Die Werkstatt als Utopie: Lu Märtens literarische Arbeit und Formästhetik seit 1900 9783110962055, 9783484350199


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German Pages 322 [324] Year 1988

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Inhalt
Dank
Einleitung
ERSTER TEIL
1. Die Verkannten. Gegenwelten der wilhelminischen Gesellschaft
ZWEITER TEIL
2. Für eine angewandte Ästhetik
3. Die Kunst als Ganzes, oder das Ende der Künste
4. Poetismus, Marxismus, Strukturalismus
DRITTER TEIL
5. Lebensweg und Arbeiten von 1927 bis 1945 im Überblick
6. Enterbte dieser Zeit. Lu Märtens Beitrag zu einer deutschen sozialistischen Kultur nach 1945
Anhang
Literaturverzeichnis
Register
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Die Werkstatt als Utopie: Lu Märtens literarische Arbeit und Formästhetik seit 1900
 9783110962055, 9783484350199

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 19

Chryssoula Kambas

Die Werkstatt als Utopie Lu Märtens literarische Arbeit und Formästhetik seit 1900

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

CIP-Htelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kambas, Chryssoula: Die Werkstatt als Utopie : Lu Märtens literar. Arbeit u. Formästhetik seit 1900 / Chryssoula Kambas. - Tübingen : Niemeyer, 1988 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 19) NE: GT ISBN 3-484-35019-9

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.

Inhalt

DANK

VII

EINLEITUNG

1

ERSTER TEIL

9

1. D I E VERKANNTEN. GEGENWELTEN DER WILHELMINISCHEN GESELLSCHAFT

1.1.

Hinter Türen. Familie, Künstlerkreise, weibliches Außenseitertum .

9

9

Kindheit und Schule — Jugend — Philosophische und literarische Einflüsse — Bodenreformbewegung — U m Friedrich Naumann - Zwischen Boheme und Künstlerkreis — Vorbilder für >Form< und >LebenBefriedung< der verbliebenen Künstler und Intellektuellen, und damit die Duldung bislang tabuierter Themen, stand auf der Tagesordnung. An diesem Punkt konnten die betroffenen Geisteswissenschaften, insbesondere die Literaturgeschichte, ihr Gewicht in die Waagschale legen: Sie widmeten sich Autoren und Gebieten, die während der Ära Ulbricht aus dem Kanon des bürgerlichen Erbes wie des sozialistischen Realismus herausfielen und nun doch als Teil der Geschichte des deutschen Sozialismus anerkannt werden können. Dazu gehören die avantgardistisch marxistischen Kunstauffassungen von Brecht und Eisler, die Marx-Rezeption von Karl Korsch wie auch die kunsttheoretischen und -erzieherischen Schriften Lu Märtens seit 1900. Sie zählt damit »zu den ersten Kultur- und Kunsttheoretikern der Arbeiterklasse«, und zwar gerade weil sie avantgardistische Experimente auf die Dinge des alltäglichen Gebrauchs anwenden wollte. Johanna Rosenberg und Rainhard May haben sich in diesem Sinne für eine gerechte Bewertung Lu Märtens eingesetzt. Aufmerksamkeit fand aber auch zuvor schon das Erstlingswerk Torso. Dieser Roman erschien 1909 im Verlag Piper. Ob die Bezeichnung Roman zutrifft, soll an dieser Stelle vorerst offen bleiben. Seine Schreibweise ist zu weiten Teilen traditioneller Autobiographik verhaftet. Ursula Münchow rechnet dieses Buch zu den frühen deutschen Arbeiterautobiographien. Dabei nimmt sie jedoch eine weitere Differenzierung zu Autobiographien sozialistischer Schriftsteller vor; diese letztere Klassifikation wird dem Roman gerechter. Einfühlsamkeit und »feine Psychologie« Lu Märtens werden herausgestellt. Insgesamt erscheint sie in diesem Rahmen als Schriftstellerin proletarischer Herkunft. Entsprechend ordnete Münchow auch Lu Märtens im Dietz Verlag erschienenes Schauspiel Bergarbeiter (1909) ein. Vieles rechtfertigt eine solche literaturgeschichtliche Einordnung als »proletarische Schriftstellerin«: etwa der dramatische Stoff der Bergarbeiter, mit dem auch die Entscheidung für einen Streik thematisiert ist; oder erst recht die Sujets der lyrischen Beiträge in der Wiener Zeitschrift Arbeiter-Literatur von 1924, darunter ein Gedicht zum Tode Lenins. Gleichzeitig gibt es Argumente, diese Klassifikation mit Vorsicht zu verwenden, besonders das gegen die präformierte politische Repräsentanz, die diese und ent2

sprechende Klassifikationen erzielen. Die literarische und theoretische Arbeit Lu Martens stand bewußt im Kontext der Arbeiterbewegung, und ein Teil davon war insbesondere vor 1914 für die sozialdemokratische Presse geschrieben. Nach 1920 orientierte sich Lu Märten vorwiegend an dem publizistischen Programm der KPD und ihrem Umkreis. Doch in beiden Fällen war die Originalität ihres Denkens von den Apparaten nicht ohne weiteres assimilierbar. Man sah ihrer Mitarbeit jeweils mit großen Erwartungen entgegen. Der Publikation wichtiger Werke wurden aber sowohl von sozialdemokratischen wie kommunistischen Verlagen Hindernisse in den Weg gelegt. Dieser Tatbestand soll nicht als Hinweis auf eine genuin politische Unstimmigkeit zwischen Lu Märten und den Richtungen der Arbeiterbewegung gelesen werden, der sie sich verpflichtet fühlte. Was Anstoß erregte, war die hartnäckige, öffentliche Insistenz auf Gültigkeit ihres ästhetischen Programms. Es läßt sich kurz als eine konkret utopische Anthropologie umschreiben, kombiniert mit reformerischen Modellen der Kunsterziehung und -organisation. Anstoß erregte auch Lu Märiens Stil. Provokation, Polemik, phantasievolle Verteidigung jedes praktischen Schönheitssinnes, gleich wo er sich äußere, vertrat sie in den Reihen der Parteien so gut wie außerhalb. »Der Stil, das ist der Mensch«, antwortete sie nach dem Zweiten Weltkrieg einem Lektor, der ihres »unglücklichen Stils« wegen ein Manuskript zurückgewiesen hatte. Und dieser Stil ebenso wie die ästhetischen Einsichten widerstrebten jenem Verständnis von den Aufgaben der Kultur für die Arbeiterklasse, das die sozialdemokratische wie die kommunistische Kulturpolitik in der Tradition Franz Mehrings beherrschte: den historischen Aufstieg der Arbeiterklasse zu repräsentieren, und dies in den Formen bürgerlicher Repräsentanz. Im deutschen Klassizismus besitzt sie ein Paradigma. In einem Schreiben vom Anfang der dreißiger Jahre an Friedrich Adler, den Vorsitzenden der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, stellte sich Lu Märten dem österreichischen Politiker als »freie sozialistische Schriftstellerin« vor. Sie war zu diesem Zeitpunkt über fünfzig Jahre alt und blickte auf den größten Teil ihrer Lebensarbeit zurück. Das heißt: Lu Märten hatte sich durchgehend vom finanziellen Ertrag ihrer Arbeiten ernährt. Dieses Los teilte sie mit vielen ihrer Generation, der um 1900 Zwanzigjährigen, in der die Anzahl der freiberuflichen Schriftsteller sprunghaft zugenommen hatte — eine Folge der Umschichtung der gesamten Sozialstruktur. Im Zuge der Verstädterung war mit den Dienstleistungen und der Bürokratie ein neues Kleinbürgertum entstanden, dessen Kinder bei entsprechender Ausbildung in die intellektuellen Berufe drängten. Auch mit der Institutionalisierung der Arbeiterbewegung nahm die Kulturbürokratie jeder Provenienz zu. Lokalzeitungen, Kulturzeitschriften und die vielen Verlage hatten einen Bedarf an intellektuellen Arbeitskräften. Der Schriftsteller ohne Vermögen war somit nicht länger ein außergewöhnliches Phänomen. Der Talentierte konnte prinzipiell seinen Lebensunterhalt frei verdienen, wenn er es nicht vorzog, nach einer regelmäßig honorierten, festangestellten Arbeit im Dienste des Staates, einer Institution oder der Industrie zu streben. Im Rahmen dieser sozialgeschichtlichen Umschmelzung der Zusammensetzung der bürgerlichen Intelligenz bildete sich bei Lu Märten die Wertschätzung des 3

handwerklich gearbeiteten Einzelprodukts und die Einsicht in die gesellschaftlich begründete Arbeitsteilung zwischen manueller und intellektueller Arbeit aus, beides zentrale Bestandteile ihrer späteren ästhetischen Konzeption. Diese ist zutiefst mit existentieller Erfahrung verbunden: Die Entscheidung und Bejahung der eigenen Arbeits- und Lebensweise als freie sozialistische Schriftstellerin vollzog Lu Märten mit der Niederschrift des Torso. In vielem sind ihre literarischen Kunstabsichten mit ihren kunsttheoretischen Einsichten unvereinbar, zumindest auf den ersten Blick. Bei detaillierterer Untersuchung zeigt sich jedoch, daß beide aus der Konstellation von Ästhetik und Politik um 1900 stammen. Das Schlagwort »Einheit von Kunst und Leben« kennzeichnet sie. Hiermit ist auf ein Problem gewiesen, das in der Lektüre der Arbeiten Lu Märtens bislang ausgeklammert blieb. Es ist die Frage des Außenseitertums, die sie vor allem in den frühen fiktionalen Texten immer wieder aufwarf, genauer: die nach ihrem eigenen weiblichen Außenseitertum. In der späteren theoretischen Arbeit ist dieser Fragenkomplex keinesfalls ausgeblendet, ganz abgesehen davon, daß Lu Märten nach 1945 das Thema der Frauenemanzipation erneut aufgriff. Als Mädchen von besonders schwächlicher Konstitution ging sie nicht zur Schule, aber sie schrieb, und man druckte sogar, was sie schrieb. Später hielt sie sich nicht an die den Schriftstellerinnen ihrer Zeit zugewiesenen Gehege. Anstatt nur Kindermärchen zu verfassen, arbeitete sie als Reporterin auf Kongressen der Sozialisten oder machte sich zur Sprecherin von Reformbewegungen. Anstatt bei einfühlsamer Biographik zu bleiben, verfaßte sie agitatorische Dramatik. Das war ein erster Schritt zum Außenseitertum selbst unter den schreibenden Frauen. Als sie sich allein auf die wissenschaftliche und theoretische Arbeit konzentrierte, war der Bruch zum traditionellen weiblichen Schreiben vollzogen. Auch innerhalb der sozialistischen, dann kommunistischen Kulturpolitik blieb es ein Wagnis, ohne Anlehnung an eine Autorität in die von Männern besetzte Domäne ästhetischer Theorie einzudringen. Lu Märten ist aber auch aus historischer Perspektive Außenseiterin. Sie reflektierte diesen Status ihrer wissenschaftlichen Arbeit und brachte dabei ihre Kenntnisse des Arbeitsprozesses in den bildenden Künsten ein. Ihre Erkenntnisse der Situation künstlerisch arbeitender Frauen waren an die Organisationen der Arbeiterbewegung, der Schriftsteller und Künstler sowie an die der Frauenbewegung gerichtet. Sie schrieb sowohl für die sozialistische wie für die bürgerliche Frauenbewegung, in erster Instanz für deren linksbürgerlichen Flügel. Durch ihre genaue Selbstbeobachtung gelangte sie zu einer Position, die man ein halbes Jahrhundert später als feministisch deklarieren würde. Doch die Frauenbewegung der siebziger Jahre hat Lu Märten nicht für sich entdeckt. In Hinblick auf die ästhetische Konzeption verhält es sich nicht viel anders. Da Lu Märten nicht im Kontakt mit den, wie es sich seit den fünfziger Jahren herausstellt, >wichtigem Gruppierungen deutscher Literaten stand und die Theoriebildung und Historiographie zur Arbeiterbewegung ihren Beitrag weitgehend ignorierte, bleibt sie auch hier eine Figur am Rande der Geschichte. Erst indem man sie zur unbekannten Vorläuferin Bertolt Brechts und Walter Benjamins machte 4

und auch einige Parallelen zur Konzeption der sowjetrussischen Produktionskunst zog, schien ihre Position greifbarer zu werden. Doch ihre Leistung als Außenseiterin wirkte in anderen Zusammenhängen, gleichsam unterirdisch, aber dennoch nachweisbar; so im tschechischen Poetismus, darüber vermittelt dann auch im tschechischen Strukturalismus. Daß dieser zusammen mit dem anthropologischen Marxismus von Karel Kosik und Robert Kalivoda auf die sozialistische Intelligenz der Jahre um 1968 großen Einfluß nahm, ist nicht ganz vergessen. Doch auch das inzwischen schon historische Interesse, welches das intellektuelle Publikum der Bundesrepublik Deutschland an der Kunstsoziologie Karel Teiges und Jan Mukarovskys nahm, ließ Lu Märtens Ästhetik abseits liegen. Die vorliegende Arbeit sieht ihre Aufgabe darin, Lu Märtens tatsächliche Wirkung herauszustellen und dabei die historisch überprüfbaren persönlichen wie literarischen Verbindungen zu berücksichtigen. Bei diesem Unterfangen ergab sich zwangsläufig ein erstaunliches Resultat: Die oftmals als bemerkenswert empfundene Stellung Lu Märtens innerhalb der Literaturpolitik der frühen KPD, die zu Recht als wesentlicher Beitrag zur Kultur der Weimarer Republik Wertschätzung erfuhr, ist in bildungsgeschichtlichem und strukturell-genetischem Zusammenhang mit dem sogenannten Sachstil um 1900 zu sehen, der avantgardistischen Richtung des Jugendstils. Anders als die nachexpressionistische Avantgarde, die sich das Neue in scheinbarer historischer Voraussetzungslosigkeit einzurichten begann und dabei vielfach »unbewußt« auf die Formensprache der Jahrhundertwende zurückgriff, wird an Lu Märtens Arbeiten die Kontinuität zwischen der Modernität des Jugendstils und der der zwanziger Jahre augenfällig. Die vorliegende Studie versucht somit exemplarisch die soziokulturelle Kontinuität des Industriezeitalters und der Versuche von Schriftstellern, ihm gerecht zu werden, zu erfassen. Wenn Lu Märten im Rahmen der Arbeiterautobiographien und der sozialistischen Dramatik inzwischen wohl ein Platz in der Literaturgeschichte eingeräumt wurde, so stellt diese Einordnung Leser, die mit der Literatur der Jahrhundertwende vertraut sind, doch nicht restlos zufrieden. Seitdem es eine nicht mehr nur modische Beschäftigung mit den bildenden Künsten und der Literatur des Jugendstils gibt, hat eine literaturwissenschaftliche Debatte über den Kunstcharakter dieser Stilbewegung begonnen. Darunter finden sich zahlreiche Beiträge zu begrifflichen Differenzierungen zeitgleicher literarischer Strömungen wie insbesondere der Neuromantik und des literarischen Symbolismus bzw. Impressionismus. Dabei richtet sich das Interesse hauptsächlich auf die massenwirksame Trivialliteratur mit ihren Symbolisierungen oder die beständigere Kunstprosa und -dichtung jenes Zeitraums, die oft aus einem anti-sozialen Selbstverständnis heraus um die Erneuerung einer Autonomie des Literarischen bemüht waren. Dagegen sind stilistische Kriterien für eine Untersuchung der Arbeiterliteratur wohl gefordert, doch kaum entwickelt worden. Die Prosa Lu Märtens und ihre spezifische Situation als Schriftstellerin »zwischen den Zeiten und zwischen den Klassen« (Otto Jenssen) provoziert zu einem solchen Unterfangen; zumal die Ergebnisse, die davon zu erwarten sind, konkretere Anschauungen darüber vermitteln dürften, welche inneren und äußeren Schwierigkeiten sich dem Schriftsteller in den Weg 5

stellten, der seine Einsichten in die moderne Ästhetik konsequent mit gesellschaftskritischen verbinden wollte. So liegen die Aufgaben der vorliegenden Studie, die Lu Märtens Lebensarbeit zum ersten Male zusammenhängend vorstellen will, darin, die Anfänge ihres fiktionalen Schreibens sowie dessen Stellenwert darzulegen, ihre kunsttheoretischen Arbeiten im Rahmen der sozialen und ästhetischen Bewegungen um 1900 in Berlin genetisch zu betrachten, deren Wirkungsgeschichte bis 1933 auszumachen, die historische Situation der freien sozialistischen Schriftstellerin zu skizzieren, und schließlich, soweit es für das Verständnis der Texte notwendig ist, der Biographie Lu Märtens Raum zu geben. Leben und Werk nach 1933 werden abschließend in zwei Kapiteln vorgestellt. Damit ist das Problem der Quellenlage berührt, das eng mit der Frage zusammenhängt, wie Lu Märten ihre Texte und biographischen Materialien überlieferte. Selbst ein großer Teil ihrer Publikationen wäre nicht auffindbar, hätte die Autorin sie nicht auch gesammelt. Lu Märten übergab 1961 einen kleineren Teil ihrer Sammlung der Akademie der Künste der DDR. In diesem Teilnachlaß sind in erster Linie die Verlagskorrespondenzen aus den zwanziger Jahren aufbewahrt sowie einige ihre wissenschaftlichen Arbeiten berührende Korrespondenzen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur wenige der hier auffindbaren Texte Lu Märtens sind nicht in ihrem Nachlaß vorhanden, den sie 1969 dem Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte übergab. In diesem weitaus umfangreicheren Teil ihrer Sammlung sind neben den publizierten und unpublizierten Texten die übrigen biographischen Unterlagen vorhanden, die sie überliefern wollte. Soweit darunter die Korrespondenzen überhaupt einen Bezug zu ihrer literarischen vita activa besitzen, repräsentieren sie überproportional den Zeitraum ab ca. 1902 bis in den Anfang des Ersten Weltkriegs hinein. Bei der Durcharbeitung dieser Materialien kam ich zu der Auffassung, daß Lu Märten gerade auf die Zusammenhänge, die sich in den frühen Korrespondenzen zeigen, großen Wert legte. So etwa machte sie detailliertere Angaben über die Korrespondenten oder fügte Photographien der Freunde hinzu. Großen Wert aber legte sie deswegen auf diese teilweise persönlichen Zusammenhänge, weil nur diese frühen Bekanntschaften und Freundschaften überhaupt in einem für sie selbst produktiv erfahrenen Bezug zu ihrer schriftstellerischen Arbeit standen. In den späteren Jahren wiederholte sich ein entsprechendes Zusammentreffen nicht mehr. In dieser Ansicht bestärkten mich die autobiographischen Erinnerungen, die Lu Märten in den sechziger Jahren für ihren Neffen Walter Märten verfaßte. Den Lesern ihrer ästhetischen Beiträge aus den zwanziger Jahren, welche die Autorin zuallererst mit den kulturpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik in Zusammenhang bringen, mag diese Schwerpunktsetzung auf den Zeitraum unmittelbar nach der Jahrhundertwende unverhältnismäßig erscheinen. Doch nicht allein das biographische Material zwang zu einer solchen Umakzentuierung; auch die zusammenhängende Beschäftigung mit Lu Märtens frühen literarischen Texten und manifestartigen ästhetisch-theoretischen Entwürfen veranlaßte mich zu dieser Gewichtung. 6

Manche Widersprüche, manches rein Zeitgebundene in Lu Märtens Texten treten dadurch desto krasser hervor. Doch mit der vorliegenden Studie soll auch ein exemplarischer Beitrag zur Sozialgeschichte der deutschen Schriftstellergeneration vorgelegt werden, welche um die Jahrhundertwende aktiv wurde, sich von hier aus die kulturelle Problematik des 20. Jahrhunderts erschloß und sie in dessen Debatten über Literatur, Kunst und Gesellschaft einbrachte. Die methodische Berücksichtigung dieser Ungleichzeitigkeit beugt sowohl identifizierender Adaption als auch einem fertigen Urteil bezüglich historisch-materialistischer Ästhetik vor. Darüber hinaus lassen sich erst aus manchen Dissonanzen in den Texten Lu Märtens weiterführende Elemente für eine nichtreduktionistische Theorie der Literatur und der Kunst freilegen.

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ERSTER TEIL

1.

Die Verkannten. Gegenwelten der wilhelminischen Gesellschaft

1.1. Hinter Türen. Familie, Künstlerkreise, weibliches Außenseitertum Kindheit und Schule Louise Charlotte Märten wurde am 24. September 1879 geboren. Der Vater Gottlieb Hermann Märten stammte aus Giesenbrügge bei Lippehne und Soldin und war in bäuerlichen Verhältnissen großgeworden. Er ging dann in den preußischen Militärdienst, um, wie Lu Märten angab, »später eine zivile Position zu erlangen«,1 diente im Krieg gegen Dänemark (1864/66) als Feldwebel, kam 1870 als Unterleutnant in die Festung Spandau und erhielt schließlich eine beamtete Position bei der Königlichen Eisenbahndirektion in Berlin. Die Mutter Emily Antonie Loeben war in Spandau geboren. Ihr Vater, von brandenburgischem Adel, doch verarmt, hatte den Adelstitel schon abgelegt und lebte als »ein armer Handwerker, auf den böse Schicksale nur so herabstürzten«. 2 So wuchs die Tochter in der Familie eines Justizrates auf, gehörte dabei wie der Vater zur Apostolischen Gemeinde. Lu Märten war das dritte Kind. Bei ihrer Geburt waren die Schwester Margarete sechs, der Bruder Walter vier Jahre alt. Zwei Jahre später kam ein weiterer Bruder, Hermann, zur Welt. So weit Lu Märtens Erinnerung in die Kinderzeit zurückreicht, war der Vater leidend. Die Ursache des Rheumatismus schrieb man allgemein dem strengen Winter während des Kriegsdienstes zu. Der Vater starb 1890, nachdem er vorher schon mehr und mehr ans Bett gefesselt war. Das Kind wurde nicht nur Zeuge seiner Schmerzen, die schließlich nur noch mit regelmäßigen Morphiumgaben gelindert werden konnten, es wurde auch Zeuge eines Selbstmordversuchs des Vaters. In der Erinnerung an ihn ist das Bild eines gütigen Mannes gezeichnet, der dank einer natürlichen Autorität frei von den Zwängen des wilhelminischen Charakterpanzers war. 1

Lu Märten: Autobiographie. S.2. Verfaßt um 1960 für Walter Märten. Typoskript im Besitz W. Märtens. Das Typoskript hat einen Umfang von 120 Seiten. Lu Märten nahm eine Seitenzählung nach Abschnitten vor. Die durchgehende, im folgenden angeführte Seitennummerierung stammt von mir. Meine biographische Darstellung gründet sich im wesentlichen auf d i p e Autobiographie. Irrtümliche falsche Angaben Lu Märtens, die ich mit Hilfe anderer biographischer Dokumente, insbesondere den Briefen an sie, korrigieren konnte, sind stillschweigend verbessert. Konzeptuelle Eigenheiten der Schreibweise sind grundsätzlich beibehalten, offensichtliche Fehler der Textvorlage habe ich nach heute geltenden Regeln der Orthographie und Grammatik stillschweigend korrigiert.

2

Lu Märten, ebd., S. 12.

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Der langjährigen Bettlägrigkeit des Vaters wegen erhielt die Familie regelmäßigen Besuch des Hausarztes. Er beobachtete auch das kränkelnde Mädchen, erteilte Ratschläge, gab Anweisungen. »Als ich mit sechs Jahren zur Schule kam und er davon erfuhr, war er aufgebracht und verbot den Schulbesuch. Auf Mamas besorgten Gedanken, daß ich doch etwas lernen müßte, meinte er verächtlich: >Den Krempel holt sie doch immer nach.< Also da war ich ausgeschult.«3 Lesen und Schreiben brachte ihr dann der Vater bei. Der erzwungene Ausschluß von der Schule ersparte ihr die Erfahrung mit Lehrern und mit einer Schule, deren Haupterziehungsmittel der Rohrstock war; die in den Klassengemeinschaften herrschenden Zwänge zur Selbstbehauptung, die Konfrontation mit den unter Schülern üblichen kleinen täglichen Sadismen blieben aus. Lu Märten erfuhr sie erst später während eines Besuches von wenigen Monaten auf der Mittelschule. Daß die vorgegebenen zähflüssigen Schritte des Lernens in zu großen Klassen ebenso fehlten wie die vorgegebenen Lehrstoffe, führte dazu, daß alles Gedruckte im Hause zum Übungsmaterial wurde. Lesen und Schreiben aus Zwang und Lesen in begieriger Spannung waren schon bald nicht mehr zu unterscheiden. Doch der Vorrat zuhause war klein: Es gab Andersens Märchen, Lederstrumpf und die Bibel und ansonsten die Zeitungen, die gehalten wurden, die Berliner Zeitschrift Der Bär und die Staatsbürger-Zeitung. Wenn eine Periode der Genesung einsetzte, ging Lu Märten zur Schule. Doch dann machten sich bald wieder die Folgen der sozialen Absonderung bemerkbar, sei es in einer plötzlich einsetzenden körperlichen Schwächung, sei es als überstarke Sensibilisierung der Wahrnehmung, die sich mit der Phantasie des Kindes mischte. Vom Ende solcher Versuche, die Volksschule zu besuchen, heißt es in den Erinnerungen: »Ich ging sehr gern zur Schule, aber sie langweilte mich etwas; die Klassen waren damals überfüllt; ihre Schäden waren mir nicht bewußt; aber manchmal, wenn ich nach Hause ging, sah ich die ganze Welt, alle Dinge, wie durch grünes Glas und erzählte dies Wunder. [...] Aber dann berichtete Mutter dem Arzt von meinem grünen Wunder, und da gab es Krach! Er drohte, nie mehr zu kommen, wenn man [mich] ohne sein Wissen und [ohne seine] Erlaubnis [weiter zur Schule gehen ließe]... Man brachte mir die Schulaufgaben ins Haus, und ich rutschte irgendwie durch die Klassen bis zu neuen Krisen.« 4 Nach dem Tod des Vaters lebte die Familie unter dem drohenden Schatten einer möglichen sozialen Deklassierung. »Papa hatte es immer vermieden, sich pensionieren zu lassen, und die Pension, die Mutter dann bekam, war so lächerlich gering . . . Es kam die eigentliche schwere Not.« 5 Die bisherige Wohnung mußte gegen eine billigere, engere in einer weniger unbescholtenen Wohngegend vertauscht werden; das zum Auskommen Fehlende erhielt die Mutter zum Teil von der Familie des Justizrats, in der sie als Pflegekind aufgewachsen war. Unter dem Stichwort »1892 — Charlottenburg, Potsdamer Str. 31« erinnert sich Lu Märten: »Die Wohnung lag in einem Eckhaus, mit einer Apotheke, die ihm etwas Würde gab. Die Straße war bewohnt von kleinen Beamten der Eisenbahn, aber des nachts 3 4 5

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Lu Märten, ebd., S.5. Lu Märten, ebd., S.8. Lu Märten, ebd., S. 11.

von allerlei Gesindel benutzt. Da waren nur zwei Zimmer und eine Küche, noch ohne Gas und ohne jede Bequemlichkeit. Leider auch ohne Sonne. Die Häßlichkeit der Straße wurde von Baumreihen verdeckt, doch wurden sie später alle gefällt. In dieser Wohnung haben wir fast zehn Jahre zugebracht.« 6 Der Anfang einer weitergehenden, viele Wandlungen durchmachenden Erfahrung dürfte hier in der Potsdamer Straße zu suchen sein: die von der Häßlichkeit der Berliner Mietskaserne, von Wohnbedingungen, die mehr als nur sozialer Mißstand sind, nämlich eine Enteignung von anthropologischer Dimension: Zu wenig Licht, zu wenig Luft, weder die Ruhe der freien Landschaft noch die innere Bewegung, die mit dem Wechsel der Jahreszeiten Wahrnehmen und Erleben bestimmen, sind den armen Bevölkerungsschichten der Großstadt gelassen. Dennoch schreibt Lu Märten in ihren Erinnerungen über die Lebensfreude, die in den Spielen der Geschwister entstand: Mit Hilfe von Bettlaken machte man aus einem kleinen Zimmer eine Bühne und führte den Abschiedsmonolog der Jungfrau von Orléans auf. Von den frühen Spielen um das Charlottenburger Schloß herum kannte man Kinder, dje im alten Marstall wohnten, der Vater war ein ehemaliger Leibkutscher Kaiser Wilhelm des Ersten, die Mutter gehörte, wie die eigene, zur Apostolischen Gemeinde. Die Kinder trafen sich im Marstall, wo eine Reihe unbenutzter Hofequipagen untergebracht war. Man spielte darin Reisen, besonders gern im »historischen Tilsiter Reisewagen der Königin Luise, den wir seiner Schönheit wegen (gelb mit blauem Tuch) liebten«. 7 Einen Unterschied zu den Spielen anderer Kinder vermerkt Lu Märten lediglich: »Es war etwas Stilles in unserem Hause; die selbstverständliche Rücksichtnahme auf den Vater, besonders in den letzten Jahren seines Lebens, machte uns leise sein in allem Tun.«8 Aufmerksamkeit und Innerlichkeit als Umgangsform wurden dadurch gefördert. Sie bestimmten die weitere Entwicklung im jugendlichen Alter. Die Frömmigkeit der Mutter verstärkte beide. Mit fünfzehn Jahren, nach der Konfirmation, war Lu Märten zusammen mit ihrem Bruder Walter selbst Mitglied der Apostolischen Gemeinde. Die Religiosität der Mutter blieb lange Zeit von ungebrochenem Einfluß. Walter bereitete der Schwester darüber hinaus, gleichfalls innerhalb des kulturellen Lebens der Apostolischen Gemeinde, einen ersten Weg zu musikalischem Verstehen. Das apostolische Christentum hatte seinen Ursprung in den sozialen Konflikten des industrialisierten England. Etwas sich scheinbar Widersprechendes darf für diese christliche Sekte als charakteristisch gelten. Tüchtigkeit, wie sie die Welt des industriellen Zeitalters in ganz und gar säkularem Sinne verlangt, mußten die Pfarrer mit einem frühchristlichen Ritus vereinbaren können. Denn sie selbst waren erst einfache Gemeindemitglieder, wurden von der Gemeinde gewählt, und solange diese noch nicht für ihren und der kirchlichen Einrichtungen Unterhalt 6 7 8

Lu Märten, ebd., S.29. Lu Märten, ebd., S.31. Lu Märten, ebd., S.29.

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sorgen konnte, übten sie neben dem Kirchenamt einen weltlichen Beruf aus. Der Ritus wies einzelne Elemente der griechischen Orthodoxie auf, soll aber, Lu Märten zufolge, einer noch älteren Liturgie nachgebildet gewesen sein als der byzantinischen. Der Gesang beruhte auf einem prätonalen System, und zwischen Rezitativ und Melodie wurden die Psalmen intoniert. Zu den Festen wurden aber auch Choräle und Motetten gesungen und selbst die Orgel gespielt. Die beiden letzten musikalischen Formen sind innerhalb der byzantinischen Liturgie undenkbar. 9 Die Gemeinde der Berliner Apostoliker war vergleichsweise groß. Sie konnte mehrere Kapellen unterhalten. Ihre Mitglieder stammten, wie sich Lu Märten erinnert, eher aus den armen Schichten der Bevölkerung. Die Kapellen waren auf Hinterhöfen neu errichtet, eine davon in der Potsdamer Straße. Unter den Mitgliedern war es üblich, einander direkt, ohne den Umweg über soziale Einrichtungen zu helfen. Dieses Ethos der christlichen Nächstenliebe ist als ein starker Impuls im sozialpolitischen Engagement Lu Märtens später noch spürbar. Auch ihre reiche soziale Phantasie, die sich in Entwerfen und Ausmalen von Reformmodellen äußert, dürfte nicht zuletzt mit diesen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht werden können. Den Ritus hat sie ausdrücklich als Schritt in der ästhetischen Bewußtwerdung anerkannt. Rückblickend heißt es darüber eher resümierend: »Was aber den Kult betrifft, so ist es verständlich, daß er auf die Sinne und Seelen von Menschen wirken mußte, die von den Dingen, Kulten, Interessen, Künsten der übrigen (bürgerlichen) Welt kaum etwas wußten. Eindrücke, wie es sonst die Kunst bezweckte. Eindrücke der Phantasie — vielleicht für Kinder — aber auch für Künstler.«10 Für Lu Märten bot der apostolische Ritus die erste Berührung mit einer Kunstform, der Musik, die sie gleichsam meditativ, »ganz in den sehr alten Melodien der Kirche«11 lebend, erfaßte. Musik hat Lu Märten erst aktiv betrieben, als der Bruder Walter dafür sorgte, daß ein Klavier ins Haus kam. Er hatte eine kaufmännische Lehre abgeschlossen, arbeitete in einem Kontor und trug damit entscheidend zum Lebensunterhalt der Familie bei. Trotz der den Tag ausfüllenden Arbeit fand er Zeit, Geige spielen zu lernen. Lu Märten nahm Klavierstunden. Über die Musik kamen sie mit anderen Leuten ihres Alters in Berührung, man spielte Quartette. Die Chormitglieder der Apostolischen Gemeinde kamen ins Haus; weil sie sämtlich keine Noten lesen konnten, war das 9

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Daten zur Entstehung und Verbreitung der katholisch-apostolischen Gemeinde bzw. der neuapostolischen Kirche, welche ihre Mission für Deutschland von Berlin ab ca. 1860 führte, finden sich in: Handbuch religiöse Gemeinschaften. Freikirchen, Sondergemeinschaften, Sekten, Weltanschauungsgemeinschaften, Neureligionen. Hg. von Horst Reiler. Gütersloh 31985. S. 311 ff. Meine Ausführungen über das kulturell-soziale Leben und den Ritus folgen der Schilderung Lu Märtens in der Autobiographie. Einzelne Bestandteile des Ritus sind beschrieben von Friedrich Baser: Symbolik der übrigen christlichen Freikirchen und Weltanschauungsgruppen sowie der Sekten des Westens. In: Werner Küppers u.a. (Hg.): Symbolik der kleineren Kirchen, Freikirchen und Sekten des Westens. Stuttgart 1964. S. 77 - 82. Lu Märten, ebd., S.28. Lu Märten, ebd., S. 34.

Klavier für das Einstudieren der Chöre hilfreich. Solche gemeinsame Entfaltung der Fähigkeiten schuf zwischen den Geschwistern eine enge Bindung. Walter war es auch, der bei der Schwester Freude an den verschollenen Dingen und Spürsinn für das Entlegene und Vergessene weckte. »Sooft es ging, stöberte ich mit Walter in den Antiquariaten herum, damals meist bescheidene Läden in Kellern, und wir fanden Bücher und Noten; unter den Noten auch das vergessene Mozartspiel Einen Walzer mit zwei Würfeln zu komponieren.«12 Auch begann er damit, einen Katalog der Werke Haydns anzulegen. Was an allen diesen Formen der Selbstbildung so tief in der Aufnahmebereitschaft der Schwester nachwirkte, dürfte eine Energie gewesen sein, die bloßem Streben nach Bildung widersprach: aus ständiger Übung und praktischer Erfahrung lernen zu wollen. Eine Erinnerung Lu Märtens noch an die Kinderzeit macht diese Wirkung anschaulich, ungeachtet dessen, daß sie hier auf einer anderen Ebene erscheint, nämlich als Spiel und Spielzeug. So erwähnt sie, daß sie zusammen mit Walter die Elektrizität »erfand«; und er stellte auch ein Spielzeug her, »eine kleine Kutsche, ganz aus Pappe und Papier gemacht, kein fremdes Material daran, selbst nicht an den Rädern, und doch war alles fest und stabil«.13 Ohne Übertreibung darf so behauptet werden, daß die zum großen Teil selbstentwickelten Fähigkeiten der Geschwister für Lu Märten schulbildend waren. Ihre Erinnerungen berichten mit Bewunderung von der handwerklichen Begabung der älteren Schwester Margarete. Sie hatte der Mutter einen großen Teil der elterlichen Aufsicht und Sorge um die kleineren Kinder abgenommen, ein Part, der ihr als der Ältesten unter den Geschwistern zusammen mit anderen reproduktiven Aufgaben zufiel. Lu Märten lernte vor allem in Erinnerung an Margarete die Kunstfertigkeit schätzen, die sich in den der weiblichen Arbeitskraft überlassenen Produktionsbereichen entfaltet; Fertigkeiten, die im Abseits wirken, weil sie gesellschaftlich nicht anerkannt oder bestenfalls als selbstverständliche und deswegen unentlohnte oder schlecht bezahlte Dienstleistungen hingenommen werden: Rastlosigkeit gepaart mit Geschick bei der Pflege der Wohnung, Kleidung der Kinder; Sorgfalt und Liebe gegenüber dem, was sich abnutzt. Margarete konnte früh nähen, kleidete die Geschwister ein und nähte auch »ganz herrliche Puppen«. 14 Sie verdiente, indem sie stickte und nähte, früh etwas Geld zum Familieneinkommen hinzu. Die Puppen aus ihrer >Werkstatt< wurden später an Bekannte verkauft. Ihr Talent verbrauchte sich derart im Zwischenbereich zwischen Heimarbeit und Kunstgewerbe, eine Produktionssphäre, in der die Handarbeit mit den maschinellen Systemen der Fabrik konkurrierte. Hier zählt vor allem Rücksichtslosigkeit gegenüber dem eigenen Bedürfnis an Muße, und der Grad der (Selbst-)Ausbeutung darf mit dem des individuell arbeitenden Künstlers verglichen werden, weil die in beiden Fällen produzierten Gebrauchswerte außerhalb von Produktion und Zirkulation ihren Wert erhalten. 12 13 14

Lu Märten, ebd., S.40. Lu Märten, ebd., S.37. Lu Märten, ebd., S.22. 13

Margarete aber war sich offenbar ihrer Fähigkeiten sehr bewußt und versuchte frühzeitig, sie aus der anonymen Sphäre heraus zur Geltung kommen zu lassen. Lu Märten berichtet, was sie darüber von der Mutter gehört hatte: »Sie hatte Grete überrascht, als diese heimlich auf die Straße gehen wollte, um einen kleinen Handel zu versuchen. Grete hatte sich eine Art Trage zurechtgemacht und einen Kasten mit allerlei Nähkram und hübschen Kleinigkeiten und wollte dies nach Art solcher Händler feilbieten.« 15 Als sie die Schule abgeschlossen hatte, plante Margarete, ihre Handarbeiten zu professionalisieren; sie verschickte Anzeigen und stellte in einem Schaukasten vor dem Mietshaus ihre Arbeiten aus. Sie begann auch eine Diplomausbildung im Lette-Haus. Mit 18 Jahren erkrankte sie plötzlich. Erst zeigte sich hohes Fieber, bald aber eine akute Tuberkulose, die sogenannte galoppierende Schwindsucht. Margarete starb 1891. Für die Geschwister kam der Tod unerwartet und schockierend. Er war plötzlich unter ihnen selbst und ohne jahrelanges Leiden wie beim Vater. Anders als er hatte sich Margarete gegen den Tod gewehrt. Bei Margaretes Tod, ein Jahr nach dem des Vaters, war Lu Märten 12 Jahre alt. Innerhalb weiterer 15 Jahre sollte sie alle Geschwister und auch die Mutter verlieren. Mit dem Tod der Schwester zog eine Bedrohung auf, die Ohnmacht vor Krankheit und Sterben wurde Familienschicksal. Zugleich wurde die Mutter ein erstes Mal ernsthaft bettlägrig. Lu Märten selbst, ihrer zarten Konstitution wegen ständig behütet, zog sich wenige Jahre später eine Niereninfektion zu; so jedenfalls lautete die Diagnose des Arztes. Die Entzündung äußerte sich in bis zur Bewußtlosigkeit gehenden schmerzhaften Koliken. Solche >Anfälle< stellten sich bis zur Operation (1905) regelmäßig ein. Weil danach immer wieder ein Zustand der Besserung eintrat, wurde der Krankheitsverlauf nur beobachtet. Therapien wurden zum Teil aus Geldmangel nicht in Betracht gezogen. Zudem stand die Krankheit des Mädchens zurück, da auch der ältere Bruder Walter mit den ersten Anzeichen einer Tuberkulose von der Arbeit nach Hause kam. Er starb 1898, nach einigen Reisen in Luftkurorte. Die letzten Jahre seines Lebens standen unter dem Verdikt, unheilbar krank zu sein. Im Torso, den Lu Märten 1906/7 zu schreiben begann, bildet diese Todeschronik der Familie das erzählerische Gerüst. Es ist verführerisch und sicher auch nicht falsch, der Niederschrift dieses Romans die Funktion einer Schicksalsbewältigung zuzusprechen. Bemerkbar macht sie sich vor allem dort, wo die Autorin das jeweils erste Auftreten der Krankheitssymptome schildert. Sie setzt sie in Beziehung zu einzelnen, durch die Verarmung der Familie erzwungenen Lebensumständen: dem Mangel an Luft für die Bewohner der Mietskasernen mit ihren düsteren Zimmern; dem Mangel an Wohnraum — die Kranken müssen im Zimmer mit tropfender, zum Trocknen aufgehängter Wäsche liegen; dem Zwang zur Lohnarbeit; Grete ist durch die Heimarbeit geschwächt, Walter durch die langen Wege an kalten Wintermorgen zum Kontor. Lu Märten unterstreicht die sozialen Ursachen der Krankheit. 15

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Lu Märten, ebd., S.20.

Daß sie nicht von der Hand zu weisen sind, steht fest. Es handelt sich jedoch auch um Stilisierungen. Die Erinnerungen Lu Märtens aus den sechziger Jahren verfahren in dieser Hinsicht wesentlich vorsichtiger. Sie machen lediglich Andeutungen über mögliche Entstehungsbedingungen der Krankheit, zumal beide Geschwister als kräftig und gesund erinnert werden. Margarete etwa habe sich den Krankheitskeim auf einer der Erholungsfahrten des Vaters, den sie begleitete, zuziehen können. Es waren Reisen mit der Pferdebahn, den einzigen Schutz gegen die Kälte bot eine Decke. 1 6 Selbst beim eigenen jahrzehntelangen Leiden gibt es keine Gewißheit über die Ursache. Es trat zuerst nach einem ausgiebigen Besuch des öffentlichen Schwimmbades auf. Das Versagen medizinischer Erklärungen ist für die Tragweite der Erfahrung von Krankheit und Tod am Beginn der schriftstellerischen Arbeit Lu Märten ein weit beredteres Symptom als der frühe Versuch, es durch den Akzent auf die soziale Pathogenese zu überspielen. Ungewißheit, Ohnmacht, die Befürchtung, einen Platz in einer dunklen Reihe von Toden nur ausfüllen zu müssen, bestimmten ihre Perspektive auf die Zukunft. In den Erinnerungen spricht sie von einem stillschweigenden Einverständnis mit dem Bruder Walter vor seinem Tod: »Wenn wir allein waren, sprachen wir wie selbstverständlich über unseren Tod; es schien uns auch selbstverständlich, daß nach ihm ich an die Reihe kommen würde.« 17 Jugend Die von allen berücksichtigte schwache körperliche Verfassung des Mädchens, das plötzliche Auftreten eines schmerzhaften chronischen Leidens, das dennoch wie vorherbestimmt erschien, die damit verbundene Bettlägrigkeit, dies alles prägte stark die Neigungen, die der Jugendlichen von den um sie werbenden Männern entgegengebracht wurde. Dem Ideal einer bürgerlich vielversprechenden Frau dürfte Lu Märten auch als Jugendliche zu keiner Zeit entsprochen haben; weder adrette Tüchtigkeit noch Schönheit waren anzubieten. Auch bildete die offenbare soziale Deklassierung der Familie eine Barriere. Für einen optimistisch in die Zukunft blickenden jungen Mann aus bürgerlichen Verhältnissen war das Mädchen keine >PartieDer Mensch tut allzeit was er will und tut es doch notwendige« Lu Märten: Ibsen-Brand und das Wollensproblem. In: Welt und Wissen. Hannoversche Blätter für Kunst, Literatur und Leben. Beilage zum Hannoverschen Courier. 1909, Nr. 126 (Ausgabe vom 12.5.1909). Lu Märten: Autobiographie. S.43.

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anzuerkennen, ohne den Lebenswillen aufzugeben. In diesem Sinne hat auch Bertrand Russell die spinozistische Philosophie als eine des Trostes in die Geschichte der Philosophie eingereiht. 30 Gewiß muß aber auch Lu Märtens und ihres Bruders Spinoza-Lektüre vor dem Hintergrund eines breiten zeitgenössischen Interesses für den Philosophen gesehen werden. Es wurde durch die Neuübersetzungen der wichtigsten Schriften Spinozas geschaffen, die der Rabbiner und Sozialdemokrat Jakob Stern angefertigt hatte und die im Reclam-Verlag in Massenauflage erschienen. 1891 brachte zudem der sozialdemokratische Dietz-Verlag Sterns Monographie Die Philosophie Spinozas. Erstmals gründlich aufgehellt und populär dargestellt heraus. Sterns Übersetzungen bewirkten schließlich, daß nach Plechanov nun auch Mehring gegen neukantianische Richtungen des sozialdemokratischen Revisionismus Marx als Schüler Feuerbachs in die Nachfolge Spinozas stellte. 31 Zu dieser sozialdemokratischen Spinoza-Rezeption stellte Lu Märten allerdings nirgends eine Verbindung her. Dennoch führen die Spuren ihrer Lektüre der Ethik vermittelt zu Marx und dessen Feuerbachkritik. In Über den Begriff der Kultur und seine Anwendung im Sozialismus piazierte sie die Bestimmung »der freien Notwendigkeit des Handelns«, 32 die sie als »Ethik« bezeichnet, zwischen die Bestimmungen »Kultur« und »Organisation«, worunter sie die politisch-kulturellen Bewegungen vom Liberalismus über den Sozialismus bis hin zur Frauenbewegung faßte. Lu Märtens frühester Aufsatz über Ibsen interpretiert das Handeln seiner Heldengestalten und deren Entschluß zur individuellen Autonomie in eben diesem Sinne »ethisch«. In beiden Fällen läuft der Gedanke der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit schicksalhaftem Erdulden zuwider. Diese Wendung ist in der dialektischen Fassung des Substanzbegriffs Spinozas angelegt. Er enthält ein Moment, das der späteren Auffassung von Ideologiekritik durch Praxis bei Marx nahekommt. Spinoza verwirft ein krudes Zweck-Mittel-Denken im Sinne materialistischen Nützlichkeit für den Einzelnen; er erklärt dieses vielmehr zu einem Vorgang, der hinter dem Rücken der Menschen herrschendes Gesetz wird: Die Begierde strebe nach dem Nutzen, und die, welche sich ihres Begehrens bewußt sind, halten sich für frei. So haben alle Handlungen den einen Zweck, nur den begehrten Nutzen herbeizuführen. Aber, so Spinoza, diese Lehre vom Zweck stelle »die Natur völlig auf den Kopf«, und man mache einen vorgeblichen Willen 30

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Bertrand Russell: History of Western Philosophy and its Connection with Political and Social Circumstances from the Earliest Times to Present Day. London 81975. S.562. Franz Mehring: Kant und Spinoza. In: Mehring, Gesammelte Schriften. Hg. von Thomas Höhle, Hans Koch und Josef Schleifstein. Bd. 13. Berlin 1961. S. 6 6 - 6 9 . (Zuerst in: Die Neue Zeit. 26. Jg. (Bd. I), 1907/08, S. 673-675.) Ausführungen zum historischen Kontext bei Rainer Bieling: Spinoza im Urteil von Marx und Engels. Die Bedeutung der SpinozaRezeption Hegels und Feuerbachs für die Marx-Engelssche Interpretation. Diss. Berlin 1979. S. 186—190. Eine philosophisch differenziertere Analyse der Marxrezeption Spinozas selbst findet der Leser bei Fred E. Schräder: Substanz und Begriff. Zur Spinoza-Rezeption Marxens. Leiden 1985. Lu Märten: Über den Begriff der Kultur und seine Anwendung im Sozialismus. In: Philosophische Wochenschrift und Literatur-Zeitung. 1906, Nr. 11, S.300.

Gottes »zum Asyl der Unwissenheit«; 33 »daß alles in der Natur nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit und höchsten Vollkommenheit hervorgeht«, 34 steht für ihn dagegen fest. So gibt es, dank der naturphilosophischen Substanzlehre, eine Kritik des gesellschaftlich falschen Bewußtseins. Sie kommt darüber hinaus ästhetischen Überlegungen zur Notwendigkeit sehr nahe; zumal auch von Spinoza, wie in den ästhetischen Lehren des Naturschönen, die Zwecklosigkeit von Natur und kosmischer Ordnung unterstellt wird. Trotzdem bleibt ein unauflöslicher Widerspruch zwischen der legitimen Zwecklosigkeit der Individuationen und dem Notwendigkeitszusammenhang der Substanz bestehen. Eben diesen Widerspruch, fand Lu Märten, tragen die Helden und Heldinnen der Ibsenschen Dramen aus, die gegen die gesellschaftliche Fesselung des Individuums, die Lebenslüge, opponieren und dabei meist untergehen müssen. Ibsens Pessimismus wollte sie aber kritisch im Hinblick auf sein Verständnis einer möglichen weiterreichenden gesellschaftlichen Entwicklung verstehen. Wenn er das unterdrückte Individuum sich bewußtwerden und plötzlich kompromißlos die Fesseln abstreifen läßt, dann aber das aus seiner Autonomie heraus lebende Individuum als noch nicht lebensfähig zeigt, korrigiere er, so Lu Märten, die voluntaristische Souveränität des Übermenschen Nietzsches. Diese Korrektur beruhe in einer Evolutionslehre, der Lehre vom »dritten Reich«, die das Drama Kaiser und Galiläer verkündet: »Das Christentum verlangte das Aufgeben der Persönlichkeit mit ihren Wünschen und Neigungen, das Verzichten auf Lebensgenuß; das Heidentum verherrlichte diesen und gab keine Antwort auf Julians Fragen und Suchen nach dem Wahrheitsbegriff. Das dritte Reich erst soll die Versöhnung bringen zwischen Gott und Natur, zwischen Wahrheit und Schönheit, zwischen Geist und Fleisch — Logos in Pan - Pan in Logos.« 35 An dieser Stelle muß die Frage zurückstehen, ob Lu Märtens Ibsen-Interpretation im Rahmen der zeitgenössischen Rezeption originell ist. Es genügt, wenn hier das Zugleich von literarischer, philosophischer wie reformpolitischer Interessenentfaltung einer kaum mehr als zwanzigjährigen Autorin aus dem familiären und damit sozialen Erfahrungszusammenhang hervortritt. Es versteht sich darüber hinaus, daß Lu Märtens Affinität zu Ibsen in diesen Jahren auch von ihrer Bewußtwerdung der sozialen, politischen und selbst familiären Degradierung der Frau in der wilhelminischen Epoche herrührte. Als »Frauenfrage« drang sie in das Bewußtsein breiter Bevölkerungskreise. Man verstand darunter das ganze Spektrum von der polizeilichen Bekämpfung der Prostitution über die Forderung nach einer berufsbezogenen weiblichen Ausbildung bis hin zur Frage des Frauenwahlrechts (darin sahen etwa manche Sozialdemokraten schon die Emanzipation der Genossin innerhalb des Kampfes der Arbeiterklasse, während die unterschiedlichen 33

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Baruch Spinoza: Ethik. Hg. von Helmut Seidel. Übers, von Jakob Stern. Frankfurt/M. 1972. S.75. Baruch Spinoza, ebd., S.73. Lu Märten: Über Ibsens Weltanschauung und Persönlichkeitsforderung. In: Deutsche Welt. Wochenschrift der Deutschen Zeitung. Hg. von Friedrich Lange. 1902, Nr. 5 (12.11.1902), S.56.

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Gruppierungen der Frauen aus dem Bürgertum kaum mehr als ein »Recht der Frauen« mit dem Wahlrecht einklagten); nicht zu vergessen solche vitalen Alltagsfragen wie die, ob Frauen bequeme Kleidung und kurzgeschnittenes Haar tragen dürfen. Bodenreformbewegung Um die soziale Erfahrungsweise der Schriftstellerin zu Beginn ihrer Arbeit noch einmal genauer zu fassen, will ich ein Resümee aus den autobiographischen Erinnerungen, die wir von ihr besitzen, versuchen: Sie konzentrieren sich auf den Innenraum der eigenen Familie. Portraits der Freunde, Gruppierungen, Bewegungen, Institutionen oder Landschaften, die ihr bis gegen Ende des Ersten Weltkriegs bedeutsam waren, 36 zeichnete Lu Märten jeweils in der Form von Exkursen nach, die wieder zur Erinnerung der Familie zurückfinden. Dieser Innenraum ist Ausgangspunkt und Kern der Autobiographie. Er ist von der Güte des Vaters geprägt, der zurückhaltenden Vornehmheit der Mutter, ihrer Lebensklugheit, ihrem Aufopferungswillen, ihrer Frömmigkeit und einem selbstverständlichen Sinn für Gerechtigkeit, die dem sozial Anderen entgegenzubringen ist, der Unermüdlichkeit und dem praktischen Kunstverstand der Schwester, dem handwerklichen Geschick, dem geschichtlichen Spürsinn und der philosophischen Gefaßtheit des älteren Bruders, der bildnerischen Begabung des jüngeren Bruders, seiner politischen Urteilskraft und seinem Engagement. Kinderspiele, die Sonntagsschule der Apostoliker, Musik, Lesen und Schreiben — dies alles bot dem literarisch interessierten und begabten Mädchen der familiäre Schutzraum. Stellte er schon eine Gegenwelt zu gesellschaftlichen Zwängen her, so förderte die eigene Krankheit das Angewiesensein auf innerliche Intersubjektivität. Sie war die Gegenwelt zum wilhelminischen Deutschland. Es gab keine Anpassungsgebote an autoritäres Oben/UntenDenken, keine Bewunderung für säbelrasselnde Offiziere, keine Erziehung mit dem Rohrstock, keine elterlichen Maßnahmen, die Jugendliebschaften, Reformkleidung, Lesen, Schreiben und gar Veröffentlichen, Verkehr in Künstlerkreisen und politischen Zirkeln verbieten wollten. Wenn Thomas Mann die Gegenhaltung des Bürgertums um 1900 mit dem Topos von der »machtgeschützten Innerlichkeit« traf, die eben letztlich doch »mitmachte«, so darf man in Variation dazu sagen, daß sich in der Märtenschen Familie eine Innerlichkeit ohne Schutz durch die Macht ausbilden konnte. Man bildete eine Gegenwelt, und insofern blieb Lu Märtens soziale Erfahrung hermetisch. Der Schritt zu einem aktiven gesellschaftlichen Leben vollzog sich in Form einer Teilnahme an Gruppen, die eine neue Zugehörigkeit vermittelten. Es war eine Gegen weit, die teils opponierend, teils affirmierend Teilhabe an der Macht anstrebte. 1901 stieß Lu Märten zum Bund deutscher Bodenreformer, den Adolf Damaschke leitete. Das rapide Anwachsen der Großstadt Berlin seit den siebziger 36

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»Mit den frühen zwanziger Jahren will ich hier schließen. Sie sind für mich voller Arbeit, Sorgen, Probleme und Not, die mich, bald allein gelassen, auch wesentlich allein angehen.« Lu Märten: Autobiographie. S. 118.

Jahren des letzten Jahrhunderts hatte die Wohnungsnot bzw. das Bodenspekulantentum entstehen lassen. In der Bodenreformbewegung trafen gemischte Interessengruppen einander. Zusammenfassen lassen sie sich unter dem Oberbegriff eines radikalen deutschen Liberalismus. Man war betont national, aber nicht wie die Völkischen gegen die Industrialisierung; man war für den Fortschritt, aber gegen den preußisch-bismarckschen Industrieprotektionismus, gegen die einseitige Förderung von Schwerindustrie und Großgrundbesitz. Mit anderen Worten, die Bodenreformbewegung wollte die Politik einer Klasse, die Bismarck marginalisiert hatte, mit der Kritik des Bodenmonopols in den Großstädten neu formieren: die des liberalen Bürgertums. Die volkswirtschaftlichen Grundsätze, auf die sich die Bodenreformer beriefen, hatte der Amerikaner Henry George in seinem Buch Fortschritt und Armut niedergelegt. 37 Sie gingen von der Tatsache einer ständigen, wachsenden Landflucht aus. Dadurch steige die Grundrente des Bodens in der Stadt. Der Gewinn daraus bleibe in wenigen privaten Händen. Der Wertzuwachs des Bodens werde dadurch der Allgemeinheit entzogen. Da aber die Arbeit jedes einzelnen Menschen wertschaffend und die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums sei, der sich aber nur über den Boden und seine Bebauung realisieren lasse, dürfe dem Menschen das Recht auf ihn nicht in der Form entzogen werden, daß er für seine Unterkunft und Behausung einen beträchtlichen Teil seines Lohnes hergeben müsse. Henry George und nach ihm Damaschke erhoben deswegen die Forderung, den Besitzern des städtischen Bodens solle eine Besteuerung auferlegt werden, deren Höhe an die wachsende Grundrente gekoppelt ist. So falle der Wertzuwachs des Bodens an die Allgemeinheit zurück. Es ist dasselbe antizyklische Programm, das die Physiokraten im 18. Jahrhundert dem Monarchen unterbreiteten, um den Bevölkerungsstrom in die Städte zu regulieren. Damaschke ging es nicht um die Bekämpfung des Privateigentums, sondern um die gerechte Verteilung des aus dem Privateigentum des Bodens erwachsenen Reichtums. Er erhob die Forderung nach einer Sozialisierung der Grundrente. Dadurch werde einem jeden die materielle Voraussetzung geboten, seine sittlichen, körperlichen und geistigen Kräfte voll zu entwickeln; Kapital und Arbeit würden sich in einer kaum vorstellbaren Weise entfalten können. 38 Damaschke zählte zum radikal-sozialreformerischen Flügel innerhalb des Nationalsozialen Vereins Naumanns. Die Bodenreformbewegung bildete darin die >antiliberale< Strömung. Sie verwarf Naumanns industrialistische Wirtschafts- und exponierte Machtpolitik. 39 Weil von den Folgen der Bodenspekulation vor allen Dingen die städti37

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Henry George: Fortschritt und Armut. Eine Untersuchung über die Ursache der Arbeitskrisen und der Zunahme der Armut bei Zunahme des Reichtums. Ein Mittel zur Verbesserung. Übers, von D. Haek. Leipzig (1891). Das Buch war seit 1881 ins Deutsche übersetzt und erlebte zahlreiche Auflagen. Adolf Damaschke: Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches. Berlin 1902. Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein 1896—1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus. München, Wien 1972. S. 167-174.

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sehen Arbeiter betroffen waren, stand aber die Bodenreformbewegung zusammen mit dem Nationalsozialen Verein auch in natürlicher Konkurrenz zur Sozialdemokratie. Vor dem Hintergrund der sozialen Kämpfe seit 1890 sollten die Arbeiter mit Hilfe von Henry George von Karl Marx abgebracht werden: »Warum sind die Arbeiter - in England, Amerika, Australien - nicht Sozialdemokraten? Weil sie nicht den Lehren von Karl Marx, sondern von Henry George folgen.« 40 Wenn auch Naumanns und Damaschkes Bewegungen in dieser Hinsicht eine identische Funktion besaßen, so entfaltete die letztere weiterhin eine revolutionäre Wirkungsgeschichte.41 Lu Märtens Motiv für den Anschluß an die Bodenreformbewegung muß aus ihrer persönlichen sozialen Erfahrung heraus verstanden werden. Mit dem Umzug der Familie in die Potsdamer Straße wich die Bedrückung nicht mehr, welche die enge, lichtlose Wohnung besonders auf das Mädchen ausübte; wo der einzige Trost, die Bäume vor dem Haus, verschwinden muß ten. Es war in erster Linie das Moment der Einsicht in den Raubbau an Natur und Mensch im Zuge der Verstädterung, das die Bodenreformer formulierten und das Lu Märten ansprach: Den Großstädtern, besonders den Arbeitern, wird Lebensnotwendiges vorenthalten; eher noch als nur vom Ausschluß des Produktionsmittelbesitzes rührt die soziale Entfremdung von der Einschränkung unmittelbarer Naturerfahrung her. (Eine Entfremdungserfahrung im Sinne dieses Depravierungsprozesses drückte der Jugendstil ästhetisch aus.) Auch beeindruckte sie, daß es in Charlottenburg schon Wohngenossenschaften gab, die städtischen Boden erworben hatten und seinen Preis durch die Mieten amortisierten, welche niedrig gehalten werden konnten. Zudem suchte die Bodenreformbewegung in den Frauengruppen Einfluß zu gewinnen. Die ökonomisch Selbständigen und die von den Sittlichkeitsfragen Angesprochenen — Anknüpfungspunkt war die Schlafstellenvermietung — sollten erreicht werden. So repetierte Lu Märten Henry Georges Programm. 42 Aufschlußreicher als diese Tatsache selbst ist jene Passage im Torso, worin Lu Märten die Gründe darlegt, weswegen sie sich schließlich von der Bodenreform-

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Anzeige. In: Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift. Hg. von Friedrich Naumann. 2. Jg., 1903, Nr.51. S.807. So tauchte in der revolutionären Periode nach 1918 der Bodenreformgedanke auch in der kommunistischen Linken auf. Paul Kassner: Adolf Damaschke. Ein Führer zu Freiheit und Freude. Oranienburg o. J. (um 1920); Henry George: Die Bodenrente: Der Fluch der Arbeit! (Kernschriften für das revolutionäre Proletariat 2—3). Nürnberg 1919. Konsequenterweise denunzierte der landwirtschaftliche Reichsleitungsfachberater der Nationalsozialisten, Darré, Damaschke als »Marxisten«. (Richard Walther Darre: Damaschke und der Marxismus. München 1932.) Demgegenüber gewann man Naumanns >Sozialismus< unter der NS-Diktatur mit vielen Einschränkungen noch positive Aspekte ab. (Gertrud Lohmann: Friedrich Naumanns deutscher Sozialismus. Berlin 1935.) Vgl. im übrigen Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789—1945). In vier Bänden. Hg. unter der Ltg. von Dieter Fricke. Bd. 1. Köln 1983. Insbes. S. 286-288. Lu Märten: Das Interesse der Frauen an der Boden- und Wohnungsreform. In: FrauenRundschau. Hg. von Helene Stöcker und Carmen Teja. 1903, Heft 13, S. 639-641.

bewegung abgewandt hat. Sie sind in ihrer Formulierung schon vom sozialdemokratischen Engagement bestimmt; ihre Akzentuierung verdient Interesse: 43 Wir gingen [...] in die politischen Versammlungen und dahin, wo man in Verfolgung einer besonderen Bodenpolitik für Licht und Raum kämpfte. Alles Denken und alle Wichtigkeit dieser Kämpfe ist in uns selbstverständlich und durch die Geschichte unseres Lebens, so weit sie sich denken läßt, gerechtfertigt. Ich schrieb meine ersten Arbeiten auf Grund zustimmender Überzeugung dieser Politik; dennoch schienen mir ihre Vertreter mehr und mehr des Sektiererwesens verdächtig. Ich dachte wieder an das Wort: Laßt den Arbeiter seine Fragen lösen — Der Philosoph, der etwas lösen will, das nicht sein >Ich< ist, ist eher ein Narr denn ein Philosoph. Hier waren nun zwar Systeme und philosophische Spekulationen, mit denen man den Satz von der Notwendigkeit des Gesamteigentums am Boden erweisen und unterstützen wollte, keineswegs aber Philosophen; sondern Leute aus dem besseren Bürgertum, vielfach auch Begüterte und Adlige. Eine Überzeugung in diesen Kreisen blieb mehr oder weniger, was sie war, eine ethische Überzeugung ohne eigentlichen Kampf. Ein Sport als Lebensinhalt. Die daraus resultierende Konsequenz keine dringende Not- und Abwehr, sondern ein Dozieren und Überreden nach der gegnerischen Seite. Die Bedeutung des privaten Bodeneigentums mit der Wirkung seiner spekulativen Ausnutzung, haupterscheinend in der Wohnungsnot, wurde, obwohl in allen Klassen erkennbar, doch erst da Problem und forderte erst da den unbedenklichen Protest, wo sie am schärfsten traf und vernichtete. Dort war Bodenfrage Arbeiterfrage — Volksfrage. So variiere ich den Satz: Eine Klasse, die etwas lösen will, was nicht ihr >Ich< ist, ist eher närrisch denn eine bewußte Klasse. Von da ging mein Denken über den sozialen Zusammenhang der Dinge und brachte mich zum Einsehen in die Welt der ökonomischen Seltsamkeiten. Lu Märtens Kritik an der Bodenreformbewegung schließt damit, daß eine richtige Sache an die falschen Leute geraten sei. 44 Unerkannt bleibt ihr das in der liberalen Reformpolitik wirkende Klasseninteresse. Damaschkes und dann Naumanns Reformideen betrachtet sie als »Ehrlichkeit der sozialen Reform für die Arbeiter«. 45 Interesse verdient der Gedanke, Philosophen und Klassen sollten die Fragen ihres »Ichs« lösen. Von hier aus erschließt sich die Bedeutung, welche die marxistische Theorie der Gesellschaft für Lu Märten bekommen sollte. Sie wird als Theorie der »Bedürfnisse« verstanden; als »vitale Zwecke« begegnen sie in einem der Lebensphilosophie entliehenen Vokabular auch in späteren Arbeiten. Individuelle Erfahrung und gesellschaftliche Perspektive, sozial und geschichtlich verstanden, sollen darin vermittelt sein. Aber es liegt noch mehr darin, als die einebnende Formulierung, etwas werde »vermittelt«, ausdrücken kann: Subjektivität soll in der Theorie zu Worte kommen.

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Lu Märten: Torso. S. 68/69. »Eine Einzelforderung des sozialistischen Programms wurde hier zur Hauptforderung.« Lu Märten: Autobiographie. S.59. Lu Märten: Torso. S.70. 25

Um Friedrich Naumann Lu Märten ist nicht, wie sie später selbst angab, 1900 oder gar schon 1898 der SPD beigetreten. 46 Sie war bis 1903/4 in der Bodenreformbewegung engagiert, ab 1901/2 zudem im Nationalsozialen Verein, den Friedrich Naumann von einer südwestdeutschen Bewegung des Liberalismus zu einer reichsdeutschen ausweiten wollte. In ihren Erinnerungen schreibt sie zur eigenen Einstellung in diesen Jahren: »Doch was mich betrifft, so war ich von Anfang an auf Seiten des Sozialismus, soviel ich erst davon wußte.« 47 Lu Märten war in beiden Fällen von der Arbeiterreformpolitik und dem zugehörigen städtepolitischen bzw. kulturpolitischen Programm beeindruckt. Ihre spätere kunstpolitische Argumentation, die sich teils an die Adresse der Sozialdemokratie richtete, teils im sozialdemokratischen Feuilleton selbst zu Wort kam, versuchte einzelne Ideen, die in der liberalistischen Kulturpolitik zur Welt gekommen waren, mit der sozialistischen Arbeiterpolitik zu kombinieren. Der Aspekt individueller Überzeugung stand innerhalb des politischen Engagements im Vordergrund. Wie sehr sich Lu Märtens Artikel auch in den Dienst der jeweiligen Gruppierung stellten, so war sie damit doch nie nur deren Sprachrohr. Doch ihr Bekenntnis, von Anfang an auf Seiten des Sozialismus gestanden zu haben, muß noch unter einem anderen historischen Einfallswinkel verstanden werden. Trotz gegenteiliger Selbstdarstellung verfolgte die deutsche Sozialdemokratie keine hermetisch abgeriegelte Klassenpolitik. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und besonders im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts stand die Wahlpolitik im Vordergrund der Strategie. Lokale wie punktuelle Bündnisse mit anderen Gegnern der preußischen Junker wurden geschlossen, es war geboten, einen Redner mit großem Wahlanhang für sich zu gewinnen. Ein solcher war in München Georg von Vollmar, ehemaliger Angehöriger der päpstlichen Garde, dann bayrischer Offizier und schließlich sozialdemokratischer Agrarpolitiker. 48 In 46

»Seit 1900 der sozialdemokratischen Partei angehörig. Seit 1919 der kommunistischen Partei.« Angabe Lu Märtens in: »Lu Märten, geb. 24.9.1879.« Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 2. Lu Märten stellte diese biographischen Angaben in tabellarischer Form 1947 zusammen; zu welchem Zweck dies geschah, geht aus ihnen nicht hervor. Es liegt nahe, sie im Zusammenhang mit ihrer Lektorentätigkeit für in der damaligen sowjetischen Besatzungszone gegründete Verlage bzw. den Kulturellen Beirat zu sehen. Allerdings läßt sich Lu Märtens Angabe über den Beginn ihrer SPD-Mitgliedschaft nicht anhand der überlieferten Korrespondenzen verifizieren. Diese Angabe darf deswegen, wie die meisten nachträglichen Orts- und Zeitangaben Lu Märtens, lediglich als Richtwert benutzt werden. Die Literatur zu Lu Märten überliefert hartnäckig ein noch früheres Datum für ihre SPD-Mitgliedschaft, das allerdings nirgends zu erhärten ist: 1898. Es dürfte auf den vergleichsweise unspezifischen Hinweis »1898 Verbindung zur sozialistischen Arbeiterbewegung« zurückgehen, der sich findet in: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Herbert Greiner-May, Paul Günter Krohn. Leipzig 1968. S. 116/17.

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Lu Märten: Autobiographie. S.59. Zum spezifisch süddeutschen Reformismus in der SPD, den Georg von Vollmar entscheidend prägte, vgl. Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Über-

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Marburg hatten umgekehrt die Nationalsozialen Hellmut von Gerlach für sich gewonnen, der den Sozialisten nahestand. 49 Etwa 1906 interessierte sich Lu Märten für die Gartenstadtbewegung. 50 Diese kooperierte mit den Bodenreformern, wurde aber von anarchistischen Ideen aus der Kropotkinschen Tradition der Siedlung beherrscht. Die Wohnstätten der Arbeiter sollten in ländlicher Umgebung, worin selbst Gartenbau möglich ist, errichtet, Werkstätten, Fabriken, Kontore aus den Großstädten in die Nähe der Wohnstätten verlegt werden. Es war ein Programm zur Überwindung der Trennung von Stadt und Land, von Fabrik- und Landwirtschaftsarbeit, von Wohn- und Arbeitsplatz; globaler und pathetischer ausgedrückt: Dieses Reformprojekt ging die gesellschaftliche Entfremdung an. 51 Ein herausragendes Beispiel für die Realisierung des Gartenstadtgedankens bot die Siedlung Hellerau bei Dresden. Die Arbeitersiedlungen wurden von bekannten Architekten wie Heinrich Tessenow, Richard Riemerschmid, Bruno und Max Taut angelegt. In den Werkstätten von Hellerau entwarf man Möbel und Hausgerät nach der Idee einer neuen gebrauchsorientierten Sachlichkeit. Die für dieses Experiment gewonnenen Unternehmer waren auf Friedrich Naumanns politische Initiative hin zusammengekommen. Das Experiment hieß Deutscher Werkbund. Diese Sammlung reformerischer Kräfte als antisozialistisch im Sinne eines liberalistischen Klasseninteresses einzustufen, bliebe einseitig. 52 Da in Deutschland das liberale Bürgertum keine Massenbasis haben konnte, erhoffte Naumann sich,

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blick. München 21966. S. 119f. Aus den Jugenderinnerungen von Theodor Heuss läßt sich entnehmen, welch tiefen Eindruck der sozialistische Realpolitiker Vollmar auf die junge Anhängerschaft Friedrich Naumanns machte. Theodor Heuss: Vorspiele des Lebens. Jugenderinnerungen. Tübingen 1953. S. 241 f. Robert Michels: Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen Sozialismus (1903-1907). In: Festschrift für Carl Grünberg zum 70. Geburtstag. Leipzig 1932. S.343ff.. Weiter Ursula Susanne Gilbert: Hellmut von Gerlach. (1866-1935). Stationen eines deutschen Liberalen vom Kaiserreich zum >Dritten ReichBegegnung< mit Hille zu einem literarischen vis-à-vis erweitert. Vgl. Lu Märten: Torso. S. 2 5 4 - 257. Ihre weiteren Artikel bzw. Textpassagen über Hille sind durchweg vom >Erlebnis< des Dichters und seiner Dichtung getragen. Kritische oder fiktionale Bemühen anderer Autoren um Hille, die Editionsleistung der Brüder Hart ausgenommen, stellte Lu Märten nicht eigens heraus. Else Lasker-Schülers Buch aber verwarf sie selbst im Alter noch pauschal. Aus Arthur Seehofs Antwortbrief läßt sich dies entnehmen. »Auch das HilleBuch der Else Lasker-Schüler kenne ich, und du hast Recht, es ist ziemlich quatschig.» Brief Arthur Seehofs an Lu Märten vom 17.3.1954. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22.

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In der Vereinigung von kindlicher Naivität mit sozialem Protest erblickte Lu Märten eine gesellschaftlich-emanzipative, keine parteipolitische Lebenshaltung Hilles. Vgl. insbes. Lu Märten: Revolutionäre Dichtung in Deutschland. In: Die Erde. Hg. von Walther Rilla. 2. Jg., 1920, Heft 1, S. 16. Auch ihr 1921 in der Roten Fahne und der Jugend-Internationale (Berlin) erschienener Artikel Peter Hille zeichnet dieses Bild des Dichters. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Arthur Seehof über die jüngere Literatur zu Hille: »Besonders mit der Reeckschen Chronik dürften wir kaum einverstanden sein; und es wäre wahrlich an der Zeit, zumindest eine Auswahl aus dem Hille herauszugeben, wie wir ihn sehen; und dazu eine lesbare Biographie zu schreiben.« Brief Arthur Seehofs an Lu Märten vom 28.4.1954. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Vgl. dazu außerdem Arthur Seehof: Peter Hille. Vagant und Erzpoet. In: Neue Deutsche Literatur. 4. Jg., 1956, Heft 2, S. 126-129. Brief von Theodor Heuss an Lu Märten vom 14.10.1906. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Vgl. Anhang, Dokument 2. Lu Märten und der Kreis scheinen in einzelnen Briefen auf in: Th. Heuss, E. Knapp: So bist D u mir Heimat geworden. Hg. von H. Rudolph. Stuttgart 1986. S.92, 102, 113, 133 u. passim.

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Stotz zeichnete, malte, stattete Räume aus. 71 Über Heuss lernte sie den Bildhauer Adolf Amberg kennen. Er begann, einen Bronzekopf von ihr zu arbeiten. Das Unternehmen wurde von dem Künstler, dem Modell bzw. der Kritikerin und dem angehenden Kunstschriftsteller Heuss gemeinsam betrieben, es war eine Abwandlung des romantischen Symphilosophein. Amberg hatte zuvor schon eine Büste von Heuss gearbeitet. Darüber heißt es bei ihm: »Ich bin oft im Atelier [Ambergs] gewesen und habe etwas von der Technik der Bildhauerei, wenn auch natürlich nicht gelernt, so doch im Zugucken recht dicht erfahren.« 7 2 Von Heuss vernimmt man auch, daß Amberg gelegentlich zu einem Künstlertisch lud. Lu Märten dürfte daran teilgenommen haben. Auch bei ihr liest man über Ambergs Geschick, Einblick in seine Technik vermitteln zu können. 7 3 Übrigens hat Heuss den Kreis um Lu Märten aus seinen Erinnerungen ausgeblendet. Ansonsten gedachte er der meisten Jugendfreunde aus diesen Zeiten, besonders der Berliner Schwaben um Naumann. Für Heuss selbst schlossen sich die Berliner Jahre an das Studienende in München an, wo er bei dem Historiker des englischen Chartismus und Volkswirtschaftler Lujo Brentano gelernt hatte. Aus diesen Jahren kannte er auch Katz und Wilhelm Hausenstein, der nach dem Studium »vor verwandten Lebensfragen zu stehen [schien] wie ich selber«, nämlich »in der Zwitterstellung zwischen dem Wissenschaftlichen, dem Musischen und dem Staatlichen«. 74 Da Heuss Naumann als unbedingter, treuer und vielversprechender Gefolgsmann aus der Wahlbewegung bekannt war, hatte er ihm angeboten, den literarischen und künstlerischen Teil der Hilfe neu aufzubauen. »Eigentlich wäre ich gern ein Bohemien gewesen«, 75 gestand er zu den frühen Münchener Jahren. Die Berufsperspektive machte es möglich: »Jetzt konnte ich mir das gestatten, da der Ruf in eine halbwegs gesicherte Stellung bereits in der Tasche steckte.« 76 Das Leben zwischen Anpassung und Boheme setzte sich in der folgenden Berliner Zeit fort. Hans Mayer erblickt einen entsprechenden Widerspruch in Heussens gesamter geschichtlicher Gestalt. 77 Dieser Widerspruch scheint für den Kreis von 1906/7 insgesamt beredt zu sein. Er birgt ein pathologisches Moment, das — verständlich aus dieser besonderen Konstellation einer Gegenwelt heraus — zum herrschenden wilhelminischen Typus bei allem Abscheu konstitutiv Fühlung behält. Für diese Behauptung sind einzelne, in manchem einander disparate Spuren aus den Briefen an Lu Märten anzuführen. Als Belege führen sie unter die Ober71

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Zwei jeweils verschieden akzentuierte Erinnerungen an Gustav Stotz finden sich bei Heuss. Dieser kannte ihn aus seiner Vaterstadt Heilbronn, wo Stotz nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule eine Lehre antrat. Die Erinnerung an Stotz konzentriert sich beide Male auf die gemeinsame Berliner Zeit. Theodor Heuss: Vorspiele des Lebens. S.302f. und Theodor Heuss: Erinnerungen 1905-1933. Tübingen 1963. S.102-105. Theodor Heuss: Erinnerungen. S.101. Lu Märten: Autobiographie. S.79, Anmerkung. Theodor Heuss: Vorspiele des Lebens. S. 312/13. Theodor Heuss, ebd., S.227. Theodor Heuss, ebd., S.305. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I. Frankfurt/M. 1982. S.368.

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fläche jener wehmütig getönten Rückblicke auf das unwiederbringliche Bohemeleben. So liest man bei Heuss in Erinnerung an den Freund Gustav Stotz: 78 Wir waren uns zu Hause begegnet mit einem neugierigen Mißtrauen; jeder sah dem anderen Siebzehnjährigen an, daß er seinen sonderlichen Lebensstil gern entwickeln möchte. Rasch hatten wir uns liebgewonnen. Und mit dem >Stotzle< - so nannte jeder den zartgliedrigen Jüngling mit dem Romantikergesicht und den erstaunten Augen kam die liebenswürdigste Melodie in mein Leben, eine innige Freundschaft; er ist nicht der große Künstler geworden, den zu jener Zeit jeder in dem Altersgenossen erwartete [...]. Nauman war entzückt über seine so graziöse wie ehrerbietige Unbefangenheit, als ich Stotz, der ein bißchen meinem Kielwasser folgte, in Berlin in den neuen Kreis [in der Redaktion der Hilfe, C.K.] >einbrachteSchwaben< veranstalteten im Winter viele kleine Feste, irgendwo im Nebenraum eines Lokals. Das kostete nicht mehr, als was man eventuell verzehren oder trinken würde. Stotz und Heuss tanzten sehr gern, und zuletzt veranstalteten sie auch Kostümfeste. Bekannte wurden dazu eingeladen. Nur Amberg konnte man nicht aus seinem Bau locken, bis auf ein einziges Mal, als auch Naumann eingeladen war. Ein Abend stand unter dem Titel >Die Engel in der KunstEngel in der Kunst< waren nur notdürftig von zwei Personen angedeutet, da fehlten die Requisiten; es ging auch so. [...] Was dazugehörte, wurde in allerernster Arbeit mit viel Mühe und Kunst monatelang vorbereitet. Etwas teilt sich in der Schilderung des so glücklich erlebten Lebens- und Kunstprovisoriums nicht mit: das Medium, über welches der Kreis kommunizierte. Das Können, der gute Wille und die großen Hoffnungen auf die Zukunft, die jeder einbrachte, fanden bei aller Kontingenz zusammen. Dieses Medium scheint eine äußerst prätentiöse ästhetische Stilisierung der Persönlichkeit der Dichterin Lu Märten gewesen zu sein: Sie war die Leidgeprüfte, die vom Tod Gezeichnete, die kompromißlos für ein anderes, ein poetisches Leben sozialer Gerechtigkeit Engagierte. Diese Wendung gab man im Kreis dem Übermenschentum Nietzsches, das hier natürlich nicht erfunden worden ist. Die Aufrichtigkeit derer, die dabei zusammenfanden, soll nicht abgestritten werden. Doch charakteristisch für diese Stilisierung ist auch der Freundschaftskult, der sie zustandebrachte. Der Brief, das persönlich gerichtete Gedicht und das Bild, Porträtbüste oder Photographie, stellten 78 79

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Theodor Heuss: Vorspiele des Lebens. S.303. Lu Märten: Autobiographie. S.81. Nicht allein an dieser Stelle weist Lu Märten darauf hin, daß im Kreis um die Hilfe rege Kontakte mit sozialdemokratischen Politikern gepflegt wurden. An der zitierten Stelle erwähnt sie u.a. Rudolf Breitscheid.

die ästhetischen Mittel dar. »Kunst und Leben« sollten so zur Deckung gebracht werden, mehr beschwörende denn analytische Topoi aus der Kulturkritik um 1900. Eine Art Prosaode von Marguerite Wolf über Lu Märten an Lu Märten läßt die Stilisierung deutlich erkennen. Die sechs handschriftlichen Blätter tragen das Datum 1908. Sie könnten ein Abschiedsgeschenk gewesen sein. 80 Die Dichterin wird darin wiederholt mit einem »Engel der Schönheit und Traurigkeit« verglichen oder mit der Prinzessin, die »auf traurigen Eisen« tanzt. »Leben«, »Sünde«, vor allen Dingen »Sehnsucht« heißen die Attribute dieses ätherischen Wesens. Seine Substanz ist die »Seele«: »Sie hat einen weichen duftenden Leib, einen Leib, der sich müd machte mit der Last der Sehnsucht. Er ist kein Körper für sie, sondern eine Zufälligkeit. Er ist ein Gewand, in dem ihre arme Seele friert, ihre arme Seele, die wie eine dunkle Kammer voll Kleinodien ist.« 81 Diese ästhetische Stilisierung der Person bewegt sich in der Vorstellungswelt der vom Jugendstil bereitgestellten Formen. Die krude Körperlichkeit löst sich auf, löst sich in (ornamentales) Beiwerk auf, bekommt Rahmenfunktion, die als alleiniger Ausdruckträger eines spirituellen Wertes zurückbleibt. 82 Dagegen substantialisiert sich die nichtmaterielle Seele über die ausgesuchteste Kostbarkeit, das Kleinod. Der Ausdruck gerät zweideutig, zumal er die als Vergleich gewählte »dunkle Kammer« näher beschreibt. Solche Sexualisierung der Seele trifft sich mit der Entsexualisierung des Körpers. Noch seine Sündhaftigkeit ist eine ins Dämonische zielende Spiritualisierung. Die Vorstellungswelt, die der Brief zum Ausdruck bringt, macht hierbei Anleihen beim Fidus-Ideal des nackten Körpers, den die Literatur zur Jahrhundertwende inzwischen vielfach als zweideutiges Symbol der Unschuld behandelt hat. 8 3 Doch es kommt in der Sexualisierung des Seelischen auch eine homoerotische Komponente zur Geltung, die übrigens dem heterosexuellen Begehren nicht widerspricht, ihm sogar Vorschub leistet. Das Vorbild der in der Anbetung stilisierten Kunstfigur verrät sich, wo die Verfasserin auf die Kopfhaltung und den Blick der Dichterin eingeht: Es ist Müdigkeit in ihren Augen. »Sie können es nie vergessen, daß das Leben eine große bange Traurigkeit ist und daß die die Freien sind, die die Krone des Todes auf aufrechtem Nacken tragen

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Vgl. Anhang, Dokument 1. Marguerite Wolf, eine Freundin Elly Knapps und René Schikkeles, kehrte 1908 von Berlin, wohin sie Naumann geholt hatte, in ihre elsässische Heimat zurück. Sie arbeitete dann im Armenamt der Stadt Straßburg. Begegnungen und Korrespondenz mit Lu Märten reichen bis in die letzten Jahre des Ersten Weltkriegs. Marguerite Wolf: Lu Märten 1908. 6 handschriftliche Blätter. Korrespondenz Marguerite Wolfs mit Lu Märten. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10. Trotz des Kunstanspruchs ist der Brief Marguerite Wolfs in erster Linie Dokument. Es veranschaulicht die Neigung zu psychologischer Aussprache verbunden mit einer Affinität zur Synästhesie im Alltagsumgang innerhalb des Kreises. Die einfache analogische Dechiffrierung des Sprachausdrucks durch zeitgenössische Ambitionen der bildnerischen Gestaltung mag deswegen an dieser Stelle erlaubt sein, obgleich ein solches Verfahren literaturwissenschaftlich untauglich ist. Dazu u.a. Jost Hermand: Undinen-Zauber. Zum Frauenbild des Jugendstils. In: Hermand, Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1972. S. 149/50.

