Adolf Schlatter - Die philosophische Arbeit seit Cartesius 3766845055, 9783766845054

"Wie kommt es," fragt Thielicke, "daß ein theologisches Buch, das zum ersten Male 1906 erschien ..., sein

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German Pages 316 [315] Year 2020

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Table of contents :
Cover_4505_Schlatter_Die philosophische Arbeit seit Cartesius
Schlatter, philosophische Arbeit eBook
Inhalt
1. Zur Verständigung
2. Der neue Anfang des Denkens in Cartesius
3. Die cartesianische Gotteslehre
4. Die cartesianische Naturlehre
5. Neue religiöse Ansätze bei den Cartesianern
6. Spinoza
7. Leibniz
8. Die Popularphilosophie in Frankreich und Deutschland
9. Gegenwirkungen gegen die Aufklärungsethik
10. Die englische Kritik der Vernunft
11. Kants Kritik der reinen Vernunft
12. Kants Lehre von Gott
13. Die neue Entdeckung des Pflichtbegriffs
14. Die neue Religion der spekulativen Kantianer
15. Fichte
16. Schelling
17. Franz Baader
18. Hegel
19. Schleiermacher
20. Herbart
21. Der Pessimismus: Schopenhauer und Nietzsche
22. Der Gegenstoß gegen den spekulativen Kantianismus
23. Die religiösen Erträge der letzten philosophischen Bewegungen
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Adolf Schlatter - Die philosophische Arbeit seit Cartesius
 3766845055, 9783766845054

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Adolf Schlatter Die philosophische Arbeit seit Cartesius

Adolf Schlatter Die philosophische Arbeit seit Cartesius Ihr ethischer und religiöser Ertrag

Im Auftrag der Adolf-Schlatter-Stiftung herausgegeben von Gerhard Schlatter

Calwer Verlag Stuttgart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Adolf-Schlatter-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4532–0 ISBN 978–3–7668–4505–4 © 2020 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlaggestaltung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]

Inhalt Adolf Schlatter: Vorwort zur 3. Auflage . . . . . . . . . . . . 7 Helmut Thielicke: Zum Geleit zur 4. Auflage . . . . . . . . 9 Hans Stroh: Geleitwort zur 5. Auflage . . . . . . . . . . . . . . 25 Harald Seubert: Geleitwort zur 6. Auflage . . . . . . . . . . 33 Gerhard Schlatter: Zur sechsten Auflage . . . . . . . . . . . 60 Adolf Schlatter: Die philosophische Arbeit seit Cartesius . . . . . . . . . . . . . 63 1. Zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Der neue Anfang des Denkens in Cartesius . . . . . . . . . . . 71 3. Die cartesianische Gotteslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4. Die cartesianische Naturlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5. Neue religiöse Ansätze bei den Cartesianern . . . . . . . . . . 91 6. Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 7. Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 8. Die Popularphilosophie in Frankreich und Deutschland . . . 126 Die Beglückung der Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Besserung des Staats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die Umwandlung der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Die Reinigung der Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 9. Gegenwirkung gegen die Aufklärungsethik . . . . . . . . . . . 145 10. Die englische der Kritik der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . 155 11. Kants Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 12. Kants Lehre von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 13. Die neue Entdeckung des Pflichtbegriffs . . . . . . . . . . . . 183 14. Die neue Religion der spekulativen Kantianer . . . . . . . . 192 –5–

15. Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 16. Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 17. Franz Baader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 18. Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 19. Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 20. Herbart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 21. Der Pessimismus: Schopenhauer und Nietzsche . . . . . . . 278 22. Der Gegenstoß gegen den spekulativen Kantianismus . . 293 23. Die religiösen Erträge der letzten philosophischen Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Fremdwörter und Latinismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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Adolf Schlatter

Vorwort zur 3. Auflage Nach der Sitte des akademischen Unterrichts umfaßten diese Vorlesungen, die ich 1906 zum ersten Mal in den Druck gab, eine Fülle von Aufgaben, von denen jede uns festhalten kann. Denn die philosophische Arbeit steht bewegt und bewegend mit dem reichen Geschehen in Verbindung, das sich in unseren Kirchen vollzogen hat. Ich lasse ihnen dennoch auch jetzt wie 1910, als sie zum zweiten Mal herausgegeben wurden, im Wesentlichen ihre ursprüngliche Fassung, die sie deshalb erhielten, weil mein Blick auf die Ratlosigkeit gerichtet war, in die der philosophische Unterricht oft unsere Studierenden versetzt. Aber auch weitere Kreise in unserem Volk erleiden nicht selten die von der philosophischen Geschichte ausstrahlenden Wirkungen, ohne daß sie zu einem Urteil gelangten, das die hier wirksamen Motive wahrzunehmen und zu messen vermöchte. Ich sehe darum in der Verdeutlichung dieser Geschichte eine Aufgabe des kirchlichen Lehramts, die nicht nur von den Philosophen besorgt werden kann, denen die intellektualistische Haltung ihres Denkakts oft die ethischen und religiösen Vorgänge verhüllt, die ihn hervorriefen. Darum gibt es mir einen kräftigen Anlaß zur Dankbarkeit, daß diese Vorlesungen über ihren ursprünglichen Hörerkreis hinaus für manchen gewinnbringend wurden. A. Schlatter

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Helmut Thielicke

Zum Geleit zur 4. Auflage Wenn ich der ehrenvollen Aufforderung nachkomme, diesem ungewöhnlichen Buche Schlatters den Gruß einer neuen Theologengeneration zuzurufen, darf ich vielleicht eine kleine Anekdote voranstellen: Als ich Ende der dreißiger Jahre in Heidelberg eine systematische Professur kommissarisch zu versehen hatte, mußte ich auch einen ausgewachsenen Vierstünder über die Geschichte der neueren Theologie lesen. Das war eine Aufgabe, die einem jungen Dozenten schwere Kopfschmerzen bereiten mußte. Denn sie setzte ein Maß von Belesenheit und Quellenkenntnis voraus, über das ich als akademisches Greenhorn unmöglich verfügen konnte. Bei der hastigen Suche nach sekundärer Literatur und allen möglichen Eselsbrücken, die über den gähnenden Abgrund hinüberhelfen könnten, fiel mir auch das vorliegende Buch in einem ziemlich vergilbten Druck in die Hand. Trotz des Respektes vor dem »alten Schlatter«, den ich zwar selbst nicht mehr gehört hatte, der aber uns Jüngeren in Vorlesungen Julius Schniewinds zu einer fast mythischen Autorität geworden war, und trotz eines gründlichen Umgangs mit seinen Büchern über das Neue Testament stellte ich das Buch als vermeintlich unbrauchbar und ohne ihm einen ernsthaften Blick zu gönnen auf den Bücherbord. Mit einem Hochmut, wie ihn nur junge Leute aufbringen können, sagte ich mir: So viel wie ein alter Neutestamentler verstehst du von dieser Materie bestimmt auch noch; was kann dir der schon beibringen! So begab ich mich denn ohne Schlatters Beistand auf das Katheder, las bis in die Nächte an meinen Stoffen – und über sie! – und erreichte mit schwitzendem Leichtsinn immerhin, daß ich etwas eher Bescheid wußte als meine Studenten. –9–

Erst als das Semester zu Ende war, trieb mich die Neugierde, Schlatters Buch einmal aufzuschlagen. Vielleicht wollte ich mir nur die eitle Gewißheit verschaffen, wieviel weiter es ein Systematiker doch in dieser »Branche« zu bringen vermöchte als »so ein Neutestamentler«. Die Wirkung dieser Lektüre war dann allerdings schockierend: Zunächst konnte ich nicht mehr aufhören, sondern las das Buch, aufs äußerste engagiert, in einem Zuge durch – wie eine mit allen Kunstregeln komponierte, mit Crescendos und retardierenden Momenten versehene Tragödie des modernen Geistes. War das wirklich der alte Schlatter? Ich hatte mich immer, mit allem Respekt sei es bekannt, ein wenig an seinem Stil gestoßen, der mir allzu unelegant und gußeisern, manchmal sogar barbarisch erschien – so als ob ein sehr mäßiger Übersetzer über ein bedeutendes und formvollendetes Original geraten wäre. Denn die kompositorische Kunst des Gestaltens ließ einen instinktiv auf ein hohes Maß an Formsinn schließen, auf ein Virtuosentum also, das mit der Ungeschlachtheit und stelzenden Steifbeinigkeit dieser deutschen Diktion nicht in Einklang zu bringen war. Hier aber lagen Essays vor, die auch in ihrer Sprachgestalt Kabinettstücke an Präzision der Formulierung waren, hier gab es gezielte Pointen und Wagnisse des Ausdrucks, wie man sie bei einem Journalisten von Graden findet. Vor allem aber stürzte mich die souveräne Kenntnis der Quellen und ihre nicht nur geniale (ich glaube zu wissen, was ich sage), sondern auch ausgereifte, offenbar durch Jahre hin gewachsene Kommentierung in eine Scham, die mir heute noch gegenwärtig ist. Inzwischen ist man älter geworden, ist ganz anders als in den Anfängen an die Autoren selbst herangekommen; und im Zyklus der Vorlesungen ist der theologiegeschichtliche Themenkreis sogar auf ein zweisemestriges Kolleg angeschwollen. Aber keines dieser Semester vergeht, ohne daß mir die Lektüre von Schlatters Buch nicht immer neue Bereiche und Perspektiven in dieser geistigen Landschaft erschlösse. Und auch wenn ich ein so schönes und eindringendes Buch wie Karl Barths »Die protestantische Theologie im neunzehnten Jahrhundert« zur Hand nehme oder wenn ich mir einmal einbilde, durch eine eigene Entdeckung ein neues Gedan– 10 –

kenpfündlein eingeheimst zu haben, dann muß ich nach erneuter Lektüre dieses Buches meist feststellen: Eigentlich hat das der alte Schlatter auch schon gewußt. Wie kommt es, daß ein theologisches Buch, das zum ersten Male 1906 erschien – ich stelle mir vor, daß es entweder in dem braven, etwas lustlosen Einband der damaligen kirchlichen positiven Bücher steckte oder mit den ornamentalen Zellwucherungen des Wilhelminischen Jugendstiles bedeckt war –, wie kommt es, frage ich mich, daß ein solches Buch seine Jugend bewahrt hat, daß es inhaltlich und formal nicht veraltet, sondern taufrisch geblieben ist wie am ersten Tag? Warum eigentlich reiten sonst die Toten in der theologischen Fakultät so schnell? Warum tauchen die großen Theologen gerade der letzten beiden Jahrhunderte fast nur noch im Rückspiegel auf – die großen Erlanger etwa oder die Links- und Rechts-Hegelianer oder Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann? Im Besonderen die erhabenen Schulhäupter, die doch den beherrschenden Ton ihrer Zeit vernahmen und aufnahmen und eben dadurch den mächtigsten Rumor erzeugten, scheinen das Schicksal zu erfahren, daß ihre theologischen Gymnasien relativ bald geschlossen werden und daß die Nachfahrenden – teils in dankbarem Respekt vor den Baumeistern und Lehrern ihrer Zeit, teils in schadenfrohem Besserwissen der gebrannten Kinder – zu den »leeren Fensterhöhlen« hinaufgrüßen. Und wie kommt es andererseits, daß die beiden Theologen, die betont keine Schulen gründeten, nämlich Martin Kähler und Adolf Schlatter, diesem Ruinenschicksal entgingen, daß in den Bibliotheken auch heute noch und heute wieder sehr junge und erhitzte Köpfe sich über ihre Bücher beugen und daß die Verleger ihre Bücher neu und vielleicht noch oft durch die Druckmaschinen schicken? Woran liegt das? Vielleicht liegt es gerade daran, daß jene historisch gewordenen Väter der Theologie eben solche »Schulhäupter« waren und daß Schlatter jedenfalls keines war. Der Rang des Schulhauptes ist in neuerer Zeit offenbar nur so zu erreichen, daß ein System geschaffen wird, dessen sich Schüler bedienen können. Das System hat es an sich, daß es von einem organisierenden Zentrum her übersehba– 11 –

re geistige Architekturen erstellt, die eigene und totale Orientierung ermöglichen, deren Grundriß übernommen und eigenen Nachbauten zugrundegelegt werden kann. (Auch ein kleiner Funktionär kann, um ein extremes Beispiel zu nennen, das marxistische System in sich nachvollziehen und zur allgemeinen Weltorientierung benutzen.) Die theologischen Systeme sind aber noch durch ein weiteres Moment bestimmt: daß nämlich in den Epochen eines sich emanzipierenden Zeitgeistes, einer also in Frage gestellten Christlichkeit und somit der Säkularisation, jenes organisierende Zentrum im Schnittpunkt zweier geometrischer Orte liegt: Der eine von ihnen wird durch die dogmatisch-christliche Linie gebildet und der andere durch den trend, wie er in den speziellen Fragestellungen der jeweiligen Zeit spürbar ist. Reimarus und Semler sind in diesem Sinne auf dem Kraftfeld zwischen christlicher Tradition und aufklärerischer Vernunftautonomie angesiedelt. Bei Schleiermacher ist die zweite »säkulare« Komponente die Romantik und ihre Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik und der rationalisierten Ethik. Bei David Friedrich Strauss ist diese Komponente die Hegelsche Philosophie, bei Ritschl und Herrmann der kritische Idealismus, vor allem in der Gestalt von Kants Philosophie. Es ist die Würde der großen Systematiker, daß sie sich in diesem Sinne – Köberle hat es einmal so von Theodor Häring gesagt – nur ihrer Zeit ganz schuldig wußten und daß sie, in der Terminologie Tillichs ausgedrückt, die Korrelation zwischen den Fragestellungen ihrer Zeit und der ihnen korrespondierenden Seiten der christlichen Botschaft herzustellen und durchzureflektieren suchten. So mag es kommen, daß gerade die Systematiker, die ihrer Zeit am nächsten waren, die also ihren speziellen Nerv anrührten und oft so etwas wie eine geradezu epidemische Aufmerksamkeit erzwangen, auch das Schicksal ihrer Zeit teilten und mit ihr vergingen. Hat unsere und die vorangehende Generation das nicht eben erst an der jäh aufsteigenden und abfallenden Wirkungskurve des großen Karl Heim erfahren – jenes ehrfurchtgebietenden Lehrers und SchlatterKollegen, der riesige Schülerscharen aus aller Welt nach Tübin– 12 –

gen lockte und ihnen höchste theologische »Aktualität« bot, ja, der selbst noch die einzelnen Auflagen seiner Bücher hellhörig auf die sich wandelnden Nuancen der Zeitfrage abzustimmen wußte? Schlatter ist in diesem Sinne kein «Systematiker» gewesen: Er hat weder ein gedankliches Schema und dessen eigengesetzlich determinierenden Reflexionszwang Herr über sich werden lassen, noch hat er sich dem Diktat irgendeiner Zeitfrage unterstellt – sicher nicht nur aus einem selbstkritischen Entschluß, sondern sicher auch aus seiner geistigen Konstitution heraus, der die systematische Form der Gedankenbildung nicht lag und der sie vielleicht auch – damit wir nicht nur im Stil einer Laudatio reden! – unerschwinglich war. So sehr diese Immunität gegen das System also auf Natur und Absicht beruhen mochte, auf einem beruhte sie sicher nicht: daß Schlatter die thematischen Fragen seiner Zeit etwa überhört und daß er also in abstrakter Zeitlosigkeit existiert und gedacht hätte. Seine »Ethik« zeigt, wie irrig solche Vermutungen wären: Sein Wohnsitz hart am Konkreten ließ ihn hier einen bunt bewegten Bilderbogen entrollen, in dem es nichts Menschliches gibt, das ihm fremd geblieben wäre, und in dem der ganze Zwischenraum zwischen Himmel und Gosse in unzähligen kasuistischen Details eingefangen zu sein scheint (der Themenbogen spannt sich tatsächlich von der Gottesliebe über die Ethik des Journalisten bis zum Problem des Bordells). Trotz dieser auch dem Aktuellen verschworenen Lebensnähe ließ er sich aber keine modischen Kategorien des Sehens aufoktroyieren; er weigerte sich, die Fülle sowohl des Lebens wie der Bibel unter einen vermeintlich beherrschenden Gesichtspunkt zu zwingen. Denn er kannte die präjudizierende Kraft der festgelegten Blickwinkel und die Vereinseitigung der Wahrheit, wie sie unsere Standpunktprothesen mit sich bringen. Er wußte, daß der Griff nach der verbotenen Frucht und die Sprengung der uns gewiesenen Grenzen sich sehr oft schon durch unsere voreingenommenen, programmatischen und gefährliche Wunschresultate implizierenden Fragestellungen ergeben. Deshalb wollte er, man muß es so schlicht sagen, nur ein hörender Mensch sein. Er wollte jemand sein, der das zu Hörende – 13 –

eben nicht schon vorher kennt – wenn auch nur in der keimhaften Form des Vorverständnisses –, sondern der auf Überraschungen gefaßt bleibt. In diesem Sinne würde er in unsere heutigen hermeneutischen Exzesse sicher boshaft hineinrufen, daß er von Vorverständnissen, hermeneutischen Prinzipien und anderen unseligen Gedankenrotten herzlich wenig halte, und würde uns in einem schweizerisch-phonetischen Urlaut versichern, daß er das alles für »Blech« halte. (Ich habe mir erzählen lassen, daß er dieses schöne, präzise und überaus kurze Wort besonders liebte.) Natürlich wären wir nicht faul, diesem erlauchten Lehrer der Kirche darauf einiges zu erwidern. Wir würden ihm sicher antworten, daß es nun einmal, ob gewünscht oder unerwünscht, ein solches Vorverständnis gebe, daß dieses Vorverständnis sogar einen character indelebilis habe und daß es auch bei ihm aus allen Taschen und Knopflöchern hervorluge. Wir würden ihm vielleicht sogar zu sagen wagen: dies eben sei gerade seine Gefahr, sich über diese seine eigenen hermeneutischen Voraussetzungen und Tascheninhalte nicht klar zu sein, sie gleichsam unwissend und darum auch unkontrolliert mit sich herumzuschleppen und dafür andere Leute zu beschimpfen, daß sie dem lieben Gott nicht als empfangende Kinder einen »leeren Mantel« hinbreiteten, sondern sich immer nur auf ihre eigenen Mitbringsel beriefen: auf ihre Fragen, an die sich der liebe Gott streng zu halten habe, auf ihre Kategorien, denen er sich anbequemen, und ihre der Erkenntnistheorie entliehenen Stempel und Dienstsiegel, von denen er sich unbedingt ein Placet aufdrücken lassen müsse. Ich würde mich, ehrlich gesagt, durchaus dem Chor dieser Gegenrufer einreihen und dem ehrwürdigen Schlatter sein Gelächter über die Systematiker nicht so einfach abnehmen. Ich würde ihn ein bißchen zu erschüttern versuchen dadurch, daß ich konsequent seine eigenen heimlichen Denkkategorien, die einen reinen, jungfräulichen, unbelasteten »Sehakt« denn doch nicht so einfach zulassen, anfixierte und eine ganz, ganz leichte – natürlich im Rahmen des Christlichen bleibende – Schadenfreude über sie nicht ganz unterdrückte. Ich würde ihn vor allem darauf aufmerksam – 14 –

zu machen wagen, daß Fragestellungen, die man nicht in hermeneutischer Selbstkritik zu seinem Gegenstande zwingt, dann leicht unkontrolliert hinter einen treten und unsere Blickrichtung also unbewußt bestimmen. Doch wäre es unfair, nach diesem kritischen Gruß an den alten Schlatter nun nicht auch der eigenen Sünden zu gedenken. Denn was Schlatter – zu seinem Nutzen? zu seinem Schaden? – unterlassen hat, das haben wir zu einem hermeneutischen Kult erhoben: Vor lauter Überlegungen darüber, welchen Beitrag der Text und welchen Beitrag wir selbst mit unseren mitgebrachten Begriffen und Sach-Interessen leisten, laufen wir Gefahr, kaum noch in Unbefangenheit an die Sache selbst heranzukommen. Wir laufen Gefahr, in einem erkenntnistheoretischen Grundsatz-Karussell schwindlig zu werden, und haben den Verlust einer Naivität zu beklagen, die den Texten allererst eine spontane Mächtigkeit über uns gibt. Darum hat uns Schlatter schon einiges ins Stammbuch zu schreiben. Hätte er Luther mehr geliebt, als er es wohl getan hat, so würde er uns sicher eine hermeneutische incurvitas in nos vorwerfen. Ganz gewiß aber ruft er uns das Wort des alten J. A. Bengel zu: Te totum applica ad textum (vielleicht auch ad vitam?); das »res tota applicat ad te« wird dann von alleine kommen, und zwar um so eher, je weniger ernst du dieses »te« nimmst und je weniger du dein »tu« zum Thema machst. Es könnte also sein, daß das, was möglicherweise ein Fehler Schlatters war (daß er erkenntnistheoretisch und hermeneutischgrundsätzlich so erstaunlich uninteressiert und darum auch unvorsichtig war), ihm dennoch mit providentieller Hilfe zum Besten ausgeschlagen wäre, daß er nämlich unbeirrt ein hörender und sehender und also empfangender Mensch sein wollte und es dann in hohem Maße auch war. Jedenfalls blieben seine eigenen Zeitmitbringsel, so sehr sie zweifellos da waren, in einer betonten Unbetontheit. Teils mochten sie ihm freilich nur den Streich spielen, sich in dieser Weise mucksmäuschenstill zu halten, um ja nicht von ihm bemerkt und also Gegenstand einer hermeneutischen Aufmerksamkeit zu werden. Teils mag es aber auch so sein, daß Schlatter sie von – 15 –

sich aus stille hielt, daß er sich zur Unbefangenheit zwang (obwohl das einen Widerspruch in sich schließt) und sich nicht irritieren lassen wollte. So ging es ihm denn mit reichem Gewinn, aber auch ohne Rücksicht auf Verluste um den »reinen Sehakt«, um ein »Hören ohne Vorurteil«, um den »selbstlosen Akt des echten Sehens«. Das kam zunächst seiner Exegese des Neuen Testaments zugute. Um einen Eindruck davon zu gewinnen, greift man neben den wissenschaftlichen Kommentaren am besten zu den »Erläuterungen des Neuen Testaments«. »Lesen Sie die philologischen Kommentare! Und nachdem Sie das alles durchschritten haben, greifen Sie zu den »Erläuterungen«. Der alte Schlatter sagt immer das Letzte. Was drin steckt, kann man aber erst ermessen, wenn die Vorhallen durchschritten sind und die handwerkliche Arbeit am Text getan ist«, sagte uns Julius Schniewind im Kolleg. Hier sehen wir jemanden am Werke, der unbefangen über die Schlachtfelder der Exegeten geht, der zwar schnell nach rechts und links blinzelt, aber sich stur an sein Ziel hält. Wenn irgendwo, dann kommt uns hier die Unmittelbarkeit eines Seh- und Höraktes nahe, dann redet hier jemand, den das theologische Laboratorium als einen freien Mann wieder entlassen hat, nachdem er lange, aber unverbogen darin weilte. Wie wirkt sich dieser Denk- und Arbeitsstil nun gegenüber der neuzeitlichen Philosophie aus? Auch hier muß es Schlatter ja, wenn er sich treu bleibt, um eine unbefangene Weise des Sehens gehen. Aber ist das Christsein selbst nicht schon eine Form der Befangenheit? Ist Theologie als solche denn kein – Vorurteil? Sie wäre es ganz gewiß, wenn Schlatter den denkerischen Operationen Descartes’, Kants, Fichtes, Hegels oder Herbarts in apologetischer Absicht und Methode begegnete. Denn das würde heißen, daß er nun eben mit christlichen Fragebogen käme, auf denen die so Angefragten nur mit Ja oder Nein zu antworten hätten, ohne daß sie ihre eigenen Fragen darauf wiedererkennen könnten (und wie wesentlich gehört doch zu einem Menschen und auch zu einem Denker seine je eigene Frage!). – 16 –

Man könnte das Bild auch anders wenden: Als Apologet würde er das philosophische Denken in christliche Normengerüste einfangen, er würde also in seinem Blickfeld nie nur den Gegenstand, sondern zugleich auch sein Gerüst haben. Er würde so die erstrebte Unmittelbarkeit zum Gegenstande verlieren. Der Apologet sieht seinen eigenen Schatten immer mit. Er wird das Opfer der Verzerrung, die seine eigenen Beleuchtungseffekte erregen. Schlatter macht es anders: Mit dem Wissen des Christen um Größe und Elend des Menschen, mit dem Wissen um seine Möglichkeit, sich selbst und seine Welt zu verlieren, wenn er Gott verliert, mit dem Wissen um seine Gefahr, auf den »Einzigen und sein Eigentum« reduziert zu werden, wenn ihm der tragende Grundbezug seiner Existenz entschwunden ist –, mit dem Wissen um alles dies im Rücken, ja: an diesem Wissen mündig und wach und aufmerksam geworden, begibt sich Schlatter in die Höhle der philosophischen und theologischen Löwen, beobachtet und fragt, hält den Rückfragen stand und sieht vor allem sehr genau hin. Weil ihm das Wissen des Christen kein Vorurteil ist und ihm also den freien Blick nicht verstellt, weil es ihm vielmehr so eingestückt ist, daß es aus ihm spricht, darum tritt es kaum jemals als Mittel eines direkten Argumentierens in Erscheinung, sondern darum wird es hinter dem Rücken gehalten und ist nur mittelbar anwesend. Das ist keine apologetische List, denn es liegt ja doch im Rücken, Schlatter kommt tatsächlich von ihm her. Das führt dazu, daß ein Unkundiger über weite Kapitel hin dem Stil der Gedankenbildung und der kritischen Kontroverse kaum anmerken könnte, daß hier ein Theologe spricht. Es mag ihm so scheinen, als ob es hier um ein Gespräch unter Philosophen gehe, und es könnte ihm erstaunlich vorkommen, daß ein Autor, der sich kaum einer immanenten Kritik der Systeme befleißigt (um mit schulmeisterlicher Wonne hier eine Inkonsequenz und dort einen Gedankensprung festzustellen), sondern der mit einer Originalität sondergleichen und von irgendeinem, nicht genau feststellbaren Hebelarm her die Systeme in ihren Angeln bewegt –, daß dieser Autor in keinem Philosophenlexikon auftaucht. – 17 –

So ist die Argumentationsweise Schlatters ein Musterbeispiel dafür, daß Jesus Christus kein Vorurteil und kein blinder Fleck in einem Auge ist, sondern daß die von ihm geschenkte Erlösung auch eine Erlösung zur Sachlichkeit und also zur Möglichkeit des »Sehaktes« ist. Weil wir von unserem Selbst erlöst werden, darum gibt es auch jene Selbstlosigkeit des Sehens, um die es Schlatter ging. Ich meine, ihn so verstehen zu sollen: Indem wir von Furcht und Hoffnung, von falscher Furcht und falscher Hoffnung, erlöst werden, ist uns Objektivität geschenkt. Indem wir wissen, daß wir nicht versucht werden »über unser Vermögen«, können wir auch gegenüber dem Sog attraktiver geistiger Strudel gelassen, eben »unbefangen« bleiben. Unbefangen sein bedeutet, aus den Gefangenschaften der Sinne und des Geistes befreit zu sein. Darum ist Sachlichkeit ein Modus des Erlöstseins. Die Objektivität der Vernunft hängt vom Zustande der Existenz ab, die die Vernunft trägt. Die Mündigkeit des Erkennenden ergibt sich nicht dadurch, daß er seine Freiheit proklamiert, sondern daß er frei ist. Der Zugang zur Wahrheit wird nicht dadurch eröffnet, daß man Wahrheit will, sondern dadurch, daß man in der Wahrheit ist. Die Freiheit des Erkennens ergibt sich deshalb innerhalb der Kindschaft: beim Übertritt nämlich vom Zustand des unmündigen in den des mündigen Kindes. Sie ergibt sich aber nicht vom Übertritt aus der Kindschaft in die Fremde, in der man irrigerweise meint, autonom und vorurteilslos sein zu können. Wer im Sinne Friedrich Rückerts das Bild geworden ist, das er werden soll, der hat die heimlichen, blickverwirrenden Hörigkeiten abgelegt und hat die Unbefangenheit gewonnen, frei umherzublicken. Man versteht deshalb Schlatters Wort vom »selbstlosen Akt des echten Sehens« falsch, wenn man in ihm so etwas wie einen erkenntnistheoretischen Entschluß sieht. Er kann sich zur Selbstlosigkeit des Sehens nur bekennen, indem er sich zu dem bekennt, der das Selbst neu gemacht und der ihm mündige Kindschaft geschenkt hat. Kein Wunder also, daß Schlatter zwar die Gedanken der großen Denker nachvollzieht und in sauberer handwerklicher Maßarbeit – 18 –

interpretiert, daß diese Gedanken gleichwohl aber nur als Objektivationen einer Existenz erscheinen, die sich teils in diesen Gedanken ausspricht, teils hinter ihnen verbirgt. Wer so den Zustand der Existenz als Kriterium für Freiheit und Verknechtung unseres Sehens, Hörens und Denkens versteht, wer Mündigkeit als Frucht der Erlösung begreift (auch wenn er es so niemals selbst ausdrückt), der kann auch sein geistiges Gegenüber nur unter diesem Kriterium befragen. Wenn ich recht urteile, sieht deshalb sein hermeneutisches Prinzip (aha, da ist es also doch!) so aus: Er fragt: Wie sieht die letzte Daseinsorientierung eines Denkers coram hominibus, coram mundo und coram Deo aus, daß er so denken mußte, wie er de facto gedacht hat. Schlatter scheint nicht daran zu glauben, daß ein philosophisches System sich parthenogenetisch aus sich selbst erzeugt, sondern er geht davon aus – in der Sprache unserer Generation ausgedrückt –, daß es die Reflexionsgestalt eines Bekenntnisses von Existenz ist. Darum interpretiert man das System nur richtig, wenn man das an ihm erfaßt, was mehr ist als System und was es dazu nötigte, »Bruchstücke einer großen Confession« zu sein. In diesem Sinne wird schon bei der Behandlung Descartes’ der Versuch gemacht, den Zweifelnden besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Descartes selbst versteht seinen Zweifel als ein erkenntnistheoretisches Exercitium, als eine Art via negationis, mit deren Hilfe er bei dem axiomatisch gewissen Cogito-sum ankommen möchte, um von diesem Minimum-Rest an Gewißheit dann die übrigen Gewißheiten (Existenz Gottes, der Außenwelt usw.) zu reproduzieren. Schlatter sucht nun zu zeigen – ohne das Recht dieses Zweifels auf dessen eigener Ebene zu bestreiten und also ohne das geringste apologetische »Geschmäckle«! –, daß eine derartige Möglichkeit des Zweifels auf einem Defizit der Existenz beruht. Dieses Defizit besteht in einem abstrakten Solipsismus, kraft dessen der Denkende »sich von der Gemeinschaft abscheidet, von der Geschichte sich isoliert und sich volle Selbständigkeit verschafft … Kühn tritt das einzelne Ich dem Gesamtleben gegenüber; es bedarf keines Lehrers, keines Empfangens, keines Erlebnisses; es denkt und schafft im Denken, was ihm die Gemeinschaft nicht vermit– 19 –

