisiert. Danach wurde das Gesetz reformiert und der Bußgeldrahmen erhöht. Inzwischen hat sich die Bußgeldrate für die Großunternehmen verdreifacht21. Durch die Einführung der Geldbuße ergab sich das Problem des Verhältnisses zwischen Kriminalsanktion und Verwaltungssanktion. Die japanische Verfassung enthält den Grundsatz des „ne bis in idem“, wonach niemand wegen derselben Straftat zweimal zur Verantwortung gezogen werden darf (§ 39). Fraglich ist daher, ob das Verbot der Doppelbestrafung die gleichzeitige Verhängung einer Geldstrafe und einer Geldbuße wegen Kartellverstößen verbietet. Nach der herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung verstößt eine gleichzeitige Verhängung beider Sanktionen nicht gegen die Verfassung, weil der Charakter beider Sanktionen völlig unterschiedlich sei22.
4. Verschärfung der Kriminalstrafe (1993) Seit Januar 1993 gilt ein reformiertes und verschärftes Kartellgesetz. Durch die Reform wurde insbesondere die Obergrenze der gegen Unternehmer und Verbände zu verhängenden Geldbuße bei den Delikten des § 89 von dem für Angestellte geltenden Bußgeldrahmen getrennt (§ 95)23. Die bisherige Höchststrafe von 5 Millionen Yen konnte gerade die großen Unternehmen, die über eine immense Kapitalkraft verfügen, kaum beeindrucken. Zur Abschreckung wurde eine Obergrenze von 100 Millionen Yen festgelegt, obwohl zunächst eine wesentlich höhere Summe (300 Millionen Yen) vorgesehen war. Ein Parlamentsabgeordneter, der den Vorsitzenden des Kartellamts zu einer Redu21
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Über die Bußgelderhöhung vgl. Shuji Iwamura, Über die Tendenz zur Verstärkung der präventiven Kraft des Kartellgesetzes, Hanrei Times Nr. 737 (1990), S. 40; Akira Negishi, Die Reform des Systems zum Bußgeld gegenüber dem Kartell, Jurist, Nr. 977 (1991), S. 31 ff.; Shibahara, Entzug des unrechtlichen Ertrags und Verstärkung der Bestrafung der juristischen Person, Horitsu Jiho, Bd. 63, H. 12 (1991), S. 101 ff.; H. Katoh / S. Kisugi / N. Kyoto / K. Sanekata / A. Shoda, Gespräch über Kartellgesetz und Kriminalstrafe, Jurist Nr. 1020 (1993), S. 10 ff.; Toru Nanki, Grundriss des reformierten Kartellgesetzes, Jurist Nr. 1020 (1993), S. 23 ff. Vgl. Kinya Kimoto, Kartellgesetz und Strafe, Horitsu no Hiroba, Bd. 46, H. 11 (1993), S. 26; Norihisa Kyoto, im oben genannten Gespräch, Jurist Nr. 977 (1991), S. 15; Urteil des Obergerichts Tokio vom 21.5.1993, Hanrei Jiho 1474, 31 ff. Über die Gesetzesänderung mit dieser Trennung vgl. Materialien „Zwischenbericht der Studiengruppe für Kriminalstrafe über das Kartellgesetz“, in: Kosei Torihiki Nr. 488 (1991), S. 76; Shibaha, Horitsu Jiho, Bd. 63, H. 12 (1991), S. 103 ff.
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zierung der Geldstrafe bewegen wollte, wurde Anfang April dieses Jahres wegen Bestechung (§ 197c StGB) angeklagt.
5. Der Wrapping-Streched-Film-Fall Am 20. Juni 1990 veröffentlichte das Kartellamt die „Richtlinie zur Erstattung von Strafanzeigen bei Kartellrechtsverstößen“. Im Wrapping-Streched-FilmFall hat das Kartellamt zum ersten Mal danach Strafantrag gestellt. Acht große Unternehmen, die Filmverpackungen produzierten und verkauften und einen Marktanteil von 98% innehatten, bildeten zusammen ein Preiskartell. Das Obergericht Tokio verurteilte am 21. Mai 1993 die Unternehmen zu Geldstrafen und alle Täter zu jeweils zwei Jahren Zuchthausstrafe mit zweijähriger Strafaussetzung24. Die Rüge des Verteidigers, dass die gleichzeitige Verhängung von Geldstrafe und Bußgeld gegen das Doppelbestrafungsverbot und die Klageerhebung willkürlich gegen den Gleichheitssatz verstoße, wurde vom Gericht zurückgewiesen.
6. Der Siegel-Absprachen-Fall Dieser Fall war der zweite Fall, in dem das Kartellamt nach der Veröffentlichung der Richtlinie Strafanzeige erstattete. Das Sozialversicherungsamt schrieb die Anschaffung von Siegeln, die auf eine schriftliche Mitteilung aufgeklebt werden, öffentlich aus. Aufgrund dieser Ausschreibung sollten die Anbieter miteinander konkurrieren. Das Sozialversicherungsamt verhandelte mit vier Firmen, die sich indes untereinander darüber verständigt hatten, wer den Zuschlag erhalten sollte. Am 14. Dezember 1993 hat das Obergericht Tokio diese Firmen zu einer Geldstrafe von 4 Millionen Yen verurteilt25.
II. Das Effektenhandelsgesetz 1. Bedeutung und Entwicklung des Gesetzes Das Effektenhandelsgesetz wurde 1947 verkündet und danach mehr als 30 Mal geändert26. Das Gesetz bezweckt „eine gerechte Regelung von Ausgabe, 24 25 26
Urteil des Obergerichts Tokio vom 21.5.1993, Hanrei Jiho 1474.31. Als Urteilsbesprechung vgl. Shiro Shida, Horitsu no Hiroba, Bd. 46, H. 11 (1993), S. 37 ff. Urteil des Obergerichts Tokio vom 14.12.1993, Shiryoban-Shojihomu Nr. 119.162. Vgl. Seiji Tanaka / Wataru Horiguchi, Kommentar Shokentorihikiho (Kommentar zum Effektenhandelsgesetz), 1990, S. 3 ff.; Wataru Horiguchi (Hrsg.), Shokentorihikiho, Revidierte Aufl. 1994, S. 16 ff.
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Verkauf, Kauf oder sonstigem Handel mit Effekten und die Gewährleistung eines flüssigen Effektenumlaufs im Interesse der Volkswirtschaft und des Verbraucher-Schutzes“ (§ 1). Im Jahr 1988 erfuhr das Effektenhandelsgesetz eine große Veränderung, bei der über ein Drittel der Vorschriften geändert und 17 Vorschriften neu eingefügt wurden, darunter die Bestrafung des InsiderHandels. Danach wurde es im Jahr 1990 reformiert und dabei eine Berichtspflicht von Erwerbern und Besitzern großer Aktienanteile vorgeschrieben. Im darauf folgenden Jahr wurden die „Effektenhandelsgesellschaftsskandale“ aufgedeckt, in die große Effektengesellschaften wie Nomura27 oder Nikko verwickelt waren. Die Verlustdeckungen in 787 Fällen betrugen 216,5 Milliarden Yen. 1991 wurden Gewinngewährung und Verlustdeckung bei Strafe verboten28. Die Gesetzesreform von 1992 hat das „Amt zur Aufsicht über den Effektenhandel“ neu geschaffen. Dabei wurde auch die Geldstrafe gegen Verbände von 3 auf 300 Millionen Yen heraufgesetzt.
2. Insider-Handel Durch die Reform des Effektenhandelsgesetzes vom 31. Mai 1988 wurde der bisher in Japan übliche Insider-Handel erstmalig bei Strafe verboten (damals §§ 190a, 190b, jetzt §§ 166, 167)29. Ein Angehöriger von Firmen, die zum Aktienhandel an der Börse zugelassen sind, oder jemand, der wichtige Geschäftsgeheimnisse in Erfahrung bringen könnte, darf keine Wertpapiere der betreffenden Firmen erwerben oder verkaufen, es sei denn, die betreffenden Tatsachen sind bereits öffentlich bekanntgemacht (§ 166). Wenn diejenigen, 27
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Als eine Entscheidung des Zivilprozesses eines repräsentativen Aktionärs gegen die Effektenfirma Nomura wegen der Verlustdeckung vgl. das Urteil des Landgerichts Tokio vom 16.9.1993, Hanrei Jiho 1469. 25. Tatsuo Uemura, Rechtsprobleme der Gewinngewährung und Verlustdeckung, Shoji Homu 1257 (1991), S. 9 ff.; I. Kawamolo / T. Takita / T. Wakasugi / T. Uemura, Gespräch über die Rechtsprobleme der Verlustdeckung, Shoji Homu Nr. 1263 (1991), S. 4 ff.; K. Kanzaki / K. Egashira / K. Shibahara / T. Takei, Gespräch: Verlustdeckungsproblem und Effektenhandelsgesetz, Jurist Nr. 989 (1991), Der Anlass zur erneuten Regelung des Insiderhandels war ein Fall, der im September 1987 ausbrach: Tateho-Chemie-Industrie hatte aufgrund misslungener Spekulationen im Ausland einen enormen Verlust verursacht. Die in Geschäftsverbindung stehende Bank „Hanshin sogo“ hatte alle Aktien von Tateho. die sie besaß, verkauft, bevor die Tatsache öffentlich wurde. Als Literatur über Insiderhandel vgl. vor allem S. Tanaka / W. Horiguchi, a.a.O (Fn. 26), S. 730 ff. mit vielen Nachweisen auf S. 756; Yosuke Yokohata, Insider Torihiki Kisei to Bassoku (Insiderhandel und Strafvorschriften), 1989; Masarmi Sato, Insiderhandel und seine strafrechtliche Regelung, Keiho Zasshi, Bd 30, H. 4 (1990), S. 551 ff.; Ders., in K. Nakayama / T. Kamiyama / T. Saito (Hrsg.), Keizai Keiho Nyumon (Einführung in das Wirtschaftsstrafrecht), 2. Aufl. 1994, S. 38 ff.
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die das öffentliche Übernahmeangebot der Aktien durchführen wollen, oder diejenigen, die Informationen darüber erhalten können, von den Tatsachen über seine Durchführung oder Unterbrechung erfahren, dürfen sie sich nicht am Handel beteiligen, es sei denn, die betreffenden Tatsachen sind bereits öffentlich bekanntgemacht. Der Verstoß gegen das Verbot des Insider-Handels wird mit Zuchthaus bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 500.000 Yen oder mit beidem geahndet. In der Praxis gibt es schon einige Entscheidungen zum Insider-Handel: Im Nissin-Kisen-Fall30 wurde ein Strafbefehl verhängt. Im Jahr 1992 wurde der Fall der Elektroartikelfirma „Macros“ verhandelt31. Ein Direktor der Firma hatte in einer Vorstandssitzung erfahren, dass der Jahresumsatz von 4 Milliarden Yen nicht den Tatsachen entsprach. Daraufhin verkaufte er seine Aktien und die seiner Frau; er wurde schuldig gesprochen.
3. Verlustdeckung Nach der Reform des Effektenhandelsgesetzes von 1960 war die Werbung für den Effektenhandel mit dem Versprechen der Verlustdeckung oder Verlustübernahme nach § 50 Abs. 1 Nr. 3 und 4 verboten. Dieses Verbot bezog sich auf die unlautere Art der Investitionswerbung. Die nachträgliche Verlustdeckung wurde erst am 26. Dezember 1989 durch eine „Mitteilung“ des für den Effektenhandel zuständigen Ministerialbeamten verboten. Durch die Gesetzesreform von 1990 wurde dieses Verbot ins Gesetz aufgenommen und durch eine Strafdrohung unterstützt. Auch die Aufforderung an Investoren zur Gewinngewährung oder zur Verlustdeckung wurde bei Androhung von Strafe verboten (§§ 50b, 199 Nr. 1–6, 200 Nr. 3–3, Nr. 3–4, 200–2). Der Zweck dieser Vorschriften liegt in der Gewährleistung einer angemessenen Preisgestaltung auf dem Effektenmarkt und in der Sicherung der Neutralität der Effektenfirma als Wertpapiermakler. Das Effektenhandelsgesetz verbietet drei Arten der Verlustdeckung32: erstens das vorherige Versprechen der Verlustdeckung (§ 50b Abs. 1 Nr. 1), zweitens die nachträgliche Deckungszusage (Nr. 2) und drittens die tatsächliche nach30 31
32
Entscheidung des Amtsgerichts Tokio vom 26.9.1990, Shoji Homu 1229 (1990), 130. Urteil des Landgerichts Tokio vom 25.9.1992, Hanrei Jiho 1438 (1993), 151. Neuerdings berichteten die Zeitungen, dass die Bezugspersonen der „Nippon Shoji“, die das Anti-Virus-Mittel entwickelte und verkaufte, Aktien im Wert von insgesamt einer Milliarde Yen verkauft hatten, bevor die Nebenwirkung, die durch das Mittel verursacht wurde, veröffentlicht worden war; Asahi-Zeitung (Abend-Ausgabe) vom 5.3.1994. Vgl. Horiguchi, a.a.O. (Fn. 26), S. 192 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
trägliche Deckung (Nr. 3). Die Strafe ist Zuchthausstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu einer Million Yen (§ 199 Nr. 1–6); jedoch reicht der Geldstrafenrahmen bei juristischen Personen bis zu 100 Millionen Yen. Der Gewinn, den die Investoren erlangt haben, kann eingezogen werden (§ 200a), da der wirtschaftliche Nutzen, der durch die Verlustdeckung entstanden ist, billigerweise nicht bei dem durch die Machenschaften Begünstigten verbleiben soll. Einziehung oder Verfall heben daher den Nutzen der Verlustdeckung auf. Das Verlangen des Investors gegenüber den Effektenfirmen nach Verlustdeckung ist strafbar (§ 50b Abs. 2); die gegenüber dem Auftraggeber angedrohte Strafe ist Zuchthausstrafe bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis zu 500.000 Yen (§ 200 Nr. 3–3).
4. Die Lenkung des Aktienmarkts Die Straftatbestände, die den Handel mit Aktien betreffen, wurden bei der Reform des Effektenhandelsgesetzes im Jahre 1948 nach amerikanischem Vorbild eingeführt. Lange Zeit hat sich kein Fall diesbezüglicher Delinquenz (s. § 125 alte Fassung) ereignet. Erst in den 80er Jahren finden sich einige Entscheidungen. Die Tatbestände sollen künstliche Manipulationen an der Börse mit dem Ziel, eine Hausse oder eine Baisse herbeizuführen, verhindern. Die Aktienbörse soll kein Spielplatz für Spekulanten sein, sondern ordnungsgemäß nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage funktionieren33. § 159 Abs. 1 und 2 des Effektenhandelsgesetzes verbieten die künstliche Manipulation des Handels mit zugelassenen Wertpapieren. Absatz 3 verbietet eine künstliche Stabilisierung des Aktienmarktes. Diese Manipulationsmethode wird insbesondere beim Verkauf massiver Effekten angewendet, um ihren Kurswert durch Gegenkaufe halten zu können, so dass ein Absinken durch steigende Angebote verhindert werden kann. Als Maßnahme gegen derartige Verhaltensweisen sind die Anordnung von Verboten (§ 192), die Schadenersatzpflicht gegenüber geschädigten Aktionären (§ 160) und die Bestrafung bei Zuwiderhandeln (§§ 197 Nr. 8, 207 Nr. 1) vorgesehen. Die Strafdrohungen sind Zuchthausstrafe bis zu 3 Jahren oder/und Geldstrafe bis zu 3 Millionen Yen. Für juristische Personen beträgt die Höchststrafe 300 Millionen Yen (§ 207 Abs. 1 Nr. 1).
33
Vgl. Tanaka / Horigucni, a.a.O. (Fn. 26), S. 543 ff.; Horiguchi, a.a.O. (Fn. 26), S. 281 ff.
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§ 159 des Effektenhandelsgesetzes verbietet, grob gesagt, zwei Methoden der Börsenmanipulation34: verdeckte Manipulationen durch Strohmanngeschäfte und offene Einflussnahmen auf die Wertpapierkurse. Als Beispiel für die erste Methode lassen sich etwa Scheingeschäfte anführen, bei denen Wertpapiere nur zum Schein veräußert werden, ohne dass eine Rechtsübertragung von den Beteiligten gewollt ist. Ein weiteres Beispiel sind vorher verabredete gegenseitige Transaktionen, bei denen Wertpapiere zwischen den Beteiligten gleichzeitig hin- und hergeschoben werden. Daneben sind folgende offene Manipulationen der Wertpapierkurse verboten: erstens der massenweise Ankauf oder Verkauf von Aktien, um den Eindruck gestiegener Nachfrage bzw. eines erhöhten Angebots zu erwecken (Nr. 1), zweitens die Verbreitung der Informationen über zukünftige Kursänderung durch eigene oder fremde Marktmanipulationen (Nr. 2), und drittens die vorsätzliche Abgabe falscher oder missverständlicher Erklärungen über Tatsachen, die für den Wertpapierhandel von Bedeutung sind (Nr. 3). Alle diese Manipulationen müssen dabei mit der Absicht, weiteren Effektenhandel auf dem Markt herbeizuführen, begangen werden. In einigen Fällen wurden seit dem Ende der 70er Jahre Börsenmanipulationen strafrechtlich geahndet, z.B. im Tokio-Effekten-Fall (oder Nippon-Tanko-AGFall)35, im Kyodo-Futier-AG-Fall36 und zuletzt im Fujita-Reise-AG-Fall37.
D) Schutz der betrieblichen Interessen I. Verschiedene Straftaten gegen Betriebsinteressen In diesem Bereich wird vor allem die Verletzung der Betriebsinteressen des einzelnen Unternehmens bestraft. Man kann hier unterscheiden zwischen Straftaten von Unternehmen gegen andere Unternehmen, gewissermaßen eine „Außen-Unternehmenskriminalität“ und Verletzung von Unternehmensinteressen durch Betriebsangehörige, sozusagen eine „Binnen-Unternehmenskriminalität“. Zu nennen sind etwa die unberechtigte Verwendung von geschützten fremden Warenzeichen im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und die auf das Gesellschaftsvermögen bezogenen Gefährdungsdelikte (§ 489 HGB)
34 35 36 37
Vgl. Katsuo Kanzaki, Prüfung des Börsenmanipulationsverbots im Lichte der Entscheidungen, Shoji Homu 1263 (1991), S. 35 ff. Urteil des Landgerichts Tokio vom 7.12.1981, Hanrei Jiho 1048, 164. Urteil des Obergerichts Tokio vom 26.7.1988, Kokeishu 41, 2, 269. Urteil des Landgerichts Tokio vom 19.5.1993, Hanrei Times 817, 221.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
einerseits, die Sonderuntreue durch den Geschäftsführer eines Unternehmens (§ 486 HGB) sowie der Verrat von Betriebsgeheimnissen andererseits.
II. Schutz des Betriebsgeheimnisses Im japanischen Strafgesetzbuch erfasst der Geheimnisverrat grundsätzlich nur die private Intimsphäre (§ 134). Der Täterkreis ist auf bestimmte Berufsgruppen wie z.B. Ärzte und Rechtsanwälte beschränkt. Es handelt sich deshalb um ein Sonderdelikt. Der Verrat von Staats- und Landesgeheimnissen ist im Staatsbeamtengesetz (§§ 100 Abs. 1, 109 Nr. 12) bzw. im Landesbeamtengesetz (§§ 34 Abs. 1, 60 Abs. 2) geregelt. Die Unternehmensgeheimnisse jedoch werden lediglich durch die Vermögensdelikte erfasst, soweit der Geheimnisverrat gleichzeitig den Tatbestand des Diebstahls (§ 235 jap. StGB), der Unterschlagung (§ 252 f. jap. StGB) oder der Untreue (§ 257 jap. StGB) erfüllt. Betriebsgeheimnisse werden also nur als Vermögen, nicht aber als Geheimnisse geschützt. Indes sah der Gesetzesentwurf zur Strafrechtsreform im Jahr 1974 einen entsprechenden Tatbestand vor. § 318 Satz 1 sah eine Zuchthausstrafe von bis zu 3 Jahren oder eine Geldstrafe bis zu 500.000 Yen für den Fall vor, dass „ein Vorstandsmitglied oder ein Angestellter des Unternehmens Produktionsgeheimnisse oder sonstige Betriebsgeheimnisse unberechtigt an Dritte weitergibt“. Dieser Vorschlag sah sich jedoch heftiger Kritik von Seiten der Strafrechtswissenschaft und der Anwaltschaft ausgesetzt.38 Die Definition des Unternehmensgeheimnisses sei zu unbestimmt, die Treue der Mitarbeiter zu ihrem Betrieb werde mit den Mitteln des Strafrechts erzwungen, durch die Bestrafung von ausgeschiedenen Mitarbeitern (§ 318 S. 2) werde die Freiheit der Arbeitsplatzwahl beeinträchtigt39. Gegen Ende der 80er Jahre entwickelte sich eine neue Tendenz zum Schutz von Betriebsgeheimnissen durch das Strafrecht40. Ursache waren die Forde38
39 40
Vgl. u.a. Nishihara, Die Straftaten gegen Geheimnisse, in: Y. Hiraba / R. Hirano (Hrsg.), Keiho Kaisei no Kenkyu (Studien zur Strafrechtsreform), Bd. 2, 1973, S. 370 ff., insbesondere S. 375 ff. Vgl. T. Saito. Betriebsgeheimnisse und Strafrecht, Keiho Zasshi, Bd. 32, H. 1 (1991). S. 60 f. Vgl. Kazuo Yoshioka. Betriebsgeheimnisse und Informationsvermögen, Hogaku Ronso, Bd. 117, H. 3 (1985), S. 1 ff.; H. 4, S. 1 ff.; Shibahara, Strafrechtlicher Schutz der Vermögensinformationen: Eine Einführung, Keiho Zasshi, Bd. 30, H. 1 (1989), S. 1 ff.; Noriyuki Nishida, Grundperspektive und Zusammenfassung der Zusammenarbeit, Keiho Zasshi, Bd. 30, H. 1 (1989), S. 3 ff.; Yoichi Hayashi, Eine dogmatische Betrachtung, Keiho Zasshi, Bd. 30, H. 1, S. 9 ff.; Atsushi Yamiguchi, Aus dem Standpunkt der Gesetzgebung, Keiho Zasshi, Bd. 30, H. 1, S. 27 ff.; Toshiyuki Kato, Zum strafrechtlichen Schutz der Trade Secrets in USA, Keiho Zassshi, Bd. 32, H. 1, S. 86 ff.; Katsuyosni
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rungen der USA, das technische Know-how amerikanischer Unternehmen zu schützen, die sich zunehmend schärferem Wettbewerb mit der japanischen Konkurrenz ausgesetzt sahen. Inzwischen ist der Schutz von Betriebsgeheimnissen auch zu einem wichtigen Anliegen der japanischen Unternehmen geworden. In dieser Zeit wurden drei Vorschläge zum Schutz von Betriebsgeheimnissen gemacht: Zum einen sollte das Betriebsgeheimnis durch Einführung eines Straftatbestandes in das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb geschützt werden41. Die beiden anderen Vorschläge wollten den Geheimnisverrat durch die Schaffung neuer Tatbestände im StGB aufgrund einer weiten Auslegung der Vermögensdelikte erfassen: entweder als Vermögensdelikt, wobei auch die Information als Vermögen angesehen wird42, oder als ein neues Delikt betreffend die Informationen, die Vermögenswert haben43. Im Jahr 1990 wurde das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb teilweise reformiert. Die Neufassung ist 1991 in Kraft getreten und enthält eine Vorschrift zum Schutz von Betriebsgeheimnissen44. Gegen Geheimnisverrat ist jedoch keine Kriminalsanktion vorgesehen. Lediglich die Möglichkeit einer Unterlassungsklage vor den Zivilgerichten wird eröffnet. Auch die Totalrevision des Gesetzes im Jahr 1993 – 60 Jahre nach seiner Einführung – hat keine Kriminalstrafe gebracht. Somit ist die Frage, ob und inwieweit das Betriebsgeheimnis einem strafrechtlichen Schutz unterliegt, nach wie vor höchst aktuell und umstritten.
41 42 43 44
Ikuta, Was von der Strafrechtsgeschichte über den Betriebsgeheimnisseschutz in Deutschland zu lernen ist, Keiho Zasshi, Bd. 32, H. 1 (1991), S. 117; Kazuo Yoshioka, Betriebsgeheimnisse und Strafrecht, Keiho Zasshi, Bd. 32, H. 1, S. 139 ff. Osamu Sakuma, Keiho niokeru mukeiteki Zaisan no Hogo (Schutz immaterieller Vermögenswerte im Strafrecht, 1991, S. 214 ff.) Yoshioka, Hogaku Ronso, Bd. 117, H. 4, S. 90. Yamaguchi, Keiho Zasshi, Bd. 30, H. 1, S. 27 ff.; Ders., Schutz der Betriebgeheimnisse, Jurist Nr. 852, (1986), S. 46 ff. Vgl. Chikujo Kaisetsu Fuseikyoso Boshiho (Kommentar zum unlauteren Wettwerbrecht), 1994, S. 46 ff.; Kaoru Kamata, Schutz der Betriebsgeheimnisse, Hanrei Times Nr. 793, (1992), S. 54 ff.
296
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
E) Verbraucher- und Investorenschutz I. „Lasterhandelssystem“ und Verbraucherschutz Seit den 70er Jahren sind in Japan betrügerische Verkaufs- und Investitionsmodelle verbreitet wie z.B. Kettengelddividendengemeinschaften, Schneeballverkaufssysteme und seit den 80er Jahren diverse Formen des Anlagebetruges. Diese dubiosen Methoden werden unter den Begriff „Lasterhandelssystem“ (Akutokushoho) zusammengefasst45.
II. Der Toyoda-Shoji-Fall Aus Zeitgründen kann ich in meinem Vortrag nicht ausführlich alle diese Machenschaften behandeln. Nur einen dramatischen Fall möchte ich kurz erwähnen, den sog. „Toyoda-Handelsgeschäft-AG-Fall“(Toyoda-Shoji-Fall)46 in den 80er Jahren. Die Täter verkauften in großem Umfang Gold. Den Käufern wurde das Gold jedoch nicht ausgehändigt. Vielmehr erhielten sie ein Wertpapier, welches eine bestimmte Goldmenge bestätigen sollte. In Wirklichkeit hatte die „Toyoda-Shoji“ nicht soviel Gold erworben, wie in den ausgegebenen Anteilscheinen bestätigt worden war. Opfer waren vor allem alleinstehende ältere Leute oder Hausfrauen, die ein gewisses Vermögen besaßen oder sich vor dem Rentnerdasein sorgten. Diese Leute wurden durch Vertreter besucht, die – natürlich gegen Bargeld – Goldanteilscheine ausstellten. „Toyoda-shoji“ hatte 8.800 Mitarbeiter und über 50 Filialen in ganz Japan. Die Summe, die das Unternehmen von den unerfahrenen Opfern erlangt hatte, betrug insgesamt 202 Milliarden Yen. 29.000 Personen wurden als Geschädigte ermittelt. „Toyoda-Shoji“ begann seine Geschäfte im Jahr 1981. Bereits 1982 gingen die ersten Beschwerden in den Verbraucherschutzzentren ein. Ab April 1984 verschlechterte sich die Situation des Unternehmens rapide. Am 18. Juni 1985 wurde der Präsident des Unternehmens getötet. Am 1. Juli 45
46
Zu den strafrechtlichen Problemen des Lasterhandelssystems vgl. E. Matsunaga / T. Hama u.a. Wirklichkeit der Lasterhandel-Betrug-Kriminalität im Lichte der angeklagten Fälle, Homusogo Kenkyusho Kenkyubu Kiyo H. 32, 1989, S. 35 ff.; Kamiyama, a.a.O., S. 13 ff.; Madoka Nagai, Shohishatorihiki to Keijikisei (Verbrauchergeschäft und strafrechtliche Regelung), 1991, S. 3 ff. Katsuhiko Kakiguchi, Straftaten im Bezug auf das Lasterhandelssystem, in: Nakayama / Kamiyama / Saito (Hrg.) Keizai Keiho Nyumon, S. 3 ff. Vgl. dazu Kamiyama, Die Bedeutung und Problematik des Toyoda-Shoji-Urteils, Horitsu Jiho, Bd. 61, H. 7, (1989), S. 82 ff.; Kinya Kimoto, Toyoda-Shoji-Fall, Jurist Nr. 900 (1988), S. 280 ff.; Kakiguchi, Zur strafrechtlichen Regelung gegen QuasiLokogeschäftssystem, Hannan Ronshu (Shakai Kagaku Hen), Bd. 28, H. 2, S. 71 ff.; Kamiyama, a.a.O., S. 221 ff.
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desselben Jahres wurde vor dem Landgericht Osaka das Konkursverfahren eröffnet. Die Staatsanwaltschaft erhob erst aufgrund der Geschäftsvorgänge seit dem Januar 1985, als die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens offensichtlich wurde, Anklage wegen Betruges. Da ab diesem Zeitpunkt die Ausgabe des Goldes auf die verkauften Anteilscheine unmöglich war und die Angeklagten dies auch wussten, erschien der Betrugsvorwurf als nachweislich berechtigt. Selbst in dieser Zeit hatte die Toyoda-shoji noch mehr als 4.000 Opfern einen Schaden von 13,7 Milliarden Yen zufügen können. Das Landgericht Osaka hat den Betrug bejaht47. Nach diesen Vorkommnissen ist am 16. Mai 1986 das „Gesetz über das Warenkommissionsgeschäft“ (Shohinyotaku-Torihiki-Gyoho) verkündet worden und am 22. Januar 1986 in Kraft getreten. Das Gesetz regelt ein Einsichtsrecht des Auftraggebers und Kommittenten in die Handelsbücher des Kommissionärs (§ 3), sowie eine umfassende Aufklärungspflicht des Kommissionärs, dem Auftraggeber alle verkehrswesentlichen Unterlagen über die Geschäftsbesorgung zur Einsicht auszuhändigen (§ 6). Die Verletzung dieser Pflicht ist mit Strafe bedroht (§§ 14 ff.). Bei der Anwendung des Betrugstatbestandes auf diese „Lasterhandelssysteme“ treten sowohl in praktischer wie in theoretischer Hinsicht schwierige Probleme auf, wenn der Kommissionär für seinen Auftraggeber Gewinn erzielt hat. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 18. Februar 199248 Betrug angenommen. Der Entscheidung lag ein Warentermingeschäft49 zugrunde. Das Unternehmen prellte seine Kunden um den erzielten Gewinn, indem dieser nicht erstattet wurde, sondern ohne weitere Mitteilung mit dem Auftragshonorar verrechnet wurde. Desweiteren wurden von den Kunden Provisionen für überflüssige Transaktionen gefordert. Der 47
48
49
Urteil des Landgericht Osaka vom 20.3.1999, Hanrei Jiho 1321, 3. Vgl. Mikito Hayashi, Der Täuschungsbegriff im Betrugsdelikt, Jurist 961 (1990), S. 104 ff.; Nagoya Shohisha Mondai Kenkyukai (Hrsg.), Hanrei Shohisha Torihikiho (Entscheidungen über das Verbrauchergeschäftsrecht), 1992, S. 325 ff. Keishu 46, 2,1. Als Urteilsbesprechung vgl. Yoshiaki Iwahashi, Horitsu no Hiroba, Bd. 45, H. 5 (1992), S. 44 ff.; Kyoto, Hogaku Kyoshitsu Nr. 145 (1992), S. 142 ff. Zum Studium der Rechtsprechung vgl. Mitsue Kimura, Aktuelle Aufgabe des Betrugsdelikts, 1–2, Toritsu Daigaku Hogakukai Zasshi, Bd. 34, H. 1 (1993), S. 1 ff., H. 2 (1993). S. 43 ff. Über die Warentermingeschäfte vom strafrechtlichen Standpunkt vgl. Kamiyama, a.a.O. (Fn. 46), S. 37 ff.; Kakiguchi, Zu Straftaten im Bezug auf Warentermingeschäfte, Hannan Ronshu (Shakai Kagaku Hen), Bd. 29, H. 1 (1993), S. 25 ff.
298
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Oberste Gerichtshof bewertete bereits die Bezahlung der Provision an die Täter als betrugsrelevanten Schaden. Wie beim Kreditkartenmissbrauch50 drängt sich hier der Eindruck auf, dass der Oberste Gerichtshof den Betrugstatbestand durch Auslegung über den Gesetzeswortlaut hinaus erweitert. Die Reaktion des Gesetzgebers auf diese dubiosen Geschäftspraktiken kommt immer zu spät, wie man besonders bei den Warenterminfällen feststellen kann: Wenn etwa der Gesetzgeber die Spekulation mit Gold auf dem Schwarzmarkt reguliert, weichen die Täter auf Platin aus, wenn der Handel mit Platin verboten wird, findet man eine neue Möglichkeit usw.
F) Schlusswort Abschließend möchte ich die Probleme und Entwicklungstendenzen des japanischen Wirtschaftsstrafrechts zusammenfassen: Als erstes lässt sich keine Tendenz feststellen, neuartige Erscheinungsformen betrügerischen Handels durch Umformung der Deliktstatbestände des StGB in abstrakte Gefährdungsdelikte zu erfassen. Dies scheint mir einer der großen Unterschiede zum deutschen Wirtschaftsstrafrecht zu sein. Zweitens lässt sich jedoch in Japan die Entwicklung beobachten, den Betrugstatbestand durch Auslegung auszudehnen und die Bindung an den Gesetzeswortlaut zu lockern51. Diese Tendenz begegnet dogmatischen Bedenken. Typisch für diese Entwicklung wäre die Anwendung des Betrugstatbestands auf den Kreditkartenmissbrauch. Ferner fällt für das japanische Wirtschaftsstrafrecht auf, dass die Vorschriften, mit denen bestimmte Erscheinungsformen des Wirtschaftslebens kontrolliert werden sollen, wie etwa das bereits erwähnte „Gesetz über das Warenkommissionsgeschäft“, Strafdrohungen für die bloße Zuwiderhandlung gegen Verwaltungsanordnungen vorsehen. Ob diese Quasi-Formaldelikte aus strafrechtlicher Sicht eine gelungene Schöpfung des Gesetzgebers darstellen, ist zweifelhaft. Entscheidend ist, dass die Verwaltungsbehörden ihrer Aufsichtspflicht über die
50
51
Vgl. unter anderem meinen Aufsatz: Yamanaka, Eine Betrachtung über den Kreditkartenmissbrauch, 1–2, Hogaku Ronshu, Bd. 36, H. 6 (1987), S. 39 ff., Bd. 37, H. 1 (1987), S. 33 ff., insbesondere S. 86 ff. Dazu vgl. vor allem Kimura, Toritsu Daigaku Hogakukai Zasshi, Bd. 34, H. 1 (1993), S. 2 ff.; H. 2, S. 43 ff.
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Unternehmen nachkommen. Ansonsten degenerieren diese Vorschriften zu Aufklärungsinstrumenten für materielle Delikte wie etwa den Betrug. Häufig werden bei einer Verletzung von Verhaltensvorschriften die Gesetze angewendet, die eine Bestrafung sowohl des einzelnen Täters als auch des durch die Tat begünstigten Unternehmens gleichzeitig ermöglichen. Auch der Gesetzgeber erlässt vermehrt derartige Vorschriften, die Strafen für den Unternehmensangehörigen und das Unternehmen vorsehen52. Hier stellt sich das Problem der Begründbarkeit von Strafsanktionen gegenüber Verbänden. Desweiteren werfen die Fälle, in denen die Verbandsgeldbuße als Verwaltungssanktion und die Geldstrafe gleichzeitig verhängt werden, die Frage nach dem Zweck und der Funktion beider Sanktionen im Hinblick auf eine Harmonisierung des gesamten Sanktionssystems auf. Schließlich muss man sich mit den für die Wirtschaftskriminalität typischen Strukturen befassen. Wenn man Wirtschaftskriminalität verhindern will, muss man die Struktur des japanischen Wirtschaftssystems ändern. Oft wird Japan als „Wirtschaftsregulierungsstaat“ bezeichnet. In diesem Sinn kann man die japanische Gesellschaft eine „Präventionsgesellschaft“ nennen. So sollten z.B. viele Regelungen über die wirtschaftliche Betätigung abgeschafft werden, um das japanische Wirtschaftssystem zu ändern. Andererseits muss folgendes festgestellt werden: Auch wenn das Strafrecht sicherlich die ultima ratio der Sozialpolitik darstellt, darf man nicht übersehen, dass bei mehreren Wirtschaftsskandalen erst durch das Eingreifen des Strafrechts der Anlass zu einer Strukturreform gegeben wurde. Die Bestrafung juristischer Personen konnte daher eine wichtige Rolle spielen, um die allgemeine Missbilligung der Unternehmensdelinquenz zu verstärken. Damit spreche ich die positive General-Prävention an. Indes ist eine Überbetonung dieser Funktion des Strafrechts nicht unproblematisch, weil das Strafrecht auch auf dem Gebiet der Wirtschaft nur eine zurückhaltende Rolle spielen darf.
52
Aktuell ist beim Problem der Beidebestrafungsvorschriften die Frage, wie die getrennten Bestrafungen bei Unternehmensangehörigen und Unternehmen theoretisch zu begründen sind.
§ 17. Zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bekämpfung der High-Tech-Kriminalität in Japan* I. Problemstellung 1. „Konvention über Cyberkriminalität“ Am 8. November 2001 wurde die „Konvention über Cyberkriminalität (Convention on Cybercrime)“1 durch den Europarat (Council of Europe) aufgenommen, welche die erste, weltweite, umfassende Konvention für die Bekämpfung von Computerkriminalität ist. Japan hat darauf bei Gelegenheit der Unterzeichnungs-Zeremonie am 23. November 2001 unterschrieben. Im Vorwort (Preamble) der Konvention wurde die gemeinsame Begründung der Mitglieder-Staaten und der anderen, den Vertrag abschließenden Staaten geäußert; der Vertrag wurde demnach in der Überzeugung der Notwendigkeit abgeschlossen, dass es eine vorrangige Aufgabe sei, eine gemeinsame Kriminalpolitik, die die Verteidigung der Gesellschaft gegenüber der Cyberkriminalität bezweckt, anzustreben, vor allem durch Erlass einer adäquaten Gesetzgebung und die Förderung der internationalen Kooperation und die Überzeugung, dass „eine effektive Bekämpfung der Cyberkriminalität nach einer zunehmenden, schnellen und gut funktionierenden internationale Zusammenarbeit in Strafsachen erfordert“. Im zweiten Kapitel der Konvention mit dem Titel „Maßnahmen, die auf nationaler Ebene zu ergreifen sind“, verpflichten sich die den Vertrag abschließenden Staaten, inländische Maßnahmen zu treffen. Angesichts dieser Situation kommt auch in Japan das Bewusstsein der Notwendigkeit einer strafrechtlichen Gesetzgebung über Cyberkriminalität auf.
*
1
High-Tech ist Abkürzung der high technology. Auf Deutsch: Hochtechnologie. Dieser Aufsatz ist eine Zusammenfassung meines auf Japanisch geschriebenen Aufsatzes, der in Festschrift für Lothar Philipps, München, in Taipeh in Taiwan 2004 veröffentlicht wurde. Convention on Cybercrime, Budapest, 23. XI. 2001. Dazu Toshiyuki Yamada, Gründzüge des Vertrages zur Cyberkriminalität des Europarates“, Jurist Nr. 1257, 2003, S. 29 ff.; Atsushi Yamaguchi, Gegenwärtige Situation und Aufgabe der Bekämpfung der Cyberkriminalität, Gendai Keijiho Nr. 57, 2004, S. 4 ff.
302
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
2. Bisherige Gesetzgebungen hinsichtlich der Computerkriminalität Die Gesetzgebung gegen Computerkriminalität in Japan hat mit der Teilreform des Strafrechts für die Computerkriminalität in 1987 begonnen2. Dabei sind die verschiedenen Vorschriften neu geschaffen worden: Zuerst wurde die Definitionsvorschrift zu „elektromagnetischen Daten“ (§ 7a jStGB) geregelt. In die Vorschriften über Urkundenfälschung oder Urkundenbeschädigung sind sodann „elektromagnetische Daten“ als Tatobjekt den Urkunden hinzugefügt worden (§§ 157, 158, 258, 259 jStGB). Die Vorschriften über unberechtigte Herstellung und Verwendung elektromagnetischen Daten (§ 161b), Betriebsstörung durch Computerzerstörung (§ 234b) und Computer-Betrug (§ 246b) wurden neu geregelt. Aber diese Gesetzgebung umfasst keine unbefugte Benutzung der im Computer gespeicherten Daten und den unberechtigten Zugang zu den in Computer gespeicherten Daten. Wie nachher ausführlich erörtert wird, ist das „Gesetz gegen den unberechtigten Zugang“ im Jahre 1999 als ein selbständiges Gesetz in Kraft getreten. Aus der nachfolgenden Tabelle lässt sich die Anzahl der aufgeklärten Fälle von High-Tech-Kriminalität in Japan im Jahre 2000 bis 2002 zeigen. Straftaten im Jahr
2000
2001
2002
Gesamtzahl Straftaten gegen Computer oder elektromagnetische Daten Betrug durch Computer
559
810
1039
44 33
63 48
30 18
Unberechtigte Herstellung oder Zerstörung der elektromagnetischen Daten
9
2
8
Betriebsstörung durch Computerzerstörung usw.
2
4
4
Die das Netzwerk verwendete Straftaten
484
712
958
Kinderprostitution oder Kinderpornographie
121
245
408
Betrug
53
103
109
Verbreitung von unzüchtigen Sachen
154
103
109
Übertretung gegen Gemeindeverordnung für Jugendschutz
2
10
70
Ehrenverletzung
30
42
27
Bedrohung
17
40
33
Verletzung des Urheberrechts
29
28
31
Sonstige
78
141
168
Verletzung des Gesetzes gegen unberechtigtem Zugang
31
35
51
Weißbuch der Kriminalität von 2003, S. 49 2
Dazu vgl. Kenichi Nakayama / Toshio Kamiyama (Hrsg.), Strafrechtsreform über Computerkriminalität usw. (Kommentar) (Erweiterte Aufl.), 1999; Sonderheft für Computerkriminalität und Datenschutz, Keiho Zasshi, Bd. 28, Heft 4 (1988); Kamiyama, Delikt bezüglich der unberechtigten Herstellung der elektromagnetische Daten, Keiho Koza, Bd. 6, (1993, S. 241 ff.; Shozo Horiuchi, Computerkriminalität, Keiho Riron no Gendaiteki Tenkai, 1996, S. 131 ff.
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3. Unberechtigte Aushändigung verfälschter Geldkarten Wie oben erörtert, wird die Verfälschung der elektromagnetischen Karte, wie der Barkarte (Cashcard) oder Telefonkarte, durch § 161b jStGB (unberechtigte Herstellung und Verwendung der elektromagnetischen Daten) umfasst. Aber viele Fälle tauchen auf, die durch die bisherigen Vorschriften nicht in geeigneter Weise umfasst werden konnten: Dies ist vor allem beim Verkauf dermaßen verfälschter Telefonkarten der Fall. Der Verkauf der verfälschten Telefonkarte betrifft nicht den „Gebrauch“ der verfälschten elektromagnetischen Daten, weil der „Gebrauch“ von der „Aushändigung“ unterschieden werden muss. Der Gebrauch bedeutet das „In-Verkehr-Setzen“ ohne Kenntnis des Empfängers von den Umständen, während die „Aushändigung“ mit dem Wissen der Umstände durch den Empfänger geschieht. Bei den Urkundenfälschungsdelikten wird nur „Gebrauch“, aber keine „Aushändigung“ der verfälschten Urkunden bestraft. Dagegen wird auch die „Aushändigung“ neben dem „Gebrauch“ bei den „Delikten gegen Wertpapiere“ bestraft (§ 163 Abs. 1 jStGB). Der Verkauf der verfälschten Telefonkarte betrifft nicht den Gebrauch, sondern die Aushändigung, weil der Empfänger in der Regel die Umstände, d.h. dass sie verfälscht ist, kennt. Es kommt deswegen darauf an, ob die vorbezahlte Karte (prepaid card) einschließlich der Telefonkarten Wertpapiere im Sinne der § 162 Abs. 1 oder § 163 Abs. 1 sind. Wenn die Frage bejaht wird, dann kann derjenige, der die Aushändigung vorgenommen hat, nach § 163 Abs. 1 jStGB, d.h. Delikt gegen Wertpapiere, die als Urkundenverfälschung eigentlich schwerer bedroht ist, bestraft werden. Der Gesetzgeber hat jedoch bei der Reform von 1987 in die Vorschriften für Delikte der Wertpapierfälschung das Wort „elektromagnetische Daten“ nicht hinzugefügt. Die Gerichte mussten sich deswegen mit der Frage auseinandersetzen, ob der elektromagnetische Teil der Telefonkarte ein „Wertpapier“ ist. Die Judikatur verwendet in diesem Fall dieselbe Theorie wie bei Urkundenfälschung: Der elektromagnetische Teil der Telefonkarte kann nämlich die „Lesbarkeit“ und „Sehbarkeit“, die die beiden Anforderungen der Urkunde sind, haben, wenn er mit den gedruckten Kartenoberflächen als eine Einheit gesehen werden kann3. Gegen diese Argumentation wurde viel Kritik, vor allem bezüglich der Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips, in der Literatur geübt.