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. . ,« 8 4 D i e aufrechte Kopfhaltung, v o n einer Last, anstatt g e b e u g t , g e a d e l t , v o n der j e d o c h der Blick gleichsam beschwert erscheint, ist, n e b e n d e m ü p p i g e n Haar, das Erkennungsmerkmal d e s präraffaelitischen Frauentypus. 8 5 D a s k o m m u n i k a tive M e d i u m im Kreise u m Lu Märten wurde z u m großen Teil über dieses Ideal, das ästhetische G e g e n b i l d zu bürgerlichem K o n f o r m i s m u s und Spießermoral, hergestellt. Im Torso hat sie es dann als Selbstbild literarisiert. U n d ihre Erinnerung zeigt, inwiefern sich diese A u ß e n a n s i c h t mit d e m wirklichen Ich dieser b e w e g t e n Phase v e r s c h m e l z e n ließ. Sie fuhr 1908, als der Kreis aufgelöst und Torso geschrieben war, z u m ersten Mal nach Italien. Marguerite Wolf hatte ihr das G e l d für diese R e i s e geschenkt, H e u s s vermittelte ihr U n t e r k u n f t bei b e f r e u n d e t e n Malern. Lu Märten blieb auch f o l g e n d e s Bruchstück der Erinnerung: »Hier in Florenz war ich viel in d e n Galerien, in d e n e n ich oft der einzige B e s u c h e r war. E s gab nette B e a m t e , die mich vor irgendein Bild führten und sagten: Quattrocento! Sie meinten, ich sähe d e m ähnlich.« 8 6 K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m war die Kunstwerk g e w o r d e n e Künstlerin, sei es als B r i e f o d e an sie selbst, als Abbild auf einer Photographie, sei es als Plastik. A m b e r g stellte die B r o n z e b ü s t e in Heilbronn aus. Er, Stotz und H e u s s , der v o n der Vaterstadt aus seine W a h l k a m p a g n e führte, feierten den Jahreswechsel 1906/7 und das Kunstereignis.

» O r d n u n g s g e m ä ß bewundert« w e r d e ihre B ü s t e ,

H e u s s die Dichterin der Liedsprachen

ließ

wissen: » D e i n Versbuch ist mir nachgesandt

worden. U n d ich lese darin m a n c h m a l mit merkwürdig unschwerer S t i m m u n g . « 8 7 84

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Marguerite Wolf: Lu Märten 1908. Kommunikative Symbolisierung im Kreis und ästhetische Selbstprojektion Lu Märtens verschwammen ineinander. Die »Krone des Todes« für ihre bisherige Lebenserfahrung muß ein feststehender Topos gewesen sein. E r kehrt in Lu Märtens Gedicht Letztes wieder, das sich im Zyklus Totentänze findet. Lu Märten: Wein aus der Hand. Gedichte. Gebundenes Typoskript. 134 S.. Unpubliziert. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 1. Das ästhetische Selbstbildnis, das sie von sich entwarf, hielt man ihr gleichsam als Spiegel entgegen. »Ich habe kein Mitleid mit Dir — aber Dein Leiden ist mein Erlebnis,« schrieb ihr Gustav Stotz. Brief an Lu Märten vom 28.12.1906. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 32. Beschreibung des präraffaelitischen Frauentypus und Aufweis seiner literarischen Wirkung - in Huysmans A Rebours, Péladans Rosenkreuzer, Maeterlincks Pelleas und Melisande, bei Rimbaud und Hofmannsthal - finden sich bei Günter Metken: Die Präraffaeliten. Ethischer Realismus und Elfenbeinturm im 19. Jahrhundert. Köln 1974. S.146f. - Nach den femmes fatales des 19. Jahrhunderts ist der idealisierte ätherische Frauentypus der Jahrhundertwende vielfach als Nachbild der präraffaelitischen Malerei zu finden. Ariane Thomalla benennt die entsprechende Morphologie der Frauengestalt in der Literatur femme fragile. (Ariane Thomalla: Die >femme fragilerevisionistische< Sozialistin Oda Olberg 123 wurden Lu Märten drei Freunde »vermacht«: neben Wackernagel ein Dichter und Musiker Gamper und der schweizer Maler Wilfried Buchmann. Im Stile Millets malte er die italienische Landschaft. »Besinnlichkeit« und »buntes Treiben« halten Lu Märtens Erinnerungen aus den mit ihnen in Rom verbrachten vierzehn Tagen fest: »In einer hellen Nacht brachten mich Wackernagel und 119

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Martin Wackernagel: Der Lebensraum des Künstlers in der Florentinischen Renaissance. Aufgaben und Auftraggeber, Werkstatt und Kunstmarkt. Leipzig 1938. Zu den Arbeiten Wackernagels vgl. Max Imdahl: Schrifttumsverzeichnis Martin Wackernagel. In: Festschrift Martin Wackernagel zum 75. Geburtstag. Hg. vom Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Münster. Köln und Graz 1958. S. 212-216. Martin Wackernagel: Lu Märten, Wesen und Veränderung der Formen und Künste. Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. Weimar 1949. In: Zeitschrift für Kunst. Vierteljahreshefte für künstlerische Gestaltung, Malerei, Plastik, Architektur, Kunsthandwerk. 1950, Heft 3, S.242-243. Brief Martin Wackernagels an Lu Märten vom 1.7.1927. Abschrift eines Briefes von Käthe Kollwitz an die Schweizer Schillerstiftung vom Juli 1927. Beide Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Brief Katharina Wallgrens an Lu Märten vom 1.5.1943. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. Dies dokumentieren auch die Briefe Martin Wackernagels aus den Jahren 1942-1949, von denen Lu Märten fünf überliefert hat. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 380. Oda Olberg: Das Elend in der Hausindustrie der Konfektion. Leipzig 1896. Dies., Das Weib und der Intellectualismus. Berlin 1902.

Gamper — Wackernagel mit Geige, Gamper mit Cello — in die Arena des Kolosseum und musizierten dort. Wir besuchten den Vatikan, die Stanzen und sahen die Wandgemälde Raffaels. [...] Wir waren auf tumultuarischen Volksfesten, saßen in Cafés und ließen uns in Behausungen unter der Erde, wie es sie in der Campagna gibt, bewirten. Auf den Rummelfesten hielten mich rechts und links die Freunde fest, damit ich im Trubel nicht verloren ging.«124 Weniger euphorisch fällt das Stimmungsbild der mit Wilhelm Repsold verbrachten Jahre aus. Die Ehe wurde 1927 geschieden. Eine gemeinsam verbrachte Zeit gab es tatsächlich nur bis 1914. Während des Krieges war Repsold eingezogen, und danach, so stellt es Lu Märten dar, entfremdete er sich von ihr, weil er ihren Arbeiten kein Verständnis entgegenbringen konnte; seinerseits aber habe er sie auch in späteren Jahren immer um die Beurteilung seiner Arbeiten gebeten. Repsold stand sowohl vor wie nach dem Ersten Weltkrieg der Kunstgewerberichtung nahe. Zu seinen Arbeiten gehörten Kerzenleuchter so gut wie Scherenschnitte, die mit dem Jugendstil als Buchschmuck wiederentdeckt worden waren. Repsold entwickelte diese Technik weiter, er versuchte bunte und perspektivische Scherenschnitte, die aus ihrer ornamentalen Funktion wieder herausgenommen und zum quasi anonymen Einzelbild wurden. Lu Märten stellte sie sowohl in den Kunstrahmen zurück wie in eine Gebrauchsfunktion, letzteres im Kontext der sozialdemokratischen Arbeiterjugend. 125 Repsold dürfte sich schon vor 1914 an der deutschen Sozialdemokratie und gleichzeitig am Deutschen Werkbund orientiert haben. Mit einer solchen Doppelausrichtung trat der Kunsttheoretiker und -pädagoge Adolf Behne erst ab 1920 hervor, ein emphatischer Befürworter des Bauhausstils. In seinem Umkreis findet man Repsold Mitte der zwanziger Jahre. 126 Um 1908 zog er nach Berlin, weil er mit Bruno Taut in Verbindung gekommen war. Sachlichkeit und Volkstümlichkeit versuchte Taut in seinen architektonischen Entwürfen zu verbinden. Als er 1913 den Auftrag für den Pavillon der Stahlindustrie auf der Baufachausstellung in Leipzig durchführte, bekam auch Repsold einen seiner größten Aufträge in diesen Jahren vom Stahlwerksverband. 127 Von seiner formalen Ausrichtung als Bildhauer zwischen expressiv ausladendem und sachmonumentalem Stil zeugt sein Bronze124 125

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Lu Märten: Autobiographie. S. 92/93. Lu Märten: Die Kunst der Schere. Bibliophiler Sonderdruck. 3 S., ohne Ortsangabe. Derselbe Text erschien 1912 im Hannoverschen Courier als Besprechung der Berliner Silhouettenkunstausstellung im Hohenzollern-Kunstgewerbehaus. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuilles 1 und 2. — Lu Märten: Silhouetten. Mit Abbildungen nach Silhouetten des Radierers und Bildhauers Wilhelm Repsold. In: Arbeiter-Jugend. Berlin. 1913, S. 172—174. — 100 Silhouetten. Schattenrisse von einem anonymen Wiener Meister des XVIII. Jahrhunderts nebst einigen neueren Stücken. (Hg. von Lu Märten). Wien und Leipzig o.J. (1913). Wilhelm Repsold: Ragnar Oestbergs Stadthaus in Stockholm. In: Adolf Behne: Blick über die Grenze. Mit einem Beitrag voif Wilhelm Repsold Das Stadthaus in Stockholm. In Gemeinschaft mit dem Bunde Deutscher Architekten und dem Deutschen Werkbunde hg. von Architekt H. De Fries. Berlin (»Bausteine« Nr. 2/3) 1925. Lu Märten: Autobiographie. S.97.

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köpf Lu Märtens. Er ist um eine nicht idealisierende Strenge bemüht. Gleichwohl erhielt Repsold gerade in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur viele Aufträge, Plastiken für öffentliche Gebäude wie Schulen, Krankenhäuser, Militärkasernen. Am erstmals reichhaltigen Erlös dieser Arbeiten ließ er auch Lu Märten teilhaben und bestritt den Hauptanteil ihres Lebensunterhalts, zu dem ihre eigenen Einkünfte bis 1940 so gut wie nichts beitrugen.128

1.2. Krankheit als Emblem. Torso. Das Buch eines Kindes zwischen einfacher Epik, Neuromantik und Jugendstil Hielte man sich an Lu Märtens eigene spätere Aussagen zum Torso, bedürfte die Entscheidung der Frage, ob das Buch eine proletarische Autobiographie oder ein Bekenntnisroman sei, keiner weiteren Untersuchung; sie selbst verstand es durchgehend als Bekenntnis aus einer ganz bestimmten existentiellen Umbruchsituation heraus. Schon zehn Jahre nach dem Erscheinen des Romans gab sie ihm den Untertitel »Ein Menschen- und Künstlerdokument«.1 Damit, wie auch schon vorher mit dem Titel, wird die Leseerwartung in eine bestimmte Richtung gelenkt: daß es sich thematisch und formal um schriftstellerisches Rohmaterial handele, zu dem auch der autobiographische Entwicklungsgang gehöre. Von »Dokument« sprach Lu Märten nach dem Zweiten Weltkrieg auch dem Physiker Tomaszewski gegenüber, wobei sie die individuelle Situation genauer umschrieb: »Torso sollte ein Dokument meines Lebens bleiben; da die Ärzte, trotz Operation, einen frühen Tod voraussagten, ich selbst das auch glaubte.«2 Diese Aussage setzt das Bekenntnishafte des Buches in ein besonderes Licht: Das eigene Leben kommt zur Sprache, weil die Todeserwartung zu einem frühen Festhalten drängt. Unter diesem Blickwinkel steht Torso in der Traditon eines besonderen Typus der Bekenntnisliteratur: Der Autor gibt vor, ohne Rücksicht auf den Kodex des literarisch wie moralisch Schicklichen die Schattenseiten der eigenen Entwicklung bis zum Untergang des erzählenden Ich zu enthüllenden. So gerät die Entwicklungsgeschichte zu einer Geschichte von Fehlentwicklungen oder Leiden. Am Ende richtet über sie der Tod, der vom Leiden erlöst. In Rousseaus Confessions besitzt diese Form autobiographischen Bekennens ihr Vorbild. Auch in ihren Erinnerungen wies Lu Märten auf Erfahrungskomplexe, die sich aus ihrer Todeserwartung herleiteten. Da sei die Problematik um Willi Engel gewesen, »der Riß, der Kampf und das Nichtkönnen«. Und: »In den Jahren 1907 und 1908 hatte ich durchaus Grund, an einem rechten Auskommen zu zweifeln; daher 128 1

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Mitteilung Walter Märtens im Gespräch mit der Verf., Berlin, 20.2.1984. Bibliographischer Hinweis auf bis 1918 erschienene Bücher Lu Märtens in Lu Märten: Die Künstlerin. Eine Monographie. (Kleine Monographien zur Frauenfrage. Hg. von Adele Schreiber. Bd. 2) München 1919. S.108. Abschrift eines Briefes an Prof. Tomaszewski, Berlin, auf Fragen nach einigen Arbeiten. Verfaßt von Lu Märten nach 1956. Typoskript, 4 S.. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 2.

schrieb ich den Torso. Und ich habe versucht, alles Bisherige und mich selbst auszulöschen. Es ist mir nicht gelungen.« 3 Es liegt in der Konsequenz solcher lebensgeschichtlich radikal angelegten Bekenntnisliteratur, daß sie sich in einem Leben nicht wiederholen läßt. Die gelebte Zeit gibt sich in der Authentizität aus. Wie der wirkliche Tod die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses nur steigern würde, so ist der Autor, der sein Bekenntnis überlebt, andererseits gezwungen, es bei einem einmaligen Bekennen zu belassen. Ein Bewußtsein dieser Problematik besaß Lu Märten. Sie verband es in ihren Erinnerungen mit den äußeren Umständen der Niederschrift, die in der »Auflösung unseres kleinen Kreises« bestanden: 4 War es noch Ende 1907 oder schon Anfang 1908. Unser kleiner Kreis löste sich in diesen Monaten. Stotz mußte dem Drängen seiner Familie in Stuttgart nachgeben und versuchen, sich dort eine Existenz zu schaffen. Katz wurde Direktor einer jüdischen Landgenossenschaft in Hannover. Auch Marguerite wollte bald in ihre Heimat zurück. Heuss hatte seine Heirat für das Frühjahr 1908 vorgesehen. Dazu richteten Marguerite und ich, mit Hilfe von Naumanns Tochter, seine Wohnung in Schöneberg ein. [...] In dieser Zeit hatte ich den Torso fertig, als erstes, und wie ich glaubte, letztes persönliches Dokument.

Authentizität ist und war auch der Schlüsselbegriff, mit dem das Lesepublikum die seit 1900 entstehenden Arbeiterautobiographien verstehen wollte. Doch deren Authentizität steht von Beginn an unter dem Vorzeichen, klassenbedingt als pars pro toto sprechen zu können, mehr noch, auch so gelesen zu werden. Die meisten der frühen Arbeiterautobiographen kamen über die Schilderung ihrer Arbeitsund Lebenserfahrungen überhaupt erst zum Schreiben. Die Authentizität, die ihren Texten zugesprochen wurde und wird, vermittelte sich über ihre kaum geschulte, als unmittelbar angesehene Sprache. Dies allein erklärt jedoch nicht ihre zeitweise sensationelle Publizität. Authentisch waren auch die Einblicke in alltägliche Lebensbezirke der Arbeiter, die in die deutsche Literatur noch kaum Einlaß gefunden hatten, auch nicht in die naturalistischen Schilderungen des Elends am Rande der Gesellschaft. Bis heute wirkt diese doppelte Authentizität der Arbeiterautobiographie: als (umstrittenes) soziologisches Material bei den einen, als Verstärker einer antiintellektuellen Tendenz bei den anderen. Dem Interesse von Werner Sombart, Max Weber und Alfred Weber an den autobiographischen Zeugnissen von Arbeitern trat das Bedürfnis nach »Dichtern ohne Kunst« aus der Mitte des Volkes bei den Förderern der Heimatliteratur an die Seite. 5 Als kulturgeschichtliche und/oder literarische Zeugnisse der Arbeiterklasse sind die Arbeiterautobiographien in den Studien zur Gattung Autobiographie lange Zeit unbeachtet geblieben. 6 Entsprechend ergab sich bei der Aufarbeitung der Tradition der sozialistischen Literatur in der DDR gerade hier ein Anknüpfungspunkt; einige der Arbeiterautobiographien mit gesellschaftskritischem Blick lassen sich vage dem antirevisionistischen Flügel der SPD zuweisen. Damit stehen sie 3 4 5 6

Lu Märten: Autobiographie. S.75. Lu Märten, ebd., S.83/84. Paul Göhre, zit. nach Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. S.343. So in dem universalgeschichtlich angelegten Standardwerk von Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Frankfurt/M. 1949. 51

quasi in der Vorläuferreihe des »sozialistischen Realismus«,7 sie sind nach Inhalt, Autor und Klassenstandpunkt »proletarisch«. In diese Rubrik versetzt Ursula Münchow den Torso, nicht ohne den ausdrücklichen Verweis, das »Memoirenwerk« 8 Lu Märtens sei im Gegensatz zur proletarischen Autobiographie eine Schriftstellerautobiographie. Die Umakzentuierung zielt im wesentlichen auf eine, wenn auch relative, ästhetische Komplexität: Selbstbekenntnis und kritische Selbstverständigung fänden sich neben der »Neigung, psychologische Vorgänge bzw. inneres Ringen zu gestalten«, 9 wie auch ein »Streben nach phantasievoller, poetischer Sprachgestaltung«.10 Dennoch, oder auch deswegen, liest Ursula Münchow Torso als musterhafte proletarische Autobiographie: »Die Schilderung proletarischer Kindheit ergibt eindrucksvolle Ansätze zur Gesellschaftskritik.« 11 Lu Märtens bewußte Formbrüche innerhalb der Gattung des Romans, die weder mit Authentizität aus unausgebildetem Sprachvermögen noch mit der Forderung nach Geschlossenheit im Realismus zu vereinbaren sind, werden entschuldigt: »Doch wie die Elendsschilderung in Bergarbeiter durch das Aufzeigen der revolutionären Lösung überstrahlt ist, so steckt die Autobiographie voll kluger ideologischer und ökonomischer Erkenntnisse und gibt ein gutes Bild proletarischer Entwicklung bei aller Eigenart der Darstellung.« 12 Insgesamt versucht Ursula Münchow, vom Inhalt her definierte poetische Qualitäten mit einer antirevisionistischen Ideologie des Romans wechselweise zu erklären: »Die Qualität der Darstellung besteht darin, daß Lu Märten, ohne auf revolutionäre, gegen jeglichen Reformismus gerichtete Parteinahme zu verzichten, bestrebt ist, Vereinfachungen zu vermeiden, die Erlebnisse und Erscheinungen in ihrer Kompliziertheit zu erfassen und mit Mitteln poetischer Überhöhung zu gestalten.« 13 Das Problem der wechselseitigen Zuordnung von Inhalt und politischer Ideologie in den Arbeiterautobiographien nach 1900 stellt sich ein, wenn man berücksichtigt, daß die Anregung für einzelne Arbeiter, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, nicht genuin von den Bildungsorganisationen der SPD ausging. Der entschei7

Frank Trommler spricht vom Literaturkonzept »der Repräsentanz«: Die Kunstdirektive 1959 in Bitterfeld, die »sozialistischer Realismus« hieß, forderte die zeitgenössische Literatur dazu auf, die Entwicklung der D D R so darzustellen, »wie sie die Klassiker des Bürgertums [für] die Entwicklung ihrer Klasse [ . . . ] gestaltet haben.« (Walter Ulbricht). Mit dieser Empfehlung verband sich eine Wiederaufnahme von Mehrings Klassikpflege, modifiziert zu einer kontrollierbaren kulturellen Ergänzung sozialistischer Staatspolitik. Die weitere Aufarbeitung der sozialistischen und kommunistischen Agitationsliteratur in den sechziger Jahren erweiterte lediglich den Bereich literaturhistorischer Untersuchungsgegenstände, sie änderte nichts am Literaturkonzept, das die Forschungsperspektive mitdefinierte. Frank Trommler: Die Kulturpolitik der D D R und die kulturelle Tradition des deutschen Sozialismus. In: Literatur und Literaturtheorie in der D D R . Hg. von Peter Uwe Hohendahl und Patricia Herminghouse. Frankfurt/M. 1976. S.35.

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Münchow: Frühe deutsche Arbeiterautobiographie. Berlin 1973. S.45. Münchow, ebd., S.47. Münchow, ebd., S.48. Münchow, ebd., S.46. Münchow, ebd., S.47. Münchow, ebd., S.47.

dende Mentor dieser literarischen Aktivität war Paul Göhre, ein ehemaliger evangelischer Theologe, der 1900 vom Nationalsozialen Verein Naumanns zur SPD übergewechselt war.14 Er gab die erfolgreichen Autobiographien Carl Fischers (1841-1906), Moritz Theodor William Brommes (1873-1926), Wenzel Holeks (1864-1935) und Franz Rehbeins (1867-1909) im Verlag Eugen Diederichs heraus. In einigen Fällen kürzte und überarbeitete der Herausgeber. Max Weber prägte im Hinblick auf das Programm des Diederichs-Verlages die Formel vom »Warenhaus für Weltanschauungen«.15 Der Name Göhre wurde darin zu einem Markenartikel. In der Arbeiterschaft selbst sollen die von ihm herausgegebenen Autobiographien keine Wirkung erzielt haben, und Franz Mehring wandte sich gegen Göhres »ästhetische Verseichtbeutelung des modernen Proletarierloses«. 16 Fischers Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters (1903) ausgenommen, dominierte bei den anderen Autobiographien 17 die Begegnung mit der organisierten Arbeiterbewegung, meist der Eintritt in eine lokale Bildungseinrichtung der SPD; sie bot beispielsweise die Möglichkeit der Orientierung und eines Fixpunktes in einem ansonsten umhergetriebenen Wanderarbeiterleben, die auch die Voraussetzung für die individuelle Kraft zum Schreiben bildete. Göhre wollte diese politisch-individuelle Selbsthilfe dokumentieren, gleichzeitig damit aber auch Volkhaft-Ursprüngliches im Sinne der Heimatliteraturbewegung. Seine Initiative wie Herausgebertätigkeit wirkten schließlich indirekt als Beispiel: Adelheid Popp, die führende österreichische Sozialistin und Herausgeberin der Arbeiterinnen-Zeitung, publizierte im parteieigenen Dietz-Verlag, jedoch anonym, ihre Jugendgeschichte einer Arbeiterin. August Bebel leitete das Buch ein. Wenige Jahre später gab er seine eigenen Memoiren heraus. Er betonte wie Popp selbst nachdrücklich den pädagogischen Zweck solcher autobiographischer Dokumentarliteratur. Die Leserinnen (und Leser) der eigenen Klasse sollten aus dem Aufstieg einer einfachen Arbeiterin zur Funktionärin und Redakteurin lernen. Adelheid Popp wollte den Arbeiterinnen zeigen, daß sie, wenn sie nur Mut und Selbstver-

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Vgl. Joachim Breuning: Christentum und Sozialdemokratie: Paul Göhre: Fabrikarbeiter — Pfarrer — Sozialdemokrat: eine sozialethisch-historische Untersuchung. (Diss. Marburg, Philipps-Universität) Augsburg 1980. Zit. nach Handlexikon der Literaturwissenschaft. Bd. 2. Hg. von Diether Krywalski. Reinbek 1978. S. 369. Diederichs verlegte die völkischen Autoren, schuf aber auch durch die Verbindung mit Malern des Jugenstils das schön ausgestattete Buch in Deutschland, betreute die Berichte der Kulturgemeinschaft Hellerau wie auch die Publikationen von Gustav Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf. Franz Mehring: Wenzel Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Mit einem Vorwort hg. von Paul Göhre. (Zuerst in: Die Neue Zeit 1908-1909, 2. Band, 27. Jg., Nr. 19 und 20, S.762-764.) In: Mehring, Gesammelte Schriften. Bd. 11. Hg. von Hans Koch. Berlin 1962. S.498. Moritz Theodor William Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. (1905); Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. (1909); Franz Rehbein: Das Leben eines Landarbeiters. (1911). Auf alle Autobiographen hatte Göhres eigener Reportagebericht Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche (1891) großen Einfluß.

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trauen aufbringen, sich ebenfalls vom Druck der proletarischen Not befreien und zu Vorkämpferinnen für den Sozialismus werden können. 18 Wenn ich das Bedürfnis fühlte zu schreiben, wie ich Sozialistin geworden, so war es einzig der Wunsch, jenen zahlreichen Arbeiterinnen, die mit einem Herzen voll Sehnsucht nach Betätigung lechzen, aber immer wieder zurückschrecken, weil sie sich die Fähigkeit nicht zutrauen, etwas leisten zu können, Mut zu machen. So wie der Sozialismus mich verwandelt und stark gemacht hat, so würde er dies auch bei anderen vermögen.

Während sie ein Vorbild in der Art eines Bildungsromans geben wollte, ging es Göhre um die ethisch hochstehende Persönlichkeit des Arbeiters »trotz alledem«. Die gebildeten, der »sozialen Frage« gegenüber aufgeschlossenen Schichten sollten sich von ihr sozialharmonisch stimmen lassen. »Der Arbeiter ist unser Bruder, unser Volksgenosse, und sein Schicksal ist unser Schicksal! [...] wo kann ich noch mehr tun für die Bildung und Besserung des Lebens der Menge?«19 fragte Naumann in einer entsprechenden Einleitung. Nachdem Lu Märten den Torso geschrieben hatte, besprach sie eine der von Göhre herausgegebenen Autobiographien, Wenzel Holeks Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Eindeutig erkennt sie das neue Genre, unterscheidet aber nicht zwischen den Intentionen von Göhre und Popp, deren Jugendgeschichte sie bereits erwähnt. Gleichermaßen unterstellt sie die Absicht ethischer Wirkung. Daß Holek zur Bildungsorganisation findet und selbst Einsicht in den Ausbeutungsmechanismus formulieren kann, erklärt sie mit seiner höherstehenden moralischen Persönlichkeit. 20 Damit unterstreicht sie jedoch nicht allein die sozialpädagogische Absicht des Buches. Sie versucht vielmehr, das Dokumentarische des dargestellten Lebens als »Kunst von unten« ästhetisch zu klassifizieren, und zwar gegen die Intentionen volkstümelnder Bodenromantik. Selbst wenn sie in deren gefährlicher Nähe steht, so gelingt ihr doch mehr, als das in den bürgerlichen Feuilletons gefeierte Ursprünglichkeitserlebnis aus antiintellektueller Attitüde nur zu repetieren. Sie versucht, das gleichsam unliterarisch Dokumentarische als formales Korrektiv bürgerlichen Kunstgenusses zu erfassen: 21 alle ästhetischen Hilfsmittel und Bewußtheiten einer kultivierten Kunst würden an solcher Stelle nur verdunkeln: da, wo es gilt, das Bild krassester einfacher seelischer Not und nackten materiellen Zwanges zu zeichnen. Der Arbeiter selbst, bewußt, resigniert, rückschauend und objektiv, vermag diese Dinge und ihren harten seelischen Reflex im Bild zu geben. Er wird in solchen Dokumenten Geschichtsschreiber, Philosoph und Dich-

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Adelheid Popp: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin. Mit einführenden Worten von August Bebel. München 31910. S.85. Friedrich Naumann: Vorwort. In: Louis Fischer: Arbeiterschicksale. Hg. von F. Naumann. Berlin 1906. (S.3). Lu Märten: Die Kunst der Arbeiterklasse. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 1. »Weil er höher stand (das geht unbewußt aus der Art dieses starken Menschen hervor) als die Masse der Mitgänger und der in kleinlicher Brotangst zerriebenen Seelen [...],« habe sich Holek von einem vagabundenhaften Landarbeiterleben emanzipieren und, nach anstrengender Fabrikarbeit tagsüber, in den Nächten seine Autobiographie schreiben können. Lu Märten, ebd.

ter seiner eigenen Klasse in ihrer Zeit. Nicht nur, indem er registriert, sondern indem er unter dem schlichten Gesetz seiner einfachen Empfindung das verdichtet, wert macht und zu veranschaulichen sich bemüht, was ihm Leben, Leiden und Freuen hieß. [ . . . ] Solche geistigen Leistungen und Gestaltungsfähigkeiten dürfen selbst auf einer frühen und primitiven Stufe Kunst genannt werden. Im analogen Denken einer allerfrühesten Kunstzeit, in der Kunst treues Nachschreiben und Können war, und an deren Kunstwerten auch ihre Wertung sich abmißt: grandiose Einfachheit und ergreifende Treue [ . . . ] . Ihre Form ist noch wie jene: nichts als einfache bedingungslose Notwendigkeit. Gebot des Inhalts.

Von Holeks Autobiographie als Anschauungshintergrund gelangt Lu Märten zu der These, es sei eher das Epos als das Theater, das eine authentische Kunst der Arbeiterklasse und die von dieser bestimmten Zeitinhalte realisieren könne. Sie vertritt diese These 1912 in der Neuen Zeit, nach 1920 dann in Beiträgen, die zur Literaturpolitik der KPD gerechnet werden.22 Die Formel von der Form »als einfacher bedingungsloser Notwendigkeit, Gebot des Inhalts« reflektiert aber auch nachträglich Erfahrung und Ausdruckswunsch bei der Niederschrift des Torso. Gustav Stotz hatte vorgeschlagen, nach dieser Formel als Basis für ein Formexperiment zu verfahren. Damit war die Thematik des Bekenntnisbuches berührt: Aus der Geschichte der Familie heraus wird die Entwicklung zur (sozialistischen) Schriftstellerin geschildert. Mit Torso schrieb Lu Märten ihre Autobiographie. Sie legte sie als Schlüsselroman an, in dem weite Passagen der einleitenden Kapitel Tagebuchform besitzen. Ein elfjähriges krankes Mädchen gesteht seine Gefühle in einer Familie, worin Güte die tägliche Umgangsform bestimmt, worin aber auch Krankheit und Tod daran hindern, einander das Wesentliche mitzuteilen. Deswegen muß das Mädchen heimlich Tagebuch führen. Es behält diese Gewohnheit bei, als es die ersten Erzählungen schreibt. Das Tagebuch, »das Buch«, ist von sonstiger fiktionaler Epik vorgeblich durch Authentizität unterschieden. Es ist gleichsam ein Spiegel der Lebenszeit, und die Niederschrift vollzieht sich nicht als Denkakt, sondern als Protokoll des Inneren: »Darum gehe ich lieber zu meinem Buch [...]. Hier brauche ich nicht immer zu denken, mein Bestes zu geben; ich kann mir das Einfache sagen, was nur mir so wichtig ward. Auch das, was als Zweifel lauert, leise und schrecklich. Hier bin ich nur ich [...], niemand weiß und sieht es [...]. Vielleicht, daß ich einmal die Blätter wende, um meinem Leben ins Antlitz zu schauen [.. .].«23 Das Buch eines Kindes als Untertitel zum Torso steht somit für die Gattung des Schlüsselromans in der Form eines fiktionalen Tagebuchs. Im Gegensatz zur Autobiographie läßt der Schlüsselroman der Stilisierung der Personen, der Selbstverkleidung, der übertreibenden Verzeichnung von Geständnissen, eben der Fiktion, mehr Raum; der Lebensgang ist in das Gerüst des traditionellen Entwicklungsromans gleichsam nur eingehängt. Er zielt nicht auf historische Wahrheit ab, er will dem Romanleser mit dem Angebot der Einfühlung ent22

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Lu Märten: Zur ästhetisch-literarischen Enquete. In: Die Neue Zeit. 30. Jg., Bd. 2, 1912, Nr. 47, S. 7 9 0 - 7 9 3 . Lu Märten: Torso. S. 102/103.

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gegenkommen. Nicht mehr und nicht weniger realisierte Lu Märten mit der Tagebuchform, welche die erste Hälfte des Torso strukturiert. Der Leser erfährt von der Reihe der Tode in der Familie. Das Tagebuch gibt den Entwicklungsgang der Erzählerin wieder, indem es ihre Beziehung zu jeweils einem Kranken der Reihe nach isolierend behandelt, erst zum Vater, dann zu Margarete, Walter, der Mutter und Hermann (im Roman Erman). Jeder der Sterbenden bekommt im Leben der Bekennenden dadurch eine Bedeutung, daß er mit der Kraft eines Vermächtnisses die Entwicklung der Erzählerin weitertreibt; der Vater als Lehrer und die anderen durch das, was sie sich der Verarmung der Familie zum Trotz erkämpft haben: Margarete die weiblichen Tüchtigkeiten, Walter die Musik und die Philosophie Spinozas, Erman das Engagement in sozialreformerischen Gruppen. Die Mutter steht außerhalb oder über dieser Entwicklungsreihe, denn sie hält den familiären Rahmen überhaupt zusammen. Mit ihrem Tod bricht er auseinander. Äußerste epische Einfachheit charakterisiert diesen ersten Teil des Torso. Der berichtende Tonfall herrscht über weite Passagen. Sätze, die auf das Prädikat verzichten, scheinen nur hingeworfene Notizen; Ausrufe, die sich wiederholen, scheinen einen inneren Vorgang protokollartig zu präzisieren (»Und geweint — nein, geschrien — ja, geschrien!«). 24 Eine Art Kindersprache ist stellenweise imitiert, sei es durch knappe Aussagesätze, kettenartige Reihung der Zeitfolge des Geschehens (»Nun zogen wir fort. [ . . . ] Ich stand noch mit Mutter [...]. Dann ging auch Mutter [...]. Nun war ich allein [...]. Und dann habe ich [. ..].«) 2 5 oder den Ausdruck staunenden Verwunderns. Die Anlage der Erzählung vom Untergang der Familie aber macht den ersten Teil des Romans strukturell einfach; denn anders als im traditionellen Schlüsselroman tritt der Held bzw. die Heldin nicht in eine Reihe von Situationen ein, die synchron seine gesamte Lebenssphäre repräsentieren sollen, sondern Hazar Löwen 2 6 steht jeweils nur mit derjenigen Person ihrer Familie im Vordergrund, deren Tod bald eintreten wird. Die Elemente, die den konkreten Lebensvorgang illusionär anschaulich machen, reduzieren sich somit; dennoch bleibt ein Spannungsbogen aufrechterhalten. Für die epische Einfachheit, die den ersten Teil des Torso auszeichnet, fand Walter Heist die Formel von »einer gewissen anti-literarischen Sehnsucht«. 27 Er verdeutlichte das Phänomen an den Romanen von Marguerite Audoux und Neel Doff, die das Elend ihrer proletarischen Jugend in der Form des Schlüsselromans schilderten. Anders als die von Göhre herausgegebenen Arbeiterautobiographien gehören Marie-Claire von Marguerite Audoux und Jours de famine et de détresse von Neel Doff zur literarischen Szene um 1900 in Paris, die — erschöpft durch den 24 25 26

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Lu Märten, ebd., S.65. Lu Märten, ebd., S. 108. So lautet der Name der Ich-Erzählerin. Er verschlüsselt zwei Elemente: zum einen den Namen der Familie mütterlicherseits, von Loeben, zum andern die gesellschaftliche Bestimmung der Erzählerin zur Boheme und zur Außenseiterin. »La vie de hasard« nannte Jules Vallès das Leben in der Boheme. Jules Vallès: Jacques Vingtras. Geschichte eines Insurgenten. Übers, von Thomas W. Schlichtkrull. Hamburg 1951. S.474. Walter Heist: Dichterinnen ihres Lebens. In: Volk und Zeit. April 1948. S.105.

Naturalismus, den Symbolismus wie auch den kunstvollen Traditionalismus von Anatole France - unterschiedliche Prosaversuche hervorgebracht hat, deren Höherbewertung der authentisch gelebten Zeit vor der literarischen Fiktion charakteristisch ist. Die bekennende Prosa André Gides sowie Marcel Prousts A la recherche du temps perdu entstanden in dieser Situation. Den Versuch, die Subjektivität der armen Schichten von Paris zu Wort kommen zu lassen, unternahm CharlesLouis Philippe. Er hielt sich strikt an sein eigenes Erleben und wählte eine bewußt einfache Sprache. Die Romane der Doff und Audoux sind von ihm inspiriert. Der seinerzeit avantgardistische Kreis um die Nouvelle Revue Française hatte den abseits vom Pariser Literaturbetrieb stehenden »Stadtschreiber«, wie Philippe sich nannte, entdeckt. Seine Romane sind wie Torso einfache Geschichten aus den Innenräumen der großen Stadt. Sie besitzen einen Helden, mit dem sich der Autor identifiziert. Er zeigt, daß das Räderwerk der Großstadt nach einem einfachen Mechanismus funktioniert: Die Reichen stehlen den Armen die Freude und lassen ihnen Not und Arbeit. 28 Eben dies rückt Lu Märtens Geschichte des Untergangs ihrer Familie in die Nähe der epischen Einfachheit Philippes, dies entfernt sie von den deutschen Arbeiterautobiographien. Die »anti-literarische Sehnsucht« bedient sich äußerster Einfachheit innerhalb traditionellen literarischen Erzählens. Dadurch wird eine gesellschaftliche Dunkelzone Gegenstand der Literatur: das Innenleben derjenigen am Rande. Sie bewegen sich in einem Rahmen von städtischen Kollektiven und Klassenverhältnissen, die aber nur schematisch angedeutet werden, weil eine All-Einheits-Mystik des Dichters in direktem Zugriff den Leiden der Menschen das gesellschaftlich Gute und »Schönheit« entreißen will. Im Gegensatz zu den Arbeiterautobiographien wird kein »soziologisches Material« bereitgestellt; die Sphäre der unmittelbaren Produktion bleibt ganz außerhalb, sie wirkt bestenfalls in den Empfindungen der Menschen nach. Dennoch will die »anti-literarische Sehnsucht« bewußt Sozialkritik in die Literatur tragen und in Frontstellung zum Naturalismus die Literatur für die Sozialkritik erobern. Charles-Louis Philippe schrieb an Maurice Barrés: »Ich glaube, in Frankreich der erste Sohn einer Rasse von Armen zu sein, der in die Literatur gegangen ist. Dunkle Probleme, die für Ihresgleichen noch nicht einmal existieren, umgeben mich und drängen sich auf [.. .].«29 Das war 1903, nach Zola und Pierre Hamps. Innerhalb des »höchst differenzierten Stilpluralismus«30 der deutschen Literatur der Jahrhundertwende tendiert die Geschichte vom Untergang der Familie im Torso zur Neuromantik. Lu Märten geht es weniger um das neu erfahrene Sprachproblem, wie es die gleichzeitige naturalistische, symbolistische oder jugendstilorientierte Literatur thematisiert. Der Neuromantik liegt an der literarischen Insze28

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Bubu de Montparnasse wurde der bekannteste Roman Philippes. Vgl. Ernst Robert Curtius: Charles-Louis Philippe. In: Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. Potsdam 21923. S.273. Charles-Louis Philippe an Maurice Barrés, Brief vom 11.11.1903. Zit. nach E.R. Curtius, ebd., S.281. Jost Hermand, zit. nach: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. von Diether Krywalsky. Reinbek 1978. S.201.

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nierung einer Haltung gegenüber der Gesellschaft. Dazu plagiiert sie die Motive der Frühromantik und aller romantischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, den frühen Tod und das Leben in Schönheit, die innere Einsamkeit und das abgrundtiefe Sehnen, das Märchen, exotische Stoffe überhaupt, die Welt des Übersinnlichen. 31 So dokumentiert die literarische Haltung, dem Industrialismus zum Trotz, »wahre Romantik« des empirischen Individuums. Reiz wie ästhetische Zweideutigkeit des Torso liegen darin, daß Lu Märten solcher präformierten literarischen Haltung eine empirische sozialkritische Thematik substituiert. Ein kurzer Blick auf die Anlage des ersten Romanteils soll dies verdeutlichen. Das Thema »Untergang der Familie« steht neben dem Thema »ein Mädchen entwickelt sich zur selbständigen Frau«, was auch als »Emanzipation zur Schriftstellerin« gefaßt werden kann. Krankheit und Tod sind die das Geschehen vorwärtstreibenden Ereignisse. Sie kehren leitmotivisch immer wieder. Das ist zum Teil autobiographisch, zum größeren Teil aber romantechnisch bedingt und hängt mit der oben beschriebenen »epischen Einfachheit« zusammen. Der Krankheit und dem Tod werden ebenfalls regelmäßig wiederkehrende Motive zugeordnet: der Krankheit die Lohnarbeit und die Häßlichkeit, in erster Linie die durch Armut bedingte Häßlichkeit der Wohnung und der Großstadtumgebung; dem Tod die Schönheit, Kunstnähe, aber auch Verzweiflung, die in Haß und Trotz, verbunden mit Gesellschaftskritik, umschlagen. Die Erfahrung so vieler Tode in einer Familie und die fast ununterbrochener Krankheit kann nicht anders als wirklich schrecklich sein, und in dieser Größe eines kaum ausdrückbaren Leides liegt eine der hauptsächlichen Schwierigkeiten des literarischen Stoffes. Lu Märten bewältigt sie, indem sie sich und ihre Familie mit der ästhetischen Metaphorik identifiziert, die spätestens seit Novalis' Sophieerlebnis bereitliegt: Die Lungenkrankheit ist die Krankheit der Auserwählten. Symptome und Krankheitsverlauf läßt die Autorin jeweils derart im Unklaren, daß dem Leser insgesamt der Eindruck bleibt, alle Kranken, einschließlich der Erzählerin selbst, seien Opfer der Tuberkulose. 32 Auf den einleitenden Seiten beim Tod des Vaters ist allein von »Krankheit« und »Schmerzen« allgemein die Rede, auch wenn die der Erzählerin selbst gemeint sind; werden sie endlich als »die Schwind31

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Kurt Walter Goldschmidt: Romantik-Epigonen. (Zuerst in: Das literarische Echo. Jg. 10, 1907/08, Sp. 1615-1622) In: Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890-1910. Hg. von Erich Ruprecht und Dieter Bänsch. Stuttgart 1970. S.288-295. - In enger Nachbarschaft zur »phantastischen« Neuromantik befinden sich die völkische Richtung und die Heimatliteratur. Dazu: Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus. Hg. von Gert Mattenklott und Klaus R. Scherpe. (Literatur im historischen Prozeß. Bd. 2.) Kronberg/Taunus 1973. Vermutlich aus diesem Grunde schlossen Eva Beck, Irma Dohn und die Verfasser der meisten Lexikonartikel über Lu Märten (vgl. Bibliographie, 4.) auf den biographischen Tatbestand, Lu Märten sei »bis zum 25. Lebensjahr durch diese Krankheit ans Bett gefesselt« gewesen. Irma Dohn: Lu Märtens Formtheorie als Ansatz zu einer materialistischen Ästhetik. Typoskript. Examensarbeit Köln 1978. S.7. Eva Beck: Vorläufiges Findbuch des literarischen Nachlasses von Lu Märten. Akademie der Künste der D D R . (Typoskript). Berlin 1982. »Chronik«, Angabe zum Jahr 1885.

sucht« identifiziert, 33 so bleiben im Gedächtnis des Lesers statt der Krankheitssymptome nur die ästhetischen Reize haften: vom roten Fleck auf dem weißen Taschentuch bis hin zum Tod in jugendlicher Schönheit. Nachdem der Kampf gegen den Tod sie entstellt hatte, wird Margaret wieder schön, gezeichnet von der »interessantem Schönheit, welche die Lungenkrankheit verleiht. Sie hatte »ihr langes Haar abschneiden lassen, weil es so störte. Nun hatte sie wieder ihren alten Lockenkopf wie als Kind und sah so sonderbar schön aus.«34 Die Tischler, die zur Einsargung kamen, »standen [...] alle um Margaret und weinten und wollten sie nicht anrühren. [...] Sie war so schön.« 35 Über Walters Tod heißt es: »So lag er da, jung und schön wie Margaret. Etwas Weiches, Kindliches war in seinem Gesicht, trotz der hohen Stirn. [...] Im Abendlicht lag er im Sarg und hatte Veilchen unter seinen schlanken Fingern.« 36 Bei Walter, den die Krankheit zu Philosophie und Musik erzogen hatte, ist die Physiognomie des Lungenkranken am ausgeprägtesten geschildert, der Tod wirft seinen Schatten als interessante Schönheit auf den Kranken: »Walters Gang war gebeugt; aber er sah dennoch aus wie ein junger Edelmann der alten Zeit. Sein Gesicht war bartlos und hoch gestirnt.« Seine schlanken Finger verdecken oft das spöttische Zucken um seine Lippen. 37 Die Zeichnung durch den Tod (»Totenblässe seines Gesichtes und Hagerkeit seiner Figur«), die auch dem Kranken schon Schönheit verleiht, suggeriert, daß eine bestimmte innere Bereitschaft zur Lungenkrankheit in Kombination mit biologischen Anlagen eine Art Auserwähltheit schaffen. Der Typus »adlig«, »anders«, »aus alter Zeit«, »fremd« schafft das Außenseitertum des Tuberkulösen. Auch die Erzählerin ist von ihm gezeichnet. Der schwerkranke Walter fragt sie: »>Wie wirst Du in dieser Welt leben mit diesem Kopf?< Er meinte, weil ich anders aussehe als die anderen Menschen. Da sagte ich mit Lächeln:>Ich werde ja nicht lange leben.«Soziologisierung< der vom Jugendstil gepflegten Innerlichkeit. E r wollte die »Schönheit« in der komplett aufeinander abgestimmten Innenarchitektur, möglichst in Verbindung mit der Gesamtarchitektur und ihres Umfeldes, vom Vorgarten bis zum Straßenzug, als ganzheitliche Welt plastisch erlebbar machen. »Ich werde mir Zweige aus dem Wald holen, um die Löcher [in der Tapete] und die Armut zu verdecken, [und sie] so von ungefähr davorstellen.« 49 Aber Soziologisierung und Ästhetisierung bleiben ambivalent. Jene verfremdet den neuromantischen Gestus nicht, sie bleibt Substitution. »Lehre mich das Geheimnis deines fröhlichen Todes und deines jungen Lebens. [ . . . ] War es Kunst, mein Bruder, was über dein schreckliches Weinen triumphierte?« 50 Das Problem der ästhetischen Zweideutigkeit der ersten Hälfte des Romans enthüllt aus anderem Blickwinkel ein literaturgeschichtlicher Aspekt: Lu Märten arbeitet mit dem »Mythos Tbc« 5 1 ungebrochen. Einzelne, bewußt um einen literarischen Effekt »Jugendstil« bemühte Schriftsteller aber benutzen ihn eben als literarisch abgenutzten Mythos. Ein Kolportageelement wird durch distanzierten 47 48 49 50 51

Lu Märten, ebd., S.29. Lu Märten, ebd., S.24/25. Lu Märten, ebd., S.65. Lu Märten, ebd., S.62. Susan Sontag: Krankheit als Metapher. S.39.

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Umgang als Reizwert in die Literatur heimgeholt. Thomas Mann ironisiert es im Tristan-, Rilke genügen in Heiliger Frühling wenige Merkmale einer Tuberkulösen, um die Impression eines traumartigen Mädchenbildes zu erwecken; mit plakativer Verwendung weniger Attribute der Tuberkulose erzielt Przybyszewski in Sonnenopfer einen dämonisch-transzendenten Effekt. »La décadence c'est l'art de mourir en beauté.« Dieses Bekenntnis Verlaines — Lu Märten meint es nicht, arbeitet aber damit — bleibt den Epigonen. Es taugt zum Thema larmoyanten Geredes in Gesellschaft. 52 Der Mythos ist zum Zitat herabgesunken. Von den zeitgenössischen Rezensionen bis zu Ursula Münchow herrscht Einstimmigkeit darüber, wie der Titel Torso zu verstehen sei: Er decke die im zweiten Teil des Romans geschilderte noch offene Augenblickssituation Lu Märtens ab. Ihre Orientierungssuche als Schriftstellerin sei noch nicht abgeschlossen, der Titel bekunde ein entsprechendes ästhetisches Programm, eine Rechtfertigung dafür, warum dieser zweite Teil keine formale Geschlossenheit biete. 53 Eben dort finden sich auch wiederholt Reflexionen zum Titel, die eine solche Deutung zulassen, etwa diese: »Das genialste Kunstwerk aber bleibt noch Torso. Denn: wo ist die Form für das Alles und das Letzte, was gelitten und gedacht sein kann? [...] So bist du selbst und was du zeigen mußt ein Torso.«54 Gewiß will Lu Märten eine solche Deutung provozieren und damit ihr fragmentarisches Werk letztendlich in den Bereich der unantastbaren Kunst entrücken. Insofern signalisiert der Titel überdeutliche Symbolik. Ausdrücklich verweist der Text zudem auf Rodin als den großen Meister des Torso. In der Literatur um 1900 ist solche Symbolik vorgestanzt. Partiell gegenläufig dazu wirkt aber das literarische Experiment im zweiten Teil des Torso. Zerflossenheit der Form und stilisierte Attitüde des literarischen Ichs monierten insbesondere die zeitgenössischen Rezensionen. Im folgenden wird nach der Funktion solcher Auflösung der Romanform unter drei Aspekten gefragt: 1) im Hinblick auf die Erneuerung der Erzählzeit, 2) die Integration von Fiktion

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Alfred Walter Heymel: »Spiegel«. Aus dem Buche zu Hause. (Zuerst in: Die Insel, Bd. 3, 1901, S . 2 6 7 - 2 7 5 ) In: Prosa des Jugendstils. Hg. von Jürg Mathes. Stuttgart 1982. Insbesondere S.239 und S.242. In dieser Akzentuierung stimmen einige, nicht aus dem Bekannten- und Freundeskreis Lu Märtens stammende zeitgenössische Rezensionen überein. »Es ist der Wunsch der Dichterin Lu Märten, aus dem miterlebten, miterlittenen Leid der Mühseligen und Beladenen eine neue Zuflucht des Geistes, aber auch eine neue Form für neue künstlerische Erkenntnisse zu erreichen. Nur fühlt Lu Märten, daß sie noch an der Schwelle dieses Wollens steht, daß sie ihr Menschliches meistern müßte, um des Künstlerischen mächtig zu werden. Im Zweifel, ob es ihr gelang, hat sie ihr Buch Torso genannt.« Paul Stefan: Das Buch eines Kindes. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 3. Auch noch Ursula Münchow hebt den Symbolcharakter des Titels hervor. Ursula Münchow: Frühe deutsche Arbeiterautobiographie. S.47: »Und aus diesem Gefühl der Unvollständigkeit, aus der bangen Frage nach dem Weiterhin, die vor allem den letzten Teil des Buches beherrscht und manchmal selbstkritisch seelische Wirren dokumentiert, ist zweifellos auch der Titel Torso abgeleitet.« Lu Märten: Torso. S.206.

und Reflexion, 3) die zeitgenössisch neue Thematik der weiblichen Bewußtseinsbildung und ihren wesentlichen Beitrag zur Literatur. 1) Der zweite Teil des Romans besteht aus vielen aneinander anschließenden und ineinander übergehenden Kleinformen: Gedichten, szenischen Dialogen, Hymnen, inneren Monologen, in die wieder der Dialog eindringt, Prosasequenzen, die sich wie die Dialoge um eine lyrische Sprache bemühen; abschließend steht ein Epilog. Die Sequenzen tragen Titel wie »Tanz«, »Jesus und Magdala«, »Auf seinem Schicksal ein Schicksal«, »Stimme des Bewußtseins«. Abgesehen davon, daß sie keine eindeutige Handlung besitzen, ist auch die Folge der lyrisierten Sequenzen nicht zwingend; eine gänzlich andere Anordnung wäre möglich. Der lyrische Ton erzeugt einen Effekt, der für den literarischen Jugendstil charakteristisch ist: Die Figur der Erzählerin bewegt sich in einem zeitlichen Vakuum, sie ist der Zeit entrückt. Allein Sprachklang und Bild bleiben von ihr. Zu folgenden Ergebnissen kommt Edelgard Hajek in ihrer Strukturuntersuchung des literarischen Jugendstils: Es gibt keine Wandlung oder Reifung der Personen, allenfalls Intensivierung, Steigerung und Variation; Zeit und Raum als sprachliche Ordnungssysteme der Darstellungsgegenstände verschwinden im Lyrischen, das die fiktive Zeit neutralisiert; diese Zeitfeindlichkeit kommt in einer Verbarmut bzw. in der Vorliebe für zeitindifferente Verbformen wie Infinitiv, Imperativ oder dem Partizip Präsens zum Ausdruck. 55 Eben dieselben Formmerkmale tragen im Torso zur Ausschaltung der Zeit bei. Besonders eindrucksvoll tritt die Verbarmut hervor, wenn ein szenischer Dialog plötzlich vom Erzählen in der dritten Person unterbrochen wird: »Irgendwo eine Stimme zwischen den Wellen; mühsam, spöttisch, unwahr, schwach und wahr. >Meinen Klang verlorene« Oder: »Tag im Atelier. Fahle blasse Lichter. Hastige wache Hände. Todreife Augen.« 56 Auch die Tanz- und Rauschschilderungen haben die Funktion einer Ausschaltung der Zeit, einer Einebnung verschiedener Zeitstufen. Mit noch unvollkommenen Mitteln bereitet der literarische Jugendstil somit Techniken vor, die den bedeutenden Romanen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts den Bruch mit dem traditionellen epischen Erzählen ermöglichen. Joyce, Proust, Thomas Manns Zauberberg und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften erneuern die Zeitstruktur im Roman. Signifikanterweise ist die erzählte Zeit dieser Romane jeweils die Zeit um die Jahrhundertwende. Sie läßt greifbar die Erfahrungsweise der modernen Subjektivität zu Wort kommen. Die Einebnung der Erzählzeit durch den lyrischen Ton besitzt Vorläuferfunktion. Er hat Techniken wie dem inneren Monolog vorgearbeitet, der die äußere Handlung sekundär macht; der Zersetzung des literarischen Ichs im Strom der Erinnerung; der Ersetzung der Chronologie durch die Assoziation. Der zweite Teil des Torso zählt kaum zu den bedeutenden Produkten des literarischen Jugendstils. Unverlierbar bleibt jedoch Lu Märtens Orientierung auf sub55

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Edelgard Hajek: Literarischer Jugendstil. Vergleichende Studien zur Dichtung und Malerei um 1900. (Reihe Literatur in der Gesellschaft. Bd. 6) Düsseldorf 1971. S. 49, S. 64 und S.68. Lu Märten: Torso. S.307.

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jektive Modernität. Sie geht in ihre wissenschaftliche Arbeit ein. 57 Der Weg gleicht dem Charles-Louis Philippes, geleitet von der »antiliterarischen Sehnsucht«: Statt über das Mitgefühl wirken zu wollen, strebte er eine Objektivität an, die aus der Erfahrung des literarischen Arbeitsvorgangs stammt. Georg Lukács schreibt 1910 darüber: »Philippes Entwicklung ging von der Lyrik zur Objektivität. Seine Objektivität war die Arbeit. Immer lauter tönt es aus den Schriften: die Arbeit ist das einzig Stärkende und Rettende im Leben; das erscheint ihm der Weg zur Überwindung von Lyrik und Sentimentalität.« 58 Und bei Walter Heist liest man nach dem Zweiten Weltkrieg über Torso: »>Literatur< zu schaffen, das ist etwas, was abseits von dem Weg liegt, der solchen Menschen vorgezeichnet ist. Ihre Tagesarbeit zu erfüllen — bei Lu Märten ist es die theoretische Forschung —, oder sich selbst aussprechen: was dazwischen liegt, das ist >Literatur< und ein andere Gebiet.« 59 2) Die zeitgenössischen Rezensenten inkrimierten einen Stilbruch innerhalb des Erzählflusses ganz besonders: daß die Autorin an einigen Stellen die Fiktion ganz aufgegeben habe zugunsten reflektierender Passagen. Hausenstein attestierte ihnen, sie »stammten aus einer erbarmungslos-unfruchtbaren Reflexion«. 60 Historisch rückblickend jedoch stellen gerade diese Passagen die Verbindung zur späteren ästhetischen Konzeption her. Grob eingeteilt gruppieren sie sich um zwei Themen: um eine Verbindung sozialer und ästhetischer Einsichten und um den Symbolwert des Kunstwerks. Diese letztere, sich offenbar an Goethe anlehnende Thematik dient der Rechtfertigung des Romantitels und wirft ein Licht auf die hohe Ambition der Autorin und zugleich auf die Rodin-Begeisterung im Kreis um Lu Märten; 61 die erstere jedoch zeigt Ansätze, den literarischen Prozeß und die Veränderung der Formen zu erfassen, und sie zeigt auch, daß Lu Märten zu dieser Entwicklung mit Ausrichtung auf die Arbeiterbewegung beitragen wollte. In diesen Reflexionen wird die Idee ästhetischer Harmonie auf die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft übertragen. Wie sich die Erzählerin ein vollkommenes Leben denkt, so entsprechend »die Voraussetzungen des Gesamtlebens in Zweckmäßigkeit und Schönheit und nicht in Erlangung des Profits von seiten einiger und Erlangung des bloßen Daseins von Seiten der anderen«. »Die großen Warenschilder der Welt: Produktion und Konsumtion, sie dienten einem dritten 57

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Dies legt die Anlage zu Lu Märiens Arbeiten (vgl. 1.1., Anm. 94) ebenfalls nahe. Lu Martens Haltung gegen den »Naturalismus, der die Literatur beherrschte«, wird als historische Ausnahme und besondere literarische Avantgardeposition hingestellt: »Sehr stark waren in ihr die Ahnung und das Bedürfnis einer neuen Form, daher auch die sogenannten Prosagedichte ihre Vorliebe waren, die außer bei dem noch wenig gekannten Walt Whitman damals noch nicht üblich waren.« Georg Lukács: Sehnsucht und Form: Charles-Louis Philippe. In: Lukács: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied und Berlin 1971. S. 148/149. Walter Heist: Dichterinnen ihres Lebens. In: Volk und Zeit. April 1948. S.106. Wilhelm Hausenstein: (Rez.) Lu Märten, Torso. Das Buch eines Kindes. In: Münchener Post. 19.12.1909. Lu Märten: Torso. S 223/224. Von Rodins Denker berichtete Marguerite Wolf in einem Brief aus Kopenhagen an Lu Märten (o.D., Sommer 1907). Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10.

Prinzip: Profit, aber es war möglich, ihnen die harmonische Synthese zu finden. Und diese mußte: Genuß heißen.« 62 Beide Reflexionen weisen argumentative Bestandteile der angewandten sozialen Ästhetik von William Morris auf, die mit dem Jugendstil in Deutschland allgemeine Verbreitung fand. Sie knüpfen zudem an Paul Lafargues Verteidigung des Hedonismus gegen den ökonomisch-beschränkten Marxismus an. Lu Märten unterlegt ihr sentenzenhaft verfremdet Topoi der sozialdemokratischen Populärphilosophie. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Talent und Genie verwirft eine in ein Gespräch eingebaute Reflexion, die auf die Genialität abzielt, welche anonym bleibt: »>Denken Sie sich Goethe als Heimarbeiter .. .< >Er hätte doch gesungen .. .< >Sicher, nur nicht als dieser Goethe; nur ein Lied hätte er wissen können. [ . . . ] man singt von der Erde, in der man wurzelt. Und einigen werden die Lieder erstickte« 6 3 Daß Zeit- und Formproblematik in Abhängigkeit voneinander stehen und bestimmte Gattungen zum Ausdruck bestimmter Fragen der Zeit nicht taugen, visiert folgende Überlegung an, die in der heutigen Rezeption des Torso wiederholt zitiert wird: »Ich lese selten über Kunst, weil es mir näher ist, darüber zu denken. Nun trat eine Frage auf, wie von allen gefragt. Warum hat diese Zeit kein Drama, kein Drama nach Ibsen und Hauptmann. Weil Bühnendrama Einzeldrama, Einzelgeschichte bedeutet? Hat nicht diese Zeit das Drama der Massen? Das wartet auf sein Epos. Wie das Leid der Juden.« 6 4 Epik in diesem Sinne — darauf verwies ich weiter oben — erblickte Lu Märten in der unliterarisch-dokumentarischen Schreibweise des Arbeiterautobiographen Holek. Die Reflexion zu Drama und Epos im Torso variiert denn auch den Grundgedanken, Form sei »Gebot des Inhalts«. Ein späterer Text erst spitzt ihn auf die Problematik zu, ob ein zeitgenössisches Massengeschehen noch auf der Bühne dargestellt werden kann: Die dramatis persona Masse sprengt die Einheit des Ortes. Ihre Handlungen verlangen Simultaneität der Darstellung. Diese kann auf dem Schauplatz der Bühne nicht realisiert werden. So kann es entweder nur eine Reduktion des Massengeschehens geben, wobei Zeitkulissen überflüssig werden, oder eine Ausdehnung des Raumes, der Simultaneität gestattet. »Aber vielleicht müßte dies Drama die Gesetze der Bühne, die Vorstellung des Theaters sprengen. Vielleicht scheitert es an der Form, die es sucht. Dante, Balzac und die großen Russen schreiben daher, und nicht nur, weil sie keine Dramaturgen sind, Epos.« 6 5 62 63 64

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Lu Märten: Torso. S.90. Lu Märten, ebd., S. 112. Lu Märten, ebd., S. 115/116. Georg Fülberth sieht diese Überlegung im Torso als Vorbereitung des Beitrags Lu Martens zur »Sperber-Debatte« 1912 in der Neuen Zeit an. Georg Fülberth: Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie der II. Internationale über Möglichkeiten und Grenzen einer sozialistischen Kulturpolitik. Neuwied und Berlin 1972. S. 141-144. - Auf diese Stelle als »auf ein paar wahre und sichere Worte über Kunst« verwies auch ein zeitgenössischer Rezensent: Arnim T. Wegner: Torso. In: Vossische Zeitung, 7.8.1913. Lu Märten: Vom Theater und vom Schauspieler. Typoskript. S.3. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 13.

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Im Torso führt die Überlegung zu Drama und Epos auf die weiterreichenden Fragen nach Form und Inhalt. Die Vertreter des klassischen Ideals arbeiten mit diesem Begriffspaar zur Rechtfertigung der Geschlossenheit der Form, diejenigen, die Klassizität auf der Basis der Moderne wollten (der junge Lukács etwa für die Literatur, für die Kunstgeschichte beispielsweise Adolf Hildebrand und Conrad Fiedler), gaben dem Formbegriff den Vorzug, strebten aber ebenfalls eine Geschlossenheit der Form an. Wenn Lu Märten die Fragen nach Form und Inhalt aufgreift, tendiert sie dazu, Argumente für offene Formen zu finden: »Es gibt keine andere Rechtfertigung für die Form als den Inhalt, und der sich in vorhandene Formen nicht zwängen läßt, muß die neue finden. Sahst du das Leid der Zeit, und sahst du es schon seine Form finden?« 66 Fiktion und Reflexion werden im zweiten Teil des Torso meist traditionell in Gesprächsvorgänge eingebunden. Die Reflexion verläßt aber spürbar die Ebene der Szenerie. Lu Märten versucht noch, den Bruch zu glätten. Der Surrealismus wird ihn systematisieren. Literarisch stellt die Konfrontation von Fiktion und Reflexion eine Lösung für das sich in der Krise befindende erzählende Ich bereit. Die soziale Phänomenologie der Großstadt übersteigt die Integrationsfähigkeit eines Subjekts. Zum Verhältnis von Reflexion und Fiktion im Torso gehört ein aufscheinendes Bewußtsein dieses Problems. Es tritt in der Form eines ästhetischen Paradoxes auf. Im Gewände jugendstilhafter Lyrikbegeisterung und neuromantischen Schönheitskultes reflektiert die Erzählerin den Überhang einer monumentalen Objektivität, wodurch ihr die Thematik der Großstadt aufgegeben sei.67 Da reckte ich meine Hände aus und sah, wie blaß sie waren. Die Riesenstadt stieg empor, vor der ich oft gestanden als ein Kind - wenn die rätselhaften, trotzigen Essen sich gegen die Himmel emporreckten; daneben die Kirchtürme wie wehmütig schienen, wenn der Dunst und die Nebel ihrer Straßen die Wachtfeuer des lodernden Herbsthimmels verbargen — vor der ich gefragt: >Wo ist dein Lied?< — Vor der ich einst die Hände vor die Augen schlug und schluchzte: >Mein Großstadtleid, wo ist denn eine Sonne, dir zu scheinend Nun weißt du, Wald, daß ich nicht dein Sänger werden konnte.

3) Lu Märten thematisiert im Torso die soziale, ästhetische, intellektuelle und erotische Gleichberechtigung der Frauen. Sie knüpft zum einen an die Thematik 66 67

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Lu Märten: Torso. S. 175. Lu Märten, ebd., S. 110. Dem Dualismus Schönheit-Häßlichkeit entspricht mehrfach der Dualismus Wald(märchen)-Großstadtwirklichkeit. Diese ästhetische Paradoxie liest sich manchmal wie ein nicht zuende geführter Ansatz einer Funktionsbestimmung der Neuromantik (»Ich habe keine Heimat, nur eine Wohnung in großer Stadt - wie die vielen, vielen; ich liebe die großen Wälder so, darin sich die Sonne versteckt.« S.254). Als einziger der Rezensenten bemerkte Martin Wackernagel das Thema Großstadt im Torso, den er als »ein sehr merkwürdiges Dokument [ . . . ] für die geheime innere Seele von Berlin« vorstellte. Er meinte das Berlin des kleinen Mittelstandes und der Arbeiterquartiere mit ihren Mietskasernen; »über allem lastend wie ein Bann diese trostlose Monotonie [ . . . ] des Lebens, die aber in ihrer riesenhaften Ausdehnung und gleichsam naturnotwendigen Gewalt etwas imponierend Gewaltiges und Ergreifendes hat.« Martin Wackernagel: Vom inneren Berlin. In: Neue Züricher Zeitung, 1910. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 3.

der antirepressiven Erotik an, zum andern nimmt sie sich der bedeutendsten Frage schreibender Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts vor der Zeit an: Sind Erfahrungen weiblicher Existenz und weiblichen Bewußtseins auf spezifische Weise darstellbar, in Abkehr von einem Erzählschema, das notwendigerweise die männliche Perspektive wiedergibt? In der Kombination dieser Fragestellung mit der Emanzipationsthematik schließt Lu Märtens Torso an den Schlüsselroman Franziska von Reventlows und an eine Erzählung von Annette Kolb an. Deren programmatischen Titel übernimmt Lu Märten. Annette Kolb publizierte 1905 eine Erzählung Torso. Sie gehört nicht zur bekennenden Literatur. Sie stellt sich vielmehr die Aufgabe, aus ästhetischer Distanz - d.h. ebenfalls in der verselbständigten, gleichnisschwangeren Sprache des Jugendstils - die Entwicklung eines weiblichen Bewußtseins aufzuzeigen. Die Erzählung läßt die Heldin Annemarie die Stationen der Lebensalter vom Mädchen zur jungen Frau durchlaufen, die am Ende studierte Philosophin ist. Das erzählerische Problem, das dabei bewältigt werden muß, liegt darin, erst ein pflanzenhaftes Dasein vorzuführen, das jungen Mädchen zur Einübung in die traditionelle Frauenrolle abverlangt wurde, dann aber ab einem bestimmten Punkt eine nach außen kaum wahrnehmbare intellektuelle Aktivität sichtbar werden zu lassen. Annette Kolb löst das Problem in der Beschreibung interessanter Schönheit. 68 So bewältigt sie mit der vorgegebenen männlichen Imagination die neue Thematik der Selbsterfassung weiblicher Intellektualität. Dieses Anzeichen für mangelnde Mittel, oder besser: einer zu frühen Thematik, begegnen im Torso Lu Märtens vor allem dort, wo sie die Frage nach der intellektuellen mit derjenigen der erotischen Selbstverwirklichung verbindet. Aus dem Mißverhältnis zwischen dem Thema und seiner Durchführung mit Hilfe der von der männlichen Phantasie geprägten Außenansicht der außergewöhnlichen — d.h. jeweils: der außenseiterischen — Frau resultiert auch in beiden Fällen der Symbolisierungszwang des Titels: auf dem Hintergrund des Rollenkonformismus bringt er die Selbstfindung der Frau ins Bild des Kunstwerks; eines Kunstwerks, das seine Originalität dadurch gewinnt, daß es seine Unvollständigkeit nicht retuschiert. 69 Neben den jugendstilchiffrierten Torsi Annette Kolbs und Lu Märtens wirkt Ellen Olestjerne, der Schlüsselroman Franziska Reventlows, geradezu kämpferisch. Das liegt an der ungebrochenen Lebensthematik »weibliche Erotik« wie auch am durchsichtigen Realismus dieses Romans. Sein thematischer Umkreis ist auf die Unterdrückungsmechanismen beschränkt, die in der Familie und in gesell68 69

Annette Kolb: Torso. In: Neue Rundschau. XVI. Jg., Bd. 1, 1905. S.727-745. Annette Kolb, ebd., S.727. Folgende Reflexion ist der Erzählung vorangestellt: »Leopardi nennt irgendwo die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der Originale einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich fast ein jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar. Einem solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige. Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen wie mit den äußerlichen. [ . . . ] Wie wenige sind denn wirklich schöne oder vollendete Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken antiker Statuen, deren Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde Bewegung verdorben oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie sind, nämlich meist ohne Kopf und Fuß, aber echt.«

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schaftlich anerkannten Liebesbeziehungen die Freiheit und die Fähigkeiten der Frau zunichte machen. Franziska Reventlow macht die Lebenslüge der »guten Gesellschaft« an einer aggressiven Verstümmelung weiblicher Sexualität fest. Ihr Bekenntnis zu sexueller Freizügigkeit, zum unehelichen Kind und zur Boheme projektiert die weibliche Gleichberechtigung als antibürgerliche Existenz. 70 Allerdings löst sie die Frage nach der ästhetischen Produktivität resignativ, um nicht zu sagen konventionell-männlich. Ellen wird wahrscheinlich das Malen aufgeben und mit eher sekundären schriftstellerischen Arbeiten für sich und das Kind finanziell sorgen müssen. Diesem Romanende entspricht auch die tatsächliche Anschauung Franziska Reventlows: Frauen gestand sie wohl reproduktive Kunstfertigkeiten zu, das um 1900 so fetischisierte Kunstschaffen jedoch nicht. 71 Wenn Lu Märten im Torso die Fragen der Befreiung weiblicher Erotik mit denen einer intellektuellen und ästhetisch-produktiven Verwirklichung verbindet, dann unterwirft sie beides der zeitgebundenen Zwangsvorstellung vom genialen Künstler. Auch deshalb verkehrt sich die Thematik zum Teil gegen ihre Intention. Daß es sich aber um eine Verkehrung unter der Hand handelt, läßt der Hauptansatzpunkt der Emanzipationsfrage erkennen, der in der Chronologie dem Künstlerin-Thema vorangeht. In Übereinstimmung mit der epischen Einfachheit des ersten Teils des Torso und der sozialistischen Typologie der Erzählerin führt Lu Märten die Emanzipationsthematik als Teil der »sozialen Frage« ein und schildert ihren zunächst intellektuellen Zugang dazu. »Ich sah, bestimmt durch meine erste Lektüre, vor allem die Frauen als den in der Masse unbewußtesten und ausgenütztesten Teil der Arbeiterschaft.« 72 Ihre moralische Identifikation mit den Arbeiterinnen sieht sie zudem als Auslöser für die ersten poetischen Versuche: »[Die Not der Frauen] war es, die mir die ersten, nun vergessenen Lieder aus der Seele lockte.« 73 In der familiären Situation erübrigt sich eine rebellische Emanzipation; man drängt hier vielmehr die Erzählerin aus ihrer Isolation als Kranke heraus, nimmt den Freund bei sich auf, legt den schriftstellerischen Versuchen keine Hindernisse in den Weg und leitet sie zum politischen Engagement an. So stößt sie erst dabei auf das Problem in seiner existentiellen Dimension. Da begegnen ihr einmal bei den Bodenreformern und den Nationalsozialen diffamierende Umgangsformen gegenüber den weiblichen Mitgliedern. (De jure war Frauen durch das Vereinsgesetz eine Teilnahme an politischen Veranstaltungen untersagt.) Eine Kritik an der ökonomischen Ausbeutung der Frauen wird in 70

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Franziska Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. Roman (1903). In: Reventlow, Autobiographisches. München und Wien 1980. S. 11—237. Im ganzen trifft dies ungebrochen nur auf ihren Schlüsselroman zu, dessen Endpunkt der Entwicklung die Boheme ist, ein Roman der »aszendierenden Boheme-Existenz« (Kreuzer, Die Boheme. S.99), die sie in ihren weiteren Romanen desillusionierter und skeptisch-ironisch behandelte. Fanny Gräfin zu Reventlow: Viragines oder Hetären? In: Zürcher Diskussionen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens. 2. Jg., 1899, No. 22, S. 1 - 8 . Lu Märten: Torso. S.71. Lu Märten, ebd., S.71.

diesen Kreisen zudem unterbunden, »was programmäßig und aus persönlichen Momenten ersichtlich wurde«. 74 Zum andern stößt sie mit ihren Anschauungen bei dem Verlobten wenn nicht auf Abwehr des Problems, so doch auf eine Indifferenz. Sein Unbeteiligtsein empört sie. »Es trennte mich in solchen Stunden etwas Schweres und Wichtiges von ihm; nicht die andere Überzeugung, die Gegnerschaft in der Sache selbst, die nur gering bestand, sondern alles das, was mit Temperament, Stärke und Empfindung und Betonung des Wesentlichen im subjektiven Sinne zusammenhing.« 75 Die Außensicht der Erzählerin auf die besondere »soziale Frage« schlägt um. Sie nimmt nun einen strukturellen, im Innern der Individuen verankerten gesellschaftlichen Repressionszusammenhang wahr. »Ich sah alles in neuem Licht. Die Straße, die Produkte, die Frauen, die Ehen [...]. Ich sah mich selbst im Bewußtsein [...] eines bestimmten Willens, und es war wie ein Näherrücken ferner, schattenverborgener Grenzen — Schranken der Sitten, der Norm, der Vorurteile und daraus resultierender Gesetze. Wieder erwachte der Haß in mir, dumpf und quälend, und nun hatte er Wege und Richtung.« 76 Hiermit scheint mehr als nur eine Kritik der traditionellen weiblichen Rolle anvisiert zu sein. Die Erzählerin deutet vielmehr eine bis in die Triebstruktur reichende Fremdbestimmung an. Da sie diese von der sozial-ökonomischen Ausbeutung der Frau nicht isoliert, stellt sie sich, vermutlich als eine erste Feministin ante festum, die Abschaffung beider Entfremdungserscheinungen in einer gesellschaftlichen Perspektive der Befreiung vor. Eingekleidet in neuromantische Metaphorik steht dafür die Vorstellung des entgrenzten Individuums: »So wurde der Kampf zuerst mehr unter uns als nach außen geführt, und die Tage bebten; dennoch festigte und baute er in uns das, was einmal der Trost des Einzelnen im Untergang des Einzelnen sein mußte: das war die neue Vorstellung: Eins im All zu sein.« 77 In einer äußerst zeitgebundenen Ausprägung findet sich damit der bei der Befreiung der Frau ansetzende Gedanke gesellschaftlicher Emanzipation; er erinnert an die entsprechende Parole des kulturrevolutionären Sowjetrußland vom »neuen Menschen«. 7 8

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Lu Märten, ebd., S.71. Lu Märten, ebd., S.72/73. Lu Märten, ebd., S.72. Lu Märten, ebd., S.73. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg trat sie in Deutschland in Gestalt expressionistischer Metaphorik auf, worin der weibliche Mensch nicht eigens miterfaßt war. Ein Musterbeispiel für die Legierung solcher »proletarischen Kultur« mit neuromantischem Alleinheits-Denken bietet Lu Märiens Text Proletkult: »denn Leben ist schon Proletkult. Wir wollen alles Leben, alles versumpfte, erstarrte Leben des kapitalistischen Jahrhunderts mit Kunst durchsetzen, mit Leben durchpulsen.« Vom »lebendigen All-durchpulsten Menschen», vom «Herz des Menschen» und der «universalen, menschgewordenen Idee des Proletariats» schrieb Lu Märten synonym zu «Proletkult»; dabei erinnerte sie an den Anteil der Frau — in einer Rede an die männlichen Genossen. Lu Märten: Proletkult. In: Die Freiheit. Berlin. 1919, Nr.443. Wiederabgedruckt in: Lu Märten: Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge. Hg. von Rainhard May. Dresden 1982. S. 4 3 - 4 5 .

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Der zweite Teil des Torso thematisiert die Erfahrung der Erzählerin in der Boheme. Die weibliche Emanzipation erscheint als Kampf um die ästhetische Selbstverwirklichung, als Ausbruchsversuch aus der Zwangsmoral »des Spießers«, als individuelle Antizipation einer Erotik, die den Hiatus zwischen den Geschlechtern überwinden will. Da Lu Märten in solider Jugendstilmanier die sexuelle Erfahrung »poetisch« entschärft, stehen ihr zum Ausdruck nur einige, allerdings aufschlußreiche ästhetische Mythen, männliche Wunschbilder zur Verfügung. Ohnmächtig im Ausdruck weiblicher Erfahrungen, verkehren sie das Bekenntnis und die intendierte Selbstreflexion in die marktkonforme Stilisierung eines Image. Abschließend soll diese doppelte Bewegung von Emanzipation und Epigonentum an den tragenden weiblichen Selbstentwürfen im zweiten Teil des Torso verdeutlicht werden. Da findet sich zum einen der Mythos vom künstlerischen Menschen, der dem sogenannten Alltagsmenschen gegenübergestellt ist. Jener Mythos bietet Lu Märten die Möglichkeit, das Problem der intellektuellen Selbstdisziplinierung der Frau dem Mann gegenüber aufzuwerfen, dem ihre Neigung gilt und der ihr Leben teilt — eine Problematik, die mit den Zeitanforderungen der künstlerischen Produktion zusammenhängt und die derart als Frontstellung gegen die Frau in der männlichen Arbeitsidentität meist nicht zum Vorschein kommt. 79 Im weiteren begegnen vor allem die ästhetischen Mythologeme der Undine und der Androgyne, welche die Suche der Erzählerin nach einer nichtbürgerlichen Bestimmung weiblicher Erotik symbolisieren. Dieser Symbolisierungszwang verkehrt wiederum die Aussage über das Symbolisierte; als Undine wird die schreibende Frau vom Subjekt zum Objekt der allenthalben verbreiteten (männlichen) Imaginationen, »als dämonische und bürgerlich ungebändigte Natur«. 80 So entstellt sich das anvisierte Problem, ob eine Befreiung weiblicher Erotik ihrer ästhetischen Produktivität neue Formen bereitstellt. An dessen Stelle drängen sich die Schablonen nietzscheanischer Couleur vom Dionysischen und Apollinischen nach vorn, die mit der femme-fatale-Stilisierung ein einigermaßen dissonantes Gemisch ergeben. 81 Doch trotz modischer Attitüde und epigonaler Romantik liegt darunter eine erste Frage nach der Freisetzung weiblicher Fähigkeiten, formuliert von einer Schriftstellerin und ausgerichtet auf die großen sozialen Umwälzungen zu Jahrhundertbeginn. So zeigt sich in Lu Märtens Epigonentum eine »paradoxe Form von Produktivität«: »die Kunst von Wiederholung und Restitution, ein halsstarriges Bestehen auf dem Vollkommenen.« 82 79 80 81

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Vgl. Lu Märten: Torso. S. 155/56. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M. 1977. S.33. Lu Märten: Torso. S. 199/200. Vor allen Dingen in den Schlußsequenzen verwendet Lu Märten das Undinenmotiv für das imaginierte Ich: »Nysos ging, und mit ihm viele, deren Seele keinen Namen hinterließ, die sich selbst mit sich fortnahmen. [ . . . ] Was fanden sie noch, das so reizte und lockte? Undinenreichtum, Undinenüberfluß . . . [ . . . ] Höchste Begierde aus Leib und Geist, mit der allein unendliches Begreifen unendlicher Wesenheiten möglich ist, mit der allein ich alle Bibeln der Affekte zu einer fröhlichen Auferstehung des Geistes bringen wollte.« Gert Mattenklott: Das Epigonale — eine Form der Phantasie. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 38. Jg., 1984, Heft 4, S.415.