teln kann: die Wahrheit« (S. 73). Die cartesianische Existenz ist also ohne Weltbezug, und selbst als Naturforscher steht Descartes nicht in der für den Naturforscher üblichen »umfassenden Kooperation«, also im Ensemble, sondern ist »Eremit« (S. 74). Gibt es dieses auf sich selbst isolierte Ich und die innerhalb dieses Ich wieder auf sich selbst isolierte Vernunft? Indem Schlatter die sachliche Frage nach dieser Möglichkeit stellt, hat er die Glaubensfrage gestellt, ohne sie zu erwähnen. Sie würde in expliziter Form etwa lauten: Deutet die Kommunikations- und Weltlosigkeit jener abstrakten Ich-Isolierung nicht darauf, daß res extensa und res cogitans, daß Sein und Denken, Außen und Innen ihre Urrelation verlieren, wenn der beide umgreifende, beide aneinander bindende Schöpfer, Erlöser und Vollender dem Blickfeld entwichen ist? Aber wie gesagt: Wir fürchten ein unausgesprochenes Geheimnis zu verraten, wenn wir diese Pointe ausplaudern. Schlatter hat sie verschwiegen. Man kann sein Buch lesen und rein sachlich, auf der Ebene des philosophischen Gedankens selbst, von ihm angerührt sein. Das ist möglich, denn das Buch ist innerhalb des Sachbereiches sinnvoll. Freilich wäre das in einem ähnlichen Sinne falsch, wie wenn man von der Matthäuspassion nur rein ästhetisch angerührt wäre. Aber auch das ist möglich. Denn sie ist innerhalb der Ästhetik sinnvoll. So ist dieses Buch ein Werk der sokratischen Ironie. Es treibt in ein Verwundern und in eine Fehlanzeige hinein. Es sagt nicht, warum etwas fehlt, aber es weist auf das Etwas, das fehlt. Das Warum ist verschwiegen, weil man dem Leser die Würde eigenen Fragens zubilligen muß. Niemand aber könnte dieses Warum so beharrlich lehren, der nicht selbst die Antwort wüßte und der nicht von dieser Antwort herkäme und sie hinter dem Rücken hielte … In solchen Analysen greift Schlatter sehr weit aus. Als Beispiel dafür, wie auch literarische Figuren in dieses Spiel der Existenzfrage einbezogen werden, mag die Gestalt des Werther dienen, der wieder auf andere Weise als Descartes für die Weltlosigkeit einer in sich ruhenden Entelechie repräsentativ steht: »Werther ist völlig ausgeleert; er hat keinen Gedanken mehr, keinen Willen mehr, we– 20 –

der Staat noch Kirche, auch keinen Gott mehr, nichts als die eine Vorstellung, die er zwangsweise beständig wiederholt »Lotte«.« (S. 132). (Ich habe, wie gesagt, Schlatter selbst nicht mehr gehört, aber ich stelle mir das phonetische Wunder vor, das sich ergeben mochte, wenn er dies abweisend-schweizerische »Lotte!« hinausschmetterte.) An Husarenritten wider klassische Piedestale und die darauf thronenden Würdenträger ist überhaupt kein Mangel. Und wer als Beispiel dafür die Attacke gegen Goethe nimmt (S. 151ff), der wird zwar nicht erwarten, daß auf diesen zweieinhalb Seiten die Konturen des ganzen Goetheschen Pleroma nachgezeichnet würden, er wird aber – schockiert, wie er sein mag – immerhin einräumen, daß hier etwas an Goethe gesehen worden ist, und zwar ein springender Punkt, dessen Anvisierung nicht zu den üblichen Schulweisheiten gehört und von dem aus sich vielleicht eine Apokalypse seines Geheimnisses ergeben könnte. Zu den klassischen Kapiteln des Buches gehört ganz gewiß die Interpretation Kants. Auch jemand, der Kant lange Zeit und ordentlich studiert hat, kann die Erfahrung machen, daß es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt, weil ihm gewisse theologische Pointen seines Denkens und gewisse geistesgeschichtliche Nachwirkungen aufgehen, denen gegenüber seine Augen vorher gehalten waren: Indem die Lehre von der transzendentalen Apperzeption, meint Schlatter, dem Außen die Qualität des Realen nimmt und es zur bloßen Erscheinung werden läßt, sieht die Vernunft im Grunde nicht mehr aus sich heraus. Sie wird weltlos. Bis dahin ist der Einwand nicht neu, auch wenn ich ihn hier – entgegen der sehr differenzierenden Untersuchung Schlatters – in einer allzu massiven Abbreviatur wiedergeben muß. Die geistesgeschichtlichen Perspektiven aber, die Schlatter von da her für die nachkantische Zeit aufreißt, waren mir aufs höchste überraschend und lösen Kettenreaktionen immer neuer Überlegungen aus: »Die Naturwissenschaft ließ sich durch die kopernikanische Wendung Kants wenig stören, sondern setzte unerschüttert ihre Arbeit fort. Ihr habt nur Erscheinungen, sagte Kant, aber die Naturforschung hat diese Erscheinungen (gleichwohl) immer als die erkennbar werdende Natur – 21 –

behandelt.« »Auch die Geschichtsforschung ließ sich nicht stören, sondern hielt daran fest: wir beobachten wirkliches Geschehen. Ihr wurde die menschliche Gemeinschaft nie nur ein Phänomen«. Einzig die religiösen Gedanken wurden in ihrer Substanz vom Kantianismus angetastet: Offenbarungsaussagen gerieten seitdem unter das Verdikt eines unkritischen Dogmatismus. Gott verlor gegenüber dem Menschen den Primat der Realität und war nur noch gegeben als Gottesbewußtsein, so daß er dem kategorialen Schema dieses Bewußtseins angepaßt werden mußte. Die stärkste Nachwirkung Kants im öffentlichen Bewußtsein sieht Schlatter darin, daß die Frage »Was ist?« im strengen Sinne nicht mehr gestellt werden kann, und daß mit der Frage »Was ist wirklich?« auch die Frage »Was ist wahr?« überfällig wird. Das so entstehende metaphysische Vakuum wird durch die Surrogatfrage gefüllt: »Was kann ich wollen?« Als Beispiel dafür, wie die Strenge des philosophischen Dialogs sich hier zu einer sehr vitalen Zeitkritik ausweiten und zu Anfragen, Appellen, ja zum Hohngelächter emporsteigern kann, seien die entscheidenden Sätze hier gesetzt: »Unsere Generation rund seit 1848 hat ihr Merkmal daran, daß jeder sein Interesse vertritt. Was will die Tagespresse? Aufklären? Auch, aber nur nebenbei; sie tritt für bestimmte Interessen ein, die sie in uns erwecken will. Unsere Buchliteratur wächst unendlich. Haben wir plötzlich so viele Denker? Woller haben wir, und jeder verficht in der Literatur seine Interessen … Wir durchfliegen die Bücher; denn wir fragen nicht, was der Mann denke, sondern was er wolle … Unser öffentliches Leben ist durch die »Partei« bestimmt; der Einigungspunkt der ›Partei‹ ist jedoch nicht die Wahrheit, auch nicht die Vernünftigkeit, sondern das gemeinsame Interesse. Ein Wille schafft Partei … (Auch) wir (Wissenschaftler) sammeln von allen Seiten her ›Stoff‹; denn der Stoff ist verwendbar …« (S. 167).

Wie ein Cantus firmus zieht sich so durch alle Melodien die – wiederum verschwiegene – These hindurch, daß der Verlust Gottes auch einen Verlust an Welt, oder besser: einen Verlust in der Fä– 22 –

higkeit, die Welt zu sehen und also den »Sehakt« zu üben, mit sich bringt. An den Schatten solcher Degenerationen kann für den, der Augen hat zu sehen, das Licht ermessen werden, in dem die Gegenstände selbst erscheinen könnten. Daß Schlatter gleichwohl nicht einfach eine theologische Front gegenüber den entarteten Weltkindern bildet, sondern daß er gelegentlich auch heftig nach rechts und links auf seine theologischen Nebenmänner einschlägt, wird der humorbegabte Leser mit einem gewissen christlichen Vergnügen daran erkennen können, daß auch das Tübinger Stift als ein institutioneller Ausdruck dieser Weltlosigkeit verstanden wird. Hinter diesem ehrwürdigen grauen Gemäuer feiere der bloße Denkakt mit seiner abgeschlossenen weltund existenzlosen Autarkie seine Triumphe. Und so sehr dieses Denken sich auch theologisch gebärden möge und also um Gott als sein Thema zu kreisen scheine, so sei es doch hier ebenso wie sonst in den solipsistischen Schrumpfungsprozessen: Gott sei zur Gottesidee verblasen. Darum gewinne hier die so notwendig entstehende Weltlosigkeit die Gestalt der Weltfremdheit, die sich mit allerhand pharisäischen Eitelkeiten garniere. So vollzögen viele kleine und kleinste Kandidätlein den großen »Schwabenstreich« des Hegelschen Denkens in sich nach. Sie seien unfähig, »das Wirkliche wahrzunehmen« und »stolperten kindlich und kindisch träumend durch die Welt«. »Darum waren auch zwei der stärksten Vertreter des Hegelschen Dogmas, die ihm die unsere Geschichte erschütternde Stoßkraft gaben, D. F. Strauss und F. Chr. Baur, im Stift erzogene Schwaben« (S. 236). Diese Zeiten sind natürlich lange vorüber – und der Verfasser hat nicht wenige junge Stiftsschwaben kennengelernt, die ungeblendet und sogar unbebrillt in kecker Weltlust, dem Rate des Lynkeus folgend, mit dem Wirklichen umgehen und ins Weite – sogar bis nach Hamburg! – streben. Da aber dieses Geleitwort kein Kompendium sein, sondern die Lust auf das Buch dadurch anstacheln will, daß eine eigene und sehr persönliche Begegnung mit ihm in Worte gefaßt wird, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, diesen Seitenhieb auf das zeitgenössische Stift noch in einer Momentauf– 23 –

nahme einzufangen. Vielleicht ist es auch biographisch berechtigt, das zu tun: Denn in diesen Rippenstößen scheint Schlatter eine gewisse Rache kalt – weil spät – genossen zu haben: die Rache dafür, daß der heftige und ziemlich snobistische Widerstand der Stiftler seine ersten Tübinger Jahre umdüsterte, und daß dieser Sturm im Tübinger Wasserglas sich in seiner Phantasie zu einem Symbol für den echten Kampf verdichtete, den er wider die Weltlosigkeit und das Nicht-sehen-können führte und der in seinem Buche dann eine grandiose Gestalt gewann. Man kann verstehen, daß Karl Holl, dieser große Kenner des hier vorgetragenen historischen Stoffes, keine Stunde der Vorlesung über »Die philosophische Arbeit seit Cartesius« versäumte und seinem Kollegen die Bewunderung nicht versagte. Wenn man weiß, wie schwer Professoren stillsitzen und einem anderen – und nun noch gar einem Kollegen! – zuhören können, wiegt das doppelt schwer. So bin ich froh, daß dieses ernste und gelegentlich auch amüsante, dieses sublim geistige und gelegentlich auch rauhbeinige Buch, kurz: daß dieses echte Produkt des großen Schlatter – des milden und scharfen Mannes mit den Denk- und Lachfältchen in dem apostolisch-koboldischen Angesicht – neu hinausgehen und dem jungen theologischen Geschlecht Freude an der allumfassenden, aufgeschlossenen, denkenden, sehenden und vor allem glaubenden Theologie erschließen darf. Sein Sohn hat die Anregung zu einem Neudruck freudig aufgenommen. Er hat damals seinem Vater die erste Handschrift des Werkes angefertigt. Nun hat er es noch einmal durchgesehen und darf die Freude erleben, eines der wichtigsten Werke seines Vaters noch einmal hinausgehen und frisch wie am ersten Tage wirken zu sehen. »Die Kirche von heute muß lehren können, nicht ihre Einfälle, auch nicht Philosophie, auch nicht irgend ein dogmatisches System, sondern begründen soll sie ihre Erkenntnis, und nur so wird sie sie bewahren, Gewißheit Gottes erwecken; denn sie findet sie nicht schon vor.« (S. 310). Hamburg, Advent 1958

Helmut Thielicke – 24 –

Hans Stroh

Geleitwort zur 5. Auflage Der Neudruck dieses Buches ist ein Jubiläumsgeschenk. Im Wintersemester des Jahres 1905/1906 hielt Adolf Schlatter im Hörsaal des Evangelischen Stifts in Tübingen jene berühmte Vorlesung, die er erstmals 1906 in Buchform herausgab. Es ist also genau 75 Jahre her, daß dieser geistreiche, feurige, kritische, spottlustige, damals 53 Jahre alte Professor einem ziemlich reservierten Kreis von meist schwäbischen Studenten ausbreitete, was nach seiner Einsicht die dramatische Entwicklung der philosophischen Arbeit in den letzten 250 Jahren den europäischen Völkern an religiösen und ethischen Wirkungen gebracht hatte. Man kennt Adolf Schlatter vor allem als Ausleger des Neuen Testaments. Nachdem er grundlegend begriffen hatte, daß Gott uns Menschen in der Geschichte begegnet, damit wir Jesus als dem Herrn des Volkes Gottes wirklich glauben und gehorchen können, war seine Leidenschaft und sein Bienenfleiß dahin gewendet, die Sprache der Texte des Neuen Testaments, die Entwicklung und Umwelt der ersten Christenheit und den Zusammenhang Jesu mit der jüdischen Geschichte wissenschaftlich zu erhellen. Er tat diese Arbeit in freudiger Hingabe an Jesus, den einen Sohn Gottes und den Christus aller Menschen. Seine Wissenschaft diente dem Reiche Gottes. Nicht neben der Universität, sondern in ihr, in der großen Verbundenheit derer, die konsequent nach der Wahrheit fragen, wollte er seine Arbeit tun. Er suchte zwar die Gemeinschaft mit den wissenschaftlich arbeitenden Kollegen; aber sie war erschwert, weil die liberalen Gelehrten ihre Freude an einer historischen Erfassung des Neuen Testaments zumeist mit Voreingenommenheiten gegenüber Jesus verbanden, die aus der Nachwirkung von Kant und – 25 –

Hegel herrührten. Er suchte auch die kirchliche Gemeinschaft mit bibeltreuen Lutheranern und Pietisten; aber ihm begegnete auch dort viel Mißtrauen. Sein Glaube an Christus hielt ihn von einer kritiklosen Verehrung Luthers ab; er sah sich nach seinen eigenen Worten1 nicht in der Lage, »unseren Frommen Bewunderung zu spenden«, und seine Interpretation der Bibel aus der Geschichte heraus schien manchen den Boden des Glaubens, die Göttlichkeit der Schrift, aufzulösen. So ging er seinen Weg, manchmal auch einsam. Wer ihn verstehen wollte, mußte mit ihm auf Jesus und seine Boten hören. Doch schließlich kam es doch dazu, daß Ungezählte seiner Hörer und Leser aussprachen, er habe sie das Neue Testament verstehen gelehrt und ihnen den Glauben an Christus vermittelt. 1880 kam er nach Bern, 1881 an die dortige Universität als kampflustiger, Gott und der Bibel viel zutrauender Dozent, fest entschlossen, sein Gewissen vor Verletzung durch Anpassung nach rechts oder links zu schützen. Heute, nach 100 Jahren, ist sein Lebenswerk immer noch und immer wieder eine Herausforderung zu angstfreiem Verhalten aus Freude an der Wahrheit und ein Ansporn zu jener wissenschaftlichen Arbeit, die eine gesunde Kirche im Auge hat, will heißen: den ungeteilten, Gottes Gabe voll in Anspruch nehmenden Anschluß an Jesus. Weniger bekannt ist, daß Schlatter sich lebenslang mit dem Geschäft des Philosophierens eingelassen hat. Zunächst als Lernender. In den ersten 4 Studiensemestern in Basel hört er bei Steffensen eine Geschichte der Philosophie. In seinem zweiten Semester ist er einer der 6 Hörer Friedrich Nietzsches, der in die Dialoge Platos einführt. Er ist gefesselt von Spinoza, Schelling, Herbart. »In immer neuer Gestalt warb der Idealismus um mich«, konnte er rückblickend sagen.2 Er spricht von seiner Studienzeit als einer »Wanderung durch die im Zickzack verlaufenden Wege des Idealismus«, neben der für ihn der theologische Stoff zunächst blaß blieb.3 Das innere 1 Rückblick auf meine Lebensarbeit, Neudruck 1977, S. 67. 2 Erlebtes, 19295, S. 94. 3 Erlebtes, S. 95.

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Ergebnis war der Respekt vor der »kraftvollen Wirkung der religiösen Motive« der Philosophen, vor allem der großen Denker Griechenlands.4 Die Zweiheit »Philosophie und Theologie« gibt er auf. Beide standen als Parallelen vor ihm, als selbständig nebeneinander erfolgende Bemühungen um Gott, den ersten Ursprung und das letzte Ziel, Bemühungen, die sich eben wegen ihrer Parallelität nun auch wechselseitig etwas angehen. Hatte er sich schon als blutjunger Student über einen Pfarrer verwundert, der ihm das Studium der Philosophen schlecht machen wollte5 – »sehr interessant für den, der den Glauben noch nicht gefunden hat; dem aber, der zum Glauben gekommen ist, wird dieses Studium zum Überdruß und zur Plage« –, so weiß er nun, »daß das Denken Gottesdienst ist, weil die Wahrheit Gottes Gabe, und unser Bemühen, unser Denken richtig zu machen, von Gott uns aufgetragen ist als ein wesentliches Stück des von ihm dem Menschen erteilten Berufes.«6 Genau 10 Jahre nachdem Schlatter in Nietzsches Hörsaal gesessen hatte, stand er in Bern als Dozent der Theologie selbst auf dem Katheder. Im Wintersemester 1881/1882 konnte er sich seinem eigenen Fach zuwenden und las neben einer Hauptvorlesung aus dem Neuen Testament eine kleinere Vorlesung über die »Entwicklung der spekulativen Theologie in ihren Hauptmomenten seit Cartesius«. Der Wortlaut dieser Vorlesung ist in klarer Handschrift erhalten. Liest man sie, so ist sofort deutlich, daß dies die Urform der Darlegungen ist, die unserem Buch zugrunde liegen. Man spürt, wie er mit Cartesius, Pascal, Spinoza, Oetinger, Kant und den Kant folgenden Denkern geistig gerungen hat. Der noch nicht 30 Jahre alte Dozent will vor seinen Studenten weder eine Geschichte der Glaubensaussagen noch eine solche der Philosophie entwickeln. Er sagte: »Wir wenden uns also an die Denker der früheren Geschlechter mit der Frage, ob, wie und mit welchem Erfolge sich ihr Denken

4 Rückblick, S. 41. 5 Erlebtes, S. 93f. 6 Rückblick, S. 40.

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mit Gott beschäftigt hat.«7 In Bern (1881–1888), in Greifswald (1888–1893) und in Berlin (1893–1898) hat Schlatter die Lehre von dem sich offenbarenden Gott sowohl aus den Texten des Neuen Testaments als auch systematisch und das heißt: im ständigen Gespräch mit den Philosophen vorgetragen. Wenn wir das hier vorgelegte Buch nach seiner Eigenart richtig erfassen wollen, müssen wir uns von Schlatter erzählen lassen, wie es zu den schon erwähnten Vorlesungen des Jahres 1905/1906 kam. Er beobachtete seine Studenten. Sie mußten die erste Hälfte ihres Studiums, zwei volle Jahre, Philosophie studieren, dann erst kam die Theologie selbst. Doch der Ertrag des Umgangs mit den Philosophen blieb dürftig. Man brachte die beiden Bemühungen nicht zusammen. Oft war der Ertrag der philosophischen Studien sogar negativ: die christliche Botschaft erschien als überholt und Zweifel nisteten sich ein, die in der zweiten Hälfte des Studiums nicht weichen wollten. In den ersten zwei Jahren vergeudete man nach Schlatters Einsicht auch viel Zeit mit dem Leben in den Studentenverbindungen; und dagegen war nichts zu machen, solange die geistige Arbeit langweilig blieb. Aus dieser Not heraus machte Schlatter den Versuch, durch eine Vorlesung die Langeweile zu brechen. Er wollte den philosophischen und den theologischen Unterricht verbinden, indem er die Zusammenhänge zwischen der philosophischen Arbeit und der religiösen Geschichte aufzeigte. Da Schlatter diesen Versuch aus Zeitgründen in späteren Jahren nicht wiederholen wollte, das Bedürfnis aber weiter bestand, gab er das einmal Gesagte in Druck. So wurde aus einer Not zwar keine Tugend – aber ein hilfreiches Buch! Hilfreich ist das Buch durch den Schwerpunkt, den es bildet, und durch die Eingrenzung, die es vornimmt. Um zu verstehen, was jeweils die Gegenwart für Zustände aufweist und was das individuelle Bewußtsein bewegt, müssen wir die ethischen und religiösen Wirkungen studieren, die von der Arbeit der Philosophen ausgingen. Diese hat, ob wir es zugeben oder nicht, ihre Wirkungs7 S. 4 des Manuskriptes im Schlatter-Archiv.

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geschichte im einzelnen Menschen und in den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in die er hineingeflochten ist. Die Philosophen fragen nach dem letzten Erkennbaren und nach der das Geschehen und das Denken umfassenden Einheit. Jede ernste Antwort führt zu Parallelen zum Gottesgedanken. Theologie ist ein unausweichliches Thema der Philosophie selbst dort, wo der Gottesgedanke völlig verneint wird. Der Philosoph muß auch vom Menschen reden, seinem Tun, seinem Wollen, den Normen, die er setzt oder aufhebt, und so hat seine Arbeit auch ethische Wirkungen. Das alles hat die Christenheit zu beobachten, nicht als unbetroffene, vielmehr als stark mitbeeinflußte Gemeinschaft. Denn die philosophische Arbeit hat ethische und religiöse Wirkungen auch dort, wo der Philosoph nicht ausdrücklich dem Thema des Guten und dem Gottesgedanken zugewandt ist. Weil bei diesen Auswirkungen der Schwerpunkt des Buches liegt, darf man von ihm also keine Einführung in die Geschichte der Philosophie erwarten. Sucht man eine solche, so greife man nach anderen Darstellungen, etwa zu H. Glockners »Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart« bei Reclam. Bedeutsam ist auch die historische Eingrenzung. Der Standort Schlatters ist die Zeit unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg. Und eingesetzt wird bei Descartes, der Zeit des 30jährigen Krieges. Blickt man auf diese 250 Jahre der Geschichte der europäischen Völker, so ist dies die Zeit, in der die vom Christentum ausgehende moderne Naturwissenschaft jene grandiose Explosion des technischen Könnens erzeugte, die uns fasziniert, vor der uns aber auch graut. Denn als der Mensch das konnte, was er heute kann, da wußte er nicht mehr, was er wollen sollte. Und der Ausbruch des ersten Weltkriegs bezeichnet genau den Beginn jener Epoche, in der die Ziellosigkeit und Maßlosigkeit des Menschen offenbar wurde, der die Frage nach dem unbedingt Gültigen und nach dem schlechthin geforderten Guten als inaktuell wegschieben zu können glaubte. Auf den letzten fünf Seiten des Buches, die man ruhig als eine Art Vorwort lesen darf, spricht Schlatter nicht ohne Härte und mit gewissem Recht vom »Zusammenbruch der philosophi– 29 –

schen Bewegung«. Davon muß man sprechen, wenn man mit Plato das Auffinden des Guten und mit Hegel die Erkenntnis Gottes als unausweichliche Pflicht des Menschen ansieht. Genau auf diese Epoche vom endgültigen Ende des Mittelalters (als der Zeit engster Verbindung von Theologie und Philosophie) bis zum Offenbarwerden des Mißgeschicks der mit Descartes einsetzenden, von der Verbindung mit der Theologie befreienden Bewegung richtet Schlatter seinen und unseren Blick. Es versteht sich, daß wir über die Arbeit der Philosophen in der Zeit der Weltkriege, welche den Problemhorizont enorm erweiterten, in diesem Buch keine Auskunft erhalten. Wer zu Heidegger, Jaspers, Sartre, zu Wittgenstein und Habermas Fragen hat, wird nach anderen Sachbüchern greifen. Als Christ und als ein besonders aufmerksamer Leser der Heiligen Schrift hat Schlatter den nach Gott fragenden, unsere Zeit engagiert begleitenden Menschen von heute viel zu sagen. Er kämpft auch in diesem Buch für die Herrschaft Gottes. Und er kann – wie vor 75 Jahren seine Hörer – auch über seinen Tod hinaus seine Leser für diesen Kampf gewinnen. Dabei treten drei Hauptanliegen seines gesamten Wirkens deutlich hervor. Es geht ihm darum, daß wir als denkende Menschen jeder Auffassung vom Menschen entgegentreten, die uns glauben machen könnte, die Hauptsache im Leben sei das Wissen, die Mitte des Lebens sei das Nachdenken und die Gemeinschaft mit Gott werde durch scharfen Gebrauch des Verstandes hergestellt. Vielmehr lehrt uns das Neue Testament, daß wir durch Jesus den Gehorsam des Glaubens finden und in ihm Gott gefallen. Gehorsam des Glaubens bezieht die ganze Person ein. Denn Gott will unsere Tat, er weckt unseren Willen, er schärft unser Nachdenken und macht uns wach für die Menschen vor uns und neben uns. Die einseitige Betonung des Erkennens Gottes, die Verlagerung des Schwerpunktes vom Glauben als tatkräftiger Hingabe zum Glauben als Wissen von Glaubenssätzen sollen wir nach Schlatters Rat aufgeben. Er nennt dies das »griechische Erbe« der Kirche, wobei er weniger die großen Griechen schilt als die Art, wie die Christenheit den Gesamtimpuls Jesu abschwächte. Wer Jesus annimmt, achtet nicht nur – 30 –

auf das Denken, sondern auf das ganze Leben, dem das Denken durch genaue Wahrnehmung und gesundes Urteil dienen soll. Das Eintreten für die Einheit der Person und der Widerstand gegen den Rationalismus, auch den christlichen Rationalismus, gehört zu Schlatters Einsatz für Gottes Sache. Es geht ihm um Gottes Ehre, um die umfassende Priorität Gottes vor allem menschlichen Können, Denken und Tun. Als Schöpfer hat Gott den Menschen im Kreis der anderen Kreaturen so wunderbar ausgestattet, daß es schon eines Aktes der Selbstschädigung bedarf, um die erhabene Wahrheit zu leugnen: Ich bin Geschöpf; ein Anderer, ein Größerer ist es, dem ich mich verdanke. Unsere natürliche Existenz war für Schlatter nicht neutral, sondern gottbezogen. Wie Paulus am Anfang des Römerbriefes, so sagte auch Schlatter, daß jedes Nichterkennen der Gottheit Gottes auf der Seite des zum Vernehmen geschaffenen Menschen schuldhaft sei. Daher gab es für ihn keine atheistische Menschenbetrachtung, keine Natur, die das Wort nicht bezeugte, aus dem sie wurde. Hier hatte er seine Fragen an Kant, bei dem die Religion mit dem Urerlebnis der Pflicht, mit dem Ruf des »Du sollst!« beginnt, und nur dort. Schlatter mag Kant einseitig kritisiert haben, und es wird die Kantforschung in vielen Stücken über den Stand von 1905 fortgeschritten sein. Doch bleibt auch für moderne Philosophen die Frage, ob wir nicht mit der gottgesetzten Wirklichkeit auch elementare Erfahrungen empfangen, die dem Wort »Gott« eine bestimmte und unentbehrliche Füllung geben. Christus war in dieser Welt als in dem Hause seines Vaters. Für den, der durch Christus mit Gott versöhnt ist, gibt es keine gott-freien Zonen, weder in der »Äußerlichkeit« der Natur noch in der »Innerlichkeit« des Menschen. Auch unser Denken ist kein schöpferisches Er-denken, sondern ein geschöpfliches Nach-denken. Schließlich geht es Schlatter um ein der Wahrheit und der Liebe entsprechendes Zusammenwirken von Philosophie und Theologie. Die beiden Bemühungen haben von Gott ihr je eigenes Hausrecht erhalten wie auch ihren je eigenen Baugrund. Sie sind selbständig, und jede ist Gott verantwortlich. Keine ist der anderen Magd. Ist – 31 –

die Zeit vorbei, wo die Philosophen nur im Rahmen der Theologie denken durften (und in dieser Ära entstanden unsere Universitäten), so ist mit dem vorläufigen Ende der philosophischen Bewegung bei Nietzsche und seinen heutigen Nachfahren ganz gewiß auch die Zeit vorbei, wo die Christen nur dann ihre Gedanken aussprechen durften, wenn sie von gängigen Philosophen approbiert waren. Zwar sind das konsequente Nachdenken über alles Sinnvolle in der Welt und die verantwortliche Bezeugung der Offenbarung Gottes zwei selbständige Aufgaben, doch bringt es die Sache mit sich, daß die Theologen (im weitesten Sinn des Wortes) auf die Philosophen hören müssen und ebenso umgekehrt. Wenn die Kirche die Philosophen auf den ethischen und religiösen Ertrag ihrer Arbeit ansprechen darf, so darf der Philosoph die Christenheit fragen, ob durch ihr Wort die Menschen wahrer, mutiger und gütiger werden. Die Anerkennung der Freiheit des jeweils anderen Partners und das Hören auf seine Ergebnisse kommen beiden Seiten zugut. Heute ist der Mensch in Gefahr. Wir müssen gemeinsam jede Anstrengung machen, das Humane vor der Entmenschung zu retten. Alle sollten alles schätzen, was hilfreich ist. Das gilt auch denen, die meinen, daß ihnen das Philosophieren nicht liegt, wie denen, für die der Glaube etwas Fremdes ist. »Wenn unter dem Gesetz der Wahrhaftigkeit kritisch über das Denken nachgedacht wird, kommt das allen zugut. Wenn über die Selbstoffenbarung Gottes sachgemäß gesprochen wird, ist das für alle wichtig.« In der Stunde der Gefahr muß man zusammenstehen. Das vornehme und mutige Buch Schlatters weist uns die richtige Richtung. Und das Wort Hölderlins, dessen Grab von Schlatters Grab nur wenig entfernt ist, wird wieder einmal tröstlich: Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Reutlingen, Neujahr 1981

Hans Stroh – 32 –

Harald Seubert

Geleitwort zur 6. Auflage I Obwohl Adolf Schlatter sich primär als Exeget einen Namen gemacht hat, ist ihm doch die Philosophie und ihre Geschichte hochvertraut. Die Editionen, die Werner Neuer und ich in den letzten Jahren aus dem bis dahin noch unpublizierten frühen Nachlass Schlatters vorlegen konnten, belegen dies eindrücklich.8 In diesem Kontext steht auch eine noch nicht veröffentlichte Berner Vorlesung aus dem Jahr Wintersemester 1881/82 mit dem Titel »Geschichte der speculativen Theologie seit Cartesius«, die in ihren Grundzügen das später berühmt gewordene Kolleg des Tübinger Professors aus dem Wintersemester 1905/06 vorbereitet, das den bisher fünf Auflagen von ›Die philosophische Arbeit seit Cartesius‹ zugrunde liegt. Dieses ist erstmals 1906 gedruckt worden. Die vierte Auflage 1959 war mit einer prägnanten Einleitung von Helmut Thielick­e versehen,9 1981 die fünfte Auflage mit einem Geleitwort von Hans Stroh.10 Beide sind hier mit publiziert. Man kann von einem Long8 A. Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I. Die Berner Vorlesung (1884): Einführung in die Theologie Franz von Baaders, im Auftrag der Schlatter-Stiftung hgg. von Harald Seubert unter Mitarbeit von Werner Neuer. Stuttgart 2016; und Ders., Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II. Die Berner Vorlesung (1883): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis, im Auftrag der SchlatterStiftung hgg. von Werner Neuer und Harald Seubert. Stuttgart 2019 9 A. Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Descartes. Ihr ethischer und religiöser Ertrag, mit einem Geleitwort von H. Thielicke. 4. Auflage. Stuttgart 1959, S. 7–21. 10 Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Cartesius. Ihr ethischer und

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seller sprechen, einem philosophischen Vademecum für Theologen, das seit langem vergriffen ist und nun wieder zugänglich gemacht wird. Dies ist in hohem Maß berechtigt, denn Schlatters Werk ist nicht nur historisch von Interesse und es ist nicht leicht ersetzbar. Bis heute ist es ein Problem, und nicht selten ein Elend in der evangelischen Theologie,11 dass die geforderten Pflichtleistungen in Philosophie für viele Studierende kaum mit der theologischen Reflexion in Verbindung gebracht werden. In Schlatters Zeit stellte sich dies noch anders dar: Die ersten vier Semester waren weitgehend, neben den Sprachen, der Philosophie vorbehalten, was für viele Theologiestudenten wohl eine ähnliche ›Anfechtung‹ war wie Sprachen zu lernen, aber in der Sache ein Exerzitium, das dem römisch-katholischen Studium fundamentale glich. Was immer die späteren Theologen damals an Vorlesungen gehört haben mochten, manche dürften, wie einschlägige Zeugnisse belegen, auch an ihrem Glauben gezweifelt haben, vielleicht sogar verzweifelt sein. Schon in Kants Zeit kamen manche (nicht die schlechtesten Köpfe) durch die Beschäftigung mit der Philosophie zu dem Urteil, der christliche Glaube sei eine »vergangene Denkform«, und wandten sich anderen Fakultäten zu. Andere verzweifelten am Auswendiglernen unverstandener philosophischer Systeme und flohen aus der Langeweile in Studentenverbindungen, wo sie viel Zeit vergeudeten. Schlatter beschrieb auch diesen Typus und sah darin stets ein großes Problem, zumal der Studienanfänger. Schlatter wollte dem, wie Hans Stroh treffend bemerkte,12 mit seiner Vorlesung und deren späterer Veröffentlichung entgegenwirken. Keinen Gesamtaufriss der Geschichte der Philosophie bietet er, u.a. aufgrund dieses religiöser Ertrag, mit einem Geleitwort von Hans Stroh. 5. Auflage. Gießen 1981, S. V–XIII. 11 Die Tendenz, das Philosophicum vorhandenen oder nicht vorhandenen Privatneigungen zu überlassen, nimmt eher zu. Die meisten theologischen Fakultäten und Hochschulen verfügen nicht über einen eigenständigen philosophischen Lehrstuhl. 12 Stroh, in: Die philosophische Arbeit, a.a.O., S. VII.