3
Beschluss des OGH vom 5.4.1991, Keishu, Bd. 45, Heft 4, S. 171.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
4. Die öffentliche Ausstellung der unzüchtigen elektronischen Abbilder im Internet Es handelte sich in der Judikatur und Literatur darum, ob das Vorzeigen „obszöner Bilder“ auf der Homepage im Internet den Tatbestand „öffentlicher Ausstellung von unzüchtigen Sachen“ (§ 175 jStGB) erfüllt. Diskutiert wurde auch die Anwendungsmöglichkeit des Tatbestandes für „Verbreitung“ oder „Verkauf“ der obszönen Sachen an unbestimmte oder mehrere Personen, die bei Übertragung der obszönen Bilder als elektronischen Daten mit Attachment (Anhang) bei den E-Mails ebenfalls nach § 175 jStGB bestraft werden.
5. Tendenz zu neuer Gesetzgebung In der Gegenwart steht der einzelne Computer nicht allein, sondern ist auch zum Netzwerk verbunden, und das Netzwerk verbreitet sich weltweit. Das Computernetzwerk ist neuerdings eine wichtige Sozialinfrastruktur beim wirtschaftlichen Geschäft oder bei sonstigen sozialen Kommunikationen. So ist es eine dringende Aufgabe der Staaten in der Welt, dass sie sich mit der internationalen Kooperation gegen die Attacken gegen das Computernetzwerk mit Computerviren und mit der Bekämpfung der mit Benutzung von Computern begangenen Straftaten befasst. Wie oben geschildert, ist es für Japan nach der Unterschrift zur“ Konvention über Cyberkriminalität“, erforderlich geworden, die nationalen Gesetze entsprechend einzurichten. Der Justizminister hat am 24. März 2003 vom „Beratungsausschuss zur Gesetzgebung“ (Hoseisingikai) die Beratung über strafrechtliche Maßnahmen gegen die High-TechKriminalität verlangt. Der Beratungsausschuss zur Gesetzgebung hat seinem Unterausschuss, d.h. dem „Arbeitsausschuss zum Strafrecht“ die Prüfung überwiesen. Der Arbeitsausschuss hat am 7. August 2003 einen Grundzügeentwurf angenommen, und die allgemeine Versammlung des Beratungsausschusses hat am 10. September 2003 den „Grundriss zur Gestaltung der Strafgesetze über die High-Tech-Kriminalität“ angenommen und dem Justizminister berichtet.
6. Die für die Bekämpfung der Cyberkriminalität erforderlichen Tatbestände Der Vertrag über Cyberkriminalität (Convention on Cybercrime) nennt folgende Straftattypen, die die zur nationalen Gesetzgebung erforderlichen Maßnahmen im Gebiet des Strafrechts enthalten:
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(A) „Straftaten gegen das Geheimnis, die Vollständigkeit und die Verwendbarkeit von Computerdaten und -systemen“: (1) Der unberechtigte Zugang (§ 2), (2) das unberechtigte Auffangen (§ 3), (3) Datenverletzung (§ 4), Systembehinderung (§ 5) und Missbrauch des Apparates(§ 6). (B) „Straftaten bezüglich des Computers“: (6) Die Verfälschung bezüglich des Computers (§ 7) und Betrug bezüglich des Computers (§ 8). (C) „Straftaten bezüglich des bestimmten Inhalts“: (8) Die Straftaten bezüglich der Kinderpornographie. (§ 9). (D) „Straftaten bezüglich des Urheberrechts und der einschlägigen Rechte“ (§ 10). Zu diesen zu kriminalisierenden Taten sind in Japan im Großen und Ganzen in den nationalen Gesetzen die gesetzgeberischen Maßnahmen bereits getroffen.
7. Die in Japan noch erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen Die verbleibenden Aufgaben in Japan sind Gesetze zur Bestrafung der „Virenherstellung“ mit der Absicht der Systemverhinderung, die zum oben genannten Komplex „Missbrauch des Apparates“ gehören. Die Herstellung und Aushändigung des Passwortes beinhalten dies ebenfalls. Aber die Aushändigung des Passwortes für das Netzwerk usw. ist schon im Gesetz gegen den unberechtigten Zugang als „Verbot von Taten, die unberechtigten Zugang fördern“ unter Strafe gestellt (§ 4, § 9). Der „Arbeitsausschuss zum Strafrecht“ des Beratungsausschusses zur Gesetzgebung hat über die neuen Vorschriften bezüglich „Herstellung der elektro-magnetischen Daten, die die unberechtigten Befehle geben“, und die Reform der Vorschrift für die „Verbreitung unzüchtiger Sachen“ (§ 175) diskutiert und einen Entwurf vorgelegt4. Dieser Entwurf wurde zum zweiten Mal am 20. Februar 2004 dem Parlament vorgelegt, um ihn in die Beratung zu ziehen.
4
Dazu vgl. Atsushi Kitamura, „Grundriss zur Einrichtung des Strafrechts, High-TechKriminalität zu begegnen“, Jurist Nr. 1257, S. 6 ff.; Atsushi Yamaguchi, „Materialrechtliche Begegnung zur Cyber-Kriminalität“, Jurist Nr. 1257, S. 15 ff.; Noriyoshi Naganuma, High-Tech-Kriminalität und Einrichtung des Strafprozessrechts“, Jurist Nr. 1257, S. 22 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
8. Zweck dieses Aufsatzes Damit sind die gegenwärtige Situation und Problematik hinsichtlich der HighTech-Kriminalität in Japan vorgestellt. Nun sind vor allem die neuen gesetzlichen Bestimmungen in diesem Gebiet vorzustellen.
II. Gesetz gegen den unberechtigten Zugang 1. Die noch erforderlichen Gesetzgebungen seit 1987 Die Strafrechtsreform zur Bekämpfung der Computerkriminalität von 1987 regelte nur die unberechtigte Herstellung oder Zerstörung der elektromagnetischen Daten im Computer, Betriebsstörung und Erwerbung der Vermögensinteressen mit der Verwendung des Computers. Als noch zu lösende Aufgabe verblieben dabei „die unberechtigte Aufdeckung und Erwerbung der Daten“ und „der unbefugte Missbrauch des Computernetzwerks“. Die erste beinhaltet den Schutz des Informationsvermögens und der Geschäftsgeheimnisse (Trade Secret)5. Dabei ist letzteres vom unberechtigten Zugang umfasst6.
2. Die Grundzüge und der Zweck des Gesetzes gegen den unberechtigten Zugang Das Gesetz gegen den unberechtigten Zugang hat den Zweck, den unberechtigten Zugang von zwei Seiten, der Handlungsregulation gegenüber ZugangsTätern einerseits und der Hilfeleistung durch die Verwaltung zu präventiven Maßnahmen gegenüber Zugangs-Tätern andererseits, zu bekämpfen. § 1 des Gesetzes schreibt demgemäß vor, das Gesetz habe den Zweck7, „die Ordnung bezüglich der elektronischen Kommunikation, die durch das System der Zugangskontrolle verwirklicht werden kann, und die Prävention der Kriminalität bezüglich des Computers durch Online (elektronischen Kommunikationskabel) 5
6 7
Vgl. Sonderheft: Strafrechtlicher Schutz der Vermögensinformationen, Keiho Zasshi, Bd. 30, Heft 1, (1989); Kazuo Yoshioka, Unternehmensgeheimnisse und Informationsinteresse, Hogaku Ronso, Bd. 117, Heft 3 (1985), S. 1 ff., Heft 4, S. 1 ff.; Sachio Kato, Strafrechtlicher Schutz der Unternehmensgeheimnisse, Nagoya Hosei Ronshu Nr. 116 (1987), S. 207 ff., Nr. 117, S. 283 ff. Über die Geschichte der Institution vgl. Toshiyuki Kato, Unberechtigter Zugang, Keiho Zasshi, Bd. 41, Heft 1, S. 77 ff. Hisashi Sonoda / Takamasa Nomura / Takesi Yamakawa, Hacker vs Gesetz gegen den unberechtigten Zugang, 2000, S. 187. Als einen in deutscher Sprache geschriebenen Aufsatz vgl. Rikizo Kuzuhara, Computerkriminalität und ihre strafrechtliche Behandlung, in: Eser / Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 175 ff.
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aufrechtzuerhalten, indem man die unberechtigte Zugangs-Handlungen verbietet und die Strafvorschriften dazu und die unterstützenden Maßnahmen seitens Kommunen zur Verhinderung der Rückfälle bestimmt, und damit zur gesunden Entwicklung einer hoch entwickelten Informations- und Kommunikationssgesellschaft beizutragen“.
3. „Zugangs-Handlung“ als Verbotsobjekt § 3 des Gesetzes regelt das „Verbot der unberechtigten Zugangs-Handlungen“ (§ 3 Abs. 1). Die Strafe ist Zuchthaus bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 500 Tausend Yen“ (§ 8). Bezüglich „der unberechtigten Zugangs-Handlungen“ gibt es folgende drei Fälle (§ 8 Abs. 2): 1) Taten, welche den Computer in einen Zustand versetzen, der die bestimmte Benutzung, die durch einschlägige Kontrollfunktion begrenzt ist, ermöglicht, indem online mit dem bestimmten Computer, der die Funktion für die Zugangskontrolle ausübt, eine Verbindung hergestellt wird und das die Funktion der Zugangskontrolle ausübende Identifizierungsmerkmal eines anderen eingegeben und der bestimmte Computer in Betrieb gesetzt wird“ 2) Taten, durch die, indem Daten oder unberechtigte Befehle eingegeben werden und der betreffende Computer zum Starten gebracht wird, ein Zustand herbeigeführt wird, in welchem eine bestimmte begrenzte Benutzung möglich ist, die von der Einschränkung auf die bestimmte Benutzung durch die einschlägigen Funktionen für die Zugangsfunktion dadurch befreit ist, dass zum bestimmten Computer, der die Funktion für Zugangskontrolle hat, eine OnlineVerbindung hergestellt wird. 3) Taten, durch die, indem Informationen oder unberechtigte Befehle eingegeben werden und der betreffende Computer zum Starten gebracht wird, ein Zustand herbeigeführt wird, in welchem eine bestimmte begrenzte Benutzung möglich ist, indem eine Online-Verbindung zu dem betreffenden Computer hergestellt wird, dessen Benutzung durch die Funktion für Zugangskontrolle, die der über Online angeschlossenen andere bestimmte Computer hat, begrenzt ist. Nr. 1 verbietet die Taten, die mit dem Passwort eines anderen unberechtigt zum Netzwerk vordringen. Als ein typisches Beispiel ist der Fall zu nennen, dass man Passwörter unberechtigt stiehlt und an das Computersystem herankommt: Dieser Typ ist als Passwort-Diebstahl-Typ zu nennen. Dagegen verbieten Nr. 2 und 3 die Taten, die zum Computersystem mit dem Angriff gegen einen Sicherheitsmangel herankommen. Diese Taten bedeuten nämlich, dass sie solche Daten oder Befehle eingeben, die diese Einschränkung mit der Funktion der Zugangskontrolle aufheben können. Nr. 2 gilt für den Fall, in
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dem der Computer als Angriffsobjekt die Funktion der Zugangskontrolle hat. Dagegen gilt Nr. 3 für den Computer, der an sich keine Funktion der Zugangskontrolle hat, die aber der andere Computer hat, der damit durch das Netzwerk verbunden ist.
4. Verbot des Passwortanbietens an Dritte § 4 regelt das Verbot der Taten, die die unberechtigte Zugangs-Handlung fördern. Die Geldstrafe bis zu 300.000 Yen ist vorgeschrieben (§ 9). Das Verbot der Förderung ist konkret so: Das Anbieten des Passwortes durch eine Person an einen Dritten, das die Funktion der Zugangskontrolle hat: „Niemand soll das Passwort von Fremden, das die Funktion der Zugangskontrolle hat, einem anderen als dem Inhaber der Zugangskontrolle oder dem Benutzungsbefugnisinhaber des einschlägigen Passwortes anbieten, indem er erklärt, dass dieses Passwort, das eine bestimmte Verwendung des bestimmten Computers bedeutet, oder indem er der Aufforderung eines anderen, der davon weiß, folgt“.
5. Anzahl der Aufklärungen Die Anzahl der Aufklärungen bezüglich der Verletzung des Gesetzes gegen den unberechtigten Zugang ist nicht sehr groß. Aber jährlich vermehrt sie sich. Im Jahre 2002 gab es 51 Fälle8.
III. Verbreitung oder öffentlichen Ausstellung der unzüchtigen elektromagnetischen Bilder 1. Problemstellung § 175 jStGB schreibt vor: „Derjenige, der die unzüchtigen Schriften, Bilder oder sonstige Sachen öffentlich ausstellt, wird mit der Zuchthausstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe bis zu 250 Millionen Yen oder Geldbuße bestraft“. „Wer diese Sachen zum Verkaufzweck besitzt“, wird wie oben bestraft (§ 175 S. 2). Die Problematik liegt darin, ob die „elektronischen Bilder als Information“ den tatbestandlichen Wortlaut der „Schriften, Bilder oder sonstige Sachen“ erfüllten. Kurz gesagt, handelt es sich um das Problem, ob die elektromagnetischen Informationen eine „Sache“ bilden. Die japanische Judikatur und Literatur haben dieses Problem so gelöst, dass die Informationen an sich keine Sachen sind; dass aber Informationen nicht für sich 8
Vgl. die oben genannte Tafel, Weißbuch der Kriminalität von 2003, S. 49.
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allein bestehen, sondern auf den Medien. Wer die auf Tonband gespeicherten unzüchtigen Stimmen unbestimmte oder mehrere Personen hören lässt, hat keine „Stimmen“, sondern „das die unzüchtige Stimme speichernde Tonband“ ausgestellt. Wer auf seiner Homepage die obszönen Bilder zeigt, stellt „den die unzüchtigen Informationen speichernden Harddisk“ aus. Bei „Verbreitung“ oder „Verkauf“ handelt es sich darum, ob die unzüchtigen „Sachen“ übertragen sind. Problematisch ist deswegen, ob die mit der E-Mail übertragenen elektronischen Daten den Tatbestand des § 175 erfüllen oder nicht9.
2. Entscheidungen bezüglich der Cyberpornographie Die Entscheidungen, in denen die „öffentliche Ausstellung der unzüchtigen Sachen“ durch die Personalcomputer-Korrespondenz als strafbar beurteilt werden, sind (1) Urteil des LG Yokohama vom 14. Juli 1995 (keine Veröffentlichung), (2) Strafbefehl des AG Kyoto vom 21. November 1995 (keine Veröffentlichung). Bezüglich der über Internet geschickten Fälle werden (3) Urteil des LG Tokyo vom 22. April 1996 (Hanrei Jiho Nr. 1597, S. 151), (4) Urteil des LG Sapporo vom 27. Juni 1996 (keine Veröffentlichung), (5) Urteil des LG Okayama vom 15. Dezember 1997 (Hanrei Jiho Nr. 1641, S. 158), (6) Urteil des LG Yokohama, Kawasaki-Abteilung vom 6. Juli 2000 (Kenshu Nr. 628, S. 119) genannt. Das Urteil des LG Okayama (5) sieht die Bilder oder Stimmen an sich als unzüchtig, also Daten an sich als „Sache“ an10. In diesem Punkt unterscheidet es sich von den anderen, zu Unrecht. Die erste Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist im Jahre 2001 getroffen worden (Urteil des OGH vom 20. März 2001, Keishu Bd. 55, Heft 5, S. 317). Es hat die Entscheidungen von unteren Instanzen, die bis dahin aufgelaufen waren, bestätigt: „Der Harddisk des Hostcomputers, in dem der Angeklagte die unzüchtigen Bilderdaten gespeichert und gelagert hat, betrifft die unzüchtige Sache, die § 175 jStGB verlangt“.
3. Tendenz der Gesetzgebung a) Intention Nach Judikatur und Literatur lassen sich die obszönen elektronischen Informationen mit den Medien öffentlich ausstellen: Die Begründung liegt darin, dass 9 10
Als eine Monographie bezüglich dieses Problems vgl. Yoshiyuki Nagai, Strafrechtliche Regelungen der Cyberpornographie, 2003. In der Literatur gibt es die Meinung, die die Bilderdaten auf Bildschirm als Schriften ansieht: Siehe Shozo Horiuchi, Internet und Pornographie, Kenshu Nr. 588, S. 5.
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die Informationen sich ausstellen lassen, indem sie auf Medien, also auf Sachen, verkörpert sind. Ausgestellt sind keine obszönen Bilder an sich, sondern obszöne Harddisks, auf denen sie gespeichert sind. Die Argumentation scheint möglich zu sein. Aber es erscheint besser, wenn der Gesetzgeber noch ein Wort in den Text zufügen könnte: Nämlich unzüchtige „Datenmedien der elektromagnetischen Daten“. Problematisch war auch die Übertragung der elektromagnetischen obszönen Bilder. Die Übertragung als Attachment bei E-Mail betrifft keine Verbreitung oder Verkauf (wenn man entgeltlich verbreitet) der obszönen Sachen. Der Beratungsausschuss zur Gesetzgebung behandelte eine neue einschlägige Vorschrift11. Der Entwurf ist dem Justizminister zugeleitet worden12.
b) Vorschlag zur Reform Der folgende Vorschlag zur Reform des § 175 jStGB ist vorgetragen worden: 1) Wer unzüchtige Schriften, Bilder oder „Datenmedien von elektro-magnetischen Daten“ oder sonstige Sachen „verbreitet“ oder öffentlich ausstellt, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe bis zu 250 Millionen Yen oder Geldbuße (Karyo) bestraft oder mit den Zuchthausstrafe „und“ Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer die unzüchtigen elektromagnetischen Daten oder sonstigen Daten durch Online-Übertragung verbreitet. 2) Ebenso wird bestraft, wer Sachen im Sinne von Nr. 1 mit dem Zweck des entgeltlichen Verkaufs besitzt oder die elektromagnetischen Daten aufbewahrt.
c) Kurze Kommentare Beim ersten Teil von 1 wurden als Tatobjekt die „Datenmedien von elektromagnetischen Daten“ addiert. Die unzüchtigen Bilder betreffen nunmehr diese Kategorie. „Datenmedien“ bedeuten Sachen. Das Grundkonzept, dass das Tatobjekt die Sache sein soll, auf der die Bilderinformationen verkörpert sind, 11
12
Sonderheft: Gesetzgebungsaufgabe zur High-Tech-Kriminalität, Jurist Nr. 1257, S. 6 ff. Über den Reformvorschlag zur Cyberpornographie vgl. Yamaguchi, Materiellrechtliche Begegnung zur Cyberkriminalität, Jurist Nr. 1257, S. 15 ff. bes. S. 19 ff.; Yamanaka, in: Internet und Pornographie, Takahashi / Matui (Hrsg.), Internet und Recht, 3. Aufl., 2004 geplant, S. 175. (Erst im Juli 2011 ist § 175 des jap. StGB reformiert worden. Seit Juli 2011 ist die Übertragung solcher Daten als E-Mail-Anhang strafbar.). Als eine Reform bezüglich der High-Tech-Kriminalität vgl. auch die Herstellung der Computerviren. Vorgeschlagen ist auch die Reform des Strafprozessrechts bezüglich der Beschlagnahme der Daten in Harddisks beim Provider.
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ist bei dieser Reform nicht geändert worden. Die tatbestandliche Tat ist nur „Verbreitung“, ohne Unterscheidung zwischen Entgeltlichkeit und Unentgeltlichkeit. Das Wort „Verkauf“ ist gestrichen. Der letztere Teil von 1 bezieht sich auf die Vorschrift, welche die Übertragung der unzüchtigen elektronischen Bilder mit E-Mail bestrafen will. „Sonstige Daten“ beziehen sich z.B. mit der Übertragung der unzüchtigen Bilder per Fax. Bei 2 handelt es sich z.B. um das bisherige Delikt gegen Besitz der unzüchtigen Sachen in „Verkaufsabsicht“. Weil das Wort „Verkauf“ nunmehr nicht verwendet wird, wird die Formulierung „Absicht der entgeltlichen Verbreitung“ verwendet. Der Grund, warum das Wort „Aufbewahrung“ neu verwendet ist, liegt darin, dass das Wort „Aufbewahrung“ nur für elektromagnetische Daten gilt, um zwischen dem Wort „Besitz“, das eigentlich für „Sachen“ gilt, und der „Aufbewahrung“, die für die „elekromagnetischen Daten“ gilt, klar unterscheiden zu können.
IV. Unberechtigte Herstellung von Geldkarten 1. Ziel der Gesetzgebung Angesichts der oben geschilderten Situation hat der Gesetzgeber in 2001 das „Kapitel 18a“ des jStGB (Delikte gegen Geldkarten in Form der elektromagnetischen Daten) neu geschaffen. § 163a bis § 163d StGB sind neu formuliert. Die Paragraphen sind am 24. Juli 2001 in Kraft getreten. Inhaltlich lässt sich diese Reform so bezeichnen, dass sie unberechtigte Herstellung, Verwendung der Geldkarte wie der Kreditkarte, die die elektromagnetischen Daten in ihrem Bestandteil hat, Besitz der unberechtigten hergestellten Karten oder Vorbereitung der unberechtigten Herstellung der Karten erfassen.
2. Gesetzestexte Weil ich keinen genügenden Raum in diesem Aufsatz habe, möchte ich meine Erwähnung auf die Gesetzestexte beschränken13: 1) „Derjenige, der mit der Absicht, die Geschäftsverrichtung von anderen in die Irre zu führen, elektromagnetische Daten, die zu der Geschäftsverrichtung 13
Vgl. dazu Hiroshi Inoue, Gesetz zur Teilreform des Strafrechts, Jurist Nr. 1209, S. 10 ff.; Takaaki Nagase, Zum Gesetz zur Teilreform des Strafrechts, Keisatsugaku Ronshu, Bd. 54, Heft 9, S. 102; Noriyuki Nisida, Kartendelikte und Strafrechtsreform, Jurist Nr. 1209, S. 18; Takehiko Sone, Teilreform des Strafrecht bezüglich der Kartendelikte, ihre theoretische Probleme, Gendai Keijiho Nr. 31, S. 63 ff.
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zu verwenden sind und einen Bestandteil der Geldkarte oder sonstigen Karte, mit der die Kosten oder Gebühren bezahlt werden sollen, bilden, unberechtigt herstellt, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren oder Geldstrafe bis zu einer Millionen Yen bestraft. Ebenso wird derjenige bestraft, der die elektromagnetischen Daten, die die Be- und Einzahlungskarte des Bankkontos bildet, unberechtigt hergestellt hat“ (§ 163a Abs. 1). 2) Ebenso bestraft wird derjenige, der die im vorigen Absatz erwähnten elektromagnetischen Daten mit derselben Absicht der Geschäftsverrichtung zum Vermögen von anderen verwendet (Abs. 2). 3) Ebenso wird bestraft, wer die Karte, die die im vorigen Absatz erwähnten unberechtigt hergestellten elektromagnetischen Daten als ihren Bestandteil beinhaltet, mit derselben Absicht, abtritt, verleiht oder importiert (Abs. 3). Der Versuch wird bestraft (§ 163 d). 4) Wer die im Absatz 3 erwähnte Karte mit der im Absatz 1 geschriebenen Absicht besitzt, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe bis zu 500 Tausend Yen bestraft (§ 163b). 5) Wer in der Absicht, sie für Straftaten nach § 163a Abs. 1 zu verwenden, die Informationen der in demselben Absatz geschriebenen elektromagnetischen Daten erworben hat, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe bis zu 500 Tausend Yen bestraft. Derjenige, der wissentlich die Informationen weitergegeben hat, wird ebenso bestraft (§ 163c Abs.1). 6) Wer die Informationen der im § 163a Abs. 1 genannten elektronischen Daten, die unberechtigt erworben worden sind, in der im vorigen Absatz genannten Absicht aufbewahrt hat, wird ebenso bestraft (Abs. 2). 7) Wer mit der in Absatz 1 genannten Absicht Maschinen oder Materialien vorbereitet hat, wird wie in Absatz 1 bestraft. (Abs. 3). 8) Der Versuch des Absatz 1 wird bestraft (§ 163d).
V. Unberechtiges Herstellen bzw. Anbieten der Computerviren 1. Ziel der Gesetzgebung Der Beratungsausschuss zur Gesetzgebung hat die Notwendigkeit zum Erlass der Gesetze erkannt, um den neuerdings vermehrten Attacken gegen Computer durch die Computerviren oder die Straftaten, die durch den Missbrauch der Computernetzwerke begangen werden, zu begegnen, so dass er dem Justizmi-
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nister die Neuschaffung der Strafvorschriften vorgeschlagen hat14, nämlich Delikte gegen „Herstellung der elektromagnetischen Daten mit unberechtigten Befehlen“. Der Inhalt des Vorschlags ist wie folgt: 1) Wer in der Absicht, sie zur Verwendung im Computer eines anderen zu benutzen, elektromagnetische oder sonstige Daten herstellt oder anbietet, welche die die unberechtigen Befehle betreffen, die die dem Willen des anderen entsprechenden Bewegungen unterlassen oder die dem Wille des anderen widersprechenden Bewegungen auslösen, wird mit Zuchthausstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bis zu 500 Tausend Yen bestraft. 2) Wer die elektromagnetischen Daten, die die unberechtigten Befehle geben, im Computer eines anderen in Verwendung setzt, wird ebenfalls nach Absatz 1 bestraft. 3) Der Versuch des Absatz 2 wird bestraft. 4) Wer die elektromagnetischen oder sonstigen Daten, welche die unberechtigten Befehle betreffen, erworben oder aufbewahrt hat, wird mit Zuchthausstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe bis zu 300 Tausend Yen bestraft. 5) Der Versuch der Betriebsverhinderung durch Computerzerstörung usw. (§ 234a jStGB) wird bestraft.
2. Kurze Erklärungen der Gesetzestexte Die oben unter 1) und 2) beschriebenen Verbote betreffen die Bestrafung folgender Taten: die Handlungen in den jeweiligen Stufen der Herstellung, Vorbringen, In-Verwendung-Setzen, Erwerbung oder Aufbewahrung der unberechtigten Programme. Sie richten sich gegen die Verletzung des Vertrauens auf das Datenverarbeitungsprogramm durch Computerviren. Diese Straftaten sind unter den Delikten gegen soziale Rechtsgüter einzuordnen: Das Rechtsgut ist das Vertrauen auf das Computerprogramm. 5) intendiert die Bestrafung des Versuchs der Betriebsverhinderung durch Computerzerstörung in der vorherigen Stufe, weil die Betriebsverhinderung durch Computernetzwerk vorher bekämpft werden muss.
14
Sonderheft von Jurist „Gesetzgebungsaufgabe zur High-Tech-Kriminalität“, Jurist Nr. 1257, 2003, S. 6 ff.; Sonderheft: Gegenwart der Cyberkriminalität, Gendai Keijiho Nr. 57, 2004, S. 4 ff. (Erst im Juni 2011 ist diese Reform verwirklicht worden und seit Juli desselben Jahres in Kraft getreten. Geregelt wurde je bezüglich der Texte von unten 1), 2) und 3) der § 168a, 4) § 168b und 5) der § 234a Abs. 2 jStGB).
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a) Herstellung oder Anbieten der Computerviren Diese Vorschrift soll die Herstellung oder das Anbieten von Computerviren erfassen. Deswegen regelt sie nicht die Vorbereitung der Sachenbeschädigung als Verletzung individueller Rechtsgüter, sondern sie bekämpft als abstrakter Gefährdungstatbestand, bei dessen Handlungen das soziale Vertrauen auf das Computersystem zerstört wird, die Gefährdung kollektiver Rechtsgüter. Sie enthält ein Absichtsdelikt, wobei Absicht erforderlich ist, jemandem die Verwendung des Computers anderer Personen zu ermöglichen. Wenn die Herstellung oder das Anbieten also mit der Einwilligung der fremden Person gemacht wird, um die Sicherheit des Computers zu prüfen, so ist findet dieser Tatbestand keine Anwendung.
b) Einsetzen von Computerviren Diese Vorschrift bezweckt die Bestrafung des Einsatzes von Computervirus in einem Computernetzwerk. Diese Tat ist die Handlung, die einen Schritt über das Herstellen oder Anbieten hinausgegangen ist. Das Computervirus muss tatsächlich im Computer verwendet werden, um den Tatbestand zu erfüllen.
c) Bestrafung des Versuchs Der Versuch von oben b. soll bestraft werden. Wenn man z.B. das Computervirus jemandem mit E-Mail schickt, aber es in der Mailbox vom jemandem bleibt, so ist die Tat nur Versuch.
d) Erwerbung oder Aufbewahrung der Computerviren Die „Erwerbung“ bedeutet die Handlung, mit der man Computerviren unter eigene Herrschaft bringt. Die „Aufbewahrung“ bedeutet die Handlung, die sie unter eigener Herrschaft bleiben lässt. Sie beinhaltet den Fall, dass man sie in einer getrennten Harddisk aufbewahrt. Es braucht die Absicht, sie in einem fremden Computer „in Verwendung zu setzen“.
e) Versuch der Betriebsverhinderung durch Computerzerstörung Diese Vorschrift bezweckt die Bestrafung des bisher nicht strafbaren Versuchs der Betriebsstörung durch Computerzerstörung (§ 234a). Sie erfasst auch den Versuch, bei dem die Computerviren nicht zur Verwendung gelangen.
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VI. Schlussbemerkung In Japan sind die Straftaten, die das Computernetzwerk benutzen, im Vergleich mit anderen Computerkriminalität in der Statistik am meisten gestiegen. Vor allem sind die Verstöße gegen Kinderprostitution oder Kinderpornographie auf 40 Prozent der gesamten Netzwerk-Benutzungs-Kriminalität gestiegen. Der Betrug unter Verwendung des Netzes, vor allem durch Netzauktion, ist relativ häufig. Aufmerksamkeit verdient auch der Handel mit Weckaminen (Drogen), Pistolen usw. Unter den 747 Pistolen, die durch die Polizei in einem Jahr in Beschlagnahme gezogen wurden, sind 115 durch das Internet gehandelt worden15. Die Straftatbestände, mit denen man diesen den Computer benutzenden Straftaten begegnen kann, sind schon vorhanden. Die meisten Probleme beziehen sich nicht auf das materielle Strafrecht, sondern auf das Verfahrensrecht.
15
Vgl. Weißbuch der Kriminalität von 2003, S. 49.
§ 18. Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan Strafrechtliche Haftung wegen der Produktion, der Aufsichtspflichtverletzung und der ärztlichen Verschreibung von mit AIDS kontaminierten Blutprodukten
I. Einführung 1. AIDS-Skandal in Japan Zwischen 1983 und 1985 wurden in Japan mehr als 1800 Personen, hauptsächlich Bluter oder auch Leberkranke, mit HIV (Acquired Immuno-Deficiency Syndrome) angesteckt, weil sie HIV-kontaminierte, nicht sterilisierte („inaktivierte“) Blutprodukte erhielten („AIDS-Skandal“). Von den Infizierten sind mehr als 500 Personen wegen des AIDS-Ausbruchs gestorben. Obwohl bereits 1983 wirksame Verfahren zur Hitzeinaktivierung auch von HIViren entwickelt und 1983 in de USA1 genehmigt worden waren, wurden in Japan noch mehr als 2 Jahre lang nicht sterilisierte Blutprodukte weiter verkauft und verwendet. Dadurch wurde das Ausmaß der AIDS-Ansteckung erheblich vergrößert. Im Jahre 1989 wurden gegen die pharmazeutischen Unternehmen, die die Blutprodukte produziert und verkauft hatten, sowie gegen das Gesundheitsministerium, das dies genehmigt hatte, Schadensersatzklagen erhoben2. Nachdem sich der damalige Gesundheitsminister entschuldigt hatte, wurden diese Prozesse 1996 durch Vergleiche beendet3. Im Jahre 1996 wurde eine Klage „stockholder’s representative action“ gegen dem damaligen Direktor der GrünKreuz AG (Green Cross Corporation)4 erhoben; 2002 kam es zum Vergleich. 1 2
3 4
In den USA wurde die Hitzeinaktivierung von HI-Viren im März 1983 genehmigt. Erst im Juli 1985 ist dieses Verfahren in Japan genehmigt worden. Zur gesamten Materialien des AIDS-Skandals vgl. Verteidigergruppe des Tokyo-HIV Prozesses (Hrsg.), Yakugai AIDS Saibansi (Prozess-Geschichte des AIDS-Skandals), Bd. 1–5, 2002. Eine Voraussetzung des Vergleichs war die Gründung des „International Medical Center of Japan“ zur Forschung und Behandlung von Aids. Es wurde 1997 gegründet. Die Korporation wurde im November 1950 als Nippon Bloodbank AG gegründet. 1964 hat sie ihren Geschäftsnamen in Grün-Kreuz AG geändert. 1998 fusionierte sie mit der Yoshitomi-Pharmazeutische AG. Heute heißt sie Tanabe-Mitsubishi-Pharmazeutische AG.
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Erst im August 1996 wurden ein Arzt der Teikyo-Uniklinik, ein Beamter des Gesundheitsministeriums und der Präsident sowie zwei weitere Topmanager der Grün-Kreuz-AG wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§ 211 jStGB) strafrechtlich verfolgt5. Dies war das erste Mal, dass eine pharmazeutische Katastrophe zu einer strafrechtlichen Verfolgung führte. Das Misstrauen der Bevölkerung in das Sicherheitssystem der pharmazeutischen Produktion und des Verkaufs sowie in die Sorgfalt bei der Verschreibung von Heilmitteln scheint die strafrechtliche Verfolgung verlangt zu haben6. Es zeigte sich, dass der Schutz gegen pharmazeutische Katastrophen Mängel aufwies. Es fehlte an einem ausreichenden, die Patienten schützenden Rechtssystem, ferner erwies sich das Genehmigungsverfahren der pharmazeutischen Verwaltung als verbesserungsbedürftig. Erst die Bürgerinitiativen, die eine Verbesserung der Gesetzgebung zum Opferschutz veranlassten, sowie die Ergebnisse der Prozesse im Zusammenhang mit den pharmazeutischen Skandalen führten zu einem besseren Rechtsschutz der potentiellen Opfer. In strafrechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage, ob der AIDS-Strafprozess als einziges Strafverfahren im Bereich der vielen pharmazeutischen Skandale auch Anlass gegeben hat, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von pharmazeuti-
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Hauptliteratur zu den strafrechtlichen Problemen wegen des Aids-Skandals: Makoto Ida, Keiho Zasshi, Bd. 42, Heft 3, S. 333 ff.; Masato Okabe, Himeji Hogaku Nr. 49, 2009, S. 1 ff. (316 ff).; Hiroshi Otsuka, Gendai Keijiho, Bd. 4, Heft 3 (2002, S. 69 ff.; Ders., Keiho Zasshi, Bd. 42, Heft 3, S. 347 ff.; Ders., Keijiho no Riron to Genjitsu (Festschrift für Shiro Sasaki), (2002), S. 145 ff.; Katsunori Kai, Ijiho Hanrei Hyakusen 2006, S. 62 ff.; Ders., Nenpo Ijihogaku Nr. 17, 2002, S. 87 ff.; Kiyohiko Katahira, Jurist Nr. 1216, 2002, S. 28 ff.; Kazunori Karei, Jurist Nr. 1361, 2008, S. 166 ff.; Kayoko Kitagawa, Hogaku Kyoshitsu Nr. 258, 2002, S. 44 ff.; Soichiro Shimada, Keijiho Journal Nr. 3, 2006, S. 26 ff.; Mikito Hayashi, Hanrei Jiho 1775, 2002, S. 11 ff.; Saku Machino usw., (Gespräch über den Aids-Fall), Hogaku Kyoshitsu Nr. 258, 2002, S. 22 ff.; Masahide Maeda, Hanrei Times Nr. 1076, 2002, S. 3 ff.; Takaaki Matsumiya, Festschrift für Sasaki, 2002, S. 169 ff.; Takayoshi Tsuneoka, Jurist Nr. 1216, 2002, S. 19 ff.; Atsushi Yamaguchi, Jurist Nr. 1216, 2002, S. 10 ff. Heute leidet Japan nicht nur unter dem Misstrauen in die pharmazeutische Sicherheit, sondern auch in die „medizinische Sicherheit“ im Krankenhaus. Die Anzahl der strafrechtlichen Klagen bei ärztlichen Behandlungsfehlern in Krankenhäusern nimmt seit kurzem erheblich zu. Vgl. Hideo Iida, Keiji Iryo Kago (Strafrechtliche Fälle der Behandlungsfehler), Bd. 2, 2006, S. 6 ff.; Ders., Strafjustiz und medizinische Behandlung, Jurist Nr. 1339 (2007), S. 60 ff. Nach Iida wurden zwischen Kriegsende und 1999 nur 137 Fälle strafrechtlich verfolgt. In den 5 Jahren zwischen 1999 und 2004 waren es dagegen schon 79 Fälle (Jurist Nr. 1339, S. 61). Hitoshi Saeki, Gegenwärtige Situation der Strafjudikatur in Bezug auf medizinischen Sicherheit, Jurist Nr. 1323 (2006), S. 27 f.
§ 18. Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan
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schen Unternehmen, Krankenhäusern und Gesundheitsverwaltung zu präzisieren bzw. zu ändern. Zuvor ist freilich ein Blick auf die Zivilprozesse im Bereich der verschiedenen pharmazeutischen Skandale in Japan notwendig.
2. Die sensationellen Zivilprozesse gegen die pharmazeutischen Unternehmen in Japan a) Thalidomid-Skandal Der erste große Zivilprozess wegen eines schädlichen Arzneimittels fand in Japan beim sog. „Thalidomid- Skandal“ Ende der 50er Jahre statt. Thalidomid (Į-Phthalimidoglutarimid) ist ein Arzneistoff, der als Schlaf- und Beruhigungsmittel verkauft wurde7 und zu zahlreichen Schädigungen von neugeborenen Kindern geführt hat, deren Mütter ihn während der Schwangerschaft eingenommen haben. In Japan wurde ein thalidomidhaltiges Arzneimittel durch das Pharmazieunternehmen Dai-Nippon-Seiyaku mit einer eigenen Methode entwickelt und am 20. Januar 1958 unter dem Name „Isomin“ und am 22. August 1959 unter dem Name „Proban M“, als Heilmittel gegen Magen- und Darmkrankheiten verkauft. Kurz danach kam es zu einer zunächst unerklärbaren Häufung von Missbildungen Neugeborener. Die Grünenthal GmbH hatte sich am 26. November 1961 für den Rückruf des Arzneimittels entschieden. Erst am 13. September 1962 hat dann auch die Dai-NipponSeiyaku Produktion und Versand dieses Arzneimittels eingestellt und die bereits ausgelieferten Produkte zurückgerufen. Bis dahin war es schon bei mehr als 3000 Neugeborenen zu Missbildungen gekommen. Der erste Schadensersatzprozess gegen Dai Nippon Seiyaku wurde am 28. Juni 1963 beim Landgericht Nagoya anhängig. Am 26. Oktober 1974 wurde dieser Prozess mit einem Vergleich beendet. Der Thalidomid-Skandal war nicht nur die erste pharmazeutische Katastrophe, sondern wurde als eine Art großes „Kogai“s (public nuisance, Umweltkatastrophe) nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan bezeichnet8.
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Dieser Arzneistoff ist durch die Grünenthal GmbH in Deutschland entwickelt und vor allem unter dem Markennamen „Contergan“ seit dem 1. Oktober 1957 verkauft worden. 1961 wurde Contergan wegen seiner Gefährlichkeit in Deutschland zurückgenommen. Zur geschichtlichen Entwicklung der public nuisance (Umweltkatastrophe) vgl. mein Buch „Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft“, 2008, S. 60 ff.
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b) SMON9-Skandal Die SMON-Krankheit zeigt das Symptom von einem Nervenleiden, das zunächst mit Darmbeschwerden und Durchfall beginnt, dann zu Empfindungsstörungen und Lähmungserscheinungen in den Beinen sowie zu Schädigungen des Sehnervs bis hin zur Erblindung führt10. Ursächlich hierfür ist Chinoform (Clioquinol), das in Arzneimitteln für den Darm enthalten ist. In Japan wurde Chinoform von Ciba-Geigy11 in Basel importiert und durch die beiden pharmazeutischen Unternehmen Takeda und Tanabe verkauft. SMON trat gegen 1955 gelegentlich auf und erreichte 1969, ohne dass damals die Ursache bekannt war, ihren Höhepunkt12. Zuerst wurde die Theorie vertreten, SMON werde durch einen Virus verursacht. Im September 1969 setzte der Gesundheitsminister einen „Beratungsausschuss für die Ursachenuntersuchung der SMON“ ein. Erst 1970 wurde vermutet, Chinoform sei die Ursache. Diese Theorie wurde durch den Beratungsausschuss 1972 bestätigt. Der Gesundheitsminister hat im September desselben Jahres die Einstellung der Produktion des Arzneimittels angewiesen. Mehr als 11.000 Personen waren bis dahin an SMON erkrankt. Nach der Rückrufmaßnahme des Medikaments hat die Anzahl der Kranken dramatisch abgenommen. Im Mai 1971 begann der erste Prozess gegen die drei pharmazeutischen Firmen (Takeda, Ciba-Geigy Japan und Tanabe) sowie gegen den Staat. In diesem Jahr haben etwa 4.800 Personen Klagen bei den 27 Landgerichten in Japan erhoben. Im August 1978 hat das Landgericht Tokyo zum ersten Mal die Haftung der Unternehmen und des Staates bejaht13. 1979 hat das Landgericht Yokohama die Fahrlässigkeit eines Arztes in der städtischen Universitätsklinik Yokohama bejaht14.
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SMON ist eine Abkürzung von „Subakute Myelo-Optico Neuropathie“ (subacute myelo-optico-neuropathy). Vgl. Nanzando’s Medical Dictionary, 18. Aufl. 1998, S. 1120. Im Zivilprozess 1971 wandte Ciba-Geigy ein, „the SMON problem is a peculiarly Japanese one and they therefore not responsible to Japanese patients“. Vgl. Takehisa Awaji, SMON Jiken to Ho (SMON-Fall und Recht), 1981, S. 3 ff. Urteil des LG Tokyo von 3. August 1978, Hanrei Jiho. Nach dem LG ist Chinoform die einzige Ursache des SMON; (Zweite Instanz) Urteil des Obergerichts Tokyo von 7. Dezember 1990, Hanrei Jiho 1373, 3. Urteil des LG Yokohama von 26. September 1979, Hanrei Jiho 944, 8.