Entsprechendes findet sich in der Verwendung des Androgynen-Motivs. Von Beginn des Romans an trägt es zur Konturierung des literarischen Ichs der Erzählerin bei. Es verbindet sich eingangs vor allem mit dem Entwurf der Kindlichkeit, dem kranken, schreibenden, gleichsam geschlechts-neutralen Wesen. Seine physiologischen Kennzeichen sind »das Fremde«, die immer wieder auftauchenden »Locken«, schließlich die Zeichnung des Körpers durch die Krankheit: »Ich sehe meinen Körper an; daß er schön ist, trotz seiner Krankheit, als hätte ihn ein Denken von innen heraus gemeißelt.« 83 Im zweiten Teil erscheint die Androgyne als Kindfrau, der jugendstilhaft zurückgenommene Züge der femme fatale beigegeben sind. Ihre Anziehungskraft beruht in der Verkörperung eines Typus mit dem Etikett »knabenhaft«. 8 4 Die Androgyne signalisiert eine kommunikative Intersubjektivität, gelebte Poesie. Sexualität und Intellektualität sollen nicht mehr geschlechtsgebunden sein. 85 Auch in der Aufnahme dieses Motivs im Sinne eines Hinweises auf eine utopische Möglichkeit im Menschen fehlt die Entstellung durch den »Fidus-Geist« nicht, die Anbetung der »heiligen Nacktheit«, die gegen die Doppelmoral der wilhelminischen Gesellschaft opponiert. Wenn Lu Märten solche weitreichenden Dimensionen weiblicher Emanzipation in die Bildersprache des literarischen Jugendstils einkleidet, erhalten sie eine kompensatorische Note. Sie geraten in den Dienst der Innerlichkeit. 86 Mit der Androgynen-Stilisierung des Ichs wirft Lu Märten nicht nur die Möglichkeit einer utopischen Entgrenzung des weiblichen Individuums auf, sondern auch umgekehrt einer Ausweitung des ästhetischen Bereichs auf die alltäglichen Ausdrucksformen des Individuums. In eben jener »paradoxen Form von Produktivität« der Epigonen nimmt sie das Menschheitsideal wieder auf, das ein Teil der bürgerlichen Aufklärung und die Frühromantiker entworfen hatten. 8 7 Über Ricarda Huchs Romane und Romantikstudien war Lu Märten die Genese des androgynen Menschen als romantisches Emanzipationsmodell vertraut. 8 8 In ihrer Besprechung einiger Romane Huchs fand sie zu einer weniger zweideutigen Formulierung der physiologisch-charakterlichen Utopie: 8 9 Auch auf dem Gebiete der Menschenentwicklung huldigten die Romantiker dem Ideal der Verschmelzung, des Ganzmenschen, der Androgyne. Überlastete Weiblichkeit gilt ihnen häßlich und übertriebene Männlichkeit ekelhaft. Unterordnung der geschlechtli83 84 85 86 87

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Lu Märten: Torso. S.84. Lu Märten, ebd., S. 181. Lu Märten, ebd., S. 186. Lu Märten, ebd., S. 187. Dazu Fritz Giese: Der romantische Charakter. 1. Bd.. Die Entwicklung des Androgynenproblems in der Frühromantik. Langensalza 1919. S.47. Ein zusammenfassender, speziell dem Androgynenbild gewidmeter Aufsatz Ricarda Huchs erschien in den Socialistischen Monatsheften, die Lu Märten abonniert hatte. Ricarda Huch: Der Mensch in der romantischen Weltanschauung. In: Socialistische Monatshefte. Berlin. VI. Jg., 1902, Bd. 1, Nr.3, S. 198-211. Lu Märten: Ricarda Huch als romantische Dichterin. In: Centraiblatt des Bundes deutscher Frauen vereine. Hg. von Marie Stritt. Berlin. 5. Jg., 1905, Nr. 12, S.92.

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chen Einseitigkeit unter eine höhere Menschlichkeit gilt ihnen erstrebenswert, und die Verschmelzung des Männlichen und des Weiblichen und der in unserer Zeit so oft falsch und oberflächlich angewandte Begriff des >Mannweibes< bezeichnet für sie eine schöne und vollkommene Form, in der der Mensch sich darstellen kann. U m aber Lu Märtens literarische Aktivität in ihrer Zeit richtig zu bewerten, darf an der Androgynen-Stilisierung

das plakatierende Verfahren nicht

ignoriert

werden. In einem vergleichbaren Zusammenhang erkannte A d o r n o bei Stefan G e o r g e die Tendenz zu literarischer Monopolbildung. 9 0 Sie erfolgt nach demselben Muster wie später der Starkult: D i e Dichterin identifiziert sich mit d e m Leitbild ihrer Dichtung, und alle ihre Präsentationen gegenüber d e m Publikum zeigen, nicht sie spielt eine Rolle, sondern die Rolle, das ist sie. D a z u dient die Büste so gut wie das P h o t o , der Kreis so gut wie der R o m a n . Bezeichnenderweise geht in die Androgynen-Stilisierung auch die Romantisierung der Krankheit, der Tuberkulose ein, worin Susan Sontag »das erste weitverbreitete Beispiel für diese entschieden moderne Aktivität, aus d e m Selbst ein Image zu machen«, erkennt. 9 1 Mit d e m androgynen Image sind die Heldinnen der späteren Stücke Lu Märtens versehen. 9 2 D i e ätherische Durchsichtigkeit der Kranken, die Künstlerin als U n d i n e , »unerreichbar, kindhaft, verderblich, durch das Wort und die (männliche) Vernunft nicht ansprechbar«, 9 3 die Androgyne als Fremde, deren Heimat ein Paradies mit N a m e n »Zukunft« ist, die Vielwissende, durch Todeserfahrung von Melancholie Gezeichnete, um die sich ein Ring v o n Einsamkeit ausbreitet, der das schwere Haar eine Aura all der Leidensprüfungen verschafft, ihr E m b l e m — dies ist das Urbild der präraffaelitischen Frauengestalt.

O b Jane Morris von Henry James skizziert

wird, 9 4 o b Lu Märten sich als unvollkommenes Kunstwerk darstellt oder o b H u g o

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Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel 1891-1906. In: Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1976, S. 262/263. Der Aufsatz ist 1939/40 geschrieben und erstmals 1942 erschienen. Susan Sontag: Krankheit als Metapher. S.35. Insbesondere in Yali und Tänzer. Vgl. dazu 1.1, Anm. 97. - Die Regieanweisung zur Raa Merion, der Heldin in Tänzer, lautet: »Schriftsteller oder geistig produktiver Mensch [...]. Intellektuelle wie auch künstlerische Potenz. Zeitlos. Frappante Erscheinung. Vergeistigter Typus. Starker Kopf. Knabenhafte Figur. Muß im ganzen den Reiz der Gestalten des Quattrocento oder des Androgyn von Péladan haben.« Lu Märten: Tänzer. Typoskript. Blatt »Personen und Charaktere des Schauspiels Tänzer« vor Beginn der Paginierung. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 11. Hans Mayer: Außenseiter. S.33. »In jedem Fall ist sie ein Wunder. Denk dir eine hochgewachsene, magere Frau in einem langen, gürtellosen Gewand aus mattem Purpurstoff, mit einer Masse krausen, schwarzen Haars, aufgetürmt und in großen Wellen auf ihre Schläfen fallend, ein dünnes, blasses Gesicht, ein paar seltsam trauriger, tiefer, dunkler, Swinburnscher Augen, mit großen, dicken, schrägen, schwarzen Brauen, die in der Mitte zusammenwachsen und seitwärts unter ihrem Haar verschwinden. [...] An der Wand hing ihr fast lebensgroßes Portrait von Rossetti, so merkwürdig und unwirklich, daß du es, ohne sie gesehen zu haben, für eine krankhafte Vision halten würdest, während es in Wirklichkeit äußerst ähnlich ist.« Henry James: Eine präraffaelitische Dame in ihrer Häuslichkeit. Zit. nach Günter Metken: Die Präraffaeliten. S. 188/89.

von Hofmannsthal die »moderne englische Malerei« in literarisch-journalistische Bilder übersetzt, bleibt sich in der Funktion ziemlich gleich. Sie alle befördern einen Markenartikel, der Antibürgerlichkeit und - auf industrieller Höhe - Antiindustrialismus symbolisiert: das Kunstwerk als Frau. In seinem Artikel über die erste deutsche Ausstellung präraffaelitischer Malerei führt Hugo von Hofmannsthal sämtliche Markenzeichen ein, die später als Bestandteile des literarischen Ichs der Erzählerin des Torso wiederbegegnen: »Gestalten mit einer fast mythischen Traurigkeit in den sehnsüchtigen Augen, mit den naiven puppenhaften Gebärden kindlicher Kunstepochen und dabei in allegorischem Handeln und Leiden von unendlicher Tragweite befangen. Man erblickte da Wesen, deren schlanke, dann und wann hermaphroditische Anmut für den ersten Blick nichts Unirdisches hatte . . . Diese schönen Wesen hatten ein intensives, wenn auch begrenztes Innenleben. Sie waren traurig und verwundert. Sie waren dabei sehr einfach, einfacher als Menschen sind, so einfach wie tiefsinnige Mythen, so einfach wie die mythische Gestalt, deren Traumleben und Irrfahrten und Metamorphosen jeder in sich unaufhörlich ausspinnt: Psyche, unsere Seele.«95 Lu Märten war im Bildkult der Jahrhundertwende befangen; die Distanz zu ihm wurde ihr erst über den Objektivierungszwang der theoretischen Anstrengung möglich. Die journalistische Praxis nährte den Bildkult, verführte zu ihm. Er wiederum verleitete zur Inszenierung eines Ichs, das der eigenen Forderung nach weiblicher Gleichberechtigung in den Rücken fällt. Man kann diesen Prozeß als tragisch, komisch oder absurd ansehen, er ist zeitgebunden, wenn auch keinesfalls historisch erledigt. Wenn sich die Warenform der Literatur allgemein durchsetzt, strahlt die Erlesenheit des Bildes auf die ästhetische Existenz der Literatin zurück, die sich mit ihm umgibt. Wenn auch Lu Märten damit bei der Inszenierung des literarischen Ichs von männlichen Phantasien außergewöhnlicher Weiblichkeit überrollt wird, sollte darüber nicht das Verdienst ihres Versuchs vergessen werden, die Forderung nach weiblicher Autonomie mit der Frage nach einer spezifischen literarischen Produktivität von Frauen zu verbinden.

1.3. Kulturrevolution als Kontext. Lu Märten in der SPD-Kulturpolitik vor 1914 Der genaue Standort Lu Märtens in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 muß anhand zweier Koordinaten bestimmt werden: anhand der persönlichen freundschaftlichen Beziehungen zu einzelnen Sozialisten oder der Sozialdemokratie Nahestehenden und an ihrem publizistischen Wirken innerhalb der Partei bzw. entsprechenden Versuchen. Einige hierfür aufschlußreiche Angaben zu Politik und Literaturpolitik der Vorkriegssozialdemokratie seien vorweggeschickt. 95

Hugo von Hofmannsthal: Über moderne englische Malerei. Rückblick auf die Internationale Ausstellung Wien 1894. In: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa I. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt/M. 1950. S. 191.

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Die Politik der SPD nach 1900 ist zunächst ganz im Gefolge des Erfurter Programms von 1891 zu sehen: Im theoretischen Grundsatz wurde die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse proklamiert, und zwar über die selbsttätige Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie. Deren »Naturnotwendigkeit« treibe die Gesellschaft so weit, daß die Übernahme der politischen Macht durch die sozialistische Arbeiterpartei schließlich automatisch geschehe. Diese Dogmatisierung des Kapitals von Karl Marx ist mit dem Namen Karl Kautsky verbunden. Der für die praktische Tagespolitik verfaßte Teil des Programms dagegen stammt von Eduard Bernstein, setzt die Anerkennung des bestehenden bürgerlichen Staates voraus und verlangt eine Verbesserung der politischen und sozialen Situation der Arbeiterschaft im bestehenden System. Dazu gehören die Forderungen nach einem (preußischen) freien und allgemeinen Wahlrecht, auch für Frauen, Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung, Festigung des Koalitionsrechts. Bernstein meinte, seine reformerischen Grundsätze ebenfalls dogmatisieren zu müssen. .Die Tatsache, daß die SPD von der Revolutions- zur Wahlpartei geworden war, sollte sich auch theoretisch grundsätzlich in einem anderen Marxismus ausdrücken, dem Revisionismus. Solcher programmatische Dualismus ließ sich einfach lösen, indem der Kautskyanismus für die Theorie und der Revisionismus für die Praxis die Einheit von Theorie und Praxis darstellen sollten. Über einen konkreten Weg zur Macht gab es aber weder auf der einen noch auf der anderen Seite eine genauere Vorstellung. In der Literatur zur Sozialdemokratie von 1890 bis 1914 wird die Koexistenz von Kautskyanismus, der es gestattete, verbalradikal an der Revolution festzuhalten, und Revisionismus, der das Treuegelöbnis zum Staat verlangte und selbst ablegte, nirgends beschönigt, weder in der sozialdemokratischen noch in der antisozialdemokratischen Geschichtsschreibung. Helga Grebing, Georg Fülberth und Werner Frauendienst etwa sind sich über die Wirkung dieses programmatischen Dualismus durchaus einig: Er war lähmend, aber organisatorisch festigend. Auf lokaler und regionaler Ebene baute man, symmetrisch zu den Gewerkschaften, eine Bürokratie mit eigenem Funktionärswesen aus.1 »Aber auch die Funktionäre der Partei und Gewerkschaften, die sich durch die Arbeiterbewegung einen gesicherten sozialen Status erworben hatten, waren nicht daran interessiert, die Funktionen und Aufgaben, auf denen dieser Status beruhte, zu gefährden. Solche Tendenzen verstärkten den Grundzug der Unbeweglichkeit in der deutschen Arbeiterbewegung.« 2 Die Wahlkampagnen waren die vornehmlichen Aktivitäten nach außen, Mitgliedermobilisierung zu Festen wie den Feiern zum 1. Mai bedeutungsvolle interne. Schon Arthur Rosenberg stellte eine hinreichende Inkonsequenz der SPD als Wahlpartei fest: die ideologische Ausrichtung auf den Industriearbeiter. Denn tat1

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Georg Fülberth: Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. S.36. Werner Frauendienst: Das Deutsche Reich von 1890 bis 1914. 1. Teil: Kanzlerschaften Caprivi und Hohenlohe. In: Handbuch der Deutschen Geschichte. Neu hg. von Leo Just. Bd. IV, Abschnitt 1. Frankfurt/M. 1973. S. 59. Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. S. 118.

sächlich waren die Parteimitglieder in den wenigsten Fällen Arbeiter aus den (neuen) Zweigen der Groß- und Schwerindustrie, sondern kamen aus den zahlreichen Klein- und Handwerksbetrieben. Jene Fixierung schuf eine politisch-praktische wie geschichtsphilosophische Weltfremdheit. Die erste veranschaulicht Rosenberg wie folgt: 3 Zu den Problemen der Außenpolitik und des Militärwesens, der Schule und der Justiz, der Verwaltung, ja sogar der Wirtschaft im allgemeinen und besonders der Agrarfrage hatte der durchschnittliche sozialdemokratische Funktionär kein inneres Verhältnis. Er dachte nicht daran, daß einmal der Tag kommen könnte, an dem er, der Sozialdemokrat, all diese Dinge würde entscheiden müssen. Am Herzen lag ihm alles, was mit den Berufsinteressen des Industriearbeiters im engeren Sinne zusammenhing. Hier war er sachkundig und aktiv. Daneben bewegte ihn vielleicht am meisten noch die Wahlrechtsfrage.

Geschichtsphilosophisch weltfremd war diese Fixierung insofern, als man meinte, den Evolutionismus des 19. Jahrhunderts ungebrochen fortsetzen zu können. Massen, die politisch handelten, oder Zwischenschichten wie die Intelligenz wurden von der zweigleisig fahrenden Reformpolitik links oder rechts liegengelassen. Erst 1905, unter dem Eindruck der russischen Revolution, formulierte Rosa Luxemburg ihre Thesen zum Massenstreik. Praktisch blieben sie auch nach dem Ende der Prosperitätsphase ohne Konsequenz. 1903 gelang es dem Parteivorstand, den Revisionismus programmatisch zurückzudrängen. Auf der Ebene der politischen Bewußtseinsbildung ging dem eine Aufwertung der kämpferischen Begriffe wie »Arbeiter«, »Proletariat« und »proletarisch« einher. »Die geschichtsphilosophische Definition trat zugunsten der phänomenologischen, politischen, und ästhetisch-gefühlshaften zurück«, 4 interpretiert Frank Trommler diesen Vorgang, der wesentlich die Außenansicht des Marxismus der SPD bestimmt haben dürfte. Eine dritte Gruppe zwischen Kautskyanern und Revisionisten, die parlamentarisch und intellektuell von großer Bedeutung war, die der Reformisten, war damit innerparteilich ebenfalls neutralisiert. Sie wollte, daß die SPD, wie es der Parteisekretär Ignaz Auer formulierte, die Vertretung des politisch denkenden Teils der deutschen Arbeiter werden solle. Auch der bereits erwähnte Georg von Vollmar gehörte zur Gruppe der Reformisten, die ansonsten eher von Intellektuellen der jüngeren Generation gestellt wurde. Sie drängte zu parlamentarischer Machtstellung, um in aktiver Mitarbeit am Staate die Lösung der sozialen Frage anzugehen. Deswegen waren sie gegen das Erfurter Programm, welches das aktionslose Abwarten verbindlich gemacht hatte. Einige bejahten den nationalen Staat, waren aber gegen den radikalen Nationalismus und dessen Antisozialismus wie auch die im Bismarckkult überlebende Expansionsideologie. Sachlich standen sie dem Revisionismus nahe, bevorzugten aber für die politische Identitätsbildung sowohl der Mitglieder wie auch den anderen Parteien gegenüber den marxistischen Kurs des Parteizentrums. Auf den Punkt brachte das die Vorhaltung Auers gegen Bernstein: 3

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Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Berlin 1932. S. 12. Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. S.251.

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»so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.« Helga Grebing resümiert wie folgt: »Nicht, daß sie an theoretischen Fragen prinzipiell desinteressiert waren, aber sie wollten ihre praktische Tätigkeit nicht in ein neues theoretisches System pressen lassen und waren wohl auch davon überzeugt, daß die deutsche Arbeiterpartei ihre Integrationsfunktion gegenüber der Arbeiterschaft nur erfüllen konnte, wenn sie den ideologisch überbauten Anspruch aufrechterhielt, eine revolutionäre Partei des internationalen Proletariats zu sein.«5 Im Reformismus trafen verschiedene Strömungen zusammen, sowohl liberalistische, wie sie die Genossenschaften ausbildeten, als auch die eines radikal linken Syndikalismus. Vereinigend wirkte die Kritik der Aktionslosigkeit. Aber auch die praktische Reformarbeit anerkannte Rosa Luxemburg als revolutionäre Schulung des Proletariats. Gleichzeitig behauptete sich im Lager des Reformismus etwas wie intellektuelle Unabhängigkeit vom Kautskyanismus. Dies konnte auch in Affinität zum Revisionismus umschlagen. So galten etwa die Sozialistischen Monatshefte, an denen Georg und Wally Zepler mitarbeiteten, als Sprachrohr derjenigen, »die die unter dem Namen Revisionismus zusammengefaßten Anschauungen vertreten«. 6 Die Zuordnung einer besonderen Literaturauffassung zum Revisionismus jedoch bereitet Schwierigkeiten, genauso wie sich umgekehrt auch der Orthodoxie des Parteizentrums kein unverrückbares Literaturideal unterstellen läßt. Dessen kulturpolitische Ausrichtung betrieb die Redaktion der Neuen Zeit. Ein Unterschied läßt sich lediglich akzentuieren: Mehring, der Herausgeber der Neuen Zeit, hielt Distanz zu den Richtungen der Moderne. Nicht um die Teilnahme an ihr oder die Unterstützung junger Talente war es ihm zu tun; sein Programm hieß »ästhetische Erziehung des Proletariats«. Eine sozialistische Literatur konnte es seiner Überzeugung nach erst nach der Abschaffung der Klassengesellschaft geben. Zuvor müsse sich das Proletariat zur freiheitlichen Literatur des Bürgertums hinaufarbeiten. So wurden die Dramen Schillers Leitbild einer sozialdemokratischen ästhetischen Erziehung. Hofmannsthal, George, Dehmel, aber auch die Naturalisten wurden in der Neuen Zeit als Dichter der Bourgeoisie abgetan. In den Sozialistischen Monatsheften hingegen wurde, mehr als sonst in der SPD üblich, der aktuellen künstlerischen Entwicklung Aufmerksamkeit geschenkt. Selbst ein Stefan George geneigter Artikel findet sich, und Kurt Eisner sah in Ibsen einen »Mitverschworenen der proletarischen Revolution [...]: Im Totentanz der bürgerlichen Welt errichtete er sein Reich des Lichtes und der Schönheit [.. .].«7 5 6

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Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. S.120. Eine Äußerung auf dem Münchner Parteitag 1902 während einer Debatte über Die Neue Zeit und die Sozialistischen Monatshefte, zitiert bei Wilhelm Schröder: Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863 bis 1909. (Bd. 1). München 1910. S.515. - Zur Rolle Joseph Blochs als Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte im Hinblick auf die Politik des Revisionismus vgl. Roger Fletcher: Revisionism and Empire. Socialist Imperialism in Germany 1897-1914. London (George Allen & Unwin) 1984. S. 4 7 - 8 0 . Ria Classen: Stefan George. In: Sozialistische Monatshefte. VI. Jg. (8. Jg. von Dersocialistische Akademiker), 1902, Bd. 1, Nr. 1. S . 9 - 2 0 . — Kurt Eisner: Der junge Ibsen. In: Sozialistische Monatshefte. VII. (9.) Jg., 1903, Nr.l, S . 4 7 - 5 3 .

Unabhängig davon machten sich erste Ansätze einer Literatur schreibender Arbeiter bemerkbar, die von den Bildungsorganisationen der Partei wie vom allgemeinen ästhetischen Impuls der Jahrhundertwende motiviert waren. Nur selten wurden sie in den lokalen oder überregionalen Zeitungen gefördert. Mehring lehnte eine »Ästhetik der schwieligen Faust« ab und machte sich nur in besonderen Fällen zum Fürsprecher jener Arbeiterschriftsteller, von denen Otto Krille und Ernst Preczang einen großen Bekanntheitsgrad erlangten. 8 Krilles Lyrik ist erlebnisbetont, Einzelner und Masse sind darin auf den kommenden proletarischen Aufschwung ausgerichtet. Der heroische Schwung löst die allegorische Festdichtung aus der Zeit vor 1900 ab; er wird ein Vorbild für den proletarischen Schriftsteller der Weimarer Republik werden. Im Rahmen der SPD-Kulturpolitik spricht Frank Trommler von einer »ethisch-ästhetischen» Richtung oder einer «verdrängten kulturrevolutionären Tradition».9 Jene erste Klassifizierung geht auf Kautsky zurück, der 1905 in der Redaktion des Vorwärts gegen Kurt Eisner den Vorwurf des Gefühlssozialismus erhoben und sich damit durchgesetzt hatte. Die »ethische Denkweise im Gegensatz zur ökonomisch-materialistischen [...] in der journalistischen Praxis«10 sollte die Affinität Eisners zur bürgerlich radikalen Philanthropie, den Sozialreformern und selbst den Reaktionären bloßstellen. Dieser blieb dabei: Wenn in der Partei der Ruf nach »mehr Idealismus« laut werde, dann heiße das »mehr >EthikDie Revolution gebe ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit*«, führt Zetkin an.11 Abgesehen von Redakteuren auf Lokalebene war sie, die Herausgeberin der Gleichheit, 8

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Mehring ermutigte Krille öffentlich, als dieser von Julius Bab als Tendenzdichter angegriffen worden war; allerdings erfolgte Mehrings Stellungnahme erst auf die dringende Bitte Clara Zetkins hin. Vgl. Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. S.268. Frank Trommler: Die Kulturpolitik der D D R und die kulturelle Tradition des deutschen Sozialismus. S.36. Karl Kautsky: Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion. In: Die Neue Zeit, 24. Jg., Bd. II, 1905/06, S.723. Zur Auseinandersetzung zwischen Kautsky und Eisner vgl. Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. S.261 ff.. Clara Zetkin: Kunst und Proletariat. In: Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. I. Berlin 1957. S.498.

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die einzige in der SPD, welche die literarischen Ausdrucksversuche schreibender Arbeiter ermutigte. Dabei förderte sie bewußt, im Einklang mit ihrer Definition des »>genuin< Proletarischen«, die Ästhetisierung eines gefühlshaften Vitalismus. Die Korrespondenz, die Lu Märten überlieferte, zeigt, daß sie mit den in den Jahren vor 1914 die Literaturpolitik prägenden Sozialisten oder Sozialistinnen entweder in intensiverer persönlicher Beziehung stand oder mit ihnen zumindest in konventionell-redaktionelle Berührung kam. Die Briefe Kautskys, Mehrings, Johann Heinrich Wilhelm Dietz' und Clara Zetkins enthalten selten mehr als Zusagen oder Ablehnungen von Manuskripten. Der Kontakt zu Georg und Wally Zepler jedoch war anfangs von Redaktionsgeschäften unberührt. Lu Märtens Korrespondenz mit ihnen läßt einige Berührungspunkte in der Frage des >modernen< literarischen Ausdrucks erkennen. Die Korrespondenz mit Joseph Bloch, dem Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte, demonstriert dagegen weitgehend nur, daß auch unter dem Vorzeichen revisionistischer Liberalität Lu Märtens kulturphilosophische Thesen auf kein Verständnis stießen. In ihren Erinnerungen 12 stellt Lu Märten den Umgang im Kreis um die Sozialistischen Monatshefte zeitlich in eine Reihe mit dem Engagement in der Bodenreformbewegung, also etwa ab 1901. Es wurden >Gesellschaften< gegeben, man diskutierte; bei solcher Gelegenheit lernte Lu Märten auch die Photographin Hanna Schwarz kennen. Zepler, ein Frauenarzt, war Stadtabgeordneter der SPD für Berlin-Charlottenburg. In den Monaten ihres Krankenhausaufenthaltes erwies er Lu Märten immer wieder seine Hilfe, sprach ihr Mut zu, schickte ihr seine Gedichte. Die Briefe Wally Zeplers datieren aus den Jahren von 1903 bis 1907. Sie kommentieren die beiden frühen Dramen Lu Märtens Der weiße Christus, wovon einem Brief zufolge eine erste Fassung schon zu Beginn des Jahres 1903 existiert haben muß, und Raffael, den Lu Märten später ebenfalls verwarf. Dieses Drama dürfte, Wally Zeplers Dankesbrief nach zu urteilen, Anfang Dezember 1906 im Manuskript abgeschlossen gewesen sein. Sie bezog sich auch auf den Artikel Ibsen-Brand und das Wollensproblem und lud Lu Märten zu einer Diskussion darüber ein. In der Frage der IbsenAuffassung wie bei der Beurteilung der Theaterstücke zeigte sich Wally Zepler einfühlsam entgegenkommend, gleichzeitig aber auch kritisch und distanziert, was Lu Märten bei der Überlieferung der Korrespondenz als »treffende« Kritik akzeptierte. 13 Der Einwand: »Sie sind Romantikerin, weit mehr als Ibsen«14, hielt die Differenz in den Fragen eines »mystischen Ibsen« fest, wie er in markanten Gleichsetzungen Lu Märtens von Nietzsche und Ibsen aufscheint, in denen sie die Einsamkeit und den Wahnsinn des Künstlers als Quellen seiner philosophischen wie ästhetischen Produktion ansieht. Wally Zepler spürte darin eine Verstrickung Lu Märtens, machte diese an einer zwanghaften Verunklärung ihrer Sprache fest und forderte statt der gesteigerten Innerlichkeit zur Menschenbeobachtung von außen auf. 12 13

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Lu Märten: Autobiographie. S.60. Vorbemerkung Lu Märtens zur Korrespondenz mit Wally und Georg Zepler. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10. Brief Wally Zeplers an Lu Märten vom 13.5.1905. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10.

Dabei sah Wally Zepler, durchaus >modern< orientiert, das Bemühen um Selbsterforschung, um die Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen als ebenso legitim wie fruchtbar an: »In dem Ausgeben der innersten Kraft muß das Große und Beglückende liegen, darin, daß alles Ringen und innere Kämpfen nicht wieder in das Nichts zurückfließt, sondern nach außen fruchtbar wird. Denn für einen denkenden Menschen kann doch der einzige Gewinn des Lebens nur sein, eine leise Spur des Daseins zurückzulassen, die man gerade nur so mit seinem Dasein und Denken ziehen kann.« 15 Das klingt an Peter Hilles Aphorismus »Jeder Mensch soll Spuren hinterlassen« an. 16 Auch Hille war ein kontroverser Gegenstand in der Korrespondenz mit Wally Zepler. Ihr Hauptverweis aber galt der isolierenden Herausstreichung eines heldischen Ichs. So fiel das relative Lob über Raffael im Vergleich mit dem Weißen Christus einschränkend aus, »daß man stets nur die Hauptperson sieht und hört. Alle außer ihr sind Schatten, die vorübergleiten, von denen man höchstens hört, wie sie aussehen sollen. Und man fühlt förmlich, es soll alles nur Staffage für Raffael sein. Das aber gibt nie ein wirkliches Drama.« 17 Damit muß eine Grenze äußersten Entgegenkommens erreicht gewesen sein. Das Gemisch aus 7ugendstil und Neuromantik, das als Vereinigung von Kunst und Leben im Bohemezirkel gepflegt wurde, war dem vorwiegend intellektuellen Interesse Wally Zeplers an Modernität im Literarischen zu wenig ausgeformt. Daß es gerade dieser Versuch der Lebensweise eines ästhetischen Gestus, der Auflösung des literarischen ins empirische Ich über die Selbstdarstellung war, das als im sozialistischen Sinne antizipierend galt, beleuchtet die Stellungnahme Otto Jenssens zum Weißen Christus. Wohl über Lu Märten war er bei den Zeplers eingeführt, orientierte sich aber gerade damals zwischen Nationalsozialen und Sozialdemokratie. Sie, Lu Märten, komme den Forderungen nahe, welche sie an sich selbst als an den »Ibsen der Zukunft« stelle, heißt es in einem Brief. In einem anderen wiederum kann man lesen: »Das Gedicht >Lust< ist ja das MistralwindTanzlied vom Nietzsche des Sozialismus. Es ist aber für Uneingeweihte schwer verständlich.« 18 Die Verunklärungstendenz ihrer Ausdrucksweise verstand Jenssen als Gegengewicht zu »abstrahierender Theorie«; darin aber, daß sie Theorie wie Impression (»Universalität«) anstrebe, sehe er sie als »Mittler und Boten der Zukunftskultur«. Er zitiert einige Verse aus dem Stück, die er als gelungene vorwegnehmende Synthese von Individualismus und sozialistischem Zukunftsideal empfindet: 19 15

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Brief Wally Zeplers an Lu Märten vom 20.8.1905. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10. Peter Hille: Neue Welten. S.58. Brief Wally Zeplers an Lu Märten vom 7.12.1906. Daß sie als Leserin von Hille ratlos zurückgelassen werde, teilte Wally Zepler Lu Märten im Brief vom 3.7.1907 mit. Beide im Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10. Brief Otto Jenssens an Lu Märten o.D.. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. Brief Otto Jenssens an Lu Märten vom 8.8.1906. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21.

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Ihr weckt ihn nicht auf eh eure Nacht nicht geendet! Eh die Erde nicht bebt unterm Windhauch der Liebe, Eh Kraft nicht baut seines Traumes Wiege, Eh sich nicht senkt sein blütenschwerer Baum Zur allerfeinsten Seele Traum! Aber dennoch und gerade darum: Raubet euch des Sturmwinds Flügel! Pflanzt das Zeichen auf die Hügel! Glänzet es leuchtend durch die Lande, Fallen meine Todesbande.

Aus Jenssens Briefen spricht eine starke Affirmation der ästhetischen Stilisierung Lu Märtens (»verliere nie das stolze Bewußtsein, eine große Künstlerin zu sein«). 20 Sie bekunden gleichzeitig seine politische Orientierungssuche und weisen ihn dabei als »ethischen« Sozialisten aus (»Kurz, die gestrige Versammlung lieferte mir wieder den Beweis für Gedanken, die mir schon lange im Hirn bohren: Zurück zu Marx und mehr Ethik. Mehr wissenschaftliche Vertiefung in der Partei, Vorgehen gegen die Nurgewerkschaftlerei, aber auch noblere Kampfesweise.«) 21 Er prägte für seine und Lu Märtens ästhetische Position den treffenden Begriff einer Literatur »zwischen den Zeiten«. 2 2 Das meinte, Bekenntnis zur ästhetischen Subjektivität und zum Klassendeterminismus zu vereinigen, Gefühlsstimmungen und »sozialistische Lebensanschauung« aufeinanderprallen zu lassen. Die Sozialistischen Monatshefte, die Joseph Bloch herausgab und die selbst in bürgerlichen Kreisen Reputation genossen, wären für Lu Märtens kulturphilosophische Absicht, Ökonomiekritik und Ethik zu verbinden, ein idealer Publikationsort gewesen. In ihnen waren nicht allein die betont individualistischen Dichter nicht diskreditiert, vielmehr hatte auch eine Annäherung an Lebensreformvorstellungen und Ideen der modernen Produktgestaltung des Jugendstils stattgefunden; der Ethik des Liberalismus bis hin zu den Finanzierungsmodellen der Bodenreformer stand man diskussionbereit gegenüber. 23 Den Beitrag Über den Begriff der Kultur und seine Anwendung im Sozialismus hatte Lu Märten eigens für die Sozialistischen Monatshefte verfaßt. 2 4 Darin handelte sie das ganze Spektrum der sogenannten Kulturbewegungen ab, ein Topos, der auch den Klassenkampf als Kulturerscheinung neben anderen begriff und des20

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Brief Otto Jenssens an Lu Märten vom 11.10.1906. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. Brief Otto Jenssens an Lu Märten vom 28.11.1905. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. Brief Otto Jenssens an Lu Märten vom 11.10.1906. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. So berichtete Rudolf Klein über Die Darmstädter Künstlercolonie (VI. Jg., 1902, 1. Bd., Nr.3, S.211—215); Sadi Günther über Bodenreform und Socialismus (VI. Jg., 1902, 1. Bd., Nr.2, S.93—101); Paul Göhre über Das religiöse Problem im Socialismus (VI. Jg., 1902, 1. Bd., Nr.4, S.267-277) Brief Lu Märtens an Joseph Bloch vom 13. 11. 1903. Bundesarchiv Koblenz, Archiv der Sozialistischen Monatshefte, Nachlaß Joseph Bloch, R 117/10, 34 und Brief Lu Märtens an Joseph Bloch vom 20.11.1903, ebd., R 117/10, 35.

wegen vom marxistischen Zentrum strikt verworfen war. Lu Märten deduzierte ihn von Spinoza und Nietzsche, und leitete die Kulturbewegungen einheitlich aus einem »Kulturbewußtsein« ab. Der spekulative Überschwang, möglicherweise auch die noch fehlende Distanz zur neuliberalen Ethik in diesem Beitrag, mag den Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte bestimmt haben, von einer Publikation Abstand zu nehmen. Bloch hatte gleichfalls schon auf einen Abdruck von Lu Märtens Aufsatz Die künstlerischen Momente der Arbeit in alter und neuer Zeit verzichtet, 25 der in Naumanns Zeit erschien. Diese beiden frühen, ursprünglich für die Sozialistischen Monatshefte verfaßten Beiträge Lu Märtens besitzen eine direkte Vorläuferfunktion für ihr späteres Konzept der »klassenlosen Formen«, ihre Ästhetik der zwanziger Jahre. Die revisionistische Kulturpolitik in der Vorkriegssozialdemokratie hat seine Entfaltung nicht gefördert. Die kulturpolitisch wichtigen Instanzen der Marxisten handelten genauso. Erste zusammenhängende Überlegungen dazu, wie die angestrebte Modernität als eine »Kunst des Sozialismus« aufzufassen sei, finden sich in Lu Märtens Artikel Kunst, Klasse und Sozialismus von 1906. Zentral steht hierin der Gedanke der »Isoliertheit« des Künstlers gegenüber dem Bürgertum wie dem Proletariat. In diesem Sinne verwendet Lu Märten den Topos von »Tragik und Tragödie der Kunst und der Künstler«. 26 Die gesellschaftskritisch und auch elitär vorgebrachte Klage um eine Vereinsamung des Dichters ist ein den subjektiven Richtungen der Literatur um 1900 gemeinsamer Zug. Sie findet sich bei Dehmel so gut wie bei Hofmannsthal, Wedekind oder Rilke, und die Literaturwissenschaft hat darin frühzeitig das Phänomen der »Abgelöstheit« des Dichters von der Gesellschaft ausfindig gemacht. 27 Georg Simmel, der für kulturelle Entfremdungserscheinungen ein sicheres Gespür besaß, sprach dann von einer Kulturkrise, wenn sich das Individuum in den Formen der Kultur, die es selbst produziert hat, nicht mehr wiedererkennen kann. Leiden an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, am Auseinanderfallen zwischen »Kunst und Leben« zeigen ihre Wirkungen in der Kunstproduktion selbst: Sie werden von der großen Masse nicht mehr verstanden. Lu Märtens Argumentation bewegt sich in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf die später von Adorno formulierte Verweigerungsthese zu; sie zielt auf das in der Vereinsamung heroische wie produktiv-antizipierende Außenseitertum. Wenn sie dabei von einer »demoralisierenden Tendenz des ästhetischen Schaffens und der Rezeption unter kapitalistischen Bedingungen« ausgeht, so ist an die Bedeutung der großen Vorbilder van Gogh, Hugo Wolf oder Peter Hille zu denken: Der Markt treibt den freien Künstler in eine Isolierung oder Aufspaltung, und gleichsam unter dem Diktat dieser Schizophrenie vollzieht er die »Revolution des Den25

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Karte Lu Märtens an Joseph Bloch vom 27.5.1903, ebd., R 117/10, 31. Vgl. Kapitel II, 2.1. über den Stellenwert dieses Aufsatzes für die in den frühen zwanziger Jahren ausgearbeitete ästhetische Konzeption. Lu Märten: Kunst, Klasse und Sozialismus. In: Die Neue Welt. Illustriertes Unterhaltungsblatt. Hamburg. 1906, Nr. 45, S.359. Hans Wilhelm Rosenhaupt: Der deutsche Dichter um die Jahrhundertwende und seine Abgelöstheit von der Gesellschaft. Bern und Leipzig 1939.

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kens« in ästhetischer Form (»Genuß«), welche die kapitalistische Prägung ein Stück weit rückgängig macht und so ein Hinweis auf eine unentfremdete Zukunft ist. Der »Zukunftsgedanke der Menschheit« stelle somit die »Heimat des neuen Künstlers« dar. Mit der These von der Isoliertheit des Künstlers verbindet Lu Märten also die andere vom gleichsam naturgegebenen Bündnis der neuen Kunst mit dem Sozialismus. Sie fordert hiermit schon zum ersten Male die Sozialdemokratie direkt auf, dem »neuen Künstler« die Heimat auch zu gewähren, ihm marktunabhängige Institutionen zur Verfügung zu stellen. Ihre Bestimmung der »Isoliertheit« enthält aber eine weitere, bis dahin in der SPD vor allem in einer Ästhetik der Antizipation noch nicht vernommene Dimension: Die Isoliertheit treibt Kunst und Künstler nicht nur »zwischen die Zeiten«, sondern auch »zwischen die Klassen«: »[Die Künstler bleiben] unverstanden von den herrschenden Klassen, [da deren] Weltanschauung und Denken [...] sich fast immer den Grundbegriffen der Freiheit und des Fortschritts [...] zuneigt, deren Interessen [aber] feindlich erscheint. Und ebenso mißverstanden oder fremd in ihrer künstlerischen Kundgebung erscheinen [die Künstler] den Klassen, die ihrem Gefühl und Ringen nach eigentlich zu ihnen gehören, die aber infolge ihrer unentwickelten seelischen und künstlerischen Organe nicht in diese Kundgebung einzudringen vermögen.« Diese selbständige Überlegung Lu Märiens zum Klassencharakter der »neuen Kunst« läßt ihre Distanz sowohl zu der von Clara Zetkin geförderten proletarischen Schreibweise als auch zu Mehrings Vorstellung der ästhetischen Erziehung der Arbeiterklasse ermessen. Es ist anzunehmen, daß Lu Märten den Aufsatz Kunst, Klasse und Sozialismus eigens für die Neue Zeit verfaßte, zumal Otto Krille kurz zuvor einen ähnlichen Vorstoß unternommen hatte. 28 Kautsky aber lehnte im Namen der Redaktion ab: »Sehr geehrte Genossin, ich danke Ihnen für die Übersendung Ihres Artikels, kann mich aber leider nicht entschließen, ihn zu akzeptieren, da er in seiner gegenwärtigen Form zu schwer verständlich ist und auf die Masse unserer Leser, fürchte ich, mehr verblüffend als aufklärend wirken würde.« 29 Nicht nur die Kunsttheoretikerin, auch die Kunstschriftstellerin Lu Märten erhielt von der Redakion der Neuen Zeit eine Absage, und zwar 1910 von Franz Mehring. Es handelte sich um einen Aufsatz über Vincent van Gogh. Mehring hatte sich entschieden, das Thema an Wilhelm Hausenstein zu vergeben, 30 der als Redakteur der Sozialistischen Monatshefte auch regelmäßiger Mitarbeiter der 28

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Otto Krille: Kunst und Kapitalismus. In: Die Neue Zeit. 24. Jg., Bd. I, 1905/06, S. 530-534. Im Brief vom 10.7.1905 erwähnt Otto Jenssen die Protektion Clara Zetkins für Otto Krille - sie hatte das Vorwort für seinen Gedichtband Aus engen Gassen geschrieben - und legt dabei Lu Märten nahe, daß auch sie für eine entsprechende Protektion in Betracht kommen müsse. In jedem Fall scheint sie die Publikationen Krilles verfolgt zu haben. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. Brief Karl Kautskys an Lu Märten vom 10.5.1906. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Brief Franz Mehrings an Lu Märten vom 1.9.1910. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Hausensteins Artikel erschien in: Die Neue Zeit. 29. Jg., Bd. I, 1911, S. 473-475 unter dem Titel van Gogh

Neuen Zeit war. Mehrings Absage kann als redaktionelle Routine und muß nicht als Zurückweisung der Auffassungen verstanden werden, die Lu Märten über die Malerei van Goghs vertrat. Ihr Artikel ließ die soziale Außenseiterposition des Künstlers während seiner intensivsten Schaffensperiode kaum in den Vordergrund treten. Lu Märten unternahm vielmehr den Versuch, die stilistische Einordnung van Goghs als Impressionisten aus dem Bemühen um einen gültigen Stil der Moderne zu begründen. Als Moderne stellte Lu Märten die zerbrochene Welt vor: Das Volk sei in Klassen und die »Kunst« in Moden und in ein vom Markt abhängiges Geschehen aufgespalten. Unter dem Topos »das Tempo der Zeit« deutete sie eine Veränderung der Wahrnehmung an, der die Impressionisten formal Rechnung trügen. Die Subjektivität der Moderne (»Eindruckskunst«) hatten auch schon Hermann Bahr und Julius Meier-Gräfe in einen entsprechenden Zusammenhang gestellt, und die Kulturkritik des Feuilletons trug ihm ebenfalls Rechnung, wenn sie von der »Nervosität« der Zeit und der Kunst sprach. Interessant in Lu Märtens Argumentation ist die Bestimmung des Impressionismus als geschichtlicher Tendenz der Kunst, aus der van Gogh zu seiner Metaphysik der Farbe fand: 31 Wir haben keine Vorstellung und Muße mehr für Betrachtung und Genuß, für Erlebnis. Wir nehmen, erhäschen und halten das Ergebnis fest, wie und wo es kommt (Impressionismus). Wir müssen darum auch den unmittelbaren Ausdruck, die unmittelbare Form für unser Erlebnis finden, in Sprache, in bildender Kunst (wie in der Technik der bloßen Mitteilung: Telegraph). So entsteht der Impressionismus als Stil. Er schafft in sich allmählich Vollkommenes; er erfindet Zeichen, die vermitteln; er wird in seiner reinsten Kraft, wie etwa bei van Gogh ein umspannender Aphorismus. So wurde der sogenannte Impressionismus eine selbstverständliche, tiefer begründete Zeiterscheinung, nicht die Laune einer Malergruppe. In diesem Sinne ist van Gogh Impressionist. [ . . . ] Das Seltsame, das vermutlich eines Tages als Zeittendenz begriffen wird: das Formproblem wird mehr und mehr zum Farbproblem und mit diesem gelöst. Die Kunst wird aufgelöst, ihre Kontur farbig begriffen und nicht allein anerkannt. Da sind Erscheinungen, die wir als Form begriffen, sie sind aber Farbe oder können es sein. Die Kontur wird orientierend, aber die Farbe erklärt. Umgekehrt: Die Farbe wird auch Form.

Die Zuordnung gesellschaftlicher, technischer und kunstgeschichtlicher Entwicklung, die Lu Märten im Aufsatz über Vincent van Gogh vornahm, systematisiert sie später in Wesen und Veränderung der Formen!Künste. Entscheidend dabei ist ihre Sicht auf die Entwicklungstendenz zur sogenannten gegenstandslosen Malerei hin, die ihr Material anhand formaler Lösungen selbst zum Gegenstand macht. Und in eben dieser Tendenz deutete sie einen >Wert< der Bilder van Goghs für das Arbeiterpublikum an. 32 1914 erhielt sie von der Neuen Zeit eine weitere Absage. In der Zwischenzeit war hier immerhin ihre Zuschrift zur sogenannten Sperber-Debatte erschienen. Unter dem Pseudonym Heinz Sperber verbarg sich im Vorwärts der niederländische naturalistische Dramatiker Herman Heijermanns, der in dem Artikel Kunst 31

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Lu Märten: Vincent van Kunst. Hg. von George Lu Märten: Vincent van van Gogh erschien 1911

Gogh. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Cleinow. 72. Jg., 1913, Nr.5, S.239/40. Gogh. In: Die Grenzboten. S.243. Eine kürzere Fassung Vincent in der Hamburger sozialdemokratischen Neuen Welt.

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und Industrie den Aufbau einer proletarischen Kunst schon vor dem >Zukunftsstaat< forderte. »Wir müssen durch den sauren Apfel der Tendenz hindurch.« 33 Lu Märtens Kritik lief im wesentlichen darauf hinaus, daß eine solche Forderung die Neuschaffung der Kunstformen im ästhetischen Prozeß der Moderne sowie durch den Einschnitt der Revolution nicht mit einkalkuliere. 34 Dieser Einwand konnte mit Mehrings Zurückweisung der Ästhetik der »schwieligen Faust« koexistieren. Kautskys neuerliche Absage galt vermutlich dem Vorhaben Lu Märtens, die jüngste Moderne in der Malerei, Kandinsky, Marc, Klee u.a. — die Wilhelm Hausenstein in seinem Buch Die bildende Kunst der Gegenwart vorgestellt hatte — in der Neuen Zeit zu behandeln. Kautsky begründete: »Über das Buch Hausensteins haben wir bisher keine Rezension veröffentlicht. [...] Eine Zusage, die Rezension aufzunehmen, können wir aus prinzipiellen Gründen nicht machen. Gegenstand und Autor lassen vermuten, daß eine Rezension angebracht sein könnte. Wir würden eine solche jedenfalls begrüßen [...]. Nur möchte ich Sie schon von vornherein darauf aufmerksam machen, daß die Neue Zeit vor allem auf ein Lesepublikum für Arbeiter rechnet. Hausenstein führt häufig eine Sprache, die für Arbeiter wenig verständlich ist, und das könnte den Rezensenten verführen, es ihm gleich zu tun. Denn dieser Kunstjargon ist, wie ich schon oft gesehen habe, eine anstekkende Krankheit, wie ja auch z.B. der philosophische Jargon .. ,«35 Kautsky zielt auf Ähnliches wie schon bei seiner Ablehnung von 1906, zumal er diesmal direkt von oben herab über das sprachliche Auffassungsvermögen »der Arbeiter« befindet: die Unverständlichkeit der Moderne. Die Rezension scheint von Lu Märten nicht geschrieben worden zu sein. Sie hat aber für Hausensteins Buch Käthe Kollwitz interessieren können. 3 6 Lu Märtens Zugang zu den bildenden Künsten blieb überhaupt für die Kulturpolitik der SPD unassimilierbar. Dieser Teil ihrer frühen schriftstellerischen Arbeit wird weiter unten bei der Darstellung ihrer Formkonzeption eingehend berücksichtigt. Das Buch Die wirtschaftliche Lage der Künstler (1914) entstand ursprünglich als Auftragsarbeit des Verlages Eugen Diederichs, erschien aber schließlich bei Albert Langen. Lu Märtens Forderungen betreffen Einkaufs- und Verteilungsgenossenschaften mit sozialistischer Ausrichtung, doch trugen sie keineswegs zu einer Diskussion innerhalb der Partei bei. Lediglich Otto Jenssen brachte eine lobende Kritik des Buches in der Neuen Zeit unter. 37 Aus der Fragestellung dieses Buches 33

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Heinz Sperber: Tendenziöse Kunst. In: Vorwärts, 1910, Nr. 207 (4.9.1910). Zit. nach Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. S.271. Eine Darstellung der Sperber-Debatte findet sich auch bei Georg Fülberth: Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. S. 127-150. Lu Märten: Zur ästhetisch-literarischen Enquete. In: Die Neue Zeit. 30. Jg., Bd. II, 1912, S. 790-793. Brief Karl Kautskys an Lu Märten vom 27.4.1914. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Brief von Käthe Kollwitz an Lu Märten vom 13.4.1916. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Otto Jenssen: Der Künstler als Warenproduzent. In: Die Neue Zeit. 32. Jg., Bd. II, 1914, S. 405-410.

heraus griff Lu Märten dann mit Blick auf die ästhetische Erziehung des Proletariats erneut ihre schon in Kunst, Klasse und Sozialismus angedeutete Auffassung von der Unmündigkeit der Arbeiterklasse in Fragen der ästhetischen Alltagspraxis auf. Das Buch oder die Broschüre Ästhetik und Arbeiterschaft hätte im DietzVerlag erscheinen sollen. Man schrieb Lu Märten, ihr Text sei »erquickend«, 38 doch möge sie sich an eine andere Redaktion wenden. Die wichtigste Ausnahme bei dieser Rückzugsstrategie der sozialdemokratischen Presse Lu Märtens ästhetischen Überlegungen gegenüber machte die Redaktion des Demokrat. Diese nur kurzlebige Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur redigierte Franz Pfemfert, ihr Herausgeber war Georg Zepler. Lu Märtens Artikel Von der Mietskaserne, der neben einigen anderen aus ihrer Feder hier erschien, gehört zu den die spätere Formkonzeption vorbereitenden frühen Aufsätzen. Er weist Elemente der Kulturkritik auf, die aus der Bodenreformbewegung und dem Neuliberalismus stammen und die zur selben Zeit vom Deutschen Werkbund propagiert wurden. Lu Märtens Kritik an der Mietskaserne leitet sich aus der an der Bodenspekulation her, verwirft das ästhetisch überflüssige Ornament, fordert zur architektonischen Unterstreichung der Zweckform auf. Ein Kerngedanke liegt dem zugrunde: Schönheit realisiere sich in der Unverfälschtheit des Materials und der Zweckmäßigkeit der Form. Dies versucht Lu Märten in den zwanziger Jahren in der Zuordnung von ökonomisch-technischer Evolution und kunstgeschichtlicher Entwicklung zu entfalten. 3 9 Ansonsten war Lu Märten hauptsächlich als sozialistische Schriftstellerin mit >Frauenfragen< betraut. Ihre umfangreiche Mitarbeit in den Zeitungen der sozialistischen Frauenbewegung seit 1903/4 wies sie als Lyrikerin, Reporterin von Kongressen, Erzählerin von Kindergeschichten, theoretisch-phantasievolle Agitatorin zu den kalendarischen Feiern des SPD-Jahres aus. Beiträge unter diesen Vorzeichen gelangten auch vereinzelt in die lokale und überregionale Parteipresse. So brachte der Berliner Vorwärts ihre Darlegung der Konsumgenossenschaftsidee als Aufruf an die sozialistischen Frauen 4 0 oder einen Wahlaufruf zur Reichstagswahl von 1912 in hymnisch-aktivistischer Manier mit dem Refrain »Es ist Zeit mit dem Klinger zu klirren«. 41 Teile dieses Gedichts wurden dann 1924 in der Wiener kommunistischen Zeitschrift Arbeiter-Literatur erneut abgedruckt. 38

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Brief von Johann Heinrich Wilhelm Dietz an Lu Märten vom 2.6.1914. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 210. - Zum Text vgl. S. 107ff. Lu Märten: Von der Mietskaserne. In: Der Demokrat. 1911, Nr. 6, Sp. 157-159. Wiederabgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S . 3 2 - 3 4 . Faßt man den Begriff ästhetischer Theorie eng, dann gehören Lu Märtens Beiträge für den Demokraten nicht in die Reihe ihrer frühen ästhetisch-theoretischen Texte, sondern sind ästhetische Überlegungen »aus Anlaß von ...«: Neben dem Artikel über die Mietskaserne erschienen hier die Artikel Hugo Wolf, Eduard Manet und Charles de Coster. Lu Märten: An die Frauen des Proletariats! In: Vorwärts. 1904, Nr. 268. Wiederabgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S. 18—21. Lu Märten: Zur Reichstagswahl 1912. Zeitungsausschnitt. Vorwärts, 1912. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 57. Derselbe Text ist als Typoskript überliefert unter dem Titel Es ist Zeit mit dem Klinger zu klirren. Frauen! Männer! Ein Wort an die Geister. 15 S.. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 2.

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Daß das Hamburger Echo ihr Requiem. Für Henrik Ibsen publizierte, ist Ausnahme wie Bestätigung der dargestellten Klassifizierung durch die Parteipresse. Dies wirft die Frage auf, inwiefern Lu Märtens frühe Arbeiten, die in der proletarischen Frauenpresse erschienen, zur verdrängten kulturrevolutionären Tradition der SPD zu rechnen sind und inwieweit sie diese mitgestalteten. Zum einen trat Lu Märten ganz äußerlich gesehen dort mit ihren Stücken in Erscheinung, wo Literatur im Sinne von Zeugnissen, die aus der Arbeiterklasse selbst stammten, gefördert wurden: in der Gleichheit Clara Zetkins, der Wiener Arbeiterinnen-Zeitung Adelheid Popps, dem Hamburger Echo, das in seiner Jugendbeilage auf Arbeiterdichtung eingehen wollte, sowie der Zeitschrift ArbeiterJugend, die ihre Leser selbst zu schreiben aufforderte. Clara Zetkin förderte insbesondere didaktische Literatur, der sie in der Kinderbeilage großen Spielraum zur Verfügung stellte. 42 Jedoch erfüllte der literarische Charakter der ersten Gedichte und Erzählungen in der Gleichheit und der Arbeiterinnen-Zeitung keineswegs die Erwartungen, die seit Beginn des Jahrhunderts von Clara Zetkin an die Herausbildung spezifisch proletarischer Ausdruckformen in der Literatur geknüpft waren. Den neuen Ton traf der von ihr geförderte Otto Krille, zu dessen Gedichtband Aus engen Gassen (1904) sie ein enthusiastisches Vorwort schrieb. Hier wurde die prätentiöse Erhebung über den Alltag, von der die sozialdemokratische Literatur des 19. Jahrhunderts zehrte, der feierliche Chorgesang, die Frühlings-, Licht- und Siegesallegorien, das Freiheitspathos Freiligraths, das die wenigen kämpferisch-agitatorischen Gedichte verbraucht hatten, von einer neuen Einstellung abgelöst: Ein klassischstrenger Ton evozierte Bilder des spontanen Massenwillens, der in den Sieg des Proletariats mündet. Im Begriff des Proletariats, der mit dem Zurückdrängen des Revisionismus auflebte und der in Reden, Schriften und Briefen Clara Zetkins von Haus aus ein gefühlshaft-ästhetisierendes, von Hoffnung getragenes Element enthält, schiebt sich mit dem der Masse auch der des Volkes in den Vordergrund. Krilles Gedicht Wahlversammlung gelingt diese Verbindung durch seine optische Perspektive auf die Masse — die Vogelflugperspektive innerhalb eines Raumes läßt ein proletarisches Ich fühlbar werden: 43 Das ist die Menge, Kopf an Kopf gedrängt! Schwarz füllt sie Saal und niedrige Tribünen. Ihr Murmeln wird zum brausenden Orkan; Und wie im Ährenfeld die Halme wogen So geht ein Auf und Nieder durch die Masse. Ist das ein Leib? Ein einzig grollend Meer? Wohl tausend Hände, tausend heiße Köpfe, Und tausend warme glühn'de Menschenherzen Mit eignem Leid und eignem Freudenquell! Da ist der Greis, den Todesnähe küßte Und da ein Mann mit reifer Kraft und Glut, Ein Jüngling, frisch, mit flaumig-weicher Lippe, 42 43

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Dazu Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. S. 350/51 und S.266. Otto Krille: Aus engen Gassen. Gedichte. Berlin 1904. S.21f..

Im Blick Begeisterung und jugend-frohen Glanz. Dort sitzt ein alternd Weib und dort ein Mädchen, Und doch ist's nur ein Schrei und nur ein Lachen, Das oftmals in der Rede Fluß sich drängt, Das ist ein einz'ger Wunsch und eine Hoffnung, Nach Rettung aus verstaubter Lebensöde. Ein Funke nur springt jetzt von Herz zu Herz, Und wie der Redner lauten Wortes endet, Da braust ein Sturm durch den erhitzten Saal; Wie Meeresbrandung hallt ein Donnerruf! Zukiinft'ge Tage ziehen ihre Kreise.

Der klassische Ton und die zum Vergleich herangezogenen tendenziell zerstörerischen Naturereignisse bringen Monumentalität in das Bild der versammelten Arbeiter. Diese Suggestion sozialistischer Bewegung ist eher traditionell. Die Schlaglichter auf die Einzelnen in der Masse aber weisen in manchem auf expressionistische Bildtechniken. Neu ist diese Kombination von Vitalismus mit Sozialismus. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde derartig erlebnisgetragene Arbeiterdichtung dann weit verbreitet. 44 Die ersten Erzählungen und Gedichte Lu Märtens, welche die Gleichheit publizierte, schrieb sie großenteils in den Jahren vor 1900. Die Ambition auf den »Nietzsche des Sozialismus« oder den »Ibsen der Zukunft«, wie sie sich dem Leser der beiden ersten Theaterstücke später mitteilt, ist hier noch nicht bemerkbar. Offenkundige literarische Vorbilder scheinen darin nicht auf, es sei denn, die im Elternhaus gehaltenen Zeitungen und deren Unterhaltungsteil - die Anpassung an die vom Feuilleton verlangten Kurzformen bei einer Schreibweise, die noch tastend viele Tonarten ausprobiert, wirkt geradezu perfekt. Bei den Erzählungen überwiegt der Typus der »einfachen Geschichte«. Insbesondere wirkt dabei die Märchenmode nach, eine Erscheinung, die in der Neuromantik so gut wie im literarischen Jugendstil begegnet. Doch die germanisierende Feenwelt der Versunkenen Glocke oder die schwüle Exotik des Märchens der 672. Nacht von Hofmannsthal sind bestenfalls als literaturgeschichtlicher Hintergrund der von Lu Märten geschriebenen Märchen zu sehen. Es sind Märchen >aus dem LebenArbeiterdichtungs die mit dem >Augusterlebnis< des Ersten Weltkriegs anhob, auf das sie die Literaturwissenschaft lange Zeit zurückführte. Vgl. Christoph Rülcker: Ideologie der Arbeiterdichtung 1914-1933. Eine wissenssoziologische Untersuchung. Stuttgart 1970. Lu Märten: Wie der kleine Eli Flügel bekam. In: Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen. Hg. von Clara Zetkin. 1905, Nr.20, Beilage »Für unsere Kinder« Nr. 10, S. 39/40.

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ein Auto fährt vor, das Eli zuerst viel wunderbarer erscheint als sein Wunsch, fliegen zu können, doch er hört vom Fahrer und der schönen Frau im Auto (die natürlich nicht so schön wie die Fee ist), daß Autos nicht auf hohe Berge fahren oder auf Baumwipfeln landen können. Also hält Eli sich an die Fee, die ihm riet, von den Tieren zu lernen. Eli stellt fest, daß er fliegt, und nach zwei Stationen im Märchenland ist er plötzlich zuhause angekommen. Wenn sich das Märchen am Ende ziemlich banal als Traum herausstellt, so wird seine Realitätsstruktur immerhin nicht gegen die der wachen Welt ausgespielt; es belehrt nicht über sie, es behauptet als kindliche Phantasie nur sein Recht gegen die wache Welt. Erst mit dieser Ehrenrettung des Phantastischen kommt auch die Didaktik zu ihrem Recht: Reiche Leute können nicht fliegen, aber Eli kann es. Der Ton naiver Authentizität hat in diesen Märchen Lu Märiens eine pathetische Grundlage. Zur Sprache kommen soll etwas Unliterarisches, Kunstloses. Dies scheinbar Dokumentarische der Phantasie eines jungen Mädchens dürfte dem entsprochen haben, was sich Clara Zetkin von einer aus dem Proletariat stammenden Literatur versprochen hatte. Nicht alle Beiträge Lu Märtens in der Gleichheit erreichen diesen Ton. Manche bemühen das Deutsch der biblischen Geschichte und enden, ebenfalls unter dem Etikett »Wunder«, als Allegorie - etwa mit dem Verweis, daß sich die arme Heimarbeiterin, wenn sie nur liest wie ihr Mann und wie er in die sozialistischen Versammlungen geht, emanzipiert und glücklich wird: »>Über dich selbst hinaus, das ist das Wunder .. .von den Führern aufgehetzt würden. Wie war es denn nur möglich, daß die Dichterin sich ein solches Zerrbild von der Lohnbewegung machen konnte!

Solchen Stimmen trat die große Besprechung Clara Zetkins entgegen, und zwar derart, daß ein erneuter Angriff auf Lu Märten einen auf die Rezensentin dargestellt hätte: Auch sie unterstrich den Kunstwert des Dramas, wies auf die dramatische Bündelung des Geschehens in einen Akt - oder besser noch: auf Zimmerformat wie auf die bewußte Einfachheit von Bühne und Personen. Zetkin erkannte darin eine Chance für Arbeiterlaienspielgruppen; sie empfahl das Stück wärmstens den Bildungsorganisationen der Partei. Das entscheidende Thema, die Ethik der Einzelhandlung, deklarierte sie als sozialistischen Inhalt: »In dem Schauspiel fallen nirgends Worte wie Kapitalismus, Klassenkampf, Organisation, Sozialismus. Und doch weht uns der schöpferische Odem unserer sozialistischen Auffassung aus allem entgegen, was die Bergarbeiter sind, was sie reden und tun. Das Drama gibt Wesentlicheres als die landläufige Terminologie des proletarischen Befreiungskampfes. Es hat zu Fleisch und Blut verkörpert die neuen geistigen, sittlichen Kräfte gestaltet, denen der Sozialismus in den Massen das Werdet und Wachset zuruft.« 59 57

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Franz Mehring: Lu Martens Bergarbeiter. In: Die Neue Zeit. 27. Jg., Bd. I, 1908/09, Nr. 6, S. 933/34. (Anonym) Bergarbeiter. Deutsche Metallarbeiter-Zeitung. Berlin. 1909. (Hervorhebung am zit. Ort) Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 3. Clara Zetkin: Ein Arbeiterdrama. In: Die Gleichheit. 1912, Nr. 16. Beilage »Für unsere Mütter und Hausfrauen« Nr. 6, S.63.

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Zetkin lobte aber vor allem, daß die Personen und die Aussage der Bergarbeiter bewußt gegen die Marktnachfrage des gewöhnlichen Theaterbetriebs konzipiert seien. Sie argumentierte im Rückgriff auf Richard Wagners Die Kunst und die Revolution·, statt »Handwerk« und Lieferung für den Markt »Kunst« und Bindung an die Revolution. »In unserer Zeit, wo das Gieren nach Tagesruhm und Gold so oft die schöpferische Kraft der Künstler >der bleichen Handwerkerseele< Untertan macht und gestalten läßt, was gefällt, was hoch im Marktpreis steht, nicht >was ein Gott zu sagen gegebene wird diese ehrenvolle Bekundung von Charakterstärke zugleich zu einem Zeugnis dafür, daß das Werk aus innerer Notwendigkeit geboren und nicht literarisch fabriziert worden ist. Es hat damit die Weihe echter Kunst erhalten.« 60 Ob solcher »Ruhm im Angesicht der Ewigkeit«, den Wagner vom »modernen Ruhm« unterschied, 61 auch in der Auffassung Lu Märtens dasjenige war, was sie in die sozialdemokratische Arbeiterbewegung einbringen konnte? Ein krasser Widerspruch blieb bestehen zwischen solchem Kunstlob und der Abhängigkeit von der Möglichkeit, das Maifeuilleton für die Gleichheit zu schreiben; ein Widerspruch zwischen ihren in der linksbürgerlichen Frauenpresse vertretenen Anschauungen »gegen Privatbesitz auf Körper und Seele der Frau« 62 und dem in der Gleichheit konform vorgebrachten Egalitätsgrundsatz der Geschlechter im Klassenkampf; ebenso ein Widerspruch zwischen dem Bemühen, die kunsttheoretischen Beiträge in den kulturellen Zentralorganen zu piazieren, und deren schließlicher Publikation in den Feuilletons der Lokalpresse oder in philosophischen Fachzeitschriften. Dennoch muß man innerhalb der Kulturpolitik der Vorkriegssozialdemokratie Lu Märtens kulturrevolutionären Beitrag in Theorie und Dichtung in die Nähe der Intentionen Clara Zetkins rücken, weil diese nämlich ihre einzige wirkliche Förderin war. Sie blieb dies auch als Sprecherin der SPD-Linken und der Friedensbewegung der Frauen während des Weltkriegs wie auch später, im Rahmen ihres Einflußbereichs, als sie in der Sowjetunion lebte. 63

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Clara Zetkin, ebd., S.62. Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution. In: Wagner, Ausgewählte Schriften. Hg. von Esther Drusche. Leipzig 1982. S. 158. Der Anlage zu Lu Märtens Arbeiten zufolge das Thema einer frühen Komödie Lu Märtens Hinter den Türen, die nicht überliefert ist. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 3. So forderte Clara Zetkin noch 1916 Lu Märten auf, das Maifeuilleton für die Gleichheit zu schreiben. Brief Clara Zetkins an Lu Märten vom 19.4.1916. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. — Als der Russische Staatsverlag die Zahlungen für die bestellte Arbeit Wesen und Veränderung der Formen!Künste einstellte, sorgte Clara Zetkin dafür, daß Lu Märten eine Abfindungssumme erhielt. Mitteilung Lu Märtens an Frau Shelley Rosenthal (Moskau) in einem Brief vom 30.11.1925. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 142.

ZWEITER TEIL

2. Für eine angewandte Ästhetik

2.1. Von der Poesie des Eisens zur Arbeiterkunsterziehung Die willentliche gegenseitige Ergänzung von Dichtung und bildenden Künsten wurde kaum jemals intensiver von Dichtern und Künstlern betrieben als um die Jahrhundertwende, sei es, daß der >isolierte< Dichter vom »Künstler die Realität geschenkt«1 zu bekommen erhoffte, oder sei es, daß sich das Streben nach dem Gesamtkunstwerk in der gewerblichen Buchillustrierung und -typographie einen Ausdruck verschaffte. Die kunstgeschichtliche Schriftstellerei etwa von Julius Meier-Gräfe ist eine weitere Ausdrucksform für diese willentliche Ergänzung zweier Künste. Bei Lu Märten fand sie sich mehrfach geschichtet. Schon der Titel des Romans Torso bekundet sie. Zum Kreis der Freunde und Bewunderer, der sich um das »Bild« der Dichterin gruppierte, gehörten der Bildhauer, der Graphiker und der Kunstschriftsteller. Die kranke Schriftstellerin, deren Leben aus Kunst und Willen zur Selbstheilung besteht, hat mit der eigenen Kunst im zweiten Teil des Torso die Werkstattarbeiten der Freunde monumentartig überhöhen wollen. Ein ähnliches Ergebnis bezweckte das Verfahren in ihren Artikeln, die einzelnen Malern gewidmet sind; es sind biographisch ausgerichtete Würdigungen, welche die Werke der Käthe Kollwitz, Paula Becker-Modersohn, Eduard Manet und Vincent van Gogh zu unmittelbaren Ergebnissen ihres Künstlerlebens stilisieren.2 An deren größerer Wirklichkeitsnähe kann sich die journalistische Schreibweise aufrichten. Die frühe personelle Konstellation um Lu Märten gibt auch Aufschluß über die Ideen und die Forderungen, die sie in ihren ersten kunsttheoretischen Aufsätzen vertrat. Sie lagen in einem Spannungsfeld von Journalismus, Dichtungsversuchen, der Verarbeitung der jüngsten Entwicklungen in der Malerei und im Kunsthandwerk, wie sie die großen Kunstausstellungen, darunter die der Sezessionen, vorführten, und den Problemen des bürgerlich-radikalen Flügels der Frauenbewegung;3 sie 1

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Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt/M. 21968. S. 127. Lu Märten: Käthe Kollwitz. In: Die Frau. 1903, Nr.5, S.290-292. - Lu Märten: Eduard Manet. In: Der Demokrat. 1910, Nr.25. - Lu Märten: Paula Becker-Modersohn. In: Frauen-Zukunft. 1911, Nr. 5, S. 383-391. - Lu Märten: Vincent van Gogh. In: Die Grenzboten. 1913, Nr.5, S.237-243. Im letztgenannten Themenkreis verlagert sich der Schwerpunkt: Die Aufklärung über sozialpolitische Probleme tritt vor Fragen der ästhetischen Produktivität der Frauen, insbesondere in den bildenden Künsten, zurück.

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lagen außerdem in dem Spannungsfeld zwischen dem Nationalsozialen Verein und der Sozialdemokratie mit ihren Bildungsbestrebungen. Der erste kunsttheoretische Artikel Lu Martens, Die künstlerischen Momente der Arbeit in alter und neuer Zeit, erschien in der neben der Hilfe von Naumann redigierten Zeitschrift Die Zeit. Dieser Aufsatz scheint auf den ersten Blick die gründlegende These des allgemein als Hauptwerk Lu Märtens anerkannten Buchs von 1924, Wesen und Veränderung der Formen!Künste, schon im Keim zu enthalten. Eine spätere Angabe der Autorin gibt diese Hauptthese bündig wieder: »Es handelt sich [...] nicht um eine Behandlung der Erscheinungen in der Art bisheriger Kunstgeschichten, sondern ich versuche, den Ursprung aller Künste bewußt zu machen. Und daß es sich bei allem ursprünglich erstem Formfinden um lebenswichtige Zwecke handelt. [...] Ich kalkuliere sie aus der Notwendigkeit (Zweck) der gegebenen Umstände der einzelnen Völker. [...] Ohne Rezepte zu geben ergibt sich allerdings die Anschauung, daß eine künftige Kunst wieder zu einer Zweckbestimmung zurückkehren würde.«4 Die Hauptthese enthält demnach die Annahme einer ursprünglichen Einheit von Arbeit und Kunst, die durch die gesellschaftliche Ausbildung der Arbeitsteilung zerstört wurde, die aber in einer künftigen Kunst bzw. gesellschaftlichen Produktion wieder rückgängig gemacht wird. Der Begriff Kunst selbst erübrigt sich in diesem geschichtlich konzipierten Dreischritt, weil er nur in einem vorübergehenden Stadium gelten kann. Er wird von Lu Märten durch den Begriff der Form ersetzt. In einem bestimmten Sinn ist tatsächlich in jenem frühen Aufsatz der Gedanke, »daß in der Art der Arbeit, in der mit der Entwicklung des Großbetriebes, Anwendung der Maschinen und weitestgehenden Inanspruchnahme des Kapitals immer größer werdenden Differenzierung in den Gewerben, die eine immer spezialisiertere Arbeitsteilung mit sich brachte und ermöglichte«,5 schon mit der Forderung verknüpft, in die gesellschaftliche Produktion künstlerische Momente aufzunehmen; allerdings derart, daß der Industriearbeiter vom alten Handwerk lerne, sich außerdem bilde »an den Kulturerrungenschaften seiner Zeit auf allen Gebieten«, Freude an der Herstellung ausgewählter Produkte bekomme und so schließlich die Industrie zwinge, ihre billige, geschmacklose Massenproduktion aufzugeben. »So lassen sich künstlerische Momente auch unter heutiger Arbeit finden und vor allem ausbauen.«6 Die von Lu Märten später im Grundriß beibehaltene Konzeption der Form, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und Kunstproduktion aufeinander bezieht, hat zu zwei schwerwiegenden Mißverständnissen über den Charakter und die Herkunft dieser Konzeption verleitet: daß es sich dabei von Anfang an um einen

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Abschrift eines Briefes an Prof. Tomaszewski, Berlin, auf Fragen nach einigen Arbeiten Lu Märtens. S.2/3. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam) Portefeuille 2. Lu Märten: Die künstlerischen Momente der Arbeit in alter und neuer Zeit. In: Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift. Hg. von Friedrich Naumann. 2. Jg., 1903, Nr.51, S.801. Wiederabgedruckt in: Lu Märten: Formen für den Alltag. S.9—14. Lu Märten, ebd., S.804.

»materialistisch-ästhetischen Ansatz« handele 7 und außerdem um die Literaturtheorie einer Literaturwissenschaftlerin 8 statt um die Kunsttheorie einer Dichterin, die zeit ihres Lebens die poetische Leitidee des Symbolismus nicht einmal historisch relativierte. 9 Eine wesentliche Ursache der Mißverständnisse liegt gewiß in Lu Märiens Angabe, sie habe seit 1900 der SPD angehört. 10 So lag einerseits die Vermutung nahe, daß ihr erster Aufsatz schon »ihre beginnende Aneignung des historischen Materialismus dokumentiert und sachliche Nähe zu Gedankengängen in den Marxschen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten spüren läßt, obwohl sie zu dieser Zeit noch unveröffentlicht waren«, 11 und daß andererseits derselbe Grundgedanke, von der nach eigener Angabe seit 1920 kommunistischen Autorin ausgearbeitet, als historischer Materialismus eine »Überwindung« der Literaturkritik Franz Mehrings sein müsse. 12 D e m oben zitierten Brief Fanny von Imles zufolge kann Lu Märten frühestens 1903 Mitglied der deutschen Sozialdemokratie geworden sein. 13 Auch heißt es im Torso über die Zeit vor 1905, als die Mutter noch lebte: »Das Bewußtsein der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit hinsichtlich alles Materiellen und Kulturellen hatte damals noch keine Worte in mir, sodaß ich ihr davon nichts sagen konnte.« 14 Hier erfährt man auch von Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr, dem 1906 gestorbenen Bruder Hermann und ihrem damaligen Verlobten. Grund dazu habe ihre Nähe zu den »linksfreisinnigen Kreisen« 15 des nationalen Sozialismus sowie

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Rainhard May: Theorie der »Formen« wider Theorie der »Künste«? In: Lu Märten: Formen für den Alltag. S. 185. Dies unterstellt Bärbel Schräder. Sie stellt Lu Märten vor, »die sich autodidaktisch zur Literaturwissenschaftlerin ausgebildet« haben soll; gelten soll dies für die erste Hälfte der zwanziger Jahre. Jedoch lassen sich Lu Märtens Artikel über Ibsen, Ricarda Huch oder de Coster kaum als Vorstufen zu weiteren literaturwissenschaftlichen Studien begreifen. Möglich wäre diese Bezeichnung im Hinblick auf ihre Mitarbeit am Lesebuch Georg Forster (1952). - Bärbel Schräder: Aufbruch in ein neues Zeitalter (1918-1923). In: M. Nössig, J. Rosenberg, B. Schräder: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918-1933. Berlin und Weimar 1980. S. 112. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch schon in den frühen zwanziger Jahren, galt ihr Peter Hille als der nahezu einzige Inbegriff von »Dichtung«. Vgl. Lu Märten: Wesen und Veränderung der Formen und Künste. Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. Weimar 1949. S.357 und 377. Vgl. ebenfalls Lu Märten: Peter Hille — ein unbekannter Dichter. In: Die Weltbühne. 1947, Heft 12, S. 539-543. Keineswegs ist nur die frühe Lyrik Lu Märtens durch den »Einfluß Peter Hilles« geprägt, wie an folgender Stelle behauptet wurde: Lu Märten - Bio-Bibliographie. Zusammengestellt von Erhard H. Schütz, unter Mitarbeit von Florian Vaßen und Dieter Richter. In: alternative. 16. Jg., 1973, Heft 89, S.100. Vgl. 1.1., Anm. 46. Rainhard May: Theorie der »Formen« wider Theorie der »Künste«? S. 185. Bärbel Schräder: Aufbruch in ein neues Zeitalter (1918-1933). S. 182. Vgl. 1.1., Anm. 55. Lu Märten: Torso. S.56. Lu Märten, ebd., S.70. 97

Naumanns damalige Leitvorstellung eines sozialen Königtums geliefert. Was sie in eigener Schilderung damit verband, berührt unmittelbar die kunsttheoretische Ambition ihres frühen Journalismus: »Die Neigung zum Kleinbäuerlichen und die Erscheinung des Starkpersönlichen. Religiöse Traditionen trotz der Revolution des Denkens in der Philosophie des modernen Bürgertums und trotz Kant und Darwin. Das zum Teil handwerkliche Herkommen und die Liebe [dazu, wie auch die] Betonung des Künstlerischen [bei] der Wertung der Kunst - dabei die Ehrlichkeit der sozialen Reform für die Arbeiter.« 16 Die Forderung Lu Märtens von 1903, »künstlerische Momente auch unter heutiger Arbeit [zu] finden und aus[zu]bauen«, ist diejenige Friedrich Naumanns, des maßgeblichen Ideologen und Organisators des Werkbundes in seiner ersten Phase. Diese nachdrückliche Feststellung stellt nicht in Abrede, daß Lu Märten, wie sie 1931 notierte, »in den letzten zwanzig Jahren [...] das Problem — die Anwendung des historischen Materialismus auf die Künste - andauernd beschäftigte]«; 17 hier soll lediglich das Spezifische aufgewiesen werden, das auch die spätere »historisch-materialistische« Theorie der Künste von den Grundsätzen der üblichen Übertragung des Marxismus auf das Gebiet des ästhetischen Urteils unterscheidet: Lu Märtens unmittelbarer Bezug auf die Werkstattarbeit in den bildenden Künsten und ihre vermittelte Teilnahme an Strömungen und Bewegungen dieses Produktionsbereichs.18 Aus der Entwicklung der funktionalen Architektur und der modernen Produktgestaltung ist die Initiativfunktion des Werkbundes in Deutschland nicht wegzudenken. Er wurde 1907 in München gegründet. Sein Gründungsausschuß bestand aus zwölf Architekten und bildenden Künstlern sowie zwölf Firmen, die Bedarfsprodukte für Haus und Wohnung herstellten. Unter den Architekten waren der traditionsgebundene Theodor Fischer, der als bahnbrechend geltende Peter Behrens, Josef Hoffmann, der Leiter der auf Luxusproduktion spezialisierten Wiener Werkstätten, Richard Riemerschmid, Josef Maria Olbrich, der später im Nationalsozialismus als völkischer Propagandist wirkende Schultze-Naumburg u.a. 19 Dieses Bündnis zwischen den angewandten Künsten und der Industrie setzte sich zur Hauptaufgabe, dem lebensfremden historischen Ballast des Eklektizismus in Architektur und Produkgestaltung Einhalt zu gebieten, da die qualitätslose Massenware den Markt überschwemmte.

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Lu Märten, ebd., S.70. Angabe Lu Märtens. Zit. nach R. May: Theorie der »Formen« wider Theorie der »Künste«? S. 176. Deswegen hielt man sie sogar für eine Malerin. Ingo Kahle: Künstlerorganisationen in den zwanziger Jahren. Zur Geschichte des Reichs(wirtschafts)verbandes bildender Künstler Deutschlands. In: Weimarer Republik. Hg. vom Kunstamt Kreuzberg und dem Institut für Theaterwissenschaften der Universität Köln. Berlin und Hamburg 31977. S.541. Der Werkbund in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Form ohne Ornament. Hg. von Lucius Burckhard. Stuttgart 1978.