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Adressatenkreises, auch keine Philosophische Systematik, sondern eine pointierte tour d’horizon über die philosophische Entwicklung jener ereignisreichen dreihundertfünfzig Jahre europäischer Neuzeit von Descartes bis zu Schopenhauer und Nietzsche. Es sind die Jahrhunderte, in denen wesentliche Weichenstellungen von Aufklärung und Säkularisierung, bzw. Säkularismus, erfolgten, eine Zeit, in der christlicher Glaube zunehmend mit der Philosophie und ihren Weltbildern konfrontiert wurde. Schlatter sieht in diesen drei Jahrhunderten philosophisches Denken an sein Ziel, aber auch an sein Ende kommen. In seinem Gesamturteil ist er apodiktisch – und dürfte damit genauso wenig recht behalten, wie jeder und jede, die seither den Tod der Philosophie ausriefen, übrigens auch diejenigen, die den »Tod Gottes« proklamierten. Eine Philosophiefeindlichkeit frommer Kreise machte sich Schlatter dagegen nie zu eigen. Noch in seinem ›Rückblick auf meine Lebensarbeit‹ notierte er, womit er einen Topos von Hegel – und letztlich Sokrates – aufnahm, »dass das Denken Gottesdienst ist, weil die Wahrheit Gottes Gabe, und unser Bemühen, unser Denken richtig zu machen, von Gott uns aufgetragen ist als eine wesentliches Stück des von ihm dem Menschen erteilten Berufes«.13 Die Zuspitzung und Eingrenzung gibt der Vorlesung und dem aus ihr hervorgegangenen Buch ihr originelles und, auch wenn einzelne Urteile heute in Frage gestellt werden, nach wie vor frisches Profil: Einerseits verhehlt Schlatter in keiner Weise, dass er als Theologe und Glaubender spricht, aus der Kenntnis der Offenbarung und dem Glauben an den lebendigen, auferstandenen Jesus Christus. Nicht theoretische Welterkenntnis, sondern Hingabe und Tat stehen im Zentrum seines Lebens und Denkens. Auch darüber ist sich dieser vielleicht letzte evangelische Universalgelehrte 1905 schon klar.14 Doch das »griechische Erbe« der Kirche achtet er deshalb nicht gering. 13 A. Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, Neudruck. Stuttgart 3 1977, S. 40. Siehe auch W. Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche. Stuttgart 1996, S. 143ff. 14 Dazu eindrücklich das ›Geleitwort‹ von Hans Stroh, a.a.O.

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Zum zweiten beschäftigte Schlatter besonders der ethische und religiöse Ertrag jener philosophischen Leistungen. Er untersucht sie daher aus einem Blickwinkel, der unter Umständen nicht jener der Philosophie selbst ist. Hegel etwa wurde nicht müde zu konstatieren, dass philosophische Wahrheit nur erworben werde, wenn man die Gedanken mitvollziehe. Das bloße Resultat könne in der Philosophie niemals Wahrheit beanspruchen. Zum dritten ist es aber gleichwohl bestechend, mit welch tiefem Sensorium Schlatter das Zentrum eines philosophischen Systems erkennt und daraus Konsequenzen zieht. Auch dort, wo sein Ansatz revisionsbedürftig ist, beeindruckt dieser Zugriff, der allerdings beim jungen Schlatter noch lebendiger gewesen ist:15 Dies zeigt sich eindrucksvoll an den schon genannten Nachlasseditionen der letzten Jahre. Schließlich aber eröffnet der nicht ausschließlich philosophische Binnenblick Schlatter die Möglichkeit, die philosophischen Systeme mit der erfahrbaren Wahrheit und Wirklichkeit christlichen Glaubens in eine Beziehung zu setzen; zumal er die Philosophien gerade nicht als monolithische Hervorbringungen einzelner Genies versteht, sondern als eine in Zeitgeist und Epochenstruktur einbezogene Denkanstrengung. Einer auch sozialgeschichtlichen und, wie man heute sagen würde, diskurstheoretischen Zugangsweise wird daher das Wort geredet, die durchaus über den romantischen Geniekult der Zeitgenossen hinausführt. Stark, vielleicht allzu stark, ist für Schlatter die unmittelbare Wirksamkeit eines philosophischen Ansatzes das Kriterium seiner Beurteilung. Der Schwierigkeit und Größe seines Unterfangens ist sich Schlatter durchaus bewusst. Dies zeigen die als Prolegomena der Vorlesung zu lesenden Seiten ›Zur Verständigung‹, wo er seine Prä15 Vgl. dazu die in FN 1 genannten Nachlasseditionen, im Vergleich zur ›Philosophische [n] Arbeit seit Cartesius‹, aber auch zu der Nachlassedition A. Schlatter, Metaphysik, hg. und eingeleitet von Werner Neuer. Tübingen 1987 (ZThK Beiheft 7).

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missen offenlegt und dem Misstrauen gegenüber den Systemkonstruktionen ›apriori‹ Ausdruck gibt. Eine optische Täuschung, also Perspektivenverkürzung, räumt Schlatter durchaus ein. Ihr Mangel werde aber dadurch korrigiert, dass »menschliche Geschichte nicht allein durch Denkarbeit, noch weniger durch die der Philosophen, hervorgerufen und geleitet wird« (14).16 Doch die Denkarbeit bleibt umgekehrt nicht ohne Folgen, in der sogenannten realen Welt. Thielicke merkt in seinem Geleitwort 1959 an, dass Schlatter »erkenntnistheoretisch und hermeneutisch-grundsätzlich so erstaunlich uninteressiert« gewesen sei,17 doch sieht er darin zugleich die Gabe eines Staunen-Könnens, wie sie dem Votum des Türmers Lynkeus aus Faust II. entspricht: »Zum Sehen geboren/zum Schauen bestellt«. Gerade darin, dass er keinem Systemzwang erlag, macht nach Thielicke die Anregungskraft von Schlatters Vorlesung aus. Dies scheint mir sehr berechtigt zu sein. ›Die philosophische Arbeit seit Cartesius‹ ist nämlich nicht, wie viele systematisch-theologische Entwürfe damals und heute nur den Debattenlagen ihrer Zeit verhaftet. Schlatter tritt mit philosophischem Denken in eine Auseinandersetzung, die nicht an System und Zeit gebannt ist, gerade dies kann seinen Zugriff auf die Philosophie derart fruchtbar machen. Ob man wirklich von erkenntnistheoretischem Desinteresse sprechen kann, wäre dann zu fragen: Schlatter vertritt durchaus eine Erkenntnistheorie, die aber das Fundament von Erfahrung und Wahrnehmung nie in Frage stellt. 16 Die hier in Klammern eingefügten Nachweise beziehen sich auf Schlatter, Die philosophische Arbeit, die erste Ziffer auf die fünfte, die zweite auf die hier vorliegende Auflage. 17 Thielicke, Geleitwort, in: Schlatter, Die philosophische Arbeit, a.a.O., S. 13, wiederabgedruckt in diesem Band. Zum realistischen Ansatz von Schlatters Denken vgl. die in FN 1 genannten Editionen insbesondere meine ausführlichen Einführungen, siehe auch J. Walldorf, Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen 1999.

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II Heute ist, durch den historischen Abstand und dadurch, dass Schlatter nicht mehr selbstverständlich im curriculum jedes Theologen präsent ist, eine veränderte Lage der Rezeption gegeben. Es ist eine Trivialität, dass manche der Urteile Schlatters in weitere Ferne gerückt sind, weil sich die Forschungs- und intellektuelle Rezeptionslage, gerade zur klassischen deutschen Philosophie ungemein vertieft und verzweigt hat. Davon wird auf den folgenden Seiten en passant die Rede sein, zumal erstmals ein Philosoph die Ehre hat, das Geleitwort zu verfassen. Damit verbindet sich aber, dass die Strömungen, die Gedankenwelten, die Schlatter nennt, heute weniger selbstverständlich Teil allgemeiner Bildung und eher Spezialistenwissen sind. Die Kluft zwischen Philosophie und Theologie als Wissenschaftsdisziplinen hat sich seither vertieft und erweitert. Man dürfte selten einen großen Exegeten finden (wobei sich Schlatters Werk natürlich nicht in der Exegese erschöpft), der wie Schlatter zugleich leidenschaftlich, wenn auch aus einem immer präsenten Abstand auf die Philosophie blickt. Gerade an dieser größeren Distanz zur eigenen akademischen Welt und zur Lebenswelt erweist sich aber Schlatters Cartesius-Monographie in ihrer Frische und der Neuheit ihres Zugriffs. Die aus der Wahrnehmung geborene Bemühung um Sachhaltigkeit und begründete Objektivität kann auch in einer philosophischen Situation jenseits des Dekonstruktivismus noch begeistern. Sie legte kaum Patina an.

III Dies gibt Anlass, Schlatters Urteile und Darlegungen in nuce zu rekapitulieren und zu reflektieren: (1) Mit Cartesius wird in Schlatters Sicht ein neuer Anfang des Denkens bezeichnet. Der Cartesischen Trennung von Ich und ›Gesamtleben‹, also objektiver Wirklichkeit der Natur, widersprach Schlatter – 38 –

in seinem eigenen philosophischen Ansatz programmatisch.18 Er sieht darin allerdings zu Recht eine Formation, die bis in den deutschen Idealismus maßgeblich bleibt. In dem »Ich« Descartes’ erkennt er ein unaufgelöstes Rätsel. Fundamental für menschliche Erkenntnis kann das Ich gerade nicht sein, denn es sei ein »Gegebenes« und gerade kein Begriffenes (22). Von hier her kann der Einwand nicht ausbleiben, dass der radikalisierte Zweifel, die Suche nach Vorurteilsfreiheit, gerade kein fundamentum incocussum19 erreicht, sondern »ein Gebrechen«. Der Umbruch, der sich mit dem Cartesianischen Zweifel für die Begründungslagen der Theologie ergibt, wird von Schlatter prägnant herausgearbeitet: Gott werde zwar als Garant für die Existenz einer Außenwelt ›konstruiert‹; doch der rationale Gott der Philosophen ist eben nicht der geoffenbarte Gott des biblischen Zeugnisses, auch nicht eine philosophische Abbreviation dessen. Er ist sui generis. Deshalb werde Offenbarung von Cartesius her zum Sonderweg, die reine Rationalität, wie immer sie inhaltlich näher verstanden wird, hingegen werde für das Verständnis von Wissenschaft normativ: Eine gravierende Verschiebung im Selbstverständnis von Theologie und Philosophie, auch in ihrem Verhältnis zueinander. Damit ist sicher ein tiefreichendes Rezeptionsfaktum treffend beschrieben. Doch ob der Gottesbegriff des Cartesius sich in der Cartesischen Gesamtkonstruktion erschöpft, ist zu fragen: Denn die Cartesianischen Gottesbeweise folgen in ihrer Grundstruktur, dem Weg von der Kontingenz zur Notwendigkeit, vom Endlichen zum Absoluten, ganz dem ontologischen Argument Anselms von Canterbury. Wolfgang Röd reformulierte das Cartesische Argument, das in der III. und der V. Meditation unterschiedlich durchgeführt wird, treffend so: »Ich denke, also bin ich, und zwar als 18 Dazu die Auseinandersetzung Schlatters mit der Transzendentalphilosophie in: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, a.a.O., S. 65ff. 19 Der Begriff meint bei Descartes das unerschütterliche Fundament allen Wissens, das seiner Überzeugung nach durch den Rückbezug auf das ›Ego cogito‹ ausgesagt ist.

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endliche, denkende Substanz; ich könnte mich als eine solche Substanz nicht erkennen, wenn ich nicht über die Idee des Unendlichen verfügte; da die Idee des Unendlichen Bedingung der Idee des Ich ist, und da ich in unbezweifelbarer Weise existiere, existiert auch das Unendliche«.20 Wenn sie auf ihren Bereich, den vernünftigen Gottesbegriff begrenzt wird, muss diese Argumentation Offenbarung nicht depotenzieren oder gar zu einem Bruch zu ihr kommen. So treffend Schlatters ideengeschichtliche Kartographie ist, so ist doch eine Konstellation denkbar, die den Anselmisch-Cartesischen Gottesgedanken in ein Korrespondenzverhältnis zum Offenbarungsglauben bringt: Dazu mag beitragen, dass dessen argumentative Stärke seit der Rekonstruktion des Logikers und Mathematikers Kurt Gödel21 vermehrt thematisiert wird. Eine Fortsetzung des Umgangs mit dem Erbe der Aufklärung, wie ihn Schelling in seiner Unterscheidung ›positiver‹ und ›negativer‹ Philosophie forderte und auch realiter einlöste, Unterscheidung und Bezogenheit beider Linien aufeinander, ist nach wie vor ein Desiderat.22 Bei Descartes und mehr noch den Cartesianern, wie Malebranche, erkennt Schlatter eine meditierende Denkfrömmigkeit, »die den Willen nicht berührt« (43). Ein Einwand, den er auch gegen Kant richtet. Unzureichend erscheint ihm zumal die Cartesianische Ethik, die nach wie vor Glückseligkeit zu ihrem letzten Ziel hat (44), und die damit der Schmerzvermeidung dient. Dass Theodizee-Ansätze die Verbindung des Willens Gottes mit einer Welt 20 W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel. München 1992, S. 73. Dazu auch D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweise. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 1960. 21 Vgl. dazu J. Bromand, Gödels ontologischer Beweis, in: J. Bromand/G. Kreis (Hg.), Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Berlin 2011, S. 483–491. 22 Vgl. zur Übersicht über die Tektonik: Thomas Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg (Meiner) 1992. [leicht veränderte Fassung der Münchner Habilitationsschrift von 1990].

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in Leid und Schmerz als theoretisches Problem erkennen, führt Schlatter weitgehend auf diese Glückseligkeitsethik zurück (47f). Man kann sich fragen, ob dies der Selbstbefragung des Frommen, weshalb er leiden muss, wie man sie aus den Psalmen oder dem Buch Hiob kennt, hinreichend gerecht wird. (2) Dem Spinozanischen Gottesbegriff der Einen Substanz, der das Aufgehen der endlichen Subjektivität nahelegt, wendet sich Schlatter aus einer entschiedenen Erinnerung an die Versöhnung zwischen Gott und Mensch in gelebtem christlichem Glauben zu: »Gott wird in seiner Hoheit und Selbständigkeit schlechthin bejaht und eben in dieser Verbundenheit unser Eigenleben nicht ausgelöscht, sondern zur Vollendung gebracht« (51). Der Vorwurf der Negierung von Freiheit, ein klassischer Einwand gegen Spinozas ›Ethik‹, wird auch von Schlatter erhoben. Deshalb blickt er auf die Wirkungsgeschichte im SpinozismusStreit: Zu einer prägenden philosophischen Konzeption habe Spinozas These vom Sein in der Einen Substanz nicht werden können, da die Kantianer dem ichphilosophischen Muster des Cartesianismus folgten. Bei Schleiermacher sieht Schlatter allerdings deskriptive Ansätze eines Spinozismus. Indes: Die Spinozanische Affektenlehre und die Anthropologie im zweiten Teil der ›Ethik‹ wird von Schlatter nicht eigens behandelt. Sie könnte das Grundurteil modifizieren und nahelegen, dass das necessitierende Freiheitsverständnis mit einer existenziell affektiven Dimension verbunden wird – und dass die Lehre von der ›Einen Substanz‹ geradezu eine therapeutische Funktion hat. Obwohl Schlatter Locke und Hume nur sehr knapp diskutiert und damit eine weitgehend kontinentaleuropäische Argumentationslinie entwickelt, gibt er Lockes Einwand gegenüber Spinoza Recht, der Substanzbegriff bleibe vollkommen dunkel (94).23 23 Vgl. B. Sandkaulen, W. Jaeschke (Hrsg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Meiner, Hamburg 2004.

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Leibniz’ monadologischer Denk-Ansatz ist für Schlatter als »religiöses Motiv« wichtig: Eine Einwirkung Gottes in die geschlossene Determiniertheit bedeutet im Cartesianischen Sinn ein »permanentes Wunder«, einen Okkasionalismus und Dezisionismus Gottes. Leibniz denkt dagegen eine göttliche Kausalität, die als inneres Kraftzentrum auf das Innere des Seienden einwirkt (72f). Der Determinismus der Cartesianer setzt sich allerdings bei Leibniz fort. In der Theodizeefrage weicht er von Cartesianischen Lösungen ab; nicht »Unterwerfung« unter Gottes Willen, sondern »Zufriedenheit« und damit eine größere Empathie leiten seine Untersuchungen, was nichts daran ändert, dass für Schlatter die Theodizeefrage letztlich illegitim und in Anthropodizee zu transformieren ist (76). (3) Schlatters Sicht auf das Phänomen der Aufklärung ist großflächig, und notwendigerweise grob. Nicht zu ignorieren ist, dass es in der Zwischenzeit eine theologisch hochdifferenzierte interdisziplinäre Aufklärungsforschung gibt.24 Schlatter weist gleichwohl auf Ankerpunkte hin, die das Ganze wieder schärfer erkennen lassen, als die Details es oft erlauben: Er nennt es, höchst provozierend, eine »Verseuchung«, dass der Tugendbegriff im Aufklärungszeitalter in die Kirche eingeschleust worden sei. Man wird allerdings die platonisch-aristotelischen Tugenden schon als ein wesentliches Momentum in der mittelalterlichen christlichen Philosophie und Theologie würdigen müssen. Ein wirkliches Problem wird daraus erst, wenn die Tugendlehre das Gebot Gottes ersetzt, ein Subjektwechsel zwischen Gott und Mensch eintritt. Anti-aufklärerisch ist Schlatters Ansatz in keiner Weise. Er prüft und unterscheidet; das Gute behält er – und er hebt mit starken Linien hervor, dass die Aufklärung und ihr Begriff gerade nicht »clare et distincte« zu fassen sind, sondern ein kaum überschaubares »compositum mixtum« bildet, aus rationalistischen, empiristischen Mo24 Dazu und zu den religionstheoretischen Implikationen exemplarisch U. Barth, Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004.

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menten, aus Behauptungen und Programmen: Wenn bis heute wenig gedankenreich der Topos vom nachmetaphysischen »Projekt Aufklärung« wiederholt und ihre von Adorno und Horkheimer herausgearbeitete Dialektik verkannt wird, kann Schlatters kritisch umsichtiger Umgang mit dem Aufklärungstopos aufs neue aktuell werden. Eindrücklich charakterisiert Schlatter die Veränderungen, die Kirche und Theologie im Aufklärungszeitalter erfuhren. Es ist bestechend, wie er den eigenen klaren Standpunkt mit abwägenden Gewinn- und Verlustrechnungen verbindet: Dass mit dem Aufklärungszeitalter die Freiheit des Glaubens und seine Gewissensbindung zentral wird, verschweigt Schlatter nicht. Als problematisch profiliert er den individualethischen Ansatz der Aufklärung bei dem Glück des Einzelnen und wechselseitiger Beglückung, die er mit wenigen Strichen auf die (in der schönen Literatur ausführlich dokumentierte) Erotik des Empfindsamkeitszeitalters projiziert. Verantwortlich dafür sei aber die Unfertigkeit der Ethiken der lutherischen Orthodoxie, mit einer Herbheit der Zucht, die natürlicher Freude und Schöpfungsgnade (83f) einen zu geringen Raum gab. Für Schlatter ist es die Schule, die Dogmatisierung und Tiefenwirkung der Aufklärung konserviert, und er weist, wenn man die philanthropischen Dimensionen berücksichtigt, vielleicht etwas überspitzt, aber in schöner pädagogischer Übertreibung daraufhin, dass in der Schule der Mensch »aus einem Kopf, sonst aus nichts« bestehe (85). Neuerungen von Aufklärung, wie Ausbau von Hygiene und Sozialfürsorge, Verrechtlichung und »Reinigung der Strafe von der grausamen Wollust« achtet er hoch. Aufklärung ist »Reinigung«, »Katharsis«. Schlatter äußert aber Zweifel, dass eine rechtlich-ethische ›Reinigung‹ des Staates (88f). auf Vernunftgründe dauerhaft gelingen konnte. Der Übergang vom Not- und Verstandesstaat zum sittlichen Staat ist, wie man weiß, bis heute ein Desiderat, weltweit und selbst in Europa. Wenn man, wie Schlatter es ungeniert tut, den Menschen als ein unter der Sünde stehendes und durch ihre Wirkungen verkehrtes Wesen begreift, wird auch deutlich, dass Aufklärung gerade keinen Punkt der Unumkehrbarkeit bezeichnet, wie dies heute manchmal behauptet wird. – 43 –

In der aufklärerischen ›Reinigung der Frömmigkeit‹, die sich wie ein Kommentar zu Kants ›Religion der Vernunft‹ aus hundertjährigem Abstand liest, überwiegen für Schlatter die Defizite: Mit der Reue fiel die Liebe, bemerkt er prägnant (94), und der Gottesdienst verlor seine bindende Kraft. Der Mangel an Ehrfurcht und Anerkenntnis des Geheimnisses zeigt sich für Schlatter in einem »Räsonieren«, das die Geheimnisse Gottes in Kategorien des Verstandes zwingen möchte. »Ungezählte haben sich z.B. über die Frage nach der endgültigen Verlorenheit der Verdammten mit herzlichem Anteil den Kopf zerbrochen und davon ihre eigene Lebensführung abhängig gemacht, während sie hundert und hundert Dinge, die mit heller Fasslichkeit im Bereich unseres Bewusstseins stehen, unbeachtet ließen« (97): Wie wahr, über die Zeit hinaus – auch angesichts einer räsonierenden Pseudovernunft, die bis weit in den Evangelikalismus hinein naiv aufklärerische Vorurteile tradiert. Ein besonders tiefes Kapitel, das aus Schlatters Studien zu Franz von Baader und dem ›Philosophe inconnu‹ Louis Claude de St. Martin schöpft, gilt theologischen Versuchen von »Gegenwirkungen gegen die Aufklärungsethik«. Hier hat Schlatter einen ungetrübt ›ökumenischen‹ Blick, er lässt katholische und evangelische Stimmen gleichermaßen gelten und sieht doch klar ihre jeweiligen Schwächen. De St. Martin verglich sich selbst mit einem Geiger, der auf dem Friedhof am Montmartre spielt und sich eingestehen muss, dass die Toten nicht erwachen. Die Metakritik eines Oetinger: »ex idea vitae« würdigt Schlatter als richtigen Impuls, gegen den ›L’homme machine‹Gedanken der Aufklärung. Noch tiefer reicht seine Anerkenntnis, dass die schwäbischen Pietisten sich die Fähigkeit bewahrten, die Bibel als Wort Gottes und Heilige Schrift zu lesen. »Nur war allein mit der Zitation des Neuen Testaments die Aufklärung noch nicht überwunden« (100). Im Blick auf Hamann urteilt er entschieden: Der habe Einwände entwickelt, die ins Herz der Aufklärung trafen, doch, »ähnlich wie bei St. Martin« sei Hamann so sehr »in der Hülle seiner Individualität verschlossen, die sich nicht zu öffnen und nicht Gemeinschaft bildende Kraft zu erlangen vermag« (101). – 44 –

Als deutlichen Gegenakzent zur Aufklärung begreift Schlatter eine sich weiter entwickelnde und differenzierende Geschichtsschreibung und -forschung, und die Erweiterung der Altertumsforschung auf andere Kulturen, vor allem auf Asien. Es war künftig nicht mehr ohne weiteres möglich, so Schlatter wieder mit einer Invektive von hohem Aktualitätsgehalt, dass »die Betrachtung des Philosophen in Athen (begann) und in Berlin« endete (105). Dass mit der Historisierung auch die Erosion dogmatischer Gewissheiten einhergehen wird, dass der Historismus sich hier, mit Troeltschs Diktum als Gegengewicht zur dogmatischen Methode anzeigt,25 verschweigt Schlatter nicht. Wesentlicher als Geschichte ist für Schlatter noch die Kunst: Sie wird, wie er treffend beobachtet, zur Erfüllung eines Wirklichkeits- und Transzendenzbewusstseins, das der Mainstream der Aufklärung unerfüllt ließ. An dogmatischen Leitfäden darf man Kunst nicht messen – und Schlatter tut dies in keiner Weise. So ist in seiner Sicht Goethes ›Faust‹ das wichtigste Zeugnis einer Kontrapunktik zu einem naiv-aufklärerischen Bild vom Menschen aus der Komplexität von Sinnlichkeit und Vernunft. Diese Konzeption habe Goethe umgeworfen (109). (4) Schlatter hatte den bemerkenswerten Mut, mit ebenfalls wenigen Strichen Defizite der Kantischen Vernunftkritik zu benennen, mitten in einer Zeit, in der der Kantianismus die unstrittige philosophische Lingua franca war. Mittlerweile ist das philosophische Frühwerk Schlatters weitgehend ediert,26 das in einer starken inneren Systematik seine eigene Metaphysik der Erfahrung auf dem Weg von Kant zu Baader markiert27 und ›Wesen und Quellen der 25 Vgl. dazu Ernst Troeltschs 1900 publizierten Aufsatz Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (gekürzt) in: Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften, Band II, Tübingen 1922, S. 729–753. 26 Vgl. dazu wiederum FN 1. Lediglich eine Vorstufe der ›Philosophischen Arbeit seit Cartesius‹ liegt noch nicht vor. 27 Dazu Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie Band I, insbesondere S. 153–175.

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Gotteserkenntnis‹ umfassend kartographiert.28 In der CartesiusVorlesung wird die geschichtliche Quintessenz der eingehenden philosophischen Studien des jungen Schlatter referiert: Mit Humes Intention, dass die Gottesidee »keinen Inhalt über den Kausalitätsgedanken hinaus« hat (112), ist, wenn man sich ihr anschließt, der Gottesgedanke unmöglich gemacht. »Dem Willen, der Gott ehren will, entstammen die theologischen Aussagen und sie sind dann wahr und deshalb wahr, weil und wenn sie diesen die Verehrung Gottes wollenden Willen ausprägen« (112). Dies führt in unmittelbare Nähe zu Kant: Als Kantischen Hintergrundgedanken versteht Schlatter, dass die sie bedingenden Inhalte des Bewusstseins aus der Vernunft selbst stammen. Wahrheit als »adaequatio intellectus ad rem« müsse Kant preisgeben, weil durch die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung eine Wirklichkeit jenseits der Vernunft preisgegeben wird, an der sich Wahrheit messen lässt. Kaum jemand in jener Zeit, außer Friedrich Nietzsche,29 bestritt die rational explikativen Leistungen Kants so ausdrücklich wie Schlatter. Über die Möglichkeit des Denkens erfahre man bei Kant nichts. Schlatter erscheint in der Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, als eine Ausflucht gegenüber der eigentlich zugrundeliegenden Frage zu sehen, ob sie denn überhaupt möglich sind. Die religiös-theologische Wirkung Kants reicht nach Schlatters Rekonstruktion weit: Die Kantische ›Phänomenologie‹, also der Bezug der Verstandeskategorien auf die Erscheinung und die Entzogenheit des Wesens führt dazu, dass theologisch nicht mehr nach Wahrheit gefragt wird, sondern nur religiös nach subjektiver Gewissheit. Mit Kant werde die Frage unausweichlich, ob Theologie eine Wissenschaft sei – und damit, ob die theologischen Fakultäten legitimer Teil der Universität sein könnten. Vor allem aber diagnostiziert er überaus klarsichtig eine Fernwirkung bis zu Ritschl 28 Schlatter, Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis. Stuttgart 2019. 29 Vgl. Nietzsche, Kritische Studienausgabe. München 1980, Band XV, s.v. Kant. Bei allen heute eruierten impliziten Affinitäten zwischen Kant und Nietzsche bleibt diese Differenz doch maßgeblich.

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und seiner Schule, dass sich ein Umschlag zur Mystik vollziehe, ein inhaltsleeres Sinnen, das daraus resultiert, dass die Bezeugung Gottes in Natur und konkreter Erfahrungswirklichkeit dementiert wird. Wie diese Spuren gebahnt werden können, skizziert Schlatter eindrücklich in dem jüngst edierten Text über ›Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis‹. Was den Kantischen Gottesgedanken betrifft, so demonstriert Schlatter, dass der Zusammenhang zwischen Gottes- und Wahrheitsbegriff, der bei Descartes noch dominant festgehalten wurde, bei Kant völlig verdeckt sei. Pointiert fragt Schlatter, was er an anderem Ort ohne Zweifel als Faktum darstellte, dass dann, wenn der Vernunft eine Aussage über Gott grundsätzlich unmöglich sei, jede Theologie Gott und die Gewissheit Gottes überhaupt aufgehoben« sei (137). Die Postulatorik der Kantischen Moraltheologie kann nach Schlatter diesen Befund keineswegs grundsätzlich korrigieren. Denn auch sie sei wie die Aufklärungsethik ausschließlich am Glück orientiert. Zu den zahlreichen, systematisch wichtigen Anfragen an Schlatter gehört es, ob er den Unterschied zwischen Glückseligkeit und Glückswürdigkeit berücksichtigt. Auch, ob er gut daran tut, Kants dritten Kritischen Weg rasch als einen Dogmatismus eigener Art zu charakterisieren, ist fraglich. Umso bemerkenswerter ist eine überraschende Nuancierung: Kants Aussage, er habe die Vernunft einschränken müssen, um dem Glauben Platz zu geben,30 liest Schlatter nicht nur in Richtung eines philosophischen Vernunftglaubens, wie ihn die Kantische Religionsschrift einlöst: Kant habe vielmehr die Erhabenheit des Glaubens besonders deutlich zum Ausdruck gebracht dadurch, dass sich der Glaube ihm zufolge auf ein vollständiges Nichtwissen stützen muss. Es gibt nach Schlatter gleichsam ein Kantisches ›Sola fide‹, das ihn tatsächlich als Philosophen des Protestantismus ausweist (141).31 Seine Konstitution und seine Grenze hat dieses 30 Kant, K.r.V, AA IV. Berlin 1900, S. 203. 31 F. Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre. Stuttgart 1898, S. 12f.