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c) Chloroquine-Skandal Chloroquin ist eigentlich ein Arzneistoff zur Prävention von Malaria. Darüber hinaus findet Chloroquin als ein Mittel bei der Behandlung rheumatischer Erkrankungen, dem Lupus erythematodes und der Porphyria cutanea tarda, Verwendung. Nebeneffekte können in gastrointestinalen Probleme (z.B. Magenbeschwerden), Kopfschmerzen oder Einschränkung des Sehbereichs usw. bestehen15. Dieses Arzneimittel wurde 1934 in Deutschland zum ersten Mal produziert. In Japan wurde es 1961 durch die Ono Pharmazeutische AG16 mit viel Werbeaufwand als Arzneimittel bei Nierenerkrankungen verkauft. Bei etlichen Patienten kam es durch die langfristige Einnahme dieses Mittels zu Trübung der Hornhaut und zu einer Veränderung der Netzhaut im Auge17. In Japan wurde erstmals 1961 über solche Nebenfolgen berichtet. 1973 hat ein Patient beim Landgericht Yokohama, 1975 ein anderer beim Landgericht Tokyo Klage erhoben. Erst im selben Jahr wurde der Verkauf von Chloroquin in Japan verboten. Etwa 1.000 Personen leiden inzwischen an dieser Krankheit, hiervon haben etwa 100 geklagt. 1977 hat das Landgericht Tokyo deshalb die Fahrlässigkeitshaftung eines Arztes bejaht. Der Oberste Gerichtshof hat dagegen am 23. Juni 1995 die Haftung des Staates verneint18.
d) Creutzfeld-Jakob Krankheits-Skandal Die Creutzfeld-Jakob-Krankheit19 (Creutzfeld-Jacob-Disease = CJD) ist eine beim Menschen sehr selten auftretende, tödlich verlaufende und durch atypische Eiweiße (Prionen) gekennzeichnete übertragbare spongiforme Enzephalopathie (transmissible spongiform encephalopath = TSE). Charakteristisch für die Krankheit ist, dass die abnorm gefalteten Prionproteine vor allem im Gehirn den dort normalerweise vorhandenen Vettern mit gesunder Struktur ihre veränderte Struktur aufzwingen und so einen verhängnisvollen biochemischen Prozess auslösen, der letztlich zu einer Degeneration des Gehirns führt. Diese Krankheit beginnt schleichend mit Schlaf- und Gedächtnisstörungen
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Vgl. Nanzando’s Medical Dictionary, 18. Aufl. 1998, S. 545. 1947 wurde Ono Seiyaku Kogyo AG gegründet. Das heißt „chloroquine retinopathy“. Urteil des LG Tokyo von 1. Februar 1982, Hanrei Jiho 1044, 19., Urteil des Obergerichts Tokyo, 11. März 1988, Hanrei Jiho 1271, 3; Urteil des OGH von 23. Juni 1995, Minshu, Bd. 49, Heft 6, S. 1600. Über diese Krankheit hat der Neurologe Hans-Gerhard Creutzfeldt 1920 erstmals berichtet. 1922 wurde die Bezeichnung Creutzfeldt-Jakob-Krankheit eingeführt.
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sowie psychischen Veränderungen. Im weiteren Verlauf kommt es zu schweren Bewegungsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen20. In Japan wurde im November 1996 zum ersten Mal ein Schadensersatzprozess beim Landgericht Otsu anhängig. Die Klägerin war durch eine Implantation der harten Hinhaut (dural graft) an CJD erkrankt. Zusammen mit ihrem Mann verklagte sie das pharmazeutische Unternehmen, das die harte Hirnhaut importiert und verkauft hatte, sowie den Staat, der Import und Verkauf genehmigt hatte. Das Landgericht Otsu hat 2001 einen Vergleich empfohlen. Am 25. März 2002 haben die Kläger, der Arbeitsminister sowie das verklagte Unternehmen sich geeinigt und die „Bestätigungsurkunde“ unterschrieben.
e) Hepatitis C Virus Infektion Skandal In Japan leiden etwa 2 Millionen Personen an dieser Krankheit. Die Übertragung des Hepatitis C Virus (HCV) erfolgte zumeist über Blut. Heutzutage ist die Infektion durch Bluttransfusion selten. Problematisch ist die HepatitisInfektion durch kontaminierte Blutprodukte. Im Jahre 2002 haben 16 Patienten zum ersten Mal Schadensersatzklagen wegen der Fibrinogenblutprodukte21 von drei pharmazeutischen Unternehmen (Tanabe-Mitsubishi, Benesis, Nihon-Seiyaku22) sowie gegen den Staat erhoben. Inzwischen ist die Zahl der Kläger auf mehr als 200 gestiegen. Am 23. März 2007 hat das Landgericht Tokyo zum ersten Mal teilweise die Haftung von Firmen und Staat bejaht23. Sonstige Urteile folgten diesem Urteil24. Der Gesetzesentwurf „Grundlagengesetz zur Bekämpfung des Hepatitis“, das die wirtschaftliche Entlastung der Patienten und eine Förderung der Hepatitisprävention bezweckt, wurde am 30. November 2009 vom japanischen Unterhaus verabschiedet.
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Zitat aus Wikipedia. Vgl. Nanzando’s Medical Dictionary, 18. Aufl. 1998, S. 539. Fibrinogen ist ein Bestandteil von Eiweiß, die einen blutstillenden Effekt hat, im Blut. Der Stoff des Fibrinogenprodukts ist „pool of blood plasma“ (Plasmapool), das aus dem Blut von tausenden Menschen zusammengemischt wird. Fibrinogen wird als Hämostatikum (blutstillendes Mittel) bei Geburt oder Operationen benutzt. 2007 sind Tanabe-Mitsubishi und Benesis vereinigt. Die Nihon Seiyaku AG wurde 1946 gegründet. Sie ist eine Tochtergesellschaft von Takeda. Seit den 50er Jahren hat sie die fraglichen Blutprodukte produziert. Urteil des LG Tokyo von 23. März 2007, Hanrei Jiho 1975, 2. Urteil des LG Nagoya von 31. Juli 2007, Shomu Geppo 54, 10, 2143; Urteil des LG Sendai von 7. September 2007, Shomu Geppo 54, 11, 2171.
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II. Strafrechtliche Aufarbeitung des pharmazeutischen Skandals 1. Einführung Die Zivilprozesse gegen pharmazeutische Unternehmen und den Staat haben zu einem besseren gesetzlichen Schutz der Patienten sowie zu einer Verbesserung der Sicherheitspolitik der pharmazeutischen Industrie geführt. Sie hatten deshalb große Bedeutung für die Patienten und den Verbraucherschutz. Bei allen oben genannten Skandalen wurde nur im AIDS-Skandal durch die Staatsanwaltschaft eine Anklage erhoben. Dem AIDS-Skandal kommt deshalb unter den vielen pharmazeutischen Skandalen eine Sonderstellung zu.
2. Überblick über die Fälle In diesem Referat sind die strafrechtlichen Entscheidungen in Bezug auf den AIDS-Skandal zu prüfen. Insgesamt handelt es sich um drei Prozesse gegen fünf Angeklagte. Man bezeichnet diese drei Prozesse jeweils als „(Prozesse)Route“25. Bei jedem Verfahren ging es um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung des Opfers im Betrieb (§ 211 jap. StGB). Es handelt sich erstens um die Entscheidung des „Grün-Kreuz-Falls“26, zweitens die des „Teikyo-Universitäts-Falls“27 und drittens die des „Gesundheitsministerium-Falls“28: Beim ersten Fall waren der Präsident, der Vizepräsident und der Hauptgeschäftsführer angeklagt worden. Beim zweiten Fall war der Direktor der Abteilung Innere Krankheiten und zugleich Vizerektor der Teikyo Universität, Professor Dr. A, der Angeklagte. A ist nach seiner Verurteilung in erster Instanz während des Berufungsverfahrens am 25. April 2005 gestorben. Beim dritten Fall war der Abteilungschef für die Bio-Produktionsabteilung im
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In diesem Aufsatz bezeichne ich die „Route“ mit dem Wort „Fall“. (Erste Instanz) Urteil des LG Osaka von 24. Februar 2000, Hanrei Jiho 1728, 163; (Zweite Instanz) Urteil des Obergerichts Osaka von 21. August 2002, Hanrei Jiho 1804, 146. Bei diesem Fall und dem Gesundheitsministerium-Fall handelte es sich um die strafrechtliche Produkthaftung. Vgl. Yamanaka, Die strafrechtliche Produkthaftung in der japanischen Judikatur – Eine vorbereitende Betrachtung der Begründung der Garantenpflicht bei den Unterlassungsdelikten, in: Kansai-University Review of Law and Politics Nr. 32 (2011), S. 17–36; Spanische Übersetzung, in: Festschrift für Miguel Polaino Navarrete in Peru (noch nicht erschienen). Urteil des LG Tokyo von 28. März 2001, Hanrei Jiho 1763, 17. (Erste Instanz) )Urteil des LG Tokyo von 28. September 2001, Hanrei Jiho 1799, 21; (Zweite Instanz) Urteil des Obergerichts Tokyo von 25. März 2005, Keishu 62, 4, 1187; (Dritte Instanz) Beschluss des OGH von 3. März 2008, Keishu 62, 4, 567.
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Gesundheitsministerium, M, der Angeklagte. Das Ergebnis im ersten Fall war Verurteilung, im zweiten Freispruch und im dritten teilweise Verurteilung. Bei diesen Fällen sind unter zahlreichen Verletzten nur zwei Personen als Opfer gewählt worden. Einer (Opfer X) war der Bluter, dem an der TeikyoUniversitätsklinik seit Mai 1984 keine HIV-inaktivierten Blutprodukte gegeben worden waren. X war auch beim zweiten Fall das Opfer und teilweise auch im dritten Fall (zur unten beschriebenen Sachverhalt 1). Dem anderen Patienten (Opfer Y), war nicht sterilisiertes Blut bei einer Verhärtungsoperation der Venenknoten bei der Speiseröhre wegen der Leberkrankheit in der Klinik der Medizinischen Hochschule in Osaka im April 1986 gegeben worden. Er war das Opfer beim ersten Fall und teilweise auch beim dritten Fall (zur unten beschriebenen Sachverhalt 2). Unter den vermutlich vielen Opfern wurden nur diese zwei gewählt, weil die Beweisführung der Kausalität und Vorhersehbarkeit des Opfertodes bei den anderen Fällen sehr schwer waren.
III. Midori-Juji (Grün-Kreuz)-Fall 1. Urteil des Landgerichts Osaka Das Landgericht Osaka hat den Angeklagten A wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§ 211 jStGB) zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren, B zu einer Gefängnisstrafe von einundeinhalb Jahren und C zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und 4 Monaten verurteilt. Der Verteidiger hat im Berufungsverfahren u.a. unangemessene Strafzumessung gerügt. Das Obergericht Osaka hat das Urteil der ersten Instanz aufgehoben. Es hat festgestellt:
2. Sachverhalt des Falls In der Klinik der Medizinischen Hochschule Osaka wurde beim Opfer am 1. April 1986 eine Verhärtungsoperation der Venenknoten bei der Speiseröhre wegen der Leberkrankheit durchgeführt. Der Arzt hat dem Patienten bis zum 3. April „Christmassin“29 als blutgerinnendes Mittel gegeben, obwohl es nicht sterilisiert worden war. Das Opfer wurde dadurch mit dem HI-Virus, der im nicht erhitzten Christmassin enthalten war, angesteckt. Etwa im September 1993 ist beim Opfer AIDS ausgebrochen. Der Patient ist am 4. Dezember 1995 im Krankenhaus gestorben.
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„Christmassin“ ist der Markenname des Blutprodukts, das zur Verwendung bei Blutern produziert wurde.
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Angeklagt waren der Präsident (A), der Vize-Präsident (zugleich Forschungsdirektor = B) und der Hauptgeschäftsverwalter (zugleich Produktionsdirektor = C) der Grün-Kreuz AG. Der Chef der Betriebsabteilung der Grün-Kreuz AG hat im Namen der Grün-Kreuz AG damit geworben, Christmassin werde aus dem sichereren inländischen Blut hergestellt, obwohl auch importiertes Plasma verarbeitet worden war.
3. Urteil des Obergerichts Osaka Dass das Opfer dieses Falls mit AIDS angesteckt wurde und dadurch gestorben ist, beruhte auf der ärztlichen Verschreibung. Ohne Verschreibung des nicht sterilisierten Christmassins wäre das Opfer nicht an AIDS gestorben. Deshalb liegt die Ursache dieses Erfolgs in der Verordnung des Christmassins. Dieses Blutprodukt wurde durch die Grün-Kreuz AG produziert und durch eine Firma am 27. und 29. März 1986 an die Klinik der Osaka-Medizinischen Hochschule verkauft. Die Grün-Kreuz-AG hat bis März 1986 nicht sterilisiertes Christmassin produziert und verkauft. Die Gefährlichkeit dieses Produkts war damals nicht nur in den USA, sondern auch in Japan bekannt. Unter den Blutern, die diese Blutprodukt erhalten hatten, befanden sich ziemlich viele HIV-Angesteckte. Deswegen hat das Gesundheitsministerium versucht, das sterilisierte Produkt einzuführen. Die Grün-Kreuz AG hat am 17. Dezember 1985 den Import von sterilisiertem „Christmassin HT“ aus USA genehmigt erhalten und mit dessen Verkauf seit 10. Januar 1986 begonnen. Trotzdem hat die Grün-Kreuz AG auch weiterhin nicht sterilisiertes Christmassin verkauft, obwohl die Hitzeinaktivierung eigentlich eine Maßnahme gegen die AIDS-Gefährlichkeit sein sollte. Das Gericht hat die Verantwortung der Angeklagten wie folgt begründet: Der Angeklagte A war der Direktor der Grün-Kreuz AG, die das Geschäft mit der Produktion und dem Verkauf des Arzneimittels betrieb. Er hat als Vorsitzender den Geschäftsausschuss und das Betriebskomitee geleitet. Diese beiden Organisationen besaßen die Zuständigkeit, über die für die allgemeinen Geschäfte der Gesellschaft wichtigen Angelegenheiten zu beraten und zu entscheiden. Der Angeklagte B steht als Vize-Präsident dem Präsidenten bei. Als Mitglied des ständigen Geschäftskomitees hat er an der Willensentscheidung des Unternehmens teilgenommen, er hat sich im allgemeinen an allen Geschäften des Unternehmens beteiligt. Er war zugleich auch der Forschungsdirektor des Unternehmens. Er verwaltete alle Geschäfte der Erforschung und Entwicklung der Arzneimittel inklusive der Informationssammlung über einen etwaigen Zusammenhang des Blutprodukts mit AIDS. A und B waren deshalb in der
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Lage, Gefahren vorzubeugen, die sich aus Produktion und Verkauf der Arzneimitteln ergeben können. Die Angeklagten konnten vorhersehen, dass sich Patienten mit HIV anstecken und durch den Ausbruch von AIDS sterben können, wenn sie nicht sterilisiertes Christmassin weiter verkaufen und bereits ausgelieferte Blutprodukte nicht zurückrufen. Sie haben erkannt, dass die Hitzeinaktivierung eine außerordentlich wichtige AIDS-Bekämpfungsmaßnahme ist, die das Problem gelöst hätte. Sie hatten die Sorgfaltspflicht, den Verkauf von nicht sterilisiertem Christmassins sofort einzustellen und einen Rückruf einzuleiten. Trotzdem haben die beiden Angeklagten jeweils diese Pflichten außer Acht gelassen. Sie haben deshalb die fahrlässige Handlung begangen, im Geschäftkomitee eingewilligt zu haben, weiterhin nicht sterilisiertes Christmassin zu verkaufen und keinen Rückruf zu veranlassen.
4. Die dogmatische Bedeutung der Entscheidungen Das Urteil hat für die Angeklagten jeweils die Sorgfaltspflicht festgestellt, den Verkauf nicht sterilisierten Christmassins einzustellen und bereits ausgelieferte Produkte zurückzurufen. Das Urteil hat sowohl Kausalität zwischen der Verschreibung des nicht sterilisierten Christmassins und dem Tod des Patienten als auch die Vorhersehbarkeit des Ansteckungsrisikos bejaht. Der entscheidende Fehler war der weitere Verkauf des nicht sterilisierten Christmassins auch nach dem Verkaufsbeginn des hitzeinaktivierten Produkts. Den Einwand des Verteidigers, es sei nicht genügend HIV-freies Christmassin verfügbar gewesen, deshalb sei weiterhin nicht sterilisiertes Christmassin verkauft worden, hat das Gericht zurückgewiesen. Es hat vielmehr festgestellt, die Angeklagten hätten vorrätiges Christmassins mit der falschen Behauptung, es sei aus sicherem inländischen Blut hergestellt, verkaufen wollen. Es ist umstritten, ob die Abwägung darüber, ob man den weiteren Verkauf als erlaubtes Risiko ansehen darf, bei der Vermeidbarkeitsbeurteilung zu berücksichtigen ist. Diskutiert wurde in der Literatur auch, auf welcher Fahrlässigkeitstheorie30 – klassische oder neue – die Entscheidung basiert. Über die strafrechtliche Produzentenhaftung wurde schon zuvor auch in Japan diskutiert. Es gab auch einige Entscheidungen31 dazu. Sie haben zur Diskussi30 31
Vgl. dazu Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 214 ff. Zur fahrlässigen Haftung wegen mangelhafter Produkte (Autos) in der Judikatur vgl. Urteil des Landgerichts Sendai vom 2. Juli 1981, Hanrei Times Nr. 469, S. 161 (Gebratene Satsuma-Vergiftungsfall); Beschluss des OGH vom 19. November 1979, Keishu,
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on um die theoretischen Begründungen der Rückrufspflichten der Produzenten geführt. Beim Grün-Kreuz-Fall handelt es sich nicht nur um den Verkauf des nicht sterilisierten Christmassins als positives Tun, sondern auch um die Pflichtwidrigkeit beim Rückruf des schon verkauften Christmassins. Hierzu wird der Entstehungsgrund der Handlungspflicht diskutiert32.
IV. Teikyo-Universitäts-Fall In diesem Fall handelt es sich um die Tat des Angeklagten, der als Abteilungschef der Teikyo-Universitätsklinik bei der Behandlung eines Patienten seit 12. Mai bis 7. Juni 1984 dreimal den behandelnden Arzt in der Inneren Abteilung nicht sterilisiertes Christmassin hat geben lassen33. Der Patient ist im Dezember 1991 an AIDS gestorben.
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Bd. 33, Heft 7, S. 728 (Sauna-Fall); Urteil des Landgerichts Tokushima vom 28. November 1973 (Morinaga-Trockenmilch-Fall), Hanrei Jiho Nr. 721, S. 7; Urteil des Landgerichts Fukuoka vom 24. März 1978, Hanrei Jiho Nr. 885, S. 17 (Kanemi-ÖlFall); Urteil des Amtgerichts Otsu vom 5. April 2000 (nicht veröffentlicht). Neuerdings vgl. Urteil des Landgerichts Yokohama vom 13. Dezember 2007, Hanrei Times Nr. 1285, 2009, S. 300 als einen Fall der mangelhaften Autoproduktion. Zu diesen Fällen der strafrechtlichen Produkthaftung vgl. meinen Aufsatz, in: Kansai-University Review of Law and Politics, 2010 (oben Fn. 26). Vgl. auch Beschluss des OGH vom 7. Dezember 2009 (noch nicht veröffentlicht) für den Fall, dass die Haftung von Aufsichtspersonen in Frage gestellt wurde, Maßnahmen zur Vermeidung des Einsturzes des Sandstrandes zu treffen. Aus der Literatur vgl. Yasuhiro Kanrei, Bemerkungen zum Rückruf von mangelhaften Produkten und ihren Grenzen, Gendaishakaigata Hanzai no Shomondai (Festschrift für Hiroshi Itakura), 2004, S. 183 ff.; Kayoko Kitagawa, Die Problematik der strafrechtlichen Produzentenhaftung, Waseda Hogaku, Bd. 71, Heft 2, S. 171 ff.; Dies., Pflicht zum Rückruf der mangelhaften Produkte und die strafrechtliche Haftung, Festschrift für Toshio Kamiyama, Bd. 1, 2006, S. 181 ff.; Dies., Die Fahrlässigkeitsdogmatik in den drei Aids-Entscheidungen, Hogaku Kyoshitsu Nr. 258, 2002, S. 47 f.; Emi Hiyama, Die strafrechtliche Produzentenhaftung und die Tatsubjektivität des Direktors, Hiroshima Hogaku, Bd. 26, Heft 4, 2003, S. 161 ff.; Tetsuya Morimoto, Entgegnung zu den mangelhaften Produkten und fahrlässigen Tötung- oder Körperverletzungsdelikten im Betrieb, NBL Nr. 868, S. 8 ff. Dazu vgl. Okabe, Himeji Hogaku Nr. 49, S. 310 ff. Als Ingerenztheorie für die GrünKreuz AG vgl. Kanrei, Festschrift für Itakura, S. 193 f. Zwei Verteidiger des Angeklagten haben später ein Buch herausgegeben: Harumitsu Muto / Junichiro Hironaka, „Abe Takeshi Ishi-Yakugai-AIDS Jiken no Shinjitsu“ („Arzt Takeshi Abe – Die Wahrheit des AIDS-Skandals“), 2008.
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1. Sachverhalt des Falls a) Zuständigkeit des Angeklagten Der Angeklagte, Dr. A34, war seit 1. September 1971 bis 31. März 1987 bei der Teikyo-Uniklinik als „Erster Innenmedizin-Abteilungschef“ für die Abteilung zuständig. Er war zuständig für die Erstellung des Behandlungsplans für die Bluterpatienten. Er hatte auch die Zuständigkeit, für die angemessene Behandlung in seiner Abteilung zu sorgen, indem er den Ärzten die Anweisung erteilt, um die begleitende Risikoentstehung für Bluter-Patienten vorzubeugen.
b) Der festgestellte Sachverhalt betreffend Vorhersehbarkeit Bis Mai 1984 hat Dr. Robert C. Gallo35 im „National Cancer Institute“ in den USA HIV als Pathogenese identifiziert. Dadurch wurde herausgefunden, dass AIDS eine Virus-Infektionskrankheit ist, die das Blut als Zwischenträger hat. Zugleich ist es möglich geworden, durch Antikörpertest zu prüfen, ob eine Infektion besteht. Durch diesen Test ist aus den USA bekannt, dass die Infektionsrate des HIV bei Blutern hoch war und die Ursache in der Verschreibung des durch HIV kontaminierten Blutprodukts lag. Dr. A hat im September des selben Jahres Dr. Gallo beauftragt, die Antikörper der 48 Bluter, die in seiner Uniklinik untersucht worden sind, zu prüfen. Das Ergebnis war, dass 23 Patienten positiv sind und mit HIV angesteckt waren. Außerdem ist auch bekannt, dass die Fälle des Ausbruchs von AIDS bei Blutern in USA allmählich zugenommen und die Todesrate der an AIDS erkrankten Patienten sehr hoch war. Die zwei Patienten, deren Antikörper nach den USA geschickt worden waren, um durch Dr. Gallo untersucht zu werden, und deren Ergebnis 34
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Professor Dr. A (1916–2005) hat 1941 die Medizinische Fakultät der Universität Tokyo absolviert. In selben Jahr ist er Assistent in der Ersten Innere-Medizin-Abteilung der Medizinischen Fakultät der Universität Tokyo geworden. Er hat 1951 promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Cornell Universität (USA) wurde er 1964 Dozent an der Tokyo Universität. Seit 1971 war er Professor an der Teikyo Universität. Er war als Autorität im Bereich der Bluterbehandlung in Japan bekannt. Er wurde Chef der Forschungsgruppe beim Gesundheitsministerium, die im Jahre 1983 gegründet wurde. Er hat sich am Anfang in dieser Gruppe für ein totales Verbot der weiteren Verwendung nicht sterilisierter Blutprodukt ausgesprochen. Aber am Ende hat er seine Meinung geändert und sich für die weitere Verwendung solcher Blutprodukte trotz Gegenstimmen in der Gruppe entschieden. Gallo ist im 1937 in Connecticut geboren. Er wurde berühmt als Entdecker der ersten menschlichen Retroviren Anfang der 1980er Jahre. Er wurde 1988 für die Entdeckung des HI-Virus mit dem Japan-Preis ausgezeichnet; das französische Team beim Pasteur Institut in Paris, das durch Luc Montagnier geleitet wurde, hat fast gleichzeitig auch den HI-Virus (Human Immunodeficiency Virus) isoliert, das Aids auslöst.
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positiv war, sind bis November 1984 gestorben, während er sie als eigene Patienten behandelt hat. Er konnte deshalb vorhersehen, dass sich die Bluterpatienten bei der weiteren Verschreibung des nicht sterilisierten, mit HIV kontaminierten Blutprodukts mit hoher Wahrscheinlichkeit an HIV infizieren könnten, dass AIDS ausbrechen könnte und sie daran sterben könnten.
c) Der festgestellte Sachverhalt betreffend Vermeidbarkeit Es war auch möglich, die Bluter, die nicht in Lebensgefahr sind, mit Kryopräzipitat (cryoprecipitate) zu behandeln, bei dem keine Infektionsgefahr besteht. Deswegen hatte er die Sorgfaltspflicht, den Tod der Patienten zu verhüten, indem er die die Bluter behandelnden Ärzte anwies, nicht sterilisierte Blutprodukte aus dem Ausland dann nicht zu verordnen, wenn keine drohende Lebensgefahr besteht. Diese Sorgfaltspflicht hat er verletzt, indem er die Ärzte weiterhin nicht hitzeinaktivierte Blutprodukte weiter verschreiben ließ, obwohl der Patient nur innere Blutung beim Handgelenk hatte.
2. Urteil des Landgerichts Tokyo a) Vorhersehbarkeit Was zuerst die Erfolgsvorhersehbarkeit in diesem Fall angeht, so haben sich die Kenntnisse über AIDS durch die Virus-Forschungen von Dr. Gallo oder Dr. Montanier36 erstaunlich rasch entwickelt. Trotzdem gab es damals in Bezug auf die Bedeutung des HIV noch viele Unklarheiten in der internationalen Forschungsliteratur. Eindeutige Erkenntnisse lagen noch nicht vor. Auch wenn man die eigenen Informationen in der Universitätsklinik, also das Ergebnis des Antikörper-Tests durch Dr. Gallo und auch die zwei Fälle von AIDSAnsteckung, die es in der Uniklinik gab, berücksichtigt, konnte der Angeklagte nicht vorhersehen, dass bei „vielen“ Patienten, die positiv auf HIV getestet waren, AIDS ausbrechen könnte. Es lässt sich deshalb schwer feststellen, dass die Verschreibung des nicht hitzeinaktivierten Blutprodukts mit „hoher“ Wahrscheinlichkeit zum Tod durch AIDS führen kann. Es ist zwar vorhersehbar, dass der Bluterpatient an AIDS stirbt, aber der Wahrscheinlichkeitsgrad war niedrig. Unter der Voraussetzung dieses Vorhersehbarkeitsgrades ist es
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Luc Montagnier ist in Chabris in Frankreich geboren. Er hat 1960 an der Universität Paris promoviert. 1974 erhielt er die Stelle des Forschungsdirektors am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Er ist bekannt, weil er 1983 HIV, das die Ursache des Aids ist, entdeckt hat. Mit Robert Gallo gab es einen langen Rechtsstreit, wer als Erster das HI-Virus entdeckt hat.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
entscheidend für diesen Fall, ob die Verletzung der Vermeidepflicht bejaht wird.
b) Vermeidbarkeit Was zweitens die Pflichtwidrigkeit zur Erfolgsvermeidung angeht, so handelt es sich bei diesem Fall um die Abwägung zwischen dem „Erfolg oder Effekt der Behandlung“ durch Verschreibung des nicht sterilisierten Blutprodukts und der vorhersehbaren „AIDS-Gefahr“ oder um die Abwägung zwischen der medizinischen Behandlung durch „Verschreibung des nicht sterilisierten Blutprodukts“ und der Behandlung durch „Kryopräzipitat“. Die strafrechtliche Haftung entsteht dann, wenn der normale Facharzt für die Bluterkrankheit die gefährlichere Behandlungsmethode gewählt hätte, obwohl diese Beurteilung nicht erfolgt wäre, wenn man ihn an die Stelle des Angeklagten gesetzt hätte. Andererseits ist es auch nicht ausgeschlossen, das es den Fall gibt, in dem keine Wahl falsch ist, weil die Interessenabwägung sehr heikel ist. Deswegen haben viele Fachärzte für Blutererkrankungen in Japan damals das nicht sterilisierte Blutprodukt als Ergebnis der oben geschilderten Abwägung verschrieben. Wenn man alle diese Umstände in die Betrachtung einbezieht, lässt es sich beim Verhalten des Angeklagten nicht feststellen, dass „der normale Facharzt für die Blutererkrankungen“ die gefährlichere Behandlungsmethode als die erfolgreichere gewählt hätte, obwohl diese Methode nicht gewählt worden wäre, hätte man ihn an die Stelle des Angeklagten gesetzt. Daher lässt es sich nicht als pflichtwidrig beurteilen, dass der Angeklagte sich nicht dafür entschieden hat, nur noch inaktivierte Produkte zu verschreiben.
3. Die dogmatische Bedeutung des Urteils – Beurteilungskriterien für die Vorhersehbarkeit und die Vermeidbarkeit Bei dem Teikyo-Universitäts-Verfahren handelte es sich hauptsächlich um die Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des Erfolgs und ihre Beurteilungskriterien. Was die Vorhersehbarkeit anbelangt, so war die Vorhersehbarkeit entscheidend davon abhängig, dass bei „vielen“ der Patienten AIDS ausbrechen könnte. Das Urteil hat zwar die Erfolgsvorhersehbarkeit bejaht, aber nach ihm war ihr Grad niedrig. Wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts nur als möglich vorhersehbar ist, begründet diese Vorhersehbarkeit nicht automatisch eine Vermeidepflicht, weil die für niedrig gehaltene Wahrscheinlichkeit der AIDSErkrankung, also auch des Todes, und die Lebensrettungschance der sonstigen Bluter, die welche die ärztliche Verordnung der gefährlichen Blutprodukte mit sich führen könnte, abgewägt werden müssen.
§ 18. Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan
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Bei der Beurteilung der Erfolgsvermeidbarkeit handelt es sich um die Abwägung zwischen dem „Erfolg oder Effekt der Behandlung“, und „der vorhersehbaren AIDS-Gefahr“, d.h. der Abwägung von Nutzen und Schaden. Bei dieser Beurteilung sollte das Kriterium nicht der Arzt „A“ als Täter37 oder der Durchschnittsarzt sein, sondern ein „normaler Facharzt für die Blutererkrankungen“, der in die damaligen Stelle des Täters versetzt worden wäre38. Das Gericht hat nach diesem Kriterium mehr Nutzen als Schaden bei der weiteren Verwendung des nicht sterilisierten Christmassins festgestellt und die Erfolgsvermeidbarkeit verneint39. Gegen diese Interessenabwägung wird in einer Urteilsrezension eingewandt, dass der Schutz des Lebens, dessen Verletzung vorhersehbar ist, viel wichtiger sei als der Nutzen des Arzneimittels40. In der Denkweise des Urteils ist der Gedanke des erlaubten Risikos zu finden. Es gibt sowohl zustimmende als auch kritische Stellungnahmen41. In der Fahrlässigkeitsdogmatik wird dieses Kriterium und die Vermeidbarkeitserwägung auf der Basis des Gedankens des „erlaubten Risikos“ angesichts der verschiedenen Fahrlässigkeitstheorien42 viel diskutiert.
V. Gesundheitsministeriums-Fall Der Sachverhalt und das Urteil des Landgerichts Tokyo43 waren folgende:
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In diesem Fall hat der Täter als der Chef der Forschungsgruppe im Gesundheitsministerium wesentlich mehr Informationen und Wissen über die Gefährlichkeit der nicht erhitzten Blutprodukte. Dieses hohe Niveau der Vorsehsehbarkeit des Täters sollte nicht berücksichtigt werden. Denn das höhere Wissen oder die besseren Fähigkeiten wirken nicht unrechtsbegründend, weil es nur auf die durchschnittlichen Fähigkeiten ankommt. Dieses Kriterium ist dasjenige, von dem nach den nach verschiedenen Berufs- oder Lebenskreisen typisierten Durchschnittsmenschen nach Ida, Keiho Zasshi, Bd. 42, Heft 3, S. 333 ff., auszugehen ist. Zu der Meinung, die das Urteil in diesem Punkt unterstützt, vgl. Hayashi, Hanrei Jiho Nr. 1775, S. 12 f. Vgl. Yamaguchi, Jurist Nr. 1216, S. 16. Als zustimmende Meinung vgl. Hayashi, Hanrei Jiho Nr. 1775, S. 12; Ida, Keiho Zasshi, Bd. 42, Heft 3, S. 342 ff. Als kritische Meinung vgl. Otsuka, Keiho Zasshi, Bd. 42, Heft 3, S. 357; Kai, Hiroshima Hogaku, Bd. 25, Heft 2, S. 74; Ders., Ijiho Hanrei Hyakusen, S. 63. Gemeint sind damit: alte Fahrlässigkeitstheorie, neue Theorie und Besorgnistheorie. Zu diesen Theorien vgl. Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, S. 216 ff. Urteil des Landgerichts Tokyo vom 28. September 2001, Keishu, Bd. 62, Heft 4, S. 791.
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1. Sachverhalt des Falls Der Angeklagt M war Beamter und der Abteilungschef für die Bio-Produktion im Gesundheitsministerium. Er hat die Zuständigkeit, die die Sicherheit von Bio-Produktion garantieren und die eventuelle Entstehung von Gefahren, die deren Verwendung für das Publikum mit sich bringen könnten, verhüten sollten. Er hat jedoch keine Maßnahme dafür getroffen, den Verkauf der nicht sterilisierten Blutprodukte aus den USA, die möglicherweise HIV enthalten, einzustellen bzw. sie zurückzurufen und deren ärztliche Verschreibung zu unterlassen. Er hat somit die nicht sterilisierten Blutprodukte für den Bluter X (Sachverhalt 1) und den Leber-Patienten Y (Sachverhalt 2) die Ärzte weiter verschrieben lassen; damit sind die beiden mit HIV infiziert worden, bei ihnen ist AIDS ausgebrochen, woran sie letztlich gestorben sind.
2. Urteil des Landgerichts Tokyo a) Zur Sachverhalt 1 Das Gericht hat zum „Sachverhalt 1“ (Opfer X) den Angeklagten im Ergebnis freigesprochen. Es hat jedoch die Vorhersehbarkeit des Erfolgseintrittes zunächst bejaht: Nach dem Urteil muss nicht die Vorhersehbarkeit in der Weise festgestellt werden, dass die AIDS-Erkrankung „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ ausbrechen kann. Deswegen ist die Vermeidbarkeit bzw. Vermeidungspflicht entscheidend für die Annahme der Sorgfaltspflicht. Das Landgericht hat unter verschiedenen Gesichtpunkten die Vermeidbarkeit geprüft und ist zum Ergebnis gelangt, dass sie damals nicht vorhanden war. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt in der Abwägung zwischen den „Wirkungen der Behandlung“ und ihren „Nebenwirkungen“: Nach der Urteilsbegründung wird „die medizinische Behandlung eigentlich dann für die Vermeidung der Gefahr (des Schadens) durchgeführt, wenn die Entstehung der Gefahr am Leben oder Körper des Patienten zu erwarten ist, falls die Behandlung nicht durchgeführt würde. Deshalb ist mit der Behandlung auch dann nicht einfach aufzuhören, wenn es die Befürchtung gibt, dass andere Risiken (Schaden) auftreten könnten, obwohl die eigentliche Gefahr dadurch verringert werden soll. Arzneimittel sind eigentlich generell ein Fremdkörper für den menschlichen Körper. Es ist unvermeidlich, dass sie irgendwelche schädlichen Nebenwirkungen neben den guten Wirkungen und Effekten der Behandlung verursachen. Daher ist ihre Verwendung dann erlaubt, wenn die Nützlichkeit bejaht wird, nachdem die guten Wirkungen und schädlichen Nebenwirkungen abgewogen worden sind. Es ist im allgemeinen auch selbstverständlich, dass eine medizinische Handlung wie die ärztliche Verschreibung des Arzneimittels
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die Gefahr seiner Nebenwirkungen mit sich bringen kann. Es erscheint – wenn diese Selbstverständlichkeit berücksichtigt wird – annehmbar zu sein, darin eine angemessene Behandlung zu sehen, wenn die guten Wirkungen und Effekten auch dann den Nebenwirkungen überlegen sind. In diesem Fall lässt sich dieser Handlung keine strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung ohne weiteres auferlegen, auch wenn die schlechten Nebenfolgen eintreten und deren Vorhersehbarkeit an sich bejaht wird.
b) Zum Sachverhalt 2 (Opfer Y) Das Landgericht hat zuerst die Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts bejaht. Für den Angeklagten sind vorhersehbar sowohl die elementaren Teile des Kausalverlaufs von der AIDS-Erkrankung bis zum Tod als auch die möglichen Folgen der Anwendung des Blutprodukts auf die Patienten, die nicht Bluter sind. Was die Vermeidbarkeit anbelangt, so hat das Landgericht auch sie bejaht: „Nachdem die Lieferung des erhitzten Blutprodukts begonnen hat, ist die Ersetzung des nicht sterilisierten mit dem erhitzten Blutprodukt auch aus der Sicht der Versorgungsquantität möglich geworden. Außerdem war die Behandlung außer der Verschreibung des Blutprodukts auch möglich, um die Blutstillung der Leberkranken zu ermöglichen“.
3. Urteil des Obergerichts Tokyo Gegen das Urteil des Landgerichts Tokyo44 haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidiger Berufung zum Obergericht Tokyo eingelegt. Das Obergericht Tokyo hat das Urteil der ersten Instanz bestätigt. Zum „Sachverhalt 1“ hat das Obergericht die Vermeidbarkeit und die Vermeidungspflicht verneint. Zum „Sachverhalt 2“ hat das Obergericht sie bejaht. Hier ist nur die Begründung zum „Sachverhalt 2“ zu erwähnen:
a) Drei Umstände bei der Vermeidbarkeitsbeurteilung Das Urteil hat die Interessenabwägung zwischen dem Nutzen des gefährlichen Arzneimittels und dem des sicheren alternativen Arzneimittels bei der Beurteilung der Erfolgsvermeidbarkeit in Betracht gezogen. Das Gericht hat als Voraussetzungen dieser Beurteilung drei Umstände benannt. Erstens: Die Gefahr, die durch den Verkauf zum Ausbruch von AIDS und zum Tod führen wird, ist überall in Japan entstanden. Zweitens: Es ist schwer für normale 44
Urteil des Obergerichts Tokyo vom 25. März 2005, Keishu, Bd. 62, Heft 4, S. 1187.
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Ärzte, die Gefährlichkeit des nicht sterilisierten Blutprodukts zu erkennen. Obwohl sich von dem Verkauf und der Verschreibung dieses Blutprodukts eigentlich enthalten werden müsste, gab es drittens die Gefahr, dass es deswegen weiter verkauft und verwendet wird, weil man auf die staatliche Genehmigung wegen der Qualität eines staatlich genehmigten Arzneimittels vertraut. Das Ergebnis beschrieb das Gericht wie folgt:
b) Vermeidbarkeit Die allgemein-abstrakte berufliche Aufgabe des Bio-Produktionschefs, d.h. diejenige Aufgabe, „die Sicherheit des Bioprodukts sicherzustellen und die Gefahr gegenüber dem Publikum, die mit der Verwendung des Produkts entstehen kann, vorzubeugen, ist unter den Tatumständen bei diesem Fall zur Sorgfaltspflicht zu konkretisieren, eine angemessenen Fürsorge dafür zu treffen, dass die unnötige und nicht dringende Verschreibung des nicht erhitzten Blutprodukts unterlassen wird. Diese Sorgfaltspflicht sollte auch strafrechtlich dem Angeklagten auferlegt werden“.
Gegen die Revisionsbegründung, dass der Angeklagte keine rechtliche Pflicht, das Blutprodukt zurückzurufen, gehabt habe, wendet sich die Urteilsbegründung wie folgt: „In diesem Fall scheint es das letzte Mittel zur Erfolgsvermeidung und zugleich die notwendige und unentbehrliche Maßnahme zu sein, die Ärzten die Verschreibung in Bezug auf das nicht erhitzte Blutprodukts einstellen zu lassen, indem damit durchgesetzt werden soll, den Ärzten die Informationen über die Gefährlichkeit mitzuteilen“.
Wenn man die Dinge anhand der Stellung und Befugnis des Angeklagten betrachte, sei „folgende Auslegung selbstverständlich als adäquat anzusehen: dass er die Pflicht zum Ergreifen von Maßnahmen besitzt, um die Gefahr zu verhüten, insofern er die Informationen über die hohe Gefährlichkeit des Blutprodukts bekommen hat“. „Als Folge dieser Pflichten hat er auch die Pflicht, den einschlägigen Zuständigen in der Behörde die Ausübung ihrer Befugnisse zu empfehlen“.
4. Beschluss des OGH Der Angeklagte hat in Bezug auf den „Sachverhalt 2“ Revision eingelegt. Die Urteilsbegründung in Bezug auf „Sachverhalt 2“ vertritt folgende Auffassung:
a) Grundsätzliche Aufgabe des Amtes Die „Gyosei Shido“ (Verwaltungsanleitung) sei die tatsachliche Maßnahme, die jemandem die freiwillige Entscheidung lasse. Der Beamte sei rechtlich zur
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Maßnahme nicht verpflichtet. Die Verhütung der Schadensentstehung durch die Arzneimittel sei primär die Aufgabe der sie verkaufenden pharmazeutischen Unternehmen und der sie verschreibenden Ärzte. Das Gesundheitsministerium habe nur die sekundäre und vormundschaftliche Stelle. Für seine Ausübung sei erforderlich, die verschiedenen Momente zu berücksichtigen, ob eine Intervention durch die öffentliche Staatgewalt stattfinden soll. Daher lasse sich mit der bloßen Unterlassung der Maßnahme nicht unmittelbar die individuelle, strafrechtliche Verantwortung von Beamten begründen, obwohl es die Fälle überhaupt geben könnte, wo sie die amtliche Verantwortung des Beamten bzw. die Haftung des staatlichen Schadensersatzes begründet.
b) Spezielle Gefahrsituation zur Begründung der strafrechtlichen Sorgfaltspflicht Damals war die Erkenntnis von der Gefahr dieses Blutprodukts den Betreffenden nicht allgemein bekannt. Wenn der Staat keine klare Richtlinie erließ, bestand die Gefahr, dass der Verkauf und die Verwendung des Blutprodukts fortgesetzt werde. In solcher Situation müsse ein solcher Gefahrgrad bejaht werden, der als Voraussetzung dafür zu verlangen sei, dass der Gesundheitsminister eine solche zwingende Kontrollbefugnis wie einen Noterlass nach § 69b des Arzneimittelgesetzes auszuüben, der dem Gesundheitsminister arzneimittelrechtlich erteilt worden sei. Deswegen lasse sich nicht nur feststellen, dass die konkrete Pflicht entstehe, solche Maßnahme zu treffen, die arzneimittelrechtlich für die Verhütung solcher Gefahr notwendig und genügend seien, sondern auch für diejenigen, die mit der pharmazeutischen Verwaltung in Bezug auf die Produktion, Verwendung bzw. Sicherheitssicherung des nicht erhitzten Blutprodukts zuständig seien, sei die auch strafrechtliche Sorgfaltspflicht entstanden, die sie als die für die Verhütung der mit dem Arzneimittel entstehenden Gefahr auftretenden Personen innehätten.
c) Notwendige, und freiwillige Kontrollmaßnahmen Zu den Verhütungsmaßnahmen gehören – so das Gericht – nicht nur die rechtlich notwendigen zwangsweisen Kontrollmaßnahmen, sondern auch freiwillige Maßnahmen wie „Gyosei Shido“ (Verwaltungsanleitung), wenn ihre Förderung vernünftigerweise erwarten lasse, dass sie damit den Verhütungszweck erfüllen könne. In diesem Fall bekomme diese Maßnahme die Rationalität als Verhütungsmaßnahme, weil sie die Maßnahme gegen solchen
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pharmazeutischen Unternehmen, zu den der Gesundheitsminister die Kontrollbefugnis habe.
d) Verantwortung des Angeklagten Der Angeklagte habe eine zentrale Stellung für die AIDS-Bekämpfung im Bereich des Blutprodukts im Gesundheitsministerium, weil das nicht erhitzte Blutprodukt, auf das es in diesem Fall ankomme, zu der Zuständigkeit der BioProduktionsabteilung gehöre, bei der der Angeklagte der Abteilungschef sei. Er habe die Aufgabe, die er zur Unterstützung des Gesundheitsministers leisten müsse, und welche die pharmazeutische Verwaltung in Bezug auf Verhütung der Gefahr durch das Arzneimittel mit ihm solidarisch erfüllen müsse. Deswegen sei es klar, dass er die Pflicht habe, die in der pharmazeutischen Verwaltung notwendige und genügende Gegenmaßnahmen zu treffen. Dazu gehöre auch die Pflicht zur Förderung der nötigen Maßnahme, die je nach der Notwendigkeit zusammen mit den anderen Abteilungen kooperativ beschlossen werden müsse. Es sei nicht festzustellen, dass die wichtigen gesetzlichen oder tatsächlichen Hindernisse vorhanden gewesen seien, weswegen die in der zweiten Instanz angesprochene Maßnahme unmöglich oder schwer gemacht worden sei. Auch wenn es deswegen selbstverständlich sei, dass die Verantwortung für den Tod des Opfers nicht ausschließlich dem Angeklagten zugerechnet werden könne, könne er sich doch seiner Verantwortung nicht entziehen.