Die bedeutende Reformbewegung im Kunstgewerbe und in der Architektur Englands seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit Carlyle und Ruskin begann, war die wichtigste Grundlage des Werkbundes. Seit den achtziger Jahren wirkte sie auf den Kontinent herüber: zuerst auf Belgien, wo der Architekt Horta und der zunächst als Maler auftretende van de Velde den ornamentalen Stil entwickelten, Horta nach dem Vorbild üppiger Vegetation, van de Velde in der Absicht, »die Funktion des Gegenstandes anschaulich zu machen«. 20 Unter dem Namen »jener sonderbaren dekorativen Krankheit, bekannt als l'Art Nouveau«, 21 reüssierte der neue Stil in Frankreich. In Deutschland waren es zwei Ausstellungen, die neben der Gründung von Kulturzeitschriften (Pan, 1894; Jugend, 1895; Der Kunstwart, 1887)22 den Übergang zwischen Historismus und neuem Stil schufen: die »Deutsche Kunstgewerbeausstellung« in Dresden von 1897, wo van de Veldes Innenräume erstmals in Deutschland gezeigt wurden, und die Ausstellung »Deutsche Kunst« 1901 in Darmstadt. Auf ihr wurde eine Komponente des kontinentalen Jugendstils sichtbar, nämlich die Tendenz zur Herstellung von Luxuswaren, die ihn von den sozialreformerischen und — in Hinsicht auf Morris — Sozialrevolutionären Zielen der Arts and Crafts grundlegend trennte. Über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede schreibt Nikolaus Pevsner: »Wie die Arts and Crafts in England, so hat auf dem Kontinent der Jugendstil das Verdienst, Handwerk und Kunstgewerbe neu belebt zu haben. Zweifellos kämpften die Arts and Crafts, indem sie Werktreue und Einfachheit der Form verfochten, um höhere moralische Werte als der Jugendstil. Sie verfolgten soziale Ziele; das Wesen des Jugendstils bedeutet Kunst um der Kunst willen.«23 Naumann hatte das erkannt. Sein Erfolg bei der Gründung des Werkbundes bestand darin, dem überschüssigen ästhetischen Elan unter Einbeziehung nationalökonomischer Gesichtspunkte die Wege des Praktikablen zu bahnen. Kurt Junghanns zufolge konnte deswegen nur das Bündnis zwischen Kunsthandwerk und Industrie geschlossen werden: weil sich der Fabrikant Karl Schmidt in der Öffentlichkeit zum Propagandisten für hohe technische Qualität und gediegene Form machte, weil Hermann Muthesius als Referent im preußischen Handelsministerium die Erfahrungen der englischen Reformbewegung für die Entwicklung der deutschen Kunstfachschulen verwerten sollte und weil Naumann darüber zu einem stabilen politischen Faktor im bürgerlichen Parteienwesen zu werden hoffte,

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Nikolaus Pevsner: Jugendstil. In: Jugendstil. Hg. von Jost Hermand. Darmstadt (Wege der Forschung Bd. CX.) 1971. S.54. Walter Crane: William Morris to Whistler. London 1911. S.232. Dazu Harry Pross: Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Ölten und Freiburg i.Br. 1963. S.52ff.. Nikolaus Pevsner: Jugendstil. S. 59/60. Ein kurzer geschichtlicher Überblick über die britische Arts and Cra/fs-Bewegung findet sich bei Edward Lucie-Smith: The Story of Craft. The Craftman's Role in Society. Oxford 1981. S. 207-220.

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indem er die aufgeschlossene bürgerliche Intelligenz um sich scharte. 24 Deren Bündnis mit der Arbeiterklasse sollte verhindert werden. 25 Das wirtschaftliche Programm des Neuliberalismus, mit dem Naumann dem Bürgertum die Fehler des alten Liberalismus - das »freie Spiel der Kräfte« hatte zu Mietwucher und Wohnungselend als größtem Hindernis für eine Sozialpolitik geführt, welche die augenscheinlich elenden Lebensumstände der Arbeiter hätte mildern können — zu überwinden versprach, implizierte sachlich eine Verbesserung der Produktverarbeitung und Formgebung mit Hilfe neuer Technologien. Qualitätserzeugung statt billiger Massenproduktion sollte die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig machen, sodaß sich darüber das Lebensniveau der deutschen Arbeiter entscheidend hebe. Naumann: »Hier ist der Punkt, wo Kunst und Handelspolitik und Sozialpolitik sich berühren.« 26 Allerdings könne die Qualität der Produkte nur erhöht werden, wenn sich der Industriearbeiter als Qualitätsarbeiter begreife. Die Maschinenarbeit habe ihm sein Können und den Stolz auf sein Arbeitsprodukt geraubt. 27 Dies sollte durch die Kooperation von Industriellen und Künstlern sowie durch die Bildungsbereitschaft der Arbeiter, ihren »Willen«, rückgängig gemacht werden. Für die reformbereite Jugend und die von neuem Produktionsstolz getragenen Künstler bildete dies eines der überzeugendsten Argumente Naumanns. Es sei das Verhängnis Marxens gewesen, meinte Heuss, nicht gänzlich die seelischen Konsequenzen berücksichtigt zu haben, welche die technische Produktionskraft für die Arbeiter nach sich ziehe. 28 Das spätere Programm des Werkbundes begnügte sich, konsequent im Geist der Ethik Naumanns, mit einer Verbesserung der Produkte durch neue Künstlerentwürfe. Handwerkliche Produktionsstätten, wie sie von Arbeitern in der Arts and Crafts-Bewegung gegründet wurden, besaßen im industriellen Fortschrittsbild Naumanns keinen Platz. Der Produktionsstolz der Arbeiter sollte vielmehr durch deren »soziales« Bewußtsein geweckt werden, einem großen ineinandergreifend funktionierenden Ganzen auf technischer Grundlage anzugehören. Deren Sinnbild war die Eisenarchitektur; sie werde die Kathedralen Frankreichs, den Petersdom und die Hagia Sophia in den Schatten stellen. »Alles das«, so schrieb Nau24 25

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Kurt Junghanns: Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. Berlin 1982. S.9/10. Friedrich Naumann: Was thun wir gegen die glaubenslose Sozialdemokratie? Vortrag, gehalten bei der Generalversammlung des schlesischen Provinzialrates für Innere Mission in Liegnitz, den 13. Juni 1889. Hg. vom Evangelischen Pressverein in Schlesien. Leipzig 1889. Das ambivalente Verhältnis zur SPD nach der Wahlniederlage von 1903 bringt Naumann im Artikel Die Nationalsozialen dezidiert zum Ausdruck. (In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. Hg. von Th. Barth. Berlin. 20. Jg., 1902/03, S.691 und 24. Jg., 1906/07, S.404.) Friedrich Naumann: Die Kunst im Zeitalter der Maschine. In: Naumann, Werke. 6. Bd., Ästhetische Schriften. Hg. von Heinz Ladendorf. Köln und Opladen 1964. S. 190. Friedrich Naumann: Die Erziehung der Persönlichkeit im Zeitalter des Großbetriebs. Berlin-Schöneberg 1907. Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. Tübingen und Stuttgart 21949. S.225.

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mann über den Steinbau im Unterschied zum Eisenbau, »steht ehrfurchtgebietend vor meinem Geiste, aber das Gefühl innerer mitschaffender Freude entsteht doch erst bei Werken, die unserer Zeit angehören, bei der Müngstener Brücke oder der Rheinbrücke von Düsseldorf, beim Eiffelturm. [ . . . ] Alle alten Raumbegriffe verschieben sich. Alle Gefühle für Träger und Belastungsverhältnisse werden anders.« 29 Derart konnte man Naumann rühmen, die seelischen Folgen der Fabrikarbeit in eine Art Sozialpartnerschaft ummünzen zu wollen, und zwar über die Identifikation des Arbeiters mit der monumentalen Seite der Technik. Innerhalb dieses Kontextes, den Sozialpolitik, industrielle Ethik und Ästhetik bei Naumann bildeten, fand Lu Märten zu ersten kunsterzieherischen Anschauungen. Wie weitgehend sie selbst in der Materialkonzeption Naumann direkt folgte, belegt ihr Artikel Die Poesie des Eisens; er umgibt Naumanns Ideologie mit einem neuromantischen Gewand. Dieses konterkariert grell die mit dem monumentalen Sachstil verbundenen sozialen Hoffnungen: 3 0 Wo sind die Zwerge geblieben, die den lauschenden Kindern und Menschen durch den Mund des Märchens von ihren krystallenen und goldenen Schätzen erzählen? Und wo sind die Menschen, die nur das Schillernde, Glänzende und Bunte schätzen und die die unschönen Formen von sich wiesen, weil sie die schlummernden Kräfte in ihnen nicht immer erkannten? Die Zwerge haben sich zu Riesen verwandelt; das sind die Geister der Menschen, die selbst sich aufmachten, um in den Adern der Erde nach Schätzen zu suchen, deren Hebung ihnen Glück und Leben verhieß. Hinter den wenigen, die sich einst am Gold und Gestein, an Verheißungen und Märchen genug sein ließen, stand eine große, nach Leben, Arbeit und Glück hungernde Masse erwartungsvoll und mit offenen, bereiten Händen, diese neu zu findende lebensverheißende Macht auf den Thron zu heben. Und rohe, formlose Eisenmassen wurden in ungeheurer Menge der Erde entnommen. Seit uralten Zeiten war das Eisen im Gebrauch der Völker gewesen, aber ein neues Jahrhundert warf einen nie gesehenen Glanz darauf und führte das seltsame Wesen an seiner Hand, die Technik, mit den wunderbaren Augen und feinen Händen, zu ihm. Geist und Stoff arbeiteten zusammen, und vereint mit der Technik ward das Eisen zu einer Macht, die Gebilde entstehen ließ vor den Augen der staunenden Menschheit, wie sie einst nur die Phantasie des Märchens entstehen lassen konnte. Die Poesie mit ihren Kindern glaubte sich verstoßen von den Menschen; ihre alten Weisen schienen fremde Laute für diese zu sein. Ein ganz neues Geschlecht war unter ihnen entstanden mit einer ungewissen Sehnsucht nach neuen Formen und neuem Inhalt. Aber da sah sie plötzlich die Hochöfen glühen; sie sah die Hämmer von kräftigen Armen geschwungen und die Maschinen sausen, sie sah, wie tausende von Männern und Frauen ihr Brot im Dienste des Eisens aßen und wie der Erdball umgürtet wurde mit eisernen Ringen, auf denen mit Windeseile das Dampfroß die Menschen in die Ferne führte; sie sah ungezählte Augen in Freude und Andacht die Schönheit der Welt erblicken und hörte sich von Menschen gerufen, an die sie nie gedacht. Auf allen Meeren und in allen Ländern hörte sie den Schall des Eisens; sie sah, wie die Entwicklung all dieser Kräfte auf die Menschen wirkte, und mitten unter den arbeitenden Männern und Frauen erblickte sie plötzlich ihre liebste Genossin, die Freiheit. Da begriff sie mit einem Male das neue Leben der Menschen, und erst leise, dann gewaltig drang ein wunderbares Lied über den Erdball. 29 30

Friedrich Naumann: Die Kunst im Zeitalter der Maschine. S. 195. Lu Märten: Die Poesie des Eisens. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 2. 101

Und die Romantik? Sie war nicht gestorben und verschwunden, wie die Menschen glaubten. Heimlich starrte sie mit großen Augen in die weiß- und rotglühenden Eisenmassen. Ein fremdes, wunderbares Reich voll Mystik und Schönheit sah sie entstehen. In die einsamen Felsen- und Waldwinkel sah sie die Menschen kommen, die sie begriffen. Wieder blühten die blauen Blumen, und von der wunderbaren Realität des Lebens um sie herum ergriffen, träumte und sang sie von noch schwindelnderen Möglichkeiten. Ahnungs- und verheißungsvoll erzählte sie von den schlummernden Kräften der erzenen Stoffe, auch sie liebte das Eisen mit seinem wechselnden Leben. Rußige Männer und Frauen ziehen durch die Felder. Sie suchen Arbeit und denken an ihre Kinder daheim und an die Zukunft. Da klingen lockende metallische Töne zu ihnen aus der Ferne. Im Takt der Schläge tönt ein Lied aus rauhen Kehlen, am nahen Bahndamm blitzen tausend Lichter auf, wie glückverheißende Sternschnuppen sprühen aus ragenden Essen die Funken zum nächtlichen Himmel, und die Menschen — sie bauen ihre Zukunft auf Eisen.

Lu Märtens Absicht, eine politische Programmatik >dichterisch< einzukleiden, läßt sich kaum überlesen. Gerade dabei kumulieren in diesem frühen Text Widersprüche, die hinsichtlich des Formenkonzepts in der späteren Ästhetik produktiv ausschlagen: die Insistenz auf dem Ende der Poesie durch die Industrialisierung, dabei die gleichzeitige Erwartung einer von eben dieser Industrialisierung herrührenden Poesie, konnotiert mit dem Begriff Freiheit; die Berufung auf die historische Romantik, die aber andererseits erst jetzt real zur Entfaltung kommen soll; deren Fundierung innerhalb einer Material-Technik-Relation des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, die linear auf die Entwicklungsperspektive der Zukunft übertragen wird, wobei in dieser Linearität Zukunft unausgesprochen mit Fortschritt gleichgesetzt ist. Damit läßt Lu Märtens Poesie des Eisens auch >philosophische< Selbständigkeit gegenüber Naumann erkennen. Verband dieser einen Aufschwung des Nationalbewußtseins, das aus der Stärkung der deutschen Industrie rühre, mit einem kulturellen Gewinn, der sich über den Arbeitsprozeß realisiere, so bindet Lu Märten demgegenüber die Stärkung des Selbstbewußtseins an die Möglichkeit der Poesie im technischen Alltagsleben. Anstelle des nationalen Produktionsstolzes treten bei ihr vage aufklärerisch-konventionelle, >utopische< Gesellschaftsvorstellungen von »Freiheit« und »Zukunft«. Das führt immerhin, trotz der neuromantischen Feuilleton-Metaphorik, an die Schwelle philosophischen Fragens. Dennoch leistet gerade solche >Poetisierung< auch einem Technik-Kult Vorschub, der sich über die Monumentalität mit destruktiven gesellschaftlichen Kräften arrangieren kann. Diese Tendenz ist Lu Märten ebensowenig wie Naumann anzulasten; sie setzte sich widersprüchlich durch: weil sich die Nationalsozialen und später auch der Deutsche Werkbund in der Nachfolge der nationalen Kunsterziehungsbewegung Julius Langbehns sahen, sich aber dennoch von dessen Resultat, der Heimatschutzbewegung, unterschieden wissen wollten. Die funktionalistische Technikauffassung wirkte historisch schließlich weniger verhängnisvoll als die deutschtümelnde Technikfeindschaft, die sich dann im nationalsozialistischen Monumentalstil durchsetzte. Naumanns Auffassung, wonach Entwicklung und Schönheit eines industriellen Sachstils möglich seien, zog die Einschätzung der Maschine als eines wertneutra102

len Hilfsmittels nach sich, und damit blieb die Berufung auf die englischen Reformer mit Sozialrevolutionären Produktionsvorstellungen, auf Ruskin und vor allen Dingen auf Morris, halbherzig und geriet zu einer Apologie des Großbetriebs. Heuss erklärte noch im Rückblick auf die Neugründung des Deutschen Werkbundes 1919: »Ruskin machte die Maschine und die sie vorantragende Grundgesinnung verantwortlich für den Formverfall. Aber die Maschine als solche ist wertund formneutral. [...] Die Maschine formt nicht, sie dient zur Formung. [ . . . ] Nur der ökonomische, nicht der technische Faktor macht daraus ein industrielles Unternehmen.« 3 1 Zu Anfang des Jahrhunderts konnte dies noch ein Argument gegen reaktionären Nationalismus sein. Entsprechend bemühte sich Naumann, seine Fürsprache für das Kunstgewerbe in einen internationalen Zusammenhang zu stellen. Hilfe und Zeit berichteten über die englischen Erfahrungen, vor allem aber auch über Bestrebungen einer Volkskunsterziehung in Frankreich, wo es eine Bewegung Art pour tous gab: Künstler und Kunstschriftsteller versuchten, Vorträge über Kunstgläser oder die neue Plakatkunst für Arbeiter zu organisieren; Führungen durch Museen und Staatsfabriken wurden veranstaltet; Kooperativläden »zur Verbreitung billiger Meisterwerke im Volke« gegründet; Arbeitererholungsräume in den Pariser Vororten ausgestaltet. 32 Parallel dazu existierte eine Internationale Gesellschaft zur Hebung und Förderung der Volkskunst, die von Jean Lahor, einem Schriftsteller, gegründet war. Auch ihr ging es um angewandte Ästhetik, nicht um völkische Brauchtumspflege: »Sie [die Gesellschaft] will in erster Linie billige Möbel verbreiten, indem sie den Fabrikanten treffliche Modelle zustellt. [...] Man denkt hierbei nicht allein an eine Kunst für das Volk, sondern auch durch das Volk, d.h. eine wie in früheren Tagen vom Volke selbst geschaffene.« 33 Diese nicht-chauvinistische, an einem schematisch-utopischen Bild sozialharmonischen Handwerks des Mittelalters orientierte Vorstellung einer Kohärenz von »Volk« und »Kunst« zielte auf eine Produktionsästhetik ab. Der Akzent auf Ethik und Bildung Schloß jedoch deren Bindung an eine Sozialrevolutionäre Entwicklung aus. Andererseits hielt sich die SPD von der im Kunstgewerbe entstandenen Bewegung ganz zurück, und selbst einzelne vermittelnde Stimmen wie die des polnischen Journalisten Julian Marchlewski oder die Hermann Wendeis insistierten auf der Unvereinbarkeit der anvisierten Produktionskunst »mit den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise«. Wendel wies auf einen interessanten Punkt: Ruskin ließ sich als Maschinenstürmer hinstellen, die Rezeption von Morris jedoch blieb vage und eklektisch. »Der englische Sozialist William Morris, 31

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Theodor Heuss: Was ist Qualität? Zur Geschichte und zur Aufgabe des Deutschen Werkbundes. (Erweiterte Fassung einer am 10.2.1951 im Deutschen Werkbund gehaltenen Rede). Tübingen und Stuttgart 1951. S.25. Brunnemann: Künstlerische Erziehung des Volkes in Paris. In: Die Zeit. 1903, Nr. 28., S.59. Brunnemann: Kunsterzieherisches aus Frankreich. In: Die Zeit. 1903, Nr. 36, S.314. Zur Ambivalenz des Volksbegriffs um 1900 vgl. Kurt Lenk: Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin,Köln und Mainz 1971.

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auf dessen Schultern nach dem eigenen Eingeständnis unserer Kunstgewerbler die ganze kunstgewerbliche Bewegung unserer Tage ruht, sah schärfer und sah tiefer als die meisten seiner Nachahmer und Nachfolger, die in dem Schillerschen Wahne leben, durch Schönheit lasse sich zur Freiheit hindurchschreiten. Morris formulierte: >Löset die ökonomische Frage, und ihr habt die anderen Fragen alle gelöst. Sie ist der Zauberstab für alles übrige.Völkischen< endete. Vgl. Theodor Heuss: Vorspiele des Lebens. S.249. Lu Märten: Die künstlerischen Momente der Arbeit. S.804. Lu Märten: Sozialismus und Künstler. In: Die Freiheit. Berlin. 1918, Nr. 21. Wiederabgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S.34—38. Lu Märten, ebd.. In einem Organ der entsprechenden Richtung publizierte Lu Märten 1914 einen Auszug aus ihrem Buch Die wirtschaftliche Lage der Künstler. Lu Märten: Arbeiterbewegung und Kunst. In: Der Staatsbürger. Hg. von Kurt A. Gerlach in Verbindung mit Hanns Dorn. 5. Jg., 1914, Nr.8, S.362-364.

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Allein von 1910 bis 1914 schrieb Lu Märten drei umfangreiche kunstsoziologische Arbeiten. Zwei von ihnen bezweckten eine verbandspolitische bzw. genossenschaftliche Organisierung bildender Künstler, nämlich die 1911 geschriebene und 1914 erschienene Schrift Die wirtschaftliche Lage der Künstler und die 1912 verfaßte, doch erst 1919 gedruckte Broschüre Die Künstlerin. Im Unterschied zum philanthropischen Gestus des Artikels aus der Zeit von 1903 richteten sich diese beiden Schriften an die Kunstproduzenten, um über die gesellschaftlichen Faktoren aufzuklären, welche die künstlerische Arbeit und die Lage des Künstlers bestimmen: über das Publikum, den Markt (Händler, Galerien, Ausstellungen), qualitative Arbeit und zufällige Bezahlung, die Bevorzugung industriell oder in Heimarbeit hergestellter Massenware durch den Massengeschmack. Die dritte, 1913 geschriebene und unveröffentlicht gebliebene Schrift Ästhetik und Arbeiterschaft versteht sich dagegen als eine an die Arbeiter gerichtete Aufklärungsschrift. Mit dem Untertitel Das Arbeitersein und seine Gestaltung versehen, dokumentiert sie weit besser als die beiden publizierten Arbeiten, wie Lu Märten ihre Einsichten und Erfahrungen der Kunsthandwerkbewegung in Form einer Arbeiterkunsterziehung, einer, wie es heißt, »sozialen Ästhetik«, im Rahmen der Sozialdemokratie vertreten wollte. In den Einleitungssätzen bekennt sich die Verfasserin zur »sozialistischen Weltund Kulturanschauung«, betont aber gleichzeitig, zum wissenschaftlichen Sozialismus müsse eine Kritik der ästhetischen Unmündigkeit, des fehlgelenkten Massengeschmacks gehören. So wolle sie hinter die die Arbeiterbildung leitende Beschäftigung mit »großer Kunst« zurückgehen und auf den »ersten Erziehungsfaktor«, 51 den Umgang mit den Dingen des alltäglichen Gebrauchs, zu sprechen kommen. Dort liege das Gegebene in den »heute von der Industrie angebotenen ästhetischen Dingen und Formen«. 52 Der Begriff der Form wird hier und im weiteren für einen zweck- und materialgemäß durchgebildeten Gebrauchsgegenstand verwandt. Die ästhetische Qualität erläutert Lu Märten dabei als eine Funktion der für das Produkt aufgewandten Arbeitszeit. In den Zeitaltern der handwerklichen Produktionsweise sei das Arbeitsquantum direkter Bestandteil der Qualität gewesen; die lange Zeit zur Herstellung habe Zeit zur künstlerischen Formgebung gelassen. »Mehr oder weniger« seien die Handwerker Künstler gewesen und hätten »mit den Gebrauchsdingen ein Stück Ästhetik zu denken« gehabt. 53 Ein Zusammenklang von Gefühl, Intellekt und technisch-manueller Geschicklichkeit habe im Produkt als Übereinstimmung von Material, Form und Stil das handwerkliche Herstellungsverfahren ästhetisch ausgewiesen. Anders sehe dagegen die Herstellung und das Ergebnis bei der industriellen Massenproduktion aus. »Diese Seite der uns allen bekannten Entwicklung geht 51

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Lu Märten: Ästhetik und Arbeiterschaft. Das Arbeitersein und seine Gestaltung. Typoskript, 78 S. Geschrieben 1913, abgeschlossen 1914. Die zitierte Stelle findet sich S.5. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 1. Lu Märten, ebd., S.3. Lu Märten, ebd., S . l l .

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uns ästhetisch hier an.« 54 Seit der »Revolution im Produktionsprozeß« 55 richte sich die Arbeitszeit für ein Produkt nach der Ausstoßkapazität der Maschine. Unter dem Verwertungsgesichtspunkt des Kapitals brauche die Maschine vom Faktor Mensch dabei »lediglich den Arbeitstag aushaltende Nervenwesen«. 56 So entstehe jener »traurige Abhub, den heute die Arbeiter unter dem Zwang der kapitalistischen Produktion herstellen müssen und zum andern auch für ihre ästhetischen Lebensbedürfnisse angeboten erhalten«. 57 Das Rationalitätsdiktat der Maschine strecke das Material, oder eines hohen Gewinnes wegen werde »kostbares« Material gebraucht, das zum Fabrikat nicht passe. Durch die Quantifizierung der Zeit und die Entwertung des Materials entstünden Schreckenserzeugnisse in Form und Stil. In dieser Pseudokultur für die breite Masse macht Lu Märten die »Diktatur des Kapitals« aus. 58 Dem Konsumenten, der sich mit Industrieprodukten umgebe, gehe bald jeglicher Vergleichsmaßstab für die Schönheit von Gebrauchsdingen verloren. Die Zurückweisung des geschmacklosen industriellen Massenprodukts, die auch in Naumanns Exportideologie tragendes Motiv war, ist in dieser Fassung von Lu Märiens »sozialer Ästhetik« aus dem ursprünglichen Bezugsrahmen herausgelöst; die Forderungen sind nun im Rahmen der Klassenauseinandersetzungen situiert und werden nicht mehr in ein sozialharmonisches Konzept verwoben. Dennoch ist diese Ästhetik der Gebrauchsdinge unter ihren praktischen Aspekten und Verbesserungsvorschlägen, also in den Fragen der Arbeiterkunsterziehung, genuin vom Reformdenken geprägt. Der Arbeiter soll ein ästhetisch selbstbewußter Konsument werden, indem er von seinem Arbeitsverständnis aus die Gebrauchsdinge unter dem Gesichtspunkt ihrer zweckmäßigen Herstellung zu beurteilen lernt. Lu Märiens Argumentation beruht dabei auf dem Handwerksideal und den Resultaten des Werkbunds und der Kunsthandwerkbewegung. Sie liefert den Beweis, daß das Diktat der Industrie in Fragen der Phantasie zu brechen möglich ist und daß trotz des handwerklichen Beurteilungsmaßstabs eine Rückkehr zur bloß handwerklichen Produktion nicht die gebotene Alternative ist. Dabei erhalten die maschinellen Produktionsmittel für die ästhetische Geschmacksbildung einen dem alten Handwerksmittel analogen Stellenwert. »Boykottieren wir den gesamten unkünstlerischen und lügnerischen Firnis [...], so kann uns die Qualität und Art der Grundform allmählich nicht mehr verborgen werden, und wir erziehen uns nicht nur Geschmack an der Schönheit solcher reinen Form, sondern auch Kennerschaft und Phantasie für ihre eventuelle neue Möglichkeit in der maschinellen Produktionstechnik.« Die Maschine selbst, »ihre Schönheit ist die Schönheit der Konstruktion«, 59 sei ein erstes Vorbild für das 54 55 56 57 58 59

Lu Lu Lu Lu Lu Lu

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Märten, Märten, Märten, Märten, Märten, Märten,

ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. 17. S. 10. S. 14. S. 13. S. 10. S.23.

ästhetische Grundgesetz: »zweckmäßige Ehrlichkeit des Materials, Güte und Präzision der Arbeit«. 60 Die Vorbildlichkeit des Werkzeugs und der Maschine für die ästhetische Qualität des Produkts, die gleichzeitig die Leitlinie für den Gebrauchs- wie Erkenntniswert aufstellt, bildet eine entscheidende Grundfigur in Lu Märtens ausgearbeiteter Soziologie der Künste Wesen und Veränderung der Formen!Künste (1924). Man darf hierin die Verabschiedung des ideal-ethischen Persönlichkeitsbildes Naumanns und seiner psychologischen Komponente erblicken, zu jener Arbeiterpersönlichkeit über die Identifikation mit der monumentalen Seite der Technik zu werden. Damit findet Lu Märten zu einer kunsterzieherischen Vorstellung, die vom Jugendstil noch die Topoi der »Einheit von Kunst und Leben«, des »schönen Lebens« oder des »Lebens in Schönheit« enthält, die aber hinter dessen zum Teil völkisch, bündisch, elitär oder sozialrestaurativ ausschlagende Ideale, die Kunst »zu verwirklichen«, zurückgeht und dabei zu ebender klaren kunsttechnischen und sozialkritischen Argumentation kommt, die Gottfried Semper und William Morris zu den Inspirationsquellen des modernen Gestaltens machte. Eine wohl erste Lektüre Sempers läßt der Artikel Von der Mietskaserne (1911) erkennen. Hatte Semper gegen den Historismus des Bauens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geltend gemacht, die Architektur, der »Chorage« unter den bildenden Künsten, müsse wegweisend für den künstlerischen Stil der Zivilisation werden, statt mit durchsichtigem Ölpapier Kopien der Bauformen aller Zeiten anzufertigen (»Nur einen Herrn kennt die Kunst, das Bedürfnis«), 61 so wandte Lu Märten gegen das Formenplagiat im Mietskasernenbau der Jahrhundertwende ein: »Unsere Bedürfnisse sind von denen einer fernen Zeit so verschiedene und neue, daß sie nach neuen Ausdrucksformen verlangen. [...] Die Losung für den neuen Häuserbau muß deshalb heißen: Nicht Antike oder Mittelalter, sondern modern bis in den letzten Winkel, aber auch so schön und so gut wie möglich bis dahin.« 62 Dieser Artikel ist auch einer der ersten, der eine neue sprachliche Form und einen neuen Aufbau erkennen läßt: die der zielgerichteten Ansprache, die statt philanthropischer Herablassung und Belehrung im Respekt vor den Erfahrungen des industriell Arbeitenden die sachliche Mitteilung in Form eines offenen Briefes wählt. Vorbilder hierfür finden sich in Ruskins Fors Clavigera (»Letters to the workmen and labourers of Great Britain«) und den zahlreichen an die Arbeiterpresse adressierten Briefen über Kunst von William Morris. 63 Diese Form des 60 61

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Lu Märten, ebd., S.23. Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen. (1834) In: Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst. Und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht. Hg. von Hans M. Wingler. Neue Bauhausbücher. (Reprint) Mainz und Berlin 1966. S. 16. Lu Märten: Von der Mietskaserne. In: Der Demokrat. 1911, Nr. 6. Zit. nach Lu Märten: Formen für den Alltag. S.33. In: William Morris: Selected Writings and Designs. Edited by Asa Briggs. Harmondsworth, Middlesex 41977. Darin insbes.: Art and Society. Letter to the Manchester Examiner, 14 March 1883, S. 139 f.; The Worker's Share of Art. From an Article in Commonweal, April 1885, S. 140f.; Art and Future: »The Deeper Meaning of the Struggle«. Letter to the Daily Chronicle, 10 November 1893, S. 143f. ; »ATheory of Life«. From Four Letters on Socialism, 1894 privately printed, S. 151 f..

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öffentlichen Briefes ist eine Abwandlung der Vortragsform im Rahmen der Arbeiterbildung. Bei Lu Märten findet sie sich bis in die unmittelbaren Vorarbeiten zur Kunstsoziologie von 1924 hinein. Briefe über Kunst hieß die Folge in der JugendInternationale, welche die Thematik des Buches absteckte. 64 Der Formbegriff in Ästhetik und Arbeiterschaft führt direkt auf Gottfried Semper zurück. In seinen Vorschlägen zur Anregung eines nationalen Kunstgefühls, welche die Erfahrungen und Beobachtungen während der ersten Weltausstellung in London resümieren, stellte Semper die Traditionslosigkeit industriell-technischer Kunsterzeugnisse heraus; in einem »Überfluß an Mitteln« seien sie aus »Mangel an Vermögen [...], ohne daß durch vielhundertj ährigen Volksgebrauch ein Stil sich entwickeln konnte«, 65 entstanden. Seine Überlegungen zum »gültigen Stil« nehmen den Ausgangspunkt von der »Entwertung der Materie durch ihre Behandlung mit der Maschine«.66 Doch nicht allein die Maschine, auch die Universalität des Marktes ließe das, was Stil ausmache, verschleifen: die örtlichen, zeitlichen und persönlichen Einflüsse auf die Gestaltung eines Produktes. So müsse sich ein für die Zivilisation »gültiger Stil« zu dem bekennen, was er zerstöre, und somit wieder zu den einfachsten Formen zurückkehren. Sie bestimmten sich nach dem Material und dem Gebrauchszweck. Diesen Grundsatz formulierte er nachdrücklich anläßlich eines Lobes der Bedürfnisorientiertheit der englischen Architektur: »Es spreche das Material für sich und trete auf, un verhüllt, in der Gestalt, in den Verhältnissen, die als die zweckmäßigsten für dasselbe durch Erfahrungen und Wissenschaften erprobt sind. Backstein erscheine als Backstein, Holz als Holz, Eisen als Eisen, ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik. Dies ist die wahre Einfachheit, auf der man sich dann mit aller Liebe der unschuldigen Stickerei des Zierrats hingeben darf.« 67

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Lu Märten: Briefe über Kunst. I-IV. In: Die Jugend-Internationale. Berlin. 1921, Nr. 6, S. 142-148; Nr.7, S. 162-171; Nr. 10, S. 260-266; Nr. 11, S. 295-300. Die Form des Briefes findet sich deutlich ausgeprägt im Artikel Kultur und Kunst im Arbeiteralltag von ca. 1919; abgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S.38—43. Im Artikel Proletkult wählte Lu Märten eher die Vortragsform. Zuerst in: Die Freiheit. 1919, Nr.443. Wiederabgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S.43—45. Die Form egalitärer, aber belehrender Verständigung zwischen Autor und Leser in den Fragen der Ästhetik geht auf das Zeitalter der Aufklärung, den Prozeß bürgerlichen Mündigwerdens, zurück. Erinnert sei an Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, an den Prinzen von Holstein-Augustenburg. Gottfried Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls. (1851) In: Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst. S.33. Welche Ausgabe der Schriften Sempers Lu Märten benutzte, läßt sich nicht klären. Verweise oder gar Fußnoten sind in sämtlichen Texten äußerst rar. Ein Verweis auf Semper findet sich in Die wirtschaftliche Lage der Künstler auf S. 117. Gottfried Semper, ebd., S.37. Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen. S. 17. Damit ist der für die Moderne bedeutende Grundsatz von der Einfachheit der Form ausgesprochen. »Was wir den Völkern nichteuropäischer Bildung absehen müssen, ist die Kunst des Treffens jener einfachen, verständlichen Melodien in Formen und Farbtönen, die der Instinkt den Menschenwerken in ihren einfachsten Gestaltungen zuteilt, die aber mit reicheren Mitteln immer schwerer zu erfassen und festzuhalten sind. Wir müssen daher jene einfachsten Werke der Menschenhand und die

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Daß sich die Schönheit eines Gegenstandes nach dem Material, dessen Gesetz und den zweckmäßigen Gebrauchsmöglichkeiten bestimmt, formuliert Lu Märten als Grundgesetz der »sozialen Ästhetik«: »Um diesen Prozeß an jedem Gerät richtig zu erkennen, halte man sich immer vor Augen, wie aus der Hand des Handwerkers früher ein Gerät entstand, beispielsweise: ein Stuhl. Zunächst ist der Zweck, die Haltbarkeit und Solidität des Stuhls ins Auge gefaßt. Dies erfüllt, ist der Stuhl schon durchaus ein befriedigender Gegenstand. Soll er aber danach noch sonderlich geschmückt [...] sein, so geht auch diese Arbeit vom Material aus, d.h. das Material setzt logisch dieser Arbeitsbehandlung Grenzen.« 68 »Eine absonderlich verschnörkelte Tasse, die man weder ohne Gefahr reinigen noch richtig beim Henkel fassen kann, ist trotz ihres ev. schönen Materials und [ihrer] Bemalung nicht schön. Bei diesen Dingen zum Gebrauch entscheidet nicht nur das Grundmaterial, sondern auch die zweckmäßige Form.« 69 Diesem Gesetz zufolge liegt es auf der Hand, daß das Werkzeug eine die ästhetische Qualität konstituierende Rolle spielt. Als Kerngedanke wird das Grundgesetz der »sozialen Ästhetik« in Lu Märtens ausgearbeiteter Soziologie der Künste und in den vorbereitenden Aufsätzen immer wiederkehren. Gottfried Semper hatte die Lehre von den Stilerfordernissen als Ausbildungsstoff in den Akademien gefordert und hinzugefügt, an diese Lehre schließe sich gleichsam von selbst die gesamte Technologie an. 70 Lu Märten ihrerseits erblickte darin die Möglichkeiten einer kunsterzieherischen Praxis in großem Maßstab. Auch diese Motivation als Abwandlung der Semperschen Thesen bestimmte später tragend die dann historisch-materialistisch genannte Ästhetik: »Wo sie [die an der Kunst interessierten Arbeiter, C.K.] sich mit der Erscheinung einer Kunst auseinanderzusetzen haben, kann das Verständnis für die Gesetze und das Wesen einsetzen, im Sinne einer Erklärung, die [...] nicht eine Norm [...] sein soll, sondern in sozialer, objektiver Hinsicht: ästhetische, historische, technische Erklärungen.« 71 In Ästhetik und Arbeiterschaft ist der erste Schritt zur Geschmacksbildung und der Formenbeurteilung beim Gebrauch der lebensnotwendigen Dinge in eine Art praktischen Leitfaden übersetzt. Das Material-Zweck-Gesetz soll die Handhabe bieten, eine den gegebenen Wohnverhältnissen der Arbeiter das Maximum an Freundlichkeit abgewinnende Gestaltung vorzuschlagen. Es richtet sich damit gegen das Industriediktat, das dem Arbeiter mit den Plagiatformen den Abhub bürgerlichen Reichtums als das Begehrenswerte erscheinen läßt. Wenn die Mietskaserne noch das Gegebene ist, so solle darüber nicht das größere Ziel aus dem Auge verloren werden: Zur Alltagsästhetik gehöre die Erfahrung der Natur, des

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Geschichte ihrer Weiterbildung mit gleicher Aufmerksamkeit wie die Natur selbst in ihren Erscheinungen beobachten.« Gottfried Semper: Wissenschaft, Industrie, und Kunst. S.41. Lu Märten: Ästhetik und Arbeiterschaft. S. 19. Lu Märten, ebd., S.28. Gottfried Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst. S.65. Lu Märten: Die wirtschaftliche Lage der Künstler. München 1914. S. 145.

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Wechsels der Tages- und Jahreszeiten mit ihren Lichtverhältnissen. In dieser Argumentation Lu Märtens läßt sich das Vorbild der Gartenstadt Ebenezar Howards, der Arbeitersiedlungen des Werkbunds am Rande der Großstädte, auch das eigene frühe Engagement in der Bodenreformbewegung, schließlich William Morris' Forderung nach schöner Wohnumgebung und Gärten für alle wiedererkennen. »Diesen wichtigsten elementarsten Genuß und darum Anspruch kann nichts ersetzen und nichts zum Schweigen bringen.« 72 Es ist wichtig, diese implizite Kritik an der urbanistischen Naturbeherrschung auf der Rückseite von Lu Märtens Forderung nach dem »ehrlichen Fabrikstil«73 zu entdecken. Denn er und der ZweckForm-Grundsatz verleiten sonst dazu, der Autorin ein unkompliziertes Fortschrittsdenken zu unterstellen. Einige der praktischen Ratschläge lauten: Sauberkeit und Hygiene sind die Voraussetzung jeder Ästhetik; die kleinen Räume der Mietshäuser sollen möglichst hell sein; deswegen verbieten sich große, teure Möbel, bedruckte Tapeten 74 und Tüllgardinen; 75 man verzichte auf trumeaux und riesenhafte Bettstellen; 76 statt eine »gute Stube« einzurichten, sollten die Wohn- und Schlafgelegenheiten richtig aufgeteilt werden. Derart ergebe sich der Begriff »Innengestaltung« von selbst auf der Basis lichter Wohnverhältnisse. Was den Gebrauch von Kunstwerken angehe, so sollten diese niemals in Möbelgeschäften gekauft werden. Hier wie beim Möbeleinkauf laufen Lu Märtens praktische Ratschläge auf ein Genossenschaftsmodell hinaus, das auf dem persönlichen Kontakt des Arbeiters als Konsumenten mit dem Künstler bzw. Handwerker als Produzenten basiert. Neben der Verwendung von Kopien, Gipsabdrücken von Plastiken, welche die Museen gegen geringes Entgelt anfertigten, schlägt sie für den Kauf eines Bildes vor, in die Künstlerwerkstatt zu gehen. Ein Möbel könne auf Bestellung von einem kleinen Handwerker angefertigt werden. Dahinter steht der Gedanke, der Industriearbeiter bilde im Gebrauch der Dinge ein selbstbestimmtes Bedürfnis heraus, und er rege seinerseits den Künstler bzw. Handwerker dazu an, von seinen Gebrauchszwecken zu lernen. Denn »erst der Kontakt zwischen Genießendem und Genußobjekt entscheidet in uns über das Begehren [...]. Dieser Kontakt kann aus einer Verstandesanschauung, aus Freude an eminenter Nützlichkeit, wie auch aus Empfindungswerten und aus Freude an der sinnlichen Schönheit [...] kommen.« 77 Lu Märten selbst engagierte sich im weiteren in Zusammenschlüssen bildender Künstler, die der Sozialdemokratie nahestanden und von ihrer Seite aus deren Arbeiterbildungskonzeption ergänzen wollten. Daß sie ihren Entwurf einer »sozialen Ästhetik« auch als eine interne Kritik an den literarischen Bildungsvorstellungen der Sozialdemokratie verstand, die sich »historisch-materialistisch« als Erbe 72 73 74 75 76 77

Lu Lu Lu Lu Lu Lu

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Märten: Märten, Märten, Märten, Märten, Märten,

Ästhetik und Arbeiterschaft. S.6. ebd., S.18. ebd., S.48. ebd., S.55. ebd., S.35. ebd., S.27.

der Klassik rechtfertigten, 7 8 läßt sich mehrfach belegen. So wird die »soziale Ästhetik« gleich einleitend als eine Ergänzung innerhalb der »Wissenschaft des Sozialismus« in Hinblick auf die ästhetische Produktivität angekündigt: 7 9 Und wie diese [ . . . ] Wissenschaft [ . . . ] des Sozialismus [ . . . ] eine Produktionstendenz bekämpfen muß, die die Menschen notwendig krank, häßlich, verbrecherisch, unwürdig und unwissend macht, so muß sie gleicherweise eine Ästhetik, d.h. eine Anschauung und Darbietung ästhetischer Dinge und des Genusses bekämpfen, [ . . . ] die den Geschmack des Menschen, sein persönliches bildendes Denken [ . . . ] auf einer bestimmten Stufe festhält, ihn nicht zur Entwicklung kommen läßt. Auch solle die Gebrauchsästhetik, »die ebenso die Möglichkeit reicherer und glänzenderer Entwicklung in sich t r ä g t « , 8 0 in bewußter Abgrenzung zu dem erziehen, was bürgerlich »standesgemäß« heiße. Denn die sozialistische Bildungsarbeit habe bisher eine Stufe übersprungen: das E r b e des Elends aus der Industrialisierungsphase, das im niedrigen ästhetischen Bewußtsein der Arbeiterklasse fortlebe. Ausdrücklich fordert L u M ä r t e n dazu auf, in der sozialistischen Bildungsarbeit »die qualitative Unterkonsumtion der großen Massen als einen Faktor in Rechnung« zu stellen: 8 1 » E s handelt sich in allem K a m p f [ . . . ] um geistige und ästhetische Güter nicht darum, das Niveau und den Besitz des Bürgers zu erreichen [ . . . ] . « 8 2 Weiter gesteht ein Artikel von 1918 die Erfolglosigkeit des bisherigen Marxismus ein, weil er »keine Tatsachenlebendigkeit in den Massen und bei den politischen Führern erfahren h a t « . 8 3 In diesem Z u s a m m e n h a n g heißt es dann: »Wichtiger als die A r b e i t e r in die Literatur oder ins T h e a t e r zu organisieren, ist zum Beispiel: aus ihrer relativen Verzichtsnotwendigkeit einen positiven lebendigen Anteil zu schaffen.« 8 4 Ü b e r den Grundsatz »sogenannter Bildungsarbeit-Organisationen« wird dabei festgestellt, er sei wohl im Sinne von Karl M a r x gewesen, aber: » U n t e r welchem Geiste, unter welcher Genialität? Des proletarisch-sozialistischen 78

Wie Dietger Pforte zeigt, ging es in erster Linie darum, das Lesebedürfnis der Arbeiter von der Trivialliteratur abzulenken, und so »den proletarischen Rezipienten einerseits gegen Herrschaftsideologie zu feien und andererseits für die sozialistische Ideologie aufnahmebereit zu machen.« Dietger Pforte: Von unten auf. Studie zur literarischen Bildungsarbeit der frühen deutschen Sozialdemokratie und zum Verhältnis von Literatur und Arbeiterklasse. Glessen 1979. S. 124. - Dieter Langewiesche beleuchtet die Praxis der Bildungsausschüsse und — kommissionen der SPD und der Gewerkschaften nach 1900. Er kommt zu dem Resultat, daß sie die Funktion übernahmen, die Mängel der Schulausbildung zu kompensieren und für den Beruf qualifiziert auszubilden. Die Förderung des klassischen Literatur- und Theaterkanons dagegen kollidierte meistens mit dem Angebot der Stadttheater, das aus einem Repertoire an Luststücken bestand. Dieter Langewiesche: Die Gewerkschaften und die kulturellen Bemühungen der Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich (1890er bis 1920er Jahre). In: IWK. 18. Jg., 1982, Heft 1, S . 9 .

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Lu Märten: Ästhetik und Arbeiterschaft. S. 1/2. Lu Märten, ebd., S.36. Lu Märten, ebd., S.69. Lu Märten, ebd., S.70. Lu Märten: Der Mensch in der Mitte. In: Bergische Arbeiterzeitung. 1918, Nr. 34 (9.2.1918). Lu Märten, ebd..

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oder des bürgerlichen? Ich behaupte: unter keiner bewußten Idee überhaupt und unbewußt nach bürgerlichem Muster. Subalterne Gebilde. Vorträge über plötzlich irgendetwas aus dem Chaos.» 85 Auch in dieser Kritik deutet sich die praktische Dimension der späteren Kunstsoziologie an: von der Erfahrungsbasis in Kunst und Produktion ausgehend kunsterzieherisch zu wirken; die Theoriebildung solle ein kollektiver Vorgang werden. 8 6 Ästhetik und Arbeiterschaft behandelt eine den beiden veröffentlichten Studien, Die Künstlerin und Die wirtschaftliche Lage der Künstler komplementäre Thematik: eine Lehre vom Material für den Kunstgebrauch. Die beiden veröffentlichten Arbeiten untersuchen den künstlerischen Arbeitsprozeß samt seiner Zeitstruktur und den Einfluß der Gesetze des Kunstmarktes auf beide. Nach Lu Märiens eigener Angabe basiert die letzte Arbeit auf der vielbeachteten Studie von Paul Drey Die wirtschaftlichen Grundlagen der Malkunst}1 Diese Fragestellung lag seit 1900 sozusagen in der Luft. Die Zahl der Künstler hatte sich vervielfacht. Die Ausbreitung der Wohnkultur schuf einen Bedarf in den angewandten Künsten. Die Gründung ökonomischer Schutzverbände für Schriftsteller und Künstler fällt in diese Zeit: 1909 des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller, 1909 des Leipziger Hardtbunds, 1913 des Berliner Verbands bildender Künstler. Der Reiz der Wirtschaflichen Lage liegt, wie in Ästhetik und Arbeiterschaft, in der waghalsigen Deduktion konkretester Tagesforderungen aus allgemeinen treffenden kulturkritischen Einsichten. Durch Bewußtwerdung der allen gemeinsamen Lage sollen sich die Künstler als Klasse begreifen. Dieses Endergebnis der Untersuchungen stieß in der zeitgenössischen Aufnahme des Buchs auf eine in manchen Fällen unfreiwillig groteske Abwehr. 88 Mit dieser Aufforderung hatte Lu Märten zweierlei bezweckt: Selbstorganistion der Künstler für einzelne Schutzmaßnahmen — Rechtsschutz, Krankenversicherung, Reproduktionsschutz auf der Basis eines ausgearbeiteten Verlagsrechts, Organisierung gemeinsamen Materialeinkaufs usw. — als einen ersten Schritt zur »Organisation« der Kunstproduktion und des Kunstgebrauchs, also zu einem Gegenmodell zum Markt mit seinem die 85 86

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Lu Märten, ebd.. Lu Märten: Die revolutionäre Presse und das Feuilleton. In: Der Gegner. 2. Jg., 1921, Nr. 6, S. 186-192. Dieses Buch legte Lu Märten, neben folgenden anderen, ihren Amsterdamer Nachlaßpapieren bei. Erwähnt sind an dieser Stelle nur Titel, die in direkt thematischem Bezug zur Wirtschaftlichen Lage der Künstler stehen: Dr.jur. Drathen: Der Rechtsschutz des bildenden Künstlers. Leipzig 1908. Portefeuille 28; Dr. Else Meißner: Das Verhältnis des Künstlers zum Arbeitnehmer im Bau- und Kunstgewerbe. München und Leipzig 1915. Portefeuille 28; W. Fred: Literatur als Ware. Berlin 1911. Portefeuille 26. Das Buch von Paul Drey findet sich in Portefeuille 25. Hugo Kersten schrieb: »Lu Märten propagiert die Organisation der Künstler. Kunst aber ist nicht das Produkt der Tätigkeit irgendeiner Gesellschaftsklasse. Sondern Kunst ist ein Elementarereignis. [ . . . ] Und dann: Wer ist das, die Künstler? Ich müßte es ablehnen, von der Mehrzahl dieser produzierenden Esel irgendeine Beziehung zu mir herzustellen. Und sei es auch nur zu dem Zwecke, mein tägliches Mittagessen zu haben.« H. Kersten: Literarische Neuerscheinungen. Lu Märten. In: Die Aktion. 1914, Nr. 19, Sp. 419/420.

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Mode und den großen Namen bevorzugenden anarchischen Rotationsprinzip; und die Aufforderung an die Sozialdemokratie, sich zum Schutzpatron der Künstler zu machen, indem sie die qualitativen Momente der künstlerischen Arbeit, »ihre geheime Zweckmäßigkeit, ihre soziale Nützlichkeit«, 89 anerkenne und die künftige Neuorganisation von Produktion und Konsumtion »vernünftig« staatlich zu regeln verspreche: Man habe bislang die Lage der Künstler mit Marx bestimmt, aber ein Ende der Vergewaltigung der »schöpferischen Arbeit« immer nur im Gefolge des Lohnarbeiterkampfs erwartet. Nun glaubten die Künstler, sie sollten in Zukunft den Zeitzwängen der Lohnarbeit unterworfen werden. Statt dessen müsse die Arbeiterpartei in Zukunft die künstlerische Arbeit gerecht beurteilen und ihre Haltung zu ihr formulieren. 9 0 Der argumentative Kern des Buches liegt im Theoretischen und ist auf den Topos der »geheimen sozialen Zweckmäßigkeit« gebracht. Lu Märten begründet sie mit dem Aufweis der Zeitstruktur der künstlerischen Arbeit und benutzt wie in Ästhetik und Arbeiterschaft die Gegenüberstellung von »Handwerk« und »Mechanismus«, d.h. dem gewerblichen, der Maschine nachgebildeten industriellen Zeitrhythmus, »diesem rücksichtslosen Reglement einer auf Zeit und Muße nicht bedachten Gesellschaftsmacht«. 91 Er führe zur Ausgliederung der Kunstarbeit aus der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, zur Isolation der Kunst und zum Außenseitertum der Künstler: »Der Künstler ist in gewisser Hinsicht der Ewigkeitsrepräsentant der individuellen, auf ein zunächst nur selbstbewußtes Bedürfnis gegründeten Arbeit.« 9 2 »Aus dieser unheilvollen Zerrung zwischen gesellschaftlicher Teilarbeit, die den Menschen psychologisch grundlegend verändert hat, und der individuellen Arbeit, die notwendig das Gleichgewicht in der gesamten Kulturarbeit repräsentiert und berufen ist, in letzter Linie alle Erscheinungen des Lebens überhaupt verständlich zu machen — verschlimmert sich die äußere physische Lage des Künstlers, ergeben sich seine spezifischen Nöte.« 9 3 Wenn Lu Märten im folgenden das Außenseitertum und die »Individualität« des Künstlers mit dem »isolierten« Charakter des Kunstwerks, seiner »Unverständlichkeit« für das große Publikum und seiner Nichtassimilierbarkeit an den Markt erklärt, so führt sie damit den Gedanken ein, den Bloch und Adorno später aus jeweils anderen Traditionszusammenhängen nehmen: das »isolierte« Kunstwerk antizipiere ein gesellschaftlich Zukünftiges; was heute als »höchste Subjektivität und Verrücktheit« verurteilt werde, auf dessen »soziale Reagenz« werde vielleicht schon bald Anspruch erhoben. Man denke an die Werke eines van Gogh, Hugo Wolf oder Rodin. Die »zeitgeschichtliche Umwälzung« 94 werde sie erlösen, »sie stehen nun wie etwas vorzeitige Gäste in der [...] Gesellschaft«. 95 »Es ist eine 89 90 91 92 93 94 95

Lu Lu Lu Lu Lu Lu Lu

Märten: Märten, Märten, Märten, Märten, Märten, Märten,

Die wirtschaftliche Lage der Künstler, S.20. ebd., S. 141. ebd., S.49. ebd., S.21. ebd., S. 19. ebd., S.65. ebd., S.65.

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geschichtliche Erscheinung, daß die Zeitalter politischer und sozialer Schwäche, in der die Neugestaltung einer kommenden Lebensform noch unklar, gefesselt im Netz der Traditionen [...] liegt, daß hier die Kunst sich in eine wirklichkeitsfremde, subjektive ideale Sphäre flüchtet, in das Reich ästhetischen Glanzes [...]. Dem heimlichen Kampfcharakter solcher Zeiten entspricht der Traumcharakter einer Kunst [.. .].«96 Er bestehe, so Lu Märten weiter, substantiell aus der nichtquantifizierbaren Arbeit, die eine für jede Gesellschaftsbildung unverzichtbare Funktion besitze. Mit seinem Werk liefere der Künstler etwas, ohne eine Gegenleistung erhalten zu können: ein Geschenk an alle. 97 »Diese ihre geheime Zweckmäßigkeit, ihre soziale Nützlichkeit hat sie [die Kunst] zu Bewußtsein zu bringen Wenn Walter Benjamin 1935 über das »Wesen des Jugendstils« schreibt: »Er stellt den letzten Ausfallversuch der in ihrem elfenbeinernen Turm von der Technik belagerten Kunst dar«, 99 so gilt von der erkenntnistheoretischen Dimension in Lu Märtens Entwurf, Arbeit, Kunst und Gesellschaftsorganisation als Einheit vorzustellen: Dieser Entwurf ist dem Wesen des Jugendstils vollständig verhaftet, aber er gelang, weil er aus der Perspektive der Belagerer geschrieben wurde. Und dies war in der deutschen Entwicklung nur über eine engagierte Parteinahme für den aus dem Jugendstil hervorgegangenen Sachstil möglich. Hinweise in diesem Kapitel auf die zum Hauptwerk Lu Märtens hinführenden Aspekte ihrer Ästhetik galten vor allen Dingen der Art und Weise, wie sie, ohne den Praxisbezug der Einsichten des Werkbundes aufzugeben, dessen sozialen Reformismus zu überwinden suchte. Nicht die Kontinuität eines Einflusses Naumanns sollte dabei nahegelegt werden. Andererseits muß dieser Einfluß jedoch insofern unterstrichen werden, als er — und nicht eine marxistische Schulung im Rahmen der Vorkriegs-SPD — die in der nicht eben breiten Rezeption der Ästhetik Lu Märtens mit Recht durchweg als erstaunlich herausgestellte Tatsache erklärt, daß zu Anfang der zwanziger Jahre, noch bevor es eine »Kultur der Weimarer Republik« gab, sich bereits die Hauptthesen einer Ästhetik formuliert fanden, welche der kulturrevolutionären sowjetischen Produktionsästhetik von Boris Arvatov erstaunlich gleichen.100 Tatsächlich liegt eine interkulturelle historische Koinzi96 97 98 99

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Lu Märten, ebd., S.63. Lu Märten, ebd., S.27. Lu Märten, ebd., S.20. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1982. S.53. Den ersten Hinweis darauf dürfte Florian Vaßen gegeben haben, wobei er Lu Märtens Kenntnis der Texte Arvatovs mit Einschränkungen nahelegt: »Obwohl genaue biographische Unterlagen nicht vorliegen, sie kurz vor ihrem Tode sogar eine Beziehung nicht nur zum Proletkult, sondern auch zu Brecht und Benjamin ausdrücklich verneint hat, ist wegen der sichtbaren Parallelität zu vermuten, daß sie die in der >Kunst-Diskussion< der zwanziger Jahre durchaus bekannten deutschen Übersetzungen des Proletkults gekannt hat.« F. Vaßen: Lu Märtens ästhetische Theorie. In: alternative 89. S.91. Im Anschluß daran versetzt Johanna Rosenberg Lu Märtens Hauptthese in denselben Diskussionsrahmen, schränkt aber weiter ein: »Es liegt nahe, eine Beeinflussung Märtens durch die

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denz vor. Diese ergab sich nicht allein in der Folge der russischen Oktoberrevolution. Auch Arvatov ist von den Problemstellungen, welche die angewandten Künste aufgaben, und ihrer Dringlichkeit für die bzw. in der Arbeiterbewegung ausgegangen, von William Morris und van de Velde. 101 Wie Lu Märten fand er von der Synästhesie der Künste und den reinen Formen der Malerei seit der Jahrhundertwende zur Vorstellung einer in die industrielle Ökonomie integrierten Kunst. Auch er verwarf damit die nun einmal gegebene, durch Arbeitsteilung isolierte Kunst, »weil man das Leben nur aus gereinigtem Material gestalten kann, gereinigt von ihm fremden, seine realen Eigenschaften vergewaltigenden und verdunkelnden ästhetischen Hüllen. (Diese Arbeitsweise in der Malerei von Cézanne begonnen und vollendet von Tatlin.)« 102 Wenn Lu Märtens und Boris Arvatovs Produktionsästhetik historisch gleichzeitig auftraten, so fanden in dieser Koinzidenz Bildung und Erfahrung einer in der Jahrhundertwende geprägten Generation Ausdruck, der allgemeiner verbreitet gewesen wäre, hätte sich die Arbeiterbewegung, soweit sie revolutionär war, seiner rechtzeitig angenommen. Der weitere intellektuelle Arbeitsprozeß Lu Märtens bis zur Ausformulierung ihrer Formenkonzeption soll im folgenden in seinen wichtigsten Zügen aufgewiesen werden. Immer entschiedener wird sie gegen die Autonomie des Ästhetischen plädieren. Selbst den Begriff der Kunst weist Lu Märten schließlich in das Reservoir der Geschichte des Bürgertums und schlägt stattdessen vor, von Formen zu sprechen. Der Prozeß bis zu dieser Schlußfolgerung in Lu Märtens Thesen läßt sich anhand ihrer Texte nachvollziehen und mit eben den Kontexten markieren, in denen sie historisch stehen. Dabei ergeben sich die folgenden thematischen Schwerpunkte: Lu Märtens Aktivitäten für die Organisierung bildender Künstler während des Weltkriegs und in der unmittelbar darauf folgenden revolutionären Phase; die deutschen Debatten um einen »Proletkult« im Umkreis der linken und der an der KPD orientierten Schriftsteller zu Beginn der zwanzisowjetische >Produktionskunst< anzunehmen; jedoch war 1921, als Arvatov seine entsprechenden Aufsätze zu veröffentlichen begann, Märtens Konzeption in den Hauptzügen bereits entwickelt (und veröffentlicht); die entscheidenden Arbeiten Arvatovs, zum Beispiel Die Kunst im System der proletarischen Kultur und Kunst und Produktion in der Geschichte der Arbeiterbewegung sowie Kunst und Organisation der Umwelt erschienen erst 1926.« J. Rosenberg: Lu Märtens Entwurf einer historisch-materialistischen Theorie der Künste. In: Weimarer Beiträge. 1979, Heft 10. S.53. Arvatovs Texte erschienen 1926 zudem auf Russisch, genau wie seine früheren, mit Lu Märtens Konzeption wiederholt parallelisierten Aufsätze Wiederspiegeln, nachahmen oder gestalten (1922) und Utopie oder Wissenschaft (1924). Daß die deutschen Auseinandersetzungen um den »Proletkult« — an denen sich, wie erwähnt, Lu Märten selbst beteiligte — von einem pauschalen, ungenügenden Vorverständnis der russischen Kunstdiskussion ausgingen, heben Martin Rector und Walter Fähnders hervor. W. Fahnders, M. Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Bd. 1. Reinbek 1974. S.351. 101

102

Boris Arvatov: Kunst und Produktion in der Geschichte der Arbeiterbewegung. In: Kunst und Produktion. Hg. und übersetzt von Hans Günther und Karla Hielscher. München 1972. S.37ff.. Boris Arvatov: Theater als Produktion. Ebd., S.87.

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ger Jahre; schließlich aber auch kontingente biographische Anstöße für die Ausarbeitung der Ästhetik.

2.2. Künstlerorganisationen Zu der entscheidenden Debatte 1914 im Parlament über die Gründung des Reichswirtschaftsverbandes bildender Künstler, so notierte Lu Märten, sei ihr Buch Die wirtschaftliche Lage der Künstler im Sinn eines Fachgutachtens herangezogen worden. 1 Erbittert ist allerdings der Zusatz, dies sei ohne Verweis auf das Buch geschehen. Entsprechende resignierte Vermerke finden sich im Nachlaß zu ihren Texten, die sie zu programmatischen Zwecken für einzelne, sich nun eher politisch-organisatorisch verstehende Künstlergruppen im Zuge der »November«-Bewegung ausgearbeitet hatte: Lu Märten verstand ihre kunstsoziologischen und ästhetischen Thesen als immanenten Bestandteil der Organisierung der Kunstproduzenten; und diese Produktivität sah sie von etablierten politischen Kräften ignoriert, funktionalisiert, zweckentfremdet. In Die wirtschaftliche Lage der Künstler stellte Lu Märten weniger einzelne Mißstände der Ausbildung, des Ausstellungswesens, des An- und Verkaufs von Kunstwerken, der ökonomischen Unsicherheit einschließlich fehlender Krankenund Altersversicherung für Künstler heraus; vielmehr war es ihr darum zu tun, wenn sie gewerkschaftlich-systemimmanent lösbare Mißstände beschrieb, den Kunstproduzenten ein Bewußtsein der gesellschaftlich-geschichtlichen Einbindung ihrer Arbeiten zu vermitteln. Die wichtigste Grundlage einer Organisierung erblickte sie in der Selbstbewußtwerdung der Künstler, dann in ihrer Selbsthilfe und schließlich in ihren Forderungen an den Staat. Diese argumentative Verkettung stieß im Reichswirtschaftsverband, dem Lu Märten selbst angehörte, auf hartnäckigen Widerspruch. In einer Rezension im Fachblatt des Verbandes beharrte Georg Jahn an exponierter Stelle auf den »realistischen« Aufgaben der Künstlerorganisation gegen deren »Umwandlung in Klassenkampfkonstitutionen«; 2 eine Künstlerorganisation könne sich naturgemäß nur um den Ausbau des Urheberrechts, eine Lösung der Atelier- und Wohnungsfrage oder die Erlangung staatlicher Einzelprotektion bemühen. Lu Märten stellte in ihrer Antwort wiederum richtig, ihr sei es um die existentiellen Probleme der Künstler und der Kunstproduktion gegangen, und diese hätte sie in den Kontext der Gesetze der Gesellschaftsentwicklung gestellt. 3 Jahn veranlaßte diese Replik 1

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Angabe Lu Märtens, beigefügt dem Exemplar der Wirtschaftlichen Lage der Künstler im Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 16. Georg Jahn: Zur Erkenntnis der wirtschaftlichen Lage der Künstler (I). In: Der Deutsche Künstler. Offizielles Organ der Wirtschaftlichen Verbände der bildenden Künstler Deutschlands, des Verbandes Deutscher Illustratoren, des Deutschen Frauenkunstverbandes und des Vereins Württembergischer Kunstbildhauer. Leipzig. 1. Jg., 1915, Nr. 12, S. 109. Lu Märten: Zur Erkenntnis der wirtschaftlichen Lage der Künstler. Erwiderung. In: Der Deutsche Künstler. 1. Jg., 1915, Nr. 14, S. 11/12.

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zu einer längeren Gegenbemerkung, in der er Zweifel an den »allgemeinen, insbesondere ökonomischen Gesetzen« 4 äußerte und die Wissenschaftlichkeit des Buches überhaupt in Frage stellte. Damit war Lu Märtens öffentlicher Mitarbeit im Reichswirtschaftsverband ein Ende bereitet. Es ist nicht abwegig anzunehmen, daß Jahns Rezension den Positionen, die Lu Märten innerhalb des Verbandes vertrat, offiziell entgegenwirken sollte. Zuvor hatte sie im Organ des Verbandes den Artikel Was können wir tun? publiziert. Darin beharrte sie auf einem ökonomischen Interesse der Künstler in Kriegszeiten: dem Recht auf Honorierung jeder Leistung. Solche gewerkschaftliche Insistenz schlug als Kriegsgegnerschaft aus und unterschied sich merklich von Propagandaartikeln wie Die Kriegskunst und die Kunst im Kriege, worin der Krieg als »beste Schule des Lebens« den organisierten Künstlern empfohlen wurde. 5 Lu Märten hingegen stellte einen allgemeinen Marktverlust für die bildenden Künste fest, begleitet von einem ungeheuren Anwachsen sentimentalen Abfalls in Form von Bildern, Postkarten, Anhängern, Kriegsdevotionalien. Den wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz sollten die bildenden Künstler den gerade gegründeten Verband weiter stützen. Reproduktionen von Kunstarbeiten sollten, gemäß der Schutzfunktion des Verbandes, in keinem Fall ohne Honorar gestattet werden: 6 Für die Künstler aller Kategorien liegt in der gegenwärtigen Konstellation keinerlei Grund, irgendwelche Unternehmungen oder Publikationen zu erleichtern, die eben durch diese Konstellation Unternehmungen wurden und Vorteil ziehen. Auch die eventuelle unentgeltlich geforderte Hergabe von Kunstarbeiten für Lotterie- und Wohlfahrtszwecke ist in diesem Zusammenhang abzulehnen. [ . . . ] Vielleicht wäre es in Verfolgung dieser vitalen wirtschaftlichen Interessen für den Künstler nicht unwichtig, wenn jeder Fall einer Künstlermitarbeit, der sich durch eine selbstverständliche Lohnforderung des Künstlers zerschlägt, im Fachblatt namhaft gemacht würde.

Von einer Ausnahme abgesehen fielen in den weiteren Jahren des Ersten Weltkriegs für Lu Märten sämtliche Publikationsmöglichkeiten aus. Diese Ausnahme bildeten Die weißen Blätter, deren Herausgeber in jenen Jahren René Schickele war. Er gehörte zum weiteren Berliner Bekanntenkreis Lu Märtens. Bevor die Redaktion der Zeitschrift in die Schweiz verlegt werden mußte, erfuhr Lu Märten über Marguerite Wolf: »Schickele will Deine Manuskripte lesen und für Dich tun, was er kann.« 7 In den Weißen Blättern erschienen die vor dem Krieg verfaßten bzw. gedruckten Stücke Geburt der Mütter und Der Knabe Herbst. Sie waren nicht von jenem aktivistischen Pazifismus geprägt, den Schickeies Zeitschrift ansonsten vertrat. Insgesamt war Lu Märtens schriftstellerische Haltung während des Ersten Weltkriegs eher vom Rückzug, wenn nicht von Rückbesinnung auf sich selbst und das bisher Begonnene gekennzeichnet. Dies sollen im folgenden einige Angaben zu ihren persönlichen Verhältnissen verdeutlichen; sie machen ihr weiteres Enga4 5

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Georg Jahn: Gegenbemerkung. In: Der Deutsche Künstler. 1. Jg., 1915, Nr. 14, S. 12. Eduard Daehn: Die Kriegskunst und die Kunst im Kriege. In: Der Deutsche Künstler. 1. Jg., 1915, Nr. 10, S.92. Lu Märten: Was können wir tun? In: Der Deutsche Künstler. 1. Jg., 1915, Nr. 10, S. 91/92. Brief Marguerite Wolfs an Lu Märten vom Mai 1914. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10.

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gement nach den Novemberereignissen für die Organisierung bildender Künstler und für eine marxistische Ästhetik verständlich. Mit Kriegsausbruch heirateten Lu Märten und Wilhelm Repsold, »eine offizielle Heirat, da wir nur so Rechte über die beiderseitigen Arbeiten und Angelegenheiten haben würden«. 8 Repsold wurde eingezogen und an die Ostfront verschickt, von wo er 1917 zurückkehrte und noch eine Offiziersausbildung begann. Lu Märtens Einkünfte kamen durch den Verkauf kleinerer Arbeiten Repsolds zusammen, durch die Kriegsunterstützung und eine geringe Beisteuer in Naturalien vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller. Außerdem erhielt sie eine kleine Rente, eine private, mäzenatenhafte Zuwendung. Diese Lebenssituation nutzte sie für ausgreifende Studien in den Berliner Bibliotheken. Inzwischen hatte sich ihr Gesundheitszustand bedrohlich verschlimmert. Sie nahm eine Behandlung bei Karl Kollwitz auf, dem Arzt und Ehemann der Malerin und Bildhauerin, und hatte mit beiden auch freundschaftlichen Umgang. 1915 und 1916 fuhr sie dann zur Erholung während der Sommermonate in die Schweiz. Ihre Gastgeberin war Marie Louise Binswanger, die in Brunegg ein Sanatorium unterhielt und ansonsten ihr geräumiges privates Anwesen befreundeten Schriftstellern und Künstlern aus Deutschland öffnete. Zu den Sanatoriumsgästen zählten René Schickele und Leonhard Frank, der mit seinem erfolgreichen Roman Der Mensch ist gut dazu aufgerufen hatte, »den Krieg mit dem Herzen zu beenden« (Bloch). Lu Märten wurde über die Vermittlung ihrer Münchener Freundin Regina Ullmann, einer Bekannten Rilkes, in das private Haus aufgenommen. 9 Hier machte sie die für sie und Repsold wichtige Bekanntschaft Felix Hartlaubs, des Direktors der Mannheimer Kunsthalle, Förderers des Expressionismus und der sachlich experimentellen Moderne. Er war auch entsprechenden kulturpolitischen Theorien gegenüber aufgeschlossen und veranstaltete im privaten Zirkel Vorträge. Wilhelm Hausenstein konnte seine Ansichten über die jüngste Moderne darlegen, Kurt Hiller seine »Philosophie des Ziels«, Aktivitäten, über die Lu Märten auf dem laufenden gehalten wurde. 10 Eine Dresdener Ausstellung Hartlaubs 1915 nahm Silhouetten Repsolds auf. Gegenüber Lu Märten und Repsold bildete sich ein Verhalten aufgeklärt-unkonventioneller wie gönnerhafter Bürgerlichkeit heraus. »Ich wünsche Sie oft her«, schrieb Marie Louise Binswanger, »>Ihr Anblick gibt den Menschen Stärke.< Menschen wie Sie braucht man als — das Streitobjekt JJorchardt würde sagen Rialto — zur Anbahnung eines Verständnisses zwischen den Sozialisten und uns armen Bourgeois . . . Bei Dichtern fällt mir ein, kein Mensch hat Peter Hille 8 9

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Lu Märten: Autobiographie. S. 107. Angabe Lu Märtens zur Korrespondenz Eva Cassirers. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Lu Märten stand seit 1910 mit Regina Ullmann im Briefwechsel. Einen ihrer Romane hatte Lu Märten zuvor rezensiert. Lu Märten: Ein neues Buch. Regina Ullmann, Von der Erde des Lebens. Eingeleitet von R.M. Rilke. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 2. Im Winter 1921/1922 bemühte sich Lu Märten, in Berlin eine Lesung für Regina Ullmann aus ihren Arbeiten zu organisieren. Brief Felicie Hartlaubs an Lu Märten vom 6.12.1915. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22.

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verstanden von uns ohne Sie - also haben Sie schon eine Aufgabe, wenn Sie wiederkommen.« 11 In jenen Jahren gewann Lu Märten auch in Kreisen sozialistischer Aktivisten eine neue Bekanntschaft, nämlich die Ruth Oesterreichs, der Frau Otto Jenssens. Sie arbeitete in der sozialdemokratischen Friedensbewegung der Frauen und berichtete über ihre Unzufriedenheit mit der offiziellen Politik: »recht bezeichnend ist es für unsere Parteipresse, daß sie von der Haager Zusammenkunft fast keine Notiz nimmt.« 12 Ab Anfang der zwanziger Jahre arbeitete Ruth Oesterreich in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. Allem Anschein nach war sie die Hauptkontaktperson Lu Märtens bei deren Neuorientierung an der Politik der KPD. Ihrer Angabe zufolge hielt die Bekanntschaft bis 1929. Als Aktivistin im Widerstand soll Ruth Oesterreich später von den Nationalsozialisten umgebracht worden sein. Ab Anfang 1917 war Lu Märten mit »wissenschaftlichen Recherchen« 13 beschäftigt. Sie arbeitete an einem Buch.14 Ob sie dabei schon den konkreten Plan einer historisch-materialistischen Ästhetik verfolgte, muß offenbleiben. Den Anstoß dazu, ihre Studien auszuwerten, gab ein in der Illegalität lebender sowjetischer Funktionär, 15 mit dem sie über Ruth Oesterreich in Verbindung kam: »als ich mein Buch über die materiellen Anfänge der sogenannten Künste plante, brachte sie einen der hiesigen russischen Funktionäre zu mir, der diese eventuelle Arbeit unbedingt für Sowjet-Rußland kaufen wollte; er wollte auch sofort das Geld geben, das ich nicht annahm, mich aber daraufhin sofort an die Arbeit machte.« 16 Erste persönliche Kontakte zu Journalisten und Politikern, die für die Revolution in Rußland arbeiteten, machte Lu Märten 1917 bis 1919 während ihrer Anstellung an der Russischen Telegraphen-Agentur ROSTA in Berlin, der Vorgängerin der TASS. Lu Märtens Aufgabe bestand darin, Texte aus der internationalen Presse für die Zeitungen im revolutionären Rußland zusammenzustellen und dorthin telegraphisch übermitteln zu lassen. Ob sich über diese Arbeit ein lebhaftes Interesse an oder gar eine Identifikation mit der russischen Revolution bildete, läßt sich nur indirekt erschließen. Die russischen Angestellten waren sämtlich 11

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Brief Marie Louise Binswangers an Lu Märten vom 18.10.1915. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Brief Ruth Oesterreichs an Lu Märten o.D. (1916). Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 32. Brief Marie Louise Binswangers an Lu Märten vom 10.1.1917. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Danach erkundigte sich der Arzt des Brunegger Sanatoriums Dr. Hagemann. Brief Hagemanns an Lu Märten vom 7.2.1917. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Dies teilte Lu Märten offenbar in den zwanziger Jahren mit. Bedfich Václavek: V ph'buzném svété. In: Rovnost (Brünner kommunistische Zeitung). 1926, Nr.209 (31.7.1926). Angabe nach Johanna Rosenberg: Lu Märtens Entwurf einer historisch-materialistischen Theorie der Künste. In: Weimarer Beiträge. 1979, Heft 10. S.53. Lu Märten: Autobiographie. S.103. Dieser Anstoß zur Auswertung der Studien fällt in das Jahr 1921, nach dem Erscheinen der Broschüre Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste.

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Menschewisten,17 ihr Chef war Eugen Leviné. Chef der deutschen Angestellten war der sozialdemokratische Abgeordnete und spätere Berliner Polizeipräsident Eichhorn. In ihren Erinnerungen erwähnt Lu Märten als eindrucksvolle persönliche Begegnungen die mit Leviné und mit Sophie Liebknecht, Karl Liebknechts zweiter Frau. Ein nachhaltig wirkendes Ereignis blieb für Lu Märten die Auflösung der ROSTA. Hierbei bemerkte sie das Zusammenspiel der Polizei mit dem sozialdemokratischen Vorgesetzten. Inszeniert wurde ein Coup, »Die geplatzte Kiste«, um die russischen Mitarbeiter der Gesandtschaft und der ROSTA als bolschewistische Agitatoren über die Grenze abschieben zu können. Rosa MeyerLeviné berichtet darüber: »Den Vorwand dazu lieferte ein Manöver, das unter dem Namen >Die geplatzte Kiste< bekannt geworden ist. Man beschuldigte die Botschaft des Mißbrauchs diplomatischer Immunität. Im passenden Augenblick war eine Kiste auf dem Bahnhof aufgesprungen, und heraus war angeblich bolschewistische Propaganda-Literatur gequollen. Bald darauf drang ein Heer von Polizeibeamten in das Gebäude der ROSTA ein.« 18 Wie Lu Märten berichtet, blieben die deutschen Angestellten unbehelligt. Über ihre Arbeitssituation ließ man sie im Unklaren, bei einer dreimonatigen Fortbezahlung als stillschweigender Abfindung rechnete man auf weitere Loyalität. Lediglich Lu Märten mußte einer Hausdurchsuchung in ihrer Wohnung zusehen: Man hatte auf ihrem Schreibtisch im ÄOSZÄ-Gebäude die Verteidigungsrede Friedrich Adlers gefunden, eine im Druck erschienene öffentliche Rechtfertigung seines Attentats auf den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Karl Stürgkh während des Ersten Weltkriegs.19 Erst mit Kriegsende gab Lu Märten ihre publizistische Zurückgezogenheit auf. Bevor sie ab 1920 für Zeitungen und Zeitschriften der KPD arbeitete und für die linkssozialistische Erde Walter Rillas wie für den dadaistisch-kommunistischen Gegner Wieland Herzfeldes je einen größeren Artikel schrieb, publizierte sie 1918 und 1919 vorwiegend in der Freiheit, einem Organ der linken USPD, schrieb aber daneben ebenfalls in einer Zeitung der rechten USPD. Sie machte sich dabei mit Einschränkungen zur Fürsprecherin von Ludwig Rubiners pazifistisch-anarchistischem Appell. 20 Lu Märtens kunstorganisatorische Aktivitäten fallen in die Jahre 1919 und 1920. Sie entfalteten sich in jenem politisch breitgefächerten Milieu zwischen rechter USPD bis hin zum kommunistischen Linkssozialismus, das sich in der Novembergruppe als übergreifendem, bald aber politisch nichtssagendem und auseinanderfallendem Zusammenschluß fand. 21 Sie entwarf zum einen ein Programm für die Deutsche Kunstgemeinschaft·, für eine andere Organisation, die Genossenschaft 17

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Rosa Meyer-Leviné: Leviné. Leben und Tod eines Revolutionärs. Mit einem dokumentarischen Anhang. Übers, von Klaus Budzinski. München 1972. S.69. Rosa Meyer-Leviné, ebd., S.72. Lu Märten: Autobiographie. S. 114/15. Lu Märten: Ludwig Rubiner, Der Mensch in der Mitte. In: Bergische Arbeiterstimme. 1918, Nr. 34 (9.2.1918). Vgl. Helga Kliemann: Die Novembergruppe. (Bildende Kunst in Berlin, Bd. 3). Berlin 1969.

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sozialistischer Künstler, übernahm sie die Ausformulierung exponierter Programme und Statuten für die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit. Den Vorsitz der Genossenschaft führte Friedrich Natteroth, der auch von Lu Märten geschriebene Artikel als eigene zeichnete. 22 In beide Künstlerorganisationen konnte sie das kunsterzieherische Programm aus Ästhetik und Arbeiterschaft und organisatorische Reformideen aus der Wirtschaftlichen Lage der Künstler einbringen. In ihren Erinnerungen erwähnt sie ihre und Repsolds Rolle beim Zusammenschluß: »Wir halfen eine Künstlergenossenschaft gründen, die billige Verkäufe fördern sollte, was auch ganz gut gelang.« 23 Daß der tägliche Umgang mit Kunstwerken das Verständnis für sie schärfe und ästhetische Belehrung erübrige, war der kunsterzieherische Grundsatz von Ästhetik und Arbeiterschaft·, umgekehrt, so hatte Lu Märten in Die wirtschaftliche Lage der Künstler betont, schaffe breitester privater und öffentlicher Bedarf an Kunstwerken eine lebendige Kunst. 24 Die Deutsche Kunstgemeinschaft erarbeitete ein Finanzierungsmodell, das für unbemittelte Schichten unter Umgehung des Kunstmarkts die Anschaffung von Kunstwerken ermöglichen sollte. Das erste Modell, das bald scheiterte, beruhte auf der Leihgabe von Kunst gegen Gebühren. Daraufhin setzte sich der Staatssekretär Heinrich Schultz für das Zustandekommen folgender Einkaufs- und Verkaufsorganisation ein: Ein Protektorat bekannter Künstler und Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben begann mit einer »Qualitätsverkaufsausstellung aller Richtungen«, 2 5 aus deren Erlös eine ständige Ausstellung der Kunstgemeinschaft finanziert wurde. Hier waren Arbeiten der Kollwitz, Liebermanns, Klemms, Feiningers u.a. vertreten. Die Preise waren nach drei Kategorien gestaffelt, dazu gab es entsprechend für den Käufer drei Abonnementkategorien, die sich in der Höhe der monatlich zu zahlenden Raten unterschieden. Der Käufer mit einer niedrigen Abonnementstufe, der ein teureres Bild kaufen wollte, konnte dies mit entsprechender Dauer der Ratenzahlungen. 2 6 Im Prospekt der Deutschen Kunstgemeinschaft legte Lu Märten ihre Kerngedanken zur Lage der Künstler und zum Kunstkonsum dar, die sich die Organisation im weiteren zu eigen machte: 27 Auf lediglich ästhetisch fundierten Brücken gingen Künstler und Konsumenten nach wie vor verständnislos aneinander vorbei. Die durch die Maschine und ihren Mechanismus 22

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Friedrich Natteroth (Lu Märten): Im Dienste des Sozialismus. In: Die Republik. Februar 1919. Zeitungsausschnitt. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 10. Lu Märten: Autobiographie. S. 117. Dies macht übrigens auch J. Huizinga als Ursache für die Blüte der holländischen Malerei im 17. Jahrhundert geltend. Vgl. Johan Huizinga: Holländische Malerei im siebzehnten Jahrhundert. Eine Skizze. Frankfurt/M. 1977. S. 104ff.. Lu Märten: Können Unbemittelte heute Kunstwerke kaufen? Und was ist die Deutsche Kunstgemeinschafü Typoskript, 6 S., geschrieben um 1920. S.5. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 1. In den Niederlanden existiert ein entsprechendes Modell der Kunstfinanzierung mit Erfolg, getragen von der Stichting Beeidende Kunst, die mit jedem der Städtischen Museen für moderne Kunst kooperiert. Lu Märten: Können Unbemittelte heute Kunstwerke kaufen? S. 2.