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Sola fide allerdings darin, dass es frei von konkreten, geglaubten Inhalten ist. Der Konsequenz und Geradlinigkeit Kants zollt Schlatter hohe Bewunderung. Sie zeigt sich auch in der Exposition des Sittengesetzes, das auf einen Monolog des Ichs mit sich selbst zurückbezogen ist und letztlich ohne göttliche Anrede auskommt: Aus mir über mich. Schlatters – auch auf heutigem Niveau der Kantforschung diskutierenswerte These besagt: Die theoretische und die praktische Vernunft können nur deshalb miteinander einstimmig sein, da die Imperative »unsere eigene Setzung« seien. Der drohenden Sakralisierung der Pflicht misstraut Schlatter ebenso wie der Allgemeinheit des Sittengesetzes. Ist dann, fragt er, das Individuelle zum Unsittlichen erklärt: Ähnliche Einwände brachten Denker des 20. Jahrhunderts vor: von Emmanuel Lévinas bis zu den englischsprachigen Kommunitaristen gegen ein auf Indifferenz bezogenes Denken vor. Die Selbstgefälligkeit der Aufklärung habe Kant destruiert: dies gesteht ihm Schlatter zu. Doch er bemängelt ebenso klar, dass es eine Konkretion »Jenseits von Freiheit« nicht gibt. Man könnte hier die subtile, aus der Wolff-Schule entnommene Struktur der späten ›Metaphysik der Sitten‹ als notwendiges Korrigendum anführen, das immerhin auch dem Menschen als Sinnenwesen in der eigenen Person und der Person jedes Anderen Tribut zollt. Schlatter wäre damit aber wohl nur bedingt zufrieden. Denn nichts wird man aber dagegen vorbringen können, dass es der Kantischen Ethik am Verständnis der Liebe fehlt, die für jedes christliche Ethos grundlegend ist, weil sie dem Leben und Sein des Gottessohnes folgt.32 (5) Der von Schlatter verwendete, heute aus der ernstzunehmenden Forschung verschwundene Begriff der »Nachkantianer« für Hegel, Fichte, Schelling nimmt sich linearer aus, als es den Anschein hat. Schlatter konstatiert zwar ein gemeinsames Kantisches Fundament, doch er beobachtet sehr genau, »dass der Kantianismus gleich in eine lebhaft bewegte Geschichte hineingezogen wurde« 32 Weiter ausgeführt bei W. Lütgert, Ethik der Liebe. Gütersloh 1938.

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(155): Die Verschiedenheit der Systementwürfe bedingt auch eine massive Abarbeitung an Kant, der selbst meinte, mit dem dritten Weg seiner Kritiken mehreren nachfolgenden Generationen Stoff zur Reflexion gegeben zu haben. An Fichte wird besonders hervorgehoben, dass er sich nicht nur um die Vernunft, sondern vor allem um die Wirksamkeit des Willens kümmerte (121ff). So näherte sich die nachkantianische Philosophie wieder Grundfragen von Natur, Schuld, dem Bösen, die in der Aufklärungsperiode aus dem philosophischen Diskurs verschwanden. Dieser Befund scheint nach wie vor gültig; er ist geradezu unausweichlich, wenn man das nachkantianische Denken in seiner Breite und Tiefe versteht und nicht ausschließlich auf die egologische Grundlegung aus dem Ich reduziert und späteren Implikationen die Rationalität bestreitet. Schlatter pointiert dies, indem er von einer Religion der spekulativen Kantianer spricht, die zum christlichen Glauben »eine komplizierte Verbindung von Zustimmung und Gegensatz« ausbilde (160). Damit ist ausgeschlossen, dass es eine einfache Übernahme spekulativen Denkens in die Theologoumena gibt, wie sie zu einem guten Stück den von Pannenberg subtil nachgezeichneten theologischen Weg des 19. Jahrhunderts prägte.33 Ebenso wenig ist aber eine bis heute gängige pauschale Zurückweisung des spekulativen Denkens als Usurpation des Christlichen tragfähig. Schlatter anerkennt bei Fichte, Hegel Schelling vielmehr eine neue Christologie, die zwischen Welt und Gott eine vermittelnde Mitte bildet: Es sei freilich eine Christologie ohne die direkte personale Bindung an Jesus Christus (162f), und damit ohne Frömmigkeit.34 Im Sinn dieser gnostischen Orientierung habe der deutsche Idealismus das vierte Evangelium weit über die synoptischen Evangelien gehoben. Verhüllt geblieben sei den Denkern der klassischen Zeit so auch der 33 W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich. Göttingen 1997, S. 25ff. 34 Vgl. dazu X. Tilliette, Philosophische Christologie. Eine Hinführung. Basel 1998.

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synoptische Umkehrruf zur Buße – und, vor allem, die jüdischrabbinische Wurzel christlichen Glaubens: Auch dadurch bereitet Schlatter auf eine Forschungstendenz vor, die erst in den letzten Jahrzehnten zu voller Entfaltung kommen sollte.35 Wie differenziert Schlatter sein Sujet würdigt, wird deutlich, wenn er feststellt, dass die Beurteilung konventioneller Frömmigkeit bei den spekulativen »Nachkantianern« nahe an den Positionen der Aufklärung liege, dass sie aber zugleich in ihr Forschen »eine Andacht« legten, die auch Kultus und Predigt auf neue Höhen gehoben hätte: Dieser Umstände, die Schlatter noch wie ein Enkel begreift, sollte man sich als einer Ressource jenes Denkens erinnern. Schlatter rekonstruiert die idealistischen Systemanstrengungen als vieldeutig und widersprüchlich. Die Kontinuität eines Schulzusammenhangs entwickelten sie gerade nicht, und eben darin kann ihre Fruchtbarkeit liegen: Auch dies scheint mir nach wie vor eine sehr treffende Bemerkung zu sein. Fichte und Schelling entwickelten ihre unüberbrückbare Differenz an der Frage, ob neben der Vernunftphilosophie die Philosophie der Natur Eigenständigkeit beanspruchen kann.36 Hegel und Schelling entzweiten sich an der Frage der Integrierbarkeit des Wahren, Ganzen in das System. Da jene Denker einen Großteil ihrer Systematik nicht unmittelbar veröffentlichten, hatte die Mitwelt nur teilweise Kenntnis von den Fortentwicklungen. Und man könnte, dringendes Desiderat künftiger Idealismusforschung!,37 sich auch fragen, ob sich die Wege nicht doch systematisch schneiden, auch wenn der äußerlich dokumentierte Dialog abreißt. 35 Dazu pars pro toto für eine starke und innovative Forschungslinie M. Hengel, (Hg.:) Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum. WUNT 73. Tübingen 1994. 36 Vgl. dazu Briefwechsel Fichte-Schelling, hg. von W. Schulz. Frankfurt/Main 1969. 37 Eine erste, methodologisch noch nicht durchsichtige Synopse bei W. Jaeschke, A. Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012.

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(6) Im Einzelnen: 6.1 An Fichte unterstreicht Schlatter die Fortsetzung des Freiheitsgedankens in eine konkrete Willensmetaphysik. Nicht nur um Glück, sondern auch um die Möglichkeit des Willens sich zu verwirklichen, sei Fichtes Denken gekreist (139); er habe in seiner Frühzeit aus der Kantischen Textstruktur die Konsequenz gezogen: »Gott ist nicht!« (138), eben dies führte zum Atheismusstreit. Es führte aber auch zu einer grundlegenden Revision der Fichteschen Wissenschaftslehren, die, um es nur kurz anzudeuten, seit Mitte der 90er Jahre, die denkende und sich als Willen äußernde Subjektivität nicht mehr als höchstes Prinzip verstehen, sondern als erstes Abbild des absoluten göttlichen Personseins. Diese Dimension belichtet Schlatter, mitbedingt durch die seinerzeit völlig unzureichende Editionslage, kaum. Er betont, mit einem nachvollziehbar kritischen Unterton, die nationalpädagogische, nationale und bis in den Protosozialismus des ›Geschlossenen Handelsstaats‹ leitende Linie: Doch als bleibendes Erbe hält er fest, dass Fichte den Kantischen Topos vom »Reich der Zwecke« in den Gedanken des »Reiches Gottes« münden ließ. Damit werde »Gotteskindschaft« Eigenschaft und Willensgestalt jeder einzelnen Persönlichkeit (177). Bemerkenswert ist auch, dass Schlatter die Kontinuität, die Fichte mit Kant verbindet, nicht nur philosophisch-propositional auffasst, sondern als eine Kontinuität in der »Frömmigkeit«, eben der Erhabenheit des Glaubens, definiert. 6.2 Über Schelling gibt Schlatter ein bemerkenswertes Urteil ab. Bezogen auf Schellings späte positive Philosophie der Offenbarung formuliert er, Schelling sei so nahe »an das Verständnis von Christus herangekommen […], als dies ohne Aufgabe der Kantischen These möglich ist« (191). Schlatter zielt, auf den wenigen zur Verfügung stehenden Seiten, in die Kernproblematik: Die Freilegung des Ursprung des Bösen in Schellings Freiheitsschrift von 1809. Damit stehe Schelling vor einer tiefliegenden Paradoxie: Die Anerkenntnis des Bösen legt das Zerbrechen der Einheit des Ichs nahe (188). Schelling habe diesen Bruch aber verhindern wollen. Deshalb sei es – 51 –

ihm darum gegangen, Sittlichkeit und Subjektivität und Realität zu verbinden. Schlatter meint, Schelling sei damit gescheitert, und aufgrund seiner weitreichenden Anerkenntnis von Negativität vom allgemeinen Bewusstsein »abgestoßen« worden (188). Zuerkennen kann er, dass Schelling vom Willensvorgang her aus seiner Potenzlehre die Trinität spekulativ zu begründen versucht – und einen eminenten Begriff von Liebe in seinen Gottesbegriff einführt, eine singuläre Konstellation in der nachkantischen Philosophie. Dass Schlatter es als Tragik Schellings oder auch als Indiz philosophischer Unzulänglichkeit versteht, dass Schelling »zwei Philosophien«, eine erste mit Platon und Kant eine zweite, orientiert an Jacob Böhme, entwickelt, wird man heute revidieren müssen. Ist es nicht vielmehr ein Zeichen intellektueller Redlichkeit, wenn derart die Statik der Systembegriffe aufgebrochen wird, in Vorbereitung einer modernen Philosophie, die Wege, nicht Werke kennzeichnen sollte? Doch kongenial anerkennt Schlatter die Schellingsche Einsicht in seiner ›Einführung in das akademische Studium‹, die Theologie mit Geschichte verknüpft zu haben. Geschichte ist für Schelling per se nicht apriorisch konstruierbar. Sie betrifft eine ›Quaestio facti‹, an deren Realität kein Weg vorbeiführt: Schelling habe sich vor allem auf diese Geschichtlichkeit und das in ihr sichtbar werdende Wesen des Christentums bezogen. Die Innerlichkeit des Bildes von Christus im Menschen, die bei Fichte eine derart nachhaltige Wirkung entwickelt, tritt bei Schelling dagegen zurück. 6.3 Wie nahe Schlatter sich in seinem eigenen Denkansatz Franz von Baader wusste, geht aus seiner Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie eindrucksvoll hervor.38 Die Überblicksvorlesung lässt diese Nähe nur zwischen den Zeilen ahnen: Er betont wiederum, ähnlich wie bei Fichte, Aspekte des praktischphilosophischen, und explizit politischen Denkens von Baader. 38 Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie, insbes. S. 153ff.

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Baader ging es um die Begründung der Gesellschaft als einer Überlieferung und Zukunft verbindenden Sozietät, die nicht auf Zwang und Sanktion begründet ist. In ihr ist Gesellschaft als positive Schöpfung Gottes zu verstehen, an der auch der gefallene Mensch noch Anteil hat: auch das Proletariat ist nach Baader Teil dieser Sozietät, die diesseits von Sozialismus und Kapitalismus situiert ist. Den theosophischen Akzent Baaders, seine proto-ökumenische Kraft erwähnt Schlatter kaum. Wohl aber unterstreicht er, dass Baader Kant insofern folgt, als auch er beim Begriff der Erfahrung ansetzt. Doch Erfahrung ist nicht nur auf Erscheinungen bezogen. Sie ist die Realität, von der wir in unserer Welterkenntnis ausgehen sollten. Damit nähert sich Schlatter, wo er bei Baader anlangt, dem Kern seines eigenen Denkens. 6.4 Es ist von heute her sicher ein gravierender Mangel, dass Schlatter Hegels Philosophie von der Apparatur einer »Scholastik« her versteht, deren Ziel »Dogmenbildung« sei (199). Auch dass Hegel wie Kant Kategorien »sammle« (203), ist eine seit grundlegenden Forschungen zur Hegelschen Logik in den letzten Jahrzehnten unhaltbare Auffassung.39 Hegels ›Logik‹ geht es ja gerade um die Begründung von Kategorialität selbst, die bei Kant, nach seinem Urteil, unterblieb. Und: Schlatter reduziert Hegel im Wesentlichen auf den Denker der Vernunft in der Geschichte und eines absoluten Staates. Die eigentliche Sphäre des Absoluten, in Kunst, Religion und Philosophie als mögliches Corrigendum des Hegelschen objektiven Geistes thematisiert er kaum. Schlatter warnt hier in einer Einseitigkeit, die sich in seinem Kollegtext sonst nicht finden lässt, vor Hegel-Epigonen und er konstatiert, »dass die ausschließliche Pflege des Denkens, obwohl das Denken unzweifelhaft eine Funktion Gottes und des Menschen ist, verheerende Folgen hat, weil sie 39 Initiiert wurden diese Forschungen durch die magistralen Arbeiten von D. Henrich und M. Theunissen aus den siebziger Jahren, vgl. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt/Main 1978.

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die eigenständige Fesselung des Willens nicht durchbricht, sondern verstärkt« (217). Theologen und Philosophen wie Wolfhart Pannenberg40, Michael Theunissen41, Günter Rohrmoser42 und Hans Küng43 konnten zeigen, wie fruchtbar Hegel umgekehrt für ein Denken christlichen Glaubens und nicht zuletzt die begriffliche Diagnostik der säkularen Moderne ist. Die Sphäre des absoluten Geistes führt bei Hegel auch zu der Auffassung, dass das Erbe des christlichen Logos in der »Flucht in den Begriff« zu retten und zu rechtfertigen ist, obwohl dies, was Hegel keineswegs unterschlägt, auch einen Verlust bedeutet, da die Philosophie eben nicht des Kultus und der unmittelbaren Vergegenwärtigung des Glaubens fähig ist. Durch Hegels ›Aufhebung‹ christlichen Glaubens in den Begriff verläuft signifikant die Beziehungslinie zwischen Glauben und Vernunft. Das Schlattersche Problem dogmatischer theologischer Hegel-Epigonen wird man heute kaum mehr haben, wohl aber die auch Schleiermacher bewegende Frage, das Christentum in eminenter Weise als »denkende Religion« (C. H. Ratschow) verständlich zu machen. 40 W. Pannenberg, Problemgeschichte, a.a.O., S. 20ff. Zur Übersicht Th. Oehl, Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg. Göttingen 2016, S. 233ff. 41 M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologischpolitischer Traktat. Berlin 1970, S. 15ff. 42 G. Rohrmoser, Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel Gütersloh 1963, sowie die umfangreiche Nachlassedition: Günter Rohrmoser: Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums. Hg. von H. Seubert. St. Ottilien 2009. 43 H. Küng, Gott. Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie, Ökumenische Forschungen II. 1, Freiburg/Basel/Wien 1970. Neuausgabe München 1989 mit neuem Vorwort.

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6.5 Ambivalenter fällt die Darstellung Schleiermachers aus. Schlatter sieht es als Schleiermachers Aporetik, ein kantisches Christentum, bzw. einen christlichen Kantianismus vertreten zu haben-, eine »Religionsmengerei« (217), die nur habe scheitern können. Dass Schleiermacher in seinen ›Reden‹ Religion primär auf das Gefühl stützte, namentlich das »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«, ein Skandal für Hegel, würdigt Schlatter: Man könne diese Sicht nur angemessen verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund des Verstandesmechanismus der Aufklärungsepoche sehe. Die Inhaltsleerheit des Glaubens, die Kant zurückließ, führe bei Schleiermacher zu der Einsicht: »nicht jenseits des Bewusstseins, im Bewusstsein macht sich Gott kund« (220). Und einer Verabsolutierung von Freiheit antworte wiederum die Akzentuierung der »schlechthinnigen Abhängigkeit«, als einer unwiderleglichen Ligatur auf Gott und das Göttliche. Schleiermacher könne zwar die »Schwächung der Kirche« im Aufklärungszeitalter nicht mehr grundsätzlich revidieren. Deshalb trete eine universale Weltfrömmigkeit an die Stelle des aufklärerisch bewusst desavouierten Kirchenglaubens. Als zentrale Leistungen Schleiermachers hält Schlatter fest, dass er zumindest für seine eigene Zeit überzeugend der Intention gefolgt sei, einen versöhnenden Frieden zwischen Wissenschaft und Frömmigkeit herzustellen, was für kulturelle Lebenswelten und christliche Gemeinden nicht ohne Bedeutung ist, innerkirchlich aber den »Friedensschluss« zwischen dem Christen und dem Theologen erforderlich mache (225). Dennoch sei dieser Versuch letztlich zerbrochen, – da sich weder Theologie noch Philosophie an die abgezirkelten Grenzlinien hielt: in einer kirchen- und theologiegeschichtlichen Epoche, in der das Schleiermachersche Profil als einer Art Lingua franca eine fast unbefragte Gültigkeit zuerkannt wurde, wird man den Gedanken vielleicht besser anders wenden und fragen können, ob diese Versöhnung und Friedensstiftung durch Grenzziehung zu lösen ist oder ob nicht eher Grenzüberschreitung und Korrespondenz nottut.44 44 Zu einer auch kritischen heutigen Belichtung Schleiermachers vgl.

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In aller Klarheit zeigt Schlatter aber, dass das Eigenrecht des Wortes Gottes, seine Wirklichkeit schaffende und verändernde Kraft, bei Schleiermacher zerrissen werde, wodurch die verbindliche Kraft des Glaubens unterminiert zu werden droht. Es wird aber ein umso größeres Positivum vermerkt: Schleiermacher habe, in Kantischen Grenzlinien, ein persönlich direktes Verhältnis zu Jesus Christus wiedergewonnen. Damit kommt ihm eine singuläre Stellung unter den Nachkantianern zu. Und: Bei Schleiermacher wird offensichtlich, dass Theologie »Bildung der religiösen Sprache« (227) sei, im weitesten Sinne, auch in Kunst, Geselligkeit und den impliziten oder expliziten Akten, die Schleiermacher in den Blick nimmt. Dass der Schleiermachersche Gefühlsbegriff über das phänomenale Gefühl hinausgeht, und in den Gefühlsbegriff eine innere Kausalität einbezieht, eine Wirksamkeit, die im Sinn von Schlatter aber nicht auf Denkgesetze zu reduzieren ist, weist nach Schlatter auf einen umfassend »personhaften Prozess« (233) hin. 6.6 Der heute weitgehend vergessene Herbart ist vor allem aufgrund seines ethischen Ansatzpunktes für Schlatter relevant. Ausgangspunkt ist, dass das Ich sich selbst ein Rätsel bleibt, und daher gerade nicht zum ›fundamentum inconcussum‹ geeignet ist (239). Ethik wird bei Herbart, wie bei Schleiermacher die Religion, in Unabhängigkeit gegenüber Metaphysik und Wissenschaft expliziert, wobei stabile Urteilsbildung und die Zielbestimmung des »Wohlwollens« (245) im Zentrum stehen. Ob die sittlichen Ideen Herbarts – u.a. die Vermeidung des Streits und die Vergeltungsregel, eine durchgreifende Evidenz zeitigen und ob sich zwischen theoretischen Urteilen und Werturteilen strictu sensu unterscheiden lässt, lässt Schlatter offen. Die dialogische Dimension, die er Herbart abspürt, dürfte nach wie vor Gewicht haben. Herbart geht es nicht um den einzelnen Willensakt, sondern um das Verhältnis von Volitionen aufeinander. S. Grosse (Hg.), Schleiermacher kontrovers. Leipzig 2018, mit Beiträgen von S. Grosse, D. von Wachter, N. Slenczka und H. Seubert.

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Aufgeworfen wird durch die Herbart-Referenz aber grundsätzlich die Frage, ob eine größte mögliche Unabhängigkeit der Gemeinde von Wissenschaft und Metaphysik wünschenswert ist, die Kultivierung der eigenen Provinz im Gemüte, auf die je spezifisch Schleiermacher und Herbart zielen. 6.7 Die Epochendurchsicht schließt mit Schopenhauer und Nietzsche. Dem Schopenhauerschen Pessimismus weist Schlatter zu, dass er bei allem ästhetischen Glanz (man mag an Wagners Realisierung denken), letztlich gerade nicht Frieden, Quietiv erzeugt, sondern eine Anmutung von Kampf und Hass, der erstmals »in öffentlicher wissenschaftlich begründeter Autorität bekleidet wurde und zur Nation sprechen darf« (255). Ihm entgeht nicht der Antisemitismus, der sich von Schopenhauer zu Nietzsche und weiter zog (259), wobei das abwertende Urteil über Juden auch die Wurzel christlichen Glaubens treffen sollte. Nietzsches Versuch, eine psychologische Genealogie des Christentums als seine Widerlegung auszumünzen, überzeugt Schlatter in keiner Weise. Damit verbindet er ein Gegenargument, das mehr noch als Nietzsche selbst, einen relativierenden Historismus trifft. »Als ob es irgend einen uns berührenden Vorgang gäbe, der nicht durch Geschichte entstanden wäre« (259). Und wenn Nietzsche, in dessen Kolleg der junge Schlatter ja gesessen hatte und dessen Unterschrift in seinem Kollegheft steht, mit Pathos bemerkt, es habe nur einen einzigen Christen gegeben und der starb am Kreuz, so ist Schlatter davon nicht nachhaltig beeindruckt. Nietzsche habe nur die Machtlosigkeit, das Leiden Jesu gesehen. Als Philosoph und Poet, dem es an historisch-philologischer Kraft fehlte, habe Nietzsche die Schwäche Jesu überbetont. Die Macht Jesu und seine verborgene Souveränität habe Nietzsche nicht sehen können. Sie sei ihm verschlossen geblieben, weil der Wille zur Macht für ihn der grundlegende letzte Gedanke war. Auch darüber lohnte sich weiteres Nachdenken. Denn hätte Nietzsche nicht durch seinen »amor fati«-Gedanken auch andere Konsequenzen ziehen können? – 57 –

6.8 Eine knappe, aber wichtige Reminiszenz gilt Darwin und der Freilegung der Entstehung der Arten im Zug der Evolution. Schlatter feiert die Veränderung des Artbegriffs als einen »glänzenden Fortschritt der Naturwissenschaft« (272); und nennt es »barock« und alles andere als verständlich, dass dieser irreligiös gewirkt hat (272). Hier sieht Schlatter, durchaus originell, eine Verwirrung der Aufklärung, einen Cartesischen Grundirrtum, der sich unbefragt mit allgemeinem Denken verbunden habe: dass für Theologie und Glaube erst der Rahmen entstehe, wenn die Naturwissenschaft an ihre Grenze stößt. Dies variiert den alten Topos, dass Gott eine zu starke Hypothese sei. An sie darf sich Theologie nicht binden.

IV Sie hat deshalb durchaus eine für die Denkkultur im Ganzen entscheidende Bedeutung. Und es bedeutet keineswegs den Rückzug in ein Ghetto, wenn Schlatter im Ergebnis seines Buches dafür plädiert, dass die Kirche selbständig sein, bzw. werden soll, dass sie ihren Frieden damit zu machen hat, nicht ohne weiteres das allgemeine Bewusstsein bestimmen zu können. Das Neue Testament scheidet selbst eindeutig und klar zwischen »Welt« und »Gemeinde Gottes«: (283). Dieser Zeugnis- und Eigenständigkeitscharakter schließt aber vielfache Korrespondenzverhältnisse zwischen Kirche und Welt gerade nicht aus; vielmehr sind sie durch »Gabe« und »Gegengabe« miteinander verbunden. Eine Kirche, die sich der Welt nicht angleicht und insofern ganz Kirche bleibt, ist gerade nicht weltfremd oder weltlos – eine Einsicht, die man gerade dem gegenwärtigen Protestantismus mit seinen zeitgeistkonformen Tendenzen ins Stammbuch schreiben möchte! Deshalb votiert Schlatter am Ende temperamentvoll und in Worten, deren Wahrheit heute mindestens so aktuell ist wie seinerzeit dafür, der Rechenschaft fähig zu sein: »Die Kirche von heute muss lehren können, nicht ihre Einfälle, auch nicht Philosophie, auch nicht irgend ein dogmatisches System, sondern begründen soll – 58 –

sie ihre Erkenntnis, und nur so wird sie sie bewahren, Gewissheit Gottes erwecken; denn sie findet sie nicht schon vor. Nicht Fremdes soll sie lehren, nicht Mischreligionen schaffen; sie soll lehren, was ihr anvertraut ist, was sie von dem, der sie schuf, empfangen hat. Um zu lehren, muss sie denken; denn ohne Denken gibt es kein Erkennen, und die Notwendigkeit, dass wir denken müssen, steht durch den Verlauf und Ausgang unserer philosophischen Geschichte felsenfest« (287). Diese »felsenfeste Einsicht« begründete Schlatter in einem Text, der sich bis heute wie kaum ein zweiter für eine eigenständig theologische und zugleich sympathetische Annäherung an die Philosophie der Neuzeit eignet: Für Theologen, in allen Semestern, und als inspirierender nächster Fremder Blick ebenso auch für Philosophen. Deshalb ist es wichtig und gut, dass dieser Klassiker nach langen Jahren in neuer Gestalt erscheint. Dr. Werner Neuer und Dr. Gerhard Schlatter ist für die Initiative herzlich zu danken. Dieser Klassiker bedarf nicht der historischen Kommentierung. Er kann wirken. Manche Einzelheiten wird man anders sehen, als Schlatter sie sah. Doch die meisten übergreifenden Urteile sind von einer geradezu bestechenden Klarheit! Dass dies nicht von Ungefähr kommt, sondern aus einer tiefen Aneignung der Philosophie und ihrer systematisch-kraftvollen, wenn auch nicht dogmatischen Durchdringung, kann man aufgrund der seit 2016 vorgelegten Nachlassedition klarer sehen, auf die im vorigen mehrfach verwiesen wurde: Sie flankieren diesen Wiederabdruck. Basel, Nürnberg im Juli 2018

Harald Seubert

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Gerhard Schlatter

Zur sechsten Auflage Werner Neuer, der große Schlatter-Kenner, hat immer wieder darauf hingewiesen, daß es insbesondere im Zusammenhang der Erstveröffentlichung der beiden frühen philosophischen Werke45, die die Adolf-Schlatter-Stiftung unter dem Haupttitel »Das Verhältnis von Theologie und Philosophie« herausgebracht hat, dringend notwendig sei, das inzwischen vergriffene Werk »Die philosophische Arbeit seit Cartesius« dem Leser wieder zugänglich zu machen. Dem sind wir von der Stiftungsseite gerne nachgekommen, so daß nun ein kleines philosophisches Gesamtopus Adolf Schlatters entstehen konnte. Von einem extra Schuber, der die drei philosophischen Abhandlungen Schlatters auch äußerlich zusammenfassen könnte, haben wir abgesehen, da alle Bücher auch online als ebook erhältlich sind und wahrscheinlich vor allem über diesen Weg Verbreitung finden. Bei dem nun vorliegenden Text handelt es sich um den unkorrigierten Ursprungstext der dritten Auflage.46 Man wird sich an man45 Adolf Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I. Die Berner Vorlesung (1884): Einführung in die Theologie Franz von Baaders. Stuttgart 2016; und Ders., Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II. Die Berner Vorlesung (1983): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis. Stuttgart 2019 46 Die vierte Auflage wurde von meinem Großvater Theodor Schlatter, dem Sohn Adolf Schlatters in bester Absicht in Form und Sprache überarbeitet, um dem Leser den Zugang zu erleichtern. Was damals möglicherweise sinnvoll erscheinen mochte, läßt sich heute unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht mehr rechtfertigen.

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chen (wenigen) Stellen sicherlich ungewohnten Worten,47 die dem schweizer Sprachduktus enstammen, oder heute nicht mehr gebräuchlichen Wendungen48 gegenüber sehen. Aber dies sind kleine Erschwernisse im Vergleich zu der ursprünglichen Kraft des Originaltextes.49 Textstellen, die man für einen Rechtschreibfehler halten könnte, aber Originaltext sind, wurden mit [sic] gekennzeichnet. Ausdrücklich hinweisen möchte ich auf die drei Geleitworte. Jedes für sich ist unbedingt lesenswert und alle zusammen sind eine spannende Reise durch die philosophische Zeitgeschichte, in der Schlatters zeitloses Werk immer wieder neu verortet wird. In jedem dieser Geleitworte kommt die über der Zeit und ihren Strömungen stehende Bedeutung und somit die Aktualität des vorliegenden Werkes zum Ausdruck. Ein besonderer Dank gebührt Christina Ahr, die in detaillierter Kleinarbeit das von der altdeutschen Schrift transkribierte Material durchgesehen hat. Enzen, Tübingen im Juli 2019

Gerhard Schlatter

47 So kommt z.B. mehrfach das Wort »Woller« vor, bei dem wir uns gefragt haben, was es wohl bedeuten könne, bis sich die einfache Erklärung öffnete: Ein Woller ist einer, der etwas will. 48 Schlatter verwendet etwa »Theolog« statt »Theologe« oder »im Unterschied vom« statt »im Unterschied zu«. 49 Selbstverständlich haben wir auch darauf verzichtet, die neue deutsche Rechtschreibung über den Text zu pressen.