5. Die dogmatische Bedeutung der Entscheidungen im Gesundheitsministeriums-Fall Beim Gesundheitsministeriums-Fall handelt es sich vor allem um die fahrlässigen Unterlassungsdelikte von Amtsträgern. Zum ersten Mal haben die japanischen Gerichte die strafrechtliche Verantwortung des Amtsträgers bejaht, der für die verwaltungsrechtliche Genehmigung und Kontrolle privater Betriebe zuständig ist. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage nach der Garantenstellung des Amtsträgers hinsichtlich der Sicherheit des durch die pharmazeutischen Unternehmen produzierten Arzneimittels45. 45
Vgl. Soichiro Shimada, Staatsschadensersatz und Fahrlässigkeitsdelikte, Jochi Hogakuronshu, Bd. 48, Heft 1, 2004, S. 1 ff.; Akiko Saito, Unterlassung als amtliche Pflichtwidrigkeit des Amtsträgers und strafrechtliche Haftung, Keiho Zasshi, Bd. 47, Heft 2, 2008, S. 220 ff; Jun Shiomi, Die mangelhafte Amtshandlung des Amtsträgers und strafrechtliche Haftung, Gendai Keijiho, Bd. 6, Heft 3, 2004, S. 74 ff.; Mikito Hayashi, Handlungspflicht des Staatsamtsträgers, Gendai Keijiho, Bd. 4, Heft 9, 2002, S. 20 ff.
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Hinsichtlich des Entstehungsgrundes der Garantenstellung ist in diesem Fall umstritten46, ob sie aus Gesetz bzw. Verordnung47, aus der tatsächlichen Ausübung des amtlichen Befugnis48, aus Ingerenz49, aus exklusiver Herrschaft über den Erfolg oder aus der Aufsichtspflicht über eine Gefahrenquelle50 abzuleiten ist. Zum „Sachverhalt 2“ hat der OGH drei Voraussetzungen für die Erfolgsvermeidepflicht verlangt, nachdem er die sekundäre und subsidiäre Stellung des Gesundheitsministeriums für die Prävention des Schadens wegen des pharmazeutischen Produkts bestätigt hat: Erstens: Vorhersehbarkeit des Todeserfolgs wegen AIDS, wenn nicht sterilisierte Blutprodukte verwendet werden, obwohl die medizinischen Mechanismen noch nicht völlig geklärt sind. Zweitens: Erforderlichkeit, den Arzneimittelfirmen und den Ärzten klare Richtlinien seitens des Staates zu zeigen, weil diese sonst keine eindeutige Voraussehbarkeit für den Erfolg haben. Drittens wird es als ausreichend angesehen, wenn der Angeklagte nicht Zwangmaßnahmen, sondern nur freiwillige Maßnahmen getroffen hätte.
VI. Fazit Die AIDS-Skandal-Entscheidungen haben uns gezeigt, dass die pharmazeutische Firmen, die gefährliche Arzneimittel produziert haben, eventuell auch die diese Mittel verwendenden Ärzte und die Amtsträger, die diese Mittel genehmigen und kontrollieren müssen, dem Opfer gegenüber eine strafrechtliche Verantwortlichkeit trifft, wenn sie ihre Sorgfaltspflichten nicht erfüllt haben. Die drei Fälle beim AIDS-Skandal-Fall bringen die Erfolgsvermeidepflichten von Produzenten, Verwendern und Aufsichtspflichtigen des gefährlichen Produktes zum Rechtsgutsschutz in der systematisierten Gesellschaft zum Ausdruck. Bei diesen Mitwirkungen der fahrlässigen Handlungen verschiedener sozialer Zugehörigkeiten spielt der Vertrauensgrundsatz eigentlich keine Rolle. Vielmehr handelt es sich um die jeweiligen Sorgfaltspflichten hinsicht46 47 48
49 50
Dazu vgl. Okabe, Himeji Hogaku Nr. 49, S. 7 ff. (310 ff.) Otsuka, Gendai Keijiho, Bd. 4, Heft 3, S. 72. Der Urteil des Landgerichts Tokyo begründet die Garantenpflicht nicht nur aus Gesetz und Verordnung, sondern auch aus ihrer tatsächlichen Ausübung. Vgl. LG Tokyo vom 28. September 2001, Hanrei Jiho Nr. 1799, S. 21, S. 25. Vgl. Hayashi, Gendai Keijiho Nr. 41, S. 22. Kanrei, Festschrift für Itakura S. 194 ff. Kai, Ijiho Hanrei Hyakusen, S. 64; Kitagawa, Hogaku Kyoshitsu Nr. 258, S. 47; Hayashi, Gendai Keijiho Nr. 41, S. 24; Okabe, Himeji Hogaku Nr. 49, S. 18 ff.
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lich der Gefahrschaffung und der vernachlässigten Kontrollzuständigkeit für bestimmte Gefahrenquellen in einem System. Übrig bleiben noch die weiteren Untersuchungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik, d.h. die Struktur und die systematische Einordnung der Vorhersehbarkeits- und Vermeidbarkeitsbegriffe51, und die Begründung der Handlungspflicht bei fahrlässigen Unterlassungsdelikten in diesem Fall. Die Bürgerinitiativen für den Patientenschutz gegen pharmazeutische Schäden haben die Aufmerksamkeit des Publikums erregt und zu den Gesetzgebungen für den Patientenschutz im Bereich der Arzneimittelsschadens geführt. So ist z.B. das „Gesetz zur Infektionsprävention und zur medizinischen Behandlung für die Patienten der Infektionskrankheit“52 von 2002 (Gesetz-Nr. 114) zustande gekommen. Dessen § 1 schreibt vor: „Dieses Gesetz hat den Zweck, die Entstehung der Infektion zu verhüten und ihrer Verbreitung vorzubeugen, damit die Entwicklung und Verstärkung des Gesundheitswesens zu erreichen, indem man die notwendigen Maßnahmen in Bezug auf die Infektionsprävention und medizinische Behandlung der Patienten der Infektionskrankheit vorschreibt“. Im Jahre 2002 wurde auch das alte „Gesetz zur Kontrolle der einschlägigen Betriebe in Bezug auf die Vermittelung der Blutentnahme und -spende“ reformiert. Dieses Gesetz ist das „Gesetz zur Sicherung der stabilen Versorgung mit sicheren Blutprodukten“ geworden und am 30. Juli 2003 in Kraft getreten. Nach § 1 hat das Gesetz „den Zweck, der Entwicklung des bürgerlichen Gesundheitswesens dadurch zu dienen, dass die notwendigen Maßnahmen für die Erhöhung der Blutproduktesicherung, Sicherung der stabilen Versorgung und die Förderung der angemessenen Verwendung getroffen werden und dadurch zugleich die notwendige Regulierungen zur Verwirklichung der Angemessenheit der Verwendung der menschlichen Bluts und zum Schutz des Spenders usw. zu verwirklichen“.
Am 11. Januar 2008 ist das „Gesetz zur Hilfe der Opfer von Hepatitis wegen Blutprodukten“53 zustande gekommen und seit 16. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Am 30. November 2009 ist das „Grundlagengesetz zur Be-
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52 53
Zur Struktur der Fahrlässigkeitsdelikten vgl. Yamanaka, Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte – Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft. Frankfurter Festschrift für Andrzej Szwarc zum 70. Geburtstag, 2009, S. 279 ff. Es ist am 2. Oktober 2002 verkündet worden und seit 1. April 2003 in Kraft. Das ist die Abkürzung des formalen langen Titels des Gesetzes. Dieses Gesetz wurde nicht von der Regierung, sondern von einer „Abgeordnetengruppe“ im Parlament vorgeschlagen.
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kämpfung von Hepatitis“ zustande gekommen und ist im Januar 2010 in Kraft getreten.
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung in der japanischen Judikatur* Eine vorbereitende Betrachtung der Begründung der Garantenpflicht bei Unterlassungsdelikten
I. Neue Entwicklungen in der Fahrlässigkeitsdogmatik 1. Einführung Wenn man einen Blick zurück auf die Entwicklungsgeschichte der Fahrlässigkeitsdogmatik in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg wirft1, lassen sich vier Entwicklungsperioden unterscheiden: Bei der ersten Periode handelt es sich um die Zeit der „individuellen Fahrlässigkeit“, also der Fahrlässigkeitsdelikte von „Einzeltätern“, die seit den 60er Jahren häufig im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen entwickelt wurde. Bei der zweiten Periode handelt es sich um die Zeit der „Aufsichtsfahrlässigkeit“, bei der nicht nur dem direkten Täter eine Sorgfaltspflichtverletzung, sondern auch einer Aufsichtsperson die Verletzung einer Aufsichtspflicht zugerechnet wurde. Die Aufsichtsfahrlässigkeit bezieht sich nicht nur auf Verhaltensweisen von beaufsichtigten Personen, sondern auch auf Gefahrenquellen, die durch Sachen, Veranstaltungen oder personelle Organisationen entstehen. Dieser Typus der Fahrlässigkeit lässt sich drittens als „Systemgestaltungs-“2 oder „Organisationsfahrlässigkeit“ bezeichnen, die bei Umweltkatastrophen oder Großbrandfällen in den 80er Jahren häufig auftrat. Und schließlich steht neuerdings, also im 21. Jahrhundert, die „Produktfahrlässigkeit“, für die sich Produzenten eines Produkts oder Aufsichtsorgane nach der Herstellung oder dem Verkauf zu verantworten haben, in Rede.
*
1 2
Ich danke Herrn Dr. Moritz Vormbaum am Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, der diesen Aufsatz sprachlich verbessert hat, für seine Mühe herzlich. Die Übersetzung dieses Aufsatzes ins Spanische wird in der Festschrift für Professor Dr. Dr. h.c. mult. Miguel Polaino Navarrete zum 65. Geburtstag (Hrsg. v. Caro John / Corcino Barrueta) in Peru veröffentlicht. Dazu Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 214 ff. Originalveröffentlichung in ZStW 102, (1990), S. 352 ff. In meinem Lehrbuch habe ich diesen „Typus“ der Fahrlässigkeitsdelikte als „Systemfahrlässigkeit“ bezeichnet. Vgl. Yamanaka, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2008, S. 395.
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2. Individuelle Fahrlässigkeit Bei den Verkehrsunfällen ging es hauptsächlich um die Fahrlässigkeit des Fahrers. Allerdings wurde bei der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes berücksichtigt, ob das Opfer sich angemessen verhalten hatte oder nicht. In diesem Rahmen spielte also bei den individuellen Fahrlässigkeitsdelikten auch das Verhalten anderer Personen eine Rolle3.
3. Aufsichts- und Systemgestaltungsfahrlässigkeit In der 80er Jahren verbreitete sich die in Japan so bezeichnete „Auseinandersetzungsdenkweise“ in der Fahrlässigkeitsdogmatik: „Fahrlässigkeit der zufälligen Natur“ und „Fahrlässigkeit der strukturellen Natur“4. Mit Letzterer sind Fahrlässigkeitsdelikte bei großen Katastrophen, die durch einen Defekt in der Unternehmensorganisation entstehen, gemeint. Hier handelt es sich im Gegensatz zur individuellen Fahrlässigkeit um die „Fahrlässigkeit mehrerer Beteiligter“. Bei diesen Fahrlässigkeitsdelikten kommen zwei Fallgruppe in die Betracht: Die „Aufsichtsfahrlässigkeit“5 und die „Systemgestaltungsfahrlässigkeit“6. Die Letztere wird meistens in Rahmen der Ersteren umfassend diskutiert. Meines Erachtens sind die beiden Deliktsgruppen aber zu unterscheiden, da bei der ersten Fallgruppe die Aufsichtsperson nur als indirekter Teilnehmer behandelt wird, bei der zweiten Fallgruppe dagegen eher der Systemgestalter als Hauptfigur7, ist er doch kein Unterlassungstäter, sondern ein Täter durch positives Tun8. Typische „Systemgestaltungsfahrlässigkeits“Fälle sind der Kawaji-Prinz-Hotel-Brandfall9 und der Hotel-New-Japan3
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Damit ist die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes zwischen Täter und Opfer gemeint. Zur Fahrlässigkeitsdogmatik in Japan vgl. Yamanaka, Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte. Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen, in Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft (Festschrift für Szwarc), 2009, S. 279 ff. Zu diesem Begriffspaar vgl. Hanrei Jiho Nr. 1059, S. 24. Vgl. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 1), S. 255. Dazu vgl. Yamanaka, a.a.O.(Fn. 1), S. 230 ff., S. 237 ff. Man kann diesen Begriff auch als „Organisationsfahrlässigkeit“ bezeichnen. Es ist umstritten, ob es überhaupt die Teilnahme im engen Sinne bei den fahrlässigen Delikten gibt. Die herrschende Meinung verneint es und meint, dass es nur einen Einheitstäter gibt. Deswegen stellt mein obiger Text bloß ein Gleichnis dar. Die herrschende Meinung in Japan bezieht die Unterlassungsdelikte in die Systemgestaltungsfahrlässigkeit mit ein. Sie benutzt den Begriff der „Pflicht zum Sicherungssystembau“. Beschluss des OGH vom 16.11.1990, Keishu, Bd. 44, H. 8, S. 744. Vgl. Yamanaka, a.a.O., S. 245 ff.
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung
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Brandfall10, in denen die Hotelinhaber jeweils trotz des Gebots des Feuerwehrgesetzes (§ 8) keine materiellen und personellen Feuerwehrsysteme in ihren Hotels eingebaut hatten.
4. Strafrechtliche Produkthaftung In den letzten Jahren tauchen in den strafrechtlichen Entscheidungen immer häufiger Fälle strafrechtlicher Produkthaftung auf, in denen der Produzent oder das staatliche Aufsichtsorgan die Rückrufspflicht bei schon verkauften Waren nicht beachtete, so dass mehrere Verbraucher verletzt wurden oder ums Leben kamen. Die Strafrechtswissenschaft diskutiert intensiv über dieses Thema11, etwa im Zusammenhang mit HIV-Infizierungen durch Bluttransfusionen12, worauf später noch näher eingegangen wird. Zur Verdeutlichung der Problematik möchte ich ein Beispiel geben, über das die Judikatur zwar entschieden, aber noch keinen Urteilsgrund veröffentlicht hat, den sog. Warmwasserbereiter-Fall. 10 11
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Beschluss des OGH vom 25.11.1993, Keishu, Bd. 47, H. 9, S. 242. Vgl. Yamanaka, a.a.O., S. 246. Shozo Hiriuchi, Defekt der Produkte und strafrechtliche Haftung – Eine einführende Betrachtung, Kenshu Nr. 546, 1993, S. 3 ff.; Kayoko Kitagawa, Strafrechtliche Probleme um die Produkthaftung, Waseda Hogaku, Bd. 71, H. 2, 1996, S. 171 ff.; Motoki Shizume, Der Sinn und die Entwicklung der Unterlassungslehre in der strafrechtlichen Produkthaftung, Hongo Hosei Kiyo Nr. 8, 1999, S. 343 ff.; Kayoko Kitagawa, Die Unfälle durch defekte Produkte und strafrechtliche Haftung der Produzenten, Festschrift für Miyazawa, Bd. 3, 2000, S. 41 ff.; Saori Tadera, Die Möglichkeit der strafrechtlichen Haftung im Bereich der Produkthaftung, Meijigakuin Daigaku Daigakuin Journal Nr. 16, 2001, S. 57 ff.; Emi Hiyama, Strafrechtliche Produkthaftung und Handlungssubjektscharakter des Vorstandes, Hiroshima Hogaku, Bd. 26, H. 4, 2003, S. 161 ff.; Yasuhiro Kanrei, Strafrechtliche Produkthaftung in Deutschland, Matsuyama Daigaku Ronshu, Bd. 15, H. 5, 2003, S. 141 ff.; Mikiko Hirayama, Herstellung, Verkauf und Verdeckung des Rückrufs, Hrsg. v. Kensuke Ito, Hajimete no Keiho, 2004, S. 109 ff.; dies., Unterlassungsdelikte und das Prinzip der Herrschaft, 2005, S. 55 ff.; Katsunori Kai, Herstellung und Verkauf defekter Produkte, Festschrift für Kamiyama, Bd. 1, 2006, S. 157 ff.; Kayoko Kitagawa, Rückrufpflicht defekter Produkte und strafrechtliche Haftung, Festschrift für Kamiyama, Bd. 1, 2006, S. 181 ff.; Jun Shiomi, Zur Rückrufpflicht defekter Produkte, Keiho Zasshi, Bd. 42, H. 3, 2003, S. 81 ff.; Kyasuhiro Kanrei, Eine Bemerkung über Rückruf defekter Produkte und seine Grenze, Festschrift für Itakura, 2004, S. 183 ff.; Masato Okabe, Zur „Rückrufpflicht“ in der strafrechtlichen Produkthaftung, Hoken Ronshu Nr. 123, 2007, S. 101 ff.; Yasuo Iwama, Produkthaftung und Unterlassungslehre, 2010 passim. Urteil des LG Osaka vom 24.2.2000, Hanrei Jiho Nr. 1728, S. 163; Urteil des OLG Osaka vom 21.8.2002, Hanrei Jiho Nr. 1804, S. 146; Urteil des LG Tokio vom 28.9.2001, Hanrei Jiho Nr. 1799, S. 21; Urteil des OLG Tokio vom 25.3.2005, Keishu, Bd. 62, H. 4, S. 1187; Beschluss des OGH vom 3.3.2008, Keishu, Bd. 62, H. 4, S. 567.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Im November 2005 erlitten ein Student und sein Bruder, der zu diesem Zeitpunkt zufällig zu Besuch war, durch einen Unfall Gasvergiftungen, durch die der eine starb und der andere verletzt wurde. Die Ursache für den Unfall lag darin, dass der Produzent, die Paroma Industrie AG, den illegalen Umbau des Warmwasserbereiters (ein kleiner Gasboiler, mit dem in den meisten japanischen Wohnungen Wasser zum Kochen und Waschen erhitzt wird) durch Unterlieferanten nicht verhindert hat. Durch den Umbau des Gerätes war es seit 1985 in 28 Fällen schon zu ähnlichen Unfällen gekommen. Der Paroma Industrie AG war zwar die Gefährlichkeit des illegalen Umbaus des Gerätes bewusst, sie hatte aber nur die Angestellten und Unterlieferanten über die Unfälle beim Umbau informiert, nicht jedoch die Umbaumöglichkeit durch technische Veränderungen verhindert. Erst im Jahre 2007 erhob die Staatsanwaltschaft im oben genannten Fall Anklage gegen den Präsidenten und Leiter für Qualitätskontrolle wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§ 211 jStGB). In allen anderen Fällen war bereits Verjährung eingetreten. Die Frage liegt darin, ob der Präsident oder der Abteilungsleiter für Qualitätskontrolle auch dann zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden können, wenn sie erst nach dem Verkauf des Gerätes ihre Stelle im Betrieb angetreten haben, und wenn ja, wie man ihre strafrechtliche Verantwortung dann rechtfertigt.
5. Zweck dieses Beitrags Der vorliegende Beitrag will die oben geschilderte neue Problematik in der Judikatur in Japan darstellen und die Entwicklungstendenzen der Entscheidungen im Lichte der oben genannten Fahrlässigkeitstypologie zeigen. Er soll daneben eine vorbereitende Betrachtung sein, um meine eigene Lösung im Bereich der dogmatischen Begründung der Garantenstellung in diesem Problembereich der fahrlässigen Unterlassungsdelikte darzulegen.
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung
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II. Frühere Entscheidungen zur strafrechtlichen Produkthaftung 1. Morinaga-Trockenmilch-Vergiftungs-Fall13 a) Sachverhalt Der bisher bekannteste Fall strafrechtlicher Produkthaftung in Japan ist der Morinaga-Trockenmilch-Fall, in dem die Fabrik der Morinaga Molkerei AG in der Tokushima-Präfektur im Jahre 1955 arsenhaltiges Trockenmilch-Pulver produzierte und dadurch den Tod und die Verletzung einer Vielzahl von Säuglingen verursachte14. Im Produktionsprozess der Trockenmilch in der Morinaga-Fabrik in Tokushima war das Arsen in das Trockenmilchpulver gelangt, weil eine Zulieferfirma anstelle des sonst üblichen Stabilisators für das Trockenmilchpulver (sog. zweite Phosphorsäuresoda) irrtümlich ein arsenhaltiges Präparat geliefert hatte. Die Säuglinge hatten Durchfall, Erbrechen, Fieber und bekamen dicke Bäuche und eine schwarze Haut. Die Anzahl der Opfer erreichte in ganzen Japan 11.891, darunter 113 Tote und 11.778 Verletzte. Nach der Zurückverweisung durch den OGH hat die erste Instanz, das LG Tokushima, den Produktionschef wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§ 211 jStGB) verurteilt, indem sie die sog. „Besorgnistheorie“15 anwandte und das Argument des Vertrauensgrundsatzes zwischen der Fabrik und der Zulieferungsfirma, die den arsenhaltigen Stabilisator geliefert hatte, zurückwies. Der Produktionsleiter habe zwar nicht direkt fahrlässig gehandelt, habe aber seine Aufsichtspflicht fahrlässig verletzt. Der Abteilungsleiter und der Fabrikchef wurden wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§ 211 jStGB) angeklagt. Das LG Tokushima verurteilte schließlich den Ableitungsleiter und sprach den Fabrikchef frei.
b) Urteil der ersten Instanz nach der Zurückverweisung In seinem Urteil führte das Gericht aus: „Für die Vorhersehbarkeit des Erfolgs ist ausreichend, dass man dem Täter vernünftigerweise eine Pflicht zur Erfolgsverhinderung auferlegen kann. Man braucht nicht den konkreten Kausalverlauf vorhersehen zu können, sondern es genügt eine
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Urteil des LG Tokushima vom 28.11.1973, Keijisaiban Geppo, Bd. 5, H. 11, S. 1473. Erste Instanz: LG Tokushima vom 25.10.1963; Zweite Instanz: OLG Takamatsu vom 31.3.1966; Revisionsinstanz: OGH vom 27.2.1969. Dazu vgl. schon Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 220 ff. (auch in: ZStW 102, S. 352 ff.). Zu dieser Theorie vgl. auch Yamanaka, a.a.O. (Fn. 1), S. 220.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft Besorgnis derart, dass man eine bestimmte Gefahr zwar nicht genau vorhersehen, aber auch nicht absolut ausschließen kann“.
Zum Vertrauensgrundsatz führte das Gericht aus, dass dessen Anwendung unter Betriebskollegen durchaus denkbar sei. Es sei jedoch nicht erlaubt, mit Hilfe jenes Grundsatzes die Verantwortung auf den Verbraucher abzuwälzen und ihn auf seinem Schaden sitzenzulassen.
aa) Haftung des Produktionschefs A Der Angeklagte A war nach Ansicht des Gerichts als Produktionschef der höchste Verantwortungsträger bezüglich der Produktionstätigkeiten. Er habe tatsächlich alle Tätigkeiten im Bereich der Milchproduktion inklusive der Trockenmilch überwacht. Er habe als höchster Verantwortungsträger im Bereich der Produktionstechnik die untergeordneten Angestellten geleitet und beaufsichtigt. Er habe auch die allgemeine und direkte Kontrolle über die Bestellung und den Verbrauch des einschlägigen Stabilisators innegehabt. Allerdings habe er die Bestellung, obwohl er sie abgesegnet habe, nicht direkt aufgegeben, sondern durch einem untergeordneten Angestellten, den VizeLeiter C, bestellen lassen. Dieser könne aber keine direkte Verantwortung für die Bestellung des anderen Stabilisators tragen. Vielmehr habe er, der Produktionschef, die betriebliche objektive Sorgfaltspflicht, den Vize-Leiter C darauf hinzuweisen, dass dieser bei der Zulieferungsfirma ausschließlich die üblichen Produkte zu bestellen habe. Ansonsten habe er die objektive Sorgfaltspflicht in seinem Betrieb inne, den Stoff vor seiner Benutzung chemisch untersuchen zu lassen.
bb) Haftung des Fabrikchefs B Der Fabrikchef hat nach den Ausführungen des Gerichts keine technische Ausbildung. Deswegen sei er zum einen nicht verpflichtet, selber das übliche zweite Phosphorsäuresoda als Stabilisator zu bestellen und zu benutzen sowie die gelieferten Stoffe einer chemischen Prüfung zu unterziehen. Er habe zum anderen auch nicht die Pflicht, einem untergeordneten Angestellten diese Pflichten zu übertragen. Allerdings trage er nicht weniger Verantwortung als der Höchstverantwortungsträger innerhalb des Betriebes, der den Tod und die Verletzung vieler Menschen verursacht habe, und ebenso gegenüber der Gesellschaft. Dies sei jedoch nicht unmittelbar mit einer strafrechtlichen Verantwortung verbunden.
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c) Würdigung Im Urteil wurde die „Besorgnistheorie“ vertreten. Die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes zwischen der Fabrik und der Zulieferungsfirma wurde verneint. Was die strafrechtliche Haftung beider Angeklagter betrifft, so wurde sie für den Produktionsleiter bejaht und im Gegenteil für den Fabrikchef auch die „Aufsichtsfahrlässigkeit“ verneint. Es handelt sich bei diesem Fall nur um die „Aufsichtsfahrlässigkeit“ des Produktionsleiters und nicht um die „Systemgestaltungsfahrlässigkeit“, wie sie etwa Top-Manager oder andere Leiter, die keine konkreten Fachkenntnisse besitzen, denen aber trotzdem die Verantwortung im Betrieb weitreichend obliegt, innehaben. Deswegen hat die fehlende Fachkenntnis des Fabrikchefs eine wichtige Rolle für die Aufsichtshaftung gespielt.
2. Kanemi-Ölvergiftung-Fall16 a) Allgemeine Erklärung Der Kanemi-Ölvergiftung-Fall ist neben dem gerade geschilderten MorinagaTrockenmilch-Fall der bekannteste Lebensmittelvergiftungsfall. Im Jahre 1968 traten auf der Kyushu-Insel seltsame Krankheiten auf, die viele schwarze Ausschläge am Körper der Patienten mit sich brachten. Alle von der Krankheit Betroffenen hatten zuvor Reisöl der Kanemi Lager AG gegessen. Im Produktionsprozess des Reisöl wurde PVC (Polyvinylchlorid) verwendet, das von der Kanegafuchi Industrie (mittlerweile Kaneka AG) unter dem Warennamen Kane Chlors produziert worden war. Bei der erhitzten Abscheidung des Kane Chlors entstand Chlorsäure, die Löcher an den Desodorierungsgeräten verursachte, wodurch das PVC in das Reisöl eindringen konnte. Im Jahre 1970 erhoben die Betroffenen Zivilklage gegen die Kanmi Lager AG, die Kaneka AG und den Staat17. Das OLG Fukoka sprach in diesem Prozess insgesamt 830 Personen Schadensersatz zu.
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Erste Instanz: Urteil des Zweigstelle Kokura bei LG Fukuoka vom 24.3.1978, Keiji Saiban Geppo, Bd. 140 H. 3, S. 313 ; Zweite Instanz: Urteil des OLG Fukuoka vom 25.1.1982, Keiji Saiban Geppo, Bd. 14, H. 1=2, S. 26. Erste Instanz: Urteil der Kokura Zweigstelle des LG Fukuokas vom 29.3.1982, Hanrei Jiho Nr. 1037, S. 14; Zweite Instanz: Urteil des OLG Fukuoka vom 15.5.1986, Hanrei Jiho Nr. 1191, S. 28.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
b) Sachverhalt Der Angeklagte A war Angestellter der Kanemi Lager AG und seit Juni 1968 Fabrikchef. Der Angeklagte B war Präsident der Kanemi Lager AG. Die erste Instanz verurteilte A und sprach B frei. Der Angeklagte A legte Berufung beim OLG Fukuoka ein. Der Angeklagte A hatte aus eigener Entscheidung die Desodorierungsgeräte illegal umgebildet und betrieben. In den Desodorierungsgeräten entstand viel Chlorsäure. Wegen der vielen durch die Verschmelzung der Gerätewand verursachten Löcher wurde PVC mit dem Reisöl vermischt. A versandte später versehentlich das Reisöl, das viele Kane Chloren mit PVC enthielt, an die Kunden. Nach der gerichtlichen Feststellung erlitten 890 Menschen dadurch Körperverletzungen. Zuerst sind die Gründe für den Freispruch des B zu zeigen:
c) Urteil der ersten Instanz Der Angeklagte B war Präsident der Kanemi Lager AG, der alle Geschäfte der AG leitete. Bezüglich der Reisölherstellung war er daneben auch Fabrikchef, bis A diese Stelle übernahm. Das Gericht führte in seinem Urteil aus: „Es ist zu prüfen, ob er mehr und konkretere Sorgfaltspflichten als der höchste Verantwortungsträger der AG inne hatte. D.h. die Aufsichtsfahrlässigkeit muss sich auf die tatsächlichen einzelnen Aufsichtshandlungen beziehen. (…) Wenn man die abstrakte Verantwortung der Aufsichtsperson als den Grund für die Aufsichtsfahrlässigkeit für den einzelnen Unfall, also als Strafgrund, ansieht, so bedeutet das, dass man die Erfolgshaftung in die strafrechtliche Verantwortung hineinträgt. Danach müsste dem höchsten Verantwortungsträger ein Fahrlässigkeitsvorwurf wegen seiner Aufsichtspflichtverletzung immer gemacht werden, wenn es in seinem Unternehmen zu einem Unfall kommt.“
d) Urteil der Zweiten Instanz aa) Vorhersehbarkeit der Giftigkeit des PVC Das zweitinstanzliche Urteil führte aus, das Kane Chlor sei kein Lebensmittel und auch kein chemischer Zusatz zum Lebensmittel. Es sei eine chemisch verbundene Zusammensetzung. Dies bedeute nicht, dass der Stoff sicher und gefahrlos für die menschliche Gesundheit beim Einnehmen sei. Im Einzelnen legte es dar: „Es ist zwar nicht sofort klar, dass der industriell zusammengesetzte Stoff giftig ist. Aber es ist selbstverständlich, dass man damit rechnen muss, die Gefahr vorherzusehen, dass das Einnehmen dieses Stoffes eine Störung der physiologischen Funktion des menschlichen Körpers herbeiführen kann, wenn man den Kausalverlauf,
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auf Grundlage biologischer Instinkte und erfahrungsgemäßer Vorkenntnisse des Menschen, prognostiziert. (…) Für den Angeklagten war es gut möglich, vorherzusehen, dass das Kane Chlor eine genügend giftige Wirkung hat, um die physiologische Funktion des menschlichen Körpers stören zu können.“
bb) Vorhersehbarkeit der Löcher am korrodierten Rohr Weiter führt das Gericht aus, die Vorhersehbarkeit beziehe sich nicht auf alle einzelnen konkreten Mechanismen der Kausalität, sondern nur auf die grundsätzlichen Teile. Im zu entscheidenden Fall sei der grundsätzliche Teil die Korrosion des Rohrs durch die Wirkung der Chlorsäure, die durch Verschmelzung des Kane Chlors auf Grund der Erhitzung eingetreten sei. Die Vorhersehbarkeit lasse sich deshalb gut bejahen.
e) Würdigung 18
In diesem Fall wurde die Fahrlässigkeit des Fabrikchefs bejaht und die des Präsidenten verneint. Der Grund für die Verneinung der Verantwortung des höchsten Verantwortungsträgers liegt darin, dass die Judikatur die „Systemgestaltungsfahrlässigkeit“ nicht für die Annahme einer „Aufsichtsfahrlässigkeit“ ausreichen lässt. Die Entscheidung des Gerichts sieht die Ursache des Unfalls nicht in der Organisation des gesamten Unternehmens. Darin liege noch keine „Systemgestaltungsfahrlässigkeit“, die eine Fahrlässigkeitshaftung begründen könnte.
3. Gebratene-Fischwurst-Vergiftungsfall19 a) Sachverhalt Der Angeklagte war Vertretungsberechtigter der S GmbH, die in Öl gebratene Fischwürste20 produzierte und verkaufte. Er leitete das Fabrikgebäude, die Herstellungsmaschinen, die sonstigen Geräte usw. sowie etwa 20 Angestellte. Als Fischwürste hergestellt und verkauft wurden, die durch Ratten mit Salmonellen verseucht worden waren, erlitten 310 Personen, die von den Fischwürs18
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Als Urteilsbesprechung vgl. Hiroshi Itakura, Erfolgsvorhersehbarkeit und Fahrlässigkeitshaftung – Kanemi-Ölvergiftungsfall in: Law School, Bd. 1, H. 1, (1978), S. 85 ff.; Kunihiro Matsuo, „Lebensmittelvergiftung und Fahrlässigen Verantwortung im Betrieb“, Horitsu no Hiroba, Bd. 31, H. 7, (1978), S. 39 ff. Erste Instanz nach Zurückweisung: Urteil des LG Sendai vom 11.10.1974, Keiji Saiban Geppou, Bd. 13, H. 10=11, S. 764. Gebratene Fischwurst bedeutet auf Japanisch „Satsuma-Age“. Die Wurst besteht aus Fisch und Karotten usw.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
ten gegessen hatten, Vergiftungen. Von den Betroffenen starben vier Personen, 306 Personen erlitten Durchfall, Fieber, Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen21.
b) Urteil Nach Ansicht des Gerichts verstieß der Angeklagte gegen Sorgfaltspflichten im Betrieb, indem er keine Maßnahmen gegen die Ratten traf. Die Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des Unfalls in seiner konkreten Gestalt war nach der Meinung des Gerichts zu bejahen.
c) Würdigung Hier ging es bloß um die Sauberhaltungspflicht des Lebensmittelbetriebs. In kleinen GmbHs hat der Vertretungsberechtigte für die allgemeinen Geschäfte der GmbH die Verantwortung zu tragen. Man kann es auch so ausdrücken, dass er die „Systemgestaltungspflicht“ in einer kleinen Organisation innehat.
4. Saunabad-Brand-Fall Durch den Brand in einem öffentlichen Saunabad starben drei Besucher. Der Brand entstand, weil auf Grund struktureller Defekte die zerlegbare Sauna Feuer fing. Das Vorstandmitglied A und der Herstellungsarbeiter B der Firma M, der Vorstand der Verkaufsfirma H AG und der Bad-Betreiber wurden wegen fahrlässiger Brandstiftung und fahrlässiger Tötung im Betrieb angeklagt. Das Vorstandsmitglied A und der Herstellungsarbeiter B haben in Kooperation mit der H AG mehrfach Produkte entwickelt und produziert und dann an die H AG verkauft. Die defekte Sauna war eine von zehn, die zunächst hergestellt wurden. Die erste Instanz hat die Ursache für den Brand wie folgt festgestellt: Der Holzteil der Sauna sei durch langes Erhitzen allmählich verkohlt und habe sich „ohne Flamme“ entzündet. Die Fahrlässigkeit bestehe erstens in der Verletzung der Prüfungspflicht zur strukturellen Feuererträglichkeit und in der Pflichtverletzung beim Einbauenlassen des defekten Badezimmers. Zweitens bestehe die Pflichtverletzung darin, dass von Seiten der H die Benutzung der bereits eingebauten Sauna durch Besucher nicht verhindert, und dass das defekte Teil nicht durch ein funktionierendes ersetzt wurde. 21
Nebenbei gesagt handelte es sich bei dem Verfahren um den „Beweis durch epidemiologische Beurteilungsmethode der Kausalität in der Strafjustiz“. Zum epidemiologischen Kausalbegriff vgl. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 1), S. 68 f.
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Die erste Instanz bejahte die Fahrlässigkeit der leitenden Mitarbeiter der Firma M, die zweite verneinte sie indes, weil die Kundenbetreuung zur Zuständigkeit der H AG zu rechnen sei.
a) Urteil der ersten Instanz Nach dem erstinstanzlichen Urteil waren alle Leistungen nach dem Einbau des Badezimmers für die Kunden inklusiv des Verkaufs und Einbaus Aufgaben der H AG. Die Angeklagten als Angestellte der M hätten deshalb keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen.
b) Urteil der zweiten Instanz Die zweite Instanz hat das Urteil der ersten Instanz bestätigt, mit Ausnahme der Möglichkeit der Entzündungsgefahr des Feuers „ohne Flamme“. Vielmehr solle die Tatbeschreibung wie folgt lauten: „(…) dass die Gefahr des Feuerentstehens an dem Holzbankteil durch die langfristige Erhitzung des elektrischen Kocherteil vorhergesehen werden kann“.
c) Beschluss des OGH Die Angeklagten der Firma M legten dagegen Revision ein. Der OGH führte dazu wie folgt aus: „Da der zerlegbaren Sauna die Gefahr innewohnte, dass an der Holzbank bei längerem Gebrauch Feuer entsteht, hatten die Angeklagten als Zuständige für die Entwicklung und Herstellung die Sorgfaltspflicht inne, Maßnahmen zur Vorbeugung von Bränden zu treffen, indem sie die Erträglichkeit gegenüber Feuer prüfen und bestätigen. Deswegen ist es angemessen, sie wegen fahrlässiger Brandstiftung zu bestrafen, wenn die Angeklagten die Entzündung in dem in der Vorinstanz festgestellten Verlauf unsorgsamerweise verursacht haben.“
d) Würdigung Bei diesem Fall handelt es sich um zwei Pflichtverletzungen, erstens durch Tun und zweitens durch Unterlassen. Da die Firma M die defekte Sauna produzierte, verursachte sie durch Tun den Brand, während die H AG die Produkte verkaufte, einbaute und die Kundenbetreuung nach dem Verkauf übernahm. Der OGH hat nur über die Fahrlässigkeitsdelikte der Angeklagten der Firma M geurteilt. Die Angeklagten waren aber für die Kundenbetreuung nach dem Warenverkauf nicht zu ständig. Ein etwaiges Problem fahrlässiger Unterlassung war daher nicht zu erörtern.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
III. Neue Entscheidungen zur strafrechtlichen Produkthaftung 1. AIDS-Skandal-Fälle22 a) Was war der AIDS-Skandal in Japan? Zwischen 1983 und 1985 infizierten sich in Japan mehr als 1.800 Personen, hauptsächlich Bluter oder Leberkranke, mit HIV, weil sie HIV-kontaminierte, nicht sterilisierte („inaktivierte“) Blutprodukte erhielten. Von den Infizierten starben mehr als 500 Personen an AIDS. Obwohl inzwischen in den USA ein „Hitzeinaktivierungsverfahren“ für Blutprodukte entwickelt worden war, für das auch von japanischen Behörden eine Genehmigung vorlag, wurden in Japan noch mehr als zwei Jahre lang nichtsterilisierte Blutprodukte verkauft und verwendet. Dadurch wurde das Ausmaß der AIDS-Ansteckung erheblich vergrößert.
b) Strafrechtliche AIDS-Skandal-Fälle Insgesamt geht es um drei Prozesse gegen fünf Angeklagte. Es handelt sich erstens um die Entscheidung im Grünen-Kreuz-Fall23, zweitens um die im Teikyo-Universitäts-Fall24 und drittens um die im GesundheitsministeriumFall25. Beim ersten Fall waren der Präsident, der Vizepräsident und der Hauptgeschäftsführer angeklagt, beim zweiten Fall war der Direktor der Abteilung innere Krankheiten und zugleich Vizerektor der Teikyo Universität, Professor Dr. A, der Angeklagte, beim dritten Fall war der Abteilungschef der BioProduktionsabteilung im Gesundheitsministerium M der Angeklagte. Im ersten Fall wurde der Angeklagte verurteilt, im zweiten gab es einen Freispruch und beim dritten eine teilweise Verurteilung.
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Zu diesem Fall ausführlicher vgl. Yamanaka, Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan, Strafrechtliche Haftung wegen der Produktion, der Aufsichtspflichtverletzung und der ärztlichen Verschreibung von AIDS kontaminierten Blutprodukten, in: Das vierte Symposion über die Rechtswissenschaft: „Die gegenwärtigen Aufgaben des Rechts im ändernden Sozialsystem“ zwischen Universität Hanyan, Konstanz und Kansai (in diesem Band § 18.). Erste Instanz: Urteil des LG Osaka von 24.2.2000, Hanrei Jiho 1728, 163; zweite Instanz: Urteil des Obergerichts Osaka von 21. August 2002, Hanrei Jiho 1804, 146. Urteil des LG Tokio von 28.3.2001, Hanrei Jiho 1763, 17. Erste Instanz: Urteil des LG Tokio von 28.9.2001, Hanrei Jiho 1799, 21; zweite Instanz: Urteil des Obergerichts Tokio von 25.3.2005, Keishu 62, 4, 1187 ; dritte Instanz: Beschluss des OGH von 3.3.2008, Keishu 62, 4, 567.
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Bei diesen Fällen sind unter zahlreichen Betroffenen nur zwei Personen als Opfer ausgewählt worden. Ein Mann (Opfer X) war ein Bluter, dem in der Teikyo-Universitätsklinik seit Mai 1984 Blutprodukte, die nicht HIVinaktiviert waren, gegeben worden waren; einem anderen Patienten (Opfer Y) war bei einer Operation wegen einer Leberkrankheit in einer Klinik in Osaka nicht sterilisiertes Blut gegeben worden.
c) Midori-Juji (Grünes-Kreuz)-Fall aa) Urteil des Landgerichts Osaka Das Landgericht Osaka hat alle Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§ 211 jStGB) verurteilt. Der Verteidiger hat im Berufungsverfahren u.a. eine unangemessene Strafzumessung für die Angeklagten A und B gerügt26. Das Obergericht Osaka hat das Urteil der ersten Instanz daraufhin aufgehoben. Es stellte fest: „In der Klinik in Osaka wurde beim Opfer Y im April 1986 eine Operation wegen seiner Leberkrankheit durchgeführt. Der Arzt gab dem Patienten ‘Christmassin’27 als blutgerinnendes Mittel, obwohl es nicht sterilisiert worden war. Das Opfer wurde dadurch mit dem HI-Virus, der im nicht erhitzten Christmassin enthalten war, angesteckt. Der Patient ist 1995 im Krankenhaus gestorben.“
Angeklagt waren der Präsident A, der Vize-Präsident und zugleich Forschungsdirektor B und der Hauptgeschäftsverwalter und zugleich Produktionsdirektor C der Grünes Kreuz AG.
bb) Urteil des Obergerichts Osaka Das Gericht hat die Verantwortlichkeit der Angeklagten wie folgt begründet: „Der Angeklagte A war der Direktor der Grünes Kreuz AG, die das Geschäft mit der Produktion und dem Verkauf des Arzneimittels betrieb. Er hat als Vorsitzender den Geschäftsausschuss und das Betriebskomitee geleitet. Diese beiden Organisationen hatten die Zuständigkeit, über die wichtigsten Angelegenheiten für die allgemeinen Geschäfte der Gesellschaft zu beraten und zu entscheiden. Der Angeklagte B steht als Vize-Präsident dem Präsident bei. Als Mitglied des ständigen Geschäftskomitees hat er an der Willensentscheidung des Unternehmens teilgenommen, er hat sich im Allgemeinen an allen Geschäften des Unternehmens beteiligt. Er war zugleich auch der Forschungsdirektor des Unternehmens. Er verwaltete alle Geschäfte der Forschung und Entwicklung der Arzneimittel inklusive 26 27
Der Angeklagte C ist nach der Entscheidung der ersten Instanz gestorben. Deswegen hat das OLG die Berufung zurückgewiesen. „Christmassin“ ist der Markenname des Blutprodukts, das zur Verwendung bei Blutern produziert wurde.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft der Informationssammlung über einen etwaigen Zusammenhang des beklagten Blutprodukts mit AIDS. A und B waren deshalb in der Lage, Gefahren vorzubeugen, die sich aus Produktion und Verkauf der Arzneimittel ergeben können. Die Angeklagten konnten vorhersehen, dass sich Patienten mit HIV anstecken und durch den Ausbruch von AIDS sterben können, wenn sie nichtsterilisiertes Christmassin weiter verkaufen und bereits ausgelieferte Blutprodukte nicht zurückrufen. Sie haben erkannt, dass die Hitzeinaktivierung eine außerordentlich wichtige AIDS-Bekämpfungsmaßnahme ist, die das Problem gelöst hätte. Sie hatten die Sorgfaltspflicht, den Verkauf von nicht sterilisiertem Christmassin sofort einzustellen und einen Rückruf einzuleiten. Trotzdem haben die beiden Angeklagten jeweils diese Pflichten außer Acht gelassen.“
d) Würdigung Beim Grünes-Kreuz-Fall handelt es sich um die fahrlässige Produkthaftung durch Produktion und Verkauf von gefährlichen Blutprodukten. Die Angeklagten – der Präsident, der Vize-Präsident und der Hauptgeschäftsverwalter der Grünes Kreuz AG – hatten die Zuständigkeit, die Entscheidung zur Produktion und zum Verkauf der nicht sterilisierten Blutprodukte zu treffen. Hier kommt es auf die „Organisationsfahrlässigkeit“ der gesamten betrieblichen Tätigkeit an. In Frage steht kein Unterlassen, sondern ein Tun der Angeklagten.