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revolutionierten Produktionsgrundlagen der modernen Gesellschaften ließen den Kunstarbeiter scheinbar unbeteiligt, als einen weiter eine Arbeit des Kopfes, des Herzens und der Hand Leistenden bestehen. Als soziales Wesen aber [ . . . ] unterlag er wie andere Klassen den Wirkungen des Mechanismus dieser Epoche.

Eine Überlegung, wie weitgehend die Photographie, die einen massenhaften Kunstverbrauch schuf, die Aufnahme und das Verhältnis zu den Originalwerken beeinflußt, erscheint als ein erstes, noch unentwickeltes Motiv der späteren Sicht Lu Märiens auf den Film:28 »Die in den letzten Jahrzehnten immer vollkommener werdende Technik der Photographie endlich hat überall, wo sie das natürliche Objekt ergreift, ihren Eigenwert erhalten und die reproduzierte Kunst relativ verdrängt. Damit aber stellt sich als ihr andersgearteter Gegensatz der Wert und die Wichtigkeit der Originale wieder in den Vordergrund. Denn es erscheint ein Gesetz der Entwicklungen, daß nach der Verwischung der alten Unterschiede, mit der Verselbständigung gewisser neuer Mittel und Formen, die neuen Unterschiede reinlicher und logischer sich herausstellen.« 29 Wie ein Brief von Käthe Kollwitz an Lu Märten vom Oktober 1920 belegt, war ihre Mitarbeit an der Deutschen Kunstgemeinschaft nicht zufällig-sporadischen Charakters. Durch ihren Einsatz, so hatte sie gehofft, würde sich eine Möglichkeit fest bezahlter Mitarbeit ergeben. »Liebe Frau Lu Märten«, schrieb Käthe Kollwitz, »zufälligerweise hatte ich eben Gelegenheit den Staatssekretär Heinrich Schultz zu sprechen und ihm von Ihnen zu sagen. Es liegt nun leider so wie ich dachte: augenblicklich hat er gar nichts für Sie. Aber er sagt, es wäre sehr gut möglich, daß in einem halben Jahr etwa, wenn die Kunstgemeinschaft sich fester eingewirtschaftet hat, sich Beschäftigung für Sie finden würde. Es ist ja auch möglich, daß eher als er denkt irgend ein Posten für Sie da sein würde. Jedenfalls hat er mir versprochen, Sie in der Erinnerung zu behalten, und will Ihnen dann schreiben. Sie werden sagen, das ist sehr vage, und leider, es ist so. Aber in diesen scheußlichen Zeiten bin ich so gewohnt, ganz ablehnende Antworten zu bekommen, daß ich hiermit schon noch ziemlich zufrieden bin.« 30 Der organisatorische Grundgedanke der Genossenschaft sozialistischer Künstler war weniger finanztechnisch-formal. Im Kern bestand er in einem »Kollektivierungsprogramm« ästhetischer Produktion und Konsumtion, wobei die individuelle Leistung des Künstlers den Arbeiteralltag anregen wie von ihm lernen sollte. In diesem Punkt berührte sich der Organisationsgedanke inhaltlich und teilweise 28

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In Die wirtschaftliche Lage der Künstler bewertete Lu Märten den Film mit Zurückhaltung schon positiv. Dies war 1911 eine weitsichtige Einschätzung: »Das Kino kann und könnte in dem Augenblick eine erfreuliche und wichtige Erscheinung werden, wo es sich seiner Bestimmung als Arbeitsfeld und Betrieb ingeniöser Photographie und Technik bewußt würde.« (S.59) Dieselbe Sicht dominiert auch noch in Wesen und Veränderung der Formen/Künste. Erst Lu Martens Beiträge zum Film in den späten 1920er Jahren lassen rückhaltlose Begeisterung für das Medium erkennen. Diese dominiert in der Zweitauflage des Buches von 1949. Vgl. S. 358-367. Lu Märten: Können Unbemittelte heute Kunstwerke kaufen? S.3. Brief von Käthe Kollwitz an Lu Märten vom 5.10.1920. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34.

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auch personell mit reformimmanenten Vorstellungen des Bauhauses und des Arbeitsrates für Kunst, von dem wiederum ein kleinerer Kreis »utopischer« Architekten, inspiriert von Paul Scheerbarts Glasarchitektur und ohne Aufträge in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Volkspaläste und Massenwohnlandschaften visionär entwarf; unter dem Namen Die gläserne Kette gingen die Zeichnungen und ihre Urheber in die Geschichte ein. 31 Auch innerhalb der Genossenschaft kamen utopisch-visionäre Elemente zu Wort, durchsetzt mit Floskeln, die einer allgemeinidealistischen Haltung den »Bildungsgütern« gegenüber entsprangen. Den Richtlinien zufolge wollte die Genossenschaft Künstler, »deren formale Qualität außer Zweifel steht«, 32 in möglichst großer Zahl organisieren. Auch andere produktive Menschen wurden zum Anschluß aufgefordert. Das Arbeitsprogramm setzte sich zum Ziel, die industriell hergestellten >KunstWie überwinden wir den Kapitalismus?< bleibt die Frage: >Wie überwinden wir die noch weiterlebenden Wirkungen des Kapitalismus - hier in den Fragen der Kunst — die der Maschine?< Man wird weiter versuchen, zur Kunst zu erziehen, und es ist auch gegen ideologische Hilfsmittel nichts zu sagen, aber die materialistische Einsicht und Antwort kann immer nur lauten: Überwindung der Maschine durch die Maschine!« 39 Im Aufsatz Maschine und Diktatur erschien erstmals das Bemühen um den gültigen Stil unter dem Vorzeichen »materialistischer Einsicht«, also der Absage an den von der Sozialdemokratie beanspruchten Marx und der Ausrichtung auf neue, im revolutionären Rußland geschaffene Grundsätze. Dabei trat Lu Märtens neues Engagement für die kommunistische Politik in den Vordergrund. In diesem Aufsatz formulierte sie deutlich ihre Erwartung als Schriftstellerin an eine politische Kraft, am ehesten in Form des Staates, für die Geschlossenheit, die »Vernunft«, den organischen und gültigen Charakter der Kultur. Eine derartige Erwartung drückte Lu Märten dann auch nach 1945 wieder aus. In keinem Fall unterscheidet sich ihre Hoffnung qualitativ von dem, was in ihren Appellen an die SPD vor 1914 zum Ausdruck kam. Insofern weist Lu Märtens spezifische Variante der »Politisierung der Kunst«, externer und okkasioneller Bedingungen wegen, Staatsvertrauen als eine konstante Komponente auf. Eine affirmative, staatstragende Kulturauffassung jedoch lag ihr dabei fern. Auffallend ist vielmehr, wie gerade kritische Gehalte ihrer Kunstkonzeption in 38 39

Lu Märten: Maschine und Diktatur. In: Das Neue Reich. 1. Jg., 1919, Nr. 19. Lu Märten, ebd..

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den Vordergrund treten, wenn sie innerhalb revolutionärer Strömungen der Arbeiterbewegung vorgebracht wird. Orientiert sich Lu Märten dagegen im Rahmen etablierter parteipolitischer Richtungen, tendiert dieselbe ästhetische Grundkonzeption zu einer eher regressiven Auffassung von Arbeiter- und Volkskunst nach der Art des Werkbundes. Ihre uneinheitliche Argumentation in den drei Künstlergruppierungen rechtfertigt eine solche zusammenfassende Charakterisierung. In Maschine und Diktatur sprach Lu Märten 1919 zwar als kommunistisch orientierte Publizistin, doch eine parteipolitische Abwendung von der USPD läßt sich daraus noch nicht folgern. 40 Daß sie sich nun als kommunistische Genossin verstand, lag in der Sache ihrer kunsterzieherischen Absichten, ihrer mit der allgemeinen Aufbruchstimmung der Revolutionsjahre aktualisierten Hoffnung auf die Erweckung künstlerischer Fähigkeiten über einen solidarischen politischen Alltagsumgang, den sie in ihrem Theaterstück Jugend der Revolution darstellte, und nicht zuletzt an neuen Publikationsmöglichkeiten und neuen Arbeitsfeldern für ihre theoretische Produktion. Dabei erweiterten sich ihre Organisationsvorstellungen. Nicht mehr nur Kunstproduktion und Kunstgebrauch sollten gesellschaftlich antizipierend wirken. Die Theorie der Kunst, erweitert auf den Zusammenhang der Künste, erhielt nun einen gewichtigeren Platz zugewiesen.

2.3. Zur organisierenden Fähigkeit einer Theorie der Künste 2.3.1. Kunsttheorie als Work in Progress Eine Reihe seit 1920 geschriebener Artikel Lu Märtens weist auf die Thematik ihres Buches Wesen und Veränderung der Formen!Künste voraus. Die vor 1919 aufgestellten Hauptthesen über Kunstproduktion und — konsumtion gingen sogar direkt in die Konzeption des Buches ein. Doch im Unterschied zu den bisher behandelten Artikeln und anderen Arbeiten geben Lu Märtens nach 1920 entstandene Aufsätze den bisherigen hauptsächlichen Untersuchungsbereich auf, den Zusammenhang der bildenden Künste mit den Formen der Gebrauchsgegenstände. Die Themen der vorbereitenden Artikel lassen sich nach fünf Gesichtspunkten unterscheiden: solche mit methodisch zu verstehenden Thesen über die Aufgabe des historischen Materialismus in der Kunsttheorie;1 über die Aufgabe des kommunistischen Feuilletons hierbei;2 über Dichtung und Literatur, insbesondere über 40 1

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Vgl. 1.1., Anm. 46. Lu Märten: Briefe über Kunst I-IV. In: Die Jugend-Internationale. (Wie Anm. 64 in 2.1.) — Lu Märten: Kunst und historischer Materialismus. In: Die Rote Fahne. Berlin. 1921, Nr.239 (29.5.1921). Wiederabdrucke in alternative 89, S. 6 0 - 6 2 und Lu Märten: Formen für den Alltag. S.95—98. Es handelt sich um die Replik auf Gertrud Alexanders Kritik der Broschüre Historisch-Materialistisches. Lu Märten: Die revolutionäre Presse und das Feuilleton. In: Der Gegner. Hg. von Julian Gumperz und Wieland Herzfelde. 2. Jg., 1921, Heft 6, S. 186-192.

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Hille, Toller und Becher; 3 über Musik. 4 Drei literaturpolitische Beiträge beziehen zudem Position innerhalb des zeitgenössischen Streits um proletarische Kunst und Kunstverfall. 5 Mit der »sozialen Ästhetik« hatte Lu Märten im Anschluß an Gottfried Semper und William Morris das Gesetz aufgestellt, die Schönheit eines Produkts liege in der zur Übereinstimmung gebrachten Relation zwischen Materialehrlichkeit und Gebrauchszweck. Somit war ihr Hauptaugenmerk auf das Material gerichtet, das dem jeweiligen Kunst-»Körper« seine Eigenart verleiht. Was der Künstler »will« oder »soll«, blieb von diesem Gesichtspunkt aus als Maßstab für Schönheit und Zweck eine müßige Frage. Lu Märtens Artikel zu Beethoven will am Material der Musik die These beweisen, daß die Künste keine Träger von »Weltanschauungen« sind. Ihre Einteilung in »bürgerliche« und »proletarische« führe nicht weit, wenn zuvor nicht untersucht sei, »inwiefern und in welcher Art die einzelne Kunstgattung und das Werk seinem historischen Wesen nach bestimmt und geeignet sind, Inhalte bestimmter Art überhaupt aufzunehmen oder nicht«.6 Ihr Motiv, die Gattungen einzeln zu untersuchen, liegt darin, dem in der bisherigen sozialdemokratischen und vor allem in der zeitgenössischen kommunistischen Publizistik spontan angewandten Grundsatz entgegenzutreten, ein Kunstwerk sei »Ideologie«, »falsche« oder »richtige«:7 Der historische Materialismus spürt den Abhängigkeiten nach, denen auch die geistigen Erscheinungen von Seiten der wirtschaftlichen Zustände als den grundwichtigsten unterworfen sind. Da aber die geistigen Dinge keine einfache Reproduktion der Ideologien von daher darstellen, da sie ferner allererst durch das Individuum entstehen, der Begrenzung von daher im Können unterworfen sind, da sie überhaupt bestimmte Energien aus ursprünglich menschlichen Vermögen und Willen verarbeiten, so erfordert dieses ganze Gebiet auch von daher seine spezielle Untersuchung anhand der verschieden zu begreifenden Wesenseigentümlichkeiten der einzelnen Kunstgattungen.

Die bisherigen Analogien aus dem Bereich der Ökonomie mündeten in bloße Polemik, statt der von Marx geforderten Differenziertheit genüge zu tun. Die Auffassung der Kunst als Ideologie ist mit dem historisch-materialistischen Grundsatz, die Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen, insofern verknüpft, als die Kunst jeweils einer bestimmten historisch auf- oder absteigenden 3

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Lu Märten: Peter Hille. In: Die Jugend-Internationale. Berlin. 1921, Nr. 5, S. 104-107. — Lu Märten: Revolutionäre Dichtung in Deutschland. In: Die Erde. Hg. von Walther Rilla. 2. Jg., 1920, Heft 1, S. 12-28. Dass, in: Die Jugend-Internationale. Berlin. 1920, Nr. 19, S.2-7. Lu Märten: Einiges Historisches über Musik. Ludwig van Beethoven und 150 Jahre deutsche Musik. In: Die Jugend-Internationale. Berlin. 1920, Nr.4, S. 7 5 - 8 0 . Lu Märten: Über proletarische Theaterbedürfnisse und proletarisches Theater. In: Die Arbeit. Berlin. 1921, Nr 5, S . 7 6 - 7 8 . - Lu Märten: Geschichte, Satyre, Dada und Weiteres. I und II. In: Die Rote Fahne. Berlin. 1920, Nr. 261 und 262. - Lu Märten: Trotzki, Literatur und Revolution. In: Internationale Presse Korrespondenz. 1924, Nr. 56, Sp. 682-684. Lu Märten: Einiges Historisches über Musik. In: Die Jugend-Internationale. Berlin. 1921, Nr. 4, S.75. Lu Märten, ebd., S.75.

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Klasse im Sinne ihres Weltbewußtseins zugerechnet wird. Lu Märten schlägt demgegenüber vor, die Geschichtlichkeit der Gattung selbst zu untersuchen, ihr Entstehen und die Metamorphosen ihrer Entwicklung. Dadurch erhält man zum einen eine Stufenfolge der Gattungen und zum anderen eine Relation zwischen deren jeweiliger Entwicklungshöhe und den Mitteln zu ihrer Hervorbringung. Das Wesen der Musik bestehe in der Unmittelbarkeit des Tones. Ton und Laut, Tanz und Rhythmus seien vor der Sprache dagewesen; doch erst mit den Instrumenten gebe es eine Musik im Sinne einer f ü r sich bestehenden Organisation von Tönen. »Diese Mittel hängen genau wie jedes andere Werkzeug mit dem Verstände zusammen, und daher erscheinen sie historisch bedingt, wie das Dasein einer Windmühle oder eines Motors. Aber das innerste Wesen der Musik ist [ . . . ] von Wirtschaft und Politik [und] deren Verstandesinhaltfen] [ . . . ] unabhängig.« 8 Wenn Lu Märten hier wie auch später nirgends unter musikalisch-technischen Gesichtspunkten Harmonie und Dissonanz oder den A u f b a u einer Fuge erklärt, so hat doch die Abkoppelung der historischen Erklärung der Mittel, die eine Kunstform zu bilden erst ermöglichen (Material, Medien, Instrumente), von der des »Verstandesinhalts« den Ertrag, den »Verfall« oder das gänzliche Verschwinden einer Gattung aus der Kunstentwicklung selbst und den jeweiligen Ausdrucksbedürfnissen der Menschen begreifbar zu machen. Gewiß ist ihr Begriff der Technik eine gesellschaftlich determinierte Größe. Doch gegenüber dem Erklärungsmodell »Ideologie« weckt er Verständnis dafür, daß die Kunstproduktion in ihrer Gesamtheit ein kulturkonstitutiver Faktor ist, und nicht ein Anhängsel von Bewußtseinsinhalten im Vollzug eines gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzes; gleichgültig ob damit die Kunst der jeweils aufsteigenden Klasse, sei es die »große« Kunst des bürgerlichen Zeitalters oder die ihr nachstrebende »proletarische« dingfest gemacht werden soll. Ihre problematische Seite zeigt die Bestimmung der »Wesenseigentümlichkeiten der einzelnen Kunstgattungen« 9 bei der besonderen Betrachtung der Literatur und Dichtung. Wurde die Musik ihres Materials wegen als eine »begrifflose Empfindung« bestimmt, so heißt es in Abgrenzung dazu über die Poesie: »Auch die Poesie, alle Künste sonst, können Empfindungen und G e f ü h l e vorherrschend ausdrücken; niemals aber kann dieser Empfindungsinhalt als begrifflos bezeichnet werden [ . . . ] . Schon das Ausdrucksmittel der Poesie, die Sprache, heftet uns an Begriffe, bindet uns an den Inhalt eines Begriffs.« 1 0 U n d diese Auffassung des sprachlichen Kunstwerks als eines Gemischs von Empfindung und Begriff prägt denn auch Lu Martens Bewertung der »revolutionären Dichtung in Deutschland«. Diese Bewertung ist selbst gefühlvoll und nimmt ihr Kriterium vom Inhalt. Befragt man die Ausführungen über den revolutionären Charakter der Dichtung nach der Begründung für die Wahl ihres Gegenstandes - Peter Hille und Johannes R . Becher - sowie der Bewertung, so findet sich die Antwort in der 8 9 10

Lu Märten, ebd., S.76. Lu Märten, ebd., S.75. Lu Märten, ebd., S.76.

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»Methode« der Darstellungsweise Lu Märiens; es ist die tautologische von »Intuition« und »Nacherleben« der »Dichterpersönlichkeit« in seinen »Werken«. Hille erscheint als sozialistischer Zarathustra, weil er »proletarisch« gelebt habe: 11 Er blieb unerkannt, weil seine Wortgestalt, seine Zertrümmerung und Sprengung aller hergebrachten Gesten, Formen und Vokabeln der Barden [ . . . ] unverständlich blieb. [ . . . ] Man muß ihn sinnlich erleben, nicht nur intellektuell - er zwingt zum Horchen auf vergessenen Blutrhythmus - er zwingt und zwingt überhaupt und ist unbequem - ein Dichter, der Mühe macht. [ . . . ] Er hat als erster die Kühnheit der nackten Worte, der nackten Sprache, wie er sie nannte, erbracht (von der die Romantiker vage träumten) [ . . . ] . Sprache des ersten Erlebens, die nur der versteht, der überhaupt erleben will und kann, gleich, wenn die Zeit für ihn gekommen ist.

Dieser Hymnus auf den Genius und Propheten zeigt, daß nach dem Versagen des Verstandes vor soviel Traum, Kühnheit, Gefühl und Erleben schließlich die Sprache kapituliert. Nach dem Schrei verläuft sie sich in dessen Nachhall, den Ausrufungszeichen. Dem entspricht die Aussage, die revolutionäre Dichtung nehme in der »Sprachgewalt« die Menschheitserlösung vorweg: »Becher führt sie weiter [die >neue Gestaltungsethik< Hilles, C.K.], baut sie und wertet sie zu seinen Zielen. Menschen und Mächte nicht mehr an den Rock und die Geste der Klassen und wie immer geachteten Wirklichkeiten gefesselt — sondern in der Entfesselung schon gezeigt - Geste des innerlichen Geschehens — Sprache - Stimme — Musik. Schweigen - Schreie . . . Und Chöre! Chöre!« 12 Diese und eine vergleichbare methodische Bedenkenlosigkeit wird sich im Kapitel über die Literatur in Wesen und Veränderung der Formen!Künste wiederfinden. Trotzdem ist ihre Abgrenzung gegen andere Verfahrensweisen im Umgang mit Literatur von der Absicht her bemerkenswert und auch aufschlußreich für den Sinn des historischen Materialismus bei Lu Märten. Erstens soll er sich von der akademischen Ästhetik unterscheiden, indem er pädagogische Bestimmungsmöglichkeiten für »Wert oder Unwert des Geistigen« 13 für die Arbeiterklasse biete. Zweitens sei er kein Ahnenkult wie die »offizielle Literaturgeschichte«, die vor allem kein System kenne. Drittens wolle er auch keine Einzeluntersuchung sein, da der Gegenstand dabei meist nur nach dem Kriterium des Neuen gewählt und die lÀXZTdAurentwicklung nicht erfaßt werde. Viertens habe er mit der Aburteilung der Ismen in der Literaturkritik der KPD nichts zu tun, die über die Begriffsverwendung »Verfall« methodisch auf dasselbe hinausliefe wie das Lob des Neuen im bürgerlichen Feuilleton. 14 Positiv gefaßt enthält Lu Märiens Formkonzeption somit vier methodische Implikate, die sämtlich die Aufgabe eines historischen Materialismus in der Kunsttheorie formulieren. Die Kunst soll aus einer solchen Perspektive betrachtet werden, daß die Arbeiterklasse einen Erkenntnisgewinn daraus zieht; die Darstel11

12 13 14

Lu Märten: S.17/18. Lu Märten, Lu Märten, Lu Märten,

Revolutionäre Dichtung in Deutschland. In: Die Erde. 2. Jg., 1920, Heft 1, ebd., S.24/25. ebd., S. 13. ebd., S. 14.

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lung soll systematisch und historisch sein; sie soll die ästhetische Produktivität der Gegenwart einsichtig machen. Vom zusammenfassenden Praxispostulat des ersten methodischen Implikats aus läßt sich folgern, daß mit Hilfe der Theorie aus den Mitteln der Gegenwart ein auch für die unmittelbaren Produzenten »gültiger Stil« der Zukunft gewonnen werden könne. Das Praxispostulat der Theorie, so zeigt der Artikel Die revolutionäre Presse und das Feuilleton, ist eine Erweiterung des Kunsterziehungskonzepts aus Ästhetik und Arbeiterschaft. Dem Arbeiterleser soll ein »Gesetz« bzw. Werkzeug zur eigenen Urteilsbildung an die Hand gegeben werden. Diese Forderung wird bei der Funktionsbestimmung des Feuilletons behandelt: in der bürgerlichen und auch sozialdemokratischen Presse tägliche Abwechslung zu Unterhaltungs- und Erbauungszwecken u.a. im Dienste des Verlagswesens zu liefern. Das kommunistische Feuilleton dagegen könne unter bestimmten Umständen eine organisierende Funktion erhalten, und zwar dann, wenn 15 hinter dem behandelten Einzelwesen der Zusammenhang in seiner historischen Wesensbestimmtheit nicht vergessen würde [...]. Muß das nicht die politische Arbeit vor jeder neuen Erscheinung ebenfalls tun? Nur daß dort die harten materiellen Tatsachen eindeutiger und kontrollierbarer vor dem Hörer und Beteiligten stehen als im Komplex der geistigen Erscheinungen, der für die meisten Chaos und unbetretenes Gebiet bedeutet. Und die so geforderte Arbeit würde hier vielleicht dennoch wenig wirksam sein, solange man die Kategorien, aus denen die einzelnen Erscheinungen stammen, in ihrer bürgerlichen Begriffsverkleidung bestehen läßt - schon das Wort >Kunst< ist eine solche - , oder vorausgesetzt, daß jeder diese bereits stillschweigend historisch und revolutionär gedeutet hat. [ . . . ] Vor dem Arbeiter wird hier und da ein Kapitel über Gut und Schlecht in der Kunst abgehandelt, vor dem er verständnislos stehen muß — und das er kritiklos hinnehmen muß, weil ihm nicht das Werkzeug der Kritik geliefert wird — sondern nur die Kritik.

Hiermit solle dann auch die »eigentümliche Dialektik der Verfallserscheinungen«16 begriffen werden; es erübrigten sich dann die Polemiken zwischen den »revolutionär Gleichgesinnten« ebenso wie die bloße Konstatierung, »daß erst in einer kommunistischen Gesellschaft die Künste wieder fruchtbar und neu werden können«; 17 sie würden von heute aus zu einer anschaulichen Synthese gebracht. Das organisierende Feuilleton stellte sich Lu Märten als eine Kollektivaufgabe vor. Der kategoriale Anknüpfungspunkt müsse das Arbeits- und Technikverständnis der Arbeiter sein; thematisch könne man auf den in Arbeiterkreisen vorhandenen Kunstkonsum eingehen, beispielsweise die »Freude an Räuberromanen« ansprechen. Und: 18 Daß Kunst aus Arbeit und primitivem Leben entstand. Sollte eine solche Ahnenschaft der geistigen Dinge ihn [den Arbeiterleser, C.K.] wirklich nicht tiefer interessieren können — einschließlich der heutigen Gefühlskomplexe und Reizungen, und seien es selbst die des Kintopp — und ihn nicht bewußter machen können als die Polemik über Kubismus oder die Rezension eines Bohemeromans? [ . . . ] Aber darüber hinaus bliebe 15

16 17 18

Lu Märten: Die revolutionäre Presse und das Feuilleton. In: Der Gegner. 2. Jg., 1921, Heft 6, S. 188. Lu Märten, ebd., S. 186. Lu Märten, ebd., S. 187. Lu Märten, ebd., S. 190.

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eine Grundlage, die nicht mit dem Tage erledigt ist und auf die wieder zurückgegriffen werden kann. Würde man das >Kapital< aus Zeitungsartikeln ausgraben müssen (und der >Nachlaß< [Marxens, C.K.] stammt ja meist daher), so würden jene Zeitungen oder Zeitschriften unsterblich werden.

Dieser Vorschlag, dem Feuilleton bzw. der Zeitung eine Organisationsfunktion für die Theoriebildung und Kunsterziehung zu geben, wurde Mitte der zwanziger Jahren in Rußland von denjenigen Schriftstellern erneut zur Debatte gestellt, die eine Produktionsästhetik propagierten. An die Intellektuellen der antifaschistischen Emigration richtete ihn Walter Benjamin unter dem Stichwort der Umfunktionierung der Literatur. 19 Lu Martens Systembestreben in Wesen und Veränderung geht erkennbar auf die Vorstellung einer organisatorischen/organisierenden Funktion der Arbeiterpresse für ihre Leser zurück. Ganz in diesem Sinne heißt es auch in der Vorbemerkung zu Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste: »Diese kleine Schrift stellt das Vorwort zu einer darin geforderten Arbeit über die Sachen der Kunst [...] dar. [...] Als Orientierung für Mitdenken und Mitarbeit, denn jeder Hörende, Fragende ist hier Mitarbeiter.« 20 Zu den unmittelbar das Buch vorbereitenden Artikeln gehören auch die als Serie in der Jugend-Internationale erschienenen Briefe über Kunst. Da Lu Märten in ihnen schon die Thematik des Buches selbst behandelt, sollen sie weiter unten an entsprechender Stelle behandelt werden. 2.3.2. Polemik um Kunstverfall Mit den vorbereitenden Artikeln näherte sich Lu Märten auf konstruktive Weise einem historischen Materialismus in der Theorie der Kunst; sie besetzte damit zugleich eine literaturpolitische Position. Der Aufsatz Revolutionäre Dichtung in Deutschland in der Erde bekundete durch seinen Publikationsort und durch die Vorliebe für den literarischen Impressionismus Hilles und den Expressionismus Bechers, daß die Verfasserin in den Reihen utopisch gesinnter Expressionisten stand — der »vorrevolutionären Literatur von 1918«,21 wie es die keineswegs allein dominante, an Mehrings Literaturkritik geschulte Gertrud Alexander in der Internationale formulierte. Lu Märtens Aufsatz über Beethoven, der das Programm aufstellt, jede Kunstgattung in ihrer Entwicklungslinie zu untersuchen, lieferte einen Gegenentwurf für das historisch-materialistische Verständnis »revolutionärer Kunst«, die, sei es im Bild, sei es in der Literatur, zeitgenössisch allein an der 19

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Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. II. S.701. Tretjakovs Forderung, »höchste Aufmerksamkeit der Vervollkommnung der Zeitung zu widmen,« zielte, ähnlich wie die Lu Märtens, darauf, die literarischen Energien im Prozeß einer Kollektiverziehung neuzuformen. Sergej Tretjakov: Der neue Lev Tolstoi. In: Tretjakov, Lyrik Dramatik Prosa. Hg. von Fritz Mierau. Leipzig 1972. S. 196. Lu Märten: Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste. S.4. G.G.L. (Gertrud Alexander): Die vorrevolutionäre Kunst von 1918 und 1789. In: Die Internationale. Berlin. 2. Jg., 1919, Nr. 15/16. S.320-328. 133

übermittelten Aussage gemessen wurde. Wenn schließlich im Aufsatz Die revolutionäre Presse und das Feuilleton eine Kunsttheorie nach der Art eines Aufbauwissens vorgeschlagen wird, das den Arbeitern ein praktisches Grundlagenverständnis übermittele, so stellte sich Lu Märten damit auf die Seite der von der KPD-Literaturkritikerin Alexander inkriminierten »Kunstanarchisten«. 22 Nicht allein, daß der Aufsatz im Gegner des Dadaisten Wieland Herzfelde erschienen war; er bot vielmehr auch einer dilatorischen Selbstverteidigung Alexanders Widerpart. Auf Stimmen aus dem Gegner und auch der kommunistischen Presse selbst, die ihren bürgerlichen Zensurstandpunkt und ihre feuilletonistische Manier bemängelt hatten, 2 3 beharrte Alexander auf der Notwendigkeit, Kritik an der Ideologie des Bürgertums zu üben; gemeint war die Kunst »des Bürgertums«, »als die der Expressionismus und Dadaismus, überhaupt alles >Moderne< sich ausgaben und ausgeben«. 24 Kritik an der Ideologie des Bürgertums sei Teil des politischen Kampfes. »Um die Illusion der »revolutionärem Kunst zu zerstören«, müsse das Proletariat - offenbar die Rote Fahne bzw. ihre Kunstkritiker - öffentlich Stellung nehmen; die Arbeiter müßten angeleitet werden. Eine solche Attitüde der Bevormundung, ausgegeben als marxistische Ästhetik, stimmte nicht mit Lu Märtens Vorstellungen von organisierender Theorie und Arbeiterkunsterziehung überein. Inwiefern ihre Berufung auf Marx für die kapitalismuskritische Ausrichtung der Ästhetik nichtdoktrinäre, aber doch organisierende Bewußtwerdungsvorgänge in der Arbeiterklasse erreichen wollte und deswegen für avanciert produzierende Künstlergruppen Verständnis und gerechte, ihre Praktiken treffende Kritik verlangte, wird im folgenden an ihren Plädoyers für Ludwig Rubiner, für Dada wie für das proletarische Theater Erwin Piscators und Hermann Schüllers verdeutlicht. Diese Beiträge richteten sich jeweils gegen eine von oben aburteilende »marxistische« Kunstzensur. Die Literaturpolitik im Umkreis der KPD zu Beginn der zwanziger Jahre stand in direkter Nachfolge der Schriftstellerpolitik der ersten Jahre nach dem Weltkrieg. 22

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G.G.L. (Gertrud Alexander): Zur Frage der Kritik bürgerlicher Kunst. In: Die Rote Fahne. 4. Jg., 1921, Nr.4 (4.1.1921). Auf Widerspruch stieß vor allem ihre Abkanzelung des Proletarischen Theaters von Erwin Piscator und Hermann Schüller. Vgl. dazu die Artikel: Proletarisches Theater. (Anonym) In: Proletarier. 1. Jg., 1920/21, Nr.2, S.15f.; Julian Gumperz: Brief an die Rote Fahne. In: Die Rote Fahne, 1920, Nr. 213 (21.10.1920). Beide Texte wiederabgedruckt in: Literatur im Klassenkampf. Zur proletarisch-revolutionären Literaturtheorie 1919—1920. Eine Dokumentation. Hg. von Walter Fahnders und Martin Rector. München 1971. S.202 und S.200. — Die Satire darauf schrieb Raoul Hausmann: Puffke propagiert Proletkult. In: Die Aktion. 11. Jg., 1921, Heft 9/10, Sp. 131-134. Wiederabgedruckt in Raoul Hausmann: Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933. Bd. 1. Hg. von Michael Erlhoff. München 1982. S. 161-165. G.G.L. (Gertrud Alexander): Zur Frage der Kritik bürgerlicher Kunst. In: Die Rote Fahne. 1921, Nr. 4. Ebenfalls in: Literatur im Klassenkampf. S.88. Jost Hermand, Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik. München 1978. S. 36. Lu Märten: Der Mensch in der Mitte. In: Bergische Arbeiterstimme. 1918, Nr. 34 (9.2.1918). Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte. Berlin 1917. S.26.

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Hauptmerkmal ist eine Art >ÜbersozialismusTat< während der Räterepubliken. Diese Literaturpolitik steht in einem Spannungsfeld von politischen Kräften, denen sie nicht direkt zugerechnet werden kann. Dieses Feld kann grob zwischen Mehrheitssozialdemokratie, USPD, Spartakus/KPD und syndikalistischer Orientierung, die seit 1920 die Aktion Pfemferts bot, abgesteckt werden - bis auf die SPD ein Spektrum linker Kräfte. Dies bleibt auch bestimmend für das, was man die Literaturpolitik der KPD nach 1920 nennen darf. Zu einer »führenden Rolle der Partei«, womit die richtungweisende Literaturgeschichtsschreibung in der DDR die Kulturpolitik der KPD erfassen will, kam es erst in den Jahren nach 1928. Schon gegen Ende des Weltkriegs waren die hoffnungsschwangeren Welterlösungsprogramme expressionistischer Dichter und Künstler erschienen. Ihr Ideengehalt geht vielfach auf die Zeit vor 1914 zurück: gegen den autoritär knechtenden Zwang der Väter und Militärs, gegen den Kapitalismus in seinen menschenvernichtenden Auswüchsen, gegen die Verbürgerlichung der sozialistischen Funktionäre. Gegen all das rief man eine tief im Innern des Menschen revoltierende Gewalt an. Die ewige Revolte - sie hatte 1918 offenbar auf die Massen der Entrechteten übergegriffen - würde sich entladen und in eine neue Gemeinschaft überführen. Deshalb rief der Dichter zur »Politik«. Sein positives Programm faßt Jost Hermand so zusammen:25 Im Gegensatz zur Schärfe ihrer Kritik waren jedoch viele Vertreter dieser Richtung in ihren positiven Zielsetzungen häufig im Bereich des Unklaren, Verschwommenen, auch Romantisch-Utopischen geblieben. Auf diesem Sektor hatte man sich meist mit einem hochgespannten Subjektivismus, einer ekstatischen Naturschwärmerei, einem Kult der Intensität und einer leidenschaftlichen Simultaneitätsgebärde begnügt - und damit Utopien gefördert, die ideologisch auf den Überhaupt-Staat, die Überhaupt-Kultur oder den Überhaupt-Menschen hinausliefen.

Diese Politik verstand sich selbst als eine Politik des »Geistes«. Eines ihrer meist beachteten Manifeste, Der Mensch in der Mitte, schrieb Ludwig Rubiner. Es erschien 1917 im Verlag der Aktion und fand in Lu Märten eine begeisterte Anhängerin. Ihre oben schon erwähnte Rezension des Buches erschien in der sozialdemokratischen Lokalpresse. Sie verlangte, »dem Geist im eigenen Hause Raum zu geben«, und machte sich ganz Rubiners Programm zu eigen, daß der Künstler zum Politiker werde. »>Es gilt, daß wir schreiten — es gilt die Bewegung.< — Es gilt, daß nicht gleichgültig ist, wer mitschreitet und wie mitgeschritten wird; es gilt, daß der Dichter, der Denker, der Künstler — Politiker werde. Es gilt, daß die Durchdringung: Geist heiße.« 26 Die Anlehnung an die »Politik des Geistigen« geschieht bis in die Sprachführung hinein, das ekstatische Vokabular fehlt ebensowenig wie der Stakkatorhythmus der Sätze und Satzfragmente. 25 26

JostHermand, FrankTrommler: Die Kultur der Weimarer Republik. München 1978. S. 36. Lu Märten: Der Mensch in der Mitte. In: Bergische Arbeiterstimme. 1918, Nr. 34 (9.2.1918).

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Für Rubiner gehörte der Dichter bzw. »Geistige« zu denen, »die nicht warten können«. In ihm sei das »Chaos der Welt«, ein Aufrüttler sei er, kein Erzieher. »Man nennt das moralische Wirkung.« 27 Er, der »Geistige«, werde sich mit seinen Kameraden zur Bruderschaft zusammenschließen, mit dem »Auswurf der Großstadt«. 28 In diesem Kontext steht Rubiners Zurückweisung des Marxismus: »Die marxistische (Evolutions-) Genügsamkeit, daß die Zivilisation des 19. Jahrhunderts einmal allen verfügbar sein muß - ist eine Überschätzung dieser Zivilisation. Worauf wir warten? Zuerst auf die menschliche Gemeinschaft!« 29 Diese stellte er sich nach den neutestamentlichen Vorbildern der Speisung zu Kanaan und des Pfingstfestes vor: »Wir sind unbelehrbar über den Fortschritt [...]. Wir glauben an das Wunder [...] an eine ewige Sättigung in einem Moment.« 30 An dieser Stelle fühlte sich Lu Märten verpflichtet, Einspruch zu erheben. Sie tat dies nach zwei Seiten: als Zugeständnis und Mahnung an die Sozialdemokratie, den Glauben an den Menschen und die Gemeinschaft ernstzunehmen, und als Appell an Rubiner, den »wahren« Marx zu erkennen. »Seit wann ist Marx nur der romantische Evolutionstheoretiker. [...] Ist nicht durch ihn, durch seine kolossal durchgeführte Dialektik [...] Geist in die Nur-Politik gekommen? Sein Testament harrt der Entzauberung nach seinem eigenen Willen.«31 Die Rubiner-Rezension wollte das aktivistische Politikverständnis zur SPD hin und mit Marx vermitteln. Der Artikel Sozialismus und Künstler, der 1918 im USPD-Organ Die Freiheit erschien, ist ausdrücklich als eine Stellungnahme »im Namen der seit jeher sozialistisch denkenden Künstler« deklariert. 32 Von den neuen intellektuellen Mitläufern setzte er sich ab. Er bekundete, anders als die Rubiner-Rezension, unbedingtes Staatsvertrauen und plädierte für die Berücksichtigung der Künstler bei der Leitung des Städtebaus, der Produktgestaltung und des Produktionsprozesses in den Institutionen des »neuen Volksstaates«. Gewerkschaftliche Forderungen nach einer Hebung der sozialen Sicherheit für Künstler stehen neben utopisch-romantischen Plädoyers, »daß Kunst und völkisches Lebensbedürfnis zusammengehören«, 33 und sind genausowenig »marxistisch« wie Forderungen aus der pluralistischen Novembergruppe nach einer Zusammenführung von »Kunst und Volk« sowie danach, »bei allen Aufgaben der Baukunst als einer öffentlichen Angelegenheit« hinzugezogen zu werden, an der »Kunstgesetzgebung« mitzuwirken, die Neugestaltung von »Kunstschulen« durchzusetzen. 34 27 28 29 30 31 32

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Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte. Berlin 1917. S.26. Ludwig Rubiner, ebd., S.19. Ludwig Rubiner, ebd., S.26. Ludwig Rubiner, ebd., S.19. Lu Märten: Der Mensch in der Mitte. Lu Märten: Sozialismus und Künstler. In: Die Freiheit. 1919, Nr. 21. Wiederabgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S. 34. Lu Märten: Sozialismus und Künstler. In Lu Märten: Formen für den Alltag. S.37. Das im Zeitungsabdruck erscheinende »völkisch« ist hier nicht in den Text aufgenommen. Jost Hermand, Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik. S.360. Vgl. auch: Manifeste, Manifeste. Hg. von Dieter Schmidt. Dresden 1964. S. 156.

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Ob man Lu Martens Mitarbeit am Feuilleton der Roten Fahne und an der Jugend-Internationale als einen »Übertritt« von der SPD zur KPD, motiviert vom Bedürfnis nach einer gemeinsamen materialistischen Grundlage von Politik und Kunst 35 , anzusehen hat, ist zweifelhaft. Gewiß ist, daß sie sich schon innerhalb der USPD gegen die »alte Sozialdemokratie« wandte und bereits die »Genialität der Dialektik Marxens« neu entdecken wollte;36 gewiß ist auch, daß sie wie fast alle linken Expressionisten die KPD als Botschafterin einer neuen Kultur ansah, als Vertreterin der breiten, unzufriedenen Massen und als Feld, in dem auf deutsche Weise das initiiert werden konnte, was aus dem revolutionären Rußland über den Proletkult bekannt geworden war. Sicher ist nicht zuletzt, daß sie in den Reihen der Mitarbeiter der deutschen kommunistischen Presse die erste ist, die innerhalb der ästhetischen Problematik der Zeit Marx auf dem Gebiet der Kunsttheorie anwenden will. Es liegt nahe, daß Lu Märtens anfängliche Mitarbeit an der Roten Fahne unter dem Zugzwang ihrer vorherigen Parteinahme für aktivistisch-expressionistische Positionen in der USPD-Presse stand. Gleichzeitig blieb sie ihren Aktivitäten für die Organisierung der bildenden Künstler in den Novemberbewegungen verpflichtet. In diesem Zusammenhang verweist Lu Märten in ihren Erinnerungen auf weitere Bekanntschaften mit produzierenden Künstlern, unter anderen mit Hannah Hoch und Raoul Hausmann. 37 Sie blieben offenbar auf die Jahre um 1920 beschränkt, in denen sie auch den Herausgeber der Zeitschrift Der Mitmensch, Arthur Seehof, kennenlernte, der neben Ludwig Rubiner, Franz Pfemfert und Walther Rilla unter dem Stichwort Proletkult in Deutschland Anatolij Lunacarskij bekannt machte. 38 Lu Märten machte die Bekanntschaft Bechers in eben diesen Jahren, die für ihn den Weg zum Kommunismus vorzeichneten und von Selbstzweifeln und persönlichen Krisen begleitet waren. 39 Auch mit Alfred Sauermann, der als Dada-Nachahmer gilt, pflegte sie in dieser Zeit freundschaftlichen Umgang. 40 Berücksichtigt man diese personellen Konstellationen, dann wurde Lu Märten durch eine Provokation dazu ermutigt, »materialistisch«-grundsätzlich zu argu35

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Bärbel Schräder: Aufbruch in ein neues Zeitalter. S. 112. Die gesamte bisherige Literatur zu Lu Märten unterstellt auch kein spezifisches Motiv. Es heißt durchweg, sie habe »frühzeitige Konsequenzen« gezogen. Lu Märten: Der Mensch in der Mitte. - Lu Märten: Sozialismus und Künstler. In: Märten, Formen für den Alltag. S.36. Lu Märten: Autobiographie. S. 118 und S. 125. Lu Märten, ebd., S. 118. Zu Seehofs Artikeln über Lunacarskij und seiner Publikationspolitik zu dessen Gunsten vgl. Dora Angres: Die Beziehungen Lunaiarskijs zur deutschen Literatur. (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur, 43. Reihe C. Beiträge zur Literaturwissenschaft.) Berlin 1970. S . 5 1 - 5 3 . Davon geben auch drei Briefe Bechers an Lu Märten Zeugnis, und zwar vom 7.3.1920, vom 24.4.1920 und vom 7.3.1921. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 34. Drei Briefe Sauermanns an Lu Märten von 1919 und 1920 finden sich im Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Während dieser Zeit benannte er seine »Groteske Kunst-Buchhandlung« in »Proletkult, Abteilung: Buchhandlung« um. Vgl. Angaben zu Sauermann in: Tendenzen der Zwanziger Jahre. Ausstellungskatalog. Berlin 1977. 3/189.

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mentieren und gleichzeitig die jüngste Avantgarde in ihre Ausführungen positiv zu integrieren: durch die schockierte Abwehr der Dada-Bewegung von Gertrud Alexander in der Roten Fahne. Inwieweit Lu Märten dazu gelangte, die ästhetischen Energien, die sich mit dem Programm der Antikunst destruktiv entluden, in ihrer materialistischen Betrachtung treffend zu erfassen, soll im folgenden auf dem Hintergrund dieser Bewegung und der parteipolitischen Reaktionen auf sie untersucht werden. Dada tauchte, nach Zürich und New York, 1918 in Berlin auf. Im Saal der neuen Sezession hielt Richard Huelsenbeck im Februar seine Erste Dada-Rede in Deutschland: Sympathie für die Züricher um Hugo Ball wechselte in seinen Bekundungen mit wütenden Ausfällen gegen den Expressionismus, Kubismus und die abstrakte Kunst ab. Danach bildete sich der CLUB DADA. Raoul Hausmann war dabei, Johannes Baader erklärte sich bald zum Oberdada und zum Präsidenten des Erdballs, Herzfelde und Heartfield, welche die »Parteilinie« konsequent im Geiste Dadas vertraten, gehörten von Anfang an dazu, Kurt Schwitters hingegen, der sich um die Aufnahme beworben hatte, wurde abgelehnt. Man veranstaltete handgreifliche Soireen nach futuristischem Vorbild. Das Manifest als literarischer Ausdruck der Bewegung entsprach dieser geistigen Haltung: Man wollte sich Gegner schaffen, das brachte Reklame, den »künstlerischen« Ausdruck der Zeit. Man liebte das Amerikanische, bekannte sich zum kommerziellen Rummel und hielt eine bedeutende Fahne hoch: die gegen die Abstrakten. Dada war die Antikunst. Aber Dada-Berlin stand auch auf der Seite der Revolution. Erfolg schien dabei dem spießerfeindlichen, gegen das »Gesicht der herrschenden Klasse« (George Grosz) gerichteten Populismus beschieden gewesen zu sein. Einer Erinnerung Walter Mehrings zufolge sprachen die Bewohner des Nordens von Berlin auf die elementare Mischung von Kommerz und Karneval an. Er berichtet über den Werbefeldzug für die Dada-Zeitschrift Jedermann sein eigener Fußball: Die Truppe hatte sich wie bei einem Veteranenbegräbnis mit schwarzen Gehröcken und Zylindern angezogen, Zeitungspacken statt der Kränze im Arm: 41 Hatten wir im mondänen Westen mehr Spott als Kauflust erzielt, stieg unser Absatz rapide, je weiter wir in den Berliner Norden und Osten der Kleinbürger- und Arbeiterviertel vordrangen. Auf den Chausseen müllgrauer Mietskasernen, zersiebt noch von den Maschinengewehrsalven der Spartakuskämpfe und aufgeschlitzt von den Haubitzen des Noske-Regimes, wurde das Blechorchester [ . . . ] mit Jubel begrüßt, mit Beifall überschüttet. Nach den Kannibalentänzen des Kapp-Putsches, possierlicher als Sophie Taeubers Marionetten, nach den danses macabres der Stahlhelmer und ihrer Swastikaornamente, die Hans Arps Heraldik entsprungen schienen, löste unser Dadafaschingszug eine Freudigkeit aus, so spontan wie das >On y danse< des Pariser Pöbels vor der Bastille [...]. Und das Jedermann sein eigener Fußball!< ging als stehende Redensart zur Verhohnepipelung des Obrigkeitshumbugs in den Berliner Volksmund über, ja, schien auf dem besten Wege, ein Verkaufsschlager zu werden, wären wir nicht auf dem Rückweg bei einem Ständchen, das wir den Regierungssitzen der Wilhelmstraße brachten, arretiert und aufgeschrieben worden. 41

Walter Mehring. Zit. nach Hans Richter: D A D A . Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Köln 31973. S. 113/114.

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Diese Auflösung der Kunst »ins Leben« basierte auf einem Lebensgefühl zwischen Revolte und Karneval und verbreitete sich mit dem gesellschaftlichen Chaos des Bürgerkriegs. Insofern war sie, auf die Sensationslust des Publikums spekulierend, realitätsgerecht. Gleichzeitig wurden ästhetizistische Züge gepflegt, und soweit dabei Reklame zum Vorbild der Kunst wurde, schlich sich hinterrücks die Stilisierung zu einem Dada-Genie ein. Der Ästhetizismus aber trat vor der künstlerisch-technischen Erfindung zurück, die zu Recht mit Dada zusammen genannt wird, auch wenn sie schon vor Dada >erfunden< war, der Montage. Einem größeren Berliner Publikum wurden die Montage und ihr Grundsatz 1920 auf der Ersten Internationalen Dada-Messe in der Kunsthandlung R. Otto Burchard vorgestellt. Wieland Herzfelde hatte die Einführung verfaßt: 42 Die Dadaisten sagen: Wenn früher Unmengen von Zeit, Liebe und Anstrengung auf das Malen eines Körpers, einer Blume, eines Hutes, eines Schlagschattens usw. verwandt wurden, so brauchen wir nur die Schere zu nehmen und uns unter den Malereien, photographischen Darstellungen all dieser Dinge ausschneiden, was wir brauchen; handelt es sich um Dinge geringeren Umfanges, so brauchen wir auch gar nicht Darstellungen, sondern nehmen die Gegenstände selbst, z.B. Taschenmesser, Aschenbecher, Bücher etc., lauter Sachen, die in den Museen alter Kunst recht schön gemalt sind, aber eben doch nur gemalt.

Bei der Montage handelt es sich darum, die Authentizität wieder ins Recht zu setzen, welche die ungegenständliche Malerei in Reaktion auf Photographie und Film aufgegeben hatte. Dada machte, auch in den Lautgedichten und Saalschlachten, filmische Elemente auf dem Gebiet der »heiligen Kunst« (Max Ernst) geltend. Das war nicht nur ästhetisch, sondern auch antihierarchisch motiviert. Jeder sollte Bilder herstellen können. 43 Die Dadaisten [ . . . ] sagen, Bilder herstellen ist keine Wichtigkeit, wenn es aber geschieht, so soll wenigstens kein Machtstandpunkt aufgezogen werden, so soll den breiten Massen die Lust an gestaltender Beschäftigung nicht durch die fachmännische Arroganz einer hochmütigen Gilde verdorben werden. [ . . . ] An sich ist jedes Erzeugnis dadaistisch, das unbeeinflußt, unbekümmert um öffentliche Instanzen und Wertbegriffe hergestellt wird, sofern das Darstellende illusionsfeindlich, aus dem Bedürfnis heraus arbeitet, die gegenwärtige Welt, die sich offenbar in Auflösung, in einer Metamorphose befindet, zersetzend weiterzutreiben. [ . . . ] Die Dadaisten rechnen es sich als Verdienst an, Vorkämpfer des Dilettantismus zu sein [ . . . ] .

Auch Harry Graf Kessler, einer der frühen Förderer Dadas, notierte diese Tendenz, diese Abneigung Herzfeldes gegen reine Kunst, etwa die Bechers und Däublers: »Was George Grosz und Wieland machten, sei zwar Kunst, aber sozusagen nur nebenbei. Die Hauptsache sei der Puls der Zeit [...], in der sie mitschwinge.« 44 Und der Kunstkritiker des USPD-Organs Freiheit, Adolf Behne, be42

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Wieland Herzfelde: Zur Einführung in die Erste Internationale Dada-Messe. 1920. Katalog der Ersten Internationalen Dada-Messe. Kunsthandlung R. Otto Burchard. Berlin (Malik Verlag, Abt. Dada) 1920. Wiederabgedruckt in: John Heartfield: Ein Schnitt entlang der Zeit. Selbstzeugnisse Erinnerungen Interpretationen. Eine Dokumentation. Hg. von Roland März. Dresden 1981. S.41. W. Herzfelde, ebd., S.41/42. Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937. Hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt/ M. 1961. S. 161.

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merkte, daß der neuangewandten Montagetechnik eine revolutionäre Tendenz innewohnt, »eine unheimliche Spannung [...] und [...] fraglos eine starke Bereicherung für unsere Malereien, [...] eine Fülle wichtiger Anregungen — nicht zuletzt für den Film, dessen Zukunft ich mir überhaupt sehr dadaistisch vorstelle.« 45 Populismus, Montage, Dilettantismus, Verwertung der Sensation im Sinne der Filmwahrnehmung — diese ästhetische Seite von Dada stand in einem inneren Zusammenhang mit der sozialen, revolutionären Gärung im zeitgenössischen Deutschland. Die Dada-Messe im Kunstsalon Burchard war der Kritikerin der Roten Fahne, Alexander, immerhin wichtig genug, das Proletariat davor zu warnen. In ihrem Bericht über die Ausstellung entwarf sie ein sehr plastisches Bild des Gesamteindrucks, erkannte aber weder die Technik der Montage noch die Verwertung des Authentischen als konstruktives Prinzip bei der Destruktion des Überlieferten. Doch dafür erblickte Gertrud Alexander eine »Frechheit« darin, »wenn eine Reproduktion der >Mona Lisa< Leonardos und der >Flora< des Botticelli mit unflätigen Worten überschmiert neben Dadaproduktionen hängen [...] muß«. 46 Gertrud Alexander machte Dada als Teil der bürgerlichen »Dekadenz« aus: »Man könnte Dada abtun mit Größenwahn und ihn ins Pathologische versetzen, wenn diese Dinge nicht so lächerlich klein, winzig und armselig belanglos wären neben dem gewaltigen Befreiungskampf des Proletariats, in dem allein es ernst ist mit der Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft. Das Proletariat wird diesen Kampf führen und gewinnen auch ohne den Extrafeldzug gegen Kunst und Kultur, den eine bürgerliche Literatenclique unternimmt. Es hat kein Verständnis für derartige Perversitäten [.. .].«47 Auch warnte sie vor Behnes Tendenzbestimmungen, die ihr besonders gefährlich erschienen. Und dem Proletariat empfahl sie »das Schöne« »aus vergangenen besseren Tagen der Bourgeoisie [...], das Menschen hervorgebracht, nicht minder revolutionär vielleicht als der Arbeiter-Revolutionär von heute«. 48 Lu Märtens einen Monat später in der Roten Fahne erscheinender Artikel Geschichte, Satyre, Dada und Weiteres stellt unzweifelhaft eine Replik auf Gertrud Alexanders moralisierende Warnung vor Dada dar, obwohl deren Schelte mit keinem Wort erwähnt wird. Daß man Lu Märten der Länge ihres Beitrags wegen sogar eine Fortsetzung zugestand, zeigt, wie wenig dem Diktum Alexanders in der Roten Fahne uneingeschränkte Geltung zukam. In ihrem Artikel machte Lu Märten mehrere Vorschläge, unter welchen Gesichtspunkten Dada als »Zeiterscheinung« begriffen, und das hieß in diesem Fall auch: von den Lesern der Roten Fahne akzeptiert werden könne. Vermittelnd wirkte sie schon vorweg, indem sie Dada als »Satyre« einstufte, was freilich nur 45

46

47 48

Adolf Behne: Dada. 1920. In: Die Freiheit. Berlin, 9.7.1920. Ebenfalls in: Heartfield, Ein Schnitt. S.45. G.G.L. (Gertrud Alexander): Dada (Ausstellung am Lützowufer 13, Kunstsalon Burchard). In: Die Rote Fahne, Nr. 139 (25.7.1920). Beilage. In: Ebd., S.46. G.G.L., ebd.. G.G.L., ebd., S.47.

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einen Aspekt der Bewegung erfaßte. Am ausgeprägtesten vertrat ihn in der Frühzeit Dadas George Grosz mit seinen bitteren wie obszönen satirischen Zeichnungen. Doch auf Details verwies Lu Märten hier nicht. Sie gab einen historischen Überblick über das »Wesen« der Satire — was ihr den Blick auf das technisch Neue an Dada verstellte. So blieb ihre Bestimmung Dadas als »Zeiterscheinung« wohlwollend, doch geriet das Raster der kunstkritischen Einordnung zu grob. Dennoch spürte sie Dadas Tendenz zum Authentischen auf. Ihre Antwort auf Gertrud Alexanders Berührungsangst vor »Schmutz« und »Dekadenz« lautet: 49 Der Dadaismus ist Zeiterscheinung, ist keine bloße Erfindung; was er mit bestimmten Mitteln satyrisch versucht, stellt sich sonderbar genug auch auf nicht dadaistisch signiertem Gebiet dar. Es ist: daß nicht mehr irgendein Mittel, geschweige denn Kunst nötig erscheint, um die Satyre oder die Karikatur vorzustellen, kein geistiger Körper, der den Stoff noch in die satyrische Dialektik zu übertragen nötig hätte, sondern daß Zeit und Gesellschaft, der materielle Körper des Kapitalismus in allen Dingen — an sich und selbst Satyre ist. Es ist die einfache Reproduktion des gegebenen Zustandes - und ich weise auf das eben in München erschienene Buch >Die KloakeKunstKunstHeldenGeistewige< Kreiskurve und wurde Ausgangspunkt zu einer neuen. Damit zerstörte sie eine Unzahl von Formen und Fähigkeiten, und zugleich schuf sie auf einer

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Arbeitslied. [...] Es war auf diese Weise ein Organisationsmittel der kollektiven Anstrengungen. Dieselbe Bedeutung hat es bis jetzt behalten.« A. Bogdanov: Was ist proletarische Dichtung? In: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung. 2. Jg., 1972, Heft 5/6, S.76. Bogdanovs Broschüre erschien zuerst russisch 1918; von 1919 bis 1921 erschien sie mehrfach, auch auszugsweise, deutsch: Die Kunst und das Proletariat. Berlin 1919; Was ist proletarische Poesie? In: Russische Korrespondenz. 1 Jg., 1920, Nr. 2, S. 447—453; eine gekürzte Fassung erschien 1921 in der Aktion. Lu Märten: Wesen und Veränderung. 1924. S. 47/48. Lu Märten, ebd., S.48. Lu Märten: Einiges Historisches über Musik. S.75. Lu Märten: Wesen und Veränderung. 1924. S. 48/49.

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neuen technischen Basis [ . . . ] die Fähigkeit intellektueller Kombination der Musik, [ . . . ] dem vagesten, unsinnlichsten, scheinbar abstraktesten Wesen [...]. Diese intellektuelle Kombination geschah nicht über das Erfinden [ . . . ] der Instrumente allein, aber die Vervollkommnung einzelner Instrumente (Orgelversuche) mußte [ . . . ] zu einer intellektuellen Klarheit, Wissenschaft theoretischer Natur, zur Findung und Gesetzgebung polyphonischer Musikwesen (Kontrapunkt) führen.

Als exemplarisch für diesen Vorgang verweist Lu Märten auf die britische Kulturund Wirtschaftsgeschichte. Die Metallurgie in Wales habe den Gebrauch des Blasebalgs zur ökonomischen Voraussetzung gehabt; er sei eine technische Voraussetzung der genauen Reproduktion eines Tones auf der Orgel gewesen; dies habe zum Wissen des Kontrapunkts geführt, der dann die Basis für weitere Kompositionen abgegeben habe. 13 Von hier aus zieht Lu Märten die historische Linie über Bach, der mit der Fuge einen ersten Höhepunkt der reinen Musik geschaffen habe, zu Beethoven. Er habe die bis dahin getrennt geschaffenen »einzelnen Gefühlselemente aller bisherigen Musik synthetisch und organisch verbinden können«, 14 weil er den Flügel als höchstes differenzierendes Instrument für seine Komposition zur Verfügung gehabt habe. Damit betrachtet Lu Märten die Musikentwicklung als prinzipiell abgeschlossen. Eine Ausnahme bilde noch Hugo Wolf, der die Vokalmusik zu einem der Instrumentalmusik gleichwertigen Höhepunkt geführt habe, indem er die lyrische Form der musikalischen integrierte. Seit Richard Strauss und Gustav Mahler gebe es keine großen Kompositionen mehr, denn die Instrumente verschlössen sich den jenseits der Tonalität entdeckten Tönen. Wenn so das Material selbst zum Gegenstand der Form werde — eine analoge Entwicklung bemerkte Lu Märten in der Malerei —, so könne solcher Fortschritt der reinen Form nur mit der Erfindung neuer Instrumente das Hörvermögen adäquat entwickeln. »Woher könnten diese neuen Instrumente kommen? Die Frage nach der weiteren [Entwicklung der Musik] führt also wieder auf eine materielle technische Frage.«15 Anders als bei den übrigen Kunstgattungen ließ Lu Märten eine Erweiterung der Musik durch die Integration einer anderen Gattung und damit deren utilitäre Anwendung als »neue Form« nicht zu.16 Das »Wesen« der Musik, »die begrifflose Empfindung«, 17 soll eben ihren Zweck in sich selbst behalten. Immer wieder führt Lu Märten dieses Form/Material-Spezifikum an, um die Gleichgültigkeit der ästhetischen Formen gegen Forderungen an ihren Inhalt zu demonstrie13 14 15 16

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Lu Märten, ebd., S.54. Lu Märten, ebd., S.59. Lu Märten, ebd., S.67/68. Sie verwarf schon die Oper als eine unzulässige Mischform. Selbst für Richard Wagners Ideen des Gesamtkunstwerks hatte sie, von Seiten der musikalischen Neuerung betrachtet, kein Verständnis. Lu Märten: Einiges Historisches über Musik. S.76. Die Bestimmung scheint Hegels Terminologie zu entspringen, der in der Musik »die für sich gestaltlose Empfindung« ausmachte; »die geistige Subjektivität in ihrer unmittelbaren, subjektiven Einheit in sich, das menschliche Gemüt, die Empfindung als solche« bilde den Gehalt der Musik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke Bd. 14. Frankfurt/M. 1970. S. 261.

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ren. 18 In diesem Fall steht die bürgerliche »reine Form« einer künftigen klassenlosen am nächsten. 19 Das Problem einer klassenspezifischen Rezeptionsfähigkeit stellt sich Lu Märten nicht. Und die Frage einer arbeitsteiligen Ausgrenzung der Musik aus den industriellen Produktions- und Lebenszusammenhängen ist auf den Bereich der Künste verschoben, zu denen das Vermögen der allgemeinen werklichen Fähigkeiten gehört. Mit der Ontologisierung eines »Wesens« der Musik demonstriert sie aber, daß sich das Material (die Töne) über die Technik (das Instrument) emanzipiert; ihre Zwecke (die vom Verstand unabhängigen Empfindungen) bilden dabei den einzigen Maßstab für die Qualität. Material, Technik und Zweck sind auch die Schlüsselbegriffe bei der Behandlung der Architektur. Hatte es Lu Märten in der Musikentwicklung noch mit einer abgeleiteten Technik zu tun, so kann sie dagegen bei der Behandlung der Architektur die gesellschaftlichen Produktionstechniken mit den ästhetischen Entwürfen und Ausführungen ohne weiteres gleichsetzen. Sobald es seßhafte Gesellschaften gebe, sei die Behausung Teil der Reproduktion und Lebenszweck, »Vitalität«, die zum Instrumentegebrauch und zum Formschaffen herausfordere. Nach weiteren Spezifizierungen, unter welchen klimatischen und geographischen Umständen welches Material bevorzugt wird, kommt Lu Märten auf die tragende These ihrer Formkonzeption: Das Handwerk sei eine Kunst und Arbeit vereinigende Instrumentenbeherrschung kollektiver Art gewesen, deren integrale Bestandteile sowohl die berechnende Planung als auch die Phantasie waren. Das herausragende Beispiel dafür sei die mittelalterliche Baukunst, die Gotik mit ihren Kathedralen und der Arbeitsorganisation, durch welche sie entstanden sei, die Bauhütte: 20 Die Gotik als neue Bauweise, die im Gegensatz zum antiken und romanischen Schema die Verteilung der Lasten und Kräfte nicht in der Betonung der horizontalen Konstruktionsträger unternimmt, sondern immer ausschließlicher in einer vertikalen, durch die Konstruktion des Strebepfeilers ermöglichten, entstammt dem kollektiven Zusammenströmen der neuen handwerklichen Kräfte auf germanischem Boden und entscheidet ihre Form durch die Anwendung neuer konstruktiver Erfindungen. [ . . . ] Aus [ . . . ] einer neuen Lösung der Spann- und Druckverhältnisse der Baulasten durch den Strebepfeiler entsteht die gotische Form. [ . . . ] Handwerk und Technik schaffen also die Grundlage einer Er18

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Lu Märten, ebd., S.76 und S.78. Rückblickend schrieb sie über Wesen und Veränderung·. »Polemisch bin ich allerdings da, wo ich die philosophisch-logischen Unverständnisse über die einzelnen Ausdrucksformen sehe. Z.B. den Unsinn, daß man mit oder in der Musik Weltanschauungen oder Verstandesinhalte ausdrücken könnte, [ . . . ] in der reinen tonalen Musik.» Lu Märten: Abschrift eines Briefes an Prof. Tomaszewski. S.3. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 1. Dies steht Adornos Gedanken einer Antizipation gesellschaftlicher Versöhnung durch das autonome, auf Geschlossenheit verzichtende Werk diametral entgegen, da Lu Märten keine qualitative Differenz etwa zwischen Bach und Mahler sieht. Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Reinbek 1968. S.230. »Als Totalität bezieht jedes Werk Stellung zur Gesellschaft und antezipiert, durch seine Synthesis, die Versöhnung.« Lu Märten: Wesen und Veränderung. 1924. S. 137.

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scheinung, die nun eine überragende Möglichkeit und Ausdeutungsfähigkeit gewinnt, deren Wände und Säulen nun nicht mehr die Lasten tragen und nun durchbrochen und geschmückt werden können.

Dieser vom mittelalterlichen Handwerk bezogene methodische Grundsatz Lu Märtens ist deutlich gegen die gängige Kulturgeschichte abgesetzt, welche die epochalen Formen aus Ideen abzuleiten pflegt, und gegen den gängigen Soziologismus, der die »klassischen« Formen der aufsteigenden, die manirierten Gestaltungen hingegen einer dekadenten herrschenden Klasse anlastet. »Der politische und soziale Gehalt einer jeweiligen Zeit ist [...] für die Entstehung einer Sache als Form und Kunst nicht ausreichend. Die Formen [...] bestimmen sich in erster Linie aus dem Arbeitsboden, aus dem Grade und dem Vermögen, die Handwerk und Technik erreicht haben. Wie weder ein religiöses noch politisches Ethos sie schaffen kann, so kann andererseits eine gleichgültige banausische oder lasterhafte Gesellschaft sie nicht verhindern.« 21 Aber das mittelalterliche Handwerk, das die Einheit von Kunst und Arbeit, von Kunst und neuer Technik veranschaulichen soll, erweist sich unter der Hand als geheimes Gegenbild seines Verfalls im Maschinenzeitalter. Dies kommt wiederholt zum Vorschein, etwa in der Annahme über das Entstehen qualitativer Baukunst — »qualifizierter Formen« — bis hin zur klassizistischen Architektur: 23 Der kunstlose wie der gelehrte oder künstlerische Bau bis dahin beweist sich aus dem Geiste des alten Handwerks und seiner Traditionen, indem die Material- wie Qualitätsgesetze noch immer lebendig erscheinen. Die völlige Auflösung alles dessen dagegen und das bauliche Unvermögen, den Bau, der auch dann nicht Kunstwerk ist, wenn er es ganz bewußt sein soll, sehen wir zu Ende des 18. Jahrhunderts und weiter; eine Erscheinung, die zusammenfällt mit dem restlosen Verluste handwerklichen Könnens und dem sozialen Werte des Materials, dem Maschinenzeitalter. Es bedeutet den wirklichen Verfall der Künste.

Die Insistenz auf diesem Dualismus ist nicht zuletzt deshalb gerechtfertigt, weil er in der Theorie Lu Märtens zwingend gefordert wird. Denn aus ihm heraus formuliert sie den methodischen Grundgedanken als Ergänzung dessen, was Karl Marx in bezug auf die unmittelbare Produktion dargelegt hat: Nur aus der Auflösung des alten Handwerks werde das Formproblem als eines der Arbeit und der Kunst begreiflich. »Man kann für diesen Vorgang, der sich von Anfang der Manufaktur, des Teilarbeitsprinzips, bis zur ersten Maschinenanwendung abspielt, sehr richtig den gesellschaftlich-politischen Drang interessierter Klassen nach Mehrproduktion, nach schrankenloser Verwertung der Produkte anführen (siehe Marx im Kapitel über die Manufaktur); aber das Formproblem und der Verlust allgemein sinnlicher Fähigkeiten wird näher und schärfer deutlich, wenn man sich den Verlust der ursprünglich von Hand, Herz und Gehirn erworbenen Kräfte des Menschen [...] klarmacht.« 24 21 22 23 24

Lu Lu Lu Lu

Märten, Märten, Märten, Märten,

ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. 139/40. S. 139. S. 141. S. 134.

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Daß Ruskins Formel noch in Lu Märtens methodischem Grundsatz zum Tragen kommt, läßt erkennen, wie weitgehend der ästhetische Aufbruch von 1900 auf den zeitgenössischen Marxismus Einfluß nahm. Heinrich Vogelers Wendung zum Kommunismus ist durch ihn bestimmt, 25 und auch Franz Seiwert, der herausragende Konstruktivist der Kölner Progressiven, der Lu Märtens Buch in der Aktion besprechen wird, teilt ihn. Vom theoretischen Konzept her gesehen wird Lu Märten damit zu einem Fall William Morris zwischen deutscher Sozialdemokratie und deutschem Kommunismus. Für Morris war das Mittelalter nicht mehr nur wie bei Ruskin ein Kunstideal, sondern er sah es wegen seiner vorbildlichen, mit Arbeitsfreude harmonierenden Werkorganisation als Weg zum sozialen Glück an. 26 Lu Märten zufolge sollen die künftigen »klassenlosen Formen« mit der Aufhebung des Prinzips der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine neue Einheit von Arbeit und Kunst, werklichem Geschick und kollektivem ästhetischen Vermögen verwirklichen. Die »freie Arbeit« 27 in der mittelalterlichen Bauhütte fungiert als Vorbild für eine künftige proletarische Bauhütte und Gotik; das hätte vor allem die Planung und Leitung sowie die freie Selbstverwirklichung eines jeden bei seiner Arbeit berühren sollen, wie der Vergleich zeigt, daß sich mit dem gotischen Kathedralenbau »eine besondere Art von >Proletkult< verwirklichte, insofern nicht die Diktatur des Unternehmers [also des Bauherrn, C.K.] ihren Ausdruck bestimmt, sondern im Chor der Dinge die Stimme des einzelnen Arbeiters frei sich fügend mitklingt, besonders da, wo die mittelalterliche Arbeiterzunft selbst den Bau stiftet und leitet.« 28 Doch nicht allein die Ausrichtung auf die Arbeiterbewegung stellt Lu Märtens Soziologie der Künste neben Morris' Mittelalterutopie. Gemeinsam ist beiden auch die Vision eines technisch-harmonischen Gesamtstils. Schon in ihrer frühen Rezension von Ruskins Schriften hatte Lu Märten den Mangel dieser Dimension in seinem Mittelalterbild vermerkt. Wenn sie auch 1921 noch unentschieden ließ, ob eine Rückkehr zum Handwerk für die »klassenlosen Formen« unumgänglich sei, so verwahrte sie sich doch 1924 dagegen, die Maschine »einfach aus rein 25

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Vgl. Heinrich Vogeler: Studie über Gotik vom Standpunkt des historischen Materialismus. In: Die neue Erziehung. Berlin. 7. Jg., 1925, Heft 6, S.490—495. Ebenso Vogelers Aufsatz von 1936 Die Gotik, der in der Internationalen Literatur erschien. Wiederabgedruckt in: Vogeler, Das neue Leben. Schriften zur proletarischen Kunst und Revolution. Darmstadt und Neuwied 1973. S.225ff.. - Franz W. Seiwert: Volkskunst! In: a bis z. organ der gruppe progressiver künstler. februar 1932, S.85f.. Wiederabgedruckt in: Uli Bohnen, Dirk Backes (Hg.): Der Schritt, der einmal getan wurde, wird nicht zurückgenommen. Franz W. Seiwert. Schriften. Berlin 1978. So führte Morris aus: »Of all that I have to say to you this seems to me the most important, — that our daily and necessary work, which we could not escape if we would, which we would not forego if we could, should be human, serious, and pleasureable, not machinlikely, trivial, or grievous. I call this not only the very foundation of Architecture in all senses of the word, but of happiness in all conditions of life.« William Morris: The Prospects of Architecture in Civilization. 1881. Zit. nach Gustav Fritzsche: William Morris' Sozialismus und anarchistischer Kommunismus. (Kölner Anglistische Arbeiten. Hg. von Herbert Schöffler. Bd. 3.) Leipzig 1927. S.17. Lu Märten: Wesen und Veränderung. 1924. S.137. Lu Märten, ebd., S.137.

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ästhetischen Gründen abzulehnen«. 29 Bei der Gegenüberstellung von Handwerk und Maschine läßt Lu Märten diese zu einem die Kultur neu organisierenden Faktor werden, wenn sie die Kopie historischer Bauvorlagen im 19. Jahrhundert kritisiert. In der Forderung nach dem »struktiven Maschinenstil« — »zu einer solchen Formgebung [gehört] ein bestimmtes Werkvermögen im Sinne der heutigen Technik«30 — wird die Quelle des die Kunstsoziologie tragenden Begriffs der Form sichtbar: »von England ausgehend entstand ein Bewußtsein über Formengesetze, und wir kennen es mit Namen wie Morris und Ruskin verbunden, die als Lehrer und Propagandisten die Dialektik der Form an den Produkten der alten und neuen Zeit und vorbildliche Werkstätten auf dem Gebiete des Gerätes und des Bauwesens schufen, die zum Teil die englische Industrie zur Nachahmung zwangen und ihr in diesen Dingen zu ihrem vernünftigen und ästhetisch einwandfreien Epigonenstil verhalfen.« 31 Damit ist ein Umschlagpunkt in Lu Märtens Formkonzeption erreicht: Ordnete sie den Gattungen Musik und Architektur historische Arbeitsorganisationen und Arbeitsmittel zu, um Kunstblüte oder - verfall bestimmter Epochen zu begreifen, so lenkt sie, wenn sie die Maschinenfrage im Architekturteil und weiter in den Kapiteln über die Plastik und die Malerei verfolgt, zu einer Neubestimmung angewandter Kunst über. Diese Neubestimmung setzt bei der zeitgenössischen Abstraktionstendenz in Plastik und Malerei an und führt schließlich auf den Kristallisationspunkt: eine Neukonstitution der ästhetischen Vermögen und eine ganz und gar unvorhersagbare Entgrenzung der einzelnen Kunstgattungen. Lu Märten begreift die Plastik entwicklungsgeschichtlich derart, als sei sie Resultat einer Ausgliederung aus der Architektur. Als historisches Beweisstück dient ihr die Reliefplastik. Das plastische Gestaltungsvermögen ordnet sie einem Raumsinn des Subjekts zu; die Plastik ordne den Raum immer im Verhältnis zur architektonischen Grundform der jeweiligen entwickelten Baukunst. Als Beispiel für die Realisierbarkeit der ästhetischen Utopie verweist Lu Märten wieder auf den Dombau der Gotik. Der Arbeitsprozeß der Bauhütten habe auf einer sinnvollen Kollektivität beruht und die Steinmetze mit einbegriffen. Nur ausnahmsweise seien sie aus der Anonymität als »Künstler« herausgetreten. »Das Bildwerk jener Epoche ist namenlos, ist kollektiv, ist fast nirgends signiert.«32 Wie weitgehend Lu Märten eine »namenlose Genialität« als Prinzip der Plastik selbst sehen will, verdeutlicht die entsprechende Aussage zur Renaissance: »Die großen Bildhauernamen Italiens - Michelangelo, Donatello, Lucca [...] treten relativ einsam, gering an Zahl aus den Schichten des namenlosen Werkschaffens heraus.« 33 Nur ein brei29

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Lu Märten, ebd., S. 152. In der Broschüre von 1921 heißt es noch: »Ob die ganze Frage der Wiedergeburt der Kunst, hauptsächlich der plastischen und handwerklichen, von hier aus nicht zugleich eine Wiederherstellung des Handwerks als arbeitstechnische Grundlage der Künstler wird.« S. 10. Lu Märten: Wesen und Veränderung, 1924. S. 155/56. Lu Märten, ebd., S. 154. Lu Märten, ebd., S. 181. Lu Märten, ebd., S. 183. 171

tes anonymes plastisches Gestaltungsvermögen mache überhaupt erst die ganz großen Skulpturen möglich. Den Beweis ex negativo sieht Lu Märten in der Werkgrundlage des Maschinenzeitalters. »Im ganzen Bauwesen (mit wenigen Ausnahmen) ist [die Plastik] ersetzt durch den Stuck und irgendwelche Arten von Klischeeplastik.«34 »Das Denken in Stein« nehme nämlich nicht nur im kollektiven Werkvermögen, sondern auch beim einzelnen Künstler ab. Ein Schritt aber auf die verlorene kollektive Werkgrundlage hin unter neuem Vorzeichen kündige sich im Entwurf abstrakter plastischer Formen an. Durch sie werde nämlich auf die Funktion eines »Denkens im Stein« aufmerksam gemacht, denn die Abstraktion sei wesentlich eine Reflexion auf die Möglichkeiten des Raumsinnes. 34 Die Plastik wird daher objektlos, verläßt jeden bestimmbaren Inhalt und entwickelt an Stelle dieses ihr abstrakt formales Wesen. Der plastische Expressionismus oder die absolute Plastik< ist nichts anderes als die Konsequenz einer Formbildung um der Formmittel wegen, die aber zugleich noch als >KunstWir schaffen nicht nur neue Worte der Kunstsprache, sondern eine neue Kunstsprache selbst. Das Bild als solches ist tot. Dem Dreidimensionalen ist es zu eng auf der Bildfläche. Neue Probleme fordern zu ihrer Lösung reichere technische Mittel. Schließlich wird die Notwendigkeit >Bilder< - >Kunstwerke< zu schaffen, die nur den Laien unterhalten, im besseren Falle abstoßen, kritisch bedacht.< So entsteht jene Maschinenkunst, deren Vorstufen in Picasso und Braque (1913) zu sehen sind. Die Kunst der Maschine mit ihrer Konstruktion und Logik, ihrem Rhythmus, ihren Bestandteilen [...] findet keine Art der Kunst unwürdig, jedes Material ist als Mittel dieser neuen Kunstsprache recht, und ihre neue Grammatik und Ästhetik fordern vom Künstler weitere handwerksmäßige technische Ausbildung und einen engeren Bund mit seinem mächtigen Alliierten, der Maschine. Der Suprematismus ist unter dieser Formel das letzte Wort der Kunst und ihrer revolutionär deformierenden Kraft und die erste Ahnung neuer künftiger Synthesen. Für die Gegenwart kann man die >Kunst< in Anführungsstriche setzen; das Bewußtsein ihrer ferneren Funktion schaltet den Begriff völlig aus. Er heißt Form. So werden alle Mittel und Materialien der Maschinenkunst nicht eine neue Kunstsprache und Kunst schaffen, [...] sondern Mittel, Sprachen und Materialien neuer Formen werden. In der Allianz der Formen ist die Maschine der Alliierte - weil seine Formen gleichwertig allen bisher handwerklichen=künstlerischen stehen werden. Ob die Kunstmitt'el dann noch Objekte schaffen müssen oder wollen, wird damit erst entschieden. Sehr möglich, daß sich kein Objekt ein besonderes Spiegelbild schaffen muß, kein geistiges Geschehen verkörpert werden muß, wo alles das im wirklichen Leben selbst sich darstellt, wirklich geschehen ist. Wo das letzte Wort der Kunst wichtig bleibt als das Supremat der Formen — gleichviel welcher Gattung und welchem Zweck sie dienen. Die moderne Kunst, ihr Bewußtsein, steht also konsequent auf dem Nullpunkt der Kunst. Klassenlose >Kunst< kann es da überhaupt nicht heißen, denn >Kunst< selbst ist als Luxusbegriff der Arbeit ein Klassenbegriff. Es kann also nur heißen: klassenlose Formen. Die ihrem Wesen nach klassenlosen Formen — die reinen sachlichen wie die reinen Empfindungsformen werden bestehen, und das sind architektonische, technische und plastische Formen. Andererseits musikalische, zum Teil sprachliche und zum Teil malerische Formen. Je extremer aber die letzteren auf ihr rein sachliches Material reduziert werden, [...] desto weniger werden sie neuen Empfindungsgehalten dienen. Die neuen Empfindungsgehalte werden sich in anderen Mitteln auslösen [...]. Insofern läßt sich nur berechnen, daß die Formen [...] die Überlegenheit der sonst bloß künstlerischen Form in sich einbeziehen, etwa mit dem Resultat einer vollkommen künstlerischen Kultur, nämlich einer Qualität der Formen nach Zweck und Sache und Material; und dennoch vielleicht ohne >KünsteKunstprimitive< Kunst, C.K.] mit dem Hochmut des 17

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Lu Märten: Kunst und Proletariat. In: Die Aktion. 15. Jg. 1925, Nr. 12, Sp. 663-668. Wiederabgedruckt in: alternative 89. S.54—59. Franz Radioff: Lu Märten. Wesen und Veränderung der Formen (Künste). Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. In: Die Aktion. 15. Jg. 1925, Nr. 15/16, Sp. 448. Rubrik »Bibliothek des Proletariers«.