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Adolf Schlatter

DIE PHILOSOPHISCHE ARBEIT SEIT CARTESIUS

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1. Zur Verständigung Die geistige Arbeit, die durch Cartesius und seine Nachfolger bis herunter zu den heutigen Kantianern, Agnostikern und Monisten geschehen ist, hat zum Teil wissenschaftliche Motive und demgemäß auch wissenschaftliche Erträge und nimmt unter diesem Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit aller in Anspruch, die an der wissenschaftlichen Arbeit beteiligt sind. Allein damit, daß wir uns verdeutlichen, aus welchen Vorstellungen und Urteilen der Gedankengang unserer Philosophen besteht, was für Gründe ihn hervortrieben und wie er demgemäß wieder in die intellektuelle Bewegung unserer Völker eingegriffen hat, damit also, daß wir die Philosophie als einen Vorgang innerhalb des menschlichen Denkens begreifen, ist unsere Beziehung zu dieser merkwürdigen und wirksamen Reihe von Ereignissen noch nicht erschöpft. Denn es gingen und gehen von ihnen auch ethische und religiöse Wirkungen aus, deren Studium für uns alle, die wir uns mit wissenschaftlichem Ernst die Zustände der Gegenwart und die Bewegungen unseres eigenen Bewußtseins zu verdeutlichen suchen, Wichtigkeit hat. Vielleicht widersetzt sich dieser Zielsetzung die Einrede, sie sei von ihrer Wurzel aus unphilosophisch, da sie die Wirkungen der philosophischen Arbeit beobachten wolle, während diese gegen alle Resultate unbekümmert sei und ihre Reinheit darin besitze, daß sie einzig das Erkennen oder, wenn sie auf dieses verzichtet, wenigstens noch das Denken als ihr Ziel vor sich habe. Die Reinheit unserer Denkarbeit, die alle fremden Zwecke ausstößt, hebt aber niemals auf, daß Wirkungen aus ihr entstehen, völlig unabhängig von der Voraussicht und Zwecksetzung des Philosophen. Mag er gegen den Begriff »Resultat« als gegen eine Erniedrigung der Wissenschaft protestieren, so wird dadurch der Lebensvorgang nicht unterbunden und die Geschichte vollzieht sich – 65 –

über die Bewußtseinsgrenzen und die Ziele der Denker hinweg. Die tatsächlich gegebene Organisation unseres Lebens bringt beständig unsere geistigen Funktionen miteinander in Verbindung und befruchtet das Denken und das Wollen aneinander. Auch wenn wir eine von der Praxis gänzlich geschiedene Theorie anstreben: deshalb müssen wir doch handeln und können es nur so, daß unser theoretischer Besitz unser Wollen und Handeln formt. Die Konzentration der Denkarbeit auf sich selbst ist dabei völlig berechtigt als Schutz gegen alle voreiligen Vermengungen des Wollens und Denkens; sie bewirkt aber nie, daß die Denkgebilde, die in der wissenschaftlichen Arbeit entstehen, nicht auch als Motive wirken, da wir die Einheit des Personlebens nie aufzuheben vermögen und ebenso wenig die Einheit der sozialen Formationen beseitigen können, durch die die Geschichte der einzelnen Persönlichkeit mit der Gesamtgeschichte verflochten wird. Für die Sittlichkeit und die Religion treten solche Beziehungen zur philosophischen Arbeit schon deshalb unvermeidlich ein, weil es zur Eigentümlichkeit derselben gehört, daß sie ein Urteil über alle sittlichen und religiösen Vorgänge fällt. Es gibt keinen in dieses Gebiet hinübergreifenden Begriff, den die Philosophen nicht bearbeitet hätten. Natürlich bleibt das nicht ohne Ertrag, sondern wirkt in unserem Gemeinleben als Gärungserreger (Ferment). Zu diesen Eingriffen in die sittlichen und religiösen Vorgänge ist die philosophische Arbeit unmittelbar durch ihr Ziel veranlaßt, dadurch nämlich, daß sie für unser Erkennen nach Einheit und Ganzheit strebt, und dieses Ziel hat wiederum in den geschichtlichen Bedingungen dieser ganzen Arbeit seinen festen Grund. Es heftet sich an sie unablöslich die Erinnerung an das griechische Ideal für das Erkennen; dieses bestimmt den Begriff »Philosoph«. Auch die neuere philosophische Bewegung von Cartesius zur Gegenwart herab verleugnet diesen Zusammenhang nie. Die griechische Philosophie war aber sehr ernsthaft ein Glied der griechischen Religionsgeschichte. Ebenso ist ihre Verbindung mit der christlichen Theologie, die das Zwischenstück zwischen Plotin und Cartesius herstellt, ihrerseits ein wichtiges Glied der christlichen Religionsgeschichte. Nachdem in der Kirche die beiden Überlieferungsströme zusammengeflossen waren, der aus – 66 –

Jerusalem stammende und der von Athen her kommende, und nachdem die Versuche, beide völlig zu verschmelzen, mißlungen waren, wurden beide kombiniert und damit nicht eine, sondern zwei letzte Wissenschaften herausgebildet: Philosophie und Theologie, jene auf Aristoteles, diese auf die Bibel gestützt. Zunächst wurde durch ein Verhältnis der Über- und Unterordnung zwischen ihnen die Einheit hergestellt; mit der Renaissance jedoch und noch mehr mit Cartesius kommt die bisher gültige Verbundenheit beider ins Schwanken. Schon damit war bewirkt, daß die neue Entwicklung der philosophischen Arbeit die vorhandenen ethischen und religiösen Bildungen in eine lebhafte Bewegung versetzt hat. Sie werden auch in der Gegenwart immer mitbewegt, auch wenn die direkten Nachwirkungen des griechischen Denkens verblassen. Denn mit dem Gottesgedanken ist unserem ganzen geistigen Leben ein letzter, höchster Gedanke übergeordnet, der ihm die Einheit gibt. Da nun die Philosophie ihrerseits die Frage nach dem letzten Erkennbaren und nach der Einheit im Bereich des Geschehens und Denkens mit Bewußtsein stellt, so schafft sie durch die Weise, wie sie dieses Letzte, Einheit Schaffende bestimmt, fortwährend Parallelgebilde zum Gottesgedanken. Sie deutet weiter unser Selbstbewußtsein und berührt damit auch den Willensvorgang und die für ihn gültigen Normen. Jede Anthropologie hat ihre besondere Ethik und neue Anthropologie gibt neue Ethik. Daraus ergibt sich die beständige Wechselwirkung zwischen der Art, wie wir wollen, und unserer Philosophie. Die Beziehungen, die hier walten, sind auch keineswegs einseitig, so daß nur von der philosophischen Arbeit aus Einwirkungen auf die übrigen Formationen unseres geistigen Lebens ausgingen, sondern sie treten ebenso deutlich und wirksam in der andern Richtung hervor, daß der Stand der Sittlichkeit und des Gottesbewußtseins die philosophische Arbeit als konstitutiver Faktor mitbedingt. Wir würden daher unser Beobachtungsgebiet willkürlich verengern, wenn wir die ethischen und religiösen Wirkungen, die sich hier zeigen, nur an die speziellen Ausführungen der Philosophen über die ethischen und religiösen Vorgänge anhefteten, so daß z.B. bei Leibniz, nur an seiner Theodizee, bei Kant nur an seinen – 67 –

Ausführungen über die praktische Vernunft und die Religion ihre Einwirkung auf die Gesamtheit beobachtet würde. Damit wäre die innere Einheitlichkeit des Vorgangs, den wir Philosophie heißen, unterschätzt. Sie wirkt als Ganzes und die Einzelheiten, die unmittelbar unser Gebiet berühren, erhalten ihre Wirkungskraft gerade dadurch, daß sie in ein größeres Denkgebilde eingefügt sind und einer »Weltanschauung« angehören. Nicht erst dadurch, daß der Philosoph auch noch Ethiker und Theolog [sic] wird, erzeugt er ethische und religiöse Erträge, sondern er schafft solche als Philosoph und die Tatsache, daß er schon sich selbst derweilen zum Moralisten und Religionslehrer macht, zeigt nur, wie unvermeidlich jene Erträge aus feiner Arbeit hervorbrechen. Unsere Aufmerksamkeit gilt hierbei nicht nur den theologischen Erträgen der philosophischen Arbeit, sondern den religiösen, nicht ihren Einwirkungen auf die Ethik als Wissenschaft, sondern auf die Ethik als reale Willensformation. Wir fassen nicht die Geschichte der Theologie ins Auge, sondern die Geschichte der Religion, nicht die Geschichte der Sittenlehre, sondern die der Sittlichkeit, und die Frage ist die, wie im realen ethischen und religiösen Besitz unserer Völker durch die Philosophie Wandlungen entstanden sind. Natürlich ist die Geschichte der Theologie und Morallehre für unseren Zweck ein höchst lehrreiches Hilfsmittel. Nur reicht unsere Fragestellung über den Theologen und Moralisten zu den realen Vorgängen hinab, auf die sich ihre theoretischen Aussagen beziehen. Achten wir auf die ethischen Wirkungen, so suchen wir wahrzunehmen, was unter uns als Wille hervortritt, durch den wir unser Handeln auf unsere Umgebung bestimmen. Zur Bildung unseres Willens verwenden wir Normen oder Zweckgedanken, auf deren Inhalt die philosophische Arbeit Einfluß hat. Religion existiert unter uns, soweit ein Gottesbewußtsein vorhanden ist, das die Lebensführung irgendwie bestimmt. Wir fragen also, wie das Gottesbewußtsein und die Art, wie es die Lebensführung gestaltet, durch die Philosophie Wandlungen erfahren habe. Die Aufgabe, die damit beschrieben ist, fällt nicht in den Bereich der philosophischen Arbeitsweise, sondern beruft uns einfach zur Beobachtung, zur Wahrnehmung von Tatbeständen. Das größere Ganze, dem – 68 –

sie sich eingliedert, ist die Geschichte, die des Denkens und Wollens unseres Volks. Es gibt auch zahlreiche philosophierende Darstellungen dieser Ereignisse, die ihr Merkmal darin haben, daß sie die eigene Philosophie des Darstellers als Maßstab an die Geschichte anlegen und diese zur negativen und positiven Begründung des eigenen Systems verwerten. Die früheren Philosophen erscheinen so als die Vorgänger für die eigene wissenschaftliche Arbeit des Darstellers und der Beitrag, den sie ihm zu dieser leisten, wird abgeschätzt. Der Theolog [sic] hat nicht den Beruf, eine eigene Philosophie auszubilden und ihr Recht an der Kritik der älteren Philosophen darzutun. Er hat zwar in und mit dem Gottesbewußtsein die Überzeugung von der Einheitlichkeit und Intelligibilität alles Geschehens, unterscheidet sich aber vom Philosophen dadurch, daß er dieses alles umfassende Erkennen nicht von sich, sondern von Gott aussagt. Er lehrt zwar, daß die Dinge deshalb sind, weil sie gewußt und regiert sind, daß sie demgemäß untereinander zu einem einheitlichen Geschehen verknüpft sind; er lehrt aber nicht, daß er, der Theolog [sic], diesen Zusammenhang durchschaue, wisse und durch ein System benenne. Jeder echte Theolog [sic] ist Beobachter, nicht Konstrukteur, und denkt auf Grund des Gegebenen, nicht »a priori«, weil wir göttliche Gedanken nur dann und nur so weit fassen, als diese in der Geschichte erscheinen und offenbar geworden sind. Jene »höhere Warte«, von der aus alle älteren Systeme sich nur als zum eigenen Standort emporführende Stufen darstellen und diesem dadurch unterworfen werden, ist dem Theologen versagt; dafür ist ihm aber das nicht weniger fruchtbare Geschäft zuteil geworden, sein Auge an der Wirklichkeit zu haben und Geschichte, d.h. Geschehenes und Geschehendes, zu sehen. Gegen die Erfüllbarkeit der Aufgabe stellen sich freilich die Bedenken ernst genug ein. Wie in der Natur, so stoßen wir auch hier sofort sowohl auf die Unermeßlichkeit als auf die Verborgenheit des Geschehens. Wir suchen Vorgänge zu beobachten, die sich in den großen Sozietäten zutrugen, nach der ethischen Seite im Volkstum, nach der religiösen in der Kirche. Aber die Bewegungen der Sozietäten sind durch die ungezählten Lebensläufe der Einzelnen bedingt, von denen jeder für sich wieder eine Unendlichkeit des – 69 –

Geschehens in sich birgt. Haben wir denn eine Geschichte der Ethik und der Religion, auch nur für Deutschland, auch nur für die vor uns stehende Generation? Es muß uns die Überzeugung als selbstverständlich bei der ganzen Arbeit begleiten, daß hier alle Beobachtung immer nur ein Minimum bleibt neben der ihr zum Objekt dienenden Unendlichkeit und Unergründlichkeit des Geschehens. Die Größe einer Aufgabe entbindet nie von ihrer Bearbeitung und die Eigentümlichkeit des philosophischen Denkens erleichtert die unsrige. Neues und Originales tritt hier in den Geschichtslauf hinein und setzt sich zur gegebenen Sittlichkeit und Religiosität in deutlich erkennbare Beziehungen, und der Zeitraum ist groß genug, daß sich wahrnehmbare Wirkungen der philosophischen Arbeit herausbilden konnten. Die von ihr erregten Schwingungen verbinden sich freilich sofort und unlöslich mit den von den übrigen Faktoren des Geschichtslaufs erzeugten Bewegungen und eine exakte Ausscheidung, was hier der einen oder der anderen Potenz zugehöre, die den Geschichtslauf bestimmt, ist völlig undurchführbar. Es sind aber schon damit bestimmte Erkenntnisse gewonnen, wenn wir uns zu verdeutlichen vermögen, in welcher Richtung der vom philosophischen Gedanken ausgehende Impuls auf den Geschichtslauf eingewirkt hat. Durch die Aussonderung unseres Arbeitsgebiets aus der Gesamtgeschichte wird eine gewisse optische Täuschung unvermeidlich, welche die Bedeutung der philosophischen Arbeit zu hoch einschätzt gegenüber denjenigen Faktoren, die für jetzt nicht in das Sehfeld eingestellt werden. Der blendenden Einwirkung dieser Täuschung widersetzen wir uns durch die Erinnerung an die Tatsache, daß das menschliche Bewußtsein und Wollen nie bloß durch diejenigen Erträge, die in der wissenschaftlichen Arbeit entstehen, seinen Inhalt empfängt. Es fehlt übrigens auch in der Geschichte der philosophischen Arbeit keineswegs an Vorgängen, die uns daran erinnern, daß die menschliche Geschichte nicht allein durch Denkarbeit, noch weniger allein durch die der Philosophen, hervorgerufen und geleitet wird. – 70 –

2. Der neue Anfang des Denkens in Cartesius Im Discours de la méthode hat uns Cartesius die Vorgänge beschrieben, durch die er zum Philosophen geworden ist. Er beurteilt das Ergebnis seiner Bildung negativ und sagt sich, daß er überhaupt kein gesichertes Wissen habe. Allen in seiner Bildungszeit ihm vermittelten Vorstellungen entzieht er das Vertrauen und entfernt sie vorerst aus sich. Er macht sich völlig selbständig mit dem Entschluß: »an allem zu zweifeln«. Das Mittel, durch das er den Zweifel überwinden will, ist das »Denken« und die Methode, durch die er sich das Denken erwerben will, ist die Gewöhnung an die mathematische Exaktheit in der Urteilsbildung. Cartesius entschloß sich zur reinen Rationalität. Der Vorgang ist in allen seinen drei Merkmalen typisch: in der Begründung der Wissenschaft auf den unbeschränkten Zweifel, in der Konzentration des Denkenden in sich selbst, im Bemühen, durch reines Denken Überzeugung zu begründen. Diese drei Merkmale der cartesianischen Arbeit bestimmen die Folgezeit weithin, und an allen drei Stellen tritt sofort ein deutlicher Gegensatz zum gegebenen Bestand des allgemeinen Bewußtseins ans Licht. Hier entsteht ein Neues und die Verhandlung zwischen ihm und der bisherigen Tradition, die das Denken und Wollen der Völker zunächst formt, muß lebhaft werden. Denn das die Öffentlichkeit bestimmende Bewußtsein sah im Z w e i f e l eine Abnormität, im G l a u b e n dagegen das normale Verhalten, verwarf die I s o l i e r u n g des Einzelnen und hielt seine Te i l n a h m e an der Sozietät für Pflicht und bildete seine letzten Überzeugungen nicht durch R a t i o n a l i s m u s , sondern mit solchen Begriffen, die aus dem W i l l e n s v o r g a n g entstehen und darum durch die Geschichte ihre Verdeutlichung bekommen. – 71 –

Als Cartesius von sich den radikalen Zweifel forderte, tat er es mit dem klaren Bewußtsein von der Abnormität desselben, nicht, um in ihm zu verharren, sondern nur dazu, damit das Erkennen gelinge. Der Zweifel wird nur als Anfang, nur als Mittel zur Befreiung gewollt. Aber wenn er auch sofort entschlossen über ihn hinausstrebte, so bekam doch seine ganze Gedankenbildung dadurch ihre Richtung und ihren Inhalt, daß sie ihren Ursprung im vollendeten, vor nichts zurückbebenden Zweifel hatte. Um Cartesius her galt der Zweifel überall als »Anfechtung«, wodurch bei der Wertung des Zweifels ethische Normen zur Verwendung kommen, weil der Denkvorgang unmittelbar mit den zentralen Vorgängen des persönlichen Lebens verbunden und nach den Erträgen, die er für dieses herstellt, gemessen wird. Die entgegengesetzte Beurteilung des Zweifels wurde Cartesius nur dadurch möglich, daß er sein Denken von den übrigen inwendigen Vorgängen ablöst und es als in sich abgeschlossene Funktion ausbildet, die ihren Zweck in sich selber habe. Darum gilt jedes Verhalten als richtig und erwünscht, das den Denkvorgang steigert und seinen Ertrag vermehrt. Von diesem Standort aus erscheint nun der Zweifel nicht nur als ungefährlich, sondern als unerläßlich; nun wird er ein unentbehrliches Glied der wissenschaftlichen Methode, so daß sich in der Entschlossenheit, mit der der Denker zweifelt, seine Größe zeigen soll. Dadurch ist Cartesius der Typus des »Freidenkers« geworden. Vom siebzehnten Jahrhundert her erhält nun der Begriff »Vorurteil« eine eigentümliche Macht. Der Denkende erweist sich dadurch als solcher, daß er die »Vorurteile« abgeworfen hat. Mit dieser Einschätzung ist ein Gedanke nicht schon als »Irrtum« bezeichnet, sondern diejenigen Urteile sind Vorurteile, die ihre Begründung nicht in uns selbst durch unsere eigene Arbeit finden. Neuer, eigener Erwerb des ganzen geistigen Besitzes erscheint als das große, uns allen aufgegebene Ziel. Trotz des unbegrenzten Umfangs, den Cartesius seinem Zweifel gibt, zeigt er durch die Raschheit, mit der er über ihn hinwegkommt, daß er ihn nicht gegen die eigene Denkfähigkeit kehrt. Zu dieser behält er auch im Zweifel eine unerschütterte Zuversicht. – 72 –

Sein Verdacht kehrt sich nur nach außen gegen die ihm überlieferten Vorstellungen, nicht gegen das Vorstellen, gegen die bisherigen Resultate der Wissenschaft, nicht gegen die Wissenschaft, selbst, gegen das Objekt des Erkennens, nicht gegen sein Subjekt. Er erstrebt mit dem Zweifel die Selbstständigkeit seines eigenen Denkens gegenüber dem Ganzen in der Geschichte vorhandenen Gedankenvorrat. Allein in diese Begrenzung ließ sich das Zweifeln nicht einschließen; es wird wachsen und sich notwendig auch gegen das Subjekt des Denkens selbst kehren. Daher findet dieser Anfang die ihm entsprechende Fortsetzung darin, daß die Epochen in der philosophischen Arbeit durch erneute Bestätigungen des Zweifels entstehen. Deshalb führen die Engländer (Locke, Hume) den Fortschritt über die Cartesianer und Kant den Fortschritt über die Engländer des 18. Jahrhunderts herbei. Beide sind »Kritiker«, nun aber nicht mehr bloß Kritiker der Tradition, sondern der »Vernunft«. Der Fortgang der Arbeit geschieht so, daß nun an die Vernunft die Frage gestellt wird, wie sie, zu ihrem Inhalt komme und wie sie ihre Denkmethoden begründe. Wenn heute der Agnostizismus für den öffentlichen Bestand des Denkens zur stärksten philosophischen Potenz geworden ist, so ist das die logisch korrekte Auswirkung des in Cartesius wirksamen Motivs. Wie will Cartesius den Streit, den er in sich selbst mit dem Zweifeln beginnt, wieder schließen? Die Mittel hierzu finde der Denkende in sich selbst dadurch, daß er sich von der Gemeinschaft abscheidet, von der Geschichte sich isoliert und sich volle Selbständigkeit verschafft. Cartesius hat die Geschichte im Verdacht, sie erzeuge nur Mißbildung, sie knechte. Kühn tritt das einzelne Ich dem Gesamtleben gegenüber; es bedarf keines Lehrers, keines Empfangens, keines Erlebnisses; es denkt und schafft im Denken, was ihm die Gemeinschaft nicht vermitteln kann: die Wahrheit. Dies tritt bei Cartesius deshalb noch besonders typisch hervor, weil er in der Hauptsache Naturforscher ist. Wir können uns heute den Naturforscher nur innerhalb einer umfassenden Kooperation vorstellen, bei der die Arbeit des einen durch die des andern auf– 73 –

genommen und weitergeführt wird. Cartesius dagegen ist Eremit. Was er von den andern begehrt, ist einzig Ungestörtheit. Allerdings sieht er, daß er allein das erforderliche Experiment nicht schaffen kann. Darum hat er den discours de la méthode veröffentlicht. Aber auch hier überwiegt bei ihm die Erwägung, daß ihm doch die Experimente anderer wenig helfen können. Er verschafft sich seine Erkenntnisse allein. Diese Formation ist an der philosophischen Arbeit bis über die Kantianer hinaus hängen geblieben. Einzelne Persönlichkeiten treten hervor als schöpferische Mächte, jede isoliert auf sich selbst. Man schreibt die Geschichte der Philosophie heute noch in der Form von Einzelbiographien. Während wir in den andern wissenschaftlichen Arbeitszweigen das Glück haben, »einer unter vielen« zu sein und in einer zusammenwirkenden Organisation zu stehen, die einen Gemeinbesitz schafft und im Austausch des Gebens und Nehmens sich vollzieht, haben es die Philosophen höchstens in den letzten Jahrzehnten zu Anfängen einer über die Einzelpersönlichkeit übergreifenden Gemeinsamkeit gebracht. Dieser Vorgang hängt eng mit demjenigen Gedankengang zusammen, der sich im Begriff »Vorurteil« zusammenfaßt und jedem die Aufgabe stellt, sich sein ganzes geistiges Eigentum neu zu erwerben. Eingeschränkt wird dieser Vorgang teilweise dadurch, daß es zur Gründung von Schulen kommt. Es hat rasch Cartesianer gegeben. Daß Spinoza vorerst allein bleibt, hat besondere Gründe. Leibniz, dagegen und wieder Kant erwerben sich weitverbreitete Schulen. Das geschah freilich zum Teil im Anschluß an die geschichtlich gegebenen Bildungen, da, nachdem die Aristoteliker eine geschlossene Schule und die Kirchen durch ein fixiertes Dogma geeint waren, ihnen gegenüber auch die Vertreter des neuen Gedankens eine unter sich geeinte Gruppe bildeten. Allein es setzen sich hier auch innere Notwendigkeiten durch. Man verkündet zwar den radikalen Zweifel und die Selbstgenugsamkeit [sic] des Einzelnen; aber die Notwendigkeit des Empfangens, des Lernens und der Gemeinschaft läßt sich nicht zerstören. Daher sammeln sich um den Genius die Schüler, dessen froh, was ihnen der Meister gab. – 74 –

Der Protest gegen die Geschichte, den die Cartesianer durchführen, wird vor allem gegen die Antike gerichtet. Darin unterscheidet sich die neue Bewegung bestimmt vom Humanismus. Man hatte in allen sozialen Gebilden ein großes Stück Griechentum, nicht nur griechische Wissenschaft, sondern auch antike Poesie und Kunst, römisches Recht und römischen Staat, ja sogar griechische Sittlichkeit, griechische Tugend, griechische Theologie. Unsere Mediziner, sagt Malebranche, zitieren griechische Sätze; »hat je ein griechisches Zitat einen Kranken geheilt?« Wir haben, sagt Hobbes, den Besitz der griechischen Literatur teuer genug bezahlt; aus ihr bezieht unsere Jugend ihre verrückten Staats- und Freiheitsbegriffe. Die Bewegung, die hier begann, hat mit Stoß und Gegenstoß, aber unausrottbar ihre Fortwirkung gefunden. Die Geschichte setzt aber reale Zusammenhänge, die so unzerbrechbar sind wie die von der Natur gestifteten. Das hat auch Cartesius erlebt. Die Wahrnehmung, auf die er sich zurückzieht, ist: »ich denke«, und daran wird er seiner Realität inne und schließt daraus, sein Wesen als Seele sei das Denken. Das ist kein neuer Gedanke. Der Satz, die Erzeugung von Gedanken sei der das Wesen des Menschen konstituierende Vorgang, die »Vernunft« sei das Humane, das Reale und Beste im Menschen, ist ein hellenisches Erbe. Cartesius sah nicht, daß sein Selbstbewußtsein, auf das er sich zurückzieht, eine bestimmte Formation hat, die ihm durch die Geschichte gegeben war, daß er das war, wozu ihn seine Position in der Geschichte gemacht hatte. Eben dadurch, daß er durch die hellenische Tradition bestimmt war, wurde er ein »Philosoph«. Indem er wie die Alten wieder den Versuch macht, Vernunft zu sein, und zwar nichts als Vernunft, reine Vernunft, die sich von der Sinnesfunktion, von der Erfahrung, von der Positivität der Tatsachen unabhängig macht, beginnt er den Rationalismus und gibt dadurch der ganzen folgenden Arbeit bis zum letzten Kantianer das Gepräge. Der Glaube an das entendement pur, das aus sich selbst heraus seinen Inhalt schaffe, war auf die Mathematik gestützt. Auf dem Erfolg der angewandten Mathematik, der Mechanik, in der Naturdeutung und Naturbeherrschung hat die Macht des Ratio– 75 –

nalismus stets beruht. Zugleich wirkte der Gegensatz zu der Form, in der von den Kirchen die geistige Arbeit betrieben wurde, ein. Durch die Absonderung des Denkens von allen anderen seelischen Vorgängen schied es sich auch vom Affekt. Es wurde beruhigt, affektlos, von allem leidenschaftlichen Streben frei. Die geistige Arbeit der Kirchen war dagegen beständig mit den höchsten Affekten verwoben. Hier handelte es sich immer um »der Seelen Seligkeit« und der Konflikt der Gedanken wurde darum sofort zum Konflikt der Personen und Sozietäten in leidenschaftlicher Erregung. Es erschien als eine Wohltat, daß der Gedanke von allen diesen Komplikationen befreit sei; diese Ruhe scheint er aber nur dadurch gewinnen zu können, daß das Denken sich auf sich selbst zurückziehe als reine Vernunft. Für die Ethik ergab sich aus der Rationalität, daß der Wille vom Denken seine Leitung empfange und dann richtig sei, wenn er in einer klaren und deutlichen Vorstellung begründet werde. Wir erhalten die Aufklärungsethik, sowohl für den Einzelnen, der sich die Motive seines Handelns durch möglichst sorgfältige Reflexion zu verdeutlichen hat, als für die Gesellschaft, deren Zustände der Kritik des Denkens unterstellt werden mit dem Anspruch, daß sie sich derselben anpassen. Schon Pascal formuliert das Prinzip in voller Klarheit: »Das Prinzip der Moral ist richtig denken«; ebenso Malebranche mit dem ersten Satz der Abhandlung De la recherche de la vérité: »Der Irrtum ist die Ursache des Elends der Menschen.« Sein ganzes Buch dient bereits der Aufklärungsethik, da das Ziel des Logikers darauf gerichtet ist, anzuzeigen, woher die Irrtümer stammen, und sie eben dadurch zu entkräften. Zweifellos hat der cartesianische Kanon, der nun bis auf Kant regiert: »nur die klare und deutliche Vorstellung darf bejaht werden«, nicht nur die wissenschaftliche Arbeit bedeutend gehoben, sondern auch die Moral. Denn es gibt kein Wollen ohne Denken. Denkgewinn ist daher auch ethischer Gewinn, wie Gedankenlosigkeit Willenlosigkeit ist und die Dummheit mit der Bosheit in engster Verbindung steht. Die cartesianische Regel: »Klare deutliche Vorstellung« gab zwar keinen objektiven Maßstab, an dem unsere Bewußtseinsgebilde – 76 –

beurteilt werden könnten; denn über das, was »klar« sei, urteilt das Subjekt. Wir werden durch die cartesianische Regel an unser Empfindungsvermögen verwiesen. Sie fordert von uns Vollständigkeit des Denkverfahrens, ehe wir das Urteil fällen; wir sollen uns in unserem Denken nicht beruhigen, bis das Überzeugungsgefühl eintritt und eine innere Nötigung uns zur Bejahung treibt. Darum widersetzt sich die cartesianische Regel der Konjekturen Fabrikation, dem Handeln auf Möglichkeiten hin, die uns selbst als ungewiß erscheinen. Ein weithin leuchtendes Beispiel für den erzieherischen Einfluß der Cartesianer auf die Solidität des Denkens war der sofort begonnene und siegreich durchgeführte Kampf gegen den Hexenprozeß. Es entstanden aber an dieser Stelle mit dem Gewinn auch Verluste. War der Anspruch, daß sich das Handeln auf Rationalität begründen müsse, ohne Rest durchführbar? Daß hier ein Kampf mit den gegebenen sittlichen Ordnungen entstehen mußte, liegt auf der Hand. Denn die Familie, das Recht, der Staat, die Sitte war ein Gegebenes, Positives, nicht auflösbar in eine rein rationelle Formel. Daher stellt sich die Frage ein: ist nicht ihre Zerstörung die Pflicht der reinen Vernunft? Im cartesianischen Ausgangspunkt sind zwei verschiedene Vorgänge ungesondert geblieben. Jedermann versteht, daß er folgert: »Ich, denke; somit bin ich«, und daß er dieses Urteil klar heißt, d.h. die Nötigung, es zu bejahen, in sich erlebt. Beruhte aber diese Nötigung darauf, daß ihm das hier Ausgesagte begreiflich war? Im Gegenteil, dieser Satz enthält einen ganzen Knäuel von Unbegreiflichkeiten. Der Denkvorgang ist vollauf berechtigt, immer wieder unser tiefstes Staunen zu erwecken, und nun vollends die Verschlingung von Denken und Sein, die dieser Satz vollzieht, und das rätselhafte »Ich«, das gleichzeitig denkt und ist. Dennoch ist der Satz »klar«, nicht weil hier irgendetwas begriffen wäre, sondern weil die Nötigung ihn zu bejahen aus der gegebenen Organisation unseres Lebens entspringt, weil wir diese vorfinden als unmittelbar wirksam, als unser eigenes Wirken begründend, nicht aber durch dieses entstehend. Wir finden das Denken als die uns gegebene Aktion, – 77 –