2. Gesundheitsministerium-Fall Zunächst werde ich den Sachverhalt und das Urteil des Landgerichts Tokio28 darstellen.
a) Sachverhalt Der Angeklagte M war Beamter und Abteilungschef für Bio-Produktionen im Gesundheitsministerium. Er hatte die Zuständigkeit, die Sicherheit von BioProdukten zu garantieren und eventuelle Gefahren, die die Verwendung für die Bevölkerung mit sich bringen könnte, zu verhüten. Er hat jedoch keine Maßnahme getroffen, um den Verkauf der nicht sterilisierten Blutprodukte aus den USA, die möglicherweise HIV enthielten, einzustellen bzw. die Produkte zurückzurufen und deren ärztliche Verschreibung zu unterbinden. Er hat somit die Ärzte die nicht sterilisierten Blutprodukte im Fall des Bluters X (Sachverhalt 1) und des Leberpatienten Y (Sachverhalt 2) weiter verschreiben lassen, wodurch beide mit HIV infiziert wurden und schließlich an AIDS starben.
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Urteil des Landgerichts Tokio vom 28.9.2001, Keishu, Bd. 62, Heft 4, S. 791.
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung
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b) Urteil des Landgerichts Tokio Das Gericht hat zum Sachverhalt 1 (Opfer X) den Angeklagten im Ergebnis freigesprochen. Zum Sachverhalt 2 (Opfer Y) hat das Landgericht die Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts und dessen Vermeidbarkeit bejaht.
c) Urteil des Obergerichts Tokio Gegen das Urteil des Landgerichts Tokio29 haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidiger Berufung zum Obergericht Tokio eingelegt. Das Obergericht Tokio hat das Urteil der ersten Instanz bestätigt. Zum Sachverhalt 1 hat das Obergericht die Vermeidbarkeit und die Vermeidungspflicht verneint, zum Sachverhalt 2 hat es beides bejaht.
d) Beschluss des OGH Der Angeklagte hat in Bezug auf Sachverhalt 2 Revision eingelegt. Der OGH machte dazu die folgenden Ausführungen.
aa) Grundsätzliche Aufgabe des Amtes Die Gyosei Shido (Verwaltungsanleitung) sei die tatsachliche Maßnahme, die jemanden die freiwillige Entscheidung treffen lasse. Der Beamte sei rechtlich zu Maßnahmen nicht verpflichtet. Die Verhütung der Schadensentstehung durch Arzneimittel sei primär die Aufgabe der sie verkaufenden pharmazeutischen Unternehmen und der sie verschreibenden Ärzte. Das Gesundheitsministerium habe nur eine sekundäre und vormundschaftliche Stellung inne. Für die Ausübung derselben sei es erforderlich, alle Umstände zu berücksichtigen, da es sich um einen Eingriff durch die öffentliche Staatsgewalt handele, die möglichst zurückhaltend auszuüben sei. Daher lasse sich mit der bloßen Unterlassung einer Maßnahme nicht unmittelbar die individuelle strafrechtliche Verantwortung von Beamten begründen, obwohl es Fälle geben könne, wo sie eine innerdienstliche Verantwortung des Beamten bzw. die Haftung für Schadensersatz begründen könne.
bb) Spezielle Gefahrsituation zur Begründung der strafrechtlicher Sorgfaltspflicht Damals seien die Gefahren dieses Blutprodukts den Betroffenen nicht allgemein bekannt gewesen. Wenn der Staat keine klare Richtlinie zeige, bestehe 29
Urteil des Obergerichts Tokio vom 25.3.2005, Keishu, Bd. 62, Heft 4, S. 1187.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
aber die Gefahr, dass der Verkauf des Blutprodukts und damit seine Verwendung weiter fortgesetzt würden. In einer solchen Situation sei ein so hoher Gefahrengrad zu bejahen, dass der Gesundheitsminister zwingende Kontrollbefugnisse, wie einen Noterlass gemäß § 69b des Arzneimittelgesetzes, ausüben müsse, die ihm arzneimittelrechtlich zustünden. Deswegen lasse sich nicht nur feststellen, dass die konkrete Pflicht entstehe, solche Maßnahmen zu treffen, die arzneimittelrechtlich für die Verhütung solcher Gefahren notwendig und genügend seien, vielmehr sei auch für diejenigen, die mit der pharmazeutischen Verwaltung in Bezug auf die Produktion, Verwendung bzw. Feststellung der Sicherheit des nicht erhitzten Blutprodukts betraut seien, strafrechtlich die Sorgfaltspflicht entstanden, die sie als die für die Verhütung der mit dem Arzneimittel entstehenden Gefahr zuständigen Personen haben sollten.
cc) Verantwortung des Angeklagten Der Angeklagte habe eine zentrale Stelle hinsichtlich der AIDS-Bekämpfung im Bereich des Blutprodukts im Gesundheitsministerium inne gehabt. Er habe die Aufgabe, die er beim Gesundheitsministerium leisten sollte, und die pharmazeutische Verwaltung in Bezug auf die Verhütung der Gefahr durch das Arzneimittel dementsprechend erfüllen müssen. Deswegen sei klar, dass er die Pflicht innehatte, in der pharmazeutischen Verwaltung notwendige und ausreichende Gegenmaßnahmen zu treffen. Es sei nicht festzustellen, dass wichtige gesetzliche oder tatsächliche Hindernisse vorlagen, weswegen die in der zweiten Instanz gezeigten Maßnahmen unmöglich oder erschwert gewesen sein sollten. Auch wenn es deswegen selbstverständlich sei, dass die Verantwortung für den Tod des Opfers nicht ausschließlich dem Angeklagten zugerechnet werden könne, könne er sich seiner Verantwortung doch nicht entziehen.
e) Würdigung Beim Gesundheitsministeriums-Fall geht es vor allem um die fahrlässigen Unterlassungsdelikte von Amtsträgern. Zum ersten Mal haben die japanischen Gerichte die strafrechtliche Verantwortung für die Unterlassung durch Amtsträger bejaht, die für die verwaltungsrechtliche Genehmigung und Kontrolle privater Betriebe zuständig sind. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage nach
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung
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der Garantenstellung der Amtsträger hinsichtlich der Sicherheit von Arzneimitteln pharmazeutischer Unternehmen30. Bei der Herleitung der Garantenstellung ist in diesem Fall allerdings umstritten31, ob sie aus Gesetz bzw. Verordnung32, aus der tatsächlichen Ausübung der amtlichen Befugnis33, aus Ingerenz34, aus exklusiver Herrschaft oder aus der Aufsichtspflicht über eine Gefahrenquelle35 abzuleiten ist.
3. Mitsubishi-Lastwagen-Fall Im Januar 2002 kam es in Yokohama zu einem Verkehrsunfall36, der durch einen Lastwagen der Mitsubishi-Motors-Corporation verursacht worden war. Ein Vorderrad des Lastwagens hatte sich während der Fahrt auf Grund einer mangelhaften Radnabe gelöst und eine zufällig vorbeigehende Frau und ihre zwei Kinder getroffen. Die Frau verstarb und beide Kinder wurden schwer verletzt. Bei der rechtlichen Bewertung ging es um eine Fahrlässigkeitshaftung des Direktors für Marktqualität A und des Gruppenleiters für Marktqualität B, der dem Direktor unterstützte37.
a) Sachverhalt Der Angeklagte A war als Direktor des Bereichs für Qualitätskontrolle damit beschäftigt, alle Abteilungen zu beaufsichtigen, die die Qualität der von 30
31 32 33
34 35 36 37
Vgl. Soichiro Shimada, Staatsschadensersatz und Fahrlässigkeitsdelikte, Jochi Hogakuronshu, Bd. 48, Heft 1, 2004, S. 1 ff.; Akiko Saito, Unterlassung als amtliche Pflichtwidrigkeit des Amtsträgers und strafrechtliche Haftung, Keiho Zasshi, Bd. 47, Heft 2, 2008, S. 220 ff; Jun Shiomi, Die mangelhafte Amtshandlung des Amtsträgers und strafrechtliche Haftung, Gendai Keijiho, Bd. 6, Heft 3, 2004, S. 74 ff.; Mikito Hayashi, Handlungspflicht des Staatsamtsträgers, Gendai Keijiho, Bd. 4, Heft 9, 2002, S. 20 ff. Vgl. dazu Okabe, Himeji Hogaku Nr. 49, S. 7 ff., 310 ff. Otsuka, Gendai Keijiho, Bd. 4, Heft 3, S. 72. Das Urteil des Landgerichts Tokio begründet die Garantenpflicht nicht nur aus Gesetz und Verordnung, sondern auch aus tatsächlicher Ausübung. Vgl. LG Tokio vom 28.9.2001, Hanrei Jiho Nr. 1799, S. 21, S. 25. Vgl. Hayashi, Gendai Keijiho Nr. 41, S. 22. Kanrei, Festschrift für Itakura S. 194 ff. Kai, Ijiho Hanrei Hyakusen, S. 64; Kitagawa, Hogaku Kyoshitsu Nr. 258, S. 47; Hayashi, Gendai Keijiho Nr. 41, S. 24; Okabe, Himeji Hogaku Nr. 49, S. 18 ff. Urteil des LG Yokohama vom 13.12.2007, Hanrei Times Nr. 1285, S. 300; Urteil des OLG Tokio vom 2.2.2009 LEX/DB. Vgl. Iwama, Produkthaftung und Unterlassungslehre, S. 129 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Mitsubishi hergestellten Wagen kontrollieren und garantieren sollten. Er war verantwortlich für jede Abteilung, die zu beurteilen hatte, ob das Unternehmen Rückrufmaßnahmen ergreifen sollte, wenn Störungen auftraten, die die Sicherheit eines Wagens beeinträchtigen könnten. Schon vor dem besagten Unfall war es bei Mitsubishi zu Störungen der Radnaben gekommen. Als es im Juni 1999 zu einem Unfall mit einem ChugokuJR-Bus wegen einer defekten Radnabe kam, verlangte der für Verbesserungsmaßnahmen und Rückrufe zuständige Beamte im Verkehrministerium38 einen Bericht über den gerade davor geschehenen Radausfall des Wagens. Der Angeklagte B erstattete dem Zuständigen im Verkehrministerium daraufhin einen geschönten Bericht, nach dem keine Rückrufmaßnahmen erforderlich seien, weil keine ähnlichen Fälle bekannt seien. Auf Grund einer Reihe von Störungen wusste er allerdings, dass die materielle Stärke der Nabe zweifelhaft war. Die erste Instanz hat A und B wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung im Betrieb verurteilt. Sie nahm Erfolgsvorhersehbarkeit, Vermeidbarkeit und Kausalität an. Im Folgenden gebe ich die Urteile verkürzt wieder.
b) Urteil der ersten Instanz „Es ist selbstverständlich, dass die Vorhersehbarkeit bezüglich des Erfolgs bei den Angeklagten vorliegt, weil sich gerade die Gefahr, die der defekten Nabe innewohnte, in dem Unfall verwirklichte. (…) Setzt man das Vorhandensein der Vorhersehbarkeit voraus, so ist es für die Angeklagten klar, dass sie die geschäftliche Sorgfaltspflicht innehatten, dem Eintritt des Unfalls vorzubeugen, indem sie Maßnahme wie den Rückruf der Wagen mit möglicherweise defekten Naben zum Zweck ihrer Verbesserung treffen, gerade wenn man ihre berufliche Aufgabe als die Zuständigen für Qualitätsinformationen gegen Störungsfälle, die bei den produzierten Wagen die angemessenen Maßnahmen zu treffen hatten, berücksichtigt“.
Was die Kausalität zwischen den fahrlässigen Handlungen der Angeklagten und diesem Unfall betreffe, so sei zu beachten, dass der Fahrer den Wagen nicht in einer Weise hergerichtet oder verwendet habe, die für die Angeklagten als unvorhersehbar eingestuft werden müsse.
c) Urteil der zweiten Instanz Der Verteidiger der Angeklagten warf dem Gericht die Feststellungsmethode im Bezug auf die Stärke der Nabe vor. Nach dem Urteil der ersten Instanz 38
Die Bezeichnung des „Verkehrministeriums“ ist hier eine Verkürzung des „Ministry of Land, Infrastructure, Transport and Tourism“.
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung
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lasse sich feststellen, dass die mangelnde Stärke der Nabe als Ursache des Unfalls vermutet werde, es sei denn es gebe keine besonderen anderen Umstände. Der Verteidiger behauptete, es bleibe eine rationale Vermutung, wenn man solche Feststellungsmethode annehme. Die zweite Instanz beantwortete diese Frage wie folgt: „Es ist nicht wichtig, dass man die wissenschaftliche Ursache der Nabenzerstörung feststellt, sondern dass man im Zeitpunkt des Chugoku-JR-Bus-Unfalls feststellen kann, dass der Verdacht der mangelnden Stärke objektiv vorhanden ist“.
Dies lasse sich bejahen.
d) Würdigung Bei diesem Produzentenhaftungsfall hat der Direktor des Bereichs für Qualitätskontrolle sehenden Auges die Rückrufspflicht vernachlässigt. Er hat vor allem den Unfall, der durch den Chugoku-JR-Bus wegen einer defekten Radnabe verursacht wurde, verheimlicht und dem Zuständigen im Verkehrsministerium einen falschen Bericht erstattet. Die Vorhersehbarkeit des Unfalls durch den Angeklagten wurde von zwei Instanzen bejaht. Es gibt noch eine ähnlich gelagerte Entscheidung des OGH39 betreffend den Einsturz der Küste in Akashi, die der Staat und die Stadt Akashi gemeinsam beaufsichtigten, und bei dem ein Kind herabstürzte, mit Erde verschüttet wurde und verstarb. Der OGH hat vier Amtsträger des Verkehrministeriums und der Stadt Akashi wegen fahrlässiger Tötung im Betrieb (§211 jStGB) verurteilt40.
4. Neue Aufgaben der Unterlassungslehre im Lichte der neuen Judikatur a) Zusammenfassung Judikatur zur strafrechtlichen Produkthaftung In den früheren Entscheidungen handelte es sich um die Aufsichtspflicht der Aufsichtsperson gegenüber den direkt sorgfaltswidrig handelnden Tätern in der Hierarchie des Unternehmens. Die Aufsichtsperson muss dabei die gleichen Fachkenntnisse oder Erfahrungen haben, wenn sie sie angemessen 39
40
Beschluss des OGH vom 7.12.2009, Hanrei Jiho Nr. 2067, S. 159; erste Instanz: Urteil des LG Kobe vom 7.7.006, Hanrei Times Nr. 1254, S. 322; zweite Instanz: Urteil des OLG Osaka vom 10.7.2008. Als Urteilsbesprechung der ersten Instanz vgl. Okabe, Waseda Hogaku, Bd. 84, H. 1 (2008), S. 205 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
kontrollieren soll. Im Morinaga-Trockenmilch-Fall wurde der Fabrikchef, der keine technische Ausbildung hatte, freigesprochen, da ihm keine Sorgfaltspflicht oblag, „die normalen Stoffe zu bestellen und zu verwenden und die gelieferten Stoffen einer chemische Prüfung zu unterziehen“. Im KanemiReisöl-Fall wurde der Fabrikchef wegen seiner Aufsichtsposition verurteilt, weil er „die höchste Stelle im Bereich der Herstellung und Technik“ innehatte. Im Grünes-Kreuz-Fall wurde die Vorhersehbarkeit der HIV-Ansteckung durch das nicht erhitzte Blutprodukt beim Angeklagten B, der die „Qualifikation als Arzt“ hatte und der der „höchste Verantwortungsträger für den Bereich der Informierung“ war, bejaht, weil er die größere Gefahr wegen seiner beruflichen Aufgaben hätte erkennen können, wenn er die Informationen über den Bericht über AIDS weiter gesammelt und in Betracht gezogen hätte. Auch der Präsident A und der Gewerbeabteilungschef C hätten die Gefahr der HIVAnsteckung durch Christmassin erkennen können, wenn sie die Berichte oder Akten im Unternehmen darüber gelesen hätten. A und C waren keine Fachleute beim Thema AIDS. Deswegen handelt es sich beim Grünes-Kreuz-Fall nicht um die individuelle Aufsichtsfahrlässigkeit, sondern darum, wer die Entscheidung der Unternehmensorganisation an sich gebracht hat. Die drei Angeklagten standen nicht im Befehl-und-Befolgungs-Verhältnis, sondern wie Mittäter zu einander. Sorgfaltswidrig ist ihre Entscheidung für die Bestimmung der Unternehmensrichtung zum Verkauf des nicht erhitzten Brutprodukts, obwohl sie gemeinsam im Besitz neuer Informationen waren. Hier handelt es sich um die sog. „Systemgestaltungsfahrlässigkeit“. Beim Gesundheitsministeriums-Fall stellt der OGH nicht nur fest, „dass die konkrete Pflicht entsteht, solche Maßnahme zu treffen, die arzneimittelrechtlich für die Verhütung solcher Gefahren notwendig und genügend sind, vielmehr ist auch für diejenigen, die mit der pharmazeutischen Verwaltung in Bezug auf die Produktion, Verwendung bzw. Feststellung der Sicherheit des nicht erhitzten Blutprodukts betraut sind, strafrechtlich die Sorgfaltspflicht entstanden, die sie als die für die Verhütung der mit dem Arzneimittel entstehenden Gefahr zuständigen Personen haben sollten.“
Nach dem OHG hat das Gesundheitsministerium „nur eine sekundäre und vormundschaftliche Stellung inne“. Deswegen ist es für seine Ausübung „erforderlich, alle Umstände zu berücksichtigen“. Im Mitsubishi-Lastwagen-Fall handelte es sich um die Fahrlässigkeitshaftung des „Direktors für Marktqualität“ A und des „Gruppenleiters für Marktqualität“ B, der den Direktor unterstützte. Der Angeklagte B leitete dem Zuständigen in Verkehrministerium, ohne ausführliche Untersuchung anzustellen, einen geschönten Bericht darüber weiter, dass angeblich keine ähnlichen Störungen
§ 19. Die strafrechtliche Produkthaftung
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entstanden seien, obwohl dauernd welche entstanden waren, und er deswegen darüber informiert war, dass die Stärke der Nabe zweifelhaft war. Der Angeklagte A gab keinen Befehl an die ihm untergeordneten Angestellten, verlangte keinen Bericht und erstattete einen gefälschten Bericht an den Zuständigen im Verkehrsministerium. Er hat keine Maßnahme für den Rückruf getroffen. Bei diesem Fall reicht die strafrechtliche Verantwortung nur bis zum „Direktor“ und nicht bis zum „Präsidenten des Unternehmens“.
b) Theoretische Begründung der strafrechtlichen Produkthaftung Da die Darlegung der theoretischen Begründung der Garantenpflicht bei der strafrechtlichen Produkthaftung41 die Aufgabe für einen eigenständigen Beitrag ist, ist diese Problematik im Folgenden nur anzureißen. In der japanischen Wissenschaft ist die sog. „Theorie von der Herrschaft über den Kausalverlauf zum Erfolg“ (kurz: „Kausalverlaufherrschaftstheorie“)42 zur Begründung der Garantenpflicht in der Unterlassungsdogmatik herrschend. Bei der strafrechtlichen Produkthaftung gehen mehrere Lehrmeinungen43 von dieser Theorie aus. Diese Theorie vertritt die Auffassung, dass es erforderlich sei, den Kausalverlauf zum Erfolg konkret und wirklich zu beherrschen, soll das Unterlassen gleich einem Tun bewertet werden können. Voraussetzungen hierfür sind erstens die tatsächliche exklusive Herrschaft und zweitens ein Geschehen innerhalb des Herrschaftsbereichs. Beim ersteren bekommt man die Herrschaft über den Kausalverlauf, wenn der Unterlassene auf eigenen Wunsch die exklusive Herrschaft bekommt. Die nur normative Herrschaft ist kein Kriterium. Aber die Begriffe der „exklusiven Herrschaft“ oder auch „Herrschaft über den Kausalverlauf“ bleiben ebenso unklar wie die Frage, was die „Herrschaft über 41
42 43
In Japan wurde die deutsche Literatur bezüglich der Produkthaftung regelmäßig vorgestellt: Vgl. vor allem Brammsen, Strafrechtliche Rückrufpflichten bei fehlerhaften Produkten?, GA 1993, S. 97 ff..; Hilgendorf, Die strafrechtliche Produkthaftung in der Auslieferung gefährlicher Produkte, Festschrift für Hirsch, 1999, S. 291 ff; Schünemann, Unternehmenskriminalität, (Hrsg.) Canaris / Heldrich / Hopt / Roxin / Schmidt / Widaier, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, S. 621 ff.; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989; Ders., Strafrechtliche Produkthaftung, 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 647 ff. Noriyuki Nishida, Die Lehre von Unterlassungsdelikte, in: Keiho Riron no Gendaiteki Tenkai (AT 1), 1998, S. 89 ff. Kayoko Kitagawa, Waseda Hogaku, Bd. 71, H. 2, S. 200; Mikito Hayashi, Gendai Keijho, Bd. 4, H. 9, S. 24 ff.; Ders., Hoso Jiho, Bd. 60, H. 7, 2008, S. 66; Atsushi Yamaguchi, Drei Entscheidungen der AIDS-Fälle und die strafrechtliche Fahrlässigkeitslehre, Jurist Nr. 1216, 2002, S. 18.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
den Kausalverlauf“ bedeuten soll. Beim Unterlassen beherrscht der Unterlassende keinen Kausalverlauf, weil er keine natürliche Ursache zum Erfolg gesetzt hat. Er kann den „Grund des Erfolges“ „beherrschen“, wie Schünemann meint, aber den Kausalverlauf, den er nicht verursacht hat, nicht. Man kann den schon laufenden Kausalverlauf beherrschen, der Unterlassende hat jedoch nur die „potentielle Herrschaft“. Der Begriff des „Herrschaftsbereichs“ ist auch unklar oder wird wenigstens vom allgemeinen Verständnis abweichend verwendet. Nach den Vertretern dieser Theorie bedeutet der „Herrschaftsbereich“, dass man „die Stellung besitzt, die den Kausalverlauf zum Erfolg tatsächlich beherrscht“. Dagegen beruht die exklusive Herrschaft nur auf dem eigenen Willen. Z.B. gehört dazu die im Rechtsverkehr herrschende Schutz- oder Aufsichtspflicht wie im Eltern-Kinder-Verhältnis, MieterVermieter-Verhältnis usw.44 Nach dem Hauptvertreter dieser Meinung45 hat ein Vater, der schwimmen kann, wenn er gemeinsam mit anderen Personen, die ebenfalls schwimmen können, sein ertrinkendes Kind im See sieht, keine „exklusive Herrschaft“ inne. Das Ergebnis, der Vater besitze deshalb keine Garantenstellung, erscheint nicht überzeugend. Deswegen sieht es ein anderer Vertreter dieser Theorie anders: Der Herrschaftsbereich bedeutet nach ihm keinen „geschlossenen Raum“46. Danach steht der Vater im oben genannten Fall im Herrschaftsbereich, weil das Eltern-Kind-Verhältnis nicht auf Grund eines eigenen Willens entsteht. Nach noch einem anderen Vertreter dieser Theorie gibt es eine „exklusive Herrschaft“ nur dann, wenn niemand, der das ertrinkende Kind retten will, in der Nähe ist47. Die Konzeption der exklusiven Herrschaft über den Kausalverlauf an sich ist schon wegen der begrifflichen Unklarheit nicht unproblematisch und zeigt Meinungsverschiedenheiten auch innerhalb der einzelnen Theorien. Auch im Bezug auf die Produkthaftungsfälle gibt es viele Anwendungsmöglichkeiten dieser Theorie, z.B. die „Theorie der tatsächlichen exklusiven Herrschaft“48, 44 45 46
47
48
Nishida, a.a.O., S. 91. Nishida, a.a.O., S. 92. Saeki meint „die exklusive Herrschaft“ erfordere nicht immer einen „geschlossenen Raum“. Vgl. Hitoshi Saeki, Über die Entstehungsgründen der Garantenstellung, Festschrift für Kagawa, 1996, S. 110. Mikito Hayashi, Strafrechtliche Handlungspflicht von Amtsträger, Hoso Jiho, Bd. 60, H. 7, S. 2106. Wenn jemand, der das Kind rechtzeitig retten will, vorhanden ist, dann kommt das Unterlassen von Seiten des Vaters nicht in Frage, weil aus nachträglicher Sicht keine Gefahrsituation geschaffen worden ist. Kayoko Kitgawa, Waseda Hogaku, Bd. 71, H. 2, S. 200 ff.
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die „Theorie der Herrschaft über eine Gefahrquelle“49 und die „Theorie der exklusiven Herrschaft durch Informationenerfassung“50 usw. Hier ist die ausführliche Überprüfung dieser Theorien nicht möglich. Aber alle Variationen dieser Theorien können meiner Meinung nach den Grund der Garantenpflicht bei der Produkthaftung durch Unterlassen der Rückrufpflicht nicht überzeugend liefern, weil die Zuständigen in den Unternehmen, die die defekten Produkte verkauft haben, keine „Herrschaft“ mehr über die schon verkauften Waren innehaben. Nebenbei gesagt haben sie auch keine „Schutzherrschaft“ über Kunden51. Der Weg zur „Herrschaft“ nicht durch die Gefahrquelle, sondern durch das „potenzielle Opfer“ ist auch nicht gehbar, weil die Nicht-Kunden, die durch einen defekten Lastwagen zu Tode gekommen sind, mit dieser Theorie nicht geschützt werden, wie das Opfer, das beim Mitsubishi-Lastwagen-Fall zufällig auf der Straße war.
IV. Fazit Die ausführliche Begründung meiner Auffassung über die Frage danach, wie man die Garantenpflicht beim Rückruf-Fall theoretisch begründen kann, muss ich in einem weiteren Beitrag ausführen. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass man eine neue Begründung der Garantenpflicht mit einem normativen und einem tatsächlichen Ansatz entwickeln muss. Wichtig ist dabei, die normativen und tatsächlichen Voraussetzungen der Garantenpflicht klar zu machen. Als bloßen Sammelbegriff dieser Voraussetzungen verwende ich vorläufig die „Verkehrsicherungspflicht“52 gegenüber der Gefahrenquelle, deren Inhalt freilich noch Nachholbedarf bei einer wissenschaftlichen Begründung hat.
49 50 51 52
Mikito Hayashi, Gendai Keijiho, Bd. 4, H. 9, S. 24 ff.; Ders., Hoso Jiho, Bd. 60, H. 7 (2008), S. 66. Katsunori Kai, Unternehmerkriminalität und strafrechtliche Verantwortung des Amtsträgers, Waseda Hogaku, Bd. 85, H. 1, S. 8 ff. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, 2003, S. 782 ff. Zu diesem Begriff im BGB vgl. Barbara Bock, Produktkriminalität und Unterlassen, 1997, S. 13 ff.; Otto, a.a.O., Festschrift für Hirsch, S. 292 ff.
§ 20. Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus im Strafrecht I. Einleitung Der indirekte Paternalismus meint beim Strafrecht die Kriminalisierung Dritter, die mit Einverständnis des Betroffenen handeln1. Nach von Hirsch / Neumann ist § 216 StGB ohne Einschränkung des Anwendungsbereichs nicht zu rechtfertigen2, weil er zu einer zu weitgehenden Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts führe. Der heutige § 216 StGB sei nur auf der Basis des Rechtsmoralismus zu begründen. Demnach soll es im Strafrecht für den direkten Paternalismus keinen oder nur einen sehr engen Spielraum geben. Um diese Meinung zu relativieren, wird in diesem kurzen Beitrag der Blickwinkel ein wenig erweitert, indem auch die Perspektiven berücksichtigt werden, welche die grundlegenden Prinzipien des direkten Paternalismus darstellen. Es handelt sich dabei um zwei Perspektiven: Einerseits das OpferModell als Menschentypus und andererseits das Zurechnungs-Modell für die Opferverletzungstat. Danach sollen die Voraussetzungen für die Kriminalisierung der durch fremde Taten verursachten Selbstgefährdung und -verletzung anhand des indirekten Paternalismus analysiert werden.
1. Die Opfer-Modelle Das Konzept von von Hirsch / Neumann scheint auf einem Opfer-Modell zu beruhen, das stillschweigend den frei und vernünftig handelnden Menschen zugrunde legt. Es ist jedoch kein „Modell der vollkommen freien und vernünftigen Menschen“, weil die Autoren nicht die Abschaffung der gesamten Strafvorschrift der milderen Bestrafung der Tötung auf Verlangen (§ 216 1 2
von Hirsch / Neumann, „Indirekter“ Paternalismus im Strafrecht – am Beispiel der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), GA 2007, S. 671 ff. Sie behaupten, dass die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen nach dem Konzept des „Lebensstandards“ von Amartya Sen beurteilt werden muss: Sie unterscheiden zwischen Standardfällen, in denen der Lebensstandard der Person schwerwiegend beeinträchtigt ist (straffrei), und anderen, eher außergewöhnlichen Fällen, in denen der Lebensstandard nicht in vergleichbarer Weise tangiert ist, aber die Person einen persönlichen Misserfolg erlitten hat, aufgrund dessen sie ihr Leben nicht mehr als lebenswert empfindet (abhängig vom „Wieviel“ des Paternalismus). Vgl. von Hirsch / Neumann, GA 2007, S. 686.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
StGB) und auch keine Entkriminalisierung der einverständlichen Fremdtötung fordern. Der Täter soll vielmehr auch dann zu bestrafen sein, wenn die Tötung auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen erfolgt ist. Die Grenze des § 216 StGB sei in den Fällen zu sehen, in welchen der zu Tötende seine Entscheidung zum Sterben aufgrund eines gravierenden Verlustes der Lebensqualität getroffen hat. Ich nenne dieses „Menschen-Modell“ im Vergleich zu dem „vollkommen freien und vernünftigen Opfer-Modell“ das „quasi-vernünftige Opfer-Modell“. Im Gegensatz dazu scheint es mir noch ein anderes Modell zu geben, wonach sich das Opfer nicht frei und vernünftig verhält, sondern unter dem Einfluss von anderen Menschen steht, etwa aus sozialer Verbundenheit. So erfüllen die Suizide in Japan für gewöhnlich nicht den Sinn des Freitodes, sondern werden, zumindest aus psychologischer Sicht, durch den psychischen Druck der Umgebung oder Gesellschaft motiviert3. Dieses „Menschen-Modell“ lässt sich als das „sozial gebundene Opfer-Modell“ bezeichnen. Dabei verhalten sich die Opfer sozialgebunden und stehen unter den Einflüssen der Gesellschaft. Nach diesem Verständnis scheint es mir nicht ohne Grund, wenn ein Rechtssystem nicht nur die Tötung auf Verlangen, sondern auch die Anstiftung oder Beihilfe zur Selbsttötung prinzipiell unter Strafe stellt/sanktioniert, wie dies im japanischen StGB (§ 202 jStGB) geschehen ist. Es ist auch Aufgabe des Strafrechts, die soziale Gestaltung der Gesellschaft zu steuern und gesellschaftlich beeinflusste Selbsttötungen zu verhindern. Während beim quasi-vernünftigen Opfer-Modell vorausgesetzt wird, dass das Opfer sich beim Selbstgefährdungsakt frei und vernünftig entschieden hat, ist es beim sozialgebundenen Opfer-Modell wichtig, die Bedingungen bzw. Verfahren für die mögliche Fiktion der freien und rational bedingten Entscheidung der potenziellen Opfer zu schaffen. Der Verstoß gegen diese Regelungen für die Ermöglichung der freien und vernünftigen Entscheidung ist als abstraktes Gefährdungsdelikt in Bezug auf die einschlägigen Kerntatbestände zu sanktionieren.
2. Verursachungs-Modell oder Zurechnungsunterbrechungs-Modell Das Harm-Principle (Schädigungsprinzip) von J. S. Mill, das dem direkten Paternalismus zugrunde liegt4, gilt auch für den indirekten Paternalismus. 3 4
Die Motivation für den Suizid im heutigen Japan gründet sich am häufigsten auf Gesundheitsprobleme (insbesondere Melancholie) sowie auf wirtschaftliche Probleme. Vgl. Jean-Claude Wolf, Die liberale Paternalismuskritik von John Stuart Mill, in: Anderheiden (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55 ff.
§ 20. Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus
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Dieses Schädigungsprinzip beinhaltet in der Regel freilich die tatsächliche Fremdschädigung. Aber es kommt darauf an, wann die „Schadenszufügung“ verwirklicht wird. Hier stellt sich die Frage, ob die Anstiftung bzw. Beihilfe zur Selbsttötung selbst schon eine Schadenszufügung darstellen kann. In der japanischen Strafrechtswissenschaft ist heutzutage die Meinung vorherrschend, dass der Strafgrund des § 202 jap. StGB darin liege, dass die Teilnahme an der Selbsttötung unabhängig von der Haupttat des Täters strafbar ist; und zwar nicht dadurch, dass das Unrecht der Haupttat, sondern dadurch, dass das Unrecht der Teilnahmehandlung an sich seine Strafbarkeit begründet. Wenn man dieser Meinung folgt, so hat der Anstifter z.B. die Selbsttötung in der Form von Anstiftung verursacht, er hat demnach das fremde Leben „geschädigt“. Die Schädigung meint nicht notwendigerweise die Verursachung als Täter. Das heißt: Nicht nur nach dem Paternalismus, sondern auch nach dem Liberalismus dürfte die Anstiftungshandlung zur Selbsttötung bestraft werden, weil der Täter, wenn auch nur indirekt, das fremde Leben verletzt hat. Im Gegensatz dazu müsste sich nach dem quasi-vernünftigen Opfer-Modell das Opfer in der Regel vernünftig verhalten. Der Tötungserfolg wird dem Anstifter nicht zugerechnet, da in diesem Fall der Selbstmörder aus eigenem Willen und in Kenntnis aller Umstände handelt. Der Regressverbotsgrundsatz unterbricht nach diesem Modell die objektive Zurechnung5. Deswegen werden Anstifter bzw. Gehilfe nicht bestraft, weil ihre Handlungen keinen Erfolg des Haupttäters verwirklicht haben. Das Harm-Principle gilt hier nicht, da die Teilnehmer keine Schädigung (keinen Selbsttötungserfolg) verursacht haben.
3. Ist das indirekte paternalistische Strafrecht eine bloße Ausnahme? Es kann sich schon aus der Geschichte der Strafrechtswissenschaft ergeben, dass der Idealtypus des vernünftig handelnden „Täters“, der frei, vernünftig und utilitaristisch handeln kann, als ein Täter-Modell nach der klassischen Schule als Basis diente. Dieses Modell ist freilich unentbehrlich, weil es nicht nur für das Strafrecht, sondern auch für das gesamte moderne Rechtssystem ein fundamentales Menschenbild darstellt. Aber die wirklichen Täter sind meistens keine idealen freien und vernünftigen Menschen, sondern biologischund umweltbedingte sowie sozialgebundene Menschen. Als der liberale Rechtsstaat der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts durch den Sozialstaat 5
Zur Zurechnungslehre in Japan vgl. Yamanaka, Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Loos / Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 71 ff.
368
4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
ergänzt werden sollte, sollten die fremde Hilfe benötigenden Bürger paternalistisch beschützt werden. Im Bereich des Verwaltungsrechts, des Arbeitsrechts und des Sozialrechts ist es selbstverständlich, dass die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz vom substantiellen Gesichtspunkt modifiziert werden musste. Die Menschen, die die Subjekte der Rechte und Pflichten sind, sollten in erster Linie formell gleich behandelt werden, aber je nach sozialer Situation materiell bewertet werden. Das gilt auch für das Opfer-Modell. Das Opfer ist kein freier und vernünftiger Mensch, sondern ein von den anderen verführter leicht beeinflussbarer Mensch. Das Strafrecht hat eine Sozialgestaltungsfunktion. In der Gesellschaft, in der die statistische Anzahl von Selbsttötungen vor dem kulturellen und geschichtlichen Hintergrund sehr groß war, musste das StGB in umgekehrter Weise alle Einflussnahmen zur fremden Selbsttötung verbieten. Das japanische StGB bezweckte die Verhinderung der Selbsttötung, obwohl die Gesellschaft diese eher als eine Form der individuellen Verantwortlichkeit lobte. Nicht nur die Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung, sondern auch die Tötung auf Verlangen oder die eingewilligte Tötung wurden kriminalisiert. Dahinter stehen vermutlich die religiösen und geschichtlich-kulturellen Gründe, die den Suizid als moralisch nicht grundsätzlich verboten betrachten6. Das Schaubild unten zeigt die Anzahl der Suizidenten in Japan in den Jahren 1889 bis 20037. Wie das Schaubild zeigt, war die Anzahl im Jahre 1998 besonders hoch, hat sodann etwas abgenommen, um im Jahre 2003 auf ein Höchstniveau (32 109 Personen) zu steigen. Bei den 30-jährigen bis 60jährigen Männern stellen insbesondere wirtschaftliche Probleme die Motivation zur Selbsttötung dar. Aus diesem Grund erscheint es mir durchaus sinnvoll, dass der Staat unter diesen Umständen neben der Errichtung von Beratungsinstitutionen für Suizidgefährdete oder der sonstigen Sozialpolitik auch die Kriminalisierung der Teilnahme am Suizid zur Prävention gegen die Selbsttötung eingesetzt hat. Es ist freilich nicht bewiesen, ob diese Klausel (§ 202
6
7
Das Christentum, das den Suizid streng verbietet, hat in Japan nur einen Anteil von circa 1% der Bevölkerung. Das bekannte „Harakiri“ (Bauchaufschlitzen) geschah meistens auf Druck der Familie oder des Fürsten; auch gab es den Doppelsuizid von Geliebten. Es ist nicht unverständlich, dass der damalige Gesetzgeber des StGB (1907) bereit war, den Suizid unter Strafe zu stellen. Ein Überblick über den Tod durch Suizid, in: Die Statistik von Ministry of Health, Labour and Weifare im Jahr 2005. Im Jahre 2006 war die Anzahl 32.155, und 33.093 Personen im Jahre 2007. Vgl. Grundmaterialien zum Suizid im Jahre 2007 von der Polizeibehörde (www.npa.go.jp/toukei).
§ 20. Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus
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jStGB) zur Verhütung des Suizides in irgendeiner Form effektiv war oder nicht.
Verlauf der Anzahl der Suizidenten pro Jahr in Japan
Das totale Verbot der Teilnahme an der Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen oder eingewilligte Tötung im japanischen StGB beruht nicht notwendigerweise auf dem Rechtsmoralismus. Nach einer Auslegungsmöglichkeit werden diese Handlungen dann gerechtfertigt oder entschuldigt, wenn der Selbstmörder ein an starken Schmerzen leidender, irreversibel moribunder Patient war. Insofern werden diese Fälle von Sterbehilfe bei solchen Patienten von der Strafbarkeit befreit, sei es auf der Ebene der Gesetzgebung, Rechtfertigung oder Entschuldigung.
4. Die Typologien der Tatbestände, die aufgrund des indirekten Paternalismus begründet werden können Die Kriminalisierung auf Grundlage eines indirekten Paternalismus erstreckt sich nicht nur auf das Suizidproblem, sondern auch auf andere Bereiche. Damit ist die Sanktionierung von Gebieten außerhalb des StGB (Nebengesetze) gemeint. Wie eine große Anzahl der sog. Verwaltungsstrafgesetze in Japan8, wird auch das Nebenstrafrecht nicht nur zum Zweck der Prävention der Rechtsgutsgefährdung, sondern auch hauptsächlich zum Zweck der Flankierung der Verwirklichung der Verwaltungsziele verwendet. Das Opfer-Modell ist dabei auch das „sozialgebundene Opfer-Modell“.
8
Vgl. dazu Yamanaka, Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen, in: Zeitschrift für Japanisches Recht, 2002, Heft 14, S. 193.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
a) Die Zerstörung der eigenen Existenz Wie oben geschildert wurde, ist es schwer zu erkennen, ob man in den verschiedenen Staaten die Unterscheidung zwischen dem indirekten Paternalismus und dem Rechtsmoralismus in einem bestimmten Rechtsgebiet klar feststellen kann. Die Bestrafung der Tötung auf Verlangen kann auch nur anhand des Rechtsmoralismus begründet werden, wenn das StGB die gewollte Tötung auch dann sanktioniert, wenn der Sterbewillige die Tötung ausdrücklich und ernstlich verlangt hat. Wer die Tatherrschaft über die Tötungshandlung hat, spielt lediglich für die dogmatische Begründung eine Rolle. Die Auseinandersetzung zwischen dem noch zulässigen indirekten Paternalismus und dem unzulässigen Rechtsmoralismus hat ausschließlich Bedeutung für die Differenzierung der Begrifflichkeiten. Der indirekte Paternalismus wirkt sich in diesem Bereich so aus, dass das StGB einem Fremden in der Regel verbietet, in die bloß quasi-freie und vernünftige Entscheidung oder in die sozialgebundene Entscheidung für die Selbsttötung in bestimmter Weise zu intervenieren. Hier wirken sich freilich auch die Rechtfertigungsgründe bzw. Entschuldigungsgründe aus, wenn die Tat die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt. Dass der Suizid an sich nicht strafwürdig ist, spielt für die Strafbarkeit der Teilnehmer keine Rolle.
b) Einwilligung zum Zweck der Wahrung eigener Interessen Im StGB wird auch der ärztliche Heileingriff nicht nur mit der Einwilligung des Patienten in die Körperverletzung (§ 204 jStGB) gerechtfertigt. Hier ist die Selbstgefährdung langfristig gesehen zum Zweck der Wiederherstellung eigener Gesundheit notwendig. Dennoch verlieren die Patienten unter Umständen wichtige Organe oder unentbehrliche körperliche Funktionen und Fertigkeiten. Die Hinnahme des ärztlichen Eingriffs stellt somit nur das Resultat einer Interessenabwägung des Patienten zwischen dem zukünftigen Wohlleben und den kurzfristigen oder lang andauernden, aber noch erträglichen Schmerzen dar. Die ärztliche Aufklärung über den Heileingriff sowie die medizinische Indikation sind notwendige Voraussetzungen für eine wirksame Einwilligung des Patienten, weil der ärztliche Eingriff eine gewichtige/intensive Verletzung der körperlichen Integrität mit sich bringt9. Freilich braucht auch die ärztliche 9
Vgl. Yamanaka, Rechtfertigung und Entschuldigung medizinischer Eingriffe im japanischen Strafrecht, in: Eser / Nishihara (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung IV, 1995, S. 195 f.