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Europäers gewertet, der sich als Spitze der Menschheitsentwicklung betrachtet. Lu Märten versieht nur die ganze Sache teilweise mit negativem Vorzeichen, [...] aber die Maschine und die Technik nimmt sie dann mit kühnem Schwung heraus und behauptet, das sind die Dinge, aus denen sich eine proletarische Kultur ergibt.«19 — Seiwerts Argumentation lag insgesamt quer zum Gegenstand seiner Kritik. Gerade seine Einwände treffen sich manchmal direkt mit Lu Märtens Intention, sodaß sie mit ihrer Entgegnung, Seiwert habe ihr Buch wohl nicht gelesen, 20 nicht nur verletzten Autorenstolz zum Ausdruck brachte. Karl August Wittfogel, Redakteur des Feuilletons der Roten Fahne, schwieg vorerst, ebenso wie Fritz Brupbacher, Züricher Armenarzt, seiner politischen Herkunft nach revolutionärer Syndikalist, in den zwanziger Jahren Kommunist und Mitglied der Redaktionskommission des Parteiorgans Kämpfer, wo er vor allem für die Bildungsarbeit und die Literaturberichte zuständig war.21 Von August Thalheimer erhielt Lu Märten nicht einmal ein indirektes Zeichen für seine Kenntnisnahme des Buches. Diese Nichtbeachtung durch Thalheimer veranlaßte Lu Märten schließlich 1931 zu ihrer öffentlichen Stellungnahme in der Zeitschrift des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) Linkskurve gegen eine Artikelfolge Wittfogels Zur Frage einer marxistischen Ästhetik. Bei den Richtungskämpfen innerhalb der KPD und der Komintern war Thalheimer nach der Oktoberniederlage mit dem vormaligen Parteiführer Heinz Brandler auf den sogenannten rechten Flügel geraten. Er hatte schon der Vorkriegssozialdemokratie angehört, war studierter Philologe und Ethnologe und galt zu Anfang der zwanziger Jahre als einer der theoretischen Führer der KPD. Ab 1924 lehrte er in Moskau an der Sun-Jat-Sen-Universität. Diesem Theoretiker und Fachmann der Partei dürfte Lu Märten ihr Buch unausgesprochen zugedacht haben. 22 1929 leitete Thalheimer dann den ersten Band der Auswahl aus Mehrings Schriften ein. 1930 folgte ein weiterer unter dem Titel Zur Literaturgeschichte von Calderón bis Heine mit einer neuerlichen Einleitung Thalheimers. Beide Male würdigte er Mehrings Verdienst für die historischmaterialistische Literaturgeschichte, konstatierte aber gleichzeitig, eine methodische Ästhetik des historischen Materialismus stehe noch aus. Das Verdienst Mehrings verglich Thalheimer mit der Leistung Marxens im Hinblick auf die klassische englische Ökonomie. Mehring habe eine entsprechende revolutionäre Umwertung der Kantischen Ästhetik begonnen, der ersten »wissen19

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Franz W. Seiwert: Eine Darstellung der Entwicklung der Kunst. In: Die Aktion. 17. Jg. 1927, Nr. 3, Sp. 6 6 - 7 0 . Wiederabgedruckt in: Seiwert, Schriften. Hg. von Uli Bohnen und Dirk Backes. S.55. Lu Märten: Zu meiner Darstellung der Entwicklung der Kunst. In: Die Aktion. 17. Jg. 1927, Nr. 4 - 6 , Sp. 109-113. Karl Lang: Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher. Zürich (O.J.). S.272f.. Zur Biographie Thalheimers und seinen wichtigsten theoretischen Beiträgen (u.a. Über den Stoff der Dialektik (1923), Über die Handhabung der materialistischen Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution (1924)) vgl. Karl Heinz Tjaden: Struktur und Funktion der »KPD-Opposition« (KPO). Bd. II. Erlangen 1970. 181

schaftlichen« Grundlegung der Ästhetik: »>die Kunst als eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nachzuweisen«. 23 Er habe aber das System Hegels nicht beachtet und auch in den literarhistorischen Monographien die ökonomische Struktur der Gesellschaft als Grundlage der Literatur zu wenig im Detail berücksichtigt. Von hier aus umschrieb Thalheimer die noch ausstehende Leistung. Sie liege in der Überwindung Hegels und seiner systematisch-materialen Ästhetik sowie in deren Übertragung auf eine historisch-materialistische Grundlage. »Darüber hinaus muß [diese] die gewaltige Stoffülle bearbeiten, die in den letzten Jahrzehnten die Archäologie, die Vorgeschichte und vor allem auch die Ethnologie zur Entwicklung der bildenden Kunst, der Architektur, der Musik, der Dichtkunst beigebracht haben. War es schon zu seiner Zeit ein Versehen, wenn Mehring behauptete, es habe keine Kunst gegeben, ehe die Gesellschaft in Klassen gespalten war, so ist heute das Material auch für die ältesten und primitivsten Anfänge der Kunstbetätigung in Gesellschaftsformen vor der Klassenscheidung hoch gehäuft. Die bürgerliche Wissenschaft hat dies Material mehr oder weniger äußerlich zu klassifizieren und zu ordnen verstanden. Wirklich erschließen kann es nur die historisch-materialistische Methode, und es ist für sie besonders wertvoll, da die Beziehungen zwischen Produktionsweise, Gesellschaftsformen und Kunstformen und -inhalten hier noch offner und unmittelbarer erscheinen als in den Klassengesellschaften, und so höchst aufschlußreiche Kapitel der historischen Ästhetik erschlossen werden können.« 24 Hatte aber Lu Märten nicht gerade dies aufgewiesen? Zur Zeit der Mehring-Einleitungen hatte Thalheimer längst nicht mehr seine frühere Position als führender KPD-Theoretiker inne. Gegen Trockij hatte er auf dem VI. Weltkongreß der Komintern in Moskau Bucharins Partei ergriffen, der wie jener gegen Stalin stand. Das bedeutete für Thalheimer definitiv das Abseits als »Rechtsabweichler« in der Partei. Zusammen mit Brandler gründete er die KPD-Opposition (KPO), der bezeichnenderweise viele von der Vorkriegssozialdemokratie zur KPD gestoßene Kommunisten beitraten. Damit wurde das >Erbe< des Marxisten Mehring der KPD vorläufig entfremdet. Dem sollte die große Folge Zur Frage einer marxistischen Ästhetik entgegenwirken, die Wittfogel 1930 in den Mai- bis Novemberheften der Linkskurve veröffentlichte und der eine Grundsatzkritik an Thalheimers Mehring-Ausgabe in der Roten Fahne voranging. Mehrings Materialismus galt es zu retten, indem in seinen Texten hegelsche Dialektik, gelesen mit der Brille Lenins (die Thalheimer selbstverständlich entbehre), betont und kantische Relikte zurückgedrängt werden sollten. »Es ist im Geiste des Revolutionärs Mehring, wenn wir uns mit den Resten kantiani-

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August Thalheimer: Einleitung zu Franz Mehring: Zur Literaturgeschichte von Calderón bis Heine. Berlin 1930. S. 18-32. Zit. nach dem Wiederabdruck in: Thalheimer, Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst. Aufsätze zur historisch-materialistischen Ästhetik und zur Anwendung der historisch-materialistischen Methode auf dem Gebiet der Literaturgeschichte. Eingeleitet von Erhard H. Schütz. Glessen 1972. S.35. August Thalheimer, ebd., S. 43.

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scher Auffassung in seinen Schriften kritisch auseinandersetzen.« 25 Solche Reste waren insbesondere Termini wie »Vermögen« und »Form«, die schnell zu »Formalismus« und »Trotzkismus« abglitten — oder auch in »rechte« Abweichung. In diesem parteiinternen politischen Streit fühlte sich Lu Märten von beiden Seiten bewußt übergangen: »Von positiver Synthese über Kant-Hegel hinaus ist auch bei Wittfogel keine Rede. Ich habe ihm einen Brief geschrieben, der das etwas tritt. Die eigentliche Polemik [zur Mehring-Ausgabe, C.K.] aber möchte ich in Artikelform schreiben. Herr Thalheimer hat es nicht für nötig gehalten, meine Arbeiten in diesem gebotenen Zusammenhange zu erwähnen.» 26 Mit dieser Begründung ersuchte Lu Märten — vergeblich — um eine Publikationsmöglichkeit, vermutlich in der Sociologická revue, die in Brünn erschien. Am Ende seiner Artikelfolge in der Linkskurve unterstellte Wittfogel Lu Märten »formalistische Barbarei«, 27 indem er einen ihrer Sätze zur »Grundauffassung« deklarierte: »Das Kunstproblem ist ein Problem der Form, nicht des Inhalts.« Dies genügte ihm zur Identifizierung ihrer Formenkonzeption mitThalheimers »Kantianertum«: »Thalheimer hat auch vor seiner Mehring-Einleitung schon bewiesen, daß ihm das dialektisch-materialistische Verhältnis von Inhalt und Form ein versiegeltes Buch ist.»28 Lu Märten blieb nun kaum noch Spielraum für ihre Kritik Thalheimers oder Wittfogels. Ihre Antwort auf dessen letzten Beitrag der Serie Zur Frage einer marxistischen Ästhetik stellt nicht viel mehr dar als eine bloße Verteidigung gegen die Abkanzelung, eine Gegenwehr auch gegen die offensichtliche Ignorierung ihres Buchs, gegen die unterstellte Gemeinsamkeit mit Thalheimer, schließlich auch gegen Wittfogels Dozieren über die Ästhetik Kants und Hegels, das sie als ein sich zu Unrecht auf Lenin berufendes Scheingelehrtentum anprangerte. Wittfogels einen Monat später publizierte Antwort an die Genossin Lu Märten bemühte sich, die Identität der Gedankengänge ihres Buchs mit konzeptionellen Aussagen ihrer Erwiderung herauszustellen. Das sollte beweisen, daß Lu Märten in mehr als einem halben Jahrzehnt ihre, wie Wittfogel unterstellte, am Proletkult orientierten Kunstanschauungen nicht revidiert habe, daß sie einen »kunstnihilistisch-trotzkistischen Standpunkt« nie verlassen habe 29 und natürlich deswegen auch Wittfogels ästhetische Theorie ablehnen müsse, der es, mit einem marxistisch kritisierten Hegel, um das »>Aufheben< der alten Kulturelemente durch die neue Gesellschaft« zu tun sei. 30 Abschließend gibt Wittfogel Lu Martens wissenschaftli25

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Karl August Wittfogel: Zur Frage der marxistischen Ästhetik. In: Die Linkskurve. 2. Jg., 1930, Nr. 5, S.7. Brief Lu Märtens an Bedfich Václavek vom 20.4.1930. Nachlaß Bedíich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften (Prag). Karl August Wittfogel: Noch einmal zur Frage einer marxistischen Ästhetik. In: Die Linkskurve. 2. Jg., 1930, Nr. 11, S.8. Karl August Wittfogel, ebd., S.8. Karl August Wittfogel: Antwort an die Genossin Lu Märten. In: Die Linkskurve. 3. Jg., 1931, Nr. 6, S.25. Karl August Wittfogel, ebd., S.24.

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chen Anspruch der Lächerlichkeit preis und proklamiert zudem öffentlich ihren Ausschluß von möglichen weiteren Diskussionen um eine historisch-materialistische Kunsttheorie: »L.M.s Gedanken wurden formuliert auf einer ganz bestimmten Stufe der Problematik unserer kulturpolitischen Theorie. In aktiver Diskussion mit rechten und >linken< Fehlern und Abweichungen wurde jene Stufe überwunden. Falls auch L.M. bereit und fähig ist, über jene frühere Position hinauszukommen und ihren Weg mit dem unseren zu vereinen — dann soll sie uns willkommen sein.«31 Offenbar war dieses aus Anlaß ihres Briefes an Wittfogel vom April 1930 ausgelöste Trommelfeuer allerdings nur spektakulärer Abschluß einer schon länger unter der Oberfläche der offiziellen kommunistischen Publizistik betriebenen Abwehr. Sie stellte sich vor allem als Schweigen dar. In kleineren Zeitschriften hatte Seehof wiederholt versucht, Lu Märtens Hauptthesen als den grundlegenden historisch-materialistischen Zugang für jede weitere Ausformulierung der marxistischen Ästhetik darzustellen. 32 Becher wiederum rechnete noch 1927 Seehof und Lu Märten zu den namhaftesten einer ganzen »Reihe sehr guter Feuilletonisten, Satiriker, Kritiker« des proletarisch-revolutionären Deutschland. 33 Doch mit dem Aufbau der Künstler- und Schriftstellerorganisation der KPD 1928 änderte sich das Kräftefeld, und Wesen und Veränderung scheint damals eines der Bücher geworden zu sein, das in der intellektuellen Organisationsdiskussion zum Zweck »marxistischer« Abgrenzung herangezogen wurde. So berichtet über die Rezeption des Buches in der Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (ARBKD) dessen ehemaliges Mitglied Hans Grundig, der in Dresden lebte: »Zwei Bücher sind damals erschienen, die für uns als Künstler der Partei von Wichtigkeit waren. Das eine von der Lu Märten über marxistische Ästhetik, ein etwas unklares Buch, sehr verschachtelt und mit vielen bürgerlichen ideologischen Anschauungen vermischt. Es konnte uns wenig geben, so gut auch der Versuch gemeint war. Das andere von Upton Sinclair, >Die goldene Kette< gewiß, auch dieses Buch war noch lange keine wissenschaftliche marxistische Darstellung der bildenden Kunst in ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihrer historischen Entwicklung, aber [...] es bestätigte unsere Arbeit.« 34 In der Berliner Gruppe der ARBKD wurden »theoretische« Auseinandersetzungen zwischen an milieugetreuer Agitation orientierten Künstlern und den dem Konstruktivismus verbundenen Kunstkritikern Adolf Behne und Ernst Kállai geführt. Deren Bereitschaft zur Mitarbeit, ihre Auffassungen der Möglichkeit einer revolutionären Kunst wurden bald zurückgewiesen. Beide »liberale« Marxisten publizierten ihre Theorien und Programme dann in den Sozialistischen Monatshef31 32

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Karl August Wittfogel, ebd., S.25. Arthur Seehofs Besprechungen erschienen in: Die Neue Bücherschau. Berlin. 1926, 4.Folge/3.Schrift, S. 101-108; Der Kampf. Wien. 1927, S. 147-150; Der Atheist. 1929, Nr. 10, S. 14—15. Es handelt sich jeweils um Originalbeiträge. Johannes R. Becher: Bürgerliche und proletarisch-revolutionäre Literatur in Deutschland. In: Becher, Publizistik 1. 1912-1938. Berlin und Weimar 1977. S. 622-627. Hans Grundig: Zwischen Karneval und Aschermittwoch. Berlin 141986. S.217.

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ten oder im bauhaus.35 Über Lu Märtens direkte Mitarbeit in der ARBKD ist bislang nichts bekannt. 1928 lernte sie Kállai kennen, der ihr eine punktuelle Mitarbeit am Bauhaus ermöglichte und ihre kunsttheoretische Konzeption in der ungarischen Avantgarde bekanntmachte. 36 Über ein weniger glimpflich endendes Abgrenzungsmanöver gegenüber Lu Märtens Buch in einer kommunistischen Kölner Marxistischen Studentengruppe berichtet Hans Mayer: »Aufs Geratewohl machte ich mich anheischig, über die Bücher der Lu Märten zu berichten. Die hatten Überschriften wie >Wesen und Veränderung der Formen/KünsteAussage< zu bewerten, sondern Wesen und Veränderung der Gebilde im Zusammenhang zu betrachten mit Wandlungen des gesellschaftlichen Unterbaus. Marxistisch war das wohl nicht, eher ein Versuch, morphologische Sehweisen zu erproben, denn Lu Märten hielt es eher mit der bildenden Kunst als mit der Literatur. — Mein Referat über Lu Märten war mein Debakel; ich wurde zerfetzt. Was man mir vorwarf, blieb bei soviel abschätziger Polemik einigermaßen unklar. Man verwarf mich mit der Lu Märten, oder: man warf mir vor, die Bücher der Lu Märten einigermaßen verständnisvoll vorgestellt zu haben. [...] Lu Märten aber schrieb entweder spekulativ-versponnen, oder auch rhapsodisch. Ich versuchte folglich, ihren Denkprozeß nachzuvollziehen. Umfassende, gleichsam erledigende Polemik hatte ich mir als Berichterstatter versagt. Nun polemisierte man gegen uns beide.« 37 Das war Anfang 1928; 1930 Schloß sich Mayer der sozialistischen Opposition um die Kölner Redaktion des Roten Kämpfers an, die bald mit der S APD und der KPO zusammenarbeitete. 35

Adolf Behne: Form und Klassenkampf. In: Sozialistische Monatshefte. Berlin. 37. Jg., Bd. 73, 1931, Heft 4, S.363-365; Adolf Behne: Die Kunst im Trommelfeuer der politischen Parteien. In: Sozialistische Monatshefte, 37. Jg., Bd. 74, 1931, Heft 8, S . 7 7 9 - 782; Ernst Kállai: Kunst und Wirklichkeit. In: Sozialistische Monatshefte. 37. Jg., Bd. 74, 1931, Heft 10, S. 998-1005; Ernst Kállai: Kunst und Technik. In: Sozialistische Monatshefte. 37. Jg., Bd. 74, 1931, Heft 11, S. 1095-1103. - Eine Darstellung der kunstpolitischen Auseinandersetzung findet sich bei Jürgen Kramer: Die Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (ARBKD). In: Wem gehört die Welt - Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik. Hg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Berlin 41977. S. 181/82.

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Lu Märten: Torténelmi Materializmus és uj alkotás. In: munka. Budapest. Hg. von Lajos Kassák. 1929, Nr. 7, S. 194-197. - Zur Person Lajos Kassáks vgl. Tendenzen der zwanziger Jahre. 15. Europäische Kunstausstellung Berlin 1977. Ausstellungskatalog. Berlin 1977. B/34/B/35. Vgl. auch János Mácza: Kassák, l'homme, l'écrivain le directeur de revues. In: L'activisme hongrois. Conçu et réalisé sous la direction de Charles Dautry et Jean-Claude Guerlain. Montrouge (Editions Goutal-Darly) 1979. S. 136-137. In diesem Band sind einige Beiträge Kassáks aufgenommen, ebenso in: Lajos Kassák 1887-1967. Ausstellung der Akademie der Künste der D D R . Berlin 1987. — Bei Lu Märtens ungarischem Artikel handelt es sich um eine Übersetzung von historischer materialismus und neue gestaltung aus der Zeitschrift bauhaus. Vgl. weiter unten.

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Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. I. Frankfurt/M. 1982. S. 100 und S. 101/102.

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Es gab nur wenige wohlwollende Reaktionen auf Lu Märtens Formkonzeption, und diese kamen sämtlich von der Peripherie der kommunistischen Bewegung. Neben den oben bereits erwähnten lag eine weitere im Entgegenkommen Hermann Dunckers, des Gründers und Leiters der Marxistischen Arbeiter-Schule (MASCH) in Berlin. Lu Märten bekam Gelegenheit, dort über »Philosophischen und historischen Materialismus« eine Vortragsreihe zu halten, wofür im April 1929 drei Abende angesetzt wurden. 38 Eine verhinderte positive Reaktion ließ Lev D. Trockij erkennen. Lu Märten hatte sich über dessen Literatur und Revolution eher kritisch-einschränkend geäußert: Von aktuellem Interesse seiTrockijs differenzierte Aufnahme des Futurismus, der auf eine neue Verbindung der Kunst mit dem Leben dränge, aber zugleich noch mit einem bohemehaften politischen Aktivismus dilettiere; doch Trockijs Einschätzung des Futurismus fehle die theoretische Plattform der Kritik. 39 Nach der Lektüre der 1930 in deutscher Übersetzung erschienenen Autobiographie Trockijs hingegen fühlte sie sich als Schriftstellerin und Theoretikerin angesprochen, eine Reaktion übrigens, mit der sie nicht allein stand. Mein Leben bedeutete für die linksintellektuelle Leserschaft in Deutschland eine befreiende Entdogmatisierung des Bildes des revolutionären und nachrevolutionären Rußland und zugleich eine Entdeckung des Schriftstellers Trockij. So notierte auch Benjamin: »Brecht meint, es ließe sich mit gutem Grund behaupten, daßTrotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre. «40 Von einem analogen Eindruck bestimmt, schrieb Lu Märten einen Brief an Trockij, worin sie sich als Schriftstellerin vorstellte, das Schicksal ihres Buches samt der literaturpolitischen Situation skizzierte, in die es durch Thalheimers Vorworte zu den Bänden Mehrings und Wittfogels Reaktion geraten war. Schließlich erbat sie Trockijs Stellungnahme zu ihrer Arbeit: »Diese jüngsten Dinge haben mich bestimmt, die Anfrage um meine Arbeit einmal an Sie zu richten. Ich kann Ihre Überzeugung über meine >Resultate< dabei nicht voraussehen, wohl aber darf ich annehmen, daß Sie sachlich und denkend darangehen würden. Und wie immer Sie dazu stehen, so wäre es mir eine Freude, wenn Sie Ihre Gedanken darüber schreiben wollten. Ich weiß nicht, ob Sie es wollen und können: Öffentlich — jedenfalls aber überhaupt.« 41 Trockij antwortete, er habe Wesen und Veränderung erst nach Abschluß seines Buches Literatur und Revolution erhalten und sich immer vorgenommen, die Arbeit zu lesen und auf sie einzugehen, sobald ihm die politischen Verhältnisse 38

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Sylvia Schlenstedt: Auf der Suche nach Spuren: Brecht und die MASCH. In: Brecht 83. Brecht und Marasmus. Dokumentation. (Protokoll der Brecht-Tage 1983, 9. —11. Februar). Berlin 1983. S. 19/20. Lu Märten: Trotzki, Literatur und Revolution. In: Internationale Presse-Korrespondenz. 1924, Nr. 56, Sp. 682-684. Walter Benjamin: Tagebuch. Le Lavendou, 3. Juni 1931. Manuskript. Zit. nach der Transkription von Gerhard Seidel und Benno Slupianek. Bertolt-Brecht-Archiv, Akademie der Künste der D D R , Ramthun 2060/51. Inzwischen publiziert in Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. VI. Frankfurt/M. 1985. S.432. Brief Lu Märtens an Lev D. Trockij vom 5.5.1930. Archiv Lev D. Trockij. Houghton Library, Cambridge, Mass., Nr.2856.

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Zeit dazu ließen, seine ästhetischen Studien wiederaufzunehmen. Deswegen habe er seinerzeit ihr Buch in seinen sowjetischen Verbannungsort Alma Ata mitgenommen: »Die Tagesfragen nahmen meine Zeit völlig in Anspruch, und so bin ich wieder nicht dazu gekommen, Ihr Buch zu studieren. Ich mußte es, wie meine gesamte Alma-Ataer Bibliothek — die übrigens nicht sehr umfangreich war — an Ort und Stelle zurücklassen. Die Absicht, Ihr Buch zu lesen, und die Hoffnung, dies zu tun, habe ich aber nicht aufgegeben. Ich werde es tun können — und auch mit Freude tun - , wenn ich zur Bearbeitung der neuen Ausgabe meines Buches über die Literatur komme, und ich habe die feste Absicht· hierzu. Trotz meines vollständigen Dilettantismus auf diesem Gebiete schien mir die Frage der Kunst= Form als eine der interessantesten vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung.« 42 Offenbar blieb es bei dieser Absichtserklärung Trockijs. Auf dem Begleitbrief Lu Märtens zu ihrer Sendung des Buchs an ihn hat er »nicht beantwortet« vermerkt. 43 Eine Reaktion aus den linksintellektuellen Kreisen der Weimarer Republik blieb bis auf eine Ausnahme ganz aus. Günther Anders, Student unter dem Einfluß Heideggers und danach Publizist unter seinem bürgerlichen Namen Stern, nahm in seiner in der Frankfurter Zeitung erschienenen Kurzkritik die philosophischen Prämissen der Formenkonzeption ernst und widersprach der Auffassung, »daß sich die Kritik der Vernunft in die der Arbeit verwandele«. Wenn das Vernunftsubstrat im Kunstschaffen darauf reduziert werde, außengeleitete Zwecke zu verfolgen, so Stern, dann bleibe nichts als »Stil« von den Kunstprodukten übrig, der sich formal genauso in einer zufälligen Bildung konstatieren lasse. Stern deutete auf die Problematik der Vorstellung der »Zweckgebundenheit« des Kunstschaffens, aus der ein metaphysisches Überschußmoment (»Uneigentliches«), das Lu Märten immerhin der »isolierten« Kunst unterstelle, nicht abgeleitet werden könne: 44 Erstens: Ist Kunst eigentlich nicht selbständig, sondern zweckgebunden, ja nicht nur zweckgebunden, sondern nur die Form, die das Mittel zum Zweck am reinsten darstellt, so ist die historisch nun einmal zu konstatierende Tatsache, daß sie heute isoliert ist, nicht aus dem ersten Zweckzusammenhang zu erklären. Zweitens: Die ganze Komplikation des Kultischen, Mythischen, Religiösen, Totemistischen, im Seins-Ansatz des ersten Menschen - denn Märten geht bis zu den Höhlenzeichnungen zurück — müßte mit ihm als finaler Zusammenhang gesehen werden, als Zusammenhang von Mittel und Zweck, Eigentlichem und Uneigentlichem, damit so etwas wie Kunst als uneigentlich interpretiert werden kann.

Stern wies auch kurz auf den Untertitel des Buchs und ergänzte: »Die vielen guten Bemerkungen Märtens tauchen dort auf, wo die methodischen Ansätze nicht betont sind. Das Buch zitiert gar nicht und ist schon deswegen für den Arbeiter, für den es bestimmt ist, ungeeignet; er muß blindlings glauben.« 42

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Brief Lev D. Trockijs an Lu Märten vom 24.5.1930. Archiv Lev D. Trockij. Houghton Library, Cambridge, Mass., Nr.9332. Brief Lu Märtens an Lev D. Trockij vom 6.6.1930. Archiv Lev D. Trockij. Houghton Library, Cambridge, Mass., Nr.2857. Günther Stern: (Sammelrezension, u.a.) Lu Märten, Wesen und Veränderung der Formenkünste. In: Frankfurter Zeitung, 18.2.1925.

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Trotz der fairen und ernsthaften Besprechung Sterns fühlte sich Lu Märten damit als Marxistin zurückgewiesen; die Kürze seiner Rezension empfand sie im Vergleich mit dem Umfang ihrer Untersuchung als unangemessen. 45 Ebenso unangemessen schien es ihr, daß Alfred Kleinbergs Deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen, eine vom sozialdemokratischen Standpunkt geschriebene und dem Andenken Franz Mehrings gewidmete Literaturgeschichte, Wesen und Veränderung lediglich in die allgemeine Grundlagenliteratur aufgenommen, ansonsten aber keinerlei Konsequenzen daraus gezogen habe. 46 Sehr erbittert aber klingt Lu Märtens Bemerkung darüber, daß bei der Annäherung linksbürgerlicher und kommunistischer Schriftsteller ihr Beitrag unbeachtet blieb: »Es hat sich hier eine bürgerliche Gruppe gebildet — Arbeitsgemeinschaft 1926< — von Döblin bis Brecht mit Leuten wie Grosz und Becher darin. Wie sehr diese Leute dabei nicht an die Einheit von Denken und Schaffen denken, beweist, daß sie mich nicht aufgefordert haben.« 47 Wenn Lu Märten auch in den linksintellektuellen Kreisen Deutschlands keine Resonanz fand, so deutet das nicht darauf hin, daß man auch hier den negativen Empfehlungen der Kunst- und Literaturassoziationen der KPD folgte. Der linken, nicht parteigebundenen Intelligenz — Döblin, Bloch, Kracauer, Brecht, Benjamin — wurde der historische Materialismus zum Bezugspunkt ihrer literarischen Arbeitsweise als Schriftsteller im Blick auf die Klassenauseinandersetzungen und die Parteienpolitik in der Phase des Niedergangs der Republik. Gemessen daran war Lu Märten, gerade in ihrer Ästhetik, in der Tat unpolitisch, selbst wenn sie sich stets als eine Schriftstellerin »der Partei« zu erkennen gegeben hat. Ein allgemeiner Entwurf universaler Gesellschaftsentwicklung in Relation zu universalem Kunstschaffen blieb den linksintellektuellen Schriftstellern zwangsläufig fremd. 45

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Diesen Einwand gestand Stern als berechtigt zu und erläuterte noch einmal seine Kritik mit dem ausdrücklichen Vermerk, er habe am historischen Materialismus selbst keinesfalls Anstoß genommen. Brief Günther Sterns an Lu Märten vom 2.11.1925. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 226. Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom 22.10.1928. Nachlaß Bedrich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag). Vgl. Alfred Kleinberg: Die deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen. Eine Skizze. Berlin (Dietz) 1927. S.441. Immerhin aber war Kleinberg schon in einer Rezension auf Lu Märtens Buch eingegangen, welche die Hauptgedanken pointiert und zustimmend wiedergab. Er bedauerte lediglich die Unübersichtlichkeit der Argumentation und des Tatsachenmaterials über weite Strecken, »denn das Buch hat das Zeug in sich, das Problem Kunst und Proletariat um ein tüchtiges Stück der Klärung näher zu bringen.« In: Die Bücherwarte. Berlin. 2. Jg., 1927, Heft 6, S. 180/81. Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom 18.1.1926. Nachlaß Bedrich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag). Beim flüchtigen Schreiben unterlief Lu Märten mit Arbeitsgemeinschaft 1926 offenbar eine Fehlbenennung. Es dürfte sich um die Gruppe 1925 handeln, ein Zusammenschluß der jüngeren Schriftstellergeneration gegen die Bevormundung des literarischen Lebens durch die Akademien, welcher »zum letzten Mal Vertreter der bürgerlichen und proletarischen deutschen Dichtung«, insgesamt 20 junge und progressive Schriftsteller und Journalisten, vereinte. Klaus-Peter Hinze: Gruppe 1925. Notizen und Dokumente. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 54. Jg., 1980, Heft 2, S.334.

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Bestenfalls konnten sie darin Ziele der sozialdemokratischen Kulturpolitik im Gefolge Mehrings erkennen. So etwa schlug der vielseitig belesene und gutorientierte Walter Benjamin Lu Märtens Ästhetik — nach dem ersten Verweis Wittfogels auf ihr Buch in der Linkskurve — schon 1930 auf die Seite des »bisherigen Materialismus«. Er brachte sie während der Diskussionen um das Zeitschriften-Projekt Krise und Kritik zur Sprache, und zwar stellte er den Themenvorschlag »Soziologie des schriftstellerischen Auftrages« zur Debatte, wobei er näher ausführte: »Eine Auseinandersetzung desjenigen, was bisher von materialistischer Seite zur Literaturkritik beigebracht ist. (Franz Mehring, Märten etc.)« 48 Anzumerken bleibt, daß dieser Vorschlag Benjamins für sich allein steht, einer gerade auf Abwege geratenen Diskussion eine glückliche Wendung gab und, folgt man den überlieferten Protokollen, nicht wieder aufgegriffen wurde. Lu Märten, die nach dem 1973 ihr gewidmeten Heft der Westberliner Zeitschrift alternative in der Germanistik der BRD, der DDR, der USA und Frankreichs in die »Kultur der Weimarer Republik« wieder einbezogen wurde, war den — im Rückblick gesehen - kulturprägenden Kreisen schon kaum mehr bekannt. Aber dennoch hatte sie einigen Einfluß, dessen Tragweite ihr selbst wiederum verborgen blieb: auf die tschechische literarische Avantgarde, den Poetismus. Innerhalb der »Kultur der Weimarer Republik« faßte diese Richtung nur im Bauhaus Fuß, so daß Lu Märten schließlich hier wie auch in der Marxistischen Arbeiter-Schule zu Wort kam. Es handelte sich also um eine Rezeption auf Umwegen, von der das folgende Kapitel berichtet. Abschließend bleiben einige kurze Anmerkungen zur Lebenssituation Lu Märtens nach Erscheinen ihres Buchs nachzutragen: Sie arbeitete von 1927 bis 1930 mit kurzen Unterbrechungen im Rahmen eines Hilfsprogramms für notleidende Künstler in Berliner Stadtbibliotheken. Hierbei erhielt sie auch eine fachbibliothekarische Ausbildung, stieß auf die Basner-Sammlung zur Geschichte der Arbeiterbewegung und legte mit den bibliographischen Arbeiten den Grundstock der Bibliographie Schriften zur Geschichte und Theorie des Sozialismus. Seit 1930 bemühte sie sich immer wieder, einen Förderer für diese Arbeit zu finden, sei es einen Verlag oder eine Institution. 1932 trat sie an den Berliner Parteivorstand der SPD über die Vermittlung des SAI-Führers Friedrich Adler heran und machte den Vorschlag, der Vorstand möge einen »kleinen Archivposten« einrichten, für den sie im Austausch nach einigen Jahren als Sachwert den fertigen Katalog zur Verfügung stelle. 49 Mit der unterbliebenen Rezeption ihres Hauptwerkes in Deutschland, insbesondere innerhalb der kommunistischen Partei- und Künstlerorganisationen, war Lu 48

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Diskussionsprotokoll der Sitzung vom 26. November 1930 über die geplante Zeitschrift Krise und Kritik. Teilnehmer: Benjamin, Brecht, Bloch u.a.. Bertolt-Brecht-Archiv, Akademie der Künste der D D R , Ζ 8/281 (Kopie des Dokuments aus dem Walter-BenjaminArchiv, Frankfurt/M, Ts 2487). Die Mitschrift reproduzierte die Phonetik des Namens Märten, der daraufhin derart ausgeschrieben erscheint: Merten bzw. Merton. Brief Lu Märtens an Friedrich Adler vom 1.10.1932. SAI-Archiv, IIISG (Amsterdam), C 3424.

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Märten sozusagen aus der Geschichte gefallen. Im Augenblick der drohenden Auflösung der SPD - mit wachsendem Mitgliederschwund und unter der täglichen Notverordnungspraxis, die aus sozialdemokratischen Händen in die der Rechten übergegangen war - setzte Lu Märten für ihre weitere Arbeit eine letztendlich verzweifelte Hoffnung auf die Sozialdemokratie und ihre Geschichte.

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4. Poetismus, Marxismus, Strukturalismus

4.1. Poesie, Ende der Poesie und Gestaltung: Lu Märiens Beitrag zum tschechischen Poetismus und zum Bauhaus Gegen die didaktische kommunistische Tendenzkunst (Proletkult) eines S.K. Neumann in der Tschechoslowakei hatte Karel Teige 1922 das Programm der »Neuen proletarischen Kunst« des Devëtsil aufgestellt. Er wies für deren noch auszuarbeitende Programmatik auf Ansatzpunkte bei Lu Märten und Wilhelm Hausenstein hin. Allerdings integrierte erst Bedrich Václavek das ausgearbeitete historisch-materialistische Konzept Lu Märtens tatsächlich in den tschechischen Poetismus. Václavek hatte sich 1922 und 1923 zu Studien in Berlin aufgehalten. Hier stieß er auf die Schriften der zeitgenössischen deutschen marxistischen Kunsttheoretiker, neben denen Hausensteins und Lu Märtens auch auf die Adolf Behnes. Während Teige versuchte, dem poetistischen Kunstverständnis in der Literaturtheorie, der Architektur und Graphik, der Kritik und Literaturgeschichte Leben zu verleihen, spielte Václavek von Beginn der Bewegung an ausschließlich die Rolle des Literaturtheoretikers. Die Verbindung von Polemik und hochgestecktem Wissenschaftsanspruch in Lu Märtens Formkonzeption mag ihn deswegen besonders überzeugt haben. Schon im Sommer 1925 veröffentlichte er im Rudé právo eine Rezension von Wesen und Veränderung und in Übersetzung einen Auszug aus dem Artikel Kunst und Proletariat} Nachdem er diesen Beitrag zur Aktion von Lu Märten erhalten hatte, bat er sie inständig um ihre Mitarbeit an der Zeitschrift pásmo.2 Die in Brünn herausgegebene Avantgardezeitschrift trug ihren Namen nach Zone, dem Gedicht Apollinaires: A la fin tu es las de ce monde ancien [...] Ici même les automobiles ont l'air d'être anciennes La religion seule est restée toute neuve la religion Est restée simple comme les hangars de Port-Aviation Seule en Europe tu n'est pas antique ô Christianisme L'Européen le plus moderne c'est vous Pape Pie X Et toi que les fenêtres observent la honte te retient 1

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Fred (Pseudonym Β. Václaveks): Marxisticky teoretik uméní. In: Rudé právo, 21.6.1925. — Lu Märten: Proletariát a umèni. In: Rudé právo. (Nedelni Priloha Rudého Prava), Nr. 208, 6.9.1925, S. 3/4. Brief Bedrich Václaveks an Lu Märten vom 7.10.1925. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10. 191

D'entrer dans une église et de t'y confesser ce matin Tu lis les prospectus les catalogues les affiches qui chantent tout haut Voilà la poésie ce matin et pour la prose il y a les journeaux il y a les livraisons à 25 centimes pleines d'aventures policières Portraits des grands hommes et mille titres divers [•··]

Teige hatte in diesem Gedicht das Formprinzip der gesuchten Modernität begrüßt, das freie assoziative Aneinanderreihen poetischer Bilder.3 1926 brachte pásmo unter dem Titel Filosofìe a Estetika eine Übersetzung von Lu Märtens Kunst und Proletariat.4 Der Artikel stellt eine thesenhaft pointierte Zusammenfassung des kurz zuvor erschienenen Buches dar: »Revolutionäre Kunst ist nicht, daß man in Beibehaltung der vorhandenen Kunstmittel von ihr nur die unzweideutige Parole bestimmter Gefühle oder Gedankenvorstellungen verlangt und an allen Formen, die das nicht vermögen, stillschweigend vorbeigeht, sondern ist das, daß man sich von der Zwangsvorstellung >Kunst< überhaupt losmacht [...]. Statt all des Phrasengewäsches, das in Arbeiterkreisen über Kunst verredet wird, wäre es praktischer und das Selbstbewußtsein erregender, Diskurse über die Logik der Maschinen zu halten — was sie können und gut können unter bestimmten Voraussetzungen und was sie nicht können.« 5 Lu Märtens konstruktives Programm lautete, Vorstellungen für »klassenlose vernünftige Formen des Lebens« 6 zu entwickeln. Dazu sollten die »Zellen der Formmöglichkeiten«, auf die die bisherige Kunstentwicklung geführt hätte, bewußt werden; das erlaube ihre Anwendung: »Jede vollkommene Form - auch die Gattungen in sich - entstehen aus urwüchsigen Zusammenhängen primitiver Art, indem das Einzelne selbst unselbständig und primitiv ist. Sie wächst heraus aus dem Zusammenhang [...]. In diesem absoluten Herauswachsen als Selbstzweck [...] reduziert sie sich schließlich und emanzipiert sich auch von jedem unnotwendigen (künstlerischen) Zweck und reduziert sich wieder [...] auf ihre ursprünglichen Elemente (auf Farbe, Linie, Ton, Laut, Bewegung). Was übrig bleibt, sind gleichsam die Zellen der Formmöglichkeiten.« 7 Folgt man Kvétoslav Chvatík, dem Ästhetiker des tschechischen Strukturalismus und Historiker des Poetismus, so war Václavek von 1922 an eher um eine marxistische Literaturtheorie bemüht als um die poetische Produktivität des Devëtsil. Über die Theorie hoffte er die Proletkulttendenzen mit den Aktivitäten des 3

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KarelTeige: Neue proletarische Kultur. (1922). In: Teige, Liquidierung der »Kunst«. Analysen, Manifeste. Frankfurt/M. 1968, S. 28. Lu Märten: Filosofie a Estetika. Uméní a Proletariát. In: pásmo. Revue Internationale Moderne. Edition Devètsil. Redakce: Cernik, Krejcar, Teige. Brünn. 2. Jg., 1926, Nr.5, S. 6 2 - 6 3 . Lu Märten: Kunst und Proletariat. In: Die Aktion. 1925, Heft 12, Sp. 663-668; dass, in Lu Märten: Formen für den Alltag. S. 109-116; dass, in: alternative 89, S. 5 4 - 5 9 . Im folgenden ist nach diesem Wiederabdruck zitiert. Zit. Stelle S.56. Lu Märten, ebd., S.59. Lu Märten, ebd., S.58.

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Poetismus als dessen »kritischer Begleiter« zu vereinigen. Dabei stellte er aber auch »gleichzeitig Fragen an den proletarischen Künstler, die manches von der späteren Diskussion um den sozialistischen Realismus vorwegnehmen: Sollen Elemente der Volkskunst in die proletarische eingeführt werden? In welcher Gestalt sollen die sozialen Themen verwendet werden? Welche Einstellung soll zu den Formen der modernen Kunst, dem Kubismus und Futurismus angenommen werden? Tritt das Kollektiv als Autor auf? Oder wird das Kollektiv zum Gegenstand der Kunst? Wird der Dichter zum Sprecher des Kollektivs?«8 Antworten auf diese Fragen, die er 1925 in pásmo formulierte, sind Wesen und Veränderung entnommen. Sie gingen gegen die verbreitete marxistische Kunstvorstellung als einer Ideologie an und folgten dabei Lu Märtens entwicklungsgenetischem Konzept: Der historische Materialismus müsse die Entstehung der Formen in der Arbeit und Technik suchen, denn die Form erwachse aus »vitalen Zwecken«: »Über das Schicksal der Kunst entscheiden neue Arbeitsmittel, nicht die Gefühle und Ideologien [...], sondern die Techniken, die Erkenntniswissenschaften. [...] Die Form erwächst aus den Zusammenhängen der Arbeitsfunktionen; Form und Inhalt sind eins; die Idee des Werkes besteht in der Einheit seines Zweckes und seiner Qualität. [...] Die Idee der Form, die heute eine so große Rolle spielt, war unter den alten Arbeitsbedingungen organisch im Wesen der Arbeit verwurzelt.« 9 Demnach übernahm Václavek auch Lu Märtens Gedanken der Reduktion der Kunstgattungen auf ihr Material, nämlich in der »reinen« Form, und mit ihm das Dreistufenmodell von der »vitalen« zur (bürgerlich-)ästhetischen, schließlich zur »neuen« (klassenlosen) Funktion der Kunst. Ohne dieses Modell wäre die spätere Präzisierung der »ästhetischen Funktion« 10 durch Jan Mukarovsky kaum motiviert gewesen, zumal Václavek Lu Märtens historischen Materialismus als einen Beitrag zur »Soziologie der Kunst« 1930 und 1931 ausführlich würdigte und auszugsweise übersetzte. 11 Zwei weitere Artikel Lu Märtens erschienen 1927 in fronta. Dieser internationale Almanach dokumentiert die verschiedenartigen Bestrebungen des Devëtsil. Aus der kulturellen Randzone, in welche die Zweisprachigkeit des Landes, die späte nationale bürgerliche Erhebung und eine dank industrieller Rückständigkeit noch lebendige Folklore die tschechische Literatur geführt hatten, sollte der An8

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Vladimir Müller: Der Poetismus. Das Programm und die Hauptverfahren der tschechischen literarischen Avantgarde der zwanziger Jahre. München 1978. S. 48/49. Müller beruft sich auf KvÉtoslav Chvatík: Bedrich Václavek a vyvoj marxistické estetiky. Prag 1962. S.229. Bedrich Václavek: Marxistiká estetika. In: pásmo. 1925, Nr. 13/14, S. 3. Zit. nach Müller, Der Poetismus. S. 51. Jan Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten. (1936). In: Mukarovsky, Kapitel aus der Ästhetik. Übers, von Walter Schamschula. Frankfurt/M. 1970. S . l l f . . Lu Martenová: Historicky materialismus a sociologie uméní. I. In: Sociologická revue. Brünn. 1930. S. 387—391. — Lu Mártenová: Historicky materialismus jakozto sociologická metoda. II. In: Sociologická revue. Brünn. 1931. S. 386—391. (Übersetzungen von Β. Václavek) Die Besprechung erschien an derselben Stelle, 1930, Nr. 1-2, S. 162-166.

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schluß an die internationale Avantgarde gelingen. So suchte fronta aus dem Ausland neben französischen und deutschen vor allen Dingen russische Mitarbeiter zu gewinnen. Der Regisseur Granovskij, die Maler El Lissitzky, Rodcenko und Tatlin gehörten zu ihnen, und auch der Literaturhistoriker Jurij Tynjanov aus dem Petersburger O P O J A Z (Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache) war dabei, ebenso die Lehrer am Dessauer Bauhaus, Paul Klee, Oskar Schlemmer, László Moholy-Nagy. Neben den poetistischen Dichtern standen André Breton, Kurt Schwitters, Walter Serner und, als »Zeitgenosse«, Arthur Rimbaud. Außer den poetistischen Theoretikern Teige und Václavek ist der spätere marxistische Kritiker Sklovskijs und Mukarovkys Kurt Konrad zu nennen. Lu Märten war im tschechischen Poetismus nicht erst mit Václaveks Rezensionen und den Auszügen aus dem Aktions-AxtikeX und ihrem Buch präsent. Schon 1922 hatte Teige auf Lu Märten verwiesen: er hatte die Passagen entdeckt und sich zueigen gemacht, welche der von ihm bekämpfte Neumann in seiner Zeitschrift Cerven aus der programmatischen Broschüre Lu Martens publiziert hatte. Václavek erläuterte ihr dessen Position, worauf sie antwortete: »WasTeige betrifft, den ich leider nicht kenne, so scheint er meiner Überzeugung sehr nahe.« 12 Lu Märtens Beitrag für den Poetismus muß aus dessen Perspektive betrachtet werden. Die analoge geschichtliche Situation zwischen der »verspäteten« tschechischen Avantgarde und Lu Märtens »Zu-früh-Kommen« während der Auseinandersetzung um den historischen Materialismus in Deutschland werden dabei greifbar. Der Poetismus und Lu Märtens Formkonzeption stellen sich mit ihrer Suche nach dem gültigen Gesamtstil quer zum offiziellen marxistischen Verständnis der Kultur als »Überbau« und der damit verbundenen realistisch-naturalistischen Norm. Für beide gibt es keine »proletarische« Kunst, dafür aber Anfänge des künftigen Gesamtstils (der klassenlosen Formen) auf entwickelter technischer Basis. Beide stehen innerhalb der kommunistischen Bewegung, aber gegen deren Literaturpolitik. Als Bewegung deckte der Poetismus ein breites Spektrum der Künste ab. Zum nicht-poetischen Poetismus zählten eine Gruppe Befreites Theater, die sich am französischen Dadaismus orientierte, 13 die Prosaliteratur von Karel Konrád, Jaroslav Seifert und Vladislav Vancura, die neue Architektur, welche die Gruppe A R D E V auf ihr Programm gesetzt hatte. Der Poetismus war jedoch in erster Linie eine Phase der modernen tschechischen Poesie, und Vitëzlav Nezval gilt als ihr herausragender Dichter. Seine poetische Polythematik und das Formprinzip des assoziativen Aneinanderreihens von Bildern stellten den Bezug zu Teiges ästhetischer Programmatik dar. Die von ihm mitgegründete Gruppe Devëtsil (»Neun Kräfte«) gab so in doppelter Weise dem unablässigen Suchen nach einer endgültigen Kunstform Ausdruck: als Aufhebung der Gattungsunterschiede und Synästhesie der Verhaltensformen sowie als Grenzbestimmung der einzelnen Gattungen, 12

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Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom 28.8.1925. Nachlaß Bedrich Václavek. Museum des nationalen Schrifttums (Prag). Katia Krivanek: Dada Tschechoslowakei. In: Tendenzen der zwanziger Jahre. 3/110.

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insbesondere der Poesie. Diese war das logische Zentrum für »die Morgendämmerung einer neuen universalen Poesie als neuer kompletter Kunst der neun Musen.« 14 Im zweiten Poetistischen Manifest von 1928 erinnerte Teige einleitend an den historischen Ursprung der Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Dem Futurismus und dem deutschen Dadaismus fühlte sie sich in einer Mentalität des Konstruktiven überlegen: »wir hatten nicht die Absicht, einen neuen Ismus für avantgardistische Ateliers, Ausstellungen und Salons zu etablieren [...]. Der Poetismus war als eine bestimmte neue ästhetische und philosophische Anschauung gedacht, als Bekenntnis vom Ende des Jahrtausends [.. ,].«15 Die Krisen und die sozialen Umschichtungen, die europäischen Revolutionen, aber vor allem die russische Revolution führten die Bewegung, anders als die des russischen Formalismus, zum Bündnis mit der kommunistischen Partei und zu einem marxistischen Selbstverständigungsprozeß, gleichzeitig aber auch in Opposition zur tschechischen sozial engagierten Tendenzliteratur, weil diese rein deklaratorisch der Krise der Literatur den Rücken kehrte und in »naiver Lagerrhetorik« erstarrte: »Unzufrieden mit dem Alarm dieser proletarischen Kunst< versuchten wir, deren Programm zu revidieren und es vom marxistischen Standpunkt aus zu kritisieren. Immer klarer zeigte es sich, daß das Programm der proletarischen Kunst eine absolut falsche und unzureichende Lösung ist, eine unrichtige Antwort auf die Tatsachen der revolutionären Epoche. Die proletarische Kunst, wie sie Lunacarskij verkündet hatte, das erkannten wir, war eine unmarxistische Irrlehre und ein ästhetischer Unsinn.« 16 Aus zwei Gründen wurde Teige der führende und faszinierende Sprecher des Poetismus. Zum einen war seine kompromißlose Frage nach der literarischen Produktivität der Moderne von Beginn an von dem Bemühen bestimmt, eine ästhetisch-soziologische Antwort zu finden. Dies geschah unter dem praktischen Aspekt, »Überlegungen zum gegenwärtigen Stadium der künstlerischen Produktion und zu den aus ihr folgenden Forderungen« aufzustellen. 17 Zum anderen lebte Teige in der literarischen Tradition der poètes maudits. Sie akzentuierte die Vorstellung von Soziologie, wobei er sich u.a. auf Lu Martens Broschüre Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste stützte. 18 In seiner Berufung auf Baudelaire, auf Dichter der Jahrhundertwende wie Apollinaire, Whitman, Blok, immer wieder Charles-Louis Philippe, auf Kurt Hiller und Ivan Göll als Antikriegsliteratur, auf Jules Romain als Begründer des Unanimismus, nahm Teige um der ästhetischen Einsichten willen eine Umwertung 14 15 16 17 18

KarelTeige: Manifest des Poetismus. (1928). In: Teige, Liquidierung der »Kunst«. S. 100. Karel Teige, ebd., S. 70. Karel Teige, ebd., S. 72. Karel Teige: N e u e proletarische Kunst. (1922). In: Teige, Liquidierung der »Kunst«. S. 15. Karel Teige, ebd., S. 13/14. — D i e Auszüge aus Historisch-Materialistisches waren auf tschechisch erschienen in: Cerven. Jg. 3, 1921, S. 3 4 8 - 3 5 1 . (Angabe nach M. Zeman: Z u Václaveks und Lu Märtens Entwurf einer marxistischen Synthese. In: Zeitschrift für Slavistik. 25. Jg., 1980, Heft 3. S.411.)

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der in der Literaturkritik soziologisch scheinenden Begriffe »bürgerlich« und »proletarisch« vor. Oder pointierter: Die symbolistische Dichtung erhob sich noch einmal gegen den Naturalismus, der als »proletarischer Realismus« wiederauferstanden war. Dabei argumentierte Teige, im Sinne der proletarischen Revolution sei nur die in die gesellschaftliche Isolation getriebene bürgerliche Literatur wegweisend:19 Die Protesthaltung des Künstlers wird zur historischen Notwendigkeit. Von der Bourgeoisie nicht anerkannt, will die Kunst sie schrecken; und bleibt auch dann noch bourgeois. Sie gehört zu ihrer Klasse, auch wenn sie von ihr abgelehnt wird. Bürgerliche Kunst sind die Werke Baudelaires, Hugos, Verlaines, Delacroixs, Daumiers, Manets, auch wenn sie von ihrer Klasse verkannt wurden. Bürgerliche Kunst ist hingegen nicht Dumas, Sardou, Jirásek, Svatopluk Cech, Makart, Delaroche, Gallait, Brozik, Piloty oder die Pseudorealisten Thoma, Defregger, Rosegger et cons. - und zwar hauptsächlich, weil das einfach überhaupt nicht Kunst ist.

Das Manifest von 1928, das sich in manchen Zügen an den zeitgenössischen französischen Surrealismus anlehnt, läßt noch deutlicher erkennen, inwieweit die Berufung auf Baudelaire die soziologisierenden Bezeichnungen »bürgerlich« und »proletarisch« umwertet, um zur Vorstellung einer künftigen klassenlosen Ästhetik zu gelangen: 20 Wir haben gesehen, wie die moderne Poesie, die seit der Romantik datiert, sich von der >Literatur< entfernt und die physiologische, visuelle oder auditive Effektivität ihrer Mittel steigert. Baudelaire, der begriffen hatte, daß die Poesie künftig keine andere Mission haben kann, als im Leser spezifische Gefühle der Harmonie zu erwecken, und daß sie sich künftighin von der didaktischen Tendenzliteratur trennen muß, bildete der Poesie eine eigene emotive Sprache heraus, die von der Mitteilungssprache verschieden ist, verband das dichterische Wortspiel mit dem Farben- und Tonspiel, ahnte Möglichkeiten einer neuen, höheren Poesie, einer Poesie ohne Poetik, eines Gedichts der befreiten Imagination; den ersten Vorboten einer Poesie für alle Sinne.

»Poesie für alle Sinne« lautete auch das oftmals wiederholte Programm des Poetismus, ein Programm für die Gegenwart und die Zukunft. Teige erblickte zwar in Lu Märtens Broschüre von 1921 bloß »einen ersten Versuch von geringerem Umfang und kleinerer Bedeutung«, 21 ansonsten hielt er diesen jedoch für eine marxistische Kunstsoziologie so bahnbrechend wie Bild und Gemeinschaft von Wilhelm Hausenstein. Dessen Position und Teiges weitergehende Forderungen an die Soziologie geben Aufschluß über Berührungspunkte und Divergenzen zwischen Lu Märtens Auffassung eines kunsttheoretischen historischen Materialismus sowie der Aufgabe der Poesie und den Poesie- und Soziologievorstellungen des frühen Poetismus. Bild und Gemeinschaft ist ein gesamthistorischer Abriß der Entwicklung der Malerei. Weil es Hausenstein darauf ankam, an den Hauptepochen der Neuzeit den wirtschaftlichen Hintergrund mit zu berücksichtigen, setzte er die Schwerpunkte auf die Kunst der italienischen Renaissance, die niederländische Porträt19 20 21

KarelTeige, ebd., S.21/22. Karel Teige: Manifest des Poetismus. (1928). S.93. Karel Teige: Neue proletarische Kunst. (1922). S.14.

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maierei, das Rokoko und den bürgerlichen Naturalismus nach der Französischen Revolution. Gleichzeitig aktualisieren Verbindungslinien zur modernen Malerei seit dem Impressionismus den Wandel des Stils innerhalb der Epochen und unterlegen ihn mit mehr oder weniger einleuchtenden kulturhistorischen Erklärungen der Art, die Emanzipation der Landschaft als Sujet habe im 16. Jahrhundert mit Tizian und Breughel dem Älteren begonnen, um im 17. Jahrhundert von Rembrandt und Ruysdael vollendet zu werden; darin habe man den Ausdruck der bürgerlich-liberalen Welt zu sehen, den »Ausdruck eines pantheistisch, spinozistisch erhöhten, aber im Grunde physiologischen Materialismus«. 22 Neben dem Grundgedanken, in der Sujet/Stil-Einheit einen geschichtlichen Logos aufzuspüren, tauchen der Gedanke der Kunst als »Ausdruck« des Ökonomisch-Politischen und innerhalb des Entwicklungsschemas die wohl interessantere Hypothese von der Kontinuität und Diskontinuität der Übergänge auf. Unter diesem letzten Gesichtspunkt rezipierte Teige Hausensteins Entwurf der Kunstsoziologie. Wann begann die Moderne, und wohin wird sie führen?, lauteten seine Fragen an die Soziologie der Künste. »Die Kontinuität der Entwicklung [...] ist kein mechanisches Fortschreiten; die Entwicklung verwirklicht sich in Gegensätzen und baut über der polaren Spannung der These und Antithese eine große Synthese auf, die für die folgende Ära selbst zur antithetisch zugespitzten These gegenüber der vergangenen Ära wird.« 23 So kommt er zum Begriff der Janusköpfigkeit, dem »doppelten Gesicht« der Gegenwart. Cézanne etwa war der Überwinder des Impressionismus, weil er von Pissarro ausgehend Impressionist und in der Folge Poussins Klassizist war. Den entscheidenden Stellenwert erhielt diese These mit dem aktuellen Verweis auf die ästhetische Unfruchtbarkeit des Bürgertums und seiner Kunst im 19. Jahrhundert. Bis auf ihren Anfang und das Ende der bürgerlichen Epoche, Goethe und den Futurismus, den Klassizismus und die technische Megalomanie, lasse sich kein positiver Beitrag zur Kultur von seiten des Bürgertums feststellen. »Sonst lebt sie nur aus dem Geist der Negation, den Blick in die Vergangenheit und auch in die Zukunft gerichtet. Die Protesthaltung des Künstlers wird zur historischen Notwendigkeit.« 24 Unter diesem Aspekt ergibt sich ein Ausweg: Wenn die Kunst 22

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Wilhelm Hausenstein: Bild und Gemeinschaft. Entwurf einer Soziologie der Kunst. München 1920. S. 37. Der erste Teil des Buches erschien zuvor unter dem Titel Die Kunst und die Gesellschaft (vgl. Teige, Neue proletarische Kunst, S. 13); ursprünglich handelt es sich um einen Beitrag zu Edgar laffés Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (1912). Karel Teige: Neue proletarische Kunst. S. 14/15. Karel Teige, ebd., S.21. Für die Malerei nach David sah Hausenstein eine analoge Tendenz; sie werde durch den privaten Ankauf und die private Bestellung auch für den Künstler eine individuelle Angelegenheit. Dennoch bleibe das bildende Schaffen prinzipiell »an positive Gesellschaftlichkeit gebunden.« (S. 60) Da dem Künstler die bürgerliche Gesellschaft des Marktes wegen diese Bindung unmöglich mache, verkehre sie sich bei der Suche nach dem verbindlichen »neuen Stil« (S. 62) in eine Antihaltung: » [ . . . ] der Künstler muß, da er ohne Anschluß an die Öffentlichkeit nicht leben kann, im Notfall eine Öffentlichkeit, die der Geschichte angehört, fingieren und als Historiker oder Rebell für eine nur gedachte Gesellschaft arbeiten.« (S. 61) Lu Martens Sicht auf Peter Hille, Hugo Wolf und Vincent van Gogh als Märtyrer läßt sich diesem Gedankengang integrieren.

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der Gegenwart janusköpfig ist, wenn sie isoliert und antibürgerlich sein muß, um Kunst sein zu können, dann kann sich die zukünftige proletarische Kunst nur entwickeln, wenn sie hinter die ästhetische Unfruchtbarkeit des Bürgertums zurückgeht und den neuen Gesamtstil aus den gereinigten Formen gewinnt. Die soziologische Entwicklungsvorstellung, verbunden mit der Frage nach Entstehen und Zukunft der Moderne, ließ Teige somit die Verwirklichung und die Aufhebung des Ästhetischen entwerfen. Als Marxismus wollte er sie verstehen, weil er Kunst als Teil der menschlichen Gesamtarbeit begriff, die über die Phase der Isolierung wieder in sie integriert wird. Noch 1922 sprach er von der »sozialistischen Gotik«: »In der sozialistischen Gesellschaft, ebenso wie in der Gotik, wird es keinen Unterschied geben zwischen der herrschenden Kunst und der Unterströmung der primären Produktion. Die volkstümliche proletarische Kunst wird jene Kraft gewinnen, die die gotischen Kathedralen hervorgebracht hat. [...] aber damit sie Kultur und Stil werden kann, sind gewisse soziologische Voraussetzungen erforderlich, die erst durch die Revolution geschaffen werden können.« 25 Später sollte Teige die poetische Produktivität in ihrer Leistung für die künftige Integration der Kunst in die Produktion stärker betonen, und dabei akzentuierte er auch deren technisch-industriellen Charakter deutlicher: »Dann schuf die Maschine sofort neue soziale geistige und moralische Beziehungen und Verhältnisse, bewirkte eine Änderung der Umgebung und wurde schließlich auch Professor für moderne Ästhetik und Liquidator der Kunst. [...] Genauer könnte man vielleicht sagen, daß sie die Kunst ersetzt.« 26 Der Poetismus und die Revolution führen beider qualitative Umschmelzung herbei: 27 Sozialismus bedeutet, daß die Welt durch Verstand und Weisheit beherrscht werden soll, ökonomisch, zielbewußt, nützlich. Die Methode dieser Herrschaft ist der Konstruktivismus. Aber der Verstand dürfte aufhören weise zu sein, würde er, die Welt beherrschend, Gebiete seiner Sensibilität unterdrücken: anstelle von Vermehrung bedeutete das Verarmung des Lebens, denn der einzige Reichtum, der für unser Glück Wert hat, ist der Reichtum der Gefühle, die Weite der Sensibilität. Und hier interveniert der Poetismus, um das Gefühlsleben, die Freude, die Phantasie zu retten und zu erneuern.

Die wissenschaftliche Ambition auf eine marxistische Kunstsoziologie, die sich bei Teige zeigte, wurde von der Vorstellung getragen, aus »der historisch-soziologischen Notwendigkeit«28 ästhetische und gesellschaftliche Formwandlungen zu begründen. Die Berührungspunkte zwischen Lu Märtens »pragmatischer Einleitung« 29 und Teiges Überlegungen zu den Grundzügen einer marxistischen Kunstsoziologie für die »neue proletarische Kunst« liegen in der Auffassung der Kunst als Teil der gesellschaftlichen Arbeit, deren Verselbständigung im bürgerlichen Zeitalter und 25 26

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Karel Teige: Neue proletarische Kunst. S.40 und S.43. Karel Teige: Der Konstruktivismus und die Liquidierung der »Kunst«. (1925). In: Teige, Liquidierung der »Kunst«. S.63. Karel Teige: Poetismus. (1924). In: Teige, Liquidierung der »Kunst«. S.51. Karel Teige: Neue proletarische Kunst. S.20. Untertitel zur Broschüre von 1921, der wohl sachlich, jedoch nicht chronologisch irreführend ist.

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der Prätention, nicht nur das Ideal der neuen Kultur aufzustellen, sondern »deren Entwicklungsmöglichkeit und stufenweise reifende Art« 30 zu beweisen. Sie stellen beide das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft zur Debatte, sind methodisch mehr oder weniger im Historismus des 19. Jahrhunderts befangen, wollen aber den kausalen soziologischen Determinismus nicht auf die Kunst der neuen Gesellschaft übertragen. Die Auffindung der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit aus einem letztlich unendlichen Material dient dem Gegenbeweis: In der neuen Produktion wird die Kunst jeden klassenmäßigen Determinismus überwinden. Warum aber setzte Teige bei Hausenstein und Lu Märten, nicht aber bei der Soziologie Franz Mehrings oder Georgij Plechanovs an? Wohl deshalb, weil sich in der Tschechoslowakei, wie Kvëtoslav Chvatík schreibt, mit der russischen Oktoberrevolution sofort ein Typus leninistisch-marxistischer Ästhetik behauptete. »Les insuffisances de la pensée philosophique dans le mouvement ouvrier tchèque avant la première guerre mondiale eurent pour conséquence qu'il n'existait pas chez nous de théoreticien du type de Lafargue, Mehring ou Plekhanov, qui pendant l'ère de la Ile Internationale propagaient les fondements de l'esthétique marxiste fondée par Marx et Engels.« 31 Teige dürfte nur die groben Vereinfachungen dieser Kunstsoziologien wahrgenommen haben, wie sie in der leninistischen Auffassung Lunacarskijs wiederkehrten. Das spätere Verdikt über dessen »unmarxistische Irrlehre« kündigte sich schon 1922 an: »Lunaöarskij löste das Existenzproblem der proletarischen Kunst; heute beschäftigen wir uns mit seinen ästhetischen und genetischen Fragen. Wenn bewiesen wurde, daß in nächster Zukunft eine proletarische Kunst entsteht, wollen wir sie als eine konkrete Aufgabe erfassen und zu sagen versuchen, wie diese proletarische Kunst aussehen wird.«32 Deswegen müsse die »neue Ästhetik« von psychologischen Deutungen Abstand nehmen und als Soziologie »eher historisch« sein, »was den Aufbau einer allgemeinen Kunstgeschichte vom marxistischen Standpunkt aus voraussetzt.« 33 Ähnlich vorsichtig knüpfte Lu Märten an Lunaòarskijs Broschüre Kulturelle Aufgaben der Arbeiterklasse an, um methodisch über sie hinauszuführen: »Lunacarskij sagt in seiner Broschüre über die kunsttechnischen und geistigen Fragen in Rußland: Es muß uns noch der Marx für diese Dinge entstehen. Was kann er anders meinen als: Es muß auch über diese Dinge noch gründlichere historische und materialistische Arbeit geleistet werden. [...] Nicht eine neue Methode braucht für derartige Arbeit erfunden zu werden, sondern nur die dialektische Anwendung unserer Methoden für Werden und Wirken der geistigen Kategorien.« 34 Dynamisiert werden sollte nach Lu Märten somit die Reihe der Entwick30 31

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Lu Märten: Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste. S. 5. Kvëtoslav Chvatík: Bedrich Václavek a vyíoj marxistické estetiky. Prag 1962. S. 375. (Französische Zusammenfassung Bedrich Václavek et l'évolution de l'esthétique marxiste en Tchécoslovaquie.) Karel Teige: Neue proletarische Kunst. S. 10. (Die drei ersten Herv.v.m., C.K.). Karel Teige, ebd., S. 13. Lu Märten: Historisch-Materialistisches. S. 11.

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lung der Kunst selbst, nicht das Schema von Basis und Überbau, das sie an anderer Stelle als »bloße Analogie« bestimmte. Und sie zielte damit auch auf die Widerlegung der Auffassung, Kunst sei falsches oder richtiges Bewußtsein einer Klasse. In Zweifel zog sie in der Kunstkritik gebrauchte Topoi des Soziologismus, um die Vorstellung des künftig Ästhetischen von ihnen freizuhalten: 35 Es läßt sich aus Erfahrung feststellen, daß auf Grund rein kritischer Begriffsbestimmungen nach der Wertung >bürgerlich< oder >proletarisch< in vielen Köpfen die Vorstellung entstand, als schüfe nur die Gesinnung geltende Werke. Und als schaffe der Künstler aus der bürgerlichen Interessenssphäre bewußt aus dieser Sphäre. Im allgemeinen entstehen daraus der Irrtum und die Diskussion über Gesinnung und Kunst=Können. Wobei das Wesen der Tendenz in der Verteidigung auf unserer Seite noch niemals klar festgestellt wurde.

Auch als Teige die Topoi »bürgerlich« und »proletarisch« verwarf, 36 ging es ihm um eine begründete Einstellung der Arbeit des Künstlers zur gesellschaftlichen Aufgabe. »Da sie sich nach den marxistischen Konzeptionen richtet, sieht sie in der Kunst einen der höchsten Teile des ideologischen Überbaus der Gesellschaft«, schrieb er im Hinblick auf die Lage in Rußland und Lunaóarskijs Vorstellung der proletarischen Kunst als Ideologie. 37 Und die Folgerung für den neuen Gesamtstil, eine Art post-unanimistische und —konstruktivistische Volkspoesie, hieß dann: »Tendenz im breiteren Sinne, nicht nur [als] revolutionäres Schlagwort, sondern [als] proletarische Begriffsweise und Anschauung«. 38 »Man muß sich für die Tendenz in der Kunst aussprechen, weil es nötig ist, den Mißbrauch der Tendenz in der Kunst zu bekämpfen.« 39 Doch nicht nur die dynamische Entwicklungsvorstellung einzelner Kunstreihen bzw. -gattungen sollte die Meinung korrigieren, Kunst sei Ideologie, sei der in künstlerische Form gegossene soziale »Inhalt«, Nachfahre der aufklärerischen moralischen Botschaft. Statt Tendenz im Sinne des »Inhalts« zu bestimmen, schlug Lu Märten vor, die jeweilige Form geschichtlich zu begreifen, und zwar in Ergänzung zu einer »Lehre des Materials«: »Sollte dergleichen in der Folgerung den Arbeiter nicht mehr interessieren als die Feststellung, ob ein heutiger Versuch, da und dort, auf dem Gebiet, das man nun einmal Kunst nennt, proletarischen oder bürgerlichen Geist verrät?« 40 In der Konsequenz führt die Bestimmung des Form/ Material-Verhältnisses als Grundvoraussetzung der Ästhetik im Hinblick auf den soziologischen Erkenntniswert zum Begriff der Funktion; dem Inhaltsbegriff dagegen haftet immer die moralische Wertung an. Er führt von sich aus zur Verdächtigung der »bloßen«, d.h. moralisch angeblich verantwortungslosen, weil für das Proletariat unverständlichen Form. Wie oben gezeigt wurde, stammte Lu Märtens Auffassung des Materials aus dem Bereich der bildenden Künste, ging jedoch gleichzeitig in die Grenzbestim35 36 37 38 39 40

Lu Märten, ebd., S.12. Karel Teige: Neue proletarische Kunst. S. 8. Karel Teige, ebd., S. 8. Karel Teige, ebd., S. 34. Karel Teige, ebd., S. 32. Lu Märten: Historisch-Materialistisches. S. 13.

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mungen der Gattungen und der sinnlichen Vermögen, der intellektuell-physischen Auffassungs- und Ausdrucksgaben ein. Bei Teige findet sich schon in den späten zwanziger Jahren der Materialbegriff in diesem Bedeutungsrahmen für das Material der Poesie synästhetisch verwandt: »Gegenseitige Abhängigkeit der Kunst und Einheitlichkeit der ästhetischen Emotionen. Die Dichtung, die sich von der rationalen Ordnung der Literatur und Ideologie entfernt hat, verbindet sich durch verwandtschaftliche Bande mit der Musik und Malerei. Sie bearbeitet ihr Material, das Wort, und seine Komposition so, daß sie aus ihnen das Maximum an Melodien und Bildern gewinnt, sie musikalisiert und visualisiert, also sensibilisiert ihren Stoff, das dichterische Wort, mit allen Widerhallmöglichkeiten in den rezeptiven Systemen der Leserpsyche.« 41 Mit dem Gedanken der immanenten Entwicklung der Künste, die unter das Vorzeichen einer allgemeinen Perspektive von Arbeit und Technik gestellt ist, und der Lehre des Materials, welche die Vorstellung der Funktion (bei Semper und Morris: Zweck) mit sich führt, wird von der ästhetischen Programmatik aus die Schwelle zur analytisch-strukturalen Literaturtheorie betreten. Ganz offenkundig berührt sich Lu Märtens Formkonzeption gerade mit der konkret-utopischen Dimension des poetistischen Programms. Warum aber vermerkt Teige, der die Konvergenz der Intentionen wahrgenommen haben muß, daß Lu Märtens marxistische Soziologie im Vergleich zu der Hausensteins von geringerer Bedeutung ist? Zum einen ist Hausensteins Entwurf einer Soziologie der Kunst in der wissenschaftlichen Durchführung ausgereifter. Er trennt zwischen methodischen Fragen und historisch-materieller Darlegung. Lu Märten hingegen gibt, auch in der Broschüre von 1921, deren Hauptgegenstand die Poesie ist, durch die Vermischung beider Ebenen erst noch zu beweisende Hypothesen bereits als Tatsachenwissen aus. Sie kommt auch in der Bestimmung der Kunst der Gegenwart nicht zur These der Janusköpfigkeit. Die Gründe dafür geben Hinweise darauf, warum die Bedeutung von Lu Märtens Marxismus im Sinne einer Soziologie der Avantgarde für Teiges Poetismus trotz der durchaus übereinstimmenden Absichten begrenzt blieb. 42 Wie in den vorangegangenen Aufsätzen stellt Lu Märten in Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste die verschärfte Arbeitsteilung und den Verlust der kollektiven Kunstfertigkeiten seit der Industrialisierung fest. An den Künstler werde der Teil der gesellschaftlichen Arbeit delegiert, der Phantasie und Emotion in handwerkliches Können verwandeln kann. So wird die »iso41 42

Karel Teige: Manifest des Poetismus. S.78. Die Geschichtsschreibung des tschechischen Poetismus läßt Karel Teige erst mit Jarmark umënl (Jahrmarkt der Kunst, Prag 1936) einen literatursoziologischen Beitrag liefern. Dieser sei jedoch »nur eine Art vorläufiger Skizze zu seiner monumental konzipierten Phänomenologie der modernen Kunst, an der er in den Kriegsjahren arbeitete und die leider ein bis auf den heutigen Tag nicht rekonstruierter Torso geblieben ist.« Kvètoslav Chvatík: Avantgarde und Strukturalismus. 1966. In: Chvatik, Strukturalismus und Avantgarde. Aufsätze zur Kunst und Literatur. München 1970. S.21.

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lierte, reine« Kunst als Produktivkraft bewertet, keineswegs als »Verfall«.43 Aber Lu Märten argumentiert nicht von der Grenzerfahrung des modernen Kunstbemühens her. Dieses bleibt ihr »Scheinformen«, »wie sie heute in rascher Folge revolutioniert erscheinen, ohne uns zu erweisen, wozu und zu welchem Inhalt. Um der Form willen revolutioniert sich heute die Form.« 44 So spricht sie vom »erschöpften Kunstwillen der Zeit«: »Das Entscheidende ist, daß die Einbildungskraft selbst ertötet ist.«45 Welchen Kunstrichtungen sie solche Unfruchtbarkeit attestiert, bleibt für den Leser undurchsichtig. Anstatt daß Lu Märten nun aus dem Nebeneinander destruktiver oder expressionistisch und klassizistisch oder naturalistisch orientierter Literatur eine Bestimmung versucht hätte, welche Tendenzen für den Gesamtstil fruchtbar werden könnten, bietet sie für die Lösung des Problems die Dichtungen Peter Hilles an. Nun läge dies mit der symbolistischen Orientierung des Poetismus durchaus nicht grundsätzlich im Widerstreit, wäre Lu Märtens Einschätzung nicht einerseits von Resignation geprägt und andererseits betont normativ. »Nicht die künstliche Erzeugung [...], sondern nur die historisch-notwendige kann uns weiter weisen. Jene Form, die die Sprache und das Wort, ja selbst den Laut wieder erinnert und zu dem Grad erweitert, daß es einen neuen Inhalt in weitester Vorstellung, nach allen seinen Schwingungen und Energien, nach poetischen, musikalischen, malerischen und architektonischen Empfindungsgebieten aufzunehmen imstande wäre, jene Form etwa, wie sie Hille anbahnte und Becher [fortführte, aber nicht jene Scheinformen alle [.. ,].«46 Über die zeitgenössischen poetischen Versuche hatte Lu Märten ein zu negativwertendes Vorurteil, als daß sie Mitte der zwanziger Jahre das Anknüpfen an Dada, den Surrealismus, die Bewunderung für Jaroslav Seifert oder Nezval hätte nach vollziehen können. Diese Differenz unterstrich sie selbst auch wiederholt in ihren Briefen an Väclavek; »ich würde gern einmal mit Ihnen über den durchaus problematischen Punkt — Träger und Vorstellung einer weiteren Poesie — diskutieren«, 47 antwortete sie auf einen Artikel Václaveks über Seifert. Im darauffolgenden Brief schrieb sie: »Wenn es unter Modernem irgendetwas gäbe, das der Aufmerksamkeit wert wäre, so wäre ich kaum zu meinen sich immer mehr festigenden Schlüssen gekommen. Seit Peter Hille, dem ja alle nachfolgten, die man etwa 43

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Lu Märten: Historisch-Materialistisches. S.64. »Die Künste kommen zuletzt auf den Inhalt, der sich destilliert aus den technisch-experimentalen Möglichkeiten ihres eigenen Kunstkörpers. - Diese aus alledem resultierenden Möglichkeiten und Kunsttatsachen sind es, die heute die Unsicherheit und den Streit über das, was sich als neues Prinzip darin ankündigt, erbringen. Eine geschichtliche Wertung aber wird keineswegs an diesen Tatsachen nur negierend vorbeigehen; sie muß vielmehr dazu helfen, das, was sich notwendig und echt aus gegebnen Bedingungen [entwickelt], als solches anzuerkennen [...].« Lu Märten, ebd., S.44. Lu Märten, ebd., S.21. Lu Märten, ebd., S.44. Brief Lu Märtens an Bedfich Václavek vom 28.8.1926. Nachlaß Bedrich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag).

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noch als Wortgestalter ansehen kann, wüßte ich niemanden. [...] Wen ich Ihnen nennen könnte: vielleicht Benn, den Arzt. Da kenne ich einiges, das mich stark berührte, aber ich sage es mit Vorbehalt [.. .].«48 Václavek ermunterte sie daraufhin, das zu kursorisch gebliebene Kapitel über die Dichtung in Wesen und Veränderung, das zu der eigenständigen Broschüre Über Sprache und Dichtung hätte erweitert werden sollen, für fronta auszuarbeiten, und gab einen Hinweis auf Dada. Lu Märten äußerte mit Bezug auf ihren früheren Artikel über Dada in der Roten Fahne: »Was mich erstaunt, ist Ihre Begeisterung über Dada. Nicht an und für sich, sondern weil Sie zu glauben scheinen, daß Dada als Hauptrichtung noch existiert. Er ist aber als Gruppe längst vergangen. Ich habe Dada (wenn auch nicht einzelne Vertreter) durchaus ernstgenommen [.. ,].«49 Ihr Einwand wehrte aber auch gleichzeitig eine normative Setzung einzelner poetischer Richtungen ab, die der Poetismus programmatisch vornahm. »Ich meine nur eins: Man muß sich hüten, eine zur Zeit logische Sache zu sehr [...] absolut zu werten. Es ist wie mit dem Konstruktivismus. Er ist richtig, und doch muß er nicht der Endpunkt einer bestimmten Entwicklung sein. Es kommt, wie zum Beispiel bei der Architektur, auf die nächste technische Entwicklung an; ob sie stagnierend ist wie die Gesellschaft selbst oder nicht. Daher ist heute alles Experiment, aber natürlich ganz berechtigt.« 50 Sie selbst empfahl dagegen immer wieder Bechers Gedichte und Prosa, schlug Oskar Kanehl als Mitarbeiter vor oder erkundigte sich bestenfalls nach der Einstellung der Poetisten zu Majakovskij, dessen Gedichte auf Deutsch nur in Bechers getragener Hymnik vorlagen, nach der Lu Märten urteilte. Insgesamt dürfte bei der Verständigung mit Václavek über den revolutionären Charakter der jüngsten Poesie auch das Sprachproblem hinderlich gewesen sein, zumindest wenn es um tschechische und russische Lyrik ging. Im /ronto-Artikel unterstellte sie dennoch die Fortexistenz der Dichtung als »Neuform«. Sie sei von einem Stil »überlegener Sachlichkeit«; er schaffe eine neue literarische Tradition und überwinde so das bloß artistische Gedicht wie die Tendenzdichtung. 51 die kunst ist tot. damit sind aber die kiinstler noch nicht tot. der wert des dichterischen mittels bewegt sich im Verhältnis zu anderen mittein weiter in absteigender linie. in hinsieht des stofflichen ist heute zu konstatieren, daß es kaum etwas gibt, was nicht literarisch oder dichterisch verwertet wurde, mit der relativen erschöpfung und reduzierung des stofflichen geht das bewußtsein zurück auf das mittel, auf die form, gleichgültigkeit und müdigkeit gegenüber der spräche und ihren qualitäten. die stärksten produkte der relativ 48

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Brief Lu Martens an Bedfich Václavek vom 29.9.1925. Nachlaß Bedrich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag). Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom Dezember 1925. Nachlaß Bedrich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag). Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom Dezember 1925. Ebd.. Lu Märten: objektivní podmínky novych tvarü ν básnictví a literaturè (Die objektiven Bedingungen der Neuformen in Dichtung und Literatur). In: fronta. internationaler almanach der aktivität der gegenwart. kunst, technik, literatur, Soziologie, Wissenschaft, modernes leben, red. von f. halas, vi. prûsà, zd. rossmann, b. václavek. brünn 1927. S.65.

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unabhängigen gattung der reinen lyrik entbehren nicht des bewußtseins der relativen Unerheblichkeit ihrer Stofflichkeit gegenüber vitaleren dingen, es ist der dialektische riß zu führen zwischen [...]: literatur um der literatur willen und zwecken um bestimmter anderer ziele willen, der weg der revolution muß eine andere nahrung und hilfe durch die literatur oder dichtung erhalten als durch den lyrischen oder kämpferischen hymnus; eine nahrung, die beides nicht entbehren muß, die aber im wesen von überlegener Sachlichkeit erfüllt sein muß. es handelt sich um einen Organismus und eine erfüllung, nicht um eine literarisch abgerundete Schöpfung um der Schöpfung willen.

Damit nahm Lu Märten tatsächlich Abstand von jeder zeitgenössischen Lyrik, setzte die Programmatik vom Ende der Poesie absolut, während sie zu gleicher Zeit einen unanfechtbaren pragmatischen Zukunftsstil forderte. Václaveks Beitrag zum Poetismus soll V. Müller zufolge von einem vergleichbaren Widerspruch geprägt gewesen sein. Seine Zukunftsvorstellungen seien weniger von einer »Poesie für alle Sinne«, sondern eher vom unwiderruflichen Ende der gegenwärtigen »reinen« Poesie bestimmt gewesen. Zukunftsweisend wäre demnach, daß einmal keine Poesie mehr sei. Den Vorwurf, daß jene Poesie bloßer Luxus sei, habe er aber nicht gelten lassen wollen, »weil sie an sich ein klassenmäßig bürgerlicher Begriff ist, den man nicht sozialisieren kann«: »Die Frage heißt nicht Poetismus oder eine bessere Poesie, sondern Poetismus oder keine Poesie.« 52 Die Poesie des Poetismus stelle die letzte Stufe einer seit dem vorigen Jahrhundert wachsenden sozialen Funktionslosigkeit der Dichtung vor; und erst die nachrevolutionäre Gesellschaft bringe die vollständige Entwicklung der vorerst zur Bedeutungslosigkeit verurteilten Revolution der Form. In seinem Nachwort zum fronta-Almanach habe Václavek neben der »reinen« Kunst allerdings noch die journalistische Gebrauchsform der Literatur nach dem Vorbild der russischen »literatura fakta« bestehen lassen. Doch sei sie als Kampfmittel des Proletariats zu werten und selbst ohne ästhetischen Anspruch. Müller versteht den Umschlag, den Václavek von der »reinen« Poesie in den vitalen Zweck annimmt, als bloß hypothetisch und postulativi 3 Statt wie Teige vom Poetismus als von einer »Krönung des Lebens« zu sprechen und die Antizipation klassenloser Formen von der Poesie aus zu unterstellen, habe ihn sein erstarrter Dualismus von »reiner« und zweckhafter Poesie schließlich das Kriterium des Inhalts für die zweckhafte Literatur akzeptieren lassen. Im wesentlichen dürfte Václacek damit Lu Martens Überlegungen wiederholt haben, wonach der Riß zwischen der Literatur um der Literatur willen und den Zweckformen, deren Intention nichtliterarisch ist, zu vertiefen sei. Die gleichzeitige Synthese, die sie »einen Organismus und eine erfüllung« nannte, deren Wesen von »überlegener Sachlichkeit« bestimmt sei, erhoffte Václavek jedoch weder von der zeitgenössischen Dichtung, noch sah er in ihr eine mögliche zukünftige Form der Poesie. 52

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Bedrich Václavek: Trídní revoluce a umëni. In: Var. 1925, Nr. 3. Zit. nach Müller, Der Poetismus, S.54. »Er begnügt sich mit der Metapher der Verschmelzung von Kunst und Leben,« erläutert Müller, um die bisherige Gleichsetzung der Positionen Teiges und Václaveks in Frage zu stellen. Müller, Der Poetismus, S.54.