haben das Lebensgefühl, das im »Ich bin« sich ausspricht, haben das Ichbewußtsein. Das sind Daten, die die Basis unserer Aktivität bilden und darum dem Zweifel in der Tat Schranken setzen, die er nur dann überspringt, wenn er zur Selbstzerstörung wird. Es ist ein Gegebenes, nicht ein Begriffenes, worin Cartesius ruht. Darüber hat schon er selbst sich getäuscht, als er sofort schloß: also ist das Denken mein Sein. Und wenn nun weiterhin der cartesianische Kanon so verstanden wurde, daß einzig die Begreifbarkeit eines Objekts seine Bejahung ermögliche, so befand sich ein solcher Rationalismus sofort mit der Natur und mit der Geschichte in wildem Streit, weil diese von uns beständig die Bejahung für solches verlangen, was für uns ein unergründliches Geheimnis bleibt, obwohl es mit offenkundiger Wirklichkeit unser Leben regiert. Ebenso haben die mit der Rationalität verbundenen Entscheidungen, d i e v o n d e r G e s c h i c h t e u n d G e m e i n s c h a f t freie Selbstä ndigkeit und da s unbeschrä nkte R e c h t z u m Z w e i f e l , nicht eindeutige, sondern gemischte Ergebnisse erzeugt. Bisher hatten die Völker sofort an ihren Sozietäten, am Staat und an der Kirche, den Inhalt ihrer Sittlichkeit. Die Gemeinschaft kann dabei allerdings als Druck auf den Einzelnen wirken und seine eigene Lebensentfaltung hemmen, weshalb oft das Recht ein Surrogat für den guten Willen, der Allgemeinglaube ein Ersatz für die eigene Überzeugung geworden ist. Dann ist die Öffentlichkeit fromm und der Staat gerecht statt des Einzelnen. Der weithin sichtbare Gegensatz der neuen Denker gegen die Gemeinschaft und ihre geschichtlich gegebene Formation wirkte darum aufweckend, und der hohe Ruhm und Dank, ihnen zuteil ward, ist nicht nur verständlich, sondern begründet. Was wird aber aus den Sozietäten werden, wenn auf den originalen Philosophen der originale Staatsmann und der originale Theolog [sic] folgen, die nicht mit »Vorurteilen« denken, sondern nur solche Gedanken bejahen und verwenden, die sie selber erworben und sich durch ihre rationalen Deduktionen »klar« gemacht haben? Die Tatsache liegt in voller Deutlichkeit vor, daß diese Emanzipation der geistreichen Einzelnen sowohl die Sozietäten als sie selbst gefährdete. Die Auf– 78 –

klärungsethik blieb leer, ohne Stoff; sie gab dem Menschen nichts zu tun, keinen Beruf. Der Eremit verarmt. Dasselbe, nämlich, daß Gewinn und Verlust sich zusammenfinden, gilt von der Verherrlichung des Zweifels. Für das gegebene Bewußtsein der Völker war Glaube das normale Verhalten, d.h. eine volle, ungebrochene Bejahung, die die Persönlichkeit bestimmt und demgemäß ihr Handeln leitet, die ihre Voraussetzung in der dem Menschen erkennbaren Wirklichkeit, in der sich ihm bezeugenden Wahrheit hat. Diese in sich aufzunehmen, so daß er sie als Gewißheit in sich hat, galt als sein Beruf. Zweifellos kann an dieser Zielsetzung ein Übergewicht des Quietivs haften, wodurch die Energie des Suchens und Strebens gelähmt und die Entwicklung des Denkens gehemmt wird. Aber mit dem Aufruf zur Vernichtung aller »Vorurteile« war die gesunde Bewegung des Intellekts keineswegs garantiert; im Gegenteil, damit war aus seinem Gebrechen das Motiv der ganzen geistigen Arbeit geholt. Nun soll durchaus nicht unterschätzt werden, daß die Not ein gewaltiger Antrieb zur Arbeit ist. Ohne Krankheit keine Physiologie, ohne Verbrechen kein Recht, ohne Pauperismus keine Nationalökonomie, ohne Sünde keine Theologie, ebenso ohne Not des Zweifels keine Wissenschaft. Allein mit der Begründung auf den Defekt unseres Intellekts hat unsere geistige Arbeit noch nicht ihr normales Motiv. Unsere Naturforschung wird es ablehnen, daß sie bloß deshalb arbeite, weil sie an der Natur zweifle. Unsere Historik hat ihr Motiv nicht einzig darin, daß die geschichtliche Überlieferung immer in gewissem Maß zweifelhaft ist. Hier wie dort liegen der Arbeit geschlossene Bejahungen, Glaube, zugrund und dies gibt ihr die Stetigkeit und Willenskraft. Wir treten in die Arbeit um des Objekts willen, weil es uns in seiner Unerschöpflichkeit entgegentritt und in unser Denken Inhalt, in unser Handeln Kraft, in unser Wollen Ziele legt. So ergibt sich aus dem Zusammenstoß der neuen Tendenz mit den gegebenen Formationen, daß die Bewegung in scharfen Stößen auf und ab schwanken muß. Verlangsamt wurde sie dadurch, daß sich Cartesius mit einer Verbeugung vor der Religion zurückzog. Er mied im Interesse seiner Ruhe den religiösen Konflikt und hat – 79 –

dazu die gegebene Begriffsform benutzt: die »Offenbarung« und die »Vernunft« werden nebeneinandergesetzt. Cartesius entschied sich für die »Vernunft« und läßt die »Offenbarung« auf sich beruhen, und die hier sanktionierten Grenzen haben bis über Kant hinab fortbestanden. Es sind an dieser Wendung der Geschichte nicht nur praktische, sondern auch prinzipielle Erwägungen beteiligt. Weil der Philosoph Rationalist ist, verzichtet er darauf, auf die ganze Wirklichkeit seine Aufmerksamkeit zu richten. Er hat es mit den »allgemeinen und notwendigen Wahrheiten« zu tun, nicht mit den sog. zufälligen, den contingentia, d.h. den nicht konstruierbaren Tatsachen. Solche beschäftigen aber den Theologen, da ihm die Geschichte seinen Stoff verschafft. Somit stört ihn der Philosoph nicht. Der Zustand, der dadurch entstand, war seltsam genug: zwei Bewußtseinsformen schichten sich nun übereinander, die eine, die sog. »Vernunft«, enthält die notwendigen Wahrheiten, die andere, »Religion« oder »Glaube« oder »offenbarte Theologie« genannt, enthält historische Erinnerungen, Tatsachen, teils solche, die die individuelle Lebensgeschichte, teils solche, die die menschheitliche Geschichte ergeben. Neben jenen allgemein gültigen Erkenntnissen erscheinen diese als zufällig und partikular und doch beanspruchen sie die regierende, gestaltende Macht über den Einzelnen, wie über die Sozietät. Es liegt auf der Hand, daß das letzte Wort hier noch nicht gesprochen war.

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3. Die cartesianische Gotteslehre Warum hat Cartesius, obwohl er Religion und Theologie auf die Seite stellt, doch nicht auf den Gottesgedanken verzichtet, sondern die idea dei für eine der Vernunft angeborene Vorstellung erklärt, für die er den Beweis antrat? Er hat die Gewißheit Gottes zur Überwindung des Zweifels gebraucht. Seiner eigenen Existenz wird er sich denkend bewußt; aber die bloße Selbstgewißheit bleibt leer und vollziehbar ohne die Gewißheit der Welt, ohne die Sicherheit, daß unser Wahrnehmen und Denken die Dinge erfasse. Neben der Unmöglichkeit der Selbstverneinung steht aber nicht ebenso deutlich die Unmöglichkeit, die Welt zu verneinen. Der Traum führt ihn in eine irreale Welt. Aus dem Denkvorgang ist hier Gewißheit nicht herauszupressen; denn wir kommen ja nie über ihn hinaus. wir sind im Erkennen abhängig; die Frage ist: wovon? Ist die Macht, die unser Verhältnis zu den Dingen ordnet, wahrhaft aber trügend? Wären wir in der Gewalt einer trügenden Macht, so hülfe uns keine Logik zur Gewißheit, da die trügende Macht uns durch Vorstellungen trügen wird, die uns klar erscheinen. Trug entsteht ja dadurch, daß uns Vorstellungen als klar gelten, die doch Illusionen sind. Wenn aber Gott ist, dann ist unsere Relation zur Welt durch den Wahrhaftigen bestimmt; nun haben wir die uns gegebenen Erkenntnismittel mit der Zuversicht zu gebrauchen, daß sie eben in dieser Weise, wie sie uns gegeben sind, zweckmäßig sind und uns zur Wahrheit führen. Nachdem Cartesius den Zweifel in sich erweckt hat, kann er ihn nur durch ein Glauben, nur durch einen Vertrauensakt wieder stillen. Sind die uns gegebenen Erkenntnisformen zu bejahen aber zu verneinen? Als Wahrheit oder als Trug zu schätzen? Im Erkennen selber kann die Antwort vom Zweifelnden nicht mehr gefunden – 81 –

werden, da er nur denkend denken kann. Ein Vertrauensakt allein hilft hier zur Entscheidung; zu diesem brauchen wir aber den, dem man vertrauen kann, nämlich Gott. Das Bedürfnis nach Gott, das Cartesius an dieser Stelle empfand, wurde ihm dadurch bestätigt, daß er weder die Natur noch den Menschen ohne Gott fertig konstruieren kann. Die Materie erzeugt die Bewegung nicht aus sich selbst. Die Natur bedarf den, der die Bewegung durch den ersten Stoß in ihr erzeugt, und der Mensch, der zugleich Leib und Seele ist, ist weder aus der Natur noch aus dem Denken allein zu verstehen. Diese Verbundenheit des Heterogenen nötigt zum Rückgriff auf Gott. Dadurch war es Cartesius nicht möglich, die Gottesgewißheit einfach der statutarischen Kirchenlehre zu übergeben. Als Philosoph braucht er sie, und er war auch überzeugt, der Beweis für sie lasse sich führen und dadurch das Vertrauen zu unserer Vernunft und ihren klaren und deutlichen Vorstellungen begründen. Er führt aber den Gottesbeweis als Rationalist. Wille, Erlebnis, Geschichte, reale Bezogenheit auf Gott: all das ist nicht nötig, um Gottes gewiß zu werden. Die Frage ist nur die: muß ich diese Vorstellung denken? ist sie notwendig? Eben als Zweifelnde sind wir uns unserer Vollkommenheit bewußt. Der Begriff »Unvollkommenheit« ist aber nicht möglich, ohne ein Wissen um die Vollkommenheit. Die Vorstellung von einem vollkommenen Wesen ist da und die Gottesidee uns gegeben. In ihr ist eine Realität gedacht, die unser eigenes Lebensmaß und alle Dinge schlechthin übersteigt. Ursachlos kann sie nicht entstanden sein; aus uns oder den Dingen stammt sie nicht. Sie stammt also aus Gott. Wir müssen Gott als real bejahen, weil wir die Gottesvorstellung haben. Das Dasein der Gottesidee ist der Gottesbeweis. So rasch war Cartesius nur darum fertig, weil er als Rationalist die Schwere der Geschichte nicht empfand. Er verschmähte ihre Hilfe, warf aber damit auch ihren Druck und ihre Not von sich ab. Verursacht ist das Gottesbewußtsein selbstverständlich; aber ist es nicht historisch verursacht? Haben wir es nicht deshalb, weil es unsere Väter hatten, und zwar so, daß hier ein Entwicklungsprozeß sich – 82 –

vollzog? Das hat Cartesius noch nicht erschüttert. Die »Vernunft« hat keine Väter, sie tritt mit ihrem Inhalt ausgestattet, wie sie ist, ins Dasein. Mit diesem Beweis verband er noch den ontologischen Schluß: im vollkommensten Wesen ist das Sein immer mitgedacht. Niemand kann sich das vollkommenste Wesen als nicht seiend denken; also ist es. Die Wiederholung des ontologischen Satzes durch Cartesius zeigt deutlich, daß er den Gottesgedanken mit einer geschlossenen, totalen Bejahung erfaßt, d.h. geglaubt hat. Wer den ontologischen Beweis für genügend hält, gibt die Erklärung ab, daß es ihm unmöglich sei, Gott als nicht seiend zu denken; sowie er ihn denke, müsse er ihn als seiend denken. Diese Erklärung beschreibt einfach das Glauben, die entschiedene, vollständige Affirmation, die unfähig ist, ihr Objekt als irreal zu verneinen, und verbindet nun mit dieser Beschreibung des Glaubens sofort den Anspruch, er müsse von jedermann geteilt werden, und gibt die Aussprache der Gewißheit ohne weiteres auch für ihre Begründung aus. Es ist nicht seltsam, daß das im Einzelnen vorhandene Unvermögen, den Gottesgedanken zu verneinen, ihm sofort als dessen vollgültiger Beweis erscheinen kann. Das beruht auf der unmittelbar in uns wirksamen Voraussetzung, daß das für uns Notwendige für alle notwendig sei, die uns sofort bereit macht, allem, was zum Glied unseres Lebensakts geworden ist, eine totale und universale Bejahung zu geben. Freilich ist es ebenso verständlich, daß am ontologischen Argument sofort wieder Streit entstand, ob es wirklich eine Nötigung zur Bejahung herbeiführe. Weit wichtiger als die Verhandlung über das ontologische Argument war die Methode, nach der hier das Verhältnis des Gottesgedankens zu den übrigen Denkvorgängen geordnet wird. Cartesius warf die Gottesfrage auf, aber nur, um sie möglichst rasch wieder zu schließen. Darum bildet er seine Syllogismen, die mit einem einzigen Denkakt alles erledigen sollen, und das ontologische Argument empfahl sich hierzu besonders, weil es scheinbar als das allerabstrakteste die geringsten Ansprüche an das Denken stellt. Wir haben es ja dabei nur mit der Vorstellung »Gott« zu tun und kommen gleich von ihrem Inhalt aus zur Gottesgewißheit. Woher – 83 –

diese Eile? Die Gottesfrage wird nicht um ihrer selbst willen aufgestellt und bildet nicht ein Cartesius erfassendes und seine Geschichte bestimmendes Anliegen. Sie ist bloß eine Schwierigkeit auf dem Wege, nicht das Ziel; die »Vernunft« braucht die Theologie, weil sie sonst keine Erkenntnistheorie herzustellen vermag und sonst kein Welt- und Menschenbild erreicht. Hier dient der Gottesgedanke als eine notwendige Hilfskonstruktion zur Weltanschauung; dies blieb das Merkmal aller philosophierenden Theologien bis herab zur Gegenwart. Durch die Ausbildung einer nach dieser Methode arbeitenden philosophischen Theologie verschob sich das Verhältnis zwischen den allgemeinen Vernunftbegriffen und der historisch begründeten Gewißheit Gottes seltsam. Sie schieden sich nicht als Verneinung oder doch Ignorierung Gottes und als Bejahung Gottes, sondern die Philosophie hat auch eine Gotteslehre. Man bekommt also zwei Sorten von Theologien, eine rationale und eine historische, und empfand das nicht einmal als eine Neuerung, da sich ja die mit der Aufnahme des Aristoteles gegebene Unterscheidung einer »natürlichen« und einer »geoffenbarten« Theologie damit verbinden ließ. Und doch waren die beiden Theologien nicht nur ihrem Stoff nach verschieden, sondern auch ihrer Tendenz nach miteinander im Streit. Zwar schließt auch die christliche Aussage über Gott in sich, daß Gott dem Menschen diene, daß uns somit unsere Gewißheit Gottes auch zur Einheit und Deutlichkeit im Weltbild helfe. Wir verstehen uns selbst mittelst der Erkenntnis Gottes und beseligen uns selbst mittelst des Gottesdienstes. Über die christliche Bejahung Gottes unterwirft den Menschen Gott und macht Gott nicht zum Mittel des Menschen, sondern den Menschen zum Diener Gottes. Darum ist ihr die Gewißheit Gottes der in sich wertvolle Zweck, ein Letztes und Höchstes, das zentrale Anliegen. Sie sieht auf Gott Gottes wegen. Cartesius dagegen brauchte das Gott zugewendete Denken nur, damit ihm das Begreifen der Welt möglich sei. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, daß bei ihm und den Cartesianern diese Theologie nicht den Anspruch erhob, die Religion zu ersetzen, da sie die Kirche in ihrem Gebiet wirken las– 84 –

sen. Für den Philosophen hat aber der Gottesgedanke nur insoweit Raum, als er dem auf das Verständnis der Welt gerichteten Begehren dient. Der Denker stellt sich über die Religion und verwendet den religiösen Gedanken dazu, um sich selbst die größte, ihm erreichbare Vervollkommnung zu verschaffen. Leidet diese Religiosität nicht an einem offenkundigen Selbstwiderspruch? Ist nicht an den Gottesgedanken, wenn er nur als Mittel für die Erreichung andrer Gewißheiten dienen muß, mit der Bejahung gleichzeitig eine Verneinung gehängt? Es hat ein hohes Interesse, zu beobachten, wie sich diese neue Frömmigkeit entfalten wird. Als eine wohltätige Folge dieser Formation der neuen Philosophie darf betrachtet werden, daß zunächst die auf die Natur gerichtete wissenschaftliche Arbeit ein religiöses Element in sich bewahrt. Das 17. und 18. Jahrhundert hat in dieser Richtung eine große Zahl hervorragender Forscher, aber ein Gegensatz zwischen dem Naturbegriff und der Gottesgewißheit bricht erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf. Das war für die Entwicklung der Naturforschung eine günstige Lage; es kam noch nicht zum Kampf. Der religiöse Zusatz, zum Cartesianismus hat auch die Entwicklung der Populärphilosophie wesentlich begünstigt. Die Cartesianer werden rasch ein Gegenstand des öffentlichen Interesses und, obwohl sie noch in Kirchen stehen, die eine geschlossene dogmatische Tradition besitzen, nicht prinzipiell bekämpft, weil der Gottesgedanke das verbindende Glied zwischen der alten Tradition und der neuen Erkenntnis bildete. Das Entstehen einer Populärphilosophie setzt die Verbindbarkeit des neuen Gedankens mit dem gegebenen sittlichen und religiösen Bewußtsein voraus. Man hat sowohl auf der Seite der Philosophie als auf der der Kirchen diese Verschmelzung gepflegt. Eine bloße Koexistenz, der beiden Theologien nebeneinander war nicht möglich, weil sowohl die Philosophen als [sic] die Theologen eine einheitliche Zusammenfassung und Leitung unseres Denkens erstrebten. Malebranche z.B. wirft die Frage auf, ob die christliche Frömmigkeit ohne die Philosophie zureiche. Er bejaht sie, da durch jene das sittliche und religiöse Ziel des Menschen – 85 –

erreicht werde. Allein daran heftet sich doch sofort eine ernsthafte Beschränkung. Die Wissenschaft bleibt doch eine mächtige Funktion; der Fromme soll sie nicht verwerfen, mehr noch, er soll den Gewinn, den sie auch ihm bringt, nicht verachten; und so bekommen wir schließlich doch die Erklärung: wenn der Fromme denkt, dann muß er cartesianisch denken. Das Phänomen kann seltsam scheinen, daß sich diese auf einige Syllogismen beschränkte Theologie neben dem Reichtum der religiösen Tradition als wertvoll darstellte, ja vielfach und rasch die Oberhand über diese gewann. Es ist aber nicht zu übersehen, daß auch die dogmatische Überlieferung mit einem griechischen Element verschmolzen und daher dem Intellektualismus zugekehrt war. Sodann schien die neue Erkenntnis deshalb einen wesentlichen Fortschritt zu gewähren, weil die religiöse Tradition auf die Autorität gestellt war und daher des Beweises zu ermangeln schien. Nun beweist der Philosoph Gottes Dasein! War das nicht ein hoch zu schätzender Gewinn? Es ist seltsam, mit welcher Ruhe die Theologen diese Verhältnisbestimmung zwischen beiden Gedankenreihen hinnahmen. Der Cartesianer Rudolf sagt z.B.: »Weil der Philosoph den Beweis für das Dasein Gottes führt, ist der Theolog [sic] desselben enthoben.« Auch dieser gründlich schiefe Gedanke hat sich fest eingebürgert und das öffentliche Urteil über das Verhältnis der beiden Gedankenreihen zueinander schlimm verwirrt. Der innere Streit zwischen beiden Gedankenreihen deutet sich aber sofort an. Wenn Männer, die von der neuen Wissenschaft berührt waren, zugleich den Reichtum der christlichen Erkenntnisse und Erlebnisse nicht preisgaben, so war damit der Anlaß zu tiefen Konflikten gegeben, wie uns z.B. Pascal dies verdeutlicht. Er wollte eine Apologie des Christentums schreiben, nicht nur zu literarischem Scherz, sondern mit realem Ernst. Es entsteht damit ein neuer Zweig der Theologie, der von der bisher üblichen Polemik sich innerlich unterscheidet. Diese setzte sich nie ernsthaft das Ziel, die Verständigung mit dem Gegner zu bewirken, sondern sprach immer nur von oben herab auf Grund der feststehenden Überzeugungen, neben denen nur der Gegner als der Belehrung bedürftig erschien. Während die bishe– 86 –

rige Polemik ihren Gegner lediglich zu vernichten sucht, entsteht nun ein ernsthaftes Bemühen, Anweisung zu geben, wie die christliche Überzeugung zu gewinnen sei. Pascal ringt mit der Verneinung der Religion zunächst in sich selbst. Er empfand die Differenz in der Art, wie auf beiden Seiten die Urteilsbildung angestrebt wurde, scharf: die vernünftigen Erkenntnisse treten durch die Vernunft in uns ein und bewegen von hier aus den Willen; Vorstellungen, die primär durch den Willen bestimmt sind, sind in diesem Bereich Verderbnisse. Die geoffenbarten Erkenntnisse treten dagegen durch den Willen in uns ein und bewegen von hier aus den Verstand. Er nahm wahr, daß die christlichen Sätze auf diejenigen Probleme sich beziehen, die sich vom Willen herstellen und dessen normale Gestaltung erstreben. Vom Standort der cartesianischen Vernunft aus erscheint dies als eine Abnormität oder doch als eine Anomalie. Darum wurde es für ihn ein ernstes Anliegen, wie wir auf diesen völlig andern Standort, auf dem die christliche Überzeugung entsteht, hinübergelangen, da er der Vernünftigkeit zu widersprechen scheint. Daher weckt er mit Energie die Skepsis in sich auf, an der die Zuversicht zur Vernunft bricht, wodurch jenseits der Vernunft ein Glauben möglich wird, das sich nun als Entschluß und Wagnis und Empirismus, der bis zur scheinbaren Vernunft gesteigert wird, vollzieht. Auch diese Form des religiösen Verhaltens hat sich bis zur Gegenwart herab fortgesetzt ausgebreitet. Skepsis soll als Grund des Glaubens dienen, ein christliches Herz einen heidnischen Kopf bei sich haben und atheistische Wissenschaft und Religion nebeneinander irgendwie im Menschen sich zusammenfinden. Man wird dies ein notwendiges Produkt jener Frömmigkeit heißen müssen, die die Gottesgewißheit als Füllung für die Lücke im Weltbild begehrt. Denn damit sind ja eben diese Lücken, eben das, was uns unwissend macht, als Grund der Gewißheit Gottes benützt, und je größer diese Lücken sind und je schmerzhafter die Not der Unwissenheit empfunden wird, um so wirksamer bringt sich auf diesem Standpunkt das Motiv zur Geltung, das zur Bildung des Gottesgedankens führt. – 87 –

4. Die cartesianische Naturlehre Zu Cartesius waren seine Zeitgenossen nicht zunächst durch das hingezogen, was er als rationaler Theolog [sic] gab, sondern vor allem durch seine Deutung der Natur. Es stand für ihn fest, daß Denken und Gedehntheit nicht miteinander zu verbinden seien. Ein Denkakt sei keine Bewegung im Raum und eine solche kein Denkvorgang. Das seien qualitativ verschiedene Vorgänge. Das denkende Wesen ist die Seele; das gedehnte Seiende ist der Körper. Im Menschen sind beide vereinigt. So schien die Fülle der Vorstellungen, die uns die Natur verschafft, in einen einzigen, alles umspannenden Gedanken gefaßt zu sein, der mit einem Schlage definierte, was in allen natürlichen Vorgängen geschah: die Natur ist nichts als eine unendliche Summe geformter und gefüllter Räume und das Geschehen in ihr nichts als die durch den Stoß herbeigeführte beständige Verschiebung dieser räumlichen Gebilde. Demgemäß geht die Naturwissenschaft vollständig in die angewandte Mathematik auf und eben deshalb ist die normale Bildung unseres Denkens die reine Rationalität. Man trifft häufig die Bemerkung, das Wirksame am cartesianischen Naturbild bestehe in der Befreiung der Natur von allen anthropomorphen Vorstellungen. Allerdings streicht es aus ihr alle Beseelung; für Stern- und Quellgeister hat nun die Natur keinen Raum mehr, auch nicht für »Ideen« oder »Formen«, die mit plastischer Macht versehen wären. Das wird so konsequent durchgeführt, daß nicht nur der Pflanze, sondern auch dem Tier qualitativ nichts anderes zugestanden wird als z.B. einer Uhr. Aber mit dieser Entseelung der Natur verbindet sich eine vollständige Rationalisierung derselben, d.h. eine vollständig anthropomorphe Vorstellung von ihr. Sie entsteht durch eine unermeßliche mathematische Phantasie. Nicht als Mathematik gibt ihr die – 88 –

Gestaltung; aber Mathematik ist ein menschliches Vermögen, dem hier die ganze Natur unterworfen wird. Daher entsteht sofort der Natur gegenüber das Postulat absoluter Wissenschaft. Mögen wir jetzt noch so weit davon entfernt sein: die Berechenbarkeit des ganzen Naturprozesses steht fest, und warum sollte es nicht mit der Zeit gelingen, alles zu berechnen? Die Kühnheit dieses Alleswissens zeigt sich schon bei Cartesius darin, daß er gleich einen Entwurf der Kosmogonie unternommen hat. Diese Rationalisierung der Natur entspricht dem Machtbewußtsein, das der Mensch der Natur gegenüber dadurch gewinnt, daß er sie technisch zu beherrschen vermag. Diese Macht über die Natur wird aber durch das mechanische Verständnis derselben erworben. Soweit sie uns berechenbar ist, ist sie von uns lenkbar und benutzbar. Große Schwankungen mußten sich an dieser Stelle hervordrängen: war der Mensch wirklich der über die Natur erhabene Herrscher? Ist er nicht ihr Erzeugnis? Cartesius selber schwankte aber trotz des absoluten Zweifels an dieser Stelle nicht, da ihm die Überlegenheit des Menschen über die Natur gerade durch die neuen Entdeckungen im Bereich der Naturerkenntnis als festgestellt erschien. Darum hat er auch an der qualitativen Verschiedenheit von Leib und Seele festgehalten, obgleich ihre Verbundenheit zur Einheit des menschlichen Lebens ein undurchdringliches Rätsel blieb und dem Rationalismus die Anerkennung einer undurchdringlichen Tatsache immer unendlich schwer geworden ist. Es ehrt den geraden Sinn des Cartesius, daß er das, was ihm als Tatbestand gegeben war, nicht weggedeutet hat. Da sich aber diese Beugung vor der gegebenen Gestalt unseres Bewußtseins zur rationalistischen Grundtendenz in eine scharfe Spannung stellte, ist das System bei den Schülern an dieser Stelle unsicher geworden. Hier setzte sich ein Mißbehagen an und die Versuche, die Irrationalität des Dualismus von Seele und Körper wegzuschaffen, blieben nicht aus. Für die Tatsache, daß sich im katholischen wie reformierten Kirchentum trotz ihrer straffen Lehrdisziplin der Cartesianismus ausbreiten konnte, liegt die Erklärung vor allem in der Macht, die das – 89 –

neue Naturbild besaß. Diesem Hauptpunkt im Cartesianismus hatte die theologische Tradition keinen selbständigen, auf Beobachtung gestützten Gedanken entgegenzuhalten, da auch nach der Reformation der Aristotelismus die Naturlehre lieferte. Diesem gegenüber war der Cartesianismus im Vorsprung, nicht wegen der objektiven Wahrheit seines Naturbildes, wohl aber, weil er die Natur von demjenigen Standort aus ansah, von dem aus sie sich exakter Erforschung öffnet. Der Cartesianismus stand im Bunde mit der neuen beobachtenden und berechnenden Physik und Astronomie. Warum sollte man ihn nicht rezipieren? Zunächst schien es, es ändere sich durch die Aufnahme des cartesianischen Naturbildes an der Theologie nichts. Der Geschichtslauf hat diese Erwartung als eine kurzsichtige Täuschung erwiesen. Die Tradition bestimmte das Gottes- und das Selbstbewußtsein durch Begriffe, die aus dem Willensvorgang stammen. Ihr tiefstes theologisches Problem war durch die Gedanken »Gesetz und Gnade«, ihr tiefstes anthropologisches Interesse durch die Begriffe »Sünde und Gerechtigkeit« benannt. Daran schloß sich nun ein Naturbegriff, der in der Natur nichts sieht als Bewegung von Gedehntem. Wenn auch dieser Kontrast zunächst dadurch verhüllt wurde, daß die denkende Seele ihren Platz oberhalb der Natur bekam, so mußten doch aus ihm die schwersten Erschütterungen entstehen. Das Naturbild beeinflußt das Gottes- und das Selbstbewußtsein notwendig, jenes, weil die Frage, was Gott sei, aus dem Weltbild die Antwort erhält: er sei der, der die Natur hervorbringt; dieses, weil die Natur uns für unser Erkennen und Wollen den Stoff zuführt. Auf jene Frage hatten die Cartesianer nur zu sagen: Gott sei der Ursprung von räumlichen Gebilden und von mathematischen Gesetzen, nach denen sie sich bewegen, da sonst in der Außenwelt nichts geschieht. Auf die Frage, welchen Stoff die Natur unserem Begehren zuführe, blieb die Antwort ganz aus; denn zwischen dem überlieferten Persönlichkeitsbegriff und dem neuen Naturbild entstand ein nicht zu vermittelnder Streit. Wir stehen am Anfang folgenreicher Bewegungen; denn die Macht des Naturprozeßes über unser Innenleben sicherte den neuen Gedanken eine gewaltige Stoßkraft gegen die alte Lehrtradition. – 90 –