§ 20. Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus
371
Indikation usw. die Einwilligung. Die Tatbestandsmäßigkeit wird nicht bejaht. Hier sollte das StGB dahingehend interpretiert werden, dass die qualifizierten Voraussetzungen, durch die die unterschiedlichen Fachkenntnisse von Arzt und Patient kompensiert werden können, zur freien und rationalen Entscheidung des Patienten als einer Fiktion führen können. Der indirekte Paternalismus des StGB wirkt sich hier durch strengere Voraussetzungen für die Rechtfertigung (Gebotenheit) aus.
c) Die Selbstverletzung zum eigennützigen oder altruistischen Zweck Das .Gesetz betreffend der Organtransplantation“ (= OTG) regelt die Organextirpation aus dem Leichnam zum Zweck der Transplantation (vgl. § 1 jap. OTG)10. Danach muss der Spender zu Lebzeiten seinen Willen in Urkunden geäußert haben. Weiterhin dürfen Familienmitglieder dem Vorhaben nicht entgegenstehen, sei es weil sie einverstanden oder gar nicht vorhanden sind. Dieses Gesetz stellt den An- und Verkauf von Organen, die zur Transplantation verwendet werden, mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus oder mit einer Geldstrafe von bis zu fünf Millionen Yen unter Strafe (§ 11, § 20 Abs. 1 jap. OTG). Zur geschäftsmäßigen Vermittlung des An- und Verkaufs von Organen benötigt man eine behördliche Genehmigung (§ 12 Abs. 1 jap. OTG). Ein Verstoß gegen § 12 Abs. 1 jap. OTG wird mit einer Zuchthausstrafe von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe von bis zu einer Million Yen geahndet (§ 22 jap. OTG). Was die Organentnahme von lebenden Menschen betrifft, so ist die Praxis der „Ethischen Richtlinie der japanischen wissenschaftlichen Gesellschaft für Organtransplantation“11 überlassen. Die Sanktion ist nicht klar bestimmt12. Sie schränkt die Organtransplantation auf die zwischen der Blutverwandtschaft innerhalb des 6. Grades und der aus der Ehe entstehenden Verwandtschaft innerhalb des 3. Grades ein. Sie schreibt vor, die Spende müsse dem spontanen Willen des Spenders entspringen und dürfe keinesfalls ein Entgelt bezwecken.
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Vgl. Yamanaka, Der Mensch zwischen Leben und Tod – Der Schutz des werdenden und des endenden Lebens im japanischen Recht, in: Kitagawa / Nörr / Oppermann / Shiono (Hrsg.), Das Recht vor der Herausforderung eines neuen Jahrhunderts; Erwartungen in Japan und Deutschland, 1998, S. 411 ff. Sie ist am 24. November 1994 in Kraft getreten und am 28. Oktober 2003 reformiert worden. Die Maßnahme gegen den Verstoß wird auf der Gesamtversammlung bei der Tagung entschieden. Der Entwurf über die einschlägige Maßnahme wird vom Komittee der Vorsitzenden der Tagung vorgeschlagen.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Sie verbietet auch das Geschäft mit Organen. Es gibt jedoch keine gesetzliche Regelung. Das OTG ist ein Verwaltungsstrafgesetz. Das geschützte Rechtsgut des OTG ist im Hinblick auf den Organspender dessen verbleibender Wille sowie die Würde des Leichnams13, und bezüglich des Rezipienten dessen zukünftige Gesundheit. Dabei stellen die Tatbestände des OTG abstrakte Gefährdungsdelikte dar. Der primäre Zweck des OTG besteht darin, die Transplantationsmedizin in die richtige und angemessene Richtung zu lenken (§ 1 OTG). Dieses Gesetz besteht also aus den verschiedenen Verfahrensregeln, Voraussetzungen und Genehmigungen als Peripherieregelungen. Was die Organentnahme aus dem Leichnam zum Zweck der Organspende anbelangt, so sollte eigentlich nur seine zu Lebzeiten geäußerte Einwilligung relevant sein. Das OTG sieht also strengere Voraussetzungen für die Rechtfertigung vor.
d) Die willentliche, riskante wirtschaftliche Geschäftshandlung Das StGB enthält gegen die Vermögensverletzungen verschiedene Tatbestände wie Diebstahl, Raub, Betrug, Erpressung oder Unterschlagung usw. Darunter sind vor allem Betrug und Erpressung dann verwirklicht, wenn das Opfer auf Grund seines mangelnden Willens die Sache an den Täter verfügt. Würde das Opfer die zu kaufenden Waren vernünftig, mit gebotener Ruhe sowie mit Hilfe einer objektiven Beobachtung begutachten und die abzugebende Erklärung überdenken, so würde es zu einem Betrug nicht kommen. Durchschnittliche Verbraucher oder unerfahrene Anleger sind jedoch keine Fachleute und damit leicht zu täuschen. Unter ihnen sind aber auch viele ältere Menschen, deren Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist oder junge Menschen, denen es an sozialen und finanzweltbezogenen Erfahrungen sowie fundierten Kenntnissen des Systems der Kreditinstitute fehlt. Deshalb wird von der freien Marktwirtschaft ein Ausgleich für die unterschiedlichen Kompetenzen der einzelnen Marktteilnehmer gefordert, um das Geschäft unter klaren und fairen Regeln ablaufen zu lassen. Um diesem Erfordernis nachzukommen, hat der Gesetzgeber umfangreiche Nebenstrafgesetze geschaffen, die die Geschäftsabläufe reglementieren und regulieren. Folglich haben diese Gesetze auch den Sinn, den Verbraucher-,
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Für die Organentnahme aus dem Leichnam gilt das Delikt gegen Leichnamzerstörung (§ 190 jap. StGB).
§ 20. Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus
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Anleger-, oder den Schuldnerschutz zu stärken14. So verpflichtet das „Gesetz zum Verkauf durch Abzahlung“ (= VAG) den Betreiber, dem Käufer die Urkunde über den Vertrag herauszugeben (§ 4 jap. VAG). Bei einem Verstoß wird der Täter mit Geldstrafe bis 100.000 Yen bestraft (§ 53 Abs. 3). Es gibt ähnliche Paragraphen, die zur Abgabe einer Urkunde verpflichten, darunter auch im Börsengesetz (§ 217 Abs. 1, § 367 Abs. 5). Das Gesetz zur Verhütung des Schneeballsystems (= SVG) bestraft denjenigen mit einer Geldstrafe bis zu 200.000 Yen, der andere als Mitglieder wirbt (§ 7 jap. SVG). Diese Strafvorschriften verbieten Taten in der Peripherie des Betrugstatbestandes des StGB (§ 246 jStGB). Basierend auf der Idee des indirekten Paternalismus (in Form des sozialgebundenen Opfer-Models) werden durch diese Gesetzte bereits vorbereitende Gefährdungstaten, die sich zu einem Betrug entwickeln könnten, sanktioniert.
e) Selbstdemütigung auch zum wirtschaftlichen Zweck Das Gesetz zur Bekämpfung der Prostitution (= PPG) in Japan untersagt jede aktive wie passive Form der Prostitution. Bestraft werden jedoch nur direkte Begünstigungen der Prostitution, z.B. die Aufforderung zur Prostitution an einem öffentlichen Ort (§ 5 Abs. 1 jap. PPG), die Vermittlung von Prostitution (§ 6 Abs. 1 jap. PPG), das Anbieten eines Platzes für die Prostitution (§ 11 jap. PPG) oder auch die Ausübung bzw. Nichtausübung des Einflusses unter Familienmitgliedern (§ 7 Abs. l, 2. Alt. jap. PPG), usw. Im japanischen StGB gibt es einen Paragraphen, der denjenigen bestraft, der Frauen, die keine Gewohnheit zur „obszönen Handlung“15 haben, aus Profitsucht zum Geschlechtsverkehr auffordert (§ 182 jStGB). In der Praxis wird diese Vorschrift fast nicht angewandt. Im Rahmen dieser Vorschrift ist umstritten, ob sie ein soziales Rechtsgut oder das individuelle Rechtsgut schützen will.
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Zum Wirtschaftsstrafrecht in Japan vgl. Yamanaka, Die gegenwärtige Aufgabe des Wirtschaftsstrafrechts in Japan, Kühne / Miyazawa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 77 ff. Mit diesem Begriff ist die unmoralische sexuelle Handlung gemeint. Der Begriff ist sehr vage und unbestimmt. Aber es gibt eine Entscheidung des OGH in einem Fall des Verstoßes gegen eine städtische Satzung, die denselben Begriff durch eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung nicht als Verletzung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz erklärt hat (Urteil des OGH vom 23.10.1985, Keishu, Bd. 39, Heft 6, S. 413). Zu diesem Urteil vgl. Yamanaka, Das Gesetzlichkeitsprinzip im japanischen Strafrecht, Review of Law and Politics Nr. 5,1990, S. 118 ff.
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4. Aufgaben und Tendenzen der jap. Strafrechtswissenschaft
Diese Vorschriften lassen sich wiederum mit dem indirekten Paternalismus erklären. In den Fällen des PPG hat das sozialgebundene und sozial schwächere Opfer in der Realität keine freie und autonome Entscheidungsfähigkeit hinsichtlich der Selbstdemütigung. Dahinter steht der Gedanke des indirekten Paternalismus zu Gunsten sozialwirtschaftlich schwächerer Personen.
II. Fazit Der indirekte Paternalismus als Strafgrund liegt noch innerhalb der Tragweite des Harm-Principle von J. S. Mill. Wie weit die Strafbarkeit reichen sollte, hängt von der Sozialstruktur und der politischen Reife der liberalen Gesellschaft ab. Das Bild der freien und vernünftigen Menschen bleibt beispielsweise nur bei der idealistischen Philosophie von Sokrates oder Kant. Im Strafrecht soll das der bloß „quasi-freie und vernünftige Mensch“ sein. In vielen Ländern gilt sogar bloß das „Menschenbild als das sozialgebundene Opfer“. Dieses Strafrechtssystem darf nicht zu schnell mit dem Rechtsmoralismus gleichgesetzt werden. Die Länder, in denen dieses soziale Modell seine Gültigkeit entfaltet, dürfen nicht als unterentwickelte und noch nicht liberalisierte Gesellschaften missverstanden werden. Vielmehr werden in unserer Risikogesellschaft viele Menschen in das Sozialsystem nicht mehr intensiv genug integriert. Folglich brauchen diese Menschen auch ein Mehr an paternalistischem Schutz, auch mit Mitteln des Strafrechts. Unsere Aufgabe für die Strafrechtswissenschaft scheint in den Harmonisierungsversuchen zwischen dem Liberalismus und dem indirekten Paternalismus zu liegen.
FÜNFTER TEIL: KRIMINALITÄTSTENDENZEN UND JUSTIZREFORM IN JAPAN
§ 21. Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan Hintergrund und Bilanz des Boryokudan-Bekämpfungsgesetzes
A) Einleitung Das Gesetz betreffend die Bekämpfung der unerlaubten Taten durch die Mitglieder der Boryokudan“ (Boryokudan-Bekämpfungsgesetz = BBG) wurde als Gesetz Nr. 77 am 15. März 1991 verkündet und trat am 1. März des nächsten Jahres in Kraft1. Ein Jahr später, am 12. März 1993 wurde es reformiert und am 1. August desselben Jahres als Gesetz Nr. 41 veröffentlicht2. Was ist unter dem Begriff „Boryokudan“ zu verstehen? Das Gesetz definiert Boryokudan in § 2 Nr. 2 als eine „Vereinigung mit der Gefahr, ihre Mitglieder in kollektiven bzw. gewöhnlichen Gewalttaten zu unterstützen“. Das japanische Wort „Boryokudan“ bedeutet in seinem eigentlichen Sinne die „gewaltübende Gruppe“. Das wesentliche Merkmal des Gesetzes liegt darin, dass es kein Nebenstrafgesetz, sondern Verwaltungsgesetz ist. Es regelt die Voraussetzungen verwaltungspolizeilicher3 Maßnahmen. Bisher lag der Schwerpunkt der Bekämpfung in der Strafverfolgung4 der Boryokudanmitglieder: Die Straftaten wurden polizeilich aufgeklärt, es wurde Anklage erhoben und die Täter wurden vor Gericht verurteilt. Diese Methode empfand man schon bald als nicht ausreichend. Das Boryokudan-Bekämpfungsgesetz von 1993 hat deshalb Regelungen zu den Vereinigungen aufgenommen. Danach werden ergehen an die Mitglieder der
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Als Erklärung der Gesetzgebung und Kommentar vgl. vor allem Yoriaki Narita (Hrsg.), Boryokudan-Taisakuho no Kaisetsu, 1992; Keisatsucho / Keijikyoku / Boryokudantaisakubu (Hrsg.), Chikujo Boryokudanin niyoru futona Koi no Boshi tonikansuru Horitsu, 1995 (Zit. als Keisatsucho). Zum Inhalt der Reform vgl. Ken Hirose, Erfolg durch Inkrafttreten des BBG und seine zukünftige Aussicht, Keisatsugaku Ronshu, Bd. 46, H. 8, S. 6 ff. Die Verwaltungspolizei ist mit dem deutschen Ordnungsamt zu vergleichen, führt aber auch Standardmaßnahmen durch. Sie wird als justizpolizeiliche Kontrolle in Japan bezeichnet.
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Boryokudan Ordnungsverfügungen, und wenn diese Verfügungen verletzt werden, sind die Mitglieder zu bestrafen5. Das Ziel des Gesetzes wird in § 1 bestimmt: „Dieses Gesetz hat den Zweck, die Sicherheit und den Frieden des bürgerlichen Lebens zu gewährleisten und damit die Freiheit und die Rechte des Bürgers zu schützen. Es bestimmt die erforderlichen Regelungen in bezug auf die gewalttätigen Verlangenstaten der Boryokudanmitglieder. Ferner sind notwendige Maßnahmen zu treffen, um Gefahren für das bürgerliche Leben durch Streitigkeiten zwischen feindlichen Boryokudanvereinigungen abzuwenden. Um den Schäden durch Handlungen der Boryokudan vorzubeugen, sind zivile gemeinnützige Vereinigungen zu unterstützen.“
Unter „gewalttätigen Verlangenstaten“ verstehen wir Handlungen, bei denen die Boryokudan unter Androhung ihrer Macht von anderen etwas fordern. Ob diese Handlungen widerrechtlich sind, steht meistens auf der Grenze, und somit ist es praktisch schwer, sie mit den Strafgesetzen zu erfassen. Auch wenn sie rechtswidrig wäre, ist es fraglich, ob die daraus entstehenden privatrechtlichen Ansprüche in der Praxis durchsetzbar sind. Wie § 1 BBG zeigt, zielt das Gesetz nicht auf die rechtliche Regelung verbrecherischer Organisationen als solche ab. Vielmehr sind konkrete Gewalttaten der Boryokudanmitglieder Gegenstand der Regelungen. Erst wenn die Mitglieder Verlangenstaten begangen haben, werden Maßnahmen gegen die Organisation ergriffen. Das Gesetz stellt damit eine Mischform zwischen den Straftaten einzelner und dem generellen Verbot krimineller Organisationen als solche dar. Damit ist es möglicherweise schon von Anfang an unzureichend. Dagegen haben sich Verbote krimineller Vereinigungen im Ausland schon bewährt6. In erster Linie sollen in diesem Beitrag alle wesentlichen Punkte des Gesetzes erörtert werden. Weiterhin werde ich auf die Umsetzung in praxi zu sprechen kommen. Aber zuvor ist es notwendig, auf die gegenwärtige Situation, die Tätigkeiten der Boryokudan und auf ihre Geschichte einzugehen.
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Narita, a.a.O., S. 24 ff.: Keisatsucho, S. 5 ff. Als umfassende Forschung über die organisierte Kriminalität in Deutschland, Italien und USA vgl. Hisao Katoh, Soshikihanzai no Kenkyu (Studien zur organisierten Kriminalität), 1992, S. 1 ff., 30 ff., 56 ff.: Eine kurze Übersicht zu den Gesetzen der organisierten Kriminalität in verschiedenen Ländern findet sich bei Narita, a.a.O., S. 17 ff.; Seiji Iishiba, Soshikihanzai Taisaku Manual, 1990, S. 137 ff.; Grundlegendes zu den rechtlichen Maßnahmen gegen die organisierte Kriminalität siehe Homusho / Keijikyoku / Keijihoseika (Hrsg.), Soshikitekihanzai to Keijiho, 1997, S. 1 ff.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
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B) Übersicht zu den Tätigkeiten der Boryokudan I. Die neueren Tendenzen der Tätigkeiten der Boryokudan Neuerdings vermehren sich die Fälle, in denen die Boryokudan sich in Konkursverfahren einmischen: In der Blasenwirtschaft (bubble economy) gaben japanische Banken zahlreiche Kredite an ihre Kunden, wenn sie als Absicherung nur z.B. Grundstücke hatten, deren Preise damals keineswegs als sinkend eingeschätzt wurden. Durch die Flaute nach dem Ende der Blasenwirtschaft konnten die Kunden die Kredite nicht mehr zurückzahlen. Die Boryokudan trieben dann das Geld für die Banken ein oder verhinderten Versteigerungen, um selbst Grundstücke oder ähnliche Wertgegenstände unter Preis zu erwerben. So mehrten sich die Verhaftungen wegen Konkursgesetzesverletzungen und Auktionsverhinderungen.
II. Die Anzahl der Boryokudan und ihrer Mitwirkenden In Japan existieren drei große Banden und unzählige kleine, die teilweise unter der Schirmherrschaft der großen stehen. Die größte Bande ist die YamaguchiGumi (Yamaguchi-Bande). Daneben stehen die Inagawa-Kai (Inagawa-Union) und die Sumiyoshi-Kai. Laut dem Jahrbuch der Polizei von 19967 gehörten ihnen Ende 1995 insgesamt 31.000 Boryokudanmitglieder und Quasimitglieder8 an. In ganz Japan zählte man 1995 79.300 Beteiligte. Zahlreiche kleine Banden werden jährlich aufgelöst oder vernichtet. So waren es 1995 234 weniger als im Jahr zuvor. Von diesen 234 Banden standen allein 128 unter der Schirmherrschaft der drei großen; das sind 57,4%. Auch die Zahl der Mitglieder nimmt ständig ab. Bereits im Jahre 1994 waren es 1700 Mitglieder mehr, als im Jahr darauf. Die Banden Yamaguchi-Gumi, Inagawa-Kai und Sumiyoshi-Kai verloren 100 Mitglieder. Die untere graphische Darstellung zeigt, wie sich die Mitgliederzahlen seit 1988 verändert haben9.
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Keisatsucho (Hrsg.), Keisatsu Hakusho (Polizei-Jahrbuch) für 1996, S. 194 ff. Die Quasimitglieder der Boryokudan sind diejenige, die zwar keine Mitglieder sind, aber Beziehungen zu den Boryokudan haben. Mit dem Einfluss der Boryokudan und mit Androhung ihrer Macht begehen auch sie Verlangenstaten oder wirken bei der Erhaltung der Boryokudan-Betriebe mit. Beispielsweise liefern sie Gelder oder Waffen. Vgl. Takeshi Mita, Dreijähriger Wandel nach Inkrafttreten des BBG (1), Sosakenkyu, Bd. 44, H. 9 (1995), S. 30 f.
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Änderung der Anzahl der Mitgl./Quasimitgl. der Boryokudan Zahl tausend
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Mitgl./Quasimitgl.
Jahr
1991
gesamte Mitgl. 1992
Mitgl. der 3 Gruppe
1993 1994 1995
III. Finanzierungsaktionen der Boryokudan Schon seit langem wird auf eine steigende Tendenz verbesserter Finanzierungsaktionen der Boryokudan verwiesen10. Die Boryokudan entwickeln in jeder Zeit die der Wirtschaftslage entsprechenden Finanzierungsmethoden. Sie tendieren aber mehr und mehr zu den legal verkleideten.
1. Finanzierungsquellen der Boryokudan Das Jahreseinkommen der gesamten Boryokudan betrug im Jahre 1989 nach Untersuchungen der obersten Polizeibehörde (Keisatsucho) vermutlich eine Billion 300 Milliarden Yen. Das sind etwa 22 Milliarden Mark. Davon stammt der größte Teil aus illegalen Gewinnen11.
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Vgl. z.B. Norikiyo Hayashi, Soshikiboryoku no Ichidanmen, 1996, S. 29 ff., 32 ff. (Jahrbuch der Polizei von 1978), S. 99 ff. Vgl. Ishizuke, Keisatsugaku Ronshu, Bd. 45, H. 1, S. 16 ff.; Narita, a.a.O. (Fn. 1), S. 86 ff.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
381
Im allgemeinen sind folgende Tendenzen zu erkennen: 1) Die Boryokudan bauen ihre traditionellen Finanzierungsquellen weiter aus. 2) Sie betreiben legal wirkende Geschäfte lebhafter als bisher. 3) Die Finanzierung der Organisationen erfolgt nun durch die „intellektuelle Gewalt“12. 4) Die Aktionen der
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Unter „intellektueller Gewalt“ verstehen wir die psychische Gewalt, durch welche die Handlungen der Boryokudan legal wirken.
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Banden richten sich hauptsächlich nicht mehr gegen Individuen, sondern gegen die Unternehmen13. Die Geldquellen lassen sich wie folgt differenzieren: 1) Traditionelle Finanzierungsmethoden sind der Drogenhandel mit Weckamin, Glücksspiele, Totoschiebung und Schutzgelderpressungen. Sie machen mehr als 50% des gesamten Einkommens der Boryokudan aus14: Unter Androhung ihrer Macht verlangen die Boryokudan Gelder für die Anwesenheit der Geschäfte in ihren Einflussgebieten, den sogenannten „Nawabari“15. Diese Einnahmen werden als „Mikajimeryo“ (Platzgeld)16 bezeichnet. Außerdem verlangen sie von den verschiedenen Gaststättenbetrieben, Spielhallen und Budenbesitzern (fliegenden Händler) Schutzgelder. Ebenfalls durch stillschweigende Androhung ihrer Macht erhalten sie ungerechtfertigte Geldspenden und verkaufen oder verleihen Waren zu extrem hohen Preisen. So bringt ihnen der Verkauf künstlicher Blumen für die Innenausstattungen der Gaststätten das „Yozinboryo“ (Schutzgeld i.e.S.) ein. Es umfasst auch die Leihe nasser Handtücher an Gaststätten für ihre Gäste („Oshibori“). Die Boryokudan finanzieren sich außerdem durch Beiträge ihrer Mitglieder und untergeordneter Vereine. Die Gelder werden von den unteren Schichten zur Führung geleitet und „Jonokin“ (Zollabgabe) genannt. Zudem veranstalten die Boryokudan häufig große Feste innerhalb der Familie, wie Zeremonien zur Verkündung der Namensübernahme („Shumeihiro“)17, Totenfeiern oder Büroeröffnungen. Dabei erhalten sie Gelder als Geschenke von Gesellschaftern, Unternehmen und anderen Organisationen. Diese Veranstaltungen bezeichnen sie als „Girikake“, das soviel bedeutet wie Belastung des gesellschaftlichen Verkehrs. 2) Die neuen Finanzierungsmethoden werden laut Statistik immer häufiger angewandt. Sie lassen sich in drei große Gruppen unterteilen: a) die in die 13 14 15 16 17
Vgl. Iishiba, a.a.O., S. 115. Vgl. Iishiba, a.a.O., S. 118. „Nawabari“ ist gem. § 9 Nr. 4 BBG der Bereich, der ohne anerkannte Rechte als Gebiet zur Gewinnerwirtschaftung eingerichtet ist. Mikajimeryo und Yojinboryo lassen sich begrifflich nicht klar unterscheiden. In dieser Zeremonie wird der Name des neuen Bandenvorstehers verkündet. Unwesentlich ist dabei, ob diese Bande unter der Schirmherrschaft einer größeren steht. Vielmehr fließt dann das Geld in die Kassen der übergeordneten Banden.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
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Zivilkonflikte eingreifende Gewalt („Minjikainyuboryoku“), b) die gegen Unternehmen gerichtete Gewalt und c) die Finanzierung unter dem Deckmantel der Legalität. a) Der Begriff „die in die Zivilkonflikte eingreifende Gewalt“ ist 1979 erstmals von der obersten Polizeibehörde verwendet worden. Sie definiert das Vorgehen als „die Gewalt, bei der die Boryokudan selber oder ihre Quasimitglieder zur Finanzierung durch ihre Machtandrohung in Zivilkonflikte im alltäglichen Leben oder in wirtschaftliche Angelegenheiten Betroffener eingreifen. Sie nutzen dabei vor allem die Handlungsunfähigkeit der Gerichtsbarkeit in Japan“. Als Beispiel ist hier die schneller funktionierende Schuldenbeitreibung der Boryokudan zu nennen, die man intensiv nach der Blasenwirtschaft betrieb. Sie beteiligen sich an Schuldenbeitreibungen. Dabei zwingen sie z.B. die Unternehmen unter Androhung ihrer Macht zur Rückzahlung geliehener Gelder. Die Darlehensgeber könnten zwar ihre Ansprüche gerichtlich geltend machen, aber zumeist dauert ihnen das Verfahren zu lange. Dagegen war während der Blasenwirtschaft die „Jiage“ üblich: Unter Androhung von Gewalt vertrieben die Boryokudan Pächter oder Mieter, um günstig an die Immobilien zu gelangen. b) Die gegen Unternehmen gerichtete Gewalt äußert sich in politischen oder sozialen Aktionen. Rechte Gruppen verlangen z.B. von Unternehmen finanzielle Unterstützungen oder den Kauf der von den Boryokudan herausgegebenen Broschüren18. Repräsentativ auf diesem Gebiet ist die „Sokaiya“. Durch die Androhung störender Äußerungen während einer Aktionärsversammlung erpressen sie Schweigegelder. „Sokaiya“ bedeutet wörtlich übersetzt „Versammlungsleute“. Die Vereinigung zählte mit 6.783 im Jahre 1982 ihre meisten Mitglieder. Davon waren allein 2.012 Boryokudanmitglieder. Diese Zahl ging im Jahre 1983 auf 1.632 zurück, weil die Strafvorschrift gegen die „Interessenversorgung“ (§ 497 HGB) 1982 in Kraft trat19. Und so zählten die Sokai-
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Nach dem Inkrafttreten des BBG 1993 wurde eine Umfrage in den Betrieben bezüglich der Verlangenstaten der Boryokudan gegenüber den großen Unternehmen durchgeführt. Nach ihr waren in der Vergangenheit 993 (42,1%) Betriebe von 3.061 betroffen. Ca. 80% der Unternehmen berichteten, dass weniger gefordert wurde als im Jahr zuvor. So wurden mit 70% am häufigsten der Kauf eigener Broschüren von sozialen Initiativen erzwungen und Schweigegelder durch die Sokaiya verlangt. Vgl. Hirofumi Naito / Masakazu Kanazawa, Zur Opfersituation der Boryokudan nach dem Inkrafttreten des BBG, Keisatsugaku Ronshu, Bd. 46, H. 12 (1993), S. 35 ff. Eine Affäre betreffend die Interessenversorgung ist gerade in den Medien wieder aktuell: Die Nomura-Effektenfirma und die Daiichikangin-Bank zahlten Unsummen an Geld an die Sokaiya-Bande.
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
yas 1989 nur noch 1.307 Mitglieder. Davon gehörten 91 Personen den Boryokudan an20. c) Finanzierung unter dem Deckmantel der Legalität. Die Boryokudan dehnen nun ihre Aktivitäten auf den Immobilienhandel, auf Geldgeschäfte und Geschäfte mit Bauunternehmen aus. Dazu gründen und betreiben sie Unternehmen selbst oder stehen mit anderen Personen eines Unternehmens in enger Verbindung. Diese Personen werden „Unternehmensbrüder“ (Kigyoshatei“) genannt. Sie sind an der Erhaltung oder dem erfolgreichen Wirken der Organisation interessiert und setzen sich aktiv für die Boryokudan ein. Z.B. finanzieren sie die Banden21. Ihre Unternehmen bezeichnen wir als „BoryokudanFront-Unternehmen“ (BFU). Wir kennen 225 BF-Unternehmen in Japan. Sie begingen im Jahre 1995 205 aufgeklärte Straftaten. Davon erfüllten die meisten Taten (34) den Straftatbestand der Erpressung. Die Betrugsfälle nehmen die zweite Position ein. Folgende Geschäftsarten sind der Polizei bisher bekannt22:
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Vgl. Iishiba, a.a.O., S. 129. Vgl. Polizei-Jahrbuch 1996, S. 196 ff. Siehe dazu den Bericht der Polizei im Jahrbuch 1996, S. 198.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
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2. Bedrohung der Gesellschaft durch die Straftaten von Boryokudanmitgliedern Die Anzahl der aufgeklärten Straftaten von Boryokudanmitgliedern und QuasiMitgliedern betrug 1995 33.011. Davon wurden 11.699 Mitglieder strafrechtlich verfolgt23. Der Schwerpunkt der Polizeiarbeit richtet sich auf die Finanzierungsaktionen der Boryokudan, die gegen die Unternehmen gerichtete Gewalt, auf den Waffenschmuggel und auf die Verhaftung der Boryokudanmitglieder, insbesondere ihrer Führungen24.
C) Entwicklung der Boryokudan nach dem zweiten Weltkrieg I. Dreiteilung der Entwicklungsetappen der Boryokudan Die Geschichte der Boryokudan lässt sich in drei Etappen einteilen25: 1) Erste Periode (1945–1960): Die strukturelle Veränderung der klassischen Yakuza; 2) Zweite Periode (1961–1985): Die Zeit der Systematisierung und Verbreitung der Boryokudan; 3) Dritte Periode (seit 1985): Die Entstehung monopolisierter Verbrechensunternehmen26.
II. Die erste Periode (1945–1960) Sie begann mit dem Streit der Yakuza um die Vorherrschaft auf dem Schwarzmarkt27 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
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Vgl. Polizei-Jahrbuch 1996, S. 204. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Mitgl. / Quasimitglieder um 425 (1,3%) und Mitglieder um 1223 (9,5%) verringert. Vgl. Hidenori Yoshida, Zukünftige Richtung nach einjährigem Ablauf des Inkrafttretens des BBG, Jurist Nr. 1021 (1993), S. 112; Mita, Sosakenkyu, Bd. 44, H. 9, S. 29. Vgl. Iishiba, Boryokudan im strukturellen Wandel der japanischen Gesellschaft, Jurist Nr. 985 (1991), S. 59 ff.; Ders., oben genanntes Manual, S. 65 f. Über die Einrichtung von Unternehmen durch die Boryokudan vgl. Junichi Uchida, Der Charakterwandel des wirtschaftlichen Milieus, Keisatsugaku Ronshu, Bd. 43, H. 6, S. 41 ff. Als fundamentale Literatur zur soziologischen Forschung über Yakuza vgl. Hiroaki Iwai, Byori Shudan no Kozo, 1963. Vgl. auch Katoh, a.a.O. (Anm. 4), S. 105.
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Neben den traditionellen Glückspielern („Bakuto“) und Marktschreiern bzw. Budenbesitzern („Tekiya“) traten junge Banden auf, die als „Gurentai“ (wörtlich: Narren-Regiment) bezeichnet wurden. In der Zeit sozialer Wirren sorgten sie als lokale Yakuza in verschiedenen Orten, ihren Nawabari, mit Straftaten wie Erpressungen für ihren Lebensunterhalt28. Durch zahlreiche Machtkämpfe untereinander bildeten sich unter ihnen einzelne Gruppen heraus.
III. Die zweite Periode (1961–1985) Sie fällt in die Zeit des hohen Wirtschaftswachstums Japans. Die finanziell starken Banden sogen die schwächeren Boryokudan auf. Viele Gruppen gerieten so unter die Schirmherrschaft der starken. Dabei wandten die großen nicht nur ihre Finanzkraft, sondern auch Waffengewalt an. Sie wuchsen zu größeren Gruppen heran. So zählte man im Jahre 1959 erstmals 100.000 und 1963 184.031 Boryokudanmitglieder. Das war die höchste Mitgliederzahl, die je erreicht wurde. Zu Beginn der 60er Jahre begann die Polizei deshalb mit der „ersten Gipfelverhaftungsaktion“29. Unter den Verhafteten befanden sich zahlreiche Führungspersonen. Doch entließ man sie kurze Zeit später, und die Boryokudan konnten ihre Macht in den folgenden Jahren ausbauen. Die Polizei startete deshalb nach 1970 eine „zweite Gipfelverhaftungsaktion“. Dabei bestimmte sie zielbewusst sieben die „Präfektur überschreitende Boryokudan“ (Koikiboryokudan) und verhaftete mehrere Personen in verschiedenen Gebieten gleichzeitig. Im Herbst 1975 nahm sie dann die „dritte Gipfelverhaftungsaktion“ vor. Grund dafür waren die harten Kämpfe der Boryokudan untereinander mittels Waffen. Sie waren durch den Ölschock in finanzielle Schwierigkeiten geraten und führten deshalb mehr Schwarzimporte durch, als zuvor. Sie bedrohten das Leben der Bürger Japans in bedenklicher Weise. Danach wurden die Finanzierungsaktionen vielfältiger. Die Boryokudan betrieben Gaststätten, Immobilien, Bauunternehmen oder Geldinstitute. Die übergeordneten Organisationen finanzierten sich ohne Gewalttaten mit Hilfe von „Jonokin“ (Zollabgaben). Sie wendeten sich von der rohen Gewalt ab und wurden zu Profitgesellschaften.
28 29
Vgl. Iishiba, Jurist Nr. 985, S. 59. Dazu vgl. Hayashi, a.a.O., S. 36 ff.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
387
IV. Die dritte Periode (seit 1985) Sie lässt sich als die Zeit der Monopolisierung einzelner großer Gruppen bezeichnen: Die Boryokudan beteiligten sich mehr und mehr am Wirtschaftsleben Japans, wobei sie die Schwächen der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Institutionen ausnutzten30. Die auf verschiedene Weise gesammelten Gelder wurden nach Geldwäsche für weitere Investitionen verwandt. So wuchs die Finanzkraft der Banden um etliches und sie entwickelten sich zu Monopolen. Seit Ende der Blasenwirtschaft beeinflussen sie Unternehmensgesellschaften, die Politik und verschiedene Bereiche des bürgerlichen Lebens. Die bis 1991 vorhandenen Strafgesetze reichten für ein Vorgehen gegen die Boryokudan nicht mehr aus31.
D) Übersicht über das Boryokudan-Bekämpfungsgesetz und seine Anwendung I. Grundzüge des BBG 1. Zweck und Charakter Die Ziele des BBG ist in § 1 geregelt: Es sind: 1) die erforderlichen Normen gegen die gegenwärtigen Verlangenstaten durch Boryokudanmitglieder zu regeln; 2) notwendige Maßnahmen zum Schutz des bürgerlichen Lebens wegen Streitigkeiten zwischen feindlichen Boryokudan zu treffen und 3) die Initiativen ziviler gemeinnütziger Vereinigungen gegen die Boryokudan zu unterstützen. Diesem Zweck entsprechend enthält das BBG folgende verwaltungstechnischen Regelungen: Die Boryokudan sind als erstes gem. § 3 BBG von den einzelnen Sicherheitsausschüssen (Koaniinkai) in den Präfekturen allgemein zu bestimmen. Die Kriterien für die Auswahl sind in § 3 streng normiert32: 30
31 32
Das Keisatsucho regelte in Dezember 1986 das „Programm zur Gesamtstrategie gegen die Boryokudan“. Sie besteht aus der Bekämpfung der drei Hauptquellen, die die Boryokudan unterstützen: Massenverhaftungen, Einziehung der Waffen und Einschränkung der Finanzierungsmöglichkeiten. Zum Hintergrund der Gesetzgebung vgl. Hiroshi Ishizuke, Hintergrund der Gesetzgebung des BBG, Keisatsugaku Ronshu, Bd. 45, H. 1, S. 13 ff. Die Anforderungen der „Bestimmung“ lassen sich in drei Gruppen teilen: „materielles Ziel“ der betreffenden Organisation (§ 3 Abs. 1), „Prozentsatz der Vorbestraften“ (Abs. 2) und „hierarchische Struktur“ der Organisation (Abs. 3).
388
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Danach müssen die Vereinigungen kollektiv Verlangenstaten begangen haben. Nr. 1 des § 3 fordert, dass der Zweck der Vereinigung auf den Gewinn von Geld durch Gewalttaten gerichtet ist; Nr. 2, dass ein bestimmter Prozentsatz von Vorbestraften in der Vereinigung vorhanden ist, und Nr. 3, dass die Organisation hierarchisch strukturiert ist. Vor der Bestimmung müssen die Vereinigungen gem. § 5 öffentlich angehört werden. Nach § 6 sind dann sämtliche Ergebnisse der Sicherheitsausschüsse der Präfekturen dem staatlichen Sicherheitsausschuss vorzulegen. Erst wenn dieser die Voraussetzungen für die Bestimmung als erfüllt betrachtet, wird die Vereinigung zur Beobachtung und Bekämpfung bestimmt. Diese Bestimmung wird laut § 7 im Gesetzblatt veröffentlicht. Sie gilt gem. § 8 jedoch nur für drei Jahre. Letztlich können die Sicherheitsausschüsse nun nach §§ 13, 14 sofort Hilfe leisten, sobald sich ein Opfer meldet. Die Polizei muss also nicht wie bisher dem „Prinzip vom Nichteingriff in zivilrechtliche Streitigkeiten“ folgen.
2. Die Strafvorschrift des § 9 BBG wegen begangener „Verlangenstaten“ Diese Norm wurde mit dem Reformgesetz von 1993 eingeführt und enthält sechs neue Straftatbestände wegen widerrechtlicher Finanzierungsaktionen. Sie beinhaltet folgende Tatbestände: Nr. 1: zu Unrecht verlangte Gelder oder Waren unter Ausnutzung spezieller Kenntnisse über unmoralische oder widerrechtliche Handlungen des Opfers; Nr. 2: zu Unrecht verlangte Schenkungen; Nr. 3: zu Unrecht erfolgtes Fordern von Geschäftsaufträgen; Nr. 4: Verlangen von Platzgeld; Nr. 5: Fordern von Schutzgeld: Nr. 6: Fordern überhöhter Zinsbeträge bei bestehenden Schulden; Nr. 7: Verlangen von Schulderlässen ; Nr. 8: Fordern von Darlehensgewährungen; Nr. 9: Erpressung von ungewollten Kreditgeschäften der Effektenfirmen; Nr. 10: Zwang zum Kauf von Boryokudanaktien; Nr. 11: Vertreibung von Mietern und Pächtern, um an die Immobilien zu gelangen;
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
389
Nr. 12: Verhinderung von Ausschreibungen, um selbst an die Aufträge zu gelangen; Nr. 13: Zwang zum Vergleich in Zivilprozessen; Nr. 14: Verlangen von Geldern oder Waren unter einem falschen Vorwand, wie Warenmangel. § 11 BBG Abs. 1 enthält die für diese Straftaten notwendigen „Unterlassungsanordnungen“ (Chushimeirei) der Sicherheitsausschüsse. Besteht Wiederholungsgefahr, regelt der Absatz 2 des § 11 BGB die erforderlichen „Präventionsanordnungen“ (Saihatsuboshimeirei). In § 46 BBG sind dann die Sanktionen für den Verstoß gegen die Anordnungen bestimmt. Sie umfassen „Geldstrafen von bis zu einer Million Yen oder Gefängnis bis zu einem Jahr“.
3. Teilnahme Die Teilnahme ist ebenfalls in § 10 Abs. 1 BBG normiert: „Die Mitglieder der bestimmten Boryokudan dürfen weder beauftragt noch aufgefordert oder angestiftet werden, Gewalttaten zu begehen“. Absatz 2 verbietet die Beteiligung oder Unterstützung der Taten. § 12 regelt die Präventionsanordnung gegen die Straftatbestände des § 10 Abs. 1 und die Unterlassungsordnungen des Absatz 2. Nach § 47 Nr. 1 sind die Verletzungen der Anordnungen mit „Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe unter 500 Tausend Yen“ zu sanktionieren.
4. Regelungen zum Eintrittszwang § 16 schreibt vor, dass Mitglieder der angewiesenen Boryokudan Jugendliche33 nicht zum Eintritt zwingen dürfen. Die Präventionsanordnungen und die Sanktion bei Verstoß gegen diese sind in § 18 und § 47 Abs. 3 geregelt34. Allerdings fehlen Vorschriften zur Unterlassungsanordnung.
5. Unterstützung für Austrittswillige Nach § 28 Abs. 1 kann der Sicherheitsausschuss präventive und sonstige im Einzelfall erforderliche Maßnahmen für Austrittswillige vornehmen. Dazu 33 34
„Jugendliche“ sind gem. § 16 BBG Personen unter 18 Jahren. Vgl. Yoshida, Das System zur Verhinderung des Eintrittszwangs der Boryokudan und der Förderung des Austritts aus den Boryokudan, Hanzai to Hiko Nr. 94 (1992), S. 95 ff.
390
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
gehören die Suche eines Arbeitsplatzes für ausgetretene Personen, der präventive Schutz gegen Aktionen der Boryokudan und die Unterstützung bei der Resozialisierung.
6. Zentrum zur Förderung der Gewalt-Vertreibungs-Initiative Um den Taten der Boryokudanmitglieder vorzubeugen und den Opfern helfen zu können, ist es unerlässlich, die Aktionen der Bevölkerung gegen die Boryokudan zu fördern. Das BBG hat deshalb im fünften Kapitel die Errichtung von „Zentren zur Förderung der Gewalt-Vertreibungs-Initiativen in den Präfekturebenen“ eines jeden Landes (§ 31) bestimmt. Ein Zentrum ist für Gesamtjapan gem. § 32 zuständig. In jedem Zentrum einer Präfektur werden „Fachleute für die Gewalt-Vertreibung“ als Ratgeber eingesetzt. Die Zentren machen Werbung, unterstützen spontane Bürgerinitiativen und organisieren Aufklärungsveranstaltungen. Sie informieren die Bürger über typische Straftaten (§ 31 Abs. 2 Nr. 3), sprechen über die Beeinflussung Jugendlicher durch die Boryokudan (Nr. 4) und versuchen, Austrittswillige in ihrem Wunsch zu stärken (Nr. 5).
II. Statistische Daten zur Anwendung des BBG 1. Bestimmungen und Unterlassungsanordnungen Nach dem Inkrafttreten des BBG wurden bis jetzt insgesamt 25 BoryokudanOrganisationen für jeweils 3 Jahre bestimmt. Allerdings musste im Oktober 1995 eine Bestimmung widerrufen werden, weil die Organisation von einer anderen absorbiert wurde. So waren es Ende 1995 insgesamt 24 bestimmte Organisationen35. Die Anzahl der Unterlassungsanordnungen belief sich im selben Jahr auf 1.32136. Damit wurden seit Inkrafttreten des BBG 3.229 Anordnungen erlassen. 814 Anordnungen (61,6%) richteten sich dabei gegen Verlangenstaten i.S.d. § 9 BBG. In 437 Fällen (33,1%) wurden Leute vor dem Zwang zum Eintritt und vor der Austrittsverhinderung nach § 16 BBG bewahrt. Anordnungen wegen ungerechtfertigten Forderns von Schutzgeldern ergingen in 376 Fällen (28,5%). Mit dem Inkrafttreten des BBG waren die offensichtlich illegalen Finanzierungsmöglichkeiten der Boryokudan extrem eingeschränkt. Daher lässt sich vermuten, dass die legal erscheinenden Finanzierungsaktionen der BF35 36
Polizei-Jahrbuch für 1996, S. 205 f. Polizei-Jahrbuch für 1996, S. 207.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
391
Unternehmen wesentlich an Bedeutung gewonnen haben. Es ergingen gegen die sich auf diese Weise finanzierenden Boryokudan zahlreiche Anordnungen: gegen die Yamaguchigumi 536 (40,6%), gegen die Inagawakai 237 (17,9%) und gegen die Sumiyoshikai 189 (14,3%). Insgesamt „gehen“ 72,8% aller Unterlassungsanordnungen „auf deren Konten“37.