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Seine Essaysammlung Poesie in Verlegenheit (1930) sollte darin eine Veränderung erkennen lassen. In ihr schlug sich zum einen die in der poetistischen Bewegung intensivierte Rezeption des Surrealismus nieder. Václavek dachte der »reinen« Form nun eine legitime Entlastungsfunktion zu, welche die gesellschaftlich gemaßregelte Phantasie im Sinne der Antizipation freisetzen könne. Er nannte dies die emotionelle Funktion der Kunst. »In einer Zeit, die den Menschen so sehr durch ihre abstrakte, unmenschliche Ordnung unterdrückt, wo der Mensch seine Emotionalität nicht im wirklichen Leben ausleben kann, bietet die Kunst eine fiktive Befriedigung.« 54 Während nun die emotionelle Funktion der Poesie die Arbeitsteilung zwischen Dichter und industriell Arbeitendem verschärfe, könne man von Seiten der angewandten Künste die gegenläufige Tendenz wahrnehmen: Architektur, Kino und Photographie entsprächen als Kunstformen den modernen Industrieverfahren. Mit ihrem Einfluß auf die »reine« Kunst vermittelten sie von ihr zu künftigen Formen. »Die zweckhaften Formen sind heute in vielem so emotionell, daß sie das Bedürfnis nach Kunst ersetzen.« 55 Der russische Konstruktivismus und das deutsche Bauhaus lieferten die Beweise für die Möglichkeit, populäre Formen der klassenlosen Zukunft auch heute schon herzustellen. Václavek trat mit der Absicht auf, die tschechische proletarische Literatur mit dem Poetismus in ein Gespräch zu bringen und zur Übernahme der kausalgenetischen Erklärung der Kunst und ihrer Epochen aus der technischen Entwicklung zu bewegen. 5 6 Seinerseits gelangte er zur Idee der Gestaltung als Verwirklichung

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Bedrich Václavek: Poezie ν rozpacích (Poesie in Verlegenheit, Prag 1930). S.68. Zit. nach Müller, Der Poetismus, S.60. Bedrich Václavek: Poesie in Verlegenheit. S. 111. Zit. nach Müller, Der Poetismus, S. 60. Dies mit dem »Basis-Überbau-Modell« gleichzusetzen — Müller legt es nahe (S.58) — stiftet Verwirrung. Bestenfalls diejenigen Positionen lassen sich damit schlagwortartig kennzeichnen, die seinerzeit auch auf jenem »Modell« insistiert haben. Im »Basis-Überbau-Modell« zuhause waren diejenigen Kritiker Teiges und Václaveks, die ihnen den Vorwurf des Technikfetischismus machten. Etwa E. Urx: Bedrich Václavek in Verlegenheit, den Müller wie folgt zitiert (S.65): »Die Entwicklung der Technik ist die Grundlage der Entwicklung, ihre materialistische Seite, die uns nichts über die Gesetzmäßigkeiten dieser Entwicklung sagt, wenn wir nicht gleichzeitig auch die andere, dialektische Seite sehen: die inneren Widersprüche der Produktionsverhältnisse.« Es handelt sich um dasselbe Argument, das schon Gertrud Alexander gegen Lu Märten vorbrachte und das vor allem E Vaßen, J. Rosenberg und R. May — dieser mit Einschränkungen — erneut anführen: Das Motiv der beiden Letztgenannten deckt sich mit demjenigen M. Zemans (Zu Václaveks und Lu Martens Versuch Versuch einer marxistischen Synthese. In: Zeitschrift für Slavistik. Jg. 3, 1980, Heft3, S. 409ff.). Die Folie, auf der Lu Märtens Anregungen im Hinblick auf den Poetismus gelesen werden, gibt die übliche marxistische Orthodoxie ab, welche die poetistische Avantgarde, insbesondere ihre polemische Ästhetik, nur als Objekt der Verurteilung zur Kenntnis nimmt. Václaveks Teilnahme - unterstellt wird stets der spätere Theoretiker des sozialistischen Realismus — erscheint dabei als jugendliche Unreife, bestenfalls Nährboden einzelner, im Umkreis des sozialistischen Realismus ansonsten fremder, dennoch weiterreichender Einsichten. Allen gutgemeinten Ansätze zum Trotz wurden so Wirkung wie Koinzidenz der Ästhetik Lu Märtens und des Poetismus eher verdunkelt. Zemans Aufsatz ist jedoch verdienstvoll, wo er die entscheidende Wirkung Lu Märtens auf Václavek, insbesondere auf Poesie in Verlegenheit, unterstreicht.

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der Poesie. Wie kam diese Umorientierung zustande? Sie ist Symptom einer Wende des Poetismus insgesamt, die sich während der Zusammenarbeit mit dem Dessauer Bauhaus ergab. Die Ausrichtung der Bewegung auf die angewandten Künste soll Karel Teige mit Vorlesungen am Bauhaus seit 1926 bewirkt haben. Infolgedessen wurde Wesen und Veränderung in Bauhaus-Kreisen rezipiert. Ob Teige selbst dazu beitrug, muß offen bleiben. Festgehalten werden kann in diesem Zusammenhang lediglich, daß ihm Anfang des Jahres 1926 der Taifun-Verlag Lu Märtens Buch mit der Bitte übersandte, er möge eine Besprechung für die Internationale Presse-Korrespondenz oder für Unter dem Banner des Marxismus verfassen — womit der Verlag einer Empfehlung Václaveks nachkam. 57 In gewissem Sinne nahmen Václavek und Teige mit ihrer Orientierung an der neuen Gestaltung auch Lu Märtens Vorschlag auf, eine wissenschaftliche Produktivität zu entfalten, über die Theorie organisatorisch zu wirken und dabei auch Künstler mit einzubeziehen. Diesen Vorschlag publizierte sie unter dem Titel Konkrete Aufgaben neben ihrem Artikel über das Ende der Literatur im fronta-Almanach: »konkrete aufgaben: theoretische hartnäckige bewußtmachung der heutigen kulturellen situation, besonders auch unter künstlern. für den künstler: aufsuchen kleiner alltäglicher aufgaben, für die revolutionäre wissenschaftliche arbeit: wirkliche wissenschaftliche leistungen und Schaffung eines forums, wo dieselben sich geltend machen können.« 58 Bei dem Versuch, Lu Märtens Buch auch außerhalb der Tschechoslowakei in die politisch-ästhetische Diskussion einzubringen, stieß Václavek 1928 auf das Interesse von Ernst Kállai, einem ungarischen Kunsthistoriker und ehemaligen Mitarbeiter der Avantgardezeitschrift MA und neben Hannes Mayer derjenige unter den Lehrern am Bauhaus, der eine materialistische Theoriebildung unter Lehrern und Schülern fördern wollte. 59 Kállai nahm daraufhin Kontakt mit Lu Märten auf. Sie berichtete Václavek darüber: 60 Ich war vorige Woche am Bauhaus zu einem Vortrag dort. Dabei habe ich den Artikel [Václaveks Rezension von Wesen und Veränderung, C.K.] auch flüchtig einsehen können. Ihm ist als Wiedergabe des Inhalts sicher nicht zu widersprechen, nur hätte ihn Kállai etwas stärker für meine Arbeit interessierend gewünscht, eine Absicht, der ich nur zustimmen kann; vor allem jetzt nach meinem Einblick in das Bauhaus und seine Leute — dem starken Suchen und Interesse der jungen Menschen dort einerseits und dem z.T. unerschütterlichen Mißverständnis der Lehrer gegenüber dem Materialismus andrerseits (dem sie doch praktisch huldigen) — ist mir das nur noch mehr verständlich. Kállai und auch ich sind nun besorgt, daß Sie den Vorschlag unzufrieden aufnehmen könnten. Aber weil 57

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Brief des Taifun-Verlags an Lu Märten vom 30.1.1926. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 194. - Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom 1.2.1926. Nachlaß Bedrich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag). Lu Märten: konkretní úkoli (konkrete aufgaben). In: fronta. 1927, S.136. L'activisme hongrois. Conçu et réalisé sous la direction de Charles Dautrey et JeanClaude Guerlain. Montrouge (Editions Goutal-Darly) 1979. S. 324. - Hans M. Wingler (Hg.): The Bauhaus. Weimar, Dessau, Berlin, Chicago 31980. S. 161-63. (Deutsche Erstausgabe Köln 1962). Brief Lu Märtens an Bedrich Václavek vom 22.10.1928. Nachlaß Bedïich Václavek, Museum des nationalen Schrifttums (Prag).

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auch Sie von der Eile schrieben, mit der Sie Kállais Wunsch nachkamen, glaube ich doch, daß Sie seiner Absicht zustimmen werden. Ich selbst sitze auch noch an einem theoretischen Artikel für bauhaus. Ich habe für meine Begriffe dort sehr schlecht gesprochen [...]. Aber gefesselt hat es trotzdem, die Diskussion ging bis in die Nacht und — wie mir K. schreibt - sie beschäftigt die Gemüter noch weiter. Lu Märtens Beitrag für bauhaus

und Václaveks Rezension in derselben N u m m e r

erschienen erst im folgenden Jahr. D i e Zeitschrift stellte ihr Formkonzept so vor, daß es als theoretischer A n s t o ß für die zeitgenössischen B e m ü h u n g e n um Gestaltung gelten konnte. D e n n »die kunst in ihrer heutigen läge zu begreifen und aus dieser läge die nötigen folgerungen zu ziehen«, sei »von einer eminenten bedeutung für das gesamte moderne kunstschaffen«: 6 1 lu märten zeichnet mit durchdringendem Verständnis der historischen zusammenhänge ein umfassendes bild der entwicklung in den einzelnen kunstgattungen. es gibt ursprünglich kein bewußtsein der >kunstkunstklassischen< (bürgerlichen) zeit der griechischen kultur und in der ebenfalls bürgerlichen kultur der neuzeit. die heutigen künste (poesie, maierei, plastik, musik u.a.) basieren im gründe auf der handwerklichen stufe der Produktion, trotzdem die gesamte grundlage der arbeit seit dem 15. Jahrhundert durch die manufaktur und die maschine sich allmählich [...] verändert hat. um dieser tatsache rechnung zu tragen müssen wir den traditionellen bürgerlichen begriff der >kunst< aufgeben und das wesen der neuen gestaltung weit über die grenzen der >kunst< auf allen gebieten des lebens, in gebilden neuer technischer bestimmtheit und neuer Zweckerfüllung suchen, in formen, die nicht nur Stimulantia, ersatz und schein des lebens, sondern teile und funktionen der lebenswirklichkeiten sind. Lu Märtens bauhaus-Beitrag

historischer

materialismus

und neue gestaltung

geht in

einer Hinsicht über ihr Formkonzept v o n 1924 bemerkenswert hinaus, nämlich bei der Bestimmung dessen, was Materie und Material als stoffliche Essenzen der gesellschaftlichen und der gestaltenden Arbeit für die Schaffung des künftigen G e samtstils bedeuten können. D a b e i kommt den Überlegungen Lu Märtens ein spinozistischer Materiebegriff zugute. U n d weil dieser im Poetismus Teiges von der Poesie aus entwickelt wird, verdient Lu Märtens »Wissenschaft der materie« — »der historische materialismus ist diese philosophie« 6 2 — unter d e m Gesichtspunkt ihrer Berührungspunkte mit d e m Poetismus noch einmal eingehendere Aufmerksamkeit. 61

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Bedrich Václavek: lu märten, wesen und Veränderung der formen-künste. In: bauhaus. 1929, Nr. 1, S.26. Lu Märten: historischer materialismus und neue gestaltung. In: bauhaus. 1929, Nr. 1, S. 8. (Im folgenden ist hiernach zitiert). Wiederabgedruckt in Lu Märten: Formen für den Alltag. S. 129-136. 207

Zuvor soll jedoch ein Beispiel aus dem praktischen Gebiet des Experiments verdeutlichen, inwiefern eine Neubestimmung der Materie als Substanz der Ästhetik von der Idee der »neuen Gestaltung« aus noch einmal metaphysische Fragestellungen erschließen konnte. Durch die Erfindung der Fotogramme von László Moholy-Nagy - eine kameralose Photographie, die dadurch zustandekommt, daß ein Lichtstrahl über eine Platte geführt wird und dadurch eine Figur hervorbringt —, die der Röntgenapparate und -platten sowie der Mikroskopphotographie, war in der Avantgarde die Hoffnung auf den technischen Fortschritt für die Entfaltung der Sinneswahrnehmung allgemein verbreitet. Benjamin etwa schrieb über einen Bildband botanischer Mikroskopphotographien: »Wer diese Sammlung von Pflanzenphotos zustande brachte, kann mehr als Brot essen. Er hat in jener großen Überprüfung des Wahrnehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird, das Seine geleistet. [...] Ob wir das Wachsen einer Pflanze mit dem Zeitraffer beschleunigen oder ihre Gestalt in vierzigfacher Vergrößerung zeigen — in beiden Fällen zischt an Stellen des Daseins, von denen wir es am wenigsten erwarten, ein Geysir neuer Bilderwelten auf.« 63 Die Natur schien auf einmal selbst neue Kunstformen zu offenbaren. Das naturwissenschaftliche und das ästhetische Experimentierverfahren versprachen, eine gemeinsame Zukunft und damit eine voneinander unabtrennbare gesellschaftliche Relevanz zu besitzen. Hierauf bezog sich Lu Märten in ihrer Theorie der Materie. Die Grauzonen der menschlichen Kenntnis der Natur entsprächen historisch jeweils dem Stand der bis dahin unentdeckten Materie: 64 auf naturwissenschaftlichem gebiet entdeckt sich die natürliche materie mit dem tortschritt der technik (denken wir nur an das mikroskop und ultramikroskop, röntgenspektroskop usw.) und weiter, nicht mehr nur über den weg unserer natürlichen sinnesorgane, sondern längst auch auf dem wege der elektrofunktionen, von denen wir noch kaum wissen, wieweit sie unsere nerven einmal zu entdeckern machen werden, nicht die idee und der ihr näher zugedachte geist an sich konnten dies jemals ahnen, hatten vielmehr, als man schon die tatsache z.b. des magnetismus entdeckte, darüber sehr kuriose ansichten, sondern das materielle experiment erst entdeckt uns diese dinge.

Nach dem Vorbild des marxschen Begriffs der zweiten Natur führt Lu Märten anschließend den Begriff der »künstlichen materie« ein. Darunter faßt sie die Resultate der bisherigen Arbeit der Menschheit, die gesellschaftlich-wirtschaftliche Formation und die Kunst. Wie die Gesetze der Naturkräfte entdeckt worden seien, gelte es entsprechend die der künstlichen Materie zu entdecken. Das könne denkend geschehen, genausogut aber auch praktisch. Beides gehe in der Form eines Umschaffungsprozesses, wie die Verkettung von Kunst-Handwerk vom Höhlenmenschen über die Jägergesellschaften und die Ägypter bis hin zum Mittelalter zeige, quasi organisch vor sich. Die Erkenntnis (»Geist«) entwickle 63

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Walter Benjamin: Neues von Blumen. Rezension zu Karl Bloßfeldt: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Berlin 1928. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. III. Frankfurt/M. 1972. S. 151/52. Lu Märten: historischer materialismus. S.4.

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sich »nur als funktion am Stoff, und die Wandlung des stoffes, das, was durch diesen erkenntnis und lehre ist [...], entwickelt sein denken über und aus dem stoff«. 65 Mit dem Verfall der Künste setze eine direkte Konfrontation mit der Materie in allen Gattungen ein. Ja, Material, Form und Denken stünden im ästhetischen Arbeitsprozeß gleichwertig nebeneinander, »viele kunsttreppen zerfielen, aber nicht die elemente der form, sie blieben als ton, wort, spräche, färbe, anatomie und zahlreiche nebenelemente, im wesentlichen aber materien. und aus diesem neuen chaos begannen die besten und weitdenkendsten künstler zu denken.« 66 Neue Ehrfurcht vor dem Material, seine zweckmäßige Gestaltung, die sich nicht mehr allein am ästhetischen Wert ausrichte, schüfen in den experimentellen Ausführungen mit ihren Berechnungen neugewonnene künstliche Materie. Dabei entstehe eine vorläufig unbegriffene Intellektualität; »denn das irrationale, [...] das privileg der alten kunst«67 sei darin konstruktiv aufgehoben als Materiallogik. Aus solchen Überlegungen zieht Lu Märten eine Konsequenz für die künftige Naturbeherrschung. Darin nähert sie sich der Arbeitsutopie eines Fourier, der der Natur ihre Gesetze im Spiel abgewinnen und die gewaltsamen Eingriffe in ihren und den menschlichen Organismus beseitigen wollte, »materialismus dieser art sieht in der kunst, wie wir heute noch sagen, die ideelle Vernunft der arbeit selbst. [...] aber eben darum ist ihm die materie auch nichts geringeres als die geistige, so verheiligte funktion der lebewesen. er lehrt nicht, die materie vergewaltigen, wie es bisher die blinde wirtschaftsentwicklung tat, (was viele idealisten zwar bedauern, aber nirgends zu ändern sich je entschlossen) sondern kämpft darum, sie bewußt zu verändern, zu gestalten, die materie ist ihm aus aller geschichte der große gegenspieler, der lehrende (wie sie es auf frühen stufen z.b. in der form des tieres war, das er besiegte, zu überlisten versuchte, das ihm aber ebenbürtig erschien und darum vergöttlicht [...] oder zur lebensgrundlage wurde).« 68 Die bis zur Identität mit der Form erweiterte Vorstellung der Materie begründete, im Sinne eines theoretischen, stellenweise idealistisch-unbeholfenen Entwurfs, eine »ars una«, 69 den technischen Gesamtstil. Es ist derselbe Gesamtstil, den der Suprematismus von der Metaphysik der Farbbewegung aus entwarf und der die Umschaffung der technischen Reproduktionsbasis im Sinne des Humanis-

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Lu Märten, ebd., S.4. Lu Märten, ebd., S.6. Lu Märten, ebd., S.6. Lu Märten, ebd., S.8. »die materie ordnen, bewußt zu machen, praktisch wertschaffend zu machen, ist nötig, um die ferne idealität einer Vorstellung als ziel zu erreichen. [ . . . ] nicht ihr programm ist dem kunstwerk anderer art schon gleich, sondern ihre erfüllung als tatsächliches leben, gesellschaft oder was es an form sein will, all das aber braucht die erkenntnis und das bewußtsein der gesetze der materie, weil ohne dies die erfüllung der idee nicht möglich ist. es ist also die Vorstellung des ideellen in seiner praktischsten form, was die betonung und die Wissenschaft der materie nötig macht.« Lu Märten, ebd., S.8.

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mus für den »homme universel« anstrebte. 70 Teige entwarf ihn von der Poesie aus. Das Manifest des Poetismus von 1928 proklamierte: »Wir geben den Begriff der >Kunst< auf und begreifen das Wort >Poesie< in seinem ursprünglichen griechischen Sinn: poiésis, das supreme Schaffen. Die Poesie legt man heute nicht nur in Büchern nieder, man kann mit Farbe, Licht, Ton, Bewegung, mit dem Leben selbst dichten. Die Poesie als Epiphänomen der Harmonie der materiellen, vitalen, spiritualen Tatsachen, Poesie als höchste menschliche und künstliche Ordnung. Eine Poesie, die auch dort strahlt, wo es keine Spur von >Kunst< gibt.« 71 Der Schlußsatz des Manifests lautet: »Wenn die mittelalterlichen Künste dienten, weckt der Poetismus die Poesie in der reinen und unapplizierten Form und baut ihre neue Welt, eine Welt der Harmonie und des Glücks.« 72 So führt Teige die Dichtung, wie Lu Märten die »neue Gestaltung«, in die Nähe Fouriers zurück. Aufmerksamkeit verdient im Vergleich beider Programmatiken die Rolle, die das »Irrationale« in der Kunst spielt. Lu Märten verlangt seine Erkenntnis und Eliminierung im gestaltenden Experiment, wobei die Eliminierung als eine Aufhebung im Sinne Hegels verstanden werden kann. Entsprechend will Teige das in der Mathematik als Pi symbolisierte irrationale Element in den poetistischen Gesamtstil integrieren. Paul Kruntorad erläutert: 73 Nach den Vorstellungen Karel Teiges muß die neue Kunst kalkuliert sein, das Kalkül, an das er denkt, stammt aus der Mathematik, in der es immer mehrere Lösungen eines Problems gibt, doch nur eine >eleganteFhomme universel·. Dans la vie courante ces carrés ont reçu encore une signification: le carré noir comme signe de l'économie, le carré rouge comme signal de la revolution, et le carré blanc comme pure mouvement.« Kasimir Malevic, Vitebsk, 15dec. 1920. In: Malevitch, Suprématisme: 34 dessins. Paris (Editions du Chêne) 1974. Karel Teige: Manifest des Poetismus. S. 110/11. Karel Teige, ebd., S. 111. Paul Kruntorad: Nachwort zu Teige, Liquidierung der »Kunst«. S. 132/33.

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in Václaveks Rezension zu Wesen und Veränderung folgende bemerkenswerte kritische Einschränkung: »zu bedenken wäre lediglich, ob der methodisch so fruchtbare begriff >form< als bezeichnung für das eigentliche wesen der kunst nicht eine zu große rolle in den ausführungen lu märtens spielt, die ästhetik der avantgarden sucht ihm eher auszuweichen, auch ist es fraglich, ob die grenzen zwischen >praktischem< leben und kunst sich jemals vollständig verwischen lassen werden.« 74 Der Einwand war berechtigt, soweit er vor dem totalitären Element im ästhetischen Universalismus warnte. Das kalkulierte Leben als Kunst schlägt leicht in die kalkulierte Öde um. Davor aber bleiben sowohl Teige als auch Lu Märten durch ihre Bindung an den humanistischen Marxismus und seine Kritik der Entfremdung bewahrt. Fruchtbar wurde Lu Märtens Begriff der Form im weiteren für die Soziologie der Kunst, denn er bot Anknüpfungsmöglichkeiten für methodische Überlegungen der inneren Strukturwandlung, welche Kunst und Kultur im 20. Jahrhundert durchmachten, derart, wie sie die Prager strukturale Schule schließlich ausarbeitete. Jan Mukarovsky darf als derjenige Ästhetiker angesehen werden, der zwischen den Poetisten, der russischen formalen Schule und dem Prager linguistischen Zirkel die Rolle des Vermittlers spielte. Zwischen Lu Märtens Konzeption der Form und Mukarovskys kunstsoziologischer Neuformulierung insbesondere der Theorie der literarischen Evolution bestehen auffallende Parallelen. Ihnen werde ich im folgenden Kapitel nachgehen. Darüber hinaus lohnte sich eine eingehendere Untersuchung, welche Auseinandersetzungen, Diskussionszirkel und Zeitschriften im einzelnen dazu führten, daß die Poetisten schließlich in Mukarovskys kunstsoziologischer Ästhetik eine allen gemeinsame Absicht wiedererkannten. 7 5 Der Weg über eine Phase marxistischer Orthodoxie wäre ebenso nachzuzeichnen wie die Mitarbeit der Marxisten am Prager linguistischen Zirkel. Diese Zusammenhänge kann ich abschließend nur andeuten. Man müßte den Arbeiten Václaveks während der dreißiger Jahre folgen, um zu sehen, wie Lu Märtens Formkonzeption in jenem Prozeß im einzelnen verwandelt wurde. 7 6 Mukarovsky soll der Kritik seiner marxistischen Opponenten Kurt Konrad und Bedïich Václavek entgegengekommen sein. 77 Weiterhin war Václavek, einer Bemerkung Roman Jakobsons zufolge, in den dreißiger Jahren bei der Organisierung der tschechischen intellektuellen Linken die dominierende Persönlichkeit. 78 74 75 76

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Bedrich Václavek: lu märten, wesen und Veränderung. S.26. Kvétoslav Chvatík: Avantgarde und Strukturalismus. S.22. Zur Entwicklung Bedrich Václaveks nach dem Charkover Kongreß vgl. Ludvík Václavek: Über den Weg der Prager deutschen sozialistischen Schriftsteller. In: Literatur der Arbeiterklasse. Aufsätze über die Herausbildung der deutschen sozialistischen Literatur (1918-1933). Berlin und Weimar 1976. S.386. Hans Günther: Die Konzeption der literarischen Evolution im tschechischen Strukturalismus. In: alternative, 14. Jg., 1971, Nr.80, S. 191. Roman Jakobson: Discussion sur le travail en commun et la critique, à gauche. In: PRAGUE POESIE FRONT GAUCHE. Cahiers trimestriels du Collectif CHANGE. Paris (Seghers/Laffont), Février 1972. S. 98.

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4.2. Die soziologische Ästhetik Jan Mukarovskys (1936) Chvatík stellt Mukarovskys Studie Ästhetische Funktion, Norm und Wert als soziale Fakten in eine Reihe neben Václaveks Poesie in Verlegenheit und Teiges Jahrmarkt der Künste. Sie stelle die bedeutendste theoretische Leistung der tschechischen soziologischen Ästhetik in den dreißiger Jahren dar. »Doch damit endet seltsamerweise im wesentlichen auch die Tradition der soziologischen Interpretation in der tschechischen theoretischen Literatur.«1 Mukarovskys Beitrag besitzt den Stellenwert von Abschluß und Vorbereitung. Er überwand das Autonomiedekret der Literaturtheorie der russischen Formalen Schule und er bot eine soziologische Grundlegung für spätere semiologisch-strukturale Werkanalysen. Worin Mukarovsky die poetistische Anregung und die marxistische Kritik aufnahm, zeigt ein Vergleich der Studie von 1936 mit zuvor eher undistanziert übernommenen Positionen und Anregungen aus dem russischen Formalismus. In dem Referat von 1929 Über die gegenwärtige Poetik habe er noch mit der Gegensätzlichkeit von poetischer und mitteilender Alltagssprache in Anlehnung an Sklovskijs Konzept der Verfremdung gearbeitet, schreibt Hans Günther. 2 Allerdings zeigt schon Mukarovskys Einleitung zur tschechischen Übersetzung von Sklovskijs Theorie der Prosa, daß ihm vor allem an zweierlei gelegen ist: Zum einen möchte er dem »Phantom des Formalismus« 3 in der marxistischen Kritik entgegenarbeiten, indem er Sklovskijs überspitzte These (»Alles im Werk ist Form«) historisch in den russischen akademischen Schulen und den inzwischen abgebrochenen literaturpolitischen Debatten situiert. So etwa habe der Begriff der Form im Sinne der Komposi-

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Kvètoslav Chvatík: Soziologie der ästhetischen Funktion. In: Chvatík, Strukturalismus und Avantgarde. S. 110. Hans Günther: Die Funktion des Funktionslosen. (Das Ästhetische und seine gesellschaftlichen Aspekte). In: Günther, Struktur als Prozeß. Studien zur Ästhetik und Literaturtheorie des tschechischen Strukturalismus. München 1973. S.20. — Die Dinge so zu beschreiben, als sähe man sie zum ersten Mal, darin bestehe in der Prosa das Verfahren der Verfremdung. Es verlange eine »Komplizierung der Form«, die den Handlungsablauf hemmt und retardiert, um so die »Wahrnehmung vom Automatismus« zu befreien. »Darum dürfen wir die Gesetze der Vergeudung und Einsparung von Energien in der dichterischen Sprache nur im Rahmen der eigenen Gesetze dieser Sprache, nicht aber in Analogie zur Prosasprache betrachten.« Viktor Sklovskij: Kunst als Kunstgriff. (Präzisere Übersetzung des russischen Titels: Kunst als Verfahren. (1916).) In: Sklovskij, Theorie der Prosa. Hg. von Gisela Drohla. Frankfurt/M 1966. S. 12. - Sklovskijs streckenweise bloß kontradiktorische Argumentation ist der Tribut für die journalistische Herkunft seiner Verfremdungstheorie. Dies war einigen dem russischen Formalismus sehr aufgeschlossenen Kritikern wie Arvatov und Trockij Stein des Anstoßes. Arvatov wies in einer treffenden Kritik darauf hin, daß gerade die artifiziellen Formen der Poesie wie die Gedichte der Achmatova, Majakovskijs oder Chlebnikovs als »Experimentieren mit der praktischen Sprache« begonnen hätten. Boris I. Arvatov: Poetische Sprache und praktische Sprache. (Zur Methodologie der Kunstwissenschaft). In: Marxismus und Formalismus. Hg. von Hans Günther. München 1973. S. 107. Jan Mukarovsky: Zur tschechischen Übersetzung von Sklovskijs Theorie der Prosa. (1934). In: alternative. 14. Jg., 1971, Nr.80, S.167.

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tion den Form/Inhalt-Dualismus beiseitegeräumt. 4 Zum anderen ist Mukarovsky daran gelegen, den tschechischen Strukturalismus als eine soziologische Öffnung literaturtheoretisch-immanenter Modelle vorzustellen, etwa der Konzeptionen Tynjanovs vom »literarischen Faktum« und der »literarischen Evolution«. 5 So schreibt Mukarovsky:6 Der Standpunkt des Formalismus war bei aller Einseitigkeit eine wichtige Errungenschaft, weil er den spezifischen Charakter der literarischen Evolution enthüllte und die Literaturgeschichte von der parasitären Abhängigkeit von der allgemeinen Kulturgeschichte, zumal von der Geschichte der Ideologie oder der Gesellschaft befreite. Der Strukturalismus als Synthese beider genannter Gegensätze erhält zwar das Postulat der autonomen Entwicklung aufrecht, verengt jedoch die Literatur nicht um ihre Beziehungen nach außen; er bietet daher die Möglichkeit, die Entwicklung der Literatur in ihrer ganzen Breite, aber auch in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erfassen.

Vom Wortlaut her erinnert diese Erklärung an die soziologischen Intentionen des Poetismus und Lu Märtens. Doch die Vorstellung der »Gesetzmäßigkeit« der »Entwicklung« stand nicht mehr unter der Prämisse, das Programm einer neuen Kultur zu verkünden. Es ging um die Position einer soziologischen Ästhetik als Wissenschaft. Gegenüber den literarischen Traditionen nahm sie eine unparteiische Haltung ein. Die Ergebnisse der Arbeitsteilung zwischen unmittelbarer Produktion und Kunst, Kunst und Wissenschaft nahm sie als gegeben hin. Nicht, daß Mukarovsky sie leugnete; nur nahm er sie nicht zum Anlaß zu moralisieren. Auch die Schrift von 1936 argumentiert in dem Bemühen um saubere Distinktion von einem Standpunkt aus, der in der empirischen Soziologie nach dem naturwissenschaftlichen Vorbild als nicht-teilnehmende Beobachtung firmiert. Der marxistische Kritiker Kurt Konrad monierte an Mukarovskys Einleitung zur tschechischen Ausgabe der Theorie der Prosa, daß er eine Dynamik der verschiedenen Bereiche der Wissenschaften, ein wechselseitiges Aufeinandereinwirken autonomer »Reihen«, zu denen auch Bereiche wie die Politik, Moral und Religion gehören, für eine Vorstellung gesellschaftlicher Ganzheit und deren dialektischer Gesetze ausgebe. Darin erblickte Konrad Relativismus. 7 Daraus wurde dann die grundsätzliche Kritik abgeleitet, wonach eine Theorie der Gesellschaft 4

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6 7

Jan Mukarovsky, ebd., S. 167/68. »Wenn aber ein Gefühlsausdruck als Kompositionselement bezeichnet wird, hört die Form auf, sie selbst zu sein: ein Gefühlsausdruck fällt ganz offensichtlich in die Zuständigkeit des Inhalts. [ . . . ] An anderer Stelle wird vom Realitätsgefühl als Kompositionsfaktor gehandelt. Durch all das erhält der Begriff der Komposition eine nichtformalistische Färbung: es geht nicht mehr um die Architektur (die Proportionen und die Reihenfolge der Teile), sondern um die Organisation der Bedeutungsseite des Werks.« Jurij Tynjanov: Das literarische Faktum. (1924). Ders., Über die literarische Evolution. (1927). In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. von Jurij Striedter. München 31981. S. 393-431 und S. 433-461. Jan Mukarovsky: Zur tschechischen Übersetzung. S. 170. Kurt Konrad: Der Streit um Inhalt und Form. Marxistische Bemerkungen zum neuen Formalismus. In: Marxismus und Formalismus. S. 138. Im folgenden ist nach diesem Abdruck zitiert. Eine gekürzte Fassung des Aufsatzes findet sich in alternative 80, S. 172-182.

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das entscheidende Bewegungs- und Entwicklungsprinzip »in letzter Instanz« den »ökonomischen Notwendigkeiten« unterstellen müsse: »Der Strukturalismus betrachtet [ . . . ] die einzelnen Reihen des gesellschaftlichen Ganzen als losgelöste Wissensgebiete, nicht als Gebiete der Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen.« 8 Schließlich verwarf Konrad die Erweiterung des Formbegriffs: Die Komposition eines Themas würde erst in der Ausführung etwas »Konkretes«, und genau dies habe Hegel in seiner Ästhetik den »konkreten Inhalt« genannt. »Im Kunstwerk geht es gerade um diese Konkretheit des Inhalts, besser gesagt: um den konkreten Inhalt, nicht um das abstrakte Thema.« 9 Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten ist ein Aufsatz, der hinter die drei Einwände (Primat der Aktivität des ökonomischen Subjekts; Dialektik statt Relativismus; Inhalt bestimmt die Form) zurückgeht. Schon die eingangs vorgenommene methodische Situierung zeigt dies an. Angestrebt werde »die Lösung einiger Probleme der allgemeinen Ästhetik aus der Sicht der Soziologie, keineswegs aber eine Kritik der M e t h o d e n der konkreten Soziologie der Kunst«. 1 0 Die Problemkreise, die den Einwänden vorgelagert sind, legt Mukarovsky in der Beantwortung folgender Fragen dar: Wo läßt sich eine Grenze zwischen dem ästhetischen und dem nicht-ästhetischen Bereich ziehen? Was ist »Wirklichkeit« im Kunstwerk? Diese Fragen hatte zuvor Jurij Tynjanov aufgeworfen. Von ihm stammt auch die Vorstellung einer »literarischen Reihe« neben und in Wechselwirkung mit anderen Reihen. E r f ü h r t e sie ein, um die ontologischen Definitionen der Literatur (»Wesen« der Literatur) und die mit ihr verbundene »friedliche Erbfolge« 1 1 (»Einfluß«) außer Kraft zu setzen. E r veränderte den Blickwinkel auf die Literatur, indem er statt einer Hierarchie der Genres deren stetige Auflösung und Neuzusammensetzung (»literarische Evolution«) darlegte und so die Erforschung der Genese der Erscheinungen durch die Erforschung der »literarischen Veränderlichkeit« 1 2 ersetzte und indem er von der spontanen Wiedererkennbarkeit dessen ausging, was ein »literarisches Faktum« ist: 13 Während es immer schwieriger wird, eine feste Definition von Literatur zu geben, wird jeder beliebige Zeitgenosse mit dem Finger darauf weisen können, was ein literarisches Faktum ist. Er wird sagen, daß dieses nicht zur Literatur gehört, da es ein Faktum des Außerliterarischen oder des persönlichen Lebens des Dichters ist, jenes dagegen gerade als ein literarisches Faktum erscheint. [...] Zeitschriften und Almanache gab es auch vor unserer Zeit, aber erst jetzt werden sie als >literarisches WerkAbsinken^ [ . . . ] Das Genre war nicht wiederzuerkennen, und dennoch blieb in ihm ein ausreichender Rest zurück, damit dieses >Nicht-Poem< auch noch Poem war. Dieser ausreichende Rest besteht nicht aus den grundlegendem, den >großen< Unterscheidungsmerkmalen des Genres, sondern aus den zweitrangigen Zügen, die als selbstverständlich gelten und von denen es scheint, als ob sie das Genre überhaupt nicht charakterisierten.« 14 Damit hatte Tynjanov das Problem der literarischen Qualität über das der Erneuerung bzw. Revolution der Form gelöst. Die traditionelle Auffassung der literarischen Qualität »an sich« war damit beiseitegeräumt, ebenso ihre normativ-ästhetischen oder ethischen Wertungen. Außerdem wurde damit eine historische Dimension eröffnet, die Benjamin 1934 als »Umschmelzungsprozeß der Formen« sichtete. 15 »Hier erweisen sich nicht nur«, so Tynjanov, »die Grenzen, die >PeripherieZentrum< selbst: nicht, daß im Zentrum ein uralter ererbter Strom fließt und evolutioniert und die neuen Erscheinungen nur an seinen Ufern auftauchen — nein, eben diese ganz neuen Erscheinungsformen rücken ins Zentrum vor, das Zentrum hingegen gleitet an die Peripherie.« 16 In seinem Aufsatz von 1936 setzte Mukarovsky die Perspektive, welche die Begriffe des literarischen Faktums und der literarischen Evolution eröffnet hatte, zur gesellschaftlichen Aktivität ins Verhältnis. Dahin führte seine Frage nach dem Unterschied zwischen dem Bereich des Ästhetischen und des Nicht-Ästhetischen. Zur Beantwortung diente ihm der Begriff der »ästhetischen Funktion«; diese ist nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt, sondern spielt in allen Lebensbereichen eine bedeutende Rolle, beim Wohnen, Sich-Kleiden, der Produktgestaltung, im öffentlichen Alltag, im politischen Leben. Charakteristisch für eine solche ästhetische Funktion ist, daß sie sich nicht in den Sektor der Kunst einschließen läßt. Dennoch unterscheiden sich aber auch Kunst und allgemeiner ästhetischer Be14

15

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Jurij Tynjanov, ebd., S.395. Vgl. S.417-423, wo sich eine Übersicht über den Wechsel des jeweils dominierenden literarischen Genres von Lomonosov bis Veselovskij findet. Die Konstatierungen um jeden Dichternamen wirken apodiktisch und provozieren im Leser regelmäßig die Frage nach den formgeschichtlichen Anhaltspunkten. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt/M. 1977. S.687. Jurij Tynjanov: Das literarische Faktum. S.399.

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reich, und zwar bezüglich der »Dominanz der ästhetischen Funktion«. 17 Kunstwerke seien privilegierte Träger der ästhetischen Funktion, »die nach ihrer Anordnung auf eine ästhetische Wirkung hinzielen [...]. Aber die aktive Qualifikation zur ästhetischen Funktion ist keine reale Eigenschaft des Gegenstandes, selbst wenn er absichtlich auf die ästhetische Funktion hinzielt, sondern sie tritt nur unter bestimmten Umständen, nämlich in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext zutage [.. .].« 18 Mukarovskys Fassung des Funktionsbegriffs reproduzierte zum Zwecke soziologischer Analytik das Verhältnis, das der Poetismus zwischen Kunst und Leben ausmachte. Die Polarität, die Mukafovsky in der Hierarchie der Funktionen im ästhetischen und im nicht-ästhetischen Bereich als Faktor der Entwicklung im Sinne einer Verschiebung annahm, 1 9 greift dabei implizit weit eher auf Václaveks von Lu Märten übernommene Theorie zurück, wonach sich die Kunst aus den »vitalen«, mit den Arbeitsinstrumenten gegebenen Zwecken isoliert, um in verwandelter Form eine neue gesellschaftliche Funktionsbestimmung zu erfahren, als daß sie auf Konrads Einwand bezüglich des ökonomischen Primats, der »KlassenBasis« im Kunstwerk, geantwortet hätte. Die Stabilisierung der ästhetischen Funktion schrieb Mukarovsky einem kollektiven Bewußtsein zu. Dies wollte er nicht-psychologisch als ein System von Realitäten verstanden wissen (Sprache, Religion, Wissenschaft, Politik), die »im Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine normierende Kraft offenbaren«. 2 0 Das kollektive Verhalten richte sich dabei als ein subjektives ästhetisches auf die Welt der gegebenen Dinge und gehe in deren objektive Gestaltung ein. Diese Fassung des Normbegriffs leitete die Dynamik, die Tynjanov zwischen Genreregel und Regelverstoß wahrnahm, aus dem Verhältnis zwischen ästhetischem und außerästhetischem Bereich »aus der Perspektive des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens« her. 21 Normen erheben Anspruch auf Unveränderlichkeit, und im Sinne unveränderlicher Regeln, welche die menschliche Wahrnehmung bestimmen, wurden sie in der Ästhetik (Baumgarten) als verbindliche Voraussetzung des Schönen aus metaphysisch-anthropologischen Prämissen abgeleitet. Aber nach Mukarovsky ist es eine historische und gesellschaftliche Erfahrung, daß immer wieder ästhetische Normen mit Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit entstehen, daß sie aber faktisch begrenzt und damit wandelbar sind. Die Norm postuliere einen allgemeingültigen ästhetischen Wert, »der das Maß des ästhetischen Wohlgefallens angibt«. 22 Für das Entstehen des ästhetischen Wohlgefallens ließen sich allgemeine anthropologische Prinzipien angeben: der Rhythmus in den Zeitkünsten, Senkrechte, Horizontale, rechter Winkel und Symmetrie in den »Raumkünsten«, das System der Komplementärfarben in der Male17 18 19 20 21 22

Jan Jan Jan Jan Jan Jan

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Mukafovsky: Mukarovsky, Mukafovsky, Mukarovsky, Mukarovsky, Mukarovsky,

Ästhetische Funktion, Norm. S. 18. ebd., S. 13. ebd., S.29. ebd., S.31. ebd., S.36. ebd., S.37.

rei. 23 Diese Prinzipien selbst lassen sich nicht zu Normen erheben; sie sind indifferent. So sei wohl die psychophysische Verfassung ein spontan wirkender Maßstab für die Übereinstimmung oder den Konflikt der Normen mit ihr, doch die künstlerische Norm bilde in der Regel nur den Hintergrund »für den unaufhörlich gegen sie gerichteten Verstoß«. 24 Im Laufe der Zeit werde das Empfinden für die Widersprüche verwischt, und über den Verstoß bilde sich in der Praxis eine neue Norm. Die tragende soziologische Hypothese des von Mukarovsky entwickelten Normbegriffs ist in der Unterstellung anthropologischer Prinzipien zu suchen. Hierin nimmt er den Entwicklungsstand der Künste und ihr experimentelles Verfahren in die Theorie auf. Aus demselben Motiv hatte Lu Märten den verschiedenen Gattungen der Künste entsprechende »Vermögen« des Ausdrucks und der Aufnahme zugeordnet. Von verschiedenen Seiten her liegt bei beiden eine Wiederaufnahme von Grundgedanken aus der Ästhetik Kants vor. In Mukarovskys »ästhetischem Wohlgefallen«, das den Normbruch und damit die Evolution der Stilrichtungen in Gang bringt, verbirgt sich Kants »interesseloses Wohlgefallen« und ebenso dessen »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« in der »ästhetischen Funktion«. Beide Male ist damit ein Weg für das Verständnis der formalen Konstruktion und der Rezeption gewiesen. Mit der Tradition der Hegeischen Ästhetik gibt es so lange keine Verständigungsmöglichkeit, als der Inhalt als Träger der geschichtlichen Bewegung unterstellt wird. Bezeichnenderweise weist Lu Märten anläßlich ihres Gutachtens zu Lukäcs' Studie über Franz Mehring darauf hin: »Zu Kant: Nicht die Kunst, sondern genauer die Formen der menschlichen Arbeit sind gemeint, wenn Kant von einem ursprünglichen Vermögen der Menschen spricht.«25 Selbstverständlich übernahm Mukarovsky nicht die Kategorie der Arbeit im Sinne einer Kausalursache für die Freisetzung der künstlerischen Vermögen. Seine Vorgehensweise vermied den Historismus. Sie ist phänomenologisch-analytisch. Dennoch erscheint der Gedanke vom künstlerisch-handwerklichen Mittelalter dort, wo Mukarovsky die Dominanz der ästhetischen Funktion im Kunstwerk als historische, mit der entwickelten Zivilisation zusammenhängende Tatsache in Erinnerung ruft: »Man muß schließlich auch festhalten, daß die Voraussetzung der Dominanz der ästhetischen Funktion nur dann voll ins Gewicht fällt, wenn eine gegenseitige Differenzierung der Funktionen stattgefunden hat. Es gibt jedoch auch Umweltbereiche, die eine konsequente Aufgliederung des Funktionsbereiches nicht kennen, z.B. die mittelalterliche Gesellschaft oder der Folklorebereich.« 26 Bemerkenswert ist daran weniger, daß Václavek Mukarovsky zur Gegenüberstellung von Mittelalter und Industrialismus sowie der entsprechenden handwerk23 24 25

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Jan Mukaïovsky, ebd., S.41. Jan Mukarovsky, ebd., S.38. Lu Märten: Gutachten zu Georg Lukács, Mehring 1846-1919. (Vgl. Lukács, Werke. Bd. 10. Neuwied 1969. S. 341-432.) Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 6. Jan Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm. S. 18/19. - Die Begriffe Differenzierung oder Differentiation stammen aus der Soziologie der Jahrhundertwende. Simmel gebrauchte sie als Alternative zum kritischen Begriff der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, den Marx geprägt hatte. Auch Lu Märten bevorzugte den Gebrauch jener Begriffe.

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lich-künstlerischen und isolierten (»differenzierten«) produktiven Kunstvermögen angeregt haben könnte; die Argumentation war durch das Bauhaus und die Kunsthandwerkbewegung allgemein verbreitet. Bemerkenswert ist an dieser Stelle vielmehr, wie Mukarovsky die Theorien Gottfried Sempers, Adolf Loos' und Karel Teiges seinen Funktionsbestimmungen integrierte. Mit dem Hinweis auf den Film verdeutlichte er den Fall, daß außerästhetische Phänomene zur Kunst hinstreben. Zu diesen gehörten die Architektur, der Gartenbau, das Kunsthandwerk, der religiöse Kult und die Landschaft. Er zeigte so die Weite des Bereichs, in dem sich die Dynamik der Kunstentwicklung abspielen kann. 27 Rückschlüsse auf eine künftige gesellschaftliche Harmonie versagte er sich. Umgekehrt dienten ihm die Kunstgattungen selbst zum Aufweis der in ihnen enthaltenen nicht-ästhetischen Funktionen: Die Literatur als Prosa habe auch mitteilende Funktionen; die Rhetorik einwirkende; der Tanz hygienische, rituelle, erotische. Wenn er die außerästhetischen Funktionen an den verschiedenen Gattungen exemplifizierte, so gab er den Hinweis, daß für die gesellschaftliche Wirkung hoher oder niederer Künste das Material, nicht der »Inhalt« ausschlaggebend ist. Die Musik mache dies besonders deutlich, da sie ihres Materials, der Töne, wegen eine beinahe ausschließlich ästhetische Funktion habe. 28 Eben die Material/ Zweck-Lehre hatte Mukarovsky in den Theorien des Kunsthandwerks und Karel Teiges vorgefunden. Deren Erweiterung stellt Mukarovskys Darlegung des Kunstwerks als eines semiologischen Faktums dar. Faßt man sie als Konsequenz aus der Material/Zweck-Lehre auf, so muß man bis hierher ein Zusammentreffen mit dem historisch-materialistischen Systementwurf Lu Märtens feststellen. Die beiden bislang von Mukarovsky aufgestellten Hauptthesen lauten: Die ästhetische Funktion läßt sich nie nur dem ästhetischen Bereich zuordnen; umgekehrt streben außerästhetische Phänomene zur Kunst. Die künstlerische Norm hat ihren Maßstab in der psychophysischen Verfassung der Menschen und entwikkelt sich unaufhörlich, indem gegen sie verstoßen wird. Mit diesen Thesen verfolgt Mukarovsky die Absicht, die praktische gesellschaftliche Relevanz autonomer Kunstwerke zu beweisen. 29 27

28

29

Jan Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm. S.24—29. »Dennoch - und gerade deshalb - bewahrt die Polarität von Über- und Unterordnung der ästhetischen Funktion in der Hierarchie der Funktionen ihre uneingeschränkte Gültigkeit; ohne diese Polarität würde die Entwicklung des ästhetischen Bereichs ihren Sinn verlieren, denn gerade sie zeigt die Dynamik des kontinuierlichen Entwicklungsprozesses an.« (S.29) Es wird sich weiter unten zeigen, daß für Mukafovsky die unterstellte »kontinuierliche Entwicklung« die unendlich reiche wie kaum wahrnehmbare Wirkung der autonomen Kunstprodukte auf gesellschaftlich wirksame Handlungen garantiert. Jan Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm. S.22. Auch Lu Märten hob mit dem wiederholten Verweis auf die Unübersetzbarkeit eines emanzipierten musikalischen Werks in eine sprachliche Mitteilung den Materialspekt jeder Kunstform hervor. Und zwar in einem noch weitergehenden Sinne denn als bloßer »Faktor des gesellschaftlichen Zusammenlebens«. (Mukarovsky, ebd., S.32.) Als solchem werden der ästhetischen Funktion schon die »Fähigkeit zur Isolierung« des von ihr berührten Gegenstandes wie diejenige, »eine maximale Konzentration der Aufmerksamkeit« auf ihn zu bewirken, zugeschrieben. Diese Bestimmungen bleiben allerdings noch im Rahmen des Utilitären

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Dazu führt er im weiteren eine neue Wesensbestimmung des Kunstwerks ein: In seiner Eigenschaft als soziales Faktum habe es Zeichencharakter. Zu dessen Erläuterung heißt es: »Seine charakteristischste Funktion besteht darin, der Verständigung zwischen den Individuen als Glieder ein und desselben Kollektivs zu dienen. [...] Das Reich der mitteilenden Zeichen ist darüber hinaus unermeßlich weit: eine beliebige Wirklichkeit kann zu einem mitteilenden Zeichen werden.« 30 In der alltäglichen Mitteilung beurteile der Empfänger die Aussage auf ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit hin. Ist dies aber der Fall, so fragt Mukarovsky, wenn ihm ein Zeichen rein fiktiven Charakters zum Zwecke des Wohlgefallens unterbreitet wird? In diesem Fall sei ganz offensichtlich, »daß hier die ästhetische Funktion, die über die mitteilende Funktion dominiert, das Wesen der Mitteilung verändert«. 31 »Ob der objektive ästhetische Wert Wirklichkeit oder nur trügerischer Schein ist«,32 diese Frage entscheide über die Relevanz eines ästhetischen Zeichens für die gesellschaftliche Wirklichkeit. Ist beispielsweise für den Leser eines Romans ausschlaggebend, ob die erzählten Ereignisse mit der Wirklichkeit übereinstimmen? Was den Leser an einen Roman fessele, sei nicht nur die »eine Wirklichkeit, sondern es häufen sich viele Wirklichkeiten an«. 33 Und diese treten mit der Wirklichkeit, die der Leser kennt, mit seinen Erfahrungen, in eine Beziehung, erwecken in ihm bekannte Situationen und Willensregungen. So entstehen neue sachliche Beziehungen zwischen dem Kunstwerk und der Wirklichkeit; das erklärt die Lebendigkeit und Verständlichkeit historisch gewordener Werke; es erklärt im Kunstschaffen das Anknüpfen an verschüttete Traditionen. Das Kunstwerk als Zeichen evoziere aber eine quasi abbildhafte Beziehung zu den Wirklichkeiten, die der Leser seinerseits einbringe. 34 In diesem Moment verwandele der ästhetische Zeichencharakter die materiellen Elemente des Kunstwerks zu Trägern außerästhetischer Werte. Nicht ein Teil oder ein Symbol dieses Werks »bedeutet« etwas, sondern die formalen Elemente

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stecken, einschließlich möglichen Mißbrauchs ästhetischer Energien zu religiösen oder politischen Zwecken. Jan Mukarovsky, ebd., S. 85. In Die Kunst als semiologisches Faktum (S. 138—147) unterscheidet Mukarovsky zwischen zwei semiologischen Funktionen, der kommunikativen und der autonomen, in den »Stoff-Künsten«. Obwohl er hiermit die Lnhaltsgebundenheit vor allem der Sprachkünste wieder einführte (»Mit dieser Qualität ähnelt das Kunstwerk den rein kommunikativen Zeichen.« S. 146), trug dieser Ansatzpunkt die später in Frankreich reüssierende linguistische Textinterpretation. Vermittler sowohl zum tschechischen Strukturalismus wie zum russischen Formalismus waren Roman Jakobson und Tzvetan Todorov. Vgl. R. Jakobson: Linguistique et poétique. (1960). In: Jakobson, Essais de linguistique générale. Les fondations du langage. Paris (Les Editions de Minuit) 1963. S. 209-248. - Tzvetan Todorov: Qu'est-ce que le structuralisme? 2. Poétique. Paris (Editions du Seuil) 1968. Insbes. Kapitel 2: »L'analyse du texte littéraire«. Jan Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm. S. 86. Jan Mukarovsky, ebd., S.84. Jan Mukarovsky, ebd., S.89. »Deshalb dient die sachliche Bezogenheit viel eher der Erzeugung einer bestimmten Grundeinstellung zur Wirklichkeit als der Beleuchtung irgendeiner speziellen Wirklichkeit.« Mukarovsky, ebd., S.91/92.

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treten so zusammen, daß sich eine Bedeutung erst aus der Sicht des Ganzen ergibt. 35 Wir sagten weiter oben, daß alle Elemente des Kunstwerks, die inhaltlichen wie die formalen, Träger außerästhetischer Werte sind, die innerhalb des Werks zueinander in Beziehung treten. Das Kunstwerk bietet sich letzten Endes als eine tatsächliche Ansammlung von außerästhetischen Werten dar und als nichts anderes als gerade diese Ansammlung. Die materiellen Elemente des Kunsterzeugnisses und die Art, wie sie als Gestaltungsmittel verwendet worden sind, treten als bloße Leiter der durch die außerästhetischen Werte verkörperten Energien in Erscheinung. Fragen wir in diesem Augenblick, wo der ästhetische Wert geblieben ist, dann zeigt es sich, daß er sich in die einzelnen außerästhetischen Werte aufgelöst hat und eigentlich nichts anderes ist als eine summarische Bezeichnung für die dynamische Ganzheit ihrer gegenseitigen Beziehungen.

Diesen Schnittpunkt zwischen zwei verschiedenen Zeiten angehörigen Systemen, der nur in der formalen Realisierung eines Kunstkörpers möglich ist, trifft der Terminus der Struktur. Von hier aus bestimmt Mukarovsky die praktische Relevanz des Kunstwerks (in seiner Autonomie) als Zeichen. Während die Werte der gesellschaftlichen Lebenspraxis nur in schweren Erschütterungen umgeschichtet und neugebildet würden, bilde sich im Kunstwerk über die Verwandlungskraft des objektiven ästhetischen Werts etwas das kollektive Bewußtsein Belebendes. Hier liege die zentrale Aufgabe der Kunst: »die Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit als einem Gegenstand des menschlichen Handelns zu leiten und zu erneuern«. 36 Zusammengefaßt liegt die Affinität zwischen Lu Märtens Formenkonzeption und Mukarovsky s soziologischer Ästhetik in der Praxisrelevanz des Ästhetischen. Das Verhältnis Autonomie-Heteronomie in Mukarovskys »ästhetischer Funktion« entspricht demjenigen, das Lu Märten zwischen Arbeit, Technik und zweckgemäßer Form des Produkts konzipiert; die »ästhetische Norm« entspricht Lu Märtens Zuordnung einer Materialbasis jeder Kunstgattung zu einem entsprechenden Ausdrucksvermögen bzw. Gebrauchsbedürfnis. Beide Bestimmungen deckt ihr Begriff der Formen ab. Keine Entsprechung enthält ihre Formenkonzeption lediglich für Mukarovskys Vorschlag, die Kunst als ein semiologisches Faktum aufzufassen, von dem aus eine immanente Form- und Inhaltsinterpretation eines literarischen Werks entwickelt werden kann und gleicherweise auch die kommunikative Funktion der Literatur. Aber immerhin führt Lu Märten die morphologische Material/ Zweck/Form-Kette an die Schwelle der soziologischen Literaturanalyse. Meine Ausführungen wollen nicht nahelegen, daß Lu Märten eine »Vorläuferin« der soziologisch-strukturalen Literaturanalyse war oder daß ohne ihren »Ein35

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Jan Mukarovsky, ebd., S. 103. Umgekehrt aber konstituiere der Leser über alle Teilbedeutungen des Werks die sich aus ihm ergebende Beziehung zur Wirklichkeit. Die synthetisierende Leistung der Rezeption stelle notwendig ein »Ganzes« her. Das gilt auch für sogenannte offene Formen. Das »Ganze« wiederum sei das entscheidende Konstituens des Ästhetischen. Jan Mukarovsky: Der Begriff des Ganzen in der Kunsttheorie. In: Mukafovsky, Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. Frankfurt/M., Berlin und Wien 1977. S. 2 0 - 3 0 . Jan Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm. S. 109/10.

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fluß« Mukarovsky die Eingrenzung einiger Probleme der allgemeinen Ästhetik aus der Sicht der Soziologie nicht gelungen wäre. Lediglich die Konvergenz der literaturwissenschaftlichen formal-strukturalen Methode und der kunsttheoretisch-gebrauchsästhetischen historisch-materialistischen Soziologie verdient als Konvergenz zweier wissenschaftlicher Verfahren festgehalten und beachtet zu werden. Doch auch und gerade die Wissenschaftlichkeit der jeweiligen soziologischen Ästhetik besitzt ein politisches Äquivalent. Im Hinblick darauf stehen allerdings Lu Märten, Bedrich Václavek, Karel Teige und Jan Mukarovsky in einer historischen Reihe. Sie lieferten Argumente gegen einen normativ auftretenden Kunstbegriff, der im Namen des Sozialismus, Realismus und Marxismus den bürgerlichen Kunstwert als den der Arbeiterklasse ausgeben wollte. Mit Blick auf die dominante Stellung des sozialistischen Realismus im Sinne einer normierenden Empfehlung, die bis weit in die sechziger Jahre für die sozialistische Kunst allgemeine Verbindlichkeit beanspruchte, unterscheidet Robert Kalivoda, einer der Begründer der tschechischen Schule der marxistisch-philosophischen Anthropologie, zwischen normativen Ästhetiken und soziologischer Kunstanalyse. Den ersten gehe es darum, objektive und verbindliche Wertsysteme durchzusetzen. Wie berechtigt ihre Existenz auch sei, sie entfalteten dennoch eine >»terrorisierendeFragen der KunstKampfzeitSystemzeit< auf bloßer Verleumdung beruhenden, zersplitterten Aktivitäten konstruktiv zum Neuaufbau einer nationalen Kultur zusammenzuführen. Tatsächlich ging es darum, ein lückenloses Zensur- und Kontrollsystem aufzubauen. Vom Schriftsteller bis zum Postkartenverkäufer bestand Eintragungspflicht für alle, die im Bereich der Herstellung und des Drucksachen-Vertriebs arbeiteten. Dem Gewerkschaftsgedanken trat der organisatorische Aufbau der Kammer mit >Schriftleitern< und ständischer Gliederung entgegen. Damit erzielte der NSStaat eine politische Funktionalisierung des gesamten literarischen Lebens: Über die Vorlegepflicht von Manuskripten für Verlage und Redaktionen ließ sich die öffentliche Ideenproduktion nahezu vollständig ins nationalistische Fahrwasser lenken. 2 3 22 23

Brief Lu Märtens an Theo Pinkus vom 1.12.1962. Sammlung Theo Pinkus, Zürich. Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus. Reinbek 21963. S.63.

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Journalismus im Dienste der neuen Machthaber dürfte Lu Märten kaum zu irgendeinem Zeitpunkt in Erwägung gezogen haben. Demnach kommt als Motiv für den Beitritt zur Reichsschrifttumskammer nicht ausschließlich finanzieller Zwang in Frage. Lediglich eine Absicherungsabsicht >für alle Fälle< kann diesen Schritt motiviert haben, derart, daß präventiv die schriftstellerische Arbeits/nöglichkeit gesichert werden sollte. Sofern dies als Motiv tatsächlich ausschlaggebend gewesen ist, offenbart sich in ihrem Schritt ein weitgehender Zusammenbruch ihres Selbstbewußtseins als Schriftstellerin. Außerdem scheint die Verzweiflung über die materielle Not sie zur Hoffnung verführt zu haben, sich mit Entwürfen für Filmhandlungen Einkünfte zu verschaffen oder gar einmal mit der Ausarbeitung eines Filmskripts beauftragt zu werden. Der überlieferte Brief des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller von 1934 an Lu Märten bestätigt die Eintragung dreier Filmentwürfe seitens des Verbandes ins Urhebergrundbuch. Erwähnt sind Yalis Prinzip, Tänzer und Rameaus Neffe. Lu Märtens nachträglicher Vermerk auf dem Schriftstück dokumentiert ihre illusionären Hoffnungen, über den quasi offiziellen Weg der Einreichung von Manuskripten für die Mitarbeit an Filmen hinzugezogen zu werden: »Man mußte in der Nazi-Zeit seine eventuellen Film-Manuskripte in [das] Archiv des Schriftstellerverbandes geben. Ich wurde später 1937 [richtig: 1941] (Johst) herausgeworfen. Was aus meinen 3 großen Manuskripten geworden [ist], weiß ich nicht.» 24 Von außerordentlichem politischen Wunschdenken wiederum zeugt die einfließende Gleichsetzung der Reichsschrifttumskammer mit einem Schriftstellerverband. Diese Gleichsetzung scheint auch in einem Brief Katharina Wallgrens von 1946 auf, wo sich diese auf Lu Märtens Deutung der literarischen Arbeitsbedingungen unter der NS-Diktatur bezog. »Sagtest Du nicht auch immer, daß man nur in der Arbeit seine Kraft und seine Ideale verwirklichen kann . . . und daß die politische Arbeit in der Verteidigung der Rechte auf dem Arbeitsplatz besteht?« 25 Solche gewerkschaftliche Orientierunganständiger< Überlebensmöglichkeiten zu nutzen. Eines bot in der Tat der Film, wo einige intellektuelle Außenseiter — erfolgreich unter ihnen Erich Kästner — während des HitlerRegimes ein Unterkommen fanden. 2 6 Lu Märten stand mit ihrem eher illusionär verzweifelten Vorgehen nicht allein. Auch einer ihrer kommunistischen Freunde, Karl Schöttle, der in den zwanziger Jahren in den Feuilletons der KPD- und KPO24

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Notiz Lu Märtens auf dem Brief des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller vom 5.6.1934. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 10. Brief Katharina Wallgrens an Lu Märten vom 11.7.1946. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 21. Dazu Ernst von Salomon: Der Fragebogen. Reinbek 81961. S.292ff..

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Presse publiziert hatte, unternahm vergleichbare Schritte. Etwa, wenn er hinter dem Schauspieler Heinz Rühmann »einen anständigen Menschen« wahrzunehmen meinte und, inspiriert durch dessen letzte Rolle, einen Filmentwurf verfaßte, den er Lu Märten an Rühmann weiterzureichen bat. 2 7 Dieser Glaube an den i n s t ä n digen Rest im Menschen< bildete für Lu Märtens Produktion unter der NS-Diktatur ein offensichtliches Ferment. In dieser Hinsicht vollzog sich eine gleichsam automatische Reduktion der Stoffwahl auf die >menschliche Problematik - ein Mechanismus, der objektiv gesehen Selbstzensur ist. Lu Märten entnahm ihre Stoffe entweder der Sphäre der Künstlerkreise und Ateliers, und damit verklärten eigenen Erinnerungen, oder einzelnen Werken der Weltliteratur. Sie machte auf diese Weise der >völkischenmenschliche Problemat i k vorgeführt werden; in diesem Filmentwurf nämlich liegen die Illusionen der Verfasserin greifbar zutage, sie leiste »>politische Arbeit< in der Verteidigung der Rechte auf dem Arbeitsplatz«. Außerdem ist Tänzer der am weitesten ausgearbeitete Filmentwurf. In seiner Handlung und seinen Motiven repliziert er die impressionistische Kunstvorstellung des Torso: Die weibliche Hauptfigur Raa Merion ist zerrissen zwischen den Leiderfahrungen ihres Schriftstellerinnenlebens und einer romantischen Leitidee der Selbstverwirklichung; der Handlungsstrang motiviert sich ausschließlich aus seelischen Konflikten. Er wird von zahlreichen Musik- und Tanzeinlagen unterbrochen, die noch einmal die innerlichen Konflikte auf expressive Weise symbolisieren. Lu Märten gab dem Stück zwei Untertitel: »Psychologisches Schauspiel aus dem Leben dreier Menschen« und »Die Tragik des Alterns«. 2 9 Es verharrt thema27

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Brief Karl Schöttles an Lu Märten vom 21.11.1943. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Lu Märten: Rameaus Neffe. Vor über 30 Jahren gab es einen Filmplan für Diderots Dialog. In: Die andere Zeitung, Nr. 16, 1964. Handschriftliche Vermerke auf dem Deckblatt des Typoskripts Tänzer. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 11.

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tisch ganz und gar im Genre des Künstler-Schauspiels: In die Welt des gemeinsam alternden, jedoch nicht verheirateten Schriftstellerpaares Raa und Nick bricht so unmotiviert wie taktvoll ein junger Tänzer, Anatol, ein. Mehr als nur erotisch fühlen sich der jugendliche Liebhaber und die alternde Schriftstellerin über die Differenzen der jeweiligen künstlerischen Arbeit zueinander hingezogen, Differenzen, die sie letztendlich mehr als das Alter voneinander trennen: hier eine expressive Körperbeherrschung, dort eine mit Selbstzwang verbundene, unverstanden gebliebene Intellektualität. Anatol findet schließlich von selbst zur Ballettänzerin Lyssa, welche die normtypisch weibliche, aus dem Herzen heraus lebende Frau verkörpert, den Kontrasttypus zur androgynen Raa. •Während von den Typen und Themen aus betrachtet der Entwurf bis zur Grenze der Konsumierbarkeit problemüberladen ist, besteht die Handlung letztendlich nur aus der Aneinanderreihung von Episoden: Raa lernt Anatol kennen; Anatol muß dem Direktor einen Paartanz mit Lyssa vorführen; Raa und Nick führen im Gespräch ihr tiefes, durch ihr Leben erworbenes Einverständnis wie ihre Unabhängigkeit voneinander vor; Raa und Nick verreisen zusammen in den Süden; Raa, Nick und Anatol reiten zusammen in der Umgebung von Berlin aus; Raa stürzt dabei vom Pferd und stirbt; Anatol und Lyssa tanzen; Anatol und Lyssa suchen Nick in der Wohnung Raas auf, wo dieser zwischen den Manuskripten Raas ein Leben zu führen sucht, als wäre sie nicht gestorben. Wenn Tänzer auch kaum ein filmgerechtes Stück ist, so enthalten Personen und Handlung gerade in den Partien, in denen die vom Impressionismus geprägte Phantasie Lu Märtens zu überzeichnender Kolportage findet, für den Film verwertbare Elemente. Diejenigen Dialogsequenzen jedoch, welche die »menschliche Problematik mit »Kunst- und Zeitkritik« unterlegen, sind genuin zweideutig, obwohl Lu Märten vermutlich darin »sozialistische Tendenz« unterzubringen meinte. Das Thema der Verantwortlichkeit des Einzelnen in seiner Zeit signalisiert folgende Szene: Raa und Nick sehen bei ihrem Aufenthalt im Süden »ein altes wunderbares Ehepaar in der Landschaft«. 3 0 Anschließend liest man die Zeitung, die Raa zum Kommentar veranlaßt: »»Sieht bös aus zuhause, und überall in der Welt . . . und man sitzt hier in der Sonne .. .< Nick: >Und büßt das nicht in dumpfen Zimmern, ebenso machtlos. — Immer fühlst du dich für die ganze Welt verantwortliche Raa: > . . . aber wenn wir die Signale noch erleben, Nick .. .NS-Revolution< zu. Diese Zweideutigkeit stellt einen handgreiflichen Ausfluß von Selbstzensur dar. Gleicherweise augenscheinlich tritt er in der Szene »Ist das eine Zeit!« zutage, worin Anatol und Lyssa über Kunst reflektieren. 3 2 30

Tänzer. S. 59/60.

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Ebd., S.60. Ebd., S.56.

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Lissa singt hinter der Szene. Anatol macht ein finsteres Gesicht: >Ist das eine Zeit - und man tanzt sozusagen an allem vorbei.< Lissa (macht auch so ein finsteres Gesicht): >Was soll man, was sollen w i r tun?< Anatol (ratlose Geste): >In den sogenannten Künsten haben sich die Menschen die Zufälligkeiten ihrer Schönheit erhalten. Nimmt man's aber so, will Freude geben, nennen's die da (haut auf die Zeitung) Einlullerei und Täuschung.« Lissa: >Ja, weil . . . das meiste ist wohl nichts anderes .. .< Anatol: >Na ja, aber was einer ganz vollkommen bieten will, muß doch als echt gehen, ist doch Freude, denk ich.< Lissa (still und ruhig): >Nichts anderes, denk ich, können wir tun.< Anatol: >Hör mal, mein weises Mädchen, weil du doch nach Rußland willst, die hier haben eigentlich die Freude mehr nötig; mühsam bergauf ist Leben — Rasen bergrunter der Tod .. .< Lissa nickt und wird heiter: > . . . wir wollen unsere neue Sache bald weitermachen.
neutraler< Darstellung der >Weimarer Systemzeit< während der Hitlerzeit kaum Produktionschancen gehabt hätte, wird aus dem Handlungsgang heraus dieser Zeithintergrund keineswegs deutlich, und selbst in der ausdrücklichen Angabe zu Ort und Zeit der Handlung kann sich Lu Märten nicht entscheiden. 3 3 Deutlich wird hier die »zeitlos« konzipierte Fabel der Reflexionsebene im Stück zu einem Fallstrick. Letztlich bleibt deshalb auch die psychologische Thematik unplastisch. Ähnlich verzerrt geriet die Anlage des Romans Yali. Er spielt in der Ateliersphäre der zwanziger Jahre, die diesmal weniger verschleiert dargestellt sind. »Auch diese Menschen haben gelebt«, diesen Untertitel notierte Lu Märten auf dem Manuskript. Die intellektuelle Yali nimmt sich der Malerin Iselin an, die finanziell noch nicht auf eigenen Beinen stehen kann. Yali selbst lebt von fremdbestimmter Arbeit in Hilfsprogrammen der Stadt München und ist ständig von Entlassung bedroht. Als es soweit ist, springen die Künstlerfreunde und Mäzene helfend ein, wobei es ohne Konflikte nicht abgeht. Insgesamt entsteht aber das Bild einer Solidargemeinschaft der Künstlerwelt und ihrer Mäzene. Es entspricht eher der Jahrhundertwende als den zwanziger Jahren. Da Yali weder als bescheidener, unpolitischer Unterhaltungsroman verwertet werden konnte, noch als sogenannter anspruchsvoller Roman die Erwartungen des Publikums an den gewöhnlichen Realismus erfüllte, wollte sich vor wie nach 1945 kein Verleger zum Druck des Werks entschließen. Eines der ersten Verlagsgutachten läßt die spezifischen Widerstände erkennen, auf die der Roman während der Hitlerjahre stieß: 34 Ihr Roman spiegelt nicht das wirkliche Leben wider, sondern gibt [ . . . ] ein Spiegelbild Ihrer Träume vom Leben. Ihre Menschen sind fast alle von einer erstaunlichen Güte und Weichheit und gemahnen hin und wieder an die Gestalten Jean Pauls. Wir modernen Menschen sind härter, verschlossener; freilich lauert bei vielen von uns hinter der Härte eine gefährliche Weichheit. Wer möchte nicht gütig sein und vielen, recht vielen Volksge33

34

In den Regieanweisungen auf der unpaginierten Seite hinter dem Deckblatt liest man dazu: »Orte: Paris oder andere Großstadt. Berlin. Landschaften im Süden. - Zeit: Gegenwart, d.h. jüngste Vergangenheit. (Mit Bleistift ergänzt:) eigentlich zeitlos.« Brief des Verlags Hesse und Becker, Leipzig, gezeichnet von Karl Quenzel, an Lu Märten vom 4.4.1936. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 17.

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nossen Güte schenken? Aber wie es in dieser Welt zugeht, wird der Gütige betrogen, ausgenutzt und als dumm verschrieen. [ . . . ] Die Gestalten Ihres Romans leben in einer Sphäre, in der selbst Wirtschafterinnen zart besaitete Geschöpfe sind [...]. Selbst die burschikose Yali hat etwas Mimosenhaftes; ihr früher Tod überrascht uns daher nicht. Es fehlen in Ihrem Roman die Kontrastfiguren.

Tatsächlich durchzieht den Roman die Tendenz, das Leben in der Boheme zu beschönigen. Sogar Walter Heist, ein faszinierter Leser des Torso, vermißte in Yali, was er an dem frühen Roman schätzte: den »großen Geist der Auseinandersetzung mit dem feindlichen Leben.« 35 Lucie Groszer, die Ostberliner, mit Lu Märten befreundete Verlegerin, bildete in der Reihe zahlreicher, meist kleiner Verleger mit ihrer Wertschätzung der Yali eine Ausnahme. Doch der Kulturelle Beirat verhinderte 1948 den Druck. Vorgebracht wurden kaum politisch motivierte Bedenken gegen den Stoff. Die Kritik richtete sich vielmehr gegen Sprache und Stil.36

5.4. Süddeutsche Freunde Nur einige wenige Briefe aus den Jahren zwischen 1933 und 1945 hat Lu Märten von ihren Freunden aus der Umgebung Stuttgarts und dem südlichen Baden überliefert: von Mia und Karl Bittel aus Hödingen/Überlingen am Bodensee und von BertaThalheimer und Karl Schöttle aus Cannstatt. Diesen Freunden war sie durch eine gemeinsame politische Vergangenheit verbunden. Während der nationalsozialistischen Herrschaft befanden sie sich dadurch in einer vergleichbaren Lage, als jeder trotz seiner Vergangenheit in Deutschland zu überleben versuchte. Die Briefe geben durchweg das Bild von verzweifeltem Überlebenswillen, sie übermitteln Schreckensnachrichten, erwähnen Bombardierungen, zeugen selbst in Gesten der Freundschaft davon, daß ein jeder vereinzelt und am Rand der Erschöpfung seiner Kräfte lebte. Ich gehe davon aus, daß Lu Märten durchweg die Regel befolgte, jeden Brief gleich nach dem Empfang zu vernichten, um gegen eventuelle Nachforschungen der Gestapo gesichert zu sein. 37 Eine Ausnahme von dieser Regel war dann möglich, wenn die Mitteilungen lediglich das private Schicksal betrafen. Aus den Bedingungen, unter denen die Korrespondenzen geführt wurden, ergibt sich also von selbst, daß sie keine Kommentare zu den Ereignissen der Zeit enthalten. Die Bedeutung, die für Lu Märten jede dieser Freundschaften besaß, kann somit aus dem überlieferten Material keinesfalls sicher bestimmt werden. Deshalb muß ich mich darauf beschränken, das, was ich vom Lebensgang und der Existenz der kommunistischen Freunde unter der Hitler-Diktatur ermitteln konnte, auf die 35

36

37

Brief von Walter Heist an Lu Märten vom 5.3.1948. Nachlaß Lu Märten, IISG (AMsterdam), Portefeuille 17. Brief Lucie Groszers an Lu Märten vom 8.11.1948. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 156. Siehe Anm. 1 dieses Kapitels.

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Verbindung zu Lu Märten hin auszulegen. Dies freilich ist umso aufschlußreicher, als damit die >anderegeborene< Jüdin — sie war schon vor 1914 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten - unterlag sie bald den >RassegesetzenFraktionenBotschaft< des einzelnen Individuum, selbst, ja gerade wenn sie im herrschenden Geschichtsbild weitgehend unkenntlich gemacht wurde. Als Parabel führt die Geschichte Tschechs auf eine weitere Realitätsschicht, nämlich auf die Geschichte der Personen und Dinge, die gewöhnlich nicht der Geschichtsschreibung für wert befunden werden. So etwa die schon lange vor 1848 sich unterschwellig fortsetzende Welle von Auflehnungen gegen die preußische Verwaltung vor allem bei den kleinen Bauern. Gleichsam als Spiegel wirft der unglückliche Tschech die Mentalität der Ohnmächtigen zwischen weitgehendem Gehorsam und Bereitschaft zur Selbstjustiz zurück. Tschech war nicht zuletzt eine im Volke populäre Gestalt. Ein gereimter Sechszeiler, der im Laufe der hundert Jahre manche Variation erlitten haben wird, sorgte dafür: 50 Aber keiner war so frech Wie der Bürgermeister Tschech. Dieser üble Missetäter, Hochverräter, Attentäter, Er schoß unsrer Landesmutter Durch das gnädge Unterfutter.

Die Tradition des Sozialismus schenkt derart den Bedingungen und Stimmungen, soweit sie anonym wirken, den Mythen, ihre Aufmerksamkeit. Analoges gilt vom Leben der Elisabeth Tschech. Über ihre Person verknüpft Lu Märten Tschechs Tat erst mit der republikanischen Emigration vor 1848, gleichzeitig führt sie vor, um wievieles blasser die Umrisse der weiblichen Gestalt in der Geschichte bleiben müssen. Sie zerrinnen erst recht in der Anonymität, weil sich die historische Elisabeth daraus nie erheben konnte. Die Differenz zu ihrem Vater in diesem Punkt hebt Lu Märten kontrastreich hervor. 1824 als zweite Tochter Tschechs geboren, wird Elisabeth während dessen Storkower Dienstzeit zur besseren Ausbildung in eine größere Stadt geschickt. Wäh50

Brief Klaus Hermanns an Genossin Torhorst vom 14.7.1951. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 22. Eine weitere, nicht minder frivole Variante schrieben die Zeitgenossen dem Berliner Publizisten Friedrich Saß zu: »Hat wohl je ein Mensch so'n Pech / Wie der Bürgermeister Tschech, / Daß er diesen dicken Mann / Auf zwei Schritt nicht treffen kann.« Friedrich Saß: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung 1846. Nachwort von Detlef Heikamp. Berlin 1985. S.212. Weder Saß noch der »Volksmund« dürften »Dichter« der Reime sein.

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rend der Berliner Jahre, in denen Tschech auf den Erfolg seiner Eingaben hofft, führt sie ein zurückgezogenes Leben im Hause. 5 1 Lu Märten vermutet hier den erzieherischen Einfluß des Vaters, der sich in Elisabeths späterer Standhaftigkeit zeige, betont jedoch, daß sie nie von den Vorbereitungen und der Tat selbst gewußt habe. Nach der Tat wird auch sie in Haft genommen, und, wieder entlassen, von einflußreichen Personen wiederholt zum >Geständnis< gedrängt. Bis auf den Abend vor der Hinrichtung Tschechs, den beide unter Aufsicht in der Hausvogtei verbringen dürfen, hatte sie zum Vater in der Haft nur über offene Schreiben Kontakt. Erst da erfährt Elisabeth von der bevorstehenden Hinrichtung »und zum ersten Male bricht sie in ihrer Verzweiflung in unvorsichtige Kritik gegen den König aus und gebraucht auch die verhängnisvollen >Verschwörer-Worte< : >Wir haben Freunde, es wird etwas für Deine Sache geschehen!«< 52 Das liefert den Vorwand, um Elisabeth mitzubestrafen, was nach einem preußischen Gesetzespassus bei »Kindern von Hochverrätern, wenn sie gefährlich scheinen oder die Ansichten ihrer Eltern teilen,« 53 bis zu lebenslänglicher Haft möglich war. Elisabeths Besitz wird beschlagnahmt, und um eine empörte öffentliche Meinung zu vermeiden, steckt man sie statt hinter Gefängnismauern in die königstreue Familie eines pietistischen Pfarres in Kamen. Hier wird ihre Post zensiert und dem Ministerium ständig über ihre Führung berichtet; als nicht zur Familie Gehörige wird sie schlecht ernährt, muß winters in ungeheizten Zimmern schlafen und ständige Schmähungen gegen ihren Vater hinnehmen. Krankheit und die Furcht, wahnsinnig zu werden, sind die Folge. Im Frühsommer 1846 gelingt ihr die Flucht mit der gerade zwischen Hannover und Köln eingerichteten Eisenbahn; von hier aus flieht sie weiter nach Straßburg und Basel, wo ihr der Rat gegeben wird, nach Straßburg zurückzukehren, um Hilfe von den dortigen deutschen Emigranten zu erhalten. Den Lebensunterhalt verdient sie sich mit Stickereiarbeiten und erhält, als »Tochter eines für die Freiheit gefallenen Mannes«, Unterstützung von Freunden. Der Aufenthalt in Frankreich wurde ihr gestattet, und da Preußen einen Auslieferungsbefehl für »die entflohene Tschech« an alle deutschen Regierungen richtete, hütete sie sich, jemals wieder deutschen Boden zu betreten. Lu Märten führt mit ihrer Erzählung vom Leben der Elisabeth Tschech handgreiflich eine heute dank der neueren Frauenbewegung verbreitete Erkenntnis vor Augen: die Existenzweise der Frauen läßt ihnen nur — und dies gilt insbesondere für das 19. Jahrhundert und das Bürgertum — eine von Öffentlichkeit und öffentlicher Wirkung ausgeschlossenen Handlungsraum. Frauen machen nicht nur keine Geschichte, sie gehen auch nicht in die Geschichte ein; ihre Existenzweise spielt sich im Schatten geschichtswürdiger Vorgänge ab, oder sie wird, am Maß der Geschichtswürdigkeit gemessen, zumindest nicht erfaßt. Mit dieser Erkenntnis hebt Lu Märten an, um den Spuren der Frauenexistenz eine umwertende Lesart abzugewinnen. Als zeitgenössische Parallele führt sie die selbstverständliche, 51 52 53

Lu Märten: Bürgermeister Tschech und seine Tochter. S.56. Ebd., S.54. Ebd., S.60.