5. Neue religiöse Ansätze bei den Cartesianern Neben den Okkasionalisten Arnauld und Malebranche darf gleich hier an den Bischof Berkeley erinnert werden, obwohl sich die Engländer von der französischen Aufklärung durch einen besonderen Zug unterscheiden. Die englische Arbeit, Baco, Hobbes, Locke, Berkeley, Hume, hat eine gemeinsame Tendenz: Sie sind der Natur zugewandt und im Zusammenhang damit wird die rationale Logik durch eine empirische Tendenz gemäßigt, zum Teil durchkreuzt. Die religiöse Haltung von Berkeley erinnert aber an die Okkasionalisten und ist auch durch diese beeinflußt. Daß es zu neuen religiösen Ansätzen kommt, ist dadurch gegeben, daß sich durch das neue Naturbild der Cartesianer die Grenze zwischen dem natürlichen und dem seelischen Vorgang verschoben hat. Die kausalen Beziehungen, die wir zwischen uns und der Natur wahrzunehmen glauben, waren durchschnitten. Aber die Gesetzmäßigkeit, in der sich unser inwendiges Leben bewegt, bleibt. Die Selbständigkeit der Seele bedeutet keineswegs unbeschränkte Produktionsmacht. Sie ist vielmehr in dieser determiniert. Da diese Abhängigkeit nach der neuen Theorie nicht mehr aus der Natur erklärbar ist, so tritt nun an ihre Stelle Gott. Was sich zunächst als Herrschermacht der Natur über uns darstellt, definieren die Cartesianer als Aktion Gottes in uns. Sie schließen daher eine religiöse Betrachtung an die l o g i s c h e G r u n d r e g e l an, nur die klare und deutliche Vorstellung sei zuzulassen. Was heißt »unklar« und was »klar«? Eine objektive Differenz ist nicht anzugeben. Ein subjektiver Vorgang unterscheidet beides; das eine Mal tritt ein Gefühl der Unruhe ein, der Impuls zu weiterer intellektueller Anstrengung, eine unmittelbare Gewißheit, daß der Erfolg noch mangelhaft, das Ziel noch nicht erreicht – 91 –

sei; das andere Mal findet sich ein Gefühl der Befriedigung ein, eine unmittelbare Gewißheit, der intellektuelle Akt habe sein Ziel erfaßt und sei vollendet. In diesen Vorgängen zeigt sich die gestaltende Macht des logischen Gesetzes über unseren Lebensprozeß. Ein Erlebnis kommt hier ans Licht, nicht nur ein logisches Ideal. Malebranche sagt: in diesen Erlebnissen empfangen wir Gottes Einwirkung auf uns. Daß wir der unklaren Idee gegenüber in Unruhe versetzt und zum Weiterforschen getrieben sind und daß wir der klaren Idee gegenüber zur Zustimmung berechtigt und genötigt sind, das ist Gottes Werk in uns. Er stellt den Vorgang in Parallele mit dem Gewissen. Wie wir die Billigung oder Mißbilligung unserem Willen gegenüber als das hervortreten eines göttlichen Gesetzes deuten und als Stimme Gottes benennen, ebenso sei die Beunruhigung oder Beruhigung gegenüber unserem Denken ein göttlicher Akt, Stimme Gottes in uns. Diese Verknüpfung des logischen Gesetzes und Antriebs mit dem Gottesbewußtsein ist der Überlieferung gegenüber etwas Neues. Die Theologen haben auch von Erleuchtung gesprochen, aber der Begriff erhielt geringe praktische Bedeutung; die Aufmerksamkeit richtet sich auf vereinzelte Besonderheiten der religiösen Geschichte. Für Malebranche tritt Andacht in alles Denken hinein. Das Bewußtsein göttlicher Leitung und der Pflicht, dieser Leitung zu gehorchen, durchdringt den ganzen intellektuellen Prozeß. Ein zweiter Punkt, der ein interessantes Theologumenon ergab, ist die T h e o r i e d e s S e h e n s . Die antike Vorstellung, daß von den Dingen Bildchen in unser Auge hineinfliegen, war als eine Naivität abgetan. Bei der scharfen Unterscheidung der Cartesianer zwischen Körper und Seele wurde die Wunderbarkeit des Sehvorganges intensiv spürbar. Daß die Farben und Töne Affektionen der Seele seien, stand fest; ebenso, daß wir die Welt sehen, daß unsere Vorstellungen von den Figuren und Bewegungen der Dinge uns Wirkliches enthüllen. Der Beweis lag in der Anwendbarkeit der Mathematik auf die Objektivität. Wir messen und berechnen den realen Naturprozeß. Wie kommen wir nun zu diesen »Ideen«, d.h. zu Vorstellungen, die in uns existieren, also ein Besitz der Seele – 92 –

sind und doch zugleich Wirklichkeit abbilden? Wir können nur Gedanken denken, nicht Sachen, nur Bilder sehen, nicht Gedehntes. Und doch sind diese Ideen nicht nur die Affektionen unserer Seele; denn sie stimmen mit der Wirklichkeit. Die Ideen sind, sagt sich Malebranche, ehe sie die Dinge gestalten und ehe sie in uns sind, in Gott und nur darum, weil sie in Gott sind, können sie sowohl in uns als in den Dingen sein. Wir können nicht an die Dinge, wohl aber an Gott heran; wir sehen die Ideen Gottes; unser Sehen entsteht dadurch, daß die in Gott vorhandenen Ideen i n uns einstrahlen und auf uns einwirken. Daher ist unser Sehen objektiv wahr. Wir werden mit unserem Sehen gleichsam in Gottes Auge eingerückt, natürlich nur partiell. Unser Sehen beruht also auf einem beständigen Berührtwerden durch Gott, der gleichzeitig der Ort der Ideen und der Ort der Seelen ist. Eine Variante hiezu gab Berkeley. Er verzichtet auf den objektiven Bestand der Dinge, während die Cartesianer zwischen den primären Eigenschaften derselben und ihren sekundären unterscheiden. Die beiden Elemente unseres Gesichtsbildes: Figur und Farbe sind nicht auf verschiedene Ursachen zu verteilen. Wir nehmen nicht bewegte Körper wahr und hängen ihnen nachher das Licht an. Wir nehmen Licht, Schwere, Solidität usf. genau in derselben Weise wahr. So streicht er die vor dem Sehakt existierenden Dinge. Er bekommt aber dadurch nicht etwa kantische Erscheinungen. Dem willensstarken, naturfrohen Engländer blieb das greisenhafte, skeptische Element in Kants Formeln fremd. Dem Gesichtsbild widmet er eine ungebrochene Bejahung. Wir sollen nicht etwas anderes sehen, als was wir sehen, nicht über das Gesehene hinaus das suchen, was wir eigentlich wissen sollen, sondern eben das, was wir sehen, bildet den von uns zu bejahenden Inhalt unseres Bewußtseins. Ein Reales steht zweifellos dahinter, weil unser Weltbild nicht unser Produkt ist. Die Natur wird nicht mit uns geboren und stirbt nicht mit uns. Wir haben auch alle dasselbe Weltbild und ein gemeinsames Sehen. Über das Reale, das unserem Gesichtsbild entspricht, ist nicht von den einzelnen Vorstellungen aus zu bestimmen, sondern hinter ihm steht als seine Ursache Gott, der es in uns – 93 –

hervorbringt. Das von uns Gesehene ist, sagt er, die Sprache, durch die Gott mit uns redet. Der Unterschied, der ihn von der französischen Theorie des Sehens trennt, ergab sich daraus, daß er in Übereinstimmung mit den anderen Engländern am Kausalbegriff oder Kraftbegriff seine Hauptkategorie hat. Kausalität und Kraft sind Korrelate. Malebranche dagegen ist Logiker; er kontempliert; dasselbe tut sein Gott. Er sammelt in sich Ideen, so hat auch Gott als der große Denker die Ideen in sich und macht uns dieselben teilweise schaubar. Bei Berkeley wird das Sehen als Aktion des Ichs verstanden, die durch die göttliche Kausalität hervorgerufen ist. Der Sehvorgang ist ein Erlebnis, ein Geschehen, und dieses Geschehen entsteht durch Gottes Wirksamkeit. Sehen wir zur gegebenen Tradition hinüber. Religiös liegt zunächst darin nicht mehr als im Schöpfungsbegriff, durch den ebenfalls das ganze Naturbild dem Gottesbewußtsein subordiniert ist. Immerhin entsteht hier ein wesentlicher Unterschied, weil für die gewöhnliche Gedankenform der Berührungspunkt zwischen Gott und der Natur in der Vergangenheit lag. Einst »am Anfang« hatte sie Gott gemacht. Man erinnert sich gelegentlich, daß die Natur eine Beziehung zu Gott habe. Sie gilt aber zunächst als etwas Selbständiges. Für diese Cartesianer setzt uns dagegen unser Naturbild jetzt in Beziehung zu Gott, weil es durch eine gegenwärtige Aktion Gottes in uns entsteht. Ein dritter Punkt, der sofort die Aufmerksamkeit auf sich zog, war d i e T h e o d i c e e und diese bildet ein bleibendes Hauptanliegen der Aufklärung. Die Macht, mit der sich dieses Interesse vordrängte, beruht zum Teil auch auf der Umwandlung des Naturbildes. Die Schwierigkeit, die uns in unserem Verhältnis zur Natur immer Not macht, besteht darin, daß die Natur uns tötet. Das tut sie nicht trotz ihrer Gesetzmäßigkeit, sondern durch den Vollzug ihrer Gesetze mit vollständiger Exaktheit. Vom mathematischmechanischen Standpunkt aus verdient der pathologische Vorgang dieselbe Bewunderung wie der biologische; er hat auch dieselbe Begreifbarkeit. Nun war für die Cartesianer die Natur nicht ein – 94 –

eigenes, selbständiges Subjekt von Wirkungen; denn die Natur tut nichts, sondern wird bewegt, und der Stoßende und Bewegende ist nicht die Materie, sondern Gott, von dem auch das Gesetz stammt, nach dem sich die Bewegung vom einen zum andern überträgt. Die Schwierigkeit, die in unserem Verhältnis zur Natur liegt, überträgt sich somit für die Cartesianer unmittelbar auf Gott. Hat er das Recht, uns zu töten und weh zu tun? Damit ist die Frage nach der Theodicee da. Malebranche unterscheidet die allgemeinen Gesetze und die durch ihr Zusammentreffen sich ergebenden Komplikationen. Aus diesen entsteht ihm die individuelle Besonderheit des Falles. Die allgemeinen Gesetze erregen keine Einrede; ihnen schulden wir Bewunderung. Damit fällt aber auch jede Einrede gegen die aus ihnen sich ergebenden Konsequenzen fort. Man kann in strengem Sinn nicht sagen, Gott wolle die Einzelheiten, die uns als Übel erscheinen, sondern man kann nur sagen: Gott wollte die Gesetze, in deren Verfolg als ein spezieller Fall auch das Übel für mich entstand. Durch diesen Gedankengang ist aber das, was die Theodicee will, nicht erreichbar. Was sie eigentlich will, das ist Trost, und zwar Tröstung der Sterblichen. Trösten heißt: den Willen zu leiden und zu sterben erzeugen. Das Problem der Theodicee liegt im Willensgebiet, nicht im Bereich der Logik, sondern der Willenslehre. Dazu reicht die bloß logische Erwägung, daß jeder einzelne Fall nur die Anwendung der allgemein gültigen Gesetze sei, nicht aus. Dennoch verdient der Gedanke nicht nur Spott, sondern es war damit etwas Neues erreicht. Für die Gesetze, die den Naturlauf regieren, verlangt Malebranche immer Zustimmung. Damit war der Wille über die Sphäre der eigenen Interessen hinausgehoben und in die Selbstbejahung die Bejahung der Natur mit aufgenommen. Der Wille zu leben darf sich nicht von der Anerkennung der Natur lösen und nicht naturlos, nicht die Natur zerstörend werden. Nur innerhalb der Natur und durch sie kann ich leben wollen. Und dieser Einschluß in die Natur ist auch in unser Verhältnis zu Gott mit aufgenommen. Gott will uns nicht ohne das Naturgesetz, sondern mit demselben und durch dasselbe. – 95 –

Die geschichtliche Wirkungsmacht dieser Theologumena war gering, und das wiederholt sich bei den von Leibniz aufgestellten theologischen Sätzen (harmonia praestabilita). Erst bei den Schülern Kants treten dann Analogien hervor. Dort finden wir die Denkandacht wieder, die das Denkgeschäft in der Einheit mit der Allvernunft übt; und der Satz, daß Gott der Ort der Vorstellungen sei, so daß wir mit unseren Vorstellungen die seinen wiederholten, steht nahe bei Hegels Glauben, daß die absolute Idee durch unser Denken gedacht wurde. Vorerst aber widerstanden der zündenden Wirkung dieser religiösen Meditationen zwei Faktoren. Ihre Auffassung des Verhältnisses zwischen Natur und dem Innenleben war durch den Rationalismus bedingt, während die unmittelbar gegebene Form des Bewußtseins sich derselben zäh widersetzt hat. Dieses blieb dabei, daß wir die Dinge sehen, einerlei wie der Vorgang zu verstehen sei. Mag dieser geheimnisvoll sein: die Unerklärbarkeit des Wie erschüttert nicht das Daß. Was darum für diese Cartesianer Wirkung Gottes war, blieb für die populäre Aufklärung Wirkung der Natur. Schon 1675 hat ein Kritiker in der Besprechung der recherche de la vérité gesagt: die Ausschaltung der Natur sei in dieser Theorie das, was sie nicht annehmbar mache. Sodann waren das, was die Cartesianer gaben, nur Meditationen. Sie pflegten eine Denkfrömmigkeit, die den Willen nicht berührt. Auch das hängt mit dem Standpunkt der reinen Rationalität zusammen. Es ist aber ein Gesetz der Religionsgeschichte, daß nur dann große religiöse Wirkungen eintreten, wenn der religiöse Gedanke zum Motiv wird als die den Willen gestaltende Macht. So nah sich diese Cartesianer Gott denken: es sind nur Abhängigkeitsverhältnisse, von denen sie sprechen, aus denen kein Wille entspringen kann, kein Beruf, keine Pflicht, und dies erst erzeugt eine geschichtlich wirksame Theologie. Solange die Verbundenheit mit Gott nur für den Intellekt aufgezeigt wird, erscheint sie als unglaublich, weil ihr im Willensbereich das Bewußtsein der Geschiedenheit von Gott widersteht; am bösen Gewissen der Menschheit prallen solche Sätze ab. Unser Begehren und Wollen können wir nicht dividieren, nicht als mit Gottes Willen identisch – 96 –

ansetzen. Für diese Probleme hatten aber die Cartesianer keine eigene Lösung, sondern verwiesen dafür auf die Kirche. Damit war aber gegeben, daß ihre Meditationen als reine Theorie der geschichtlichen Wirkung entbehren mußten. Die Frage nach der Theodicee wirkt freilich als Problem äußerst nachhaltig durch die ganze Aufklärungszeit hindurch. Wie wenig Sicherheit aber diesen Fragen gegenüber erreicht war, zeigten die berühmten Folgen des Erdbebens in Lissabon. In diese Frage greift auch d i e E t h i k der Cartesianer ein. Cartesius hat den Willen nicht geleugnet, da es eine uns unausrottbar gegebene Empfindung sei, daß wir wollen, d.h. wählen. Er ließ dies als eine gegebene Formation des Bewußtseins stehen, ebenso wie er das Denken stehen läßt, als das Grundfaktum, über das wir nicht hinauszustreben haben. Die Vermittlung zwischen dem Denken und Wollen macht das Empfinden, Lust und Unlust. Die Lust, le plaisir, ist das Objekt des Wollens. Die Ethik ist somit die Lehre vom Glück, die Anweisung, wie das Glück zu bewirken sei, womit natürlich auch die Lehre vom Unglück gegeben ist, d.h. die Lehre, wie wir den Schmerz vermeiden. Dieser Gedanke ist wesentlich daran beteiligt, daß eine Popularphilosophie entstand. Nicht nur der Eifer für die klare und deutliche Vorstellung erzeugt sie, ebenso sehr, daß der Philosoph die Anweisung zum Glück darbietet. Damit hängt es auch zusammen, daß die Theodicee als eine wichtige Aufgabe der Philosophie erscheint. Die Störungen des Glücks durch den Weltlauf erhalten für eine Ethik, die im Glück ihr Ziel hat, ein ernstes Gewicht. Es wird nun von der Aufklärung immer wiederholt, das Ziel des Menschen sei, sich glücklich zu machen. Dieser Lebenszweck braucht nicht notwendig egoistisch erfaßt zu werden. In der Beglückung der andern beglückt man sich selbst, und indem man andere quält, quält man auch sich. Für dieses Streben nach Glück eröffnet sich eine unendliche Perspektive. Mit der Entfernung der Seele von der Natur ergibt sich, daß diese vom Sterben nicht mit ergriffen wird. Stolz sagen die Car– 97 –

tesianer, sie hätten durch die Erkenntnis der qualitativen Differenz der Seele vom Körper die Unsterblichkeit bewiesen. Die Verbindung mit der Religion erreicht diese Ethik ähnlich wie die Logik dadurch, daß die Richtung der Seele auf die Güter als die ihr von Gott gegebene Bewegung beurteilt wird. Unsere Aufgabe ist, den Wert der verschiedenen Güter gegeneinander abzuschätzen und über die begrenzten Güter das höchste Gut zu stellen, das Vergnügen an Gott. Die am Gottesgedanken entspringende Lust heißen die Cartesianer »Gott lieben«. Dieser Aufriß der Ethik kennt nur den Einzelnen. Der Lebenszweck liegt nur im eigenen Ich. Damit, daß die Beglückung auch die andern umfaßt, wird das nicht geändert. Sozialethik ist damit nicht erreicht. Die Pflichtformeln erhalten eine negative Fassung Unterordnung der nächstliegenden sinnlichen Lust unter die feinere intellektuelle Lust und schließlich unter die religiöse Lust, das ist für diese Ethik die wichtigste Aufgabe. Der ganze ethische Aufriß war wenig original. In der Zielsetzung steht die Glückslehre mit der griechischen Tradition, die auch im kirchlichen Unterricht mächtig fortwirkt, in unmittelbarem Zusammenhang. Eudämonie, salus, sind auch hier die Begriffe, die das Streben bestimmen. Ebenso setzt der Individualismus und die überwiegend negative Haltung der Moral die gegebenen ethischen Formen fort. Eine gewisse Ausnahme durch einen Ansatz zu einer Sozialethik macht Hobbes, allerdings in einer wunderlichen, zum Teil an Frivolität streifenden Form. Die Eindrücke der englischen Revolution bedingen seinen Gedankengang, und Revolutionen sind jeweilen auch für den Intellekt gefährlich; denn sie machen die Köpfe wirbeln. Er bewahrt aber bei aller verhaltenen Leidenschaftlichkeit immerhin den Anschein der Rationalität und gab dem Denken einen Anstoß in neuer Richtung. Der Titel des berühmten Buchs »Leviathan« ist zwar barock, enthält aber eine große Wahrheit, weil er aus der Einsicht stammt, daß der Mensch nicht als Einzelner existieren kann, sondern nur in der Sozietät, so daß diese als ein großer – 98 –

künstlicher Mensch aufgefaßt werden kann, in den der Einzelne als Glied eingefügt ist. Es ist die lex naturalis, die den Staat erzeugt, wobei der Begriff »natürlich« seinen Vollsinn bekommt, so daß die Natur als die Macht gedacht ist, die die Verbände erzwingt, durch die erst dem Einzelnen die Möglichkeit zur Existenz gewährt wird. In seinem Ausgangspunkt bleibt Hobbes aber noch rein individualistisch. Er beginnt seine Konstruktion mit einer beliebig großen Schar vollständig ausgebildeter Individuen mit schrankenloser Selbstbehauptung. Zueinander sind sie völlig beziehungslos; jeder lebt durch sich und für sich mit totaler Nichtachtung des andern. Da durch diesen absoluten Individualismus die Existenzbedingungen für alle aufgehoben sind, entschließen sie sich, auf ihr Recht zur schrankenlosen Willkür zu verzichten und dieses dem Einen zu übertragen, der nun dadurch, daß er der alleinige Besitzer der Gewalt ist, Recht für alle schaffen kann. Das kann er freilich nur als Despot. Dieses Recht ist ausschließlich ein Kind der Not, lediglich auf Zwang gestellt. Je mehr Zwang vorliegt, desto mehr Recht. Wir bekommen die rationale Deduktion des Despotismus. Obgleich Hobbes durch seine Beobachtungen aus der englischen Revolutionszeit mitbestimmt ist und von dorther sein absolutes Bedürfnis nach Frieden um jeden Preis hat, so gibt er uns doch die Konstruktion des Staats aus dem Despotismus nicht als den Ratschlag eines Empirikers und Politikers, sondern als die haarscharf erwiesene, einzig mögliche Staatstheorie. Er beklagt sich, wenn dieselbe zu den Utopien gerechnet werden sollte: er habe erwiesen, daß der Staatszwang nur als absoluter das Staatsziel garantiere. Das rationale Element ist auch nicht nur Formsache, sondern darf bei der Beurteilung seiner Stellung nicht übersehen werden, sonst wird die ohnehin verletzende Roheit seiner Sätze vollends unerträglich. Verletzend ist, daß er uns die Bekenntnis- und Handlungsfreiheit radikal nehmen will, obwohl er von der Denk- und Glaubensfreiheit wohl einsieht, daß sie unaufhebbar seien. Er weiß, daß man Glauben nicht gebieten kann, weil eines jeden Glauben in seiner Geschichte begründet ist und daher nicht willkürlich gewechselt werden kann. Aber alle Äußerungen desselben unterliegen – 99 –

dem Gebot oder Verbot des Staats. Was ist aber eine Glaubensfreiheit noch ohne Handlungsfreiheit? Das Bekenntnis verbieten, während das Glauben zugelassen wird, ergibt eine verletzende Härte. Allein wir dürfen nicht übersehen, daß er über diesen Widerspruch durch seinen Rationalismus hinauskommt. Seine Meinung ist eben doch, er habe die Notwendigkeit des Despotismus mit Evidenz bewiesen, mit zwingender, somit Glauben schaffender Notwendigkeit; wir müßten es einsehen, daß die unbeschränkte Staatsgewalt durch die lex naturalis gefordert, also göttliches Gebot sei, so daß wir dem Träger der Staatsgewalt absoluten Gehorsam und Glauben schuldig seien, weil ihn die Natur oder, was bei ihm auf eins hinauskommt, Gott von uns verlange. Uns mag seine Beweisführung an mehr als einer Stelle löcherig erscheinen; ihm galt sie als unentrinnbar, als ein Netz, mit dem er jeden fangen will. Bleibt auch zugestanden, daß es verschiedene Köpfe mit verschiedenem Glauben gebe: die Vernünftigen begreifen, daß es nur eine unbeschränkte Regierung geben kann und daß jede Opposition gegen sie verwerflich ist. Dieser Zusammenhang zwischen Rationalismus und Despotismus wird nicht nur bei Hobbes sichtbar, sondern an der ganzen Aufklärung. Die »klare und deutliche Vorstellung«, d.h. die neue Wissenschaft verlangt Anerkennung von allen. Wer sie hat, ist für den, der sie nicht hat, zum Herrscher und Führer bestellt. Die Aufklärungsformel lautet nicht nur: Kläre dich auf, sondern ebenso sehr: Laß dich aufklären und zwar durch uns, und dieses Gebot läßt keine Widerrede zu. Mit dem vorhandenen Staat kam die Aufklärung, durch ihren despotischen Zug nicht in Konflikt, wohl aber mit dem Christentum. Hobbes ist dafür ein anschaulicher Beleg, daß längst, ehe ein dogmatischer Konflikt akut wurde, der ethische Konflikt in vollem Gange war, da sein Despotismus mit den christlichen Überzeugungen nicht vereinbar ist. Die Einrede wäre falsch, es gebe auch genug christliche Intoleranz, weil sie übersieht, daß die beiden Stellungen innerlich durchaus verschieden sind. Der religiöse Fanatiker bestreitet dem Gegner das Recht so zu denken, wie er denkt, und verlangt, daß er seinen Gedanken lasse. Hobbes gibt zu, ihr müßt so denken, – 100 –

wie ihr denkt, und verbietet uns dennoch, nach unserem Glauben zu leben. Die kirchliche Intoleranz kann immer mit einiger Wahrheit sagen, sie bekämpfe nicht den Menschen, sondern seinen Irrtum. Intoleranz nach Hobbes’ Deduktion zermalmt dagegen den Menschen, angeblich um des Friedens willen! In der Verbindung von Aufklärung und Despotismus wird sichtbar, wie dürftig noch die Sozialethik gewesen ist, und daß die Ethiker ausschließlich individualistisch denken. Jeder soll glücklich sein; wie bringt man jedoch Vielen zu einem einträchtigen Wollen? So, wie man eine Viehherde beieinander hält, dadurch, daß man ihr einen Hirten setzt. Man hält die vielen menschlichen Monaden beieinander dadurch, daß man ihnen einen Despoten gibt. Die Fortwirkung dieser Verbindung von Freidenkertum und Despotismus geht als ein schweres nationales Unglück bis in den gegenwärtigen Stand unserer Völker herab und legt ihnen harte Fesseln an, die unser Denken und Wollen hemmen.

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6. Spinoza Bisher wurde noch nicht deutlich, weshalb der Cartesianismus nicht bloß eine Episode geblieben ist, in sich interessant, aber wirkungslos. Namhafte Resultate haben wir noch nicht vor uns gehabt. Auch der wichtigste Teil des Cartesianismus, die Physik, gab wohl ein Prinzip der Naturerklärung, aber noch nicht sonderlich bedeutsame Resultate. Ungleich wichtiger als Cartesius war in dieser Hinsicht Newton. Aber der Cartesianismus erhält dadurch historische Macht, daß zu Cartesius zwei auserlesene Geister hinzukommen, ein dogmatischer Kopf, mit der rücksichtslosen Kühnheit des Systembildners, Spinoza, und ein universal angelegter Geist, der den gegebenen Bestand an Gedanken von allen Seiten her an sich zieht, mit dem Neuen vereint und dadurch die Verbreitung des neuen Gedankens ermöglicht, Leibniz. Das Zusammenstehen der drei Männer erinnert an die drei, die dem sokratischen Gedanken zur geschichtlichen Macht verhalfen: an den Bahnbrecher Sokrates, an den, der den neuen Erwerb in scharfer Antithese zum Gegebenen ausbildete, Plato, und an den universalen Beobachter, der den ganzen gegebenen Stoff dem neuen Gesichtspunkt unterordnet, Aristoteles. Allerdings ist der griechische Vorgang wesentlich reicher und innerlich majestätischer als der, der uns jetzt beschäftigt. Worin besteht der Unterschied, der Spinoza von Cartesius trennt? Spinoza verzichtet auf das Eigenleben der Persönlichkeit, auf die Ichheit als Inhaberin einer eigenen Realität. Während Cartesius am Denkvorgang die Gewißheit gewinnt, die ihn zu der geschlossenen Bejahung »ich bin« ermächtigt, trennt Spinoza den Existenzbegriff vom Ich. Damit beabsichtigt er jedoch nicht Selbstvernichtung. Vielmehr, indem nur die eine Substanz, real ist, die alles ist, meint er Cartesius überboten und den Verzicht in Gewinn – 102 –

umgesetzt zu haben. Die einzelne Persönlichkeit hat nicht für sich Bestand, so wenig als das einzelne Ding. Aber die Realität der einen Substanz ist in ihnen, deren modi sie sind. Also empfangen die eine Steigerung an Realität und Macht über das hinaus, was für das vulgäre Selbstbewußtsein dem Menschen zugeteilt ist. Zwar löst sich die Persönlichkeit auf; aber sie hat dafür die Verschmolzenheit mit dem Alleins. Cartesius gegenüber stellt sich der Gedanke als Vereinfachung dar: er hatte dreierlei Substanzen, dreierlei, dem er eine neue Bejahung widmete. Das Subjekt unseres inwendigen Lebens ist existent; die Natur, die aus den unendlich vielen Extensa besteht, ist real. Und nachdem er zwei gezählt hatte, mußte er notwendig drei zählen. Der die Innenwelt und Außenwelt begründende und verbindende Gott ist ebenfalls real, Substanz. Statt dieser drei Substanzen anerkannt Spinoza nur die eine, wie wir sie heißen mögen, »Natur oder Gott«. Es ist nicht Zufall, daß Spinoza Jude war; denn die Entsagung, die er lehrt und übt, ist von den christlichen Zielen weit entfernt. Die christlichen Überzeugungen begründen und stärken in der Persönlichkeit das Bewußtsein ihrer Realität. Aus ihrem Verhalten entsteht Sünde oder Gerechtigkeit; sie ist berufen zum Eintritt in eine Gemeinschaft mit Gott, die uns nicht in ihm den Untergang bringt, sondern die Vollendung des Eigenlebens durch Vertrauen, durch Lieben, durch Dienst Gottes. Freilich gelangt das Ich nur durch Gott zum Leben; aber ein Verschmelzungsgefühl bleibt ihm gegenüber ausgeschlossen. Denn hier wird zuerst ein Gegensatz sichtbar, ein Willenskonflikt, Schuld; dieser Gegensatz ist überwunden durch göttliches Vergeben und Geben. Indem damit an die Stelle des Streits Friede und Versöhntheit tritt, ist dadurch die Verschmelzung und Vereinerleiung vollends ausgeschlossen. Mag der Satz, daß Gott Liebe ist, unser Bewußtsein noch so allmächtig gestalten: in dieser Verbundenheit bleibt das Distanzbewußtsein vollständig wach; Gott wird in seiner Hoheit und Selbstständigkeit schlechthin bejaht und eben in dieser Verbundenheit unser Eigenleben nicht ausgelöscht, sondern zur Vollendung gebracht. Nun ist – 103 –

zwar das Grundschema, durch das die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen geordnet wird, für die Judenschaft zunächst dasselbe wie für die Christenheit. Es ist aber in jener leichter verletzlich, weil dort das Bewußtsein eines unversöhnten Streits mit Gott schwerer überwindlich ist. Die den Menschen mit Gott verbindenden Faktoren sind dort äußerlicher Art und lassen den Einzelnen inwendig frei. Die Berufung zu Gott ist der Nation gegeben, nicht dem Einzelnen; ihr Zeichen ist der Besitz des heiligen Buchs; im Vollzug des Rituals wird sie bewahrt. Man hat zwar einen Kanon, aber nicht ein Dogma, das innerlich angeeignet werden müßte, ein Ritual, aber keinen Beruf, in den der Einzelne seinen Willen zu legen hätte. So bleibt er leicht in sich selbst leer, ohne Gewißheit und ohne Motiv. Aus dem Nichtigkeitsgefühl, das uns die Unendlichkeit der Natur bereitet, entsteht hier leichter der Entschluß, das eigene leere Dasein wegzuwerfen, als da, wo in irgend welchem noch so abgestuften Maß eine christlich bestimmte Gottesgewißheit das Selbstbewußtsein regelt. In den orientalischen Religionen ist ein ähnliches Verhältnis zur Gottheit, wie es Spinoza anstrebt, längst durchgeführt worden. Im Bereich des Brahmanismus und Buddhismus gilt es als die Aufgabe des Einzelnen, in das Urreale, Eine sich aufzulösen. Gegen diese orientalischen Traditionen blieb die Kirche in der Hauptsache verschlossen, während sie sich in der synagogalen Überlieferung von der hellenischen Zeit her als geheime Weisheit (Kabbala) fixiert haben. Doch wäre es schief, Spinoza nur mit den pantheistischen Gedanken der jüdischen Mystik zu verbinden. Er ist Cartesianer. Das Motiv, das ihn vor allem bestimmt, ist die neue Vorstellung von der Natur. Sie machte auf ihn den Eindruck, daß wir vor der Unendlichkeit der ein Continuum bildenden Extensa und vor der absoluten Bestimmtheit ihrer Bewegungen, des einzigen Vorgangs, auf den nun der ganze Naturprozeß reduziert war, auf unser Ich verzichten müßten, wie auch das einzelne Naturwesen keinen eigenen Bestand besitzt. Nur einen einzigen Vorgang des seelischen Lebens bestätigte das neu gewonnene Bild der Natur, und ihm – 104 –

verschaffte es nun unbeschränkte Geltung, unserem Raumbild und dem mit ihm uns gegebene Vermögen zu zählen und zu messen. Die Mathematik, die von jedem Zweck befreit, mit keiner Begehrung verwachsen und mit keiner Notwendigkeit ausgestattet ist, die sie von unserem persönlichen Eigenleben völlig trennt, gibt der Natur die Bestätigung. Ihr gewährte Spinoza eine geschlossene, von keinem Zweifel berührte Bejahung. Daraus folgte, daß er den Denkakt neben die im Raum geschehende Bewegung stellte und an der Verschiedenheit des Ausgedehnten und des Denkens festhielt, und beide legte er nun hinein in die eine Substanz, die das allein Reale ist. Für den Gottesbegriff schien erst damit ein faßlicher Inhalt gegeben zu sein, während bisher Gott das Mysterium und darum immer, wie er mit kritischer Schärfe sagte, das asylum ignorantiae blieb. Er war im Unrecht, als er diesen Gebrauch des Gottesgedankens tadelte. Unsere Ignoranz ist sehr real und drückt oft genug schwer, weshalb wir für unsere Unwissenheit ein »Asyl« brauchen, durch das sie uns erträglich wird. Der Gottesgedanke ist uns auch dazu gegeben, damit wir in der Bejahung des göttlichen Wissens unsere eigene Ignoranz ertragen. Aber darin hat er freilich Recht, daß der Gottesgedanke nicht nur als Schirm der Ignoranz verwendbar ist. Für ihn hat er nun Deutlichkeit. Gottes Attribute lassen sich benennen und liegen vor unserem Blick es sind die Ausdehnung und das Denken, an denen sich die unendliche Reihe der modi, der Besonderungen, bildet, zu denen wir wie alles Einzelne im Weltall gehören. Machte er uns wirklich dadurch, daß er uns in der Unendlichkeit der mit Länge und Breite und Tiefe ausgestatteten Materie und in der unendlichen Reihe von Denkakten die Attribute der Natur oder Gottes zeigt, den Gottesbegriff durchsichtiger? Bald nach Spinozas Ethik schreibt Locke: der Substanzbegriff sei völlig dunkel; was eigentlich noch bleibe, wenn von den Dingen die Attribute abgezogen seien, sei schlechthin undefinierbar, ein inhaltsloses Unbekanntes. Wir sollen nach Spinoza nicht sagen, Gott sei die Ausdehnung, Gott sei das Denken, sondern er habe das an sich als seine – 105 –