2. Austrittsförderung und Resozialisierung der Mitglieder Die eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten der Boryokudan wirken sich sowohl auf den Altersdurchschnitt der Mitglieder, als auch auf die Austritte aus den Organisationen aus. Sie sind für Jugendliche nicht mehr attraktiv genug, da man mit ihrer Hilfe nicht mehr genug Geld verdienen kann. Während die meisten Mitglieder im Jahre 1974 zwischen 20 und 30 Jahre alt waren, liegt der Altersdurchschnitt nun (1994) bei 40 bis 5038. Im Jahre 1995 sind ca. 550 Personen aus den Banden ausgetreten39. Damit sind es seit dem Inkrafttreten des BBG rund 2.700 Mitglieder weniger. In 31.263 Fällen wurden die Polizei oder Präfekturzentren informiert. Über bevorstehende Gewalttaten wurden sie in 9.344 (29%) Fällen unterrichtet. 1.922 Fälle (6,4%) bezogen sich davon auf Ein- oder Austritte. Zur Wiedereingliederung ehemaliger Boryokudanmitglieder hat man in jeder Präfektur „Beratungskomitees zur Resozialisierung“ eingerichtet. Hier arbeiten Vertreter der Polizei, der Präfekturzentren und Unternehmen zusammen. Durch diese Komitees haben im Jahre 1994 ca. 270 ehemalige Boryokudanmitglieder einen neuen Arbeitsplatz gefunden40.
E) Reformvorschläge zum Gesetz gegen die organisierte Kriminalität I. Bleibende Probleme des BBG Der Polizei erscheint das BBG für eine effektive Bekämpfung der organisierten Kriminalität nicht ausreichend, da die Banden sich mehr und mehr legal
37 38 39 40
Polizei-Jahrbuch für 1996, S. 207 ff. Mita, Sosakenkyu, Bd. 44, H. 9, S. 31.; Nobuo Hitomi, Erfolg und zukünftige Aufgabe des BBG, Hanzai to Hiko Nr. 106, S. 56 f. Polizei-Jahrbuch für 1996, S. 209. Mita, Sosakenkyu, Bd. 44, H. 10, S. 24.
392
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
verkleideter Mittel bedienen. Darum werden folgende Reformvorschläge gemacht41: 1) Errichtung einer verwaltungs- oder strafrechtlichen Institution (oder Instituts) zur Entziehung des illegalen Gewinns; 2) Verbot der Betriebe, bei denen davon auszugehen ist, dass sich die Boryokudan dort einmischen und von ihnen aus Gewalttaten begehen; 3) Errichtung eines rechtlichen Instituts, mit dessen Hilfe die Opfer schneller an ihren Schadensersatz gegen die Boryokudan gelangen können; 4) Regelungen gegen die Taten der Quasimitglieder und sonstiger die Boryokudan unterstützender Personen; 5) die verwaltungs- oder strafrechtliche Haftung der Organisation als solche oder des Anführers bei Gewalttaten der Untergeordneten und 6) die Schaffung von Informationsquellen über die Mitglieder der Boryokudan. Diese Vorschläge berühren jedoch die Betriebsfreiheit, die Organisationshaftung und den Schutz der individuellen Informationen. Sie würden möglicherweise eingeschränkt. Daher scheint mir eine vorsichtige Prüfung geboten.
II. Gesetzgebungsvorschlag zum „Gesetz gegen die organisierte Kriminalität“ Die damalige Justizministerin hat 1996 den Beratungsausschuss der Exekutive (Hoseishingikai) (Befragung Nr. 42) zur Vorlage eines Programms strafrechtlicher Bekämpfung der organisierten Kriminalität einberufen42. Themen waren: die Schaffung von Straftatbeständen gegen organisierte Gewalttaten, die Bestrafung wegen der Errichtung eines Betriebes aus illegalen Gewinnen, die Erweiterung des Anwendungsbereichs von Verfall und Einziehung, das Abhören elektronischer Kommunikationsmittel auf gerichtlichen Erlass hin, Normen zum Zeugenschutz und zum Verfahren hinsichtlich des Verfalls.
41
42
Einige der genannten Reformvorschläge sind schon am Anfang des Gesetzgebungsprozesses als „Grundgedanken des Gesetzesentwurfes zur Bekämpfung gegen die Boryokudan“ am 27. Februar 1991 von Keisatsucho (Strafrechtsabteilung) veröffentlicht worden. Vgl. Katoh, Jurist Nr. 985 S. 52; Ders., a.a.O., (Anm. 4), S. 155 ff.; Uchida, BBG – Bleibende Aufgabe und künftige Aussicht, Keisatzugaku Ronshu, Bd. 45, H. 1, S. 71. Zum Inhalt dieser Befragung vgl. Jurist Nr. 1103, S. 165 ff.; Homusho, a.a.O. (Fn. 3), S. 145 ff.
§ 21. Bekämpfungsstrategien gegen organisierte Kriminalität
393
Der Grund für die Gesetzesreform liegt laut der „Kurzen Erklärung der zuständigen Abteilung“ im Justizministerium in folgendem: „Neuerdings nehmen die organisierten Straftaten im Bereich des Drogen- und Waffenhandels durch die Boryokudan zu. Auch die brutalen Straftaten in der Form der growie, z.B. die der Aum-Sekte. Die enorme Wirtschaftskriminalität wie das betrügerische Lasterhandelssystem43 wird unter Ausnutzung juristischer Personen wie Firmen begangen. Sie bedroht mehr und mehr das friedliche bürgerliche Leben. Darüber hinaus müssen sie die Erhaltung und Weiterentwicklung der gesunden Gesellschaft und Wirtschaft bedrohen“.
Der Beratungsausschuss der Strafrechtsabteilung legte dann am 11. November 1996 „einen Referentenentwurf zur erneuten strafrechtlichen Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ vor, der im Mai 1997 nach einer Reihe von Sitzungen fertiggestellt wurde. Danach umfasst der Begriff der organisierten Kriminalität nicht nur die Straftaten der Boryokudan, sondern auch verschiedene andersartig organisierte Straftaten. Da diese Reform wesentliche Änderungen der bisherigen straf- und strafprozessrechtlichen Theorien und Praxen beinhaltet, wird heftig Kritik geübt44. Es fragt sich auch, ob dieser Vorschlag erforderlich und geeignet ist45. Vor allem protestieren viele gegen die Abhörbefugnis, denn sie wirft nicht nur verfassungsrechtliche Bedenken auf, sondern ihre Voraussetzungen sind zudem recht unbestimmt46. Zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass sich dieser Beitrag leider nur auf die Boryokudan als typisches Beispiel beschränkt. Sie sind nur ein Teil der organisierten Kriminalität Japans. 43
44
45 46
Als deutschsprachige Literatur über das „Lasterhandelssystem“ (Akutokushoho) vgl. Keiichi Yamanaka, Die gegenwärtige Aufgabe des Wirtschaftsstrafrechts in Japan, in: Kühne/Miyazawa, (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1996, S. 92 ff. Asada / Odanaka / Kawasaki / Takada / Murai, Gegenmeinung zur „Bekämpfung gegen organisierten Kriminalität“, Hogaku Seminar Nr. 506, S. 112 f.; Kazushige Asada, Fragliche Probleme der Bekämpfungsgesetzgebung gegen die organisierte Kriminalität, Horitsu Jiho, Bd. 68, H. 13, S. 2ff.; Kenichi Nakayama, Zur Strafqualifizierung der organisierten Kriminalität, Horitsu Jiho, Bd. 69, H. 3, S. 39 ff.; Shinichi Ishizuka, Fragliche Probleme der materiellen Vorschriften im Bekämpfungsgesetz gegen die organisierte Kriminalität, Hogaku Seminar Nr. 507, S. 4 ff. Fusaki Odanaka / Katsuhiko Iimuro, Wie soll man über die Bekämpfungsgesetzgebung gegen die organisierte Kriminalität denken?, Hogaku Seminar Nr. 508, S. 16. Yasunari Hisaoka, Fragliche Probleme der Abhör-Gesetzgebung, Kikan-Keijibengo Nr. 9, S. 10 ff.; Hideaki Kawasaki, Verfassungsrechtliche Probleme der Abhör-Gesetzgebung, Horitsu Jiho, Bd. 69, H. 4, S. 47 ff.; Odanaka / Iimuro, Hogaku Seminar Nr. 508, S. 19 ff., Nr. 509, S. 16 ff. Umfassende Forschung zur Abhör-Gesetzgebung, die als Serie in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, b. Masahito Inoue, Jurist Nr. 1103, S. 73 ff.
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik – Ist der Sicherheitsmythos in Japan zusammengebrochen? –
I. Sieben Mythen in Bezug auf die Kriminalität in Japan 1. „Sicherheitsmythos“ Dass die Kriminalitätsrate in Japan im Vergleich mit anderen modernen Ländern unvergleichbar gering und die Aufklärungsquote sehr hoch ist, war und ist eine allgemeine Erkenntnis und sogar schon ein Mythos unter den Kriminologen. Japan ist, geographisch gesehen, eine Insel und auch historisch gegenüber Außen ziemlich abgesichert. Nur im 13. Jahrhundert (1274 und 1281) war es durch die zweimalige Invasion der Mongolen in der Zeit der Herrschaft von Kublai Khan gefährdet, wurde aber dank des Götterwinds (=Kamikaze, in Wirklichkeit Taifun) gerettet. Eine Besatzung gab es nur nach dem zweiten Weltkrieg durch die USA. Aber nicht nur die Sicherheit nach außen, sondern auch die Sicherheit im Innern hat sich während der Edo-Zeit1 (Zeit des Tokugawa Shogunats: 1603–1867) und auch nach der Meiji-Revolution ständig relativ gut gehalten. Selbst in der Zeit der Unordnung und Verwirrung nach dem Zweiten Weltkrieg war die Kriminalitätsrate nicht besonders auffällig. In Japan gibt es ein Sprichwort: „Wasser und innere Sicherheit sind in Japan kostenlos“. Bis vor kurzem war dieser „Sicherheitsmythos“ in der Welt verbreitet. Neuerdings scheint er aber in Frage gestellt worden zu sein. Was die Kriminalität bzw. die Strafjustiz anbetrifft, so war und vielleicht noch ist Japan ein Wunderland. Hier sind einige auffällige Züge vor allem aus der jährlichen Kriminalitätsstatistik in Japan, also dem „Weißbuch zur Kriminalität“ (White Paper on Crime) als sieben Thesen, die ich hier als „sieben Mythen“ bezeichnen will, zusammenzufassen und darauf hin zu überprüfen, ob sie wirklich stimmen. 1
Seit 1633 bis 1853 hat das Shogunat jeden Verkehr mit dem Ausland außer den Niederlanden, China und Korea verboten. Nach außen war das Land damit gesichert.
396
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
2. Geringe Kriminalität und hohe Aufklärungsquote Erstens sei die Anzahl der Kriminalfälle in Japan erstaunlich gering, wenn man sie mit anderen Ländern vergleicht (Tabelle 1). (Mythos 1) In Japan sind im Jahre 2006 2.877.027 Fälle registriert worden. Die begangenen Deliktarten sind so verteilt, wie Schaubild 1 zeigt. Im allgemeinen zeigt die Anzahl der registrierten Straftaten in Japan eine abnehmende Tendenz, wenn man 2005 und 2006 vergleicht (Tabelle 2). Man muss jedoch noch aus einer längeren Perspektive die plötzliche Steigerung der Anzahl etwa seit 2000 beachten. So gesehen bedeutet die oben gezeigte abnehmende Tendenz von 2005 bis 2006 nur, dass die erhöhte Zahl auch mal wieder sinkt. Seit 2000 hat sich die Zahl plötzlich gesteigert und die zahlenmäßige Spitze war im Jahre 2002 erreicht. Zweitens sei die Aufklärungsquote in Japan ziemlich hoch (Mythos 2). Aber auch hier ist die Quote im Jahre 2005 in Vergleich mit 1995 ziemlich gesunken. Sie sieht schon als fast gleich mit Großbritannien aus (Tabelle 1). Straftaten/Jahr 1995 2000 2005
BRD 6.668.717 6.264.723
UK 4.885.944 5.170.843
Japan 1.782.944 2.443.470
6.391.715
5.555.174
2.269.572
Aufklärungsquote/Jahr 1995 2000
BRD 46,0 53,2
UK 21,2 20,5
Japan 42,2 23,6
2005
55,0
23,8
28,6
Tabelle 1 Straftaten und Aufklärungsquote in BRD, UK und Japan von 1995 bis 20052 Anzahl der regisrtierten Straftaten Straftaten Allgemeine Straftaten Allgemeine Straftaten ausschl. Diebstahl
Anzahl der Fälle 2.877.027 (3.125.216) 2.051.229 (2.269.572) 516.701 (544.500)
Verminderung im Vergleich zum Vorjahr -7,9% (-8,8%) -9,6% (-11,4%) -5,1% (-6,4%)
Anzahl d. Personen bei den aufgekl. Straftaten Straftaten Allgemeine Straftaten Allgemeine Straftaten ausschl. Diebstahl
1.466.834 (1.278.479) 384.630 (387.234) 196.976 (193.115)
-2,9% (-0,8%) -0,7% (-0,5%) +2,0% (-0,5%)
Tabelle 2 Statistik der Kriminalität von 2006 (und 2005)3 2
3
White Paper on Crime von 2007, S. 39: Nach den Statistiken von Frankreich (Criminalité et délinquence constatées en France), Deutschland (Polizeiliche Kriminalstatistik), UK (Crime in England and Wales). Die jap. Statistik ist vom Polizeipräsidium erstellt. In dieser Tabelle werden die abgekürzten Begriffe wie folgt verwendet (Vgl. White Paper on Crime von 2007, Abkürzungen): (1) Straftaten=Verstöße gegen StGB und
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
397
Hausfriedensbruch 1.1 1% 3%
Betrug 2.5 3%
Unterschlagung 3.3 7%
29%
1% 1% 0% 2%
Sachbeschaedigung 6.8 Koerperverletzung 1.2
Gesamtanzahl: 2.877.027
Gewaltuebung 1.1 Erpressung 0.3 sonst. 1.6
53% Diebstahl 53.3 Geschaeft. Fahrlaess. bei Verkehr 28.7
Schaubild 1 Der proportionale Anteil der registrierten Straftaten (StGB) je nach den Deliktsarten in 2006 (White Paper on Crime, 2007, S. 6.)
3. Verschlechterung der Sicherheit seit 2000 Wenn man die Bewegungen der Kriminalität nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan insgesamt sieht, so lässt sich ihr Wandel aus der unten dargestellten Graphik ersehen (Schaubild 2). Die Anzahl der registrierten Kriminaltaten war gerade nach dem Ende des Krieges, also während der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwirrung, nicht so hoch wie heute. In den 70er Jahren hat sich die Anzahl etwas erhöht, aber sie ist danach wieder gesunken. Im Vergleich mit den 70er Jahren ist die Zunahme nach 2000 sehr auffällig. Es ergibt sich aus der grafischen Darstellung, dass die Spitzenlinienform (1=dunkler Teil) und (2=heller Teil) nach 2000 sich plötzlich als steiler Berg vermehrt, im Gegensatz zu der Linie (3), die einen milderen Hügel bildet (3=grauer Teil). Das bedeutet, dass unter der gesamten Kriminalität während dieser Frist der Diebstahl auffällig zugenommen hat. Im Gegensatz dazu hat die AufklärungsNebenstrafrecht (Das bedeutet, Straftaten inklusiv der Fahrlässigkeitsdelikte, die bei geschäftlichen Tätigkeiten begangen sind.) (2) Allgemeine Straftaten =Straftaten ausschließlich der Fahrlässigkeitsdelikte, die bei geschäftlichen Tätigkeiten begangen sind. (3) Allg. Straftaten ausschließlich Diebstahl. Weil die bei geschäftlichen Tätigkeiten fahrlässig begangenen Tötungs- oder Körperverletzungsdelikte vor allem bei Verkehrsunfällen enorm viele sind, kann die Statistik die Charakteristika der Kriminalitätstendenz in einem Jahr nicht zeigen, wenn man diese Delikte mitberücksichtigt. Das gilt auch für Diebstahl. Deswegen muss man die Statistiken auch ausschließlich dieser beiden Deliktsarten verwenden.
398
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
quote seit 2000 ziemlich abgenommen (Schaubild 4). Die Schaubilder 1 und 2 zeigen, dass die Aufklärungsquote nicht nur beim Diebstahl, sondern auch bei den anderen Straftaten abgenommen hat.
Schaubild 2 Wandel der Anzahl der registrierten Straftaten und der ermittelten Personen (White Paper on crime 2007, S. 4)4
Schaubild 3 Wandel der Aufklärungsquote Straftaten (ebd., S. 8)5
4
5
A: Anzahl der ermittelten Personen, B: Anzahl der ermittelten Personen, die allgemeine Straftaten ausschließlich Diebstahl begangen haben, C: Anzahl der ermittelten Personen bei den allgemeinen Straftaten, (1) Anzahl der registrierten Straftaten, (2) Anzahl der registrierten allgemeinen Straftaten, (3) Anzahl der registrierten allgemeinen Straftaten ausschließlich Diebstahl. Das Weißbuch zur Kriminalität zählt die Ära in der japanischen Weise nach der Regierungszeit des jeweiligen Tenno: Der vorige Tenno ist 1989 gestorben. Damit war die Ära „Showa“ beendet. Im gleichen Jahr hat der gegenwärtige Tenno den Thron be-
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
399
Schaubild 4 Wandel der Anzahl der registrierten Straftaten und Aufklärungsquote (White Paper on Crime 2007, S. 9)6
4. Informelle Sozialkontorolle? Was ist nun der Grund dafür, dass die Anzahl der registrierten Kriminalität in Japan so gering ist? Dies wird im allgemeinen damit erklärt, dass die informelle Sozialkontrolle in Japan sehr stark sei, so dass man unter der Aufsicht der Nachbarn oder der Familie bzw. des Arbeitsplatzes abweichende Taten nicht so leicht begehen könne. Diese Erklärung kann man als den „Mythos der starken informellen Sozialkontrolle als Ursache der geringeren Kriminalität“ bezeichnen (Mythos 3).
5. Extrem hohe Verurteilungsquote Unten ist eine Tabelle bezüglich der Anzahl aller abgeurteilten Personen, nämlich der 1996 verurteilten und der in der Zeit von 2000 bis 2006 verurteilten Personen. Die Freisprechungsrate ist in Japan stets außerordentlich klein. Nur etwa 0,1% aller abgeurteilten Angeklagten wurden freigesprochen. Man kann diese Erscheinung als „Mythos der hohen Verurteilungsrate“ bezeichnen (Mythos 4).Wenn man diese hohe Rate der Verurteilung vor Gericht betrachtet, dann muss man das Opportunitätsprinzip in Japan berücksichtigen. Die Staatsanwaltschaft braucht nicht bei allen verdächtigen Taten Anklage zu erheben. Nach der japanischen StPO darf der Staatsanwalt ohne Zustimmung des
6
stiegen. Es hat die neue Ära „Heisei“ begonnen. Deswegen ist 1989 Heisei 1. Wenn man je 5 Jahre bei der grafischen Darstellung das Jahr zeigt, ist das nächste Stichjahr 1993. Es folgt 1998, 2003 usw. Ich habe die Zählungsweise auf den westlichen Kalender umgestellt. 1.Allgemeine Straftaten ausschließlich Diebstahl, 2. Straftaten insgesamt, 3. Allgemeine Straftaten, 4. Diebstahl. (a) Aufklärungsquote, (b) Anzahl der registrierten Straftaten.
400
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Richters das Verfahren einstellen. Im Jahre 2006 wurde insgesamt bei ca. 2,07 Millionen Personen der Fall durch die Staatsanwaltschaft erledigt. Darunter wurden 138.029 (6,6%) Personen zur Hauptverhandlung gebracht, bei 660.101 (31,8%) Personen kam es zu einem Strafbefehl, bei 991.401 (47,7%) Personen zur Einstellung, bei 92.637 (4,5%) Personen zur sonstigen Nicht- Anklageerhebung und bei 194.609 (9,4%) Personen zum Verfahren vor dem Familiengericht (vgl. unten Schaubild 8). Dass bei 47,7% der Verdächtigen das Verfahren eingestellt wird, ist im Verhältnis sehr viel. Man kann sagen, dass die Staatanwaltschaften nur die wichtigen Fälle, bei denen sie mit Sicherheit mit der Verurteilung des Angeklagten durch das Gericht rechnen können, vor die Gerichte gebracht haben. Die Gerichte in Japan sind für ihre präzisen Beweisführungen bekannt. Man bezeichnet diese Methode als „Präzisionsjustiz“7. Aber sie haben in Wirklichkeit vollständiges Vertrauen an die Bewertung des Tatverdachts durch den Staatsanwalt, weil die Verurteilungsquote mehr als 99,9% ist. Jahr 1996 2000 2001
Insgesamt 1.073.3227 986.914
Freispruch 45 46
967.138
44
2002 2003
924.374
73
877.070
80
2004
837.528
94
2005
782.471
66
2006
738.240
82
Tabelle 3 Anzahl aller abgeurteilten und freigesprochenen Personen (Aus: White Paper on Crime 2007, S. 51) Deliktart Insgesamt Vergewaltigung usw. Brandstiftung Tötungsdelikte
Gesamtzahl 74.181 2.420
Freispruch 92 9
Freispruchrate 0,1 0,4
461
3
0,7
710
6
0,8
Tabelle 4 Aburteilung und Freispruch durch LG und Familiengericht (Aus: White paper on Crime 2007, S. 52)
7
Die Dysfunktion der Justiz war ein Grund für die Gründung der Law Schools in Japan. Vgl. Yamanaka, Juristenausbildung in Japan – Law School japanischer Art – in: Jehle / Lipp / Yamanaka, Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, 2007, S. 249 ff.
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
401
Einstellung 6,6
9,4
4,5
Strafbefehl
Hauptverhandlung
31,8
47,7
Familiengericht
Sonstige NichtAnklageerhebung
Schaubild 5 Prozentsatz der Arten der Fallerledigung durch die Staatsanwaltschaft im Jahre 2006 (Aus: White Paper on Crime, 2007, S. 49)
6. Niedrige Strafmaße und wenige Strafgefangene Wenn man nun seinen Blick auf die durch die Gerichte ausgesprochenen Strafen wendet, so ist das Strafmaß ziemlich gering. Diese Erscheinung ist als Mythos der kurzen im Gefängnis zu verbüßenden Strafzeit zu bezeichnen (Mythos 5). Tabelle 5a, Tabelle 5b zeigen die befristeten Freiheitsstrafen (Zuchthaus- und Gefängnisstrafe), Tabelle 6 zeigt die Verhängung der Todesstrafe und der unbefristeten Freiheitsstrafen durch die ersten Instanzen in den letzten 10 Jahren. Die durchschnittlich am meisten zugemessene Frist ist die von 1 bis zu 2 Jahren (etwa 41%). Eine Strafe über 20 Jahre wurde nur in sehr wenigen Fällen verhängt. Die Verhängung der Todesstrafe hat zugenommen. Wie man aus der unteren Tabelle 6 ersehen kann, hat sich die Anzahl der Fälle, in denen die Todesstrafe verhängt wurde, vervielfacht. Im Jahre 2004 wurde die Obergrenze des Strafrahmens für die Freiheitsstrafe (d.h. Zuchthaus- und Gefängnisstrafe) erhöht. Bisher war die Obergrenze der befristeten Freiheitsstrafe 15 Jahre. Der Gesetzgeber hat sie bis zu 20 Jahren verlängert(§ 12, § 13 jStGB). Die Begründung war, dass das durchschnittliche Lebensalter der Menschen seit der Zeit der Gesetzgebung (1907) wesentlich länger geworden ist. Damals war es nur etwa 50, heutzutage etwa 80 Jahre. Die damaligen 15 Jahre entsprächen heute 20 Jahren. Daher kann man voraussehen, dass die ausgesprochene Strafe im allgemeinen länger wird. Im übrigen kann man aus verschiedenen Gründen die Tendenz erkennen, dass die Gerichte schwerere Strafen als bisher verhängen werden. Wenn jemand z.B. aus Mangel an Sorgfalt einen Verkehrsunfall mit Todesfolge verursacht, konnte er bisher nach § 211 jStGB (geschäftliche fahrlässige Tötung) mit
402
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Zuchthausstrafe von maximal 5 Jahren bestraft werden. Heute wird er nach § 211 Abs. 2 mit einer 7-jährigen Zuchthausstrafe bestraft8 oder, wenn er im gefährlichen Zustand den Wagen gefahren und so einen Menschen aus Mangel an Sorgfalt zu Tode gebracht hat, mit einer maximal 20-jährigen Zuchthausstrafe (§ 208a jStGB). Man kann voraussehen, dass die Strafzumessung im allgemeinen dann härter wird, wenn die Beteiligung von Laien am Strafverfahren und vor allem auch an der Strafzumessung nach der Einführung des japanischen Schöffengerichtssystems 2009 verwirklicht wird. Denn der Wunsch, die Strafen zu verschärfen, scheint in der Bevölkerung zur Zeit sehr stark zu sein. Gesamt
20 J–25
15–20
10–15
5–10
3–5
2–3
2–1
1–6 M
bis 6 M
76.264 100%
3 0,0
136 0,2
392 0,5
1.764 2,3
4.027 5,3
24.330 31,9
31.598 41,4
11.107 14,6
2.907 3,8
Tabelle 5a Befristete Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, die durch LG ausgesprochen wurden, im Jahr 20059 (White Paper on Crime, 2006, S. 55) Gesamt
30 J–25
25–20
20–15
15–10
10–5
5–3
3–2
2–1
1–6 M
bis 6 M
72.339 100%
9 0,0
17 0,0
137 0,2
357 0,5
1.655 2,3
3.853 5,3
22.532 31,1
29.994 41,5
11.279 15,6
2.506 3,5
Tabelle 5b Befristete Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, die durch LG ausgesprochen wurden, im Jahr 2006 (White Paper on Crime, 2007, S. 56) Todesstrafe
Unbefristete Freiheitsstrafe
Jahr
Insgesamt
Tötung
Raub mit Todesfolge 2 2
Insgesamt
Tötung
33 47
5 13
Raub mit Todesfolge 25 34
1997 1998
3 7
1 5
1999
8
4
4
72
22
45
2000
14
6
8
69
20
47
2001
10
5
5
88
20
62
2002
18
12
6
98
22
72
2003
13
9
4
99
15
80
2004
14
9
5
125
33
82
2005
13
11
2
119
38
77
2006
13
2
11
99
26
71
Tabelle 6 Todesstrafe und unbefristete Zuchthausstrafe, die durch LG ausgesprochen wurden, seit 1997 bis 2006 (White Paper on Crime, 2007, S. 55) 8 9
§ 211 Abs. 2 ist die Vorschrift über die fahrlässige Tötung und Körperverletzung während der Fahrt des Wagens. Der Begriff „Wagen“ beinhaltet auch Motorrad. Bei Tabelle 5 und 6 hat die Frist der Freiheitsstrafe (wie z.B. 20J–15J) hat folgende Bedeutung: Die Obergrenze der Strafe bedeutet „inklusiv 20 Jahre“. Die Untergrenze der Strafe bedeutet dagegen „ausschließlich 15 Jahre“. Im Jahre 2005 gab es keine ausgesprochenen Strafen zwischen 30–25 Jahren.
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
403
Wie hoch ist die Zahl der in Wirklichkeit einsitzenden Gefangenen in Japan? Wie man dem unten stehenden Schaubild entnehmen kann, war die Zahl der Strafgefangenen in den Strafanstalten vor allem in den 90er Jahren erkennbar niedrig. Aber seit der letzten Hälfte der 90er Jahre ist sie gestiegen. Der Mythos der geringen Anzahl der Strafgefangenen (Mythos 6) scheint schon zusammengebrochen zu sein. Die Anzahl der aufgenommenen Gefangenen überschreitet zur Zeit die Kapazität aller Strafanstalten. Das Schaubild 6 zeigt, dass die Anzahl der Insassen in den Strafanstalten seit etwa 2000 die gesamte Kapazität der Strafanstalten überschritten hat. Zum Zeitpunkt des 31. Dezember 2006 war der numerus clausus der gesamten Strafanstalten 79.375 Personen (darunter 62.077 Strafgefangene). Die Anzahl der Insassen insgesamt belief sich auf 81.255 (darunter 71.408 Strafgefangene). Die Anzahl ist nicht so gering, wenn man sie mit der Situation in Deutschland vergleicht. Im Jahre 2006 gab es als Gefangene und Sicherungsverwahrte in den Justizanstalten insgesamt 81.383 Personen10. Während die Gefangenenrate von 2003 bis 2004 in Deutschland den Wert 96 zeigt, liegt sie in Polen bei 20811. Deswegen ist die Anzahl der Strafgefangenen in Japan wesentlich geringer als in Polen. (%) Strafgefangene
120
115.0
110 102.4
100 Insgesamt
90 80 70 60
56.9 Untersuchungshaeftlinge
50 40 0
~ ~
1987
89
93
98
2003
2006
Schaubild 6 Wandel der Aufnahmequote der Strafanstalten seit 1987 bis 2006 (White Paper on Crime, 2007, S. 59)
7. Erfolglose Boryokudan-Bekämpfungsstrategie? Warum kennt das Ermittlungsorgan die ausführliche Statistik zu den Boryokudan? Das ist der Mythos 7, weil es schwer verständlich ist, warum diese genau10 11
Bundesministerium des Inneren / Bundesminisiterium der Justiz, Zweiter Periodische Sicherheitsbericht, 2006, S. 608. A.a.O. (Fn.7), S. 609.
404
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
en Kenntnisse und die Erfassung der Mitgliedschaft nicht zur totalen Bekämpfung der Boryokudan führen können. Eine Antwort liegt darin, dass es keine Regelung im StGB bzw. in den Nebenstrafgesetzen gibt, auf Grund deren jemand wegen bloßer Mitgliedschaft bestraft werden könnte12. Im Zusammenhang mit diesem Mythos sind die gegenwärtige Lage und die Tendenzen der Aktivitäten der Boryokudan zu referieren: Im Hinblick auf die Mitgliedschaft in einem Boryokudan lassen sich zwei Kategorien unterscheiden: Mitglied und Quasi-Mitglied. Sie stammen aus einem Gesetz, dem „Boryokudan-Bekämpfungs-Gesetz“ (BBG). Es wurde am 15. März 1991 verkündet und trat am 1. März 1992 in Kraft. Im Jahre 1993 wurde es reformiert und neu veröffentlicht13. Was ist unter dem Begriff Boryokudan zu verstehen? Das Gesetz definiert „Boryokudan“ in § 2 Nr. 2 als eine „Vereinigung, die die Gefahr begründet, dass sie ihre Mitglieder bei kollektiven bzw. gewöhnlichen Gewalttaten unterstützt“. Das japanische Wort „Boryokudan“ bedeutet seinem ursprünglichen Sinn nach „gewalttätige Gruppe“. Das wesentliche Merkmal des Gesetzes besteht darin, dass es kein Nebenstrafgesetz, sondern ein Verwaltungsgesetz ist. Die wichtige Aufgabe des Gesetzes liegt darin, in bezug auf die unrechtmäßige Einforderung von Geld, Sachen usw. durch die Boryokudanmitglieder die erforderlichen Regelungen festzulegen und die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um Gefahren für das bürgerliche Leben durch Streitigkeiten zwischen feindlichen Boryokudanvereinigungen abzuwenden14. Die Mitglieder von Boryokudan dürfen weder beauftragt noch aufgefordert oder angestiftet werden, Gewalttaten zu begehen (§ 10 Abs. 1 BBG). Deswegen haben die Banden die Zahl ihrer Mitglieder nicht mehr viel vermehrt. Stattdessen lassen sie die Anzahl der Quasi-Mitglieder auffallend ansteigen. Nach dem Inkrafttreten des BBG hat sich die Tendenz, die Mitglieder zu den Quasi-Mitgliedern zu verschieben, beschleunigt. Im Jahre 1995 sind ca. 550 Personen aus den Banden ausgetreten. Damit sind es seit dem Inkrafttreten des BBG rund 2.700 Mitglieder. In 31.263 Fällen wurden Polizei oder Präfekturzentren informiert. Über bevorstehende Gewalttaten wurden sie in 9.344 (29%) Fällen unterrichtet. 1.922 Fälle (6,4%) bezogen sich 12
13 14
Das „Gesetz zur Umsturzverhütung“ (1952), das politische Gruppen regulieren will, hat keine Strafvorschrift, nach der die bloße Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe bestraft werden könnte. Das Staatssicherheitskomitee kann die Gruppe auflösen, wenn sie bestimmte Merkmale erfüllt. Es hat auch keinen Zweck, das Gesetz als Instrument des Kampfes gegen Boryokudan zu verwenden. Dazu vgl. Yamanaka, „Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan“, in: Festschrift Kaiser, 1998, S. 1001 ff. Yamanaka, a.a.O., S. 1002.
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
405
davon auf Ein- oder Austritte15. Die Tendenz der langsamen Zunahme der Mitgliederzahl und des auffälligen Ansteigens der Zahl der Quasi-Mitglieder wird unten in der Tabelle 7 sichtbar. Von insgesamt 84.700 Mitgliedern gehörten im Jahre 2006 etwa 31.600 Personen zu den drei großen Boryokudan-Banden16: Yamaguchigumi, Inagawakai und Sumiyoshikai. Die Monopolisierung durch diese drei Banden scheint weiter voranzuschreiten. Zu diesen drei großen Boryokudan gehören 76% aller Boryokudanmitglieder. Schaubild 7 zeigt den Anteil der Banden an Mitgliedern und Quasimitgliedern graphisch.
Jahr
Gesamtanzahl
(%)
Mitglieder
(%)
Quasi-Mitglieder
(%)
1997 2000
80.100 83.600
(100,0) (104,4)
44.700 43.400
(100,0) (97,1)
35.400 40.200
(100,0) (113,6)
2001
84.400
(105,4)
43.100
(96,4)
41.300
(116,7)
2002
85.300
(106,5)
43.600
(97,5)
41.700
(117,8)
2003
85.800
(107,1)
44.400
(99,3)
41.400
(116,9)
2004
87.000
(108,6)
44.300
(99,1)
42.700
(120,6)
2005
86.300
(107,7)
43.300
(96,9)
43.000
(122,0)
2006
84.700
(105,7)
41.500
(92,8)
43.200
(122,0)
Tabelle 7 Anzahl von Boryokudan-Mitgliedern (White Paper on Crime, 2007, S. 107)
Yamaguchigumi 25,6
Inagawakai
13,5
45,1
Sumiyoshikai
15,8
Sonstige
Schaubild 7 Die drei großen Boryokudan-Gruppen und sonstige (White Paper on Police 2003, S. 43 )
15 16
Yamanaka, a.a.O., S. 1015. Ich habe diese drei große Banden als „Gulliver“ der Organisation bezeichnet.
406
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Im folgenden wird vor allem die Frage geprüft, ob die überlieferten Mythen ihren Grund verloren haben. Es handelt sich um die Frage nach der geringeren Anzahl der Kriminalfälle (Mythos 1), der hohen Aufklärungsquote (Mythos 2), die Frage, ob in der Wirklichkeit die informelle Sozialkontrolle wirksam funktioniert (Mythos 3), und die letzte Frage, wie die Tätigkeiten zur Bekämpfung der Boryokudan zur Zeit laufen (Mythos 7).
II. Warum hat die registrierte Anzahl von Kriminalfällen seit 2000 plötzlich zugenommen? Wurden in Japan seit 2000 tatsächlich häufiger Straftaten begangen als vorher? Warum hat sich die Zahl der registrierten Straftaten so plötzlich erhöht? Es ist bekannt, dass die aktive polizeiliche Ermittlungstätigkeit auf die statistischen Resultate Einfluss hat. Die erste Vermutung wäre deswegen die mögliche Änderung der polizeilichen Tätigkeiten um das Jahr 2000. In der Tat ist es erkennbar, dass die Polizei ihre passive Grundhaltung gegenüber zivilen Konfliktsfällen in dieser Zeit dramatisch geändert hat: Der Anlass war ein Stalking-Fall (Nachstellungsfall), der in Oktober 1999 in Okegawa in der Saitama-Präfektur vorgekommen ist (sog. Okegawa-Stalking-Fall). Bei diesem Fall wurde eine Studentin durch hartnäckige und extreme Nachstellungen des Täters und seiner Begleiter erheblich belästigt. Das Opfer hat Rat bei der Polizei gesucht, aber die Polizei hat nichts unternommen und sogar nachher die Unterlagen zum Fall verfälscht, um die Vernachlässigung der Sache zu verbergen. Inzwischen ist das Opfer vom Täter getötet worden. Die Polizei war im allgemeinen bei Stalking-Fällen sehr zurückhaltend. Beim OkegawaStalkingfall hat sich die Polizei nach dieser Regel passiv verhalten. Diese passive Haltung der Polizei wurde nachher allgemein, vor allem in den Medien, sehr kritisiert. Diese Kritik hatte in der Praxis zwei Folgen: Erstens ist danach das „Stalking-Verbots-Gesetz“ (=Das Gesetz zur Regelung der Stalking-Verhaltensweise) am 24. Mai 2000 in Kraft getreten. Zweitens ist die Polizei seither nicht nur im Bereich des Stalking, sondern auch in anderen Bereichen, wie bei Streitigkeiten um Geldschulden bzw. Streitigkeiten unter Eheleuten, sehr aktiv geworden. Eine Reihe von Erlassen der Polizeiamtsspitze seit 2000 hat die „Durchführung von Tätigkeiten zur Vorbeugung gegen Verbrechen“ gefordert und die positive Behandlung des in Bezug auf
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
407
Sicherheit ratsuchenden Bürgers. Die Polizei begann danach, die Fälle, in denen sie bisher nicht interveniert hat, zu bearbeiten17. Vermutlich ist jedoch auch die veränderte und streng gewordene Haltung des Bürgers gegenüber Bagatelldelikten eine weitere Ursache der Vermehrung der registrierten Straftaten. Gegenüber Schadenszufügung ist die Bevölkerung nicht mehr so tolerant wie früher. Die soziale Aufmerksamkeit, die dem Verbrechensopfer im allgemeinen geschenkt wird, hat auch zur Vermehrung der Zahl der Strafanzeigen beigetragen. Dahinter steht auch das verstärkte Rechtsbewusstsein der Bürger. Die Fälle, die bisher in der Gemeinschaft gelöst worden sind, werden häufiger zur Polizei gebracht. Der Grund liegt darin, dass die Streitlösungsfunktion der Gesellschaft wegen des Gemeinschaftszerfalls schwächer geworden ist. Soweit die Kriminalität durch die Verschlechterung der wirtschaftlich-sozialen Lage bedingt ist, ist eine für die Kriminalität günstige Lage in den 90er Jahren entstanden. Nachdem die sog. Blasen-Wirtschaft (bubble economy) am Ende der 80er Jahre zerbrochen ist, hat die wirtschaftliche Stagnation in den 90er Jahren das kriminelle Potential ausgeweitet: Die Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse ist eine der Ursachen. Die Einführung der Marktwirtschaft zerstörte die traditionellen Arbeitsverhältnisse, in denen die Arbeiter ihre Arbeitsplätze im Prinzip nicht häufig wechselten und sie umso besser verdienten, je länger sie arbeiteten. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass die Straftaten tatsächlich so plötzlich seit dem Jahr 2000 zugenommen haben. Erkennbar ist allerdings, dass sich die Bevölkerung in der heutigen Gesellschaft nicht mehr so sicher fühlt. Es ist feststellbar, dass die Bedrohung durch Verbrechen im Bewusstsein der Bevölkerung größer geworden ist. Man spricht vom zunehmenden „Unsicherheitsgefühl“. Die Umfrage der Kabinetts-Behörde, die zur „Meinungsforschung über das soziale Bewusstsein“ in Februar 2006 durchgeführt wurde, zeigt die Verschlechterung des Sicherheitsgefühls bei der Bevölkerung am meisten. Die Tabelle 8 zeigt den Anstieg der Anzahl der Personen, die als das in eine schlechte Richtung laufende Gebiet die „Innere Sicherheit“angegeben haben.
17
Vgl. Koichi Hamai / Kazuya, Serizawa, Hanzai Fuan Shakai (Gesellschaft vor der kriminellen Angst), 2006, S. 19 ff.
408
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
20,5
Konjunktur
23,8
Erziehung Soziale Toleranz
25,7
Umwelt
26,1 28,9
Arbeits- und Dienstbedingungen
31,3
Außenpolitik
33,2
Staatliche Finanzen
38,3
Sicherheit
Schaubild 8 Meinungsforschung über das soziale Bewusstsein zur Frage: „Was sind die Gebiete, die Ihnen in eine schlechte Richtung gelaufen zu sein scheinen“ (White Paper on Crime, 2006, S. 216) Zeit der Anfrage
Anzahl der betroffenen Personen
% der Antworten: Sicherheit
1998
6.858 6.929
18,8 26,6
2000 2002
6.798
30,7
2004
6.886
39,5
2006
6.586
47,9
Tabelle 8 Die verschlechterte „gefühlte Sicherheit“ je nach den Jahren seit 1998
Das „Sicherheitsgefühl“ gewinnt auch dadurch an Bedeutung, dass die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen immer wieder über fürchterliche Verbrechen berichten. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang z.B. der Fall der Sekte „Aum Shinrikyo“. Mitglieder dieser Sekte haben mit Salin viele Menschen getötet haben, ferner der Kobe-Kindesmord-Fall an, in dem der 14jährige Mittelschüler den Kopf eines von ihm enthaupteten Kindes auf dem Schultor aufgestellt hat. Der Fall, der 1997 sich in Kobe abgespielt hat, hat deshalb viel Aufmerksamkeit erregt, weil er sehr sensationell und der Täter Gymnasiast war und nach seiner Tat in einem Brief an eine Zeitung die Tat kundgetan hat. Der Sensationscharakter solcher Fälle wird dadurch verstärkt, dass man sie jederzeit in Internet wieder und wieder sehen kann. Was den Mythos 3 anbelangt, so liegt folgende einfache Erklärung nahe: Wenn die registrierte Kriminalität sich in den bagatellaren Bereichen, in denen die Feststellung der Straftaten von den polizeilichen Tätigkeiten abhängig ist, vermehrt, geht die Aufklärungsquote zwangsläufig nach unten. Auch die Erweiterung und Dispersion der Einsetzung der polizeilichen Kräfte schwächt ihr Aufklärungspotential.
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
409
III. Hat die informelle Sozialkontrolle in Japan noch Präventionspotential? Gegen den Mythos 3, also den „Mythos der starken informellen Sozialkontrolle als Ursache der geringeren Kriminalität“ gibt es ein starkes Gegenargument. Die alte, informelle soziale Kontrolle in der japanischen Gesellschaft ist fast verschwunden. Die familiäre Bindung scheint die Quelle der informellen sozialen Kontrolle zu sein. Aber die Bindungskraft innerhalb großer Familien gibt es nicht mehr. Die Geburtenrate ist in Japan sehr niedrig18. Die Abnahme der Familienmitglieder ist erkennbar. Auch die informelle soziale Kontrolle in der Nachbarschaft in den Großstädten ist nicht mehr vorhanden. Es herrschen „dünne Nachbarverhältnisse“ in den großen Städten. Die totale Urbanisierung und die Konzentration der Bevölkerung in den Großstädten beschleunigen diese kontrollfreien dünnen Nachbarverhältnisse. Die informelle Kontrolle in den Unternehmen ist ebenfalls in der Krise. Der Wechsel des Arbeitsplatzes ist heutzutage nicht selten. Damit sind die menschlichen Verbindungen in den Unternehmen sehr schwach geworden.
IV. Warum kennt das Ermittlungsorgan die ausführliche Statistik zu den Boryokudan? 1. Zivilrechtliche Haftung der Bosse der Boryokudan Was hier in bezug auf Bekämpfung der Boryokudan betont werden muss, ist die Erleichterung des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs durch die Reform des BBG vom 28. April 2004. Dadurch ist die Gefährdungshaftung des Vertreters des jeweiligen Boryokudan bejaht worden. Nun enthält § 15 BBG die folgende Regelung: „Der Vertreter usw. eines Boryokudan hat die Pflicht, den entstandenen Schaden zu ersetzen, wenn es zu einer Auseinandersetzung zwischen diesem Boryokudan und einem anderen Boryokudan kommt, diese zu Gewalttätigkeiten durch die Mitglieder dieses Boryokudans führt und durch diese Gewalttätigkeiten das Leben, der Körper oder das Vermögen eines anderen verletzt wird“. Diese Vorschrift ist eine Sonderregelung im Verhältnis zum japanischen BGB. § 715 Abs. 1 jBGB schreibt in bezug auf die Haftung des Arbeitgebers vor: „Derjenige, der für sein Unternehmen einen anderen verwendet, ist für den Ersatz des Schadens verantwortlich, den die Arbeitnehmer beim Betreiben des 18
Die Geburtenrate im Jahre 2006 war 1.32. Seit 1971, in dem sie noch 2.16 war, hat sie jährlich abgenommen.