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wenn seinerzeit auch kaum unter dem Stichwort »Frauen und Geschichte« reflektierte Tatsache ihrer Teilnahme am Widerstand gegen Hitler an. So wird aus der Einsicht in das Fehlen eines gleichwertigen Anteils der Frauen ein Faktor geschichtsbildender Selbsterkenntnis. Die Wahl des Gegenstands — keine der Aktivistinnen von 1848, sondern die in der Fremde Verschollene - , die Beschränkung auf das dokumentarisch Überlieferte, der Verzicht auf Pathos, schließlich der einfache Stil berichtender Prosa ermöglichen Lu Märten einen bewundernswerten Kunstgriff, der Einsicht und Umwertung zugleich herbeiführt. Zu diesem Kunstgriff gehört die Verknüpfung der Elisabeth Tschech mit der politisch-republikanischen Emigration und den mit der frühen Arbeiterbewegung verbundenen Frauen. Bezeichnenderweise fehlt der Vergleich mit der konservativen, aber geschichtlich die Frauenbewegung dominierenden Louise Otto-Peters, wohingegen die den frühsozialistischen Ideen oder den Arbeitervereinen Aufgeschlossenen das Feld bilden, in dem auch Elisabeth Tschech noch »manchmal erwähnt« werde: Louise Aston, Louise Dittmar, Emma Herwegh. 5 4 Wiederholt nennt Lu Märten die in den Fall Tschech eingreifende Bettina von Arnim, der auch das vom König an der Tochter begangene Unrecht nicht entgangen ist. Für Lu Märtens Position und öffentliche Stellungnahme im Rahmen der frühen Kulturpolitik der D D R , in einer Situation, in der Grundlagen für die Geschichtsschreibung der deutschen Arbeiterbewegung noch nicht bestanden, ist somit folgendes charakteristisch: Verzicht auf eine Schematisierung von Lagern, durch welche die Klassen zu essentialistischen Bestimmungen degenerieren, zugunsten einer Verschmelzung der Geschichte des Einzelnen mit der Revolutionsgeschichte; damit Verzicht auf eine Kategorie wie »Erbe«; Aufmerksamkeit für Mentalität und Mythen; Einbezug der Geschichte der Frauen, und zwar keineswegs nur als ein der Geschichte des Sozialismus untergeordneter Strang; Rekurs auf Vergessene statt auf allenthalben bekannte Helden. Eine bündige Zusammenfassung dieser Grundsätze, nach denen sie die Geschichte Tschechs schrieb, gab sie in einem Brief an die Verlegerin Lucie Groszer. Sie antwortete, als sie 1952 erneut zu einer Geschichtserzählung aufgefordert wurde, diesmal über eine der >großen< Gestalten des Sozialismus wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg: »Was die Vorschläge betrifft, so hätte ich für Rosa wohl das Material zu einer kleinen Biographie; dagegen fehlt es bei Clara an persönlichen Dingen. Ich meine aber, man sollte auch uns noch so wertvolle und geliebte Namen nicht immer wieder herausstellen, wie es seit 1945 geschah, sondern die Jugend auch mit anderen Erscheinungen bekannt machen, z.B. Gestalten aus den Bauernkriegen, der französischen oder englischen Revolution, den 1848igern [...] wobei immer ein Stück Geschichte natürlich mit zum Wissen gebracht werden muß.« 5 5 Eine tiefe Sympathie mit den in der Geschichte anonym Gebliebenen kommt in Lu Märtens Grundsatz zum Vorschein. Werner Kraft hat ihr, gleichfalls in einer 54 55

Ebd., S.74. Brief Lu Märtens an Lucie Groszer vom 15.4.1952. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der D D R , 156.

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Nacherzählung des Todes Tschechs, literarischen Ausdruck gegeben und dabei das Muster der besonderen Aktualisierung der Tradition vor Augen geführt. 56 Taten und Haltungen von Individuen, die keinen Adressaten fanden, Unabgegoltenes freiheitlicher Bewegungen, dem wegen seiner Beiläufigkeit und >Unverständlichkeit< das Vergessenwerden droht: die Geschichtsschreibung, die sich ihnen zuwendet, nimmt ihre Spur bei unerwarteten Nachfahren auf. Im Hinblick auf die Gestalt der Elisabeth Tschech wurde Lu Märtens Versuch erkennbar, das Nichtvorhandensein der Frauen in der Geschichte auf seine Gründe hin zu untersuchen und anhand geringer Spuren dennoch ihre Geschichte zu schreiben. Den Leitfaden der generellen Problemstellung gab sie in dem vom Kulturellen Beirat zurückgewiesenen Manuskript Geschichte der Frau vom Mutterrecht bis zur Gegenwart. Die von den Lektoren (absichtsvoll?) nicht berücksichtigten Verdienste dieser von Lu Märten entworfenen Skizze der Frauengeschichte erschließen sich vor dem Hintergrund der Nichtexistenz des Problems im damaligen Zeitbewußtsein. »Im Streit um den Feminismus ist schon viel Tinte geflossen, zur Zeit ist er fast beendet,« schrieb Simone de Beauvoir beinahe zum selben Zeitpunkt. »Es scheint auch nicht gerade, als hätten die Sottisen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts in dicken Wälzern niedergelegt worden sind, das Problem im Grunde erhellt. Besteht hier übrigens ein Problem? Und welches ist es denn? Gibt es überhaupt Frauen? Sicher hat die Theorie vom Ewigweiblichen noch ihre Anhänger; [...] >Wo sind die Frauen?< fragte vor kurzem eine unregelmäßig erscheinende Zeitschrift.« 57 Alle Empfindlichkeiten, die der Zeitgenosse von 1945 diesem Thema gegenüber an den Tag legen konnte, waren auch unter dem Vorzeichen des sozialistischen Aufbaus virulent: Eine kritische Frage nach der gesellschaftlichen Situation der Frauen konnte in breiterem Maßstab nicht laut werden; die »Frauenfrage« schien einer überholten 56

Werner Kraft: Zeit aus den Fugen. Aufzeichnungen. Frankfurt/M. 1968. S.23/24. »Um halb acht, ehe es noch recht hell war, bestieg Tschech das Schafott, entkleidete sich allein, erhob den Arm gegen den Himmel und rief einige Worte, keiner verstand, legte dann selbst den Kopf auf den Block und erwartete den Todesstreich. Er kam. So berichtete einer, der es von einem Augenzeugen hat. Wann und wo geschah dies? Nicht wichtig. Schon zu lange her. Daß er auf den König zielte und der Königin durch den Hut schoß, steigert seine Schuld, wie denn in dem Lande, in dem dies geschah, es noch die Verschärfung der Todesstrafe durch Handabhacken gab. Dies alles sei nur berichtet, um dem einen geringfügigen Umstand Relief zu geben: daß Tschech einige Worte rief, und sie wurden nicht verstanden. Solange die Welt steht, ist dies die immer gleiche Lage. Kommt es darauf an, ist der Mensch nicht nur allein, er wird auch nicht verstanden. Diese Bewegung gegen den Himmel! Sprache, kein Hörer, die Axt, Tod. Es muß anders werden. Das meinte auch Tschech, das meinte auch der König. Darum gab er die Weisung, das Urteil zu vollstrecken. Tschech brauchte nur um Gnade zu bitten, die Rettung hätte die rechtmäßige Feigheit belohnt, der König war fromm und liebte reuige Sünder. Tschech liebte den König nicht und war mutig. Er bat nicht um Gnade. Wer lebt länger? Der König! Aber Tschech überlebt ihn. Er gehört zu uns.«

57

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek 1968. S.8. Le Deuxième Sexe erschien zuerst 1949.

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Zeit anzugehören, dem 19. Jahrhundert so gut wie den Zwischenkriegsjahren. Beide waren nach Faschismus und Weltkrieg, aus denen eine neue Alltäglichkeit gerade aufgetaucht war, gleich fern. Wie während des Krieges, so erübrigte sich auch beim Wiederaufbau die Haus- und Heimideologie, welche gewöhnlich die Ausgrenzung der Frauen aus dem Produktionsbereich begleitet. Gleichzeitig lebten wie selbstverständlich die traditionellen, während der NS-Diktatur propagierten, Vorstellungen vom >Wesen der Frau< fort. Da bei der allgemeinen Not der diesem vorgeblichen Wesen zugehörige bloße Konsumentenstatus nirgends aufkommen konnte, wurde allenthalben der Niedergang der Weiblichkeit beklagt. In diesem Widerspruch spürt man die starke restaurative Tendenz, die ideologisch in den Ländern der westlichen Hemisphäre während der fünfziger Jahre weiterhin herrschte. In der D D R trat demgegenüber derselbe Widerspruch hinter dem sozialistischen Anspruch zurück: die Gleichheit der Geschlechter war ein verbürgter Programmpunkt des Sozialismus wie Kommunismus, und der stets notwendig gebliebene Einbezug der Frauen in die industrielle Produktion schien, der traditionellen Rollenaufteilung in den Familien zum Trotz, die Gleichstellung der Frauen zu garantieren. Während es noch allenthalben Trümmerfrauen gab, wandte sich Lu Märten an die potentielle junge Leserin. Der Geschichtsüberblick soll ihr zu gesellschaftlicher Selbsterkenntnis verhelfen, so daß sie die »spezifischen Weibsschranken« 58 wie den Familienegoismus oder den Zwang zur Erfüllung der Weiblichkeitsnorm an sich wahrnehmen und überwinden könne. Wiewohl dieser aufklärend-pädagogische Zweck dem offiziellen Anspruch auf Gleichberechtigung nirgends zuwiderlief, so enthielt er doch ein unruhestiftendes Element. Lu Märten wollte den Frauen mit der Erinnerung an ihre Befreiungsgeschichte auch eine aktuell-geschichtliche Subjektivität vermitteln. Wo sie in Krieg und Trümmern allein mit den Kindern gestanden hätten, sei der verwandtschaftliche Schutz durch den Mann nichts als Illusion gewesen; allenthalben seien die Frauen nun in die Produktion integriert. »So kommt es heute in den besonderen sozialen Umständen nicht mehr darauf an, den Frauen nach Leistungen und nach besonderen Gesichtspunkten zu helfen; nicht Rechte abzuleiten davon, ob eine Frau berufstätig ist oder nicht, sondern der Frau als der Benachteiligten schlechthin eine Jahrtausend alte Rechnung zu begleichen.«59 Die jungen Frauen, denen die Geschichte der Frauenbewegung genauso unbekannt war wie die Nichtexistenz der Frauen in der Geschichte, sollten gerade aus diesem letzteren Faktum die Konsequenz für die jüngste Vergangenheit ziehen, daraus Selbstbewußtsein gewinnen und geschichtliche Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft übernehmen: »Heute, wo sich die Auswirkungen der Männerherrschaft in ihren krassesten Resultaten zeigen [...], wo alles Denken sich auf die großen, allgemeinen Ursachen konzentrieren muß, ist es an der Zeit, [...] daß 58

59

Geschichte der Frau vom Mutterrecht bis zur Gegenwart. S.63. Nachlaß Lu Märten, IISG (Amsterdam), Portefeuille 16. Ebd., S.47. (Im Typoskript unterstrichen).

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[die Frauen] auch auf solche Dinge achten lernen wie auf den Raubbau am Mutterboden aller menschlichen Daseinsmöglichkeiten, auf die Tendenz, diesem Boden Kraft um Kraft zu entziehen zugunsten einer gigantischen Technik, deren Ausmaß nur durch das Ziel der Zerstörung erfordert wurde, nicht zu Zielen vernünftiger, friedlicher Wohlfahrten der Menschen.« 60 Bemerkenswert ist, in welcher Weise Lu Märten ihr Ziel fundamental kulturkritisch absteckte: Die Gegenwart faßte sie als Endpunkt einer Entwicklung zerstörerischer Naturbeherrschung auf, komplementär zum Ausschluß der Frauen aus der Geschichte der Zivilisation. Deutlich spürbar drang die neue atomare Bedrohung, wie sie im Wettlauf mit den wahnwitzigen Welteroberungsplänen der NS-Machthaber entstanden und mit dem Abwurf der Bombe 1945 der Welt vor Augen geführt worden war, ins Problemfeld der Thematik. Auf diesen Fluchtpunkt läuft die teilweise umständliche, teilweise in ihrer universalgeschichtlichen Konstruktion revisionsbedürftige Herleitung der Appendixrolle der Frauen in der Geschichte seit dem Geltungsverlust mutterrechtlicher Stammesorganisation hinaus. Lu Märten stellt mit ihrem Rekurs auf das Mutterrecht die Verbindung zu den älteren sozialdemokratischen Theorien der Frauenemanzipation her, weiterhin zu den Gleichberechtigungstheorien seit der Aufklärung und zur Geschichte der Frauenbewegung. Mit Friedrich Engels und August Bebel 61 rekurriert Lu Märten auf den Ursprung der vaterrechtlichen Erbfolge (Ablösung der Gens durch die Sippenfamilie mit Herdenbesitz), sie macht jedoch an ihr nicht die Entstehung des Privateigentums fest. Ihr geht es vielmehr um die »Differentiation«, die Ausbildung verschiedenartiger Fertigkeiten in Form der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, die sich ihrer Ansicht nach in der Folge bestimmter Heiratsregeln und Erbfolgen eher kontingent ausbilden. Sie verzichtet also auf die »frühkommunistische Utopie« des gesellschaftlichen Gemeineigentums und der Egalität von Mann und Frau bzw. einer weiblichen Vorherrschaft, wie sie sich bei Fourier, Engels und Bebel findet, das Urbild der künftigen sozialistischen Gleichheit der Geschlechter, die als Resultat der Entwicklung sozusagen am Ende der Geschichte, beim Eintritt in den Sozialismus, wiederkehren soll. Entsprechend soll »Mutterrecht« keine Kampfforderung sein, sondern stelle eine biologisch-organische Vergesellschaftungsform dar, die patriarchalisch überwunden wurde. Diese Umakzentuierung des Stellenwertes des Mutterrechtes hat einen Vorteil: Lu Märtens Theorie vom Patriarchat wird nicht-deterministisch. Während seiner Entwicklung werden die Frauenkräfte zwar eingeschränkt, insbesondere durch die Frauenverachtung der Männer, sie schlummern aber nur, da »die einstige gleichberechtigte Stellung der Frau vergessen« 62 wurde. Kräfte und Fähigkeiten lassen sich demnach auch unabhängig von ökonomischen Determinationen wieder wachrufen. Herausragende 60 61

62

Ebd., S.61. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. (1884) In: K. Marx, F. Engels, Werke. Bd. 21. Berlin 1972. S. 25-173. - August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Stuttgart 501909. — Lu Märtens Rekurs auf Engels und Bebel findet sich im Typoskript S.9f.. Geschichte der Frau vom Mutterrecht bis zur Gegenwart. S.24.

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Leistungen einzelner Frauen des Mittelalters und der Renaissance führt sie beispielhaft an, ebenso John Stuart Mill, Mary Wollstonecraft und Theodor Gottlieb Hippel, die Vorkämpfer aus dem Bürgertum für die Menschenrechte der Frauen. Die bürgerliche Frauenbewegung, insbesondere bis 1889, stellt Lu Märten als befangen in der Vorstellung vom schwachen Geschlecht< vor, der gegenüber die sozialistische Sicht auf die Entstehung des Patriarchats weittragender gewesen sei; für die Zeit von 1889 bis 1914 schematisiert sie die Programme der großen Frauenorganisationen des Bürgertums, einschließlich einzelner Forderungen - wie die nach einer Neubestimmung von Frauenberuf und Ehe, nach Kindertagesheimen und Einküchenhäusern — des linksorientierten radikalbürgerlichen Flügels. Von welcher der feindlichen Fronten innerhalb der historischen Frauenbewegung aus argumentiert Lu Märten? Heute erblickt ein großer Teil der Feministinnen in einzelnen, auf dem radikalbürgerlichen Flügel hervorgetretenen Frauen am ehesten ihre Vorgängerinnen. Clara Zetkin und die sozialdemokratische Frauenbewegung können kein Vorbild sein: Der von ihnen stets bezeugte Vorrang des gemeinschaftlichen Klassenkampfes vor der Frauenfrage erscheint als Preisgabe des Anspruchs auf geschichtliche Subjektivität, als freiwillige Unterordnung unter die von den Männern in jeder Hinsicht geführte Partei. Eingangs hatte ich auf eine gewisse Schizophrenie Lu Märiens hingewiesen, wenn sie in Gedichten und Artikeln für Die Gleichheit gezielt die Parolen vom gemeinsamen Gang der Geschlechter zum Sozialismus hin übernahm und dabei Einsichten ausblendete etwa über die schwierige Selbstfindung der Frauen in künstlerischer Arbeit, welche sie im Torso, wenig später auch kritisch in der Schrift Die Künstlerin formulierte. Solche Fragen geschichtlichen So-Seins, Fragen der Psyche stellte Lu Märten mit Eindringlichkeit, und sie beantwortete sie im Sinne weiblicher Autonomie: Sie stellte sich gegen die übliche >philosophische< Abqualifizierung des >Wesens der Frau< im Schrifttum der Männer, sie ergriff Partei für eine Selbstfindung der Frauen gegen die allenthalben an sämtliche Funktionen des Lebensprozesses angelegte männliche Norm. 6 3 Jene Schizophrenie aber, so muß der Gerechtigkeit halber ergänzt werden, ist eher eine der Parteiungen, wie sie die Sphäre der Politik hervorbringt; Clara Zetkins >Gehorsam< den Genossen gegenüber ist weitgehend unter dem Aspekt der Einheit der Partei zu sehen, die radikalbürgerliche Frauenbewegung muß te sich dagegen mit bloßen Reformmodellen und kritischen Betrachtungen zufrieden geben und auf eine politische Wirkung verzichten. Lu Märten versuchte in ihrer Person und ihren Überlegungen zur Frauenemanzipation beide Beschränkungen zu überwinden. Dies zeigt sich in der Mutterrechts-Schiift von 1948 in der Tatsache, daß sie die Frage nach der weiblichen Produktivität für Geschichte und Gegenwart im Sinne der Autonomie stellte und gleichzeitig den großartigen Einsatz von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, deren Stellungnahmen zur Frauenemanzipation entgegen, als nicht abweisbare Antworten auf jene Frage mitunterstellte. Obgleich also Lu Märtens Blick auf die Geschichtslosigkeit der Frauen und die Theorien 63

Zu erinnern ist an Die Künstlerin (1914).

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der frühen Sozialdemokratie zur Geschlechterfrage feministisch im heutigen Sinne des Wortes ist, so kam für sie ein Gegeneinanderaufwiegen von Feminismus und Sozialismus überhaupt nicht in Frage. Eben darin sehe ich eine genuin kulturrevolutionäre Tendenz, zumal wenn an den Zeithintergrund der Schrift und ihre möglichen Adressatinnen gedacht wird. 64 Im Hinblick darauf scheint nicht allein die Umakzentuierung der Engels- und Bebeischen Mutterrechtskonzeption die Selbstbewußtwerdung der Frauen entschieden zu fördern, sondern auch deren Bindung an das romantische Bild des ganzheitlichen, nicht geschlechtsgeprägten Menschen. Auf den ersten Blick sieht dies wie ein bequemer Mittelweg zwischen feministischem Autonomieanspruch und einem unspezifisch humanitärem Leitwert »Mensch« aus. Doch während die Gegenüberstellung von Patriarchat und Frauen stets in Gefahr ist, auf einen regressiven Essentialismus von Weiblichkeit, vom Mutterkult bis zur >weiblichen ÄsthetikIch glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm; ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen, sondern um zu sein und zu werden, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.< (Schleiermacher)

Eine neuartige Verstandesleistung, welche die bisherige Entwicklung korrigiert, eine condition humaine, in welcher der seelische Bereich dem Intellekt und der Materie nicht mehr untergeordnet ist, werden denkbar. Wenn Lu Märten abschließend die Frauen zu politischer Betätigung in den gesellschaftlichen Institutionen aufrief: »Im Kampf der Frauen liegt zugleich der Kampf für den Frieden,« 66 verwandte sie die offizielle Parole mit dem Blick auf die künftige Synthese: des männlichen und weiblichen Menschen, der Technik und der Natur. In dieser Synthese besitzt der zivilisationskritische Kern der Formenkonzeption — die postulierte Einheit von Kopf, Hand und Herz — seine Entsprechung.

64 65 66

Siehe Anmerkung 43 dieses Kapitels. Geschichte der Frau, S. 44. Ebd., S.62.

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Anhang

1. Ode Marguerite Wolfs an Lu Märten »Lastgeschautes« — »Lastgeheimes« — »Lastzerbrochnes« . . . (L.M.) Sie hatte die müden Augen der Lebenshungrigen, Augen über die die schmalen blassen Lider wie schwere Bänder sich legten. Es waren arme gefangene Augen, die sich in ihre Fesseln ergeben hatten. Wenn man sie zuerst sah, so sah man nur eine Wirrnis braun und kraus gesponnenen Haares, das kaum die magere Schulter zu berühren wagte, das sich wieder emporringelte, um dies arme müde fragmüde Gesicht hineinzubetten in die schlangengleiche milde verringelte Seide dieser barbarischen Haare. Manchmal stürzte noch ein schwerer Knäuel des wirren Gespinstes über die Stirn - dann war es wie eine Last, die dem Haupte zu schwer wurde, die den Nacken niederbog, daß die heimlich redende Linie der gertenschmalen Gestalt zur Traurigkeit verstummte. Ich sah sie im Gewand eines Engels. Da versank alle Heimlichkeit in dem Zauber einer zartfließenden Anmut. Da streifte der goldene Saum den Boden und das goldene Band Schloß die bergenden Falten am Hals wie mit einer rührenden Bitte ab. Durch das milde, unbändige, rebellische Haar aber zog sie dann den Reif, der die ganze Wildheit in die Hut seines stumpfen, mattleuchtenden Goldes nahm. Es waren dann Haare, wie sie Melozzo gemalt hätte, wenn seine Engel einem verlorenen Paradies nachsinnend in die Saiten banger Erdharfen hineingelauscht hätten. Denn ihr Haar war nicht gesponnenes Himmelsgold, sondern es hatte viel von braunen Dämmerungen, von denen das Elend und die Not voll [sind]. Wenn sie durch den Saal schritt mit ihrem perlmutterweißen Gewand, so dachte man an Eloa die Luzifer liebte, dachte an Engel, die das Erdenheimweh in die Tiefe trieb, die das goldne Himmelstor aufstießen und lange, lange Wege ins Leben suchten. Engel, denen Irren Schuld wird, die den Fluch des Suchens wie eine Kette, die sie an dies geliebte, verfluchte, begehrte, auf Knien ersehnte, mit Schuld und Irren erkaufte Leben fesselt, wie eine schwere goldne wundersame Kette hinter sich herziehen. Sie wähnt sich frei, als eine, die kein Paradies mehr zu verlieren hat, als eine, die das Leben unter die Füße treten, den Pokal umstürzen kann, wenn der Trunk schal geworden - und deren Hände doch schmal und blaß geworden sind von all 265

den Mühen, immer wieder Feuerwein aus goldnen Trauben sich zu pressen, damit nie der Becher leer vor ihr stünde. Wenn du sie siehst, so denkst du an die große bange Traurigkeit, die du Leben nennst. Wenn du sie siehst, denkst du an den purpurnen Lebensrausch, den du Sünde nennst. Wenn du sie siehst, denkst du an die erlöste Harmonie aller Dinge, die du Tod nennst. Sie ist nicht schön, aber sie macht dich sehnsüchtig wie alles Vollendete. Sie ist nicht vollendet, sie ist nur die müd und betend hingeworfene Skizze eines großen, großen Künstlers. Und darum erfüllt sie dich mit der Traurigkeit, mit der dich ein Vollendetes füllt. Denn dir Tod ist die Krone des Lebens. Die sind glücklich, die die schwere Krone im Leben auf ungebeugtem Nacken tragen. Manchmal ist es doch, als schalte sie mit dem Leben wie eine Fürstin, die den Pokal umstoßen kann, wenn ihre Lippen müde werden schalen Trunks. Als könne sie mit blutenden Fingern die schwere Kette hinschleifen in die Esche [oder: Ecke] ihres Leids, draus die Krone der Freiheit sich zu schmieden, daß sie neunzackig herauswüchse wie Stacheln aus den wilden Haaren - du mußt sie tanzen sehn. Sie rafft das Engelsgewand, daß die Grazie der Füße erlöst wird, Füße, die in schmalen Goldschuhen stecken und die wie die Füße jener Prinzessinnen sind, die auf feurigen Eisen tanzten. Es sind keine Füße, die sie wie andre Menschenkinder über die Erde tragen. Es sind Füße, die tief durch weißen Staub gegangen sind, Füße, die nackt durch Dornen schritten und die nun mehr wissen als andrer Menschenkinder Füße. Sie wissen, wie man auf feurigen Eisen tanzt. Du mußt sie tanzen sehen. Sie tanzt nicht wie eine Mänade, die Tod und Not im Tanze leidet, nicht wie eine Bacchantin, wenn sie auch Worte spricht von dem großen herbstlichen Rausch, in dem die selig unselige Freie trunken wird von den Wundern des Weins, der der hölzernen Haft entronnen — Sie tanzt wie ein müd in Schönheit verirrtes Kind. Du willst sie in deine Arme nehmen und weißt um den Wahn, daß kein Arm ihr Heimat sein kann. Sie ist wie die Sehnsucht, die nicht Ruhe findet an Menschenbrust. Drum hält sie auch kein Arm fest, wenn er sie auch halten möchte in trunkenem Rausch, halten mit leisen bangen Händen. Weil ihre Stirn steil ist wie ein tödlicher Fels und ihre Augen wie verbrannte Lichter und ihre Arme wie Kinderarme. Weil man drin denken muß an den süßen Rausch, den du Sünde nennst, die nicht jene Sünden sind, die mit schwarzen Ringen Sklaven an Felsen fesseln, sondern die wie der heiße Atem von Feuerblumen sind, die nicht an den Wegen wachsen, sondern in der Hut steiler torgewölbter Mauern. Sie hat einen weichen duftenden Leib, einen Leib, der sich müd machte mit der Last der Sehnsucht. Er ist kein Körper für sie, sondern eine Zufälligkeit. Er ist ein Gewand, in dem ihre arme Seele friert, ihre arme Seele, die wie eine dunkle Kammer von [verbessert zu: voll] Kleinodien ist. Ihr Leib ist ein zerschlissenes 266

Königsgewand über einer weißen reinen Schönheit. Wenn du sie hältst, so hast du Heimweh nach Dingen, die nicht sind. Wenn sie sich an dich lehnt, so spürst du wohl den Duft der Wunderblumen, aber er verweht im Abendwind, auf dessen Flügeln Totenglocken läuten. Wenn sie sich in deine Arme schmiegt, so sucht sie Erdkraft zu spüren — die nur wie ein Zittern in sie geht, wie eine Armseligkeit. Sie ist wie eine Flamme, die sich von der Glut löste und weiterschwelt in blauer Heimatlosigkeit. Sie ist eine blaue Rose auf einem dunklen, dunklen Teich. Ihre Augen sind Kerzen, die niederbrannten auf einem schwarzen Altar, vor dem ihre Seele sich wundgekniet. Ihre Augen sind voll Asche. Ihre armen, müden Augen! In denen man die Sonne des Lebens anzünden möchte, daß alle Tiefen ihr Geheimes gäben und die Sturzflut flammender Rosen aus allen Gärten bräche. Aber ihre Augen sind müd vom Suchen im Dunkeln und vom Schauen nach Sternen. Sie können es nie vergessen, daß das Leben eine große bange Traurigkeit ist, und daß die die Freien sind, die die Krone des Todes auf aufrechtem Nacken tragen . . .

2. Erster Brief von Theodor Heuss an Lu Märten Friedenau-Berlin, 14.X.06 Friedr. Wilhelmplatz 2 Sonntag Abend Liebe Lu Märten! Diese Zeilen wollen und können kein Trostbrief sein. Denn ich sehe, wie schal das wäre, wollte man sich zu besänftigenden oder aufrichtenden Worten zwingen. Nach dem, was unsere Freunde mir heute erzählten, bedeutet der Tod Ihrem Bruder eine ersehnte Erlösung und dieser Verlust war für Sie schon lange eine gefürchtete Erwartung. Der Tod und sein Weg ist Ihnen ja ein schrecklicher Vertrauter. Aber grausamer und erschütternder als alles Gedenken ist seine Gegenwart. Und deshalb beengt mich durch alle spielenden Stunden dieses Tages die Frage quälend nach Ihnen und was der Tod Ihres letzten Bruders in Ihnen gelöst. Nennen Sie das nicht aufdringlich. Wir kennen uns noch nicht lange, aber wir kennen uns gut und ich sehe und verstehe mit Ergriffendenheit den verzweiflungsvollen Grund Ihrer Seele. Ich weiß, ich kann Sie nicht, fröhlich machen. Aber ich möchte Ihnen jetzt etwas Stärke geben können, etwas Mut zum Leben und zur Überwindung seiner Last. Nicht durch Reflexion oder Philosophie. Aber ich möchte mich in einer starken und ehrlichen Freundschaft zu Ihnen stellen, die Sie als stützende Kraft empfinden sollen, und aus deren Gewißheit soll Ruhe und Gefaßtheit zu Ihnen fließen. 267

Vielleicht ist es banal, Ihnen solche Worte am Sarg Ihres Bruders zu sagen. Aber ich weiß, Sie werden sie richtig verstehen. Meine Gedanken waren in diesen Tagen so oft bei Ihnen. Und mir ist, als ob unsre junge Freundschaft Ihnen und mir etwas sein könnte. Ich wäre ja so froh, könnte ich Ihnen in irgend etwas dienen und helfen. Und sei es nur, daß ich die Last der Einsamkeit nehme, wenn Sie Ihnen drückend wird. Diese nächsten Tage gehören Ihnen allein. Sagen Sie es mir, wenn Sie mich wieder haben wollen. Und seien Sie jetzt stark und aufrecht, soweit das möglich ist. In herzlicher aufrichtiger Freundschaft Ihr Theodor Heuss.

3. Bibliographie des wissenschaftlichen Sozialismus Begründet von Lu Märten Herausgegeben von Rudolf Hoecker/I.M.Lange 1. Teil: Die Frühzeit des wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland sowie die gleichzeitigen sozialistischen und radikal-demokratischen Strömungen der Jahre 1830-52 Inhaltsübersicht I.

Allgemeines

1. Allgemeine Darstellung zur Einführung in die politische, wirtschaftliche und Kulturgeschichte der Zeit von 1830—1852 (in Auswahl) a) Bibliographien, Bücherverzeichnisse sowie Aufsätze und Einzelschriften bibliographischen Charakters b) Zeitgenössische Schriften und Darstellungen aus späterer Zeit c) Zeitungen und Zeitschriften 2. Soziale Tendenz und politische Dichtung II. Einzelne Gruppen und Strömungen aus der Vorbereitungs- und Frühzeit des wissenschaftlichen Sozialismus 1. Frühgeschichte des Sozialismus im allgemeinen 2. Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung a) Allgemeines b) Industrie und Gewerbewesen c) Handwerkerfrage d) Bauern- und Landarbeiterfrage e) Auswanderung f) Örtliches 268

3.

Die radikal-demokratischen Geheimorganisationen und Bünde a) Im allgemeinen (einschl. des Bundes der Geächteten und des Bundes der Gerechten) b) Geheimbünde der Schweiz c) Bund der Kommunisten

4.

Der »wahre« Sozialismus

5.

Der romantische Sozialismus, konservativer, liberaler und verwandter Prägung

III. Radikaldemokraten und Junghegelianer 1.

Radikaldemokratische Revolutionäre

2.

Die Junghegelianer

269

1. Lu M ä r t e n . 1905/06.

270

2. Lu

Märten,

1906.

Aufgenommen

von

Peter O e t t e l .

3. T h e o d o r Heuss. B r o n z e k o p f von Adolf A m b e r g . 1906.

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4. Lu M ä r t e n . B r o n z e b ü s t e , Adolf A m b e r g , 1906.

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vermutlich

5. A d o l f A m b e r g . 1906.

271

Hellbpma,1V i' "'ini 'iYalirudm.

6. Trauraura des Standesamtes Heilbronn. Wandgemälde von Adolf Amberg. Um 1905.

7. Römische Landschaft. Ölbild von Wilfried Buchmann. Um 1908.

272

8. Wilhelm Repsold. B r o n z e k o p f , p o r t r ä t . U m 1920.

Selbst-

10. Ruth O e s t e r r e i c h , um 1917. A n g a b e Lu M a r t e n s auf der Rückseite: »1934 von den Nazis e r m o r d e t . «

9. Lu M ä r t e n . R e p s o l d . 1911.

Bronzekopf

von

Wilhelm

11. Lu M ä r t e n , 1929. A u f g e n o m m e n von Franz P f e m f e r t .

12. Lu M ä r t e n , u m 1950.

13. B e r t a T h a l h e i m e r , um 1950. A n g a b c Lu M ä r t e n s auf der Rückseite: »Briefe nicht mehr vorhanden.«

Fotonachweise Die Fotos Nr. 1, 2, 4, 5, 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 13 stammen aus dem Nachlaß Lu Märten (IISG, Amsterdam). Sie werden hier erstmals veröffentlicht. Für die Publikationserlaubnis sei dem IISG an dieser Stelle gedankt. Nr. 3 ist eine Aufnahme von Brigitte Straubel. Sie wurde veröffentlicht in Theodor Heuss, Bilder meines Lebens, 1964, S.45. Nr. 6 wurde als Postkarte veröffentlicht. Ein Exemplar befindet sich im Nachlaß Lu Märten (IISG, Amsterdam).

Notiz Für die Abdruckerlaubnis der Dokumente 1 - 3 des Anhangs danken wir dem IISG, Amsterdam, der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Zürich und Frau Ursula Heuss. — Wenn im Vorstehenden aus archivalisch überlieferten Dokumenten zitiert wurde, so konnten nicht in jedem Fall die jeweiligen Rechteinhaber ermittelt werden. Diese werden deshalb gebeten, Kontakt mit dem Verlag aufzunehmen. 274

Literaturverzeichnis

1. Nachlässe und Sammlungen Nachlaß Lu Märten, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG), Amsterdam. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, Abteilung Literatur-Archive, Berlin. Nachlaß Bedrich Václavek, Památník Národního Písemnictví, Praha (Museum des nationalen Schrifttums der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaft, Prag). Nachlaß Joseph Lang, Friedrich Ebert Stiftung (FES), Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Bonn. Archiv Friedrich Adler/Sozialistische Arbeiter Internationale (SAI), IISG, Amsterdam. Archiv der sozialistischen Monatshefte, Nachlaß Joseph Bloch, Bundesarchiv Koblenz. Archiv Lev D. Trockij, Houghton Library, Cambridge, Mass.. Sammlung Walter Märten, Berlin (West). Bertolt-Brecht-Archiv, Akademie der Künste der DDR, Berlin. Sammlung Theo Pinkus, Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Zürich.

2. Zeitschriften und Zeitungen Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung. Hg. vom Institut für experimentelle Kunst und Ästhetik. Jg. 1 - 2 (1971-1972). Der abstinente Arbeiter. Berlin. Jg. 1904. Die Aktion. Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur. Berlin. Hg. von Franz Pfemfert. Jg. 1 - 1 7 (1911-1927). Allgemeine Deutsche Universitäts-Zeitung. Berlin. Jg. 16 (1902). alternative. Hg. von Hildegard Brenner. Berlin (West). Jg. 14-16 (1971-1973). Die andere Zeitung. Hamburg. 1956-1964. Die Arbeit. Zeitschrift für Theorie und Praxis der kommunistischen Jugendbewegung. Hg. von der Kommunistischen Jugend Deutschlands. Berlin. 1. Jg., 1921. Arbeiterinnen-Zeitung. Wien. Hg. von Adelheid Popp. 1903—1906. Arbeiter-Jugend. Berlin. 1913. Arbeiter-Literatur. Wien. Jg. 1 (1924). Archiv für die Geschichte des Sozialismus. Hg. von Carl Grünberg. Jg. 1—9 (1911 — 1921). Der Atheist. Hg. von der Internationale proletarischer Freidenker. Wien. Red.: Ferdinand Mayer. 1929. Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift. Jg. 1,2 (1945, 1946). bauhaus. vierteljahr-zeitschrift für gestaltung. dessau. hg. von hannes meyer und ernst kállai. Jg. 3 (1929). Die Balkan-Föderation. 1923. Bergische Arbeiterstimme. 1918. Bergische Volksstimme (Remscheider Arbeiter-Zeitung). Sozialdemokratisches Organ des Wahlkreises Lennep-Remscheid-Mettmann. Publikationsorgan der freien Gewerkschaften. Jg. 15 (1919). Berlin am Mittag. 1947. Berliner Lokal-Änzeiger. 1914.

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278

weiter nachweisbare Textmaterial aufgeführt. Hier wie auch im weiteren sind Gedichte mit (G) und Rezensionen mit (R) gekennzeichnet. Die Abschnitte 3.3. und 3.4. vervollständigen die Bibliographie von Rainhard May in erster Linie mit Hilfe der im Amsterdamer Nachlaß von Lu Märten überlieferten Drucke wie auf der Grundlage weiterer bibliographischer Arbeiten. Korrekturen der Bibliographie von May sind nicht eigens vermerkt. 3.1. Quellen, nicht publiziert 3.1.1. Texte und Textentwürfe Wein aus der Hand . . . Gedichte. Auswahl von Hans Kaiser. Einband von W. Rössner. Gebundenes Typoskript, 134 S., 1910. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Die moderne Silhouette. Typoskript, 6 S., um 1911. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Silhouetten, Typoskript, 6 S., um 1911. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. »Es ist Zeit, mit dem Klinger zu klirren«. Frauen! Männer! Ein Wort an die Geister. Typoskript, 15 S., um 1912. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Ästhetik und Arbeiterschaft. Gebundenes Typoskript, 71 S., 1914. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Was ist Kommunismus? Was ist Kapitalismus? Typoskript, 26 S., um 1919. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 24. Jugend der Revolution 1918. Oder: »Dem unbekannten Gott.« Schauspiel. Typoskript, 40 S., 1919. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 9. Können Unbemittelte heute Kunstwerke kaufen? Und was ist die Deutsche Kunstgemeinschaffl Typoskript, 7 S., um 1920. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. »Kultur«. Typoskript, 8 S., um 1922. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Finnland. Typoskript, 13 S., 1924. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Vom Wesen der Musik und ihren historischen Bedingungen. Typoskript, 11 S., um 1925. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Vom Theater und vom Schauspieler. Typoskript, 9 S., um 1925. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 13. I Maschine - Arbeiter und Diktatur. II Mensch und Künstler. Typoskripte, jeweils 5 S., um 1925. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Die neuen Künste und die neuen Mittel. Typoskript, 7 S., um 1925. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Arbeiter und Film. Oder: Die Interessen der Arbeiter am Film. Typoskript, 7 S., um 1925. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 44. Arbeiter und Film. Typoskript, 11 S., um 1925. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 45. Die objektiven Bedingungen der Neuformen in Dichtung und Literatur. Typoskript, 24 S., 1926 (deutsche Fassung des im /ronfa-Almanach 1927 tschechisch publizierten Artikels). Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 13. Unterscheidungen und Zusammenhänge. Über die Rolle des Films im Theater. Typoskript, 5 S., um 1927. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Ein Menschen- und Geisterspiel. Hörspiel. Dem Andenken Peter Hilles gewidmet. Typoskript, 20 S., um 1927. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 24. Das Problem der Arbeiterbildung und deren technisch-historische Bedingungen im Film. Typoskript, 10 S., um 1930. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Kultur, Kulturelemente, Kulturzerfall. Typoskript, 9 S., um 1931. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Rameaus Neffe. Exposé. Typoskript, 8 S., um 1934. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Vannina Vannini. Nach Stendhal. Filmexposé. Typoskript, 11 S., 1934. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1.

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Yali oder ein Spiel wird Ernst. Filmexposé. Typoskript, 3 S., um 1934. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Yali. Ein Roman vor allem Werden. Typoskript, gebunden in 2 Teilen, zusammen 473 S., 1936. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 17. Hölderlin, Ich, und. (G) Maschinenschriftliches Blatt, lose eingelegt in das Typoskript »Wein aus der Hand«. 1938. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Tänzer. Die Tragik des Alterns. Schauspiel/Film. Typoskript, 69 S., 1939. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 11. John Gays »Beggars-Opera«. Schicksale einer Dichtung. Typoskript, 6 S., um 1945. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 42. Der Zeitgehalt im Verhältnis zur dramatischen Form. Das Theater. Typoskript, 10 S., um 1945. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 41. Geschichte der Frau vom Mutterrecht bis zur Gegenwart. Querschnitt. Typoskript, 63 S., 1947. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 16. Methode der Soziologie. Notizen für die Arbeitsgemeinschaft im Kulturbund. Typoskript, 4 S., um 1947. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 13. Protest betr. die Urteile über Stellung der Frau in der Geschichte von Lu Märten. 8.11.1948. An den Kulturellen Beirat. Typoskript, 6 S.. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Gutachten zu Georg Lukács: Franz Mehring 1846-1919. Typoskript, 4 S., 1948/49. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 6. Gutachten zu Paul Reimann: Über realistische Kunstauffassung. Typoskript, 5 S., 1949. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 6. Georg Forster. Briefauszüge. 1779—1793. Durchschlag eines Typoskripts, 120 S., um 1950. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Georg Forster. 1754-1794. Biographie. Typoskript, 98 S., 1950. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 13. Die Judenfrage bei Marx. Typoskript, 7 S., 1964. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 9. Katalog der Schriften zur Geschichte und Theorie des Sozialismus. 1927-1969. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuilles 18-20. Autobiographie für Walter Märten. Typoskript ohne Titel, 120 S., um 1960. Sammlung Walter Märten. 3.1.2. Dokumente Anlage zu Lu Märtens Arbeiten. Betreffend das Verhältnis dieser Arbeit (Wesen und Veränderung, 1924) zur Literatur der Jahre 1902 bis zur Gegenwart. Typoskript, 4 S., um 1925. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Brief Lu Märtens an einen unbekannten Adressaten (»Sehr geehrter Herr Professor!«). Steglitz, den 9. Mai 1934. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 12. Was der Katalog bezweckt. Typoskript, 2 S., 1947. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Tabellarischer Lebenslauf, Literaturliste: Lu Märten, geb. 24.9.1879. Typoskript, 3 S., 1947. Nachlaß Lu Märten, IISG, Port. 2. Abschrift eines Briefes Lu Märtens an Prof. Tomaszewski, Berlin, auf Fragen nach einigen Arbeiten. Typoskript, 4 S., um 1956. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. »Arbeiten«. Typoskript mit Notizen, 9 S., um 1962. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 129. Über Wesen und Veränderung der Formen!Künste. Anlage. Typoskript, 2 S., um 1965. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 12. 3.2. Überlieferte, jedoch bibliographisch nicht nachgewiesene Publikationen 3.2.1 Vor 1914 Am Potsdamer Platz in Berlin. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Am Potsdamer Platz. Berlin, März. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. 280

Auf dem weißen Felsen. Roman von Anatole France. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Aus der »Fruchtschale«. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Berliner Brief. I. Mietskaserne. Berliner Brief II. Vom Schauspieler. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Berliner Briefe. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Berliner Zickzack. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Bücher der Kunst. Julius Meyer-Gräfe, Vincent van Gogh und Paul Cézanne. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Die vor den Toren. Roman von Clara Viebig. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Drei Zigeuner und eine polnische Wurst. Groteske. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Einküchenhäuser. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Zu Ellen Key, Die Frauenbewegung. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Die Erkenntnis der bunten Einfalt. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Der erste deutsche Wohnungskongreß. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Friedrich Hölderlins ausgewählte Briefe, hg. von Wilhelm Böhm. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. »Gespießtes«. (Aphorismen) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 11. Gewitter im Wald. (G) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Hans Benzmann. Evangelienharmonie. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Herbst. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Hugo Wolf. Zum 50. Geburtstag. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Hulda Maurenbrecher, Das Allzuweibliche; Clara Viebig, Die vor den Toren. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. »Ich geh zur Mutter«. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. J.J. David, Der Übergang. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Kleine Bilder vom Zeppelintag in Berlin. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Künstlertypen und Kunstprobleme. Von Kurt Piper. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Die Kunst der Arbeiterklasse. Wenzel Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Die Kunst der Schere. (Privatdruck). Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Die Kunst der Schere. Zur Berliner Silhouettenkunstausstellung im Hohenzollern-Kunstgewerbehaus. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Kunstgeschichtliche Bücher. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Kurt Piper, Künstlertypen und Kunstprobleme; Wilhelm Michel, Das Teuflische und Groteske in der Kunst. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Das Leben im Dunkeln. Roman von Oskar Baum. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Neue Bücher für den Weihnachtstisch. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Ein neues Buch. Regina Ullmann, Von der Erde des Lebens. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Die neue Sezession in Berlin. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Nikolaus Gogol, Die Abenteuer Tschitschikows oder: Die toten Seelen. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Die Poesie des Eisens. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Reisebriefe IV. Vom Süden nach dem Norden. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Die schwedische Sezession in Berlin. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Sonne. Aus den »Impressionen« von Lu Märten. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Soziales und Wirtschaftliches. Herrenmoral oder Sozialreform? Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 83. Der Tanz der tausend Hortkinder in Berlin. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2.

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Das Teuflische und das Groteske in der Kunst. Text von Wilhelm Michel. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Theater des Lebens. Aphorismen von Lu Märten. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 11. Über Meyer-Gräfes Spanische Reise. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Zeichnende Kunst. Berliner Winter-Sezession. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Zeichnende Kunst. Berliner Winter-Sezession II. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Zwei Geschichten: Blinde, Er ging zur Mutter. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 13. Zur Reichstagswahl 1912. »Es ist Zeit, mit dem Klinger zu klirren!« Ein Wort an die Geister. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 57. 3.2.2. Vor 1933 Auf Rudolf Leonhardts Gedicht »Auch du hast Brüste ...« An die revolutionären Dichter. Gezeichnet: Ein Proletariermädchen. (G) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 12. Im Dienste des Sozialismus. Richtlinien der Genossenschaft sozialistischer Künstler. Gezeichnet: Friedrich Natteroth. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 10.

Vorwort. Zur Verkaufsausstellung der Genossenschaft sozialistischer Künstler 1919. Privatdruck. Nachlaß Lu Märten, IISG, Port. 1. Die erste große Biographie über Friedrich Engels. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Über die Balkanfrage. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Blindenhunde. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. (R) John Maynard Keynes, Das Ende des Laisser-Faire; Alfred Isaac, Die Entscheidung der wissenschaftlichen Betriebslehre in Deutschland seit 1898; O. Schönebeck, Zoll und Inlandindustrie. Untersuchungen über die Wirkungen der Textilzölle; W. Ebert, Die chemische Industrie Deutschlands. Beitrag zur Wirtschaftskunde; Humphreys R.J.E., Report on Economic Conditions in Rumania; G. Dehne, Die deutsche Elektrizitätswirtschaft; Th. Roemer, Berichte über landwirtschaftliche Beobachtungen auf dem Gebiete des Akkerbaus in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 6. Vor Chaplins heimatloser Maske. (Warum ich glaube, daß ihn das Proletariat liebt.) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 15. Hörspiel und Rundfunk. Noch einmal »Sturm über dem Pazifik«. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Bearbeitungen. Porträts aus: Das unterirdische Rußland. Von Sergius Krawtschinsky. Jesse Helfmann; Jakob Stephanowitsch; Sophie Perowskaja; Valerian Ossinsky. (Anonym) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Feuertransport. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. 3.2.3. Nach 1933 Martin Wackernagel, Lebensräume der Kunst. Eine Studienfolge. Wattenscheid 1936. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Staat und Kultur. (R) Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. 3.2.4. Nach 1945 Eine Karl-Marx-Büste. Teilnachlaß Lu Märten, Akademie der Künste der DDR, 30. Die Malerin Paula Becker-Modersohn. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. Paula Becker-Modersohn. Zum 40. Todestag der Malerin. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 2. Rosa Luxemburg. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 1. 282

3.3. Publikationen 1902 Bodenform und Frauenrecht. In: Frauenbewegung. Berlin. Nr. 10. Zur Lösung der Prostitutionsfrage. Einige Entgegnungen zu den Ausführungen des Herrn Dr. G. Siefert. In: Allgemeine Deutsche Universitäts-Zeitung. Nr. 18, S. 141/42. Wie die Landordnung von Kiautschou wurde. In: Volkszeitung. Berlin. Nr. 558. Über Ibsens Weltanschauung und Persönlichkeitsforderung. In: Deutsche Welt. Berlin. Nr. 5, S. 65 - 6 7 . Bodenreform. In: Deutsche Stimmen. Nr. 17, S. 686—692. Wilhelm von Polenz, Wurzellocker. (R) In: Die Zeit. Nr.9, S.286. John Ruskins Werke. Bd. III. (R). In: Die Zeit. Nr. 11, S. 349-350. Kommunaler Arbeitsnachweis für Frauen. In: Die Frau. Heft 10, S. 627—628. 1903 Käthe Kollwitz. In: Die Frau. Heft 5, S. 290-292. Ricarda Huch als romantische Dichterin. In: Centraiblatt des Bundes deutscher Frauenvereine. Nr. 12, S. 90-92. Ricarda Huch, Vita somnium breve. (R) In: Die Zeit. Nr. 26, S.832. Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes. (R) In: Die Zeit. Nr. 32, S. 192. Die künstlerischen Momente der Arbeit in alter und neuer Zeit. In: Die Zeit. Nr. 51, S. 800- 804. Fortbildungsschulzwang für weibliche Handelsgehilfen. In: Deutsche Stimmen. Nr.7/8, S. 262-264. Frühlicht. Eine einfache Geschichte aus dem Leben. In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr. 6, S. 1/2. Notwendigkeit. Skizze nach dem Leben. In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr. 11, S.2/3. Das Interesse der Frauen an der Boden- und Wohnungsreform. In: Frauen-Rundschau. Heft 13, S. 639-641. Die Zentralisation der Hauswirtschaft. In: Genossenschaftspionier. Nr. 14, S. 110/11. Erbbaurecht und Bodenpolitik. In: Tägliche Rundschau. Nr. 365. Wachstum und Zusammenschluß. Die Konsumvereine in England und Deutschland. In: Berliner Morgenpost. Nr. 237. 1904 Die politische und genossenschaftliche Bekämpfung des Alkoholismus durch die Arbeiterschaft. In: Der abstinente Arbeiter. Nr.5, S. 17/18; Nr.6, S.21-23; Nr.8, S.29/30; Nr.9, S.34. Frauenbewegung. (G) In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr. 1, S.5. Die Arbeiterinnenfrage auf dem internationalen Frauenkongreß 1904 zu Berlin. In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr. 13, S.l—3. Noch ein Weg zur Befreiung. In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr. 20. S.5—7. Weil die Elfen nicht logen. In: Frauen-Rundschau. Heft 45. S. 1400-1402. Genossenschaftliche Betätigung im Kampf gegen den Alkoholismus. In: Genossenschaftspionier. Nr.6, S.41-43. Nur Zeit! In: Die Gleichheit. Nr.9, S.70/71. Gestorbenes Künstlerleben I. In: Die Gleichheit. Nr. 18, S. 140/41. Gestorbenes Künstlerleben II. In: Die Gleichheit. Nr. 19, S. 148/49. Gestorbenes Künstlerleben III. In: Die Gleichheit. Nr. 20, S. 156/57. Ein Märchen vom Sonnenlos. In: Die Gleichheit. Nr. 25, S.196. Bewußtes von allerhand Unbewußtem. In: Die Hilfe. Nr. 10, S.7. Leben. (G) In: Die Hilfe. Nr. 16, S. 11. Was wir lieben sollten. (G) In: Die Hilfe. Nr. 29, S. 10. Organisation. In: Die Hilfe. Nr. 33. S.10. 283

Maler ohne Hände. In: Das Neue Montagsblatt. Nr. 3. Die Bedeutung des Apothekermonopols für die Krankenkasse. In: Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. S.20 ff.. An die Frauen des Proletariats! In: Vorwärts. Nr. 268. 3. Beilage. Die Konsumgenossenschaft und die Arbeiterinnen. In: Der Wäsche-Bote. Nr. 18, S. 83/84. Die Errichtung öffentlicher Logierhäuser durch die Gemeinden. In: Wohnungsreform. Nr. 2. Fortschritt auf dem Gebiet der Wohnungspflege im Jahre 1903. I, II. In: Wohnungsreform. Nr. 6 und Nr. 7. Die Wohnungsfürsorge im Reiche und in den Bundesstaaten. In: Wohnungsreform Nr. 8, Nr. 9 und Nr. 10. 1905 Frauenbewegung. (G) In: Die Gleichheit. Nr. 8, S.48. Das Wunder. In: Die Gleichheit. Nr. 13, S.78. Sängerlos. (G) In: Die Gleichheit. Nr. 16, S.96. Wie der kleine Eli Flügel bekam. In: Die Gleichheit. Nr. 20, Beilage »Für unsere Frauen und Kinder« Nr. 10, S. 39/40. Uhrengeschichten. In: Die neue Gesellschaft. Nr. 16, S. 190—192. 1906 Meine Liedsprachen. Berlin-Schöneberg. Von der Heimarbeiterausstellung in Berlin. In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr.4, S. 1 - 3 . Hans der Träumer. In: Arbeiterinnen-Zeitung. Nr.4, S . 3 - 7 . Flammen. (G) In: Die Gleichheit. Nr. 16, S. 112. Die Harfe der armen Monika. In: Die Gleichheit. Nr. 22, Beilage »Für unsere Kinder« Nr. 11, S.41/42. Die Andacht der Glaubens- und Vaterlandslosen. In: Hamburger Echo. Nr. 100, Beilage. Requiem für Henrik Ibsen. In: Hamburger Echo. Nr. 125, Beilage. Aus zwei Reichen. In: Hamburger Echo. Nr. 127, Beilage. Gestorbenes Künstlerleben. In: Hamburger Echo. Nr. 144, Beilage. Kunst, Klasse und Sozialismus. In: Die Neue Welt. Nr.45. S.359. Über den Begriff der Kultur und seine Anwendung im Sozialismus. In: Philosophische Wochenschrift und Literatur-Zeitung. Bd. 3, Nr. 11, S. 295 - 304. 1907 Vom Lichtfest der Internationale. In: Die Gleichheit. Nr. 19, S. 168. Ober Ricarda Huch und die Romantik. In: Die Hilfe. Nr. 13, S. 202-204; Nr. 14, S. 218/19. 1908 Grete Bose. Aus dem Leben und Liebe des Proletariats. I, II. In: Die Gleichheit. Nr. 10, S. 94 und Nr. 11, S. 104. Vierfarbendruck. In: Die Hilfe. Nr. 19, S.315. Uhrengeschichten. In: Die Hilfe. Nr. 28, S.456-458. Italienische Briefe. I, II. In: Die Hilfe. Nr. 31, S. 502/03 und Nr. 32, S. 519/20. Abend am Meer. (G) In: Die Hilfe. Nr. 40. S.651. Herbstgespräch. In: Die Hilfe. Nr.42, S.682. 1909 Torso. Das Buch eines Kindes. München und Leipzig. Bergarbeiter. Schauspiel in einem Akt. Stuttgart. Berliner Brief. In: Freiburger Volkszeitung. Nr. 217, Beilage »Freiburger Familienblatt«. Benjamin Constant. (R) In: Freiburger Volkszeitung. Nr. 261. Beilage »Freiburger Familienblatt«.

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Spiel und Spielzeug. In: Freiburger Volkszeitung. Nr. 269. Beilage »Freiburger Familienblatt«, S.2. Proletariat. (G). In: Die Gleichheit. Nr. 8, Beilage »Für unsere Kinder« Nr. 8. Ibsen-Brand und das Wollensproblem. I, II. In: Hannoverscher Courier. Nr. 125 und Nr. 126. Beilagen »Welt und Wissen«. Benjamin Constant. (R) In: Hannoverscher Courier. Nr. 137. Beilage »Welt und Wissen«. Die Fontaine. Eine wahre Geschichte. In: Hannoverscher Courier. 1.12.1909. Beilage »Welt und Wissen«. W e der kleine Eli Flügel bekam. In: Hannoverscher Courier. Sonntagsblatt Nr. 971. Spiel und Spielzeug. In: Die Hilfe. Nr.9, S. 136-138. Die internationale Gartenbauausstellung zu Berlin. In: Die Hilfe. Nr. 17, S. 270/71. Ein Frühlingsabend. (G) In: Die Hilfe. Nr. 18, S.286. Ein grauer Tag. (G) In: Die Hilfe. Nr. 24, S.383. Die kleine Lotte. In: Die Hilfe. Nr. 26, S. 411-413. 1910 Hugo Wolf. In: Der Demokrat. Nr. 18. Eduard Manet. In: Der Demokrat. Nr. 25. Weil die Elfen nicht logen. In: Der Demokrat. Nr. 34. Abend am Meer. (G) In: Der Demokrat. Nr. 35. Unpolitisches vom 8. Internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen. In: Der Demokrat. Nr. 38. Ein neues Buch. (R) In: Der Demokrat. Nr. 52. Proletarische und bürgerliche Frauentage. In: Frauen-Zukunft. Heft 1, S. 67/68. Die Phrase der »Frauenblätter«. In: Frauen-Zukunft. Heft 9, S. 714—716. Tragödie oder Komödie. Eine Antwort einer Ibsenleserin. In: Frauen-Zukunft. Heft 10, S. 736-741. Die Frauen in der bildenden Kunst. In: Frauen-Zukunft. Heft 10, S. 788—790. Vom zweiten deutschen Heimarbeitertag in Berlin. In: Frauen-Zukunft. Heft 11, S. 857 - 859. »Epigramme« über die Frau. In: Frauen-Zukunft. Heft 12, S. 939—940. Der Sang am Meer. In: Freiburger Volkszeitung. Nr. 46, Beilage »Freiburger Familienblatt«. S. 1 - 3 . August Bebel. Zum 70. Geburtstag. In: Freiburger Volkszeitung. 26.2.1910. Worauf es ankommt. In: Freiburger Volkszeitung. Nr. 117, S. 1. Unpolitisches vom 8. Internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen. In: Freiburger Volkszeitung. 30.8.1910. Italienische Briefe. I, II. In: Hannoverscher Courier. Nr. 160 und Nr. 161, Beilagen »Welt und Wissen«. Spiel und Spielzeug. In: Hannoverscher Courier. Nr. 203. Beilage »Welt und Wissen«. Schwedische Sezession. In: Hannoverscher Courier. Nr.204. Eine Arbeiter-Dilettanten-Kunstausstellung in Berlin. In: Hannoverscher Courier. Nr. 214. Beilage »Welt und Wissen«. 1911 Die Entstehung des Christentums aus der antiken Kultur. (R) In: Die Aktion. Nr.2, Sp. 41-45. Charles de Coster. In: Der Demokrat. Nr. 3, Sp. 73—76. Von der Mietskaserne. In: Der Demokrat. Nr. 6, Sp. 157-159. Was ist eine Ehefrau? In: Frauen-Zukunft. Heft 1, S. 75/76. Aus dem Briefe eines jungen Mädchens. In: Frauen-Zukunft. Heft 2, S. 152-155. Gott, der Mann und die Frauen. Ein himmlisches Märchen. In: Frauen-Zukunft. Heft 3, S. 183-189. Frauen in der Bildenden Kunst. In: Frauen-Zukunft. Heft 3, S.245/46. 285

Die Differentiation der Frauen. (R) In: Frauen-Zukunft. Heft 4, S. 321-329. »Das Frauenwesen oder das Erlebnis der Treue«. In: Frauen-Zukunft. Heft 4, S. 353-355. Paula Becker-Modersohn. In: Frauen-Zukunft. Heft 5, S.383-391. Ketzereien. Wann werden wir Klassenpsychologie betreiben / Die Unklarheit der Dialektik / Also von der Zucht des Denkens. In: Frauen-Zukunft. Heft 5, S. 440- 443. Geburt der Mütter. In: Frauen-Zukunft. Heft 6, S. 516-522. Die Frauen auf der II. Juryfreien Kunstausstellung München 1911. In: Frauen-Zukunft. Heft 6, S. 536-538. Vincent van Gogh. In: Die Neue Welt. Nr. 35, S. 275-276. Pierrot. In: Die Zeitschrift. Heft 10, S.295 -297. 1912 Heilige Nacht. Zu Weihnachten 1912. In: Brandenburger Märkisches Volksblatt. Bergarbeiter. 4. und 5. Auftritt. In: Die Gleichheit. Beilage »Für unsere Mütter und Hausfrauen« Nr. 16, S.64. »Das Allzuweibliche« (R) In: Hannoverscher Courier. 26.5.1912. Beilage »Für unsere Frauen«. Charles de Costers »Ulenspiegel«. In: Der Kampf. Heft 5, S. 231—236. Zur ästhetisch-literarischen Enquete. In: Die Neue Zeit. Bd. 2, Nr. 47, S.790-793. Charles de Costers »Ulenspiegel«. In: Volksstimme Chemnitz. Nr. 98. Unterhaltungsbeilage. 1913 100 Silhouetten. Schattenrisse von einem anonymen Meister des XVIII. Jahrhunderts nebst einigen neueren Stücken. (Hg. von Lu Märten). Wien und Leipzig. Silhouetten. Mit Abbildungen und Silhouetten des Radierers und Bildhauers W. Repsold. In: Arbeiter-Jugend. S. 172-174. Flammen. In: Dresdner Volkszeitung. Nr. 83. Beilage »Leben. Wissen. Kunst. Tägliches Unterhaltungsblatt«. Das Wunder. In: Dresdner Volkszeitung. Nr. 159. Beilage »Leben. Wissen. Kunst. Tägliches Unterhaltungsblatt«. Vincent van Gogh. In: Die Grenzboten. Nr. 5, S. 237-243. 1914 Die wirtschaftliche Lage der Künstler. München. Arbeiterbewegung und Kunst. In: Der Staatsbürger. Heft 8. S. 362-364. 1915 Was können wir tun? In: Der Deutsche Künstler. Nr. 10, S. 91/92. Zur Erkenntnis der wirtschaftlichen Lage der Künstler. Erwiderung. In: Der Deutsche Künstler. Nr. 14, S. 11/12. 1916 Geburt der Mütter. In: Die weißen Blätter. Heft 9, S.285-290. Der Knabe Herbst. In: Die weißen Blätter. Heft 12, S.276. 1918 »Der Mensch in der Mitte.« (R) In: Bergische Arbeiterstimme. Nr. 34. Proletariat. (G) In: Die Freiheit. Nr. 5. Sozialismus und Künstler. In: Die Freiheit. Nr. 21. Geburt der Mütter. In: Die Freiheit. Nr.49. 1919 Die Künstlerin. Eine Monographie. Kleine Monographien zur Frauenfrage. Hg. von Adele Schreiber. Bd. 2. München.

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Sozialismus und Künstler. In: Bergische Volksstimme. Nr. 32. Lied des Proletariats. In: Die Freiheit. Nr. 1. Aus den Briefen eines Gefangenen. Gent 1916. In: Die Freiheit. Nr.5. Sturm. (G) In: Die Freiheit. Nr. 169. Proletkult. In: Die Freiheit. Nr.443. Maschine und Diktatur. In: Das Neue Reich. Heft 19. S.4—6. 1920 Vorwort zu: Zeichnungen und Radierungen von Elfriede Wendtlandt. Berlin. Zuschrift »Unabhängige Presse-Freiheiten«. In: Die Aktion. Heft 31/32, Sp. 441-443. Revolutionäre Dichtung in Deutschland. In: Die Erde. Nr. 1, S. 12-28. Einiges Historisches über Musik. Ludwig van Beethoven und 150 Jahre deutscher Musik. In: Jugend-Internationale. Nr.4. S.75—80. Die Seele eines Klassenkämpfers. (R) In: Die Jugend-Internationale. Nr.4, S.95. Die erste Engels-Biographie. In: Die Rote Fahne. Nr.78. Geschichte, Satyre, Dada und Weiteres. I, II. In: Die Rote Fahne. Nr. 163 und Nr. 164. Ludwig van Beethoven und die Musik. I, II. In: Die Rote Fahne. Nr. 261 und Nr. 262. 1921 Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste. Eine pragmatische Einleitung. Berlin. (Teilübers. in der von St. K. Neumann hg. tschechischen Zeitschrift Cerven, Jg. 3, 1921, S.348-351.) Über proletarisches Theater und proletarisches Theaterbedürfnis. In: Die Arbeit. Nr.5. S. 76-78. Die revolutionäre Presse und das Feuilleton. In: Der Gegner. Heft 6, S. 186-192. Briefe über Kunst. I-IV. In: Die Jugend-Internationale. Nr.6, S. 142-148; Nr.7, S. 162-171; Nr. 10, S. 260-266; Nr. 11, S. 295-300. Peter Hille. In: Die Jugend-Internationale. Nr. 7, S. 104-107. Peter Krapotkin. I, II. In: Die Rote Fahne. Nr. 60 und Nr. 61. Kunst und historischer Materialismus. In: Die Rote Fahne. Nr.239. Die Menschenverluste im Weltkriege. (R) In: Die Rote Fahne. Nr. 244. Peter Kropotkin. In: Werden. Nr.4, S.99-104. 1923 Lu Märten. In: Die Balkan-Föderation. Nr. 84, S.1703. 1924 Wesen und Veränderung der Formen/Künste. Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. Frankfurt/M.. Revolution und Mensch: Neue Bücher für den revolutionären Arbeiter. In: Arbeiter-Literatur. Nr.3/4, S. 147-151. Es ist Zeit mit dem Klinger zu klirren .../ Wie's Lenin gemacht hat/ Ein Arbeiter sprach zu mir. (G) In: Arbeiter-Literatur. Nr.5/6, S. 183-185. Wesen und Veränderung der Formen (Künste). Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. (Selbstanzeige) In: Arbeiter-Literatur. Nr. 5/6, S. 269-272. Proletarische Kulturtage in Magdeburg. Sprech- und Singchor. In: Arbeiter-Literatur. Nr.7/8, S. 408-413. Demjan Bjedny, Die Hauptstraße. (R) In: Arbeiter-Literatur. Nr.7/8, S. 437/38. Proletariat. (G) In: Arbeiter-Wander-Kalender für das Jahr 1924. Blatt Februar. Religion und historischer Materialismus. In: Fahrtgenoß. Nr. 12, S. 99—101. Historischer Materialismus und Kunst. In: Heimatwanderer. Sonderausgabe Proletariat und Kunst. Demjan Bjedny, Die Hauptstraße. (R) In: Internationale Presse-Korrespondenz. Nr. 53, Sp. 640.

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Trotzki, Literatur und Revolution. (R) In: Internationale Presse-Korrespondenz. Nr. 56, Sp. 682-684. Demjan Bjedny, Die Hauptstraße. (R) In: Rotes Echo. Nr. 63, S.7. 1925 Kunst und Proletariat. In: Die Aktion. Nr. 12, Sp. 663-668. Es ist Zeit, mit dem Klinger zu klirren. (G) In: Arbeiter-Kalender für das Jahr 1925. Hamburg. Proletariát a umëni. In: Nedelni Príloha Rudého Prava. Rudé právo. Nr. 208, 6. September, S. 3/4. Thomas Müntzers Stimme. In: Die Rote Fahne. Nr. 127. (7.6.1925). 1926 Vom Lesen und von der Schule. In: Neue Erziehung. Heft 7, S. 525-530. Filosofie a Estetika. Umëni a Proletariát. In: pásmo. Nr. 5, S. 62-63. 1927 Zu meiner Darstellung der Entwicklung der Kunst. In: Die Aktion. Heft 4 - 6 , Sp. 109—113. Zweck und Form in der jungen Literatur. In: Die Neue Bücherschau. Heft 2, S.47—50. Frank Harris, Die Bombe / Ben B. Lindsay, Die Revolution in der modernen Jugend / Robert L. Stevenson, Aus der Südsee. (R) In: Die Bücherwarte. Heft 7, S.200; S. 201/02; Heft 11, S. 344/45. Die Eigengesetzlichkeit des Rundfunks. In: Die Bücherwarte. Heft 8, Beilage »Arbeiterbildung«, S. 115-117. objektivní podminky novych tvarû ν básnictví a literature, die objektiven bedingungen der neuformen in dichtung und literatur. In: fronta. S. 55—65. konkretní úkoly. konkrete aufgaben. In: fronta. S. 135—136. Die Eigengesetzlichkeit des Rundfunks. In: Der Neue Rundfunk. Nr. 40, S. 1279-1280. 1928 Stimme als selbständige Wesenheit und Rundfunk. In: Der deutsche Rundfunk. Nr. 10, S. 409/10. Rundfunk und Film. In: Deutsche Welle. Nr.2, S. 36/37. Die Rolle des Films im Theater. In: Die Neue Bücherschau. Heft 1. S . 3 - 5 . Vor Charlie Chaplin. In: Die Neue Bücherschau. Heft 4, S. 201/02. Filmkategorisches. In: Die Neue Bücherschau. Heft 5, S.231—235. Thesen zur Ästhetik einer Jahrhundertwende. In: Die Neue Bücherschau. Heft 7/8. S. 331/ 32. 1929 historischer materialismus und neue gestaltung. In: bauhaus. Nr. 1. S.4—8. Torténelmi Materializmus és uj alkotás. In: munka. Nr. 7, S. 195—197. 1930 Unbekannte proletarische Dichter in USA. (R) In: Kulturwille. Januar. Beilage »Reisen und Schauen«. Historicky materialismus a sociologie umëni. I. In: Sociologická revue. 1930, S. 387—391. (Übersetzt von Bedrich Václavek). 1931 Zur Frage einer marxistischen Ästhetik. In: Die Linkskurve. Nr.5, S. 15-19. Historicky materialismus jakozto sociologická metoda. (Uzití na uméní). II. In: Sociologická revue. 1931, Nr.3, S.386-391. (Übersetzt von Βedfich Václavek). 288

1945 Die Dreigroschenoper und ihre Dichter. In: Deutsche Volkszeitung. Nr. 57, S.3. 1946 Namenlose Kämpferinnen (Jesse Helfmann). In: Neues Deutschland. Nr. 172. Namenlose Kämpferinnen. In: Stimme der schaffenden Frau. 1947 Bibliographie des wissenschaftlichen Sozialismus. Begründet von Lu Märten. Bd. 2, 1. Teil: Die Frühzeit des wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland sowie die gleichzeitigen sozialistischen und radikal-demokratischen Strömungen der Jahre 1830-1852. Hg. von Rudolf Hoecker und I.M. Lange. Berlin. (Druckfahnenexemplar im Besitz der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Zürich. Der Band wurde nicht ausgeliefert.) Berliner Spaziergang. In: Berlin am Mittag. Nr.76, S.3. Paula Becker-Modersohn. In: bildende kunst. Heft 2, S. 11-14. Annette Kolb - Frau zwischen den Völkern. In: Für Dich. Nr.40, S.5. Kultur des Rundfunks und der Hörgesetze. In: Geraer Kulturspiegel. Heft 4, S. 10-12. Erinnerung an Klara Zetkin. In: Tägliche Rundschau. Nr. 154, S.3. Peter Hille. Ein unbekannter deutscher Dichter. In: Die Weltbühne. Nr. 12, S. 539—543. 1948 Bürgermeister Tschech und seine Tochter. Erinnerungen an den Vormärz (1844). Berlin. 1949 Wesen und Veränderung der Formen und Künste. Überarbeitete Neuauflage. Weimar. 1952 Georg Forster. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hg. von Gerhard Steiner und Manfred Häckel unter Mitarbeit von Lu Märten. Weimar. 1959 Das Parodieverfahren in der Musik. In: Die andere Zeitung. Nr.35. 1964 Rameaus Neffe. Vor über 30 Jahren gab es einen Filmplan für Diderots Dialog. In: Die andere Zeitung. Nr. 16.

3.4. Zeitgenössische Besprechungen 3.4.1. Meine Liedsprachen Friedrich Naumann: »Meine Liedsprachen«. In: Die Hilfe. 1906, Nr.51, S. 13. Theodor Heuss: Lu Märten, Meine Liedsprachen. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. 3.4.2. Torso Lu Märten, Torso. (Anonym) In: Literarisches Centralblatt für Deutschland. 14.8.1909. Lu Märten, Torso. (Anonym) In: Gral. 1910, Nr. 8. (Erich Baron): Literarische Rundschau. Lu Märten, Gabriele Reuter, Knut Hamsun, Otto Rung, Georg Engel, Jakob Wassermann. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Hedwig Dohm: Torso. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3.

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Josef Ettlinger: Torso. In: Literarisches Echo. 1909. Heft 4, Sp. 285 -287. Gisela Etzel: Lu Märten, Torso. In: Die Lese. 1910. Alfred Fiedler: Lu Märten, Torso. Das Buch eines Kindes. In: Berliner Morgenpost. 15.1.1909. Johanna Friedberg: Torso. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Sophie von Harbou: Torso. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Wilhelm Hausenstein: Lu Märten, Torso. In: Münchener Post. 19.12.1909. Walter Heist: Dichterinnen ihres Lebens. In: Volk und Zeit. 1948. Aprilheft, S. 105/06. Theodor Heuss: Lu Märten, Torso. In: Die Hilfe. 1909, Nr. 31, S.494. Hans Kaiser: Lu Märten,Torso. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. J.: Lu Märten, Torso. Das Buch eines Kindes. In: Königsberger Allgemeine Zeitung. 29.5.1910. Max Krieg: Torso. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. (Helene Lange): Torso, das Buch eines Kindes. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Franz Pfemfert: Lu Märten. Torso. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. M. Schian: Torso. In: Eckart. Nr. 5, S. 363/64. Paul Stefan: Das Buch eines Kindes. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Christine Touaillon: Von neuen Frauenbüchern. In: Neues Frauenleben. 1911, S. 277 -279. Martin Wackernagel: Vom inneren Berlin. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Arnim T. Wegner: Torso. Vossische Zeitung. 7.8.1913. 3.4.3. Bergarbeiter Bergarbeiter. (Anonym) In: Deutsche Metallarbeiter-Zeitung. 1909. Stefan Grossmann: Dramatik. Bergarbeiter. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Wilhelm Hausenstein: Bergarbeiter. Schauspiel von Lu Märten. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Theodor Heuss: Lu Märten, Bergarbeiter. In: Die Hilfe. 1909, Nr. 6, S.91. Franz Mehring: Lu Märtens Bergarbeiter. In: Die Neue Zeit. 1908/09, Bd I, Nr. 6, S. 933/34. Agnes Smedley: Theater - eine revolutionäre Anstalt. In: Frankfurter Zeitung. 1930, Nr. 236. Agnes Smedley: Europa im chinesischen Theater. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Clara Zetkin: Ein Arbeiterdrama. In: Die Gleichheit. 1912, Nr. 16, Beilage »Für unsere Mütter und Hausfrauen« Nr. 6, S. 61-63. 3.4.4. Die wirtschaftliche Lage der Künstler Georg Jahn: Zur Erkenntnis der wirtschaftlichen Lage der bildenden Künstler. I, II. In: Der Deutsche Künstler. 1915, Nr. 12, S. 107-109 und Nr. 13. Georg Jahn: Gegenbemerkung. In: Der Deutsche Künstler. 1915, Nr. 14, S. 12. Otto Jenssen: Der Künstler als Warenproduzent. In: Die Neue Zeit. 1914, Bd. II, S.405-410. J.L.: »Die wirtschaftliche Lage der Künstler«. In: Berliner Lokal-Anzeiger. Abendausgabe. 25.3.1914. Hugo Kersten: Literarische Neuerscheinungen. Lu Märten. In: Die Aktion. 1914, Nr. 19, Sp. 419/20. Max Krieg: Die wirtschaftliche Lage der Künstler. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3.

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F.L.: Die wirtschaftliche Lage der Künstler. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. 1914, Nr. 84, S.527. Grete Meisel-Hess: Die wirtschaftliche Lage der Künstler. In: Berliner Tageblatt. 1914, Nr. 379. Beilage »Literarische Rundschau«. Martin Wackernagel: Lu Märten, Die wirtschaftliche Lage der Künstler. In: Zeitschrift für Bücherfreunde. 1914, Neue Folge 6, S. 195. 3.4.5. Die Künstlerin Artur Brausewetter: Die Künstlerin. Von Lu Märten. In: Das literarische Echo, Heft 9, 1.2.1920, Sp. 564/56. 3.4.6. Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste Gertrud Alexander: Historischer Materialismus und Kunstkritik. In: Die Internationale. 1921, Nr. 5, S. 180-188. Gertrud Alexander: Kunst und historischer Materialismus. In: Die Rote Fahne. 1921, Nr. 223. Gertrud Alexander: Noch einmal Kunst und historischer Materialismus. In: Die Rote Fahne. 1921, Nr. 244. Valeriu Marcu: Lu Märten, Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste. In: Jugend-Internationale. 1921, Nr. 9. Dass, in: Sowjetische Kommunistische Monatsschrift. 1921, S. 58-60. Dass, in: Neue Blätter für sozialistische Literatur. 1921, Nr.4, S.4. 3.4.7. Wesen und Veränderung der Formen/Künste (1924/27) Fred (Pseud. Bedrich Václaveks): Marxisticky teoretik uméní. In: Rudé prävo, Nr. 145 vom 1.6.1925. Klaus Herrmann: Deutsche Kritiker von heute. (1928) Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Alfred Kleinberg: Wesen und Veränderung der Formen/Künste. In: Die Bücherwarte. 1927, Heft 6, S. 180/81. Franz Radioff: Lu Märten. Wesen und Veränderung der Formen (Künste). Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. (Rubrik »Bibliothek des Proletariers«) In: Die Aktion. 1925, Nr. 15/16, Sp. 448-452. Schwabacher: Wesen und Veränderung der Formen/Künste. In: Cicerone. 1927, Nr. 1, S. 45. Arthur Seehof: Wesen und Veränderung der Formen/Künste. In: Die Neue Bücherschau. 1926, 4. Folge/3. Schrift, S. 101-108. Arthur Seehof: Kunstgeschichte. Lu Märten, Wesen und Veränderung der Formen, Künste. In: Der Kampf. 1927, S. 147-150. Arthur Seehof: Marxistische Literatur. Lu Märten. In: Der Atheist. 1929, Nr. 10, S. 14-15. Franz Wilhelm Seiwert: Eine Darstellung der Entwicklung der Kunst. In: Die Aktion. 1927, Heft 3, Sp. 66-70. Günther Stern: Lu Märten, Wesen und Veränderung der Formenkünste. In: Frankfurter Zeitung. 18.2.1925. Bedfich Václavek: Proletariát a umëni. In: pásmo, 1924/25, Nr. 13-14. Bedrich Václavek: Kniha ztracená a znovu objevená. In: Literární svët, 1927/28, Nr. 17, S.6. Bedrich Václavek: lu märten, wesen und Veränderung der formen-künste. In: bauhaus. 1929, Heft 1, S.26. Bedrich Václavek: Sociologie uméní. In: Sociologická revue. 1930, Nr. 1—2, S. 162—166. 291

Karl August Wittfogel: Noch einmal zur Frage einer marxistischen Ästhetik. In: Die Linkskurve. 1930, Nr. 11, S.8-12. Karl August Wittfogel: Antwort an die Genossin Lu Märten. In: Die Linkskurve. 1931, Nr. 6, 5. 23 - 2 6 . 3.4.7. Bürgermeister Tschech und seine Tochter Gertrud Meyer-Hepner: Aus dem Berliner Vormärz. Ein Buch von Lu Märten. In: Ost und West. 1949, Heft 10, S. 86/87. W. Wieberneit: Lu Märten, Bürgermeister Tschech. In: Schöpferische Gegenwart. 1948, Heft 6, S.429. 3.4.8. Wesen und Veränderung der Formen und Künste (1949) Alfred Antkowiak: Soziologische Literaturbetrachtung. In: Universitäts-Zeitung. Jena. 1. Jg., 1949, Nr, 7, S . 5 - 7 . Arthur Seehof: Vom Wesen der Formen und Künste. I-V. In: Thurgauer Arbeiter-Zeitung. 1950, Nr. 50. Arthur Seehof: Georg Lukács und das ideologische Bewußtsein. In: Die andere Zeitung. 1956, Nr. 9. Arthur Seehof: Historischer Materialismus und Kunst. In: Die andere Zeitung. 1956. 3.4.1956. Arthur Seehof: Sozialistische Front. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. Martin Wackernagel: Lu Märten, Wesen und Veränderung der Formen und Künste. In: Zeitschrift für Kunst. 1950, Heft 3, S.242-243. 3.4.9. Über Lu Märten Begegnung mit Lu Märten. In: Für Dich. 1949, Nr. 39, S.4. Geburtstagfeier für Lu Märten. In: Tribüne. 1949, Nr. 231, S.4. Glückwünsche des Parteivorstandes an Lu Märten. In: Neues Deutschland. 24.9.1949. Internationaler Frauentag. Führende Frauen Berlins, In: Für Dich. 6.3.1949. Beilage »Die Berlinerin«. Lu Märten siebzig Jahre alt. In: Vorwärts. 1949, Nr.234, S.3. Lu Märten 70 Jahre alt. In: Tribüne. 1949, Nr. 224, S.3. Gertrud Meyer-Hepner: Lu Märten. In: Neue Deutsche Literatur. 1956, S. 151 —153. A.K.: Lu Märten-Vortrag. In: Die Rote Fahne. Berlin. 1925, Nr. 31 vom 6.2.1925. Alexander Mette: Stil einer neuen Universalität. Bemerkungen über Lu Märten. In: Aufbau. Berlin. 2. Jg., 1946, Heft 12, S. 1266-1267. Arthur Seehof: Lu Märten zum 50. Geburtstag. In: Die Neue Bücherschau. 7. Jg., 1929, Heft 10, S. 566/67. Professor Tomaszewski und Lisa Feldern: Lu Märten für den Nationalpreis 1950. Zeitungsausschnitt. Nachlaß Lu Märten, IISG, Portefeuille 3. T.: Ein Leben für den Sozialismus. In: Neues Deutschland. 24.9.1949. Bedrich Václavek: Vpríbuzném svété. In: Rovnost, roön. 42, Nr. 209 vom 31.7.1926, S. 2 - 3 . 3.4.10. Ausgaben mit Texten seit 1966 Aus dem Schaffen früher sozialistischer Schriftstellerinnen. Hg. von Cäcilia Friedrich. Berlin 1966. »Zur Frage einer marxistischen Ästhetik«, 1931. In: Ästhetik und Kommunikation. 1971, Heft 3, S.56-58.

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