410
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Unternehmens einem Dritten zugefügt haben“. Es gab vorher relativ viele Zivilprozesse, in denen die Haftung des Boryokudan-Bosses auf Grund des § 715 Abs. 1 BGB geltend gemacht wurde. Dabei war die Darlegungs- und Beweislast für den Kläger sehr groß. Dazu ist folgendes Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 12. November 200419 in einer Zivilsache ergangen: (Sachverhalt) Beim Streit zwischen zwei Boryokudan wurde ein Polizist durch einen fehlerhaften Schuss von einem Boryokudan-Mitglied getötet. Die Frau des Polizisten hat den Vertreter des Boryokudan auf Schadensersatz verklagt. (Wichtige Punkte in den Entscheidungsgründen des Urteils) Der Streit der einen Organisation mit der unteren Organisation ist als ein Handeln zu qualifizieren, „das sich eng auf das Unternehmen bezieht“. Nach der Meinung des vorsitzenden Richters bedeutet der Streit sogar „Betreiben des Unternehmens“ im Sinne des § 715 Abs. 1 BGB. Der Boryokudan hat eine feste Organisation. Die Oberste Organisation erhält z.B. die sog. „Zollabgabe“ von der unteren Organisation. Es gab früher manche Gerichtsentscheidungen, in denen die Anwendung des § 715 Abs. 1 verneint wurde, weil das „Unternehmen“ im Sinne dieser Vorschrift ein „legales“ Unternehmen sein müsse. Der Streit sei keinesfalls als legaler Betrieb anzusehen. Die epochemachende Bedeutung des Urteils des Obersten Gerichtshofs liegt darin, dass es nunmehr anerkannt ist, dass der gewalttätige Streit mit der anderen Gruppe ein „sich eng auf das Unternehmen beziehendes Handeln“ ist. Nach diesem Urteil hat der Gesetzgeber diesen Grundsatz in das reformierte BBG aufgenommen.
2. Änderungen der Boryokudan-Lage: „White Paper on Police“ (2003) Die Polizeiamt (Keisatsucho) hat im März 2003 eine Umfrage zu den Veränderungen der Boryokudan im Bewusstsein der in vorderster Linie stehenden Polizisten durchgeführt20. Die Umfrage richtete sich an 350 Polizisten, die bei den für die organisierte Kriminalität zuständigen Abteilungen der kommunalen Polizeien tätig sind. Die Frage war, was die größte Veränderung der Boryokudan in den letzten 10 Jahren war. Dabei handelte es sich um Änderungen bei Art und Weise der Organisationen und bei den durch die Organisationen begangenen Straftaten usw. Die Umfrage ergab: (Schaubild 9): 19 20
Urteil des Obersten Gerichtshofs von vom 12. November 2004 (Minshu, Bd. 58, Heft 8, S. 2078). White Paper on Police, 2004, S. 43 ff.
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
411
(1) Verminderte Transparenz der Organisation, Tätigkeiten und zunehmend auch Finanzierungsmethoden ohne Zurschaustellung von Macht (2) Größere Vielfalt und Verfeinerung der Finanzierungsaktivitäten (Finanzgeschäfte, Abfallverarbeitungsgeschäft, Drohung gegen Behörden, Schuldeneintreibung usw.) (3) Internationalisierung (Solidarisierung mit ausländischen Gruppen) (4) Monopolisierung durch einige gigantische Organisationen
Keine Antwort Internationalisierung Sonstiges Älterwerden der Mitglieder Monopolisierung durch drei Gulliver Geschicklichkeit der Finanzierungsmethode Vermehrung der Intransparenz
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
Schaubild 9 Die größten Änderungen der Boryokudan in 10 Jahren (White Paper on Police, 2003, S. 43)
Die Finanzierung der Boryokudan wird neben dem traditionellen illegalen Drogenhandel bzw. der Erpressung von Unternehmen usw. mehr und mehr als „legal wirkendes Geschäft“ unter dem Deckmantel der Legalität betrieben21. (Schaubild 10). Die Anzahl aller ermittelten Mitgliedern der Boryokudan war im Jahre 1997 32.109 Personen (44,9%). Darunter war die Anzahl der wegen der traditionellen Finanzierungstätigkeiten22 Ermittelten 14.405 Personen. Aber im Jahre 2006 war sie nur 9.412 unter 28.417 (33,1%) (Schaubild 11).
21 22
Vgl. Yamanaka, Festschrift für Kaiser, S. 1005. Unter den traditionellen Finanzierungstätigkeiten stehen die Handel der Weckamine, Erpressung, Wettspiel und verbotenes Handel der Totalisatorkarte.
412
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Keine Antwort Sonstige Speditionsfirma Arbeiterentsendegeschäft Immobiliengeschäft Bauunternehmen Sexshop, anstöß. Bars u.ä. Abfallverwertungsgeschäft Darlehensgeschäft 0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
Schaubild 10 Die Antwort der in der vordersten Linie stehenden Polizisten auf die Frage, was die am meisten auffälligen sichtbaren Wirtschaftstätigkeiten der Boryokudan sind (White Paper on Police, 2003, S. 45)
Schaubild 11 Anteil der ermittelten Straftaten als die traditionellen Finanzierungstätigkeiten unter aller ermittelten Mitgliedern der Boryokudan (White Paper on Police 2007, S. 16)
3. Die Kooperation mit ausländischen Gruppen Die Globalisierung der organisierten Kriminalität ist auch in Japan auffällig: so sind z.B. kriminelle chinesische Banden in Japan aktiv. Sie wählen Japan als Finanzierungsort, da der wirtschaftliche Unterschied zwischen China und Japan sehr groß ist. Ein Grund liegt auch darin, dass die Strafrahmen der
§ 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan
413
Straftaten im japanischen StGB relativ leicht und auch die Strafanstalten sehr sauber und wohnlich sind, wenn man sie mit den chinesischen vergleicht. Schaubild 12 zeigt die Erkenntnisse der Polizisten, die in den oben geschilderten Umfragen danach gefragt wurden, auf welchen Gebieten die Beziehungen zwischen den Boryokudan und ausländischen kriminellen Gruppen enger geworden sind. Durch die oberflächliche Legalisierung und die vorangehende Geschicklichkeit der Finanzierung ist die Transparenz der BoryokudanTätigkeiten geringer geworden (Schaubild 13). Keine Antwort Sonstige Schwarz-Bank Verlangen des Schutzgeldes Schusswaffenhandel Kreditkartenhandel Drogenhandel Einschmuggeln Raub, Diebstahl, Schmuggel 0
5
10
15
20
25
30
35
40
Schaubild 12 Umfrage zu den enger werdenden Beziehungen zwischen den Boryokudan und ausländischen kriminellen Gruppen (White Paper on Police, 2003, S. 87)
Schaubild 13 Umfrage zu den hauptsächlichen Finanzierungsmethoden der Boryokudan (zwei Antworten möglich) (White Paper on Police, 2003, S. 44)
414
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
V. Fazit Ob sich die Kriminalitätsrate in der Wirklichkeit vermehrt hat und ob die Aufklärungsquote gesunken ist, ist nicht feststellbar. Die Möglichkeit der bloßen statistischen Magie ist nicht ausgeschlossen. Die informelle soziale Kontrolle in den großen japanischen Städten funktioniert nicht mehr wie früher. Die extrem hohe Verurteilungsquote ist, wie es scheint, wenigstens teilweise auf das Opportunitätsprinzip zurückzuführen. Das Vertrauen der Gerichte auf die Beurteilung durch die Staatsanwaltschaft scheint gefährlich zu sein. Andererseits kostet die „präzise Justiz“ Zeit und führt zur Dysfunktion der Justiz. Die Justiz muss in der Gesellschaft im Interesse der Bevölkerung voll funktionsfähig sein. Das „Gefühl der Unsicherheit“ scheint nach den Umfrageuntersuchungen in der Bevölkerung verbreitet zu sein. Die Tendenz, härtere Strafen zu fordern, nimmt in der Bevölkerung zu. Die Boryokudan waren früher eine Art des „notwendigen Bösen“ in der japanischen Gesellschaft. „Yakuzas“ waren bisher im japanischen sozialen System tief eingebettet. Nur die gesunde und effektive Funktionalisierung des gesellschaftlichen Systems kann dieses notwendige Böse, die geschichtlich gesehen die Lücke in der Sozialfunktion ergänzt, zum unnötigen Wesen machen.
§ 23. Juristenausbildung in Japan Law School japanischer Art
I. Einleitung In Japan war und ist die Justizreform seit etwa 10 Jahren eine dringende Aufgabe. Zu ihrer Bewältigung hat die Regierung im Jahre 1999 einen „Beratungsausschuss für die Justizsystemreform“ eingerichtet, dessen abschließendes Gutachten1 im Jahre 2001 veröffentlicht worden ist. Es stellt seither gewissermaßen die Richtlinie der nachfolgenden Reformversuche dar. Das Gutachten hat die Grundidee und Richtung der Justizreform klar herausgearbeitet. Es schildert die von der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erwartete Rolle der Justiz und auch der Juristen und beschreibt die Rolle Letzterer so: Juristen, die beruflich an der Justizpraxis direkt teilnehmen, müssen sozusagen als „die Ärzte im Sozialleben der Bürger“ diesen die für ihre Lebensverhältnisse und Nachfragen benötigten Dienste auf dem Gebiet des Rechts anbieten, damit sie die verschiedenen Lebensverhältnisse für ein autonomes Dasein positiv gestalten, aufrechterhalten und entwickeln können. Das Gutachten nennt „drei Säulen der Justizreform“: Erstens sollte die Justiz nutzbarer, verständlicher und vertrauenswürdiger gemacht werden, um ein System aufzubauen, das die Erwartungen der Bürger erfüllen kann. Zweitens ist die Art und Weise der Juristen, die die Justiz unterstützen, zu reformieren, um eine in Qualität und Quantität genügende Anzahl zu sichern: Eine Erweiterung der Juristenanzahl ist dringend notwendig. Drittens ist das Vertrauen der Bürger in die Justiz durch ein System zu erhöhen, das die Teilnahme der Bürger an justiziellen Verfahren einführt und so die Akzeptanz der Justiz in der Bevölkerung stärkt. Die Juristenausbildungsreform beruht auf der zweiten Säule. Vorschlag des Beratungsausschusses war die Vermehrung der Juristenanzahl durch ein Law
1
Recommendations of the Justice System Reform Council – For a Justice System to Support Japan in the 21th Century http://www.kantei.go.jp/foreign/judiciary/2001/0612 report.html.
416
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
School-System, welches das Law School-System der USA als Modell aufnimmt2, es aber in einem „Law School-System japanischer Art“ umsetzt.
II. Sinn und Zweck des Law School-Systems Die Law Schools in Japan sind Voraussetzung des Staatsexamens, das grundsätzlich alle Volljuristen ablegen müssen. Nur die Absolventen der Law School haben (mit einer Ausnahme3) die Berechtigung, das Staatsexamen zu machen. Die Law School ist als „Graduate School“4 zu bezeichnen. Das Kultusministerium hat einen allgemeinen institutionellen Rahmen für neue Kurse in der Graduate School eingerichtet: Die „Professionelle Graduate School“. Die Law Schools sind dieser Gruppe zuzuordnen. Die Juristische Fakultät besteht weiterhin. Die Law School wird an die juristische Fakultät angehängt, ist jedoch auch für Nicht-Jura-Absolventen geöffnet: Offenheit und Verschiedenheit sind das Motto des Law School-Systems. Die Kurse dauern für „Jura-Studierte“ zwei Jahre, für „Nicht-Jura-Studierte“ drei Jahre. Die Jura-Studierten können mit der 2. Klasse (3. bis 4. Semester) anfangen, während die Nicht-Jura-Studierten mit der 1. Klasse (1. bis 2. Semester) beginnen müssen. Folgendes Schaubild zeigt den Ablauf der Juristenausbildung im alten und neuen, d.h. mit dem Law School-System.
2
3 4
Vgl. Maxeiner, James / Yamanaka, Keiichi, The New Japanese Law Schools, Putting the Professional into Legal Education, Pacific Rim Law & Policy Journal, University of Washington Volume 13, No. 2, April 2004, S. 303 ff. Es ist vorgesehen, ein „Ersatzexamen-System“ zuzulassen. Auch die Nicht-Absolventen können das Staatsexamen machen, wenn sie ein Ersatzexamen bestanden haben. Die Graduate Schools in Japan bestehen zur ersten Hälfte aus Magistranden-Kursen und zur letzten Hälfte aus Doktoranden-Kursen. Die Law Schools sind den Magistranden-Kursen zuzuordnen.
§ 23. Juristenausbildung in Japan
417
Im bisherigen Ausbildungssystem waren die Vorlesungen der juristischen Fakultäten und das Staatsexamen völlig voneinander getrennt. Derjenige, der Jurist werden wollte, musste sich meistens in den Repetitorien extra auf das Staatsexamen vorbereiten. Normalerweise braucht man nach Absolvierung der juristischen Fakultäten mindestens zwei oder drei Jahre bis zum Bestehen des Staatsexamens. Das neue Ausbildungssystem hat den Zweck, die Juristenausbildung durch punktartige einmalige Prüfung quasi „durch Prozess“ zur Ausbildung in der Law School zu machen. Der Grund liegt darin, dass das alte Staatsexamen inzwischen nicht mehr die Funktion erfüllt, exzellente, schöpferische und multitalenthafte Juristen auszuwählen. Vielmehr hat die Anzahl solcher Studenten zugenommen, die nur mit einer langjährig erlernten Prüfungstechnik das Examen bestanden haben. Die zu gründenden Law Schools Japans sollten eine professionelle Ausbildungsinstitution sein, deren Vorlesungen bzw. Übungen oder Seminare in kleinen Klassen stattfinden. Bei den Vorlesungen sollten die Zuhörer unter 50 Studenten sein, bei den Übungen oder Seminaren unter 30. Die Vorlesungen müssen der sog. „Sokratischen Methode“ folgen, d.h. nicht einseitige VorLesung, sondern eine zwischen Lehrenden und Studierenden laufende Kommunikation. Statt theoretischer Erklärung sind Anwendungsübungen zur Falllösung gewünscht, die „Problemmethode“ ist bevorzugt gegenüber dem „Systemdenken“. Wegen ihrer Charakterisierung als „Professionelle Graduate School“ orientiert sich der Lehrinhalt der Law School an der Praxis, dabei aber grundsätzlich mehr an der theoretischen Falllösung.
III. Der Hintergrund der Law School Gründung In Japan wurde die Justiz lange als „einsam-stolzes Königreich“ bezeichnet. Für die Bürger ist die Schranke der Justiz extrem hoch und lässt sie zögern, diese leicht zu benutzen. Deswegen wählen die Bürger bei Streitigkeiten zur Problem-
418
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
lösung eher ein anderes funktionsfähiges Mittel5. Man bezeichnet die Justizrealität als „20-prozentige Justiz“, weil sie anders als Parlament und Verwaltung ihre Funktion nur zu 20 Prozent erfüllt. Trotzdem werden gerichtliche Verfahren nicht schnell erledigt, die Verspätung ist vor allem bei schwierigen Fällen groß. In den Strafsachen ist die Justiz sehr stolz darauf, dass die Personen, gegen die der Staatsanwalt die Anklage erhoben hat, zu mehr als 99,9% verurteilt wurden. Die japanische StPO folgt dem sog. Opportunitätsprinzip und deswegen erhebt die Staatsanwaltschaft überhaupt keine Anklage bei nicht zu erwartender Verurteilung. Daher ist die Verurteilungsquote außerordentlich hoch. Auch das Hauptverfahren in Strafsachen dauert relativ lang. Die japanische Strafjustiz ist stolz auf ihre „Präzisionsjustiz“, denn obwohl § 1 der japanischen StPO als Zweck der Strafprozessordnung nicht nur die „Erklärung der Wahrheit der Sache“, sondern auch eine „faire und schnelle Anwendung und Verwirklichung der Strafvorschriften“ benennt, wird der „Findung der materiellen Wahrheit“ ein überwiegender Wert zuerkannt. Für die Justiz ist die Wahrheitsfindung viel wichtiger als eine faire und schnelle Falllösung. Besorgnis in Wirtschaftskreisen war und ist, dass diese Dysfunktionalität der Justiz großen wirtschaftlichen Schaden verursacht, weil Unternehmen bei Prozessen nur auf deren Langfristigkeit und nicht auch der Erfolgssicherheit vertrauen können. Japanische multinationale Unternehmen erheben deshalb ihre Zivilprozesse gegen andere japanische multinationale Konkurrenzunternehmen nicht in Tokyo, sondern in Singapur oder New York. Zugleich wurde die japanische Wirtschaft als „Schutzflotte“ bezeichnet, denn das Ministerium für Industrie hat lange mit gesetzlichen Schutzvorkehrungen einzelne Unternehmen unterstützt, innerhalb Japans dagegen die Konkurrenz möglichst vermieden. Unter dem Druck der Amerikaner hat in den letzten Jahrzehnten allmählich eine sog. Deregulationstendenz begonnen, und nach dem Niedergang der Bubble Economy ist die Steigerung des Wettbewerbsbewusstseins, die Überwindung der Ineffektivität und des institutionellen Überschusses in allen Gebieten zur wichtigen politischen Aufgabe geworden. „Von vorheriger Regulation zu nachträglicher Kontrolle“ ist heute das Stichwort in der Politik. In einer solchen Gesellschaft sind viele rechtliche Streitigkeiten gleichsam programmiert. Expandiert Präventionsjurisprudenz, bedarf es der Vermehrung der Juristenzahl, um die Rechtsstaatlichkeit im ganzen Land zu gewährleisten. 5
Boryokudan (Yakuza=Mafia) spielt eine wichtige Rolle für die Streitlösungen unter den Bürgern; vgl. Yamanaka, Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan, Festschrift für Kaiser, 1998, S. 1001 ff., vor allem S. 1007.
§ 23. Juristenausbildung in Japan
419
Dazu ist eine Funktionsverstärkung der Juristen notwendig, die als „Ärzte im Sozialleben“6 in einer modernen, divergenten und multikulturellen Gesellschaft in divergenter Funktion agieren. In dieser Gesellschaft sind Juristen mit bestimmten fachlichen Sonderkenntnissen und Erfahrungen in allen Rechtsgebieten gesucht. Die Ausbildung solcher Juristen ist eine wichtige Aufgabe der Law School, zumal die gesamte Juristenzahl in Japan sehr gering ist. Wenn man die Zahlen mit denen anderer entwickelter Länder vergleicht, zeigt die graphische Darstellung: (Links: Pro 100.000 Bewohner; Rechts: Anzahl der Juristen). (US=USA, E=England, D=Deutschland, F=Frankreich, J=Japan).
Bestandene Staatsexamina waren bis 1993 etwa 500 pro Jahr. Die Zahl ist seit 1994 auf ca. 700, im Jahre 1999 auf 1.000 und ab 2002 auf etwa 1.200 gestiegen. Seit 2004 ist eine Zahl von 1.500 Absolventen vorgesehen. 2006 begann das neue Staatsexamen, das nun von den Absolventen der Law Schools abgelegt wird. Das alte Staatsexamen besteht allerdings weiter bis 2010. Die Zahl der erfolgreichen Kandidaten wird sich allmählich verringern.
Die Erfolgsrate im Staatsexamen beträgt ca. 3%. 93 Juristische Fakultäten gibt es in ganz Japan, die Anzahl der Jura-Absolventen beträgt ca. 45.000 pro Jahr. 6
Gemeint ist, dass die Juristen den Ärzten gleich sein sollten und die kranke Gesellschaft heilen.
420
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Jahr
Bewerber
Geprüfte
Erfolgreiche 506 (71) 499 (74)
Erfolgsrate (%) pro Bewerber 2,18 2,18
Erfolgsrate (%) pro Geprüfte 2,37 2,38
1989 1990
23.202 22.900
21.308 20.975
1991
22.596
1992
23.435
20.609
605 (83)
2,68
2,94
21.431
630 (125)
2,69
1993
2,94
20.848
17.714
712 (144)
3,42
4,02
1994
22.554
19.408
740 (157)
3,28
3,81
1995
24.488
21.272
738 (146)
3,01
3,47
1996
25.454
21.921
734 (172)
2,88
3,35
1997
27.112
23.592
746 (207)
2,75
3,16
1998
30.568
26.759
812 (203)
2,66
3,03
1999
33.983
29.890
1.000 (287)
2,94
3,35
2000
36.203
31.729
994 (270)
2,75
3,13
2001
38.930
34.117
990 (223)
2,54
2,90
2002
45.622
41.459
1.183 (277)
2,59
2,85
2003
50.166
45.372
1.170 (275)
2,33
2,58
2004
49.991
43.367
1.483 (364)
2,97
3,42
2005
45.885
39.428
1.464 (350)
3,19
3,71
2006
35.782
30.248
549 (118)
1,53
1,81
Die Anzahl der Erfolgsreichen in Klammern zeigt die der weiblichen
Die Kandidaten für das Staatsexamen mussten sich nach Absolvierung der Fakultät meistens in Repetitorien lange Jahre auf das Examen vorbereiten. Das Erlernen der zu prüfenden Fächer ist fast nur Auswendiglernen. Mangelnde Anwendungskraft und Kreativität kennzeichnen deshalb die jungen Juristen.
IV. Die Gründung der Law Schools Der „Beratungsausschuss für die Justizsystemreform“ hat in seinem Schlussbericht vorgeschlagen: „In der Law School sollte ein inhaltreiches Ausbildungsprogramm angeboten werden, so dass ein ziemlich großer Teil (z.B. 70–80%) der Law School Absolventen das Staatsexamen bestehen kann“7. Aber gleichzeitig beschloss der Schlussbericht auch, „etwa im Jahre 2010 sollte die Anzahl der bestandenen neuen Staatsexamen 3.000 Personen pro Jahr erreichen“. „Durch diese Erweiterung der Juristenanzahl ist vorgesehen, dass die Anzahl der beruflich tätigen Juristen bis 2018 etwa die Größe von 50.000 Personen erreichen wird“. Wenn 70–80% der Law School Absolventen das 7
The „productive educational programs should be provided so that a certain ratio of those who have completed the course at law schools (z.B. 70 to 80%) can pass the new national bar examination discussed later“. Recommendations of the Justice System Reform Council- For a Justice System to Support Japan in the 21st Century – June 12, 2001, The Justice System Reform Council Reform of the Legal Training system, Part 2. Law School, (2) purpose and philosophy (d) Educational Content and Methods.
§ 23. Juristenausbildung in Japan
421
Staatsexamen bestehen sollen, muss der Numerus Clausus der gesamten Law Schools etwa 2100 bis 2400 betragen. Anfangs gab es deshalb auch im Kultusministerium die Idee, die Zahl der Law Schools im ganzen Land auf etwa 15 zu beschränken. Aber die Verwirklichung dieser Idee hat sich bald als unmöglich herausgestellt. In Wirklichkeit sind 74 Law Schools eingerichtet und genehmigt worden. Dies entsprach auch der Politik des Kultusministeriums, nach der eine nachträgliche Bewertung durch Dritt-Organe einer vorherigen Regulation durch die Konzessionsverwaltung zu bevorzugen sein sollte. Die Universitäten, die juristische Fakultäten haben, gründeten fast alle Law Schools, weil juristische Fakultäten ohne Law School keinen guten Ruf bekommen können. Darunter waren auch Universitäten, die bislang noch fast keine erfolgreichen Staatsexamina produziert haben. Die meisten Law Schools konzentrieren sich in den zwei großen Gebieten um Tokyo und die Region Kansai, d.h. Osaka / Kyoto / Kobe. Universität Jahr
Bestanden 2006
Bestanden 2005
Bestanden 2004 226
Tokyo
92
225
Waseda
85
228
226
Keio
57
132
170
Kyoto
43
116
147
Chuo
43
122
121
Hitotsubashi
14
51
57
Osaka
12
57
45
Doshisha
15
48
30
Meiji
18
28
46
Kobe
10
30
33
Tohoku
6
29
29
Jochi
15
24
25
Nagoya
3
32
26
Hokkaido
14
30
16
Ritsumeikan
6
26
23
Kansai
11
23
19
Kyushu
4
23
21
Rikkyo
5
19
21
Hosei
4
22
12
Kanseigakuin
4
13
16
Nippon
5
14
12
Aoyamagakuin
6
11
11
Osaka-Stadt
4
13
6
Erfolgsquote der Staatsexamens je nach Universitäten (Kursive Namen bezeichnen die staatlichen oder städtischen Law Schools, Sonstige die privaten Law Schools. Dunkelfarbige bedeuten Law Schools im Gebiet um Tokyo, Hellfarbige die in der Region um Osaka/Kyoto/Kobe.)
422
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan Staatl. oder städtische
Num. Cl.
Private Universitäten
Hokkaido
100
Nippon
Num. Cl. 100
Tohoku
100
Hosei
100
Hitotsubashi
100
Meiji
200
Yokohamakokuritsu
50
Waseda
300
Tokyo
300
Keio
260
Hauptstadt-Tokyo
65
Jochi (Sophia)
100
Chiba
50
Omiya-Hoka
100
Niigata
60
Chuo
300 70
Kanazawa
40
Rikkyo
Nagoya
80
Meijigakuin
80
Kyoto
200
Aoyamagauin
60
Osaka-Stadt
75
Surugadai
60
Osaka
100
Gakushuin
65 60
Kobe
100
Kantogakuin
Okayama
60
Toin-Yokohama
60
Shimane
30
Kyotosangyo
60
Kagawa (=Ehime)
30
Kinki
60
Hiroshima
60
Konan
80
Kyushu
100
Kobegakuin
60
Kumamoto
30
Ryukoku
60 150
Kagoshima
30
Doshisha
Ryukyu
30
Ritumeikan
150
Tsukuba, (Shinshu), Shizuoka
40,40, 30
Kansai
130
Kanseigakuin
125
Law Schools und ihr Numerus Clausus
V. Das neue Staatsexamen Die Gesamtzahl der Law School Studenten beträgt etwa 6.000. Wenn nur 3.000 Studenten das jährliche Staatsexamen bestehen können, bleibt die Hälfte der Studenten ohne Abschluss. Da die Law School Absolventen innerhalb von fünf Jahren sich bis zu dreimal dem Examen unterziehen können, wird die Erfolgsquote etwa 20% pro Jahr sein. Bis 2010 besteht außerdem das alte Staatsexamen weiter, dessen vorgesehene Bestehensquote allmählich abnehmen soll. Die Absolventenzahl von 2006 ist aber noch gering, weil es kaum Absolventen der 3jährigen Kurse gibt. „Im Jahre 2006 haben mehr als 2.100 Studenten die Law Schools absolviert. Davon haben sich 2.125 Studenten um das Staatsexamen beworben und 2.081 Personen sich der Prüfung tatsächlich unterzogen. Am 21. September 2006 wurden die Erfolgsträger bestimmt: 1.009 Personen haben bestanden8. Die Erfolgsquote ist ca. 48%“. 8
Die Zahl der vorgesehenen Absolventen ist zuvor mit „900 bis 1.200 Personen“ angekündigt worden.
§ 23. Juristenausbildung in Japan
423
Das bestandene Examen wird aus der Summe der Resultate der schriftlichen Prüfung und der Multiple-Choice-Prüfung zusammengesetzt, wobei erstere mit 4 zu bewerten, letztere dagegen mit 1 zu bewerten ist. Law Schools
Geprüfte
Multi-Bestehende
Bestehende
Chuo
239
212
131
Bestehens-Quote 54,80%
Tokyo
170
143
120
70,60%
Keio
164
138
104
63,40%
Kyoto
129
112
87
67,40%
Hitotsubashi
53
51
44
83,00%
Meiji
95
86
43
45,30%
Kobe
62
58
40
64,50%
Doshisha
88
61
35
39,80%
Kanseigakuin
64
48
28
43,80%
Ritsumeikan
102
69
27
26,50%
Hokkaido
37
35
26
70,30%
Hosei
61
46
23
37,70%
Tohoku
42
33
20
47,60%
Kansai
50
42
18
36,00%
Osaka-City
26
24
18
69,20%
Jochi(Sophia)
51
39
17
33,30%
Hauptstadt-Tokyo
39
34
17
43,60%
Nagoya
28
24
17
60,70%
Gakushuin
49
31
15
30,60%
Chiba
26
23
15
57,70%
Aichi
18
17
13
72,20%
Waseda
19
17
12
63,20%
Seikei
25
22
11
44,00%
Osaka
21
17
10
44,00%
Senshu
51
37
9
17,60%
Meijigakuin
18
14
8
44,40%
Soka
14
13
8
57,10%
Nippon
54
30
7
13,00%
Rikkyo
18
13
7
38,90%
Kyushu
13
10
7
53,80%
Yamanashigakuin
11
8
6
54,50%
Konan
18
15
5
27,80%
Aoyama
14
10
5
35,70%
Nanzan
19
8
5
50,00%
Niigata
10
8
5
50,00%
Yokohama-Kokuritsu
10
7
5
50,00%
Toyo
27
17
4
16,70%
Daitobunka
19
9
4
21,10%
424
5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan Kanagawa
13
11
4
30,80%
Okayama
12
8
4
33,30%
Hiroshima
12
11
3
25,00%
Kinki
6
4
3
50,00%
Hakuo
6
6
3
50,00%
Fukuoka
5
4
3
60,00%
Surugadai
21
10
2
9,50%
Meijo
5
5
2
40,00%
Seinangakuin
4
3
2
50,00%
Komazawa
18
10
1
5,60%
Kantogakuin
15
11
1
6,70%
Kumamoto
4
4
1
25,00%
Kurume
4
2
1
25,00%
Kanazawa
2
2
1
50,00%
Kokugakuin
2
2
1
50,00%
Shimane
1
1
1
100,00%
Himeji Dokkyo
8
5
0
0,00%
Kobegakuin
3
2
0
0,00%
Tokai
3
1
0
0,00%
Kyotosangyo
1
1
0
0,00%
Resultate des neuen Staatsexamens von 2006 nach Universität
Pflichtfach Öffentliches Recht 200 Punkte
Multible-Choise-Prüfung
Schriftliche Prüfung
Verfassungsrecht (20 Fragen)
Verfassungsrecht
Privatrecht I. 100 Punkte
Verwaltungsrecht (20 Fragen)
Verwaltungsrecht
Zivilrecht
Zivilrecht
II. 200 Punkte
Zivilprozessrecht
Zivilprozessrecht
Kriminalrecht 200 Punkte
Handels-(Gesellschaftsrecht)
Handels-(Gesellschaftsrecht)
(je 20 Fragen)
Strafrecht
Strafrecht (20 Fragen)
StPO
StPO (20 Fragen) Wahlfach (ein Fach) • Konkursordnung • Steuerrecht • Wirtschaftsrecht • Immaterialgüterrecht • Arbeitsrecht • Umweltrecht • Völkerrecht • Internationales Privatrecht 100 Punkte
Die zu prüfenden Pflichtfächer des neuen Staatsexamens
§ 23. Juristenausbildung in Japan
425
Datum
Art der Prüfung
Fach
Zeit
19. Mai (Fr)
Multible-Choise-Prüfung
PrivatR ÖffentlR
2:30 Std. (9:00–12:00) 1:30 Std. (13:30–15:00)
KriminalR
1:30 Std. (16:00–17:30)
20. Mai (Sa)
Schriftliche Prüfung
22. Mai (Mo) 23. Mai (Di)
Schriftliche Prüfung Schriftliche Prüfung
21. Sept.
Wahlfach
3:00 Std. (9:30–12:30)
ÖffentlR
4:00 Std. (14:00–18:00)
PrivatR I
2:00 Std. (10:00–12:00)
PrivatR II
4:00 Std. (13:30–17:30)
KriminalR
4:00 Std. (13:30–17:30)
Ergebnis-Verkündung
Gegen 16:00
Der Ablauf des Staatsexamens im Jahre 2006
VI. Curriculum in Law School Die Vorlesungen und Übungen an den Universitäten in Japan folgen grundsätzlich dem sog. Einheits- (oder Unit-)System. Wenn eine Vorlesung einmal pro Woche für ein Semester (14 bzw. 15 Mal) gehalten wird, ergibt das zwei Einheiten. Am Ende der Vorlesung werden die Studenten geprüft. Wenn die Zuhörer am Ende des Semesters die Prüfung bestanden haben, können sie zwei Einheiten bekommen. Die Studenten an der Fakultät müssen normalerweise insgesamt etwa 120 Einheiten in acht Semestern (vier Jahre) sammeln, um die Fakultät zu absolvieren. Dabei müssen die Studenten in bestimmten Bereichen bestimmte Einheiten sammeln. In der Law School muss der Student für den dreijährigen Kurs mehr als 90 Einheiten bekommen, derjenige für den zweijährigen Kurs etwa 60 Einheiten. Letztere Studenten beginnen ihr Studium im 3. Semester. Das Schaubild unten zeigt ein Beispiel aus der Law School der Kansai Universität. Grundfächer 1.–2. Semester
3.–4. Semester
Kernfächer
Angewandte und Praktikumsfächer
Übung für VerfR, ZivilR, StrR
Legal Writing & Discussion, Legal Klinik Externship (in Vietnam), Mootcourt
1. VerfassungR, StrR–AT, ZivilR 2. StrR–BT, ZivilR, HandelsR, CivStrProzessR
ProzessR, HandelsR 5.–6. Semester
Zivil-, Straf-, ÖffentlRGesamt-Übungen (3 Fächer)
Das Charakteristikum lässt sich an dem Praktikumsfach einsehen: Juristische Ethik, Externship (Praktikum) bei Kanzleien, Mootcourt bzw. Legal Klinik sind nicht an den juristischen Fakultäten eingerichtet, sondern nur in den Law
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Schools. „Legal Writing & Diskussion“ übt den Satzbau der juristischen Schriftsätze oder Legal Research bzw. juristische Argumentation oder Rhetorik.
§ 23. Juristenausbildung in Japan
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Fächer für 1. und 2. Semester
Fach: Öffentliches Recht (1. Semester) Verfassung: Grundstruktur der Herrschaft
2 Einheiten
Strafrecht AT
4 Einheiten
(2. Semester) Verfassung: Grundrechte
2 Einheiten
Strafrecht BT
2 Einheiten
Strafprozessordnung
2 Einheiten
Fach: Privatrecht (1. Semester) Bürgerliches Recht: AT des Vermögensrechtes
4 Einheiten
Bürgerliches Recht: BT des Vermögensrechtes
4 Einheiten
Bürgerliches Recht: Familienrecht
2 Einheiten
(2. Semester) Bürgerliches Recht: Deliktsrecht
2 Einheiten
Zivilprozessrecht
2 Einheiten
Handelsrecht: Gesellschaftsrecht
4 Einheiten
Handelsrecht: Geschäftsrecht
2 Einheiten
Freies Fach Grundübung
2 Einheiten
Jura-Englisch
Einheiten
VII. Die Aufnahmeprüfung in den einzelnen Law Schools Alle Law Schools verlangen eine Aufnahmeprüfung. Die Bewerber müssen vorher den LSAT (Law School Admission Test) ablegen. LSAT ist für die Immatrikulation in jeder Law School vorausgesetzt, wird von zwei Veranstaltern9 durchgeführt und jährlich im Mai und Juni in ganz Japan vollzogen. Der LSAT prüft keine Jura-Fächer, sondern das allgemeine Verständnis, die Satzbau- und die Schlussfolgerungsfähigkeit sowie die Fähigkeit zum logischen Denken. 9
Einerseits das Daigakunyushi-Center (Universitätsaufnahmeprüfungszentrum) und anderseits die Homuzaidan von Nippon-Bengosi-Rengokai (Rechtspraxis-Stiftung der Japanischen Union der Anwaltsvereine).
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5. Kriminalitätstendenzen und Justizreform in Japan
Die Law Schools wählen die Bewerber folgendermaßen aus: (1) das Resultat des LSAT, (2) die Studiumsleistung (Noten an der Fakultät), (3) Sonderbewertungen für Sprachkenntnisse, Qualifikationen oder praktische Erfahrungen usw. und (4) eigene schriftliche oder mündliche Prüfung über allgemeine Kenntnisse. Da die Aufnahme der Studenten in die zweijährigen Kurse schon Grundkenntnisse der Rechtswissenschaft voraussetzt, muss die Law School diese Studenten durch Prüfung der Fachkenntnisse auswählen. Die Aufnahmeprüfung der Kansai Law School erfasst beispielsweise sechs Fächer, d.h. Verfassungsrecht, Strafrecht, Strafprozessrecht, Zivilrecht, Zivilprozessrecht, Gesellschaftsrecht.
VIII. Verbliebene Probleme Ausbildung und Vorlesungen an den Law Schools funktionieren relativ gut. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Studenten, die gut vorbereitet und ernst sind, wirkt sich relativ gut auf das Studenten-Training aus, wenn man es etwa mit den Studenten in der Fakultät vergleicht. Problematisch sind die Vorlesungen für Jura-Anfänger. Es ist fast unmöglich, innerhalb eines Jahres 6 Hauptfächer der Rechtswissenschaft zu erlernen. Aber in der Wirklichkeit vermehren sich in den zwei Jahren die Studenten, die schon in der juristischen Fakultät studiert haben und nun die dreijährigen Kurse belegen. Das größte Problem liegt in der Tatsache, dass nur etwa 20% der Absolventen der Law Schools das Staatsexamen bestehen. Was sollen diese Juristen nach fünf Jahren oder nach dem Misslingen des Examens machen? Mir scheint das Law School System mit zu strengem Staatsexamen ein systematischer Widerspruch oder Fehler zu sein. Wenn man das amerikanische Law School System importiert, muss man am Anfang 70 bzw. 80% der Absolventen wie in den USA als Juristen zulassen. Die Beschränkung auf 3.000 Personen pro Jahr hat keinen Grund außer der Erhaltung des status quo für die berufstätigen Juristen. Studenten an den staatlichen Law Schools müssen als Studiengebühr etwa Achthunderttausend Yen (knapp 5.500 Euro) bezahlen, Studenten an den privaten Law Schools mindestens 1,2 Millionen Yen pro Jahr. Stipendien für Studenten werden zwar angeboten, die Summe von mehr als drei Millionen Yen für drei Jahre ist aber viel zu hoch, um dafür eine Aussicht von 20% zu riskieren – ganz abgesehen von den gesellschaftlichen Belastungen. Eine Lösung kann nur in einer wesentlichen Erweiterung der Erfolgsquote des Staatsexamens oder in der Verringerung des Numerus Clausus der Law
§ 23. Juristenausbildung in Japan
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Schools bestehen. Ein Abwarten als Resultat des Wettbewerbs zwischen den Law Schools geht nur zu Lasten der Studenten.
Verzeichnis der Erstpublikationen § 1.
Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan – 100 Jahre nach in Krafttreten des geltenden StGB, in: Páywaczewsi (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Temida 2, Biaáystok 2009, S. 649–665.
§ 2.
Wandelung der Strafrechtsdogmatik nach dem 2. Weltkrieg. Zugleich Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatslehre, in: Jehle / Lipp / Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, Universitätsverlag Göttingen, Göttingen 2008, S. 173–185.
§ 3.
Ryuichi Hiranos Strafrechtslehre. Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts in Japan, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte, Jahrgang 4, Heft 1 (2010), 1–9.
§ 4.
Dogmatische Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils aus japanischer Sicht. Zu den Modellen gesetzlicher Regelung, in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, Duncker&Humblot, Berlin 2001, S. 180–185.
§ 5.
Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre, in: Review of Law & Politics, Nr. 28, 2007, 19–31.
§ 6.
Entwicklung und Ausblick der Unterlassungsdogmatik in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Szwarc / Wasek (Hrsg.), Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Wydawnictwo PoznaĔskie, Posen 1998, S. 109–133.
§ 7.
Begriff und systematische Einordnung der Pflichtenkollision, in: Liber Amicorum de Jose de Sousa E Brit em comemoracao do 70 Aniversario, Almedina, Coimbra 2009, S. 865–884.
§ 8.
Strafrechtliche Erfassung in rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangener Straftaten, in: Szwarc (Hrsg.), Das dritte deutsch-polnischjapanische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Aktuelle Probleme des deutschen, japanischen und polnischen Strafrechts, 2006, Wydawnictwo PoznaĔskie, Posen 2006, S. 61–76.
432 § 9.
Verzeichnis der Erstpublikationen Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Loos / Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, (Zur Ehre für Prof. Manfred Maiwald), C.F. Müller Verlag, Heidelberg 2006, S. 57–75.
§ 10. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte. Betrachtungen zur Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft, Frankfurter Festschrift für Andrzel Szwarc zum 70. Geburtstag, Duncker&Humblodt, Berlin 2009, S. 279–294. § 11. Der „vorzeitige Erfolgseintritt“ in der japanischen Judikatur und Wissenschaft, in: Dannecker / Langer / Ranft / Schmitz / Brammsen (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, Carl Heymanns Verlag, Köln 2007, S. 489–504. § 12. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen – Betrachtungen anhand der japanischen Diskussion –, in: Pawlik / Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, Carl Heymanns Verlag, Köln 2007, S. 767–784. § 13. Kritisch-dogmatische Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung, in: Bloy / Böse / Hillenkamp / Momsen / Rackow (Hrsg.), Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag, Duncker&Humblodt, Berlin 2010, S. 865–884. § 14. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts, in: Gottwald (Hrsg.), Recht und Gesellschaft in Deutschland und Japan, Carl Heymanns Verlag, Köln 2009, S. 27–47. § 15. Zur Aszendententötung in Japan (Koreanisch), in: Journal of Criminal Law, Vol. 16, Seoul 2001, 171–178; „Zabojstwo krewnego wstepnego w japonskim prawie karnym“ (Polnisch), in: PrzestĊpstwo, kara, polityka kryminalna: problemy tworzenia i funkcjonowania prawa : ksiĊga jubileuszowa z okazji 70. rocznicy urodzin profesora Tomasza Kaczmarka, Zakamycze, Krakau 2006, S. 683–692 (Übersetzt von Jacek Giezek). § 16. Die gegenwärtige Aufgabe des Wirtschaftsstrafrechts in Japan, in: Kühne / Miyazawa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutschjapanischen Vergleich, Carl Heymanns Verlag, Köln 1995, S. 77–96. § 17. Zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bekämpfungen gegen die HighTec-Kriminalität in Japan, in: Páywaczewski (Hrsg.), Aktualne Probemy Prawa Karnego i Kriminologii, Temida 2, Biaáystok 2005, S. 394–413.
Verzeichnis der Erstpublikationen
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§ 18. Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan. Strafrechtliche Haftung wegen der Produktion, der Aufsichtspflichtverletzung und der ärztlichen Verschreibung von mit AIDS kontaminierten Blutprodukten, in: Rengier / Yamanaka (Hrsg.), Die gegenwärtigen Aufgaben des Rechts in sich ändernden Sozialsystemen, Symposium Osaka 2010, abrufbar unter: http://kops.ub.uni-konstanz.de, S. 147–164. § 19. Strafrechtliche Produkthaftung in der japanischen Judikatur. Eine vorbereitende Betrachtung der Begründung der Garantenpflicht bei Unterlassungsdelikten, in: Review of Law and Politics, Nr. 32, 2011, 17–36. § 20. Die Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus im Strafrecht, in: v. Hirsch / Neumann / Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, Nomos Verlag, Baden-Baden 2010, S. 323–331. § 21. Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan. Hintergrund und Bilanz des Boryokudan-Bekämpfungsgesetzes, Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, in: Albrecht u.a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für Günther Kaiser zum 70. Geburtstag, Duncker&Humblodt, Berlin 1998, S. 1001–1017. § 22. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik – Ist der Sicherheitsmythos in Japan zusammengebrochen? –, Przeglad Polocyjny, Jahrgang 18, Heft 2 (90), 2008, 2, 5–27 (Review of Law and Politics Nr. 30, 2009, 39–57. § 23. Juristenausbildung in Japan. Law School japanischer Art, in: Jehle / Lipp / Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, Universitätsverlag Göttingen, Göttingen 2008, S. 249–274.