Attribute. So bleibt, was denn eigentlich die Substanz sei, völlig unbenennbar. Machen wir aber die Formel »Substanz und Attribute« uns dadurch zugänglich, daß wir den Kausalgedanken einsetzen und die Merkmale der Substanz auf ihre Aktion zurückführen, so stehen wir dadurch, daß Gott nun als der Erzeuger des Raums und dessen, was ihn füllt, und als der Erzeuger des Denkens beschrieben ist, dicht neben dem alten Gottesgedanken, der ihn den Schöpfer nennt. Wir sollen aber nach Spinoza den Kausalitätsgedanken nicht heranziehen, sondern die Natur mit einem ruhenden Ding vergleichen, um dessen unnennbaren Kern herum Eigenschaften liegen. Merkwürdig ist, daß er der Substanz, doch nicht einzig das Denken und die Gedehntheit beilegt, sondern außerdem noch für uns unnennbare Attribute in unendlicher Zahl. Ähnliches ist auch sonst im cartesianischen Kreise zu konstatieren. Auch Malebranche hat gefragt, ob man sagen dürfe, es gebe einzig ausgedehnte und denkende Substanzen, ob es nicht auch Dinge geben könne, die weder dies noch jenes seien. Die Tatsachen binden den rationalen Denker nicht; im Gegebenen hat er nicht die sein Denken normierende Regel. So schweift er hinüber in den Bereich angeblicher Möglichkeiten und die reine Vernunft fängt zu dichten an. Bei Spinoza tritt aber das, was hier nur als Möglichkeit erwogen wird, als fertiges Dogma auf. Er kommt damit dem überlieferten Gottesgedanken entgegen, der in Gott den Inbegriff aller Vollkommenheiten ansetzt. Dem entsprechen die Raumgebilde und Vorstellungen nicht ganz. Doch das sind nur diejenigen Attribute, von denen wir die modi sehen. Die Substanz ist noch unendlich mehr. Vielleicht hat dieser Gedanke die Anziehungskraft des Spinozismus wesentlich verstärkt. Mancher hat sich in ihn hineinzudenken versucht, der für die Reduktion der Natur auf Mechanik und des Denkens auf Mathematik nicht zu haben war, z.B. Goethe. Allein wenn auch nur als unfaßliche Ahnung, der Gedanke war doch da: die Mechanik sei nur die Oberfläche eines unergründlichen Ozeans von Energie und Lebendigkeit und mit dieser unübersehbaren Fülle von Bildungskraft sich eins zu wissen ergab mitten in allem Nichtigkeitsbewußtsein doch eine süße Steigerung des Selbstgefühls. – 106 –

In der Anthropologie ergaben sich aus der Einzigkeit der Substanz, wie es schien, einfache Lösungen für alle jene Schwierigkeiten, die die Cartesianer bearbeiteten. Sie stießen sich an der Berührung von Leib und Seele und suchten nach Formeln, die den sog. influxus physicus beseitigen sollten. Sie arbeiteten am Problem des Sehens, sodann am Problem der Wahrheit, woher der Irrtum entstehe, und wie unser Denken wahr sein könne, wie es ans Reale gelange. Stattdessen hatte Spinoza die beiden Reihen der modi, die Bewegungs- und Denkvorgänge, nebeneinander, ohne daß er ein Entstehen der einen Reihe aus der andern lehren mußte, und doch blieben sie verbunden: es waren ja Besonderungen der einen und selben Substanz. Stets entsprechen den Vorstellungen Bewegungen, den Bewegungen Vorstellungen. Den Inhalt der Vorstellungen bilden einzig die bewegten Extensa. Die Mathematik erzeugt nicht die Bewegung, die Bewegung nicht die Mathematik; der Leib wirkt nicht auf die Seele, die Seele nicht auf den Leib. Beide Reihen des Geschehens laufen voneinander unabhängig, aber einander parallel. Damit war ein großer Teil des menschlichen Selbstbewußtseins als Schein gestrichen. Alles, was uns als Handlung, als Wille, als Zweck erscheint, war kassiert. In uns selber sind die Gegensätze, in die wir uns zerspalten, nur Illusionen: Gutes und Böses, Recht und Unrecht, Irrtum und Wahrheit, ja sogar Schmerz, und Lust. In all dem ist Reales, all das sind nur modi derselben Substanz. Spinoza ist Optimist; der Schmerz entsteht durch den Übergang zu einer geringeren Vollkommenheit. Irrtum ist ein geringerer Grad von Wahrheit. Recht und Macht sind eins. Über den Gegensatz, in den sich Spinoza damit zum gegebenen Selbstbewußtsein stellt, war er sich vollkommen klar. Von einem Naturgegenstand wie dem Straßburger Münster würden, meint er, die Leute immer wieder sagen: hier sei ein Zweck realisiert worden; der Architekt habe das Gebäude so bauen wollen. Aber selbstverständlich ist der Zweckgedanke bei dieser Art von Naturgebilden ebenso unanwendbar wie bei einer Blume ober einem Kristall. Und wenn wir erwiderten, es sei doch notorisch, daß hier die Idee dem Bau vorangegangen sei, der Architekt habe ja den Plan gezeichnet, so ist natürlich zugegeben, daß – 107 –

hier in gewissem Sinn die Idee des Münsters seiner Zusammensetzung vorangegangen ist; dennoch ist diese ausschließlich aus den körperlichen Bewegungen abzuleiten und das, was der vorangehenden Idee des Münsters real entsprach, waren die Schwingungen im Körper des Architekten. Der Entschluß, das uns gegebene Selbstbewußtsein zu kassieren, entstand aus dem neuen Naturbild. Die Leute sagen: »ich sehe, ich gehe, ich tue dies, damit das geschehe«; das ist alles Schein; sie handeln nicht, sie wollen nicht. Sagten sie nicht auch: »die Sonne scheint, das Meer rauscht, der Vogel singt, die Rose ist rot« usf., und nun war doch erkannt, daß es nur einen einzigen Naturvorgang gibt, nur den die Bewegung erzeugenden Stoß? War es denn verwunderlich, daß die Wissenschaft auch im Innenleben ein unermeßliches Gebiet des Scheins enthüllte, wenn sie im Naturbild so viel als Schein erwies? Diese Anthropologie erforderte eine neue Ethik. Auf christlicher Seite hat sein Unternehmen, eine Ethik zu schreiben, oft den Eindruck einer groben Inkonsequenz gemacht, weil für den christlichen Gedanken der Begriff Ethik mit den Begriffen Wille, Gesetz, Zweck, Gut und Böse unlöslich verbunden ist. Da nun Spinoza den Zweck und Willen kassiert, so scheint die Ethik zu fallen. Allein schon die Erinnerung an die Ethik der Cartesianer erläutert, wie vom Standort Spinozas aus eine Ethik für ihn zu seinem Hauptwerk werden konnte. »Richtig denken ist das Fundament der Moral.« Vom richtigen Denken ist aber die Menschheit gerade von Spinozas Standort aus noch weit entfernt. Sie hegt eine Menge von Vorstellungen, die von der Klarheit des mathematischen Denkens weit entfernt sind, so daß sie etwas ganz anderes darzustellen scheinen als Abbildungen des Naturmechanismus. Einzig der Philosoph erkennt in diesem Gewoge von Schmerz und Lust, von Leidenschaften und seelischer Verwicklung aller Art den regelrechten Ablauf der der Körperwelt parallelen Vorstellungsreihe. Und zwar erzeugen nicht nur historische Traditionen etwa von aristotelischer oder jüdischer oder christlicher Herkunft die Verwirrung; das würde noch nicht zu einer Ethik führen, sondern nur zur – 108 –

Polemik oder Pädagogik, die mit der Erreichung ihres Ziels erledigt wäre. Solchen Zielen diente der tractatus theologico-politicus. Es sind aber nicht einzig geschichtliche, sondern natürliche Faktoren, die die unklaren Vorstellungen erzeugen. Immer haben die Menschen Affekte, immer Lust und Schmerz. Die Aufklärungsarbeit ist hier also eine permanente. Es muß immer wieder verdeutlicht werden, daß das ganze Getriebe unseres inwendigen Lebens nichts ist als die Abbildung des natürlichen Mechanismus, im Gegensatz zum Schein, mit dem sich unser Bewußtsein zunächst füllt. Natürlich kann und will Spinoza keine Normen aufstellen, die den Anspruch erheben, uns die Willensziele zu nennen und unsere Wahl vorzubereiten. Seine Ethik will nicht gebieten, sondern erklären. Was in uns mit dem Schein des Willens und Handelns vorgeht, was als Schmerz und Furcht und Lust und Begehrung in uns auftaucht, das wird konstruiert und in seiner naturhaften, mechanischen Begründetheit aufgezeigt. Die Ethik wird deskriptiv. Sie weist nach, wann und warum die inneren Vorgänge eintreten und wie sie aufeinander einwirken. Darum hat sie den ihr entsprechenden Effekt unmittelbar in sich selbst. Auf dem hergebrachten Standort bleibt die Wirkung der Ethik unsicher; sie muß es dem Handelnden überlassen, ob er gehorchen will oder nicht. Wird dagegen die Ethik spinozistisch verstanden, so schafft sie durch die Aufklärung über den Bewußtseinsinhalt unmittelbar ihren Effekt. Moralwissenschaft und Moralität fallen hier zusammen. Wissenschaft und Praxis sind eins und dasselbe. Der Moralist kann nur das eine suchen: daß wir uns selbst verstehen. Indem wir uns begreifen, ist das Ziel der Ethik erreicht, weil mit der Einsicht in die Art des Willensvorgangs das richtige Verhalten gewonnen ist. Ohne Frage ist diese erklärende Ethik eine neue Erwerbung, die einen positiven Fortschritt bildet. Geschichtlich wirkt sie nur langsam und spärlich, weil Spinoza abseits steht als ein einsamer Mann ohne Vermittlung mit den gegebenen Sozietäten. Erst diejenigen Kantianer, die die Freiheit strichen, Schopenhauer, Herbart, Schleiermacher, haben den spinozistischen Standpunkt in der Ethik wieder aufgenommen. Im Übrigen aber bleibt das antike Vorbild, – 109 –

der aristotelisch-stoische Stoff, für die Morallehre der Aufklärung maßgebend. Allerdings war auch diese Ethik in gewissem Sinn deskriptiv; was sie uns als Tugend vormalt, beschreibt Willensformen. Diese Beschreibungen dienen aber ausschließlich dem Ziel, ein Idealbild zu schaffen, nicht den wirklichen Hergang zu erklären. Auch wenn die christlichen Ethiker Kasuisten werden, also mitten in den konkreten Stoff hineingreifen, haben sie nur die Absicht, die Pflichtformeln festzustellen, denen in diesen konkreten Fällen Gehorsam geleistet werden soll. Hat denn aber der Ethiker nichts zu beobachten, nichts zu begreifen? Soll er bloß gebieten? Diese Frage entsteht nicht nur aus der besonderen Anthropologie Spinozas, sondern auf jedem Standort. Freilich besagt der Freiheitsgedanke, daß der Wille ein Erstes sei, ein Anfang, also unerklärlich, ein Mysterium. Aber entsteht unser Wollen lediglich aus Freiheit? Hat es nicht ein ihm gegebenes Gesetz? und vollzieht sich in unserem Inneren nicht eine Geschichte? Die Thesen, durch die Spinoza diese Geschichte deutet, sind freilich nur auf seinem religiösen Standort möglich. Er besaß kein anderes Wissen mehr als die Mathematik und mit der vollständigen Geschichtslosigkeit des Mechanikers kommen wir nicht an die Willensvorgänge heran. Mit seinen Mitteln konnte er die von ihm angefaßte Arbeit nicht vollenden; aber es bleibt ihm das Verdienst, daß er sie begonnen hat. Von seinem Standort aus bestimmt sich seine Methode. Er baut die Ethik ordine geometrico auf; d.h. er konstruiert. Die Elemente seiner Konstruktionen sind seine Definitionen und Axiome, Erkenntnisse, denen er unmittelbare Evidenz zuschreibt. Nachdem diese Elemente gegeben sind, bewegt er mittelst des Syllogismus den Gedanken vorwärts. Er ist also in der Ethik reiner Rationalist. Die Beweiskraft, d.h. das, was Überzeugung schaffen soll, liegt ihm in der Verknüpfung der neuen Begriffe mit den als Fundament dienenden Obersätzen. Indem das Begriffsnetz ohne Riß und Lücke gesponnen wird, scheint ihm die vollkommene Evidenz erreicht und damit das Resultat der Ethik garantiert. Da er nicht gebieten, sondern begreifen will, so ist, je höher er die Evidenz führt, um so vollendeter nicht nur die Moralwissenschaft, sondern auch, was – 110 –

mit ihr identisch ist, die Moral. Eine gebietende Ethik hat dagegen notwendig einen positiven Charakter. Sie findet die Pflichtformeln vor, unter die wir gestellt sind, als ein Datum, ableitbar nur aus Gottes Willen. Gutes und Böses behält die Unerklärbarkeit einer Willensentscheidung, einer Setzung aus der Persönlichkeit heraus. Über diese Ethik, die immer an einem Mysterium die Grenze ihres Erkennens hat, fühlt sich Spinoza hinausgehoben. Wie es für die Natur im cartesianischen Bereich eine absolute Wissenschaft geben kann, da ja der eine und selbe Vorgang, der wissenschaftlich beherrschbar ist, den ganzen Naturprozeß erzeugt, so gibt es nun auch für die Ethik ein absolutes Wissen, gelingende Konstruktion, die ein geschlossenes System erreicht. Der Gedanke, die Ethik geometrico ordine zu bearbeiten, taucht auch sonst im cartesianischen Kreise auf; auch Leibniz hält dies für das Ideal der Moral. Man könnte erwarten, zuerst würde doch eine Physik geometrico ordine geschaffen, da ja die Anwendbarkeit der Mathematik auf den Naturprozeß feststeht. Aber die Positivität der Natur sträubt sich gegen ihre Konstruktion. Mag man noch so geringschätzig von den Empirikern reden, so macht sich doch unwillkürlich die Überzeugung geltend, daß man für die Konstruktion der Natur den konkreten Beobachtungstoff haben sollte und längst nicht in genügender Vollständigkeit habe. Bei den inwendigen Vorgängen scheint es anders zu liegen: sie stehen deutlich und vollständig in unserem Bewußtsein. Die Materialien scheinen für die Konstruktion gegeben zu sein; es braucht nur noch den logischen Künstler, der sie zur Einheit ineinanderfügt. Spinoza meinte, mit seinem Substanzgedanken sei das Werkzeug gegeben, das die Konstruktion gelingen lasse. Das Resultat der begreifenden Arbeit ist Freiheit und Seligkeit. Indem wir den Mechanismus unserer Triebe begreifen, entsteht Befreiung von ihnen, Erhebung über sie, Tilgung des Schmerzes, und nicht nur Empfindungslosigkeit und Apathie, sondern etwas positiv Wertvolles Ruhe und Lust. Will man formale Maßstäbe zur Kritik dieses Gedankens verwenden, so kann man freilich sagen, der Anfang und das Ende – 111 –

dieser Ethik ständen miteinander in Widerspruch; sie beginne mit totaler Abhängigkeit und ende mit Freiheit; zuerst reduziere sie das Denken auf mathematische Vorstellungen; dann begründe sie Seligkeit. Werden durch die Begriffe Freiheit und Seligkeit körperliche Bewegungen dargestellt? Es kommt im Resultat der Ethik zum Vorschein, daß der von der Natur uns gegebene Bewußtseinsinhalt vom Philosophen nicht zerstört werden kann, daß das Freiheits- und Seligkeitsideal Anerkennung heischt, daß der ursprüngliche Ansatz dieser Ethik zu kurz ist und das Ende über ihn hinauswächst. Allein diese Kritik, die die formale Konsequenz, gegen ihn geltend macht, beweist doch nur, daß sich die seelischen Tatsachen nicht konstruieren lassen, so wenig als die physischen. Diese Erkenntnis darf heute ein Gemeingut heißen. Spinozas Gedanke behält aber auch dann sein Gewicht, wenn wir ihn von den Illusionen der »geometrischen Methode« befreien. Auch im Verzicht auf das Eigenleben bleibt Spinoza Mensch, und eben die Weise, wie er Menschlichkeit, die frei und selig zu sein begehrt, mit seinem Grundgedanken vereint, gab ihm seine Macht. Indem er alle Affekte und Empfindungen der mechanischen Betrachtung unterwirft, den Willen als Illusion beseitigt und Lust und Schmerz in Erkenntnisse verwandelt, dadurch, daß er ihre Beziehung zu den notwendigen Vorgängen in der Körperwelt erkennt, begründet er Freiheit und Seligkeit nicht als Illusionen, sondern als reale Kräfte, die der Denker durch sein Erkennen in sich erzeugt. Denn Erkennen ist Macht; im Begreifen liegt immer eine Erhebung über das Begriffene. Indem die Notwendigkeit des Geschehens erkannt ist, ist uns ein Quietiv gegeben, ein Motiv zur Ruhe, und indem wir in allem die eine Substanz erkennen, ist uns nicht nur passive Ergebung, sondern Lust verliehen, die Lust des Erkannthabens und die Lust des uns Geeintwissens mit Gott, amor intellectualis dei. Der Grundriß der cartesianischen Ethik ist nicht überschritten. Wir erhalten eine reine Individualethik: der Staat ist des Einzelnen wegen da, weil dieser so freier lebt, als wenn er vereinzelt ist. Der Eudämonismus bleibt: Liebe ist das mit der Vorstellung ihrer Ursache begleitete Vergnügen, die Liebe Gottes das am Gottesgedanken – 112 –

entspringende Vergnügen. Die Ethik ist Asketik, da der einzig in sich wertvolle Vorgang das Denken ist. Eben dadurch bleibt aber Spinozas Ziel von der Ethik der indischen Alleinslehre unterschieden. Obwohl er einzig die Substanz als real bejaht, endet er nicht in Selbstzerstörung, Apathie oder ewigem Schlaf. Denn er hat in der Welt nicht nur Schein sich gegenüber, sondern gibt der Mathematik den vollen Wert des Erkennens. So bekommt er einen Optimismus; der Natur gegenüber begründet er sich an der Unerschöpflichkeit ihrer mechanischen Prozesse; am Innenleben dadurch, daß er imstande ist, alle Gegensätze aufzulösen in ein Mehr oder Minder von Vollkommenheit. Damit ist erläutert, weshalb Spinoza unter seinen Zeitgenossen ein einsamer Mann blieb. Es würde wenig geschichtlichen Sinn verraten, wenn wir es für möglich hielten, daß sich eine größere Zahl seiner Zeitgenossen in Bewunderung um ihn sammelte. Sie hätten alles vergessen müssen, was ihnen durch die Umgebung und Erziehung als heilig und gewiß entgegengebracht wurde. Erst wenn die christlichen Überzeugungen verklungen sind, kann das Schema Spinozas angeeignet werden und zu geschichtlicher Macht gelangen. Sowie aber die das christliche Wollen ausdrückenden .Kategorien erschüttert sind, bietet sich immer Spinoza durch die theoretisch und praktisch saubere Durchführung des Monismus als Vorbild dar, bei dem man die Ausfüllung der leer gewordenen Stelle im menschlichen Bewußtsein sucht. Der erste Moment dieser Art trat mit dem Erlahmen der Aufklärung ein, als Lessing sich als Spinozisten bezeichnete, Jakobi alle Wissenschaft für spinozistisch ausgab und sich nur ein christliches Herz, nicht auch einen christlichen Kopf retten zu können meinte, als Goethe nach Spinoza griff in der Hoffnung, bei ihm den klärenden Gedanken zu finden, durch den er sein Verhältnis zur Natur und Welt ordnen könne. Schelling hat gemeint, es müsse eine seltsam verdüsterte Periode gewesen sein, in der man ernsthaft habe behaupten können, die Wissenschaft müsse Spinozismus sein. Er hat sich aber in seiner Verehrung für die Produktionsmacht des Denkens den Konflikt nicht verdeutlicht, in den die Aufklärung – 113 –

schließlich den Menschen versetzt. Der Mensch war über die Natur emporgehoben und kommt für den Inhalt seines Lebens selber auf. Er stellt die Wissenschaft her durch reine Vernunft, verschafft sich den guten Willen, da er ja tugendhaft ist, und sorgt für sein Glück, da man in der Aufklärung unglücklich nur durch eigene Schuld wird. Gestützt wird diese Höhe des Selbstbewußtseins dadurch, daß sowohl die Natur als Gott in den Dienst des Menschen gestellt sind. Gott sorgt durch seine Providenz, daß es dem Menschen gut geht, und die Natur reicht ihm in ihrer Allweisen Ordnung die Bedingungen nicht nur zum Sein, sondern auch zum Wohlsein dar. Aber zu diesen Aussagen stellte sich die Wirklichkeit in einen schroffen Kontrast. Die Vernunft schuf ihre Metaphysik bloß aus einigen hypostasierten Abstraktionen, mit denen wenig anzufangen war; die Tugend gab allgemeine Schemata des edlen Handelns, und doch hatte man nichts zu tun; das Glück bestand in Sentimentalität, im immer wiederholten Auskosten der Empfindungen. Ein Gefühl der Leere bricht auf, der Vereinsamung. Da winkt Spinoza: diese Höhe, auf die der Mensch sich stellt, ist Einbildung; er sinke hinab in die Natur, bescheide sich, eine besondere Gestaltung des All-Einen zu sein. Da sei wirklicher Gehalt, echtes Leben. Aber es bleibt doch nur beim Versuch, Spinozist zu sein. Jene Zeit war noch viel zu mächtig von humanen Idealen beherrscht, als das; es ihr gelänge, die Persönlichkeit aufzulösen in eine Reihe von Vorstellungen der Körperwelt. Nur als letzte Zuflucht in der Not winkt Spinoza. Das ist aber ebenso wenig unverständlich als z.B. Rousseaus Schrei nach der Natur oder der deutsche »Sturm und Drang«. Die »Idylle« auf der Petersinsel im Bielersee, wo Rousseau im Boote liegt, tatlos, willenlos, zeitlos, nur hinausschauend in die Natur und mit ihr eins sich fühlend, ist in der Empfindungssphäre dasselbe, was die um scharfe Denkformen sich Mühenden ausdrückten, wenn sie sagten: unser letztes Wort ist: wir sind Spinozisten. Ernster wurde der Anschluß an Spinoza in der durch Kant geschaffenen Situation, nachdem das Ding an sich verschwunden war, verschwunden auch der rationale Gott, und übrig geblieben war als – 114 –

die Schöpferin des ganzen Inhalts des Bewußtseins die Vernunft. Von wessen Vernunft war hier die Rede? Sie schaut, und durch ihr Schauen entstehen Raum und Zeit. Sie denkt, und durch ihr Denken entstehen Substanzen und Kausalitäten, Dinge und Prozesse in ihrer Realität und Gesetzmäßigkeit. Diese Vernunft ist die meine und doch nicht die meine. Es ist die allgemeine Vernunft, diese aber hypostasiert, das reine Ich, aber dieses als die meine Welt schaffende Macht. Zu dieser allgemeinen Vernunft verhält sich meine Vernunft wie der modus zum Existenten. Die Erinnerung an Spinoza bot sich unmittelbar dar. Auch der Verzicht, mit dem er das Eigenleben der Persönlichkeit verneint, kehrt hier wieder. Nicht in seiner Besonderheit soll sich das Einzel-Ich erhalten oder verteidigen. Seine Besonderheit ist seine Endlichkeit, das, was nichtig und sterblich an ihm ist. Daß in unserem Denken das allgemeine Denken denke, daß in unserer Logik die das Weltgesetz seiende Logik sich offenbare, daß unser empirisches Ich in das reine Ich aufgehe, soweit es kann, das ist das Ziel. Eine Wiederholung des Spinozismus entstand auch hier nicht. Denn die Kantianer setzen die Einheit mit der die Welt bildenden Macht in das Denken. Bei Spinoza stehen dagegen die Vorstellungen und die Körper nebeneinander im Gleichgewicht. Die Natur entsteht hier nicht aus dem Denken, sondern haftet zusammen mit dem Denken an der einen Substanz. Daher ist auch bei den Kantianern die Einigung mit der Gottheit durch Tätigkeitsbegriffe auszudrücken. Nicht ein Sein als besondere Modifikation in der seienden Substanz ist das Ziel, sondern daß wir denken durch Gottes Denken, das ergibt die Geeintheit mit ihm. Daher kommt es nur in beschränktem Maße zur Wiederaufnahme der spinozistischen Ethik. Schleiermachers Ethik ist freilich deskriptiv, hat aber nur geringe Bedeutung erlangt, weil sie bloß mit hypostasierten Abstraktionen arbeitet. Die dritte, wirksamste Periode, in der der Spinozismus bisher mächtig wurde, entsteht durch die Ahnung, daß der gesamte Naturprozeß eine reale Einheit darstelle. Die physikalischen Vorgänge neigen sich einander zu; die Möglichkeit dämmert, sie als Modi– 115 –

fikationen einer Kraft aufzufassen. Die Organismen sind auf ein Grundelement reduziert: die lebendige Zelle. Von der Mannigfaltigkeit der Typen ist zu hoffen, daß sie sich in eine einheitliche Entwicklungsreihe einstellen lasse. Die Abhängigkeit des seelischen Lebens von den körperlichen Funktionen hat sich im Einzelnen verdeutlicht. Daraus entsteht der Gedanke an eine den ganzen Naturprozeß einheitlich erzeugende Kraft und das Verhältnis der Einzelpersönlichkeit ihr gegenüber bestimmt sich dann dahin, daß sie sich eben als Modifikation dieser einen Naturkraft einzuschätzen habe. Orthodoxer Spinozismus entsteht so nicht, da die Reduktion der Natur bloß auf den Stoßvorgang unmöglich ist. Unsere Physiker arbeiten alle mit der Vorstellung Kraft; d.h. sie anerkennen kausale Relationen zwischen den Naturvorgängen. Dadurch bestimmt sich auch die Ethik. Dieser Spinozismus gewinnt an seinem Einheitsgefühl mit der Allkraft nicht nur ein Quietiv, nicht nur Resignation, sondern ein Motiv, eben das, die Kraft aktiv zu machen, die in uns ist. Die Ethik, die im Terminus »sich ausleben« ihr Merkmal hat, kann im naturalistischen Spinozismus ihre Prämisse finden. Sie braucht auch nicht individualistisch zu bleiben, da die Natur nicht Einzelwesen, sondern zu Sozietäten verbundene Ganze schafft. Deskriptiv und nur deskriptiv bleibt diese Moral und sie hat dadurch ernsthafte, praktische Bedeutung bekommen. Wenn im Gerichtssaal der Psychiater sein Gutachten über ein Verbrechen abgibt, so entwickelt er keine Gebote; er erklärt; was er aber erklärt, das ist ein Willensvorgang. Er trägt ein Stück deskriptiver Ethik vor und diese Bewegung hat noch bei weitem nicht alle ihre Resultate gezeitigt. Vielleicht steht dem mit staatlicher Macht ausgerüsteten und vorbeugend arbeitenden Hygieniker des Nervensystems (im Unterschied vom Pathologen) noch eine für die Ethik unserer Völker höchst fruchtbare Wirksamkeit bevor.

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7. Leibniz Der dritte Große neben Cartesius und Spinoza, Leibniz, war nicht ein Glied der Synagoge, sondern der Kirche, und man darf sagen: ein Deutscher. Deutsch dürfen wir an ihm die unerschöpfliche Freude am Lernen, am Beobachten, am Sehen heißen, die sich auf alles erstreckt, auf die Mathematik, aber auch auf die Theologie, auf das Moderne, aber auch auf das Antike. Deutsch darf man weiter heißen seine Unfähigkeit, auf das Eigenleben zu verzichten und die spinozistische Vereinerleiung des Besonderen mit dem Alleins zu vollziehen. Er hat seine Freude an der Individualisierung, die er nicht nur für den seelischen Bereich, sondern auch für die ganze Natur behauptet hat. Deutsch ist auch sein Widerspruch gegen die Leblosigkeit der Natur, gegen ihre Reduktion auf die Maschine allein, und weiter die harmlose Vergnüglichkeit, mit der er sich an der Welt freut. Sie ist ja so wunderschön, die weite, weite Welt! Aber Leibniz ist gleichzeitig ein Dokument unseres nationalen Unglücks. Schon das ist von Wichtigkeit: er hat keine Sprache; denn er hat deren drei: ein unbehilfliches Deutsch, das übliche Gelehrtenlatein, tot, und für seine Hauptarbeiten das Französisch, das wenigstens leserlich ist, aber auch für ihn eine fremde Sprache bleibt. Sodann hat Leibniz ein sehr unentwickeltes Verhältnis zur Kunst. Ob seine Bücher hundert Seiten länger oder kürzer sind, das ist Zufall. Formlos, zerflossen bleibt die Darstellung, was freilich nicht nur mit dem nationalen Zustand, sondern auch mit der Überzeugung des Rationalisten zusammenhängt. Es denkt ja die reine Vernunft, und wozu braucht diese ein Verhältnis zur Kunst? Aber Leibniz᾽ Leser blieben Menschen, nicht die konstruierten des Rationalismus, sondern wirkliche, denen ein geformter Gedan– 117 –

kengang faßlicher und eindrücklicher bleibt als ein formloser. So wirkt Leibniz bald nur durch an ihn angelehnte Handbücher und dies hat den Fortgang der philosophischen Bewegung wesentlich geschwächt. An der Realität der menschlichen Persönlichkeiten hält er fest. Jede von ihnen ist eine Monas, nicht nur nach außen hin geschlossen, sondern auch in ihrer eigenen Lebensbewegung durch einen geschlossenen Kausalkonnex geeint. Unser Innenleben ist Vorstellen; darin bleibt er Cartesianer. »Vorstellungen erzeugende Kraft«: das ist der Mensch. Aus der unendlichen Variabilität der Vorstellungen nach dem Inhalt und nach dem Grad ihrer Klarheit ergibt sich die qualitative Differenz der Monaden, ihre Individualität. Für die Fassung des Selbstbewußtseins ergab sich eine wichtige Veränderung dadurch, daß er die halbbewußte und unbewußte Seite am seelischen Prozeß beachtet hat. Bewußtsein und Seelenleben decken sich für ihn nicht. Perzeption und Apperzeption sind zu unterscheiden. Denn das Seelenleben enthält eine unendliche Zahl von kleinen Vorgängen, die nicht als solche aufgefaßt werden und doch keineswegs effektlos bleiben. Vielmehr entstehen die bewußten Denkakte unter der Mitwirkung dieser unbewußten Perzeptionen. Vom ursprünglichen Ausgangspunkt des Rationalismus bog diese Beobachtung sehr empfindlich ab. Wo blieb das große Ziel: die klare und deutliche Vorstellung, nichts sonst darf in uns herbergen? Nun hausen in uns diese unkontrollierbaren Größen ohne Zahl, die oft ganz hinter der Bewußtseinsgrenze bleiben, oft nur dunkel mitempfunden werden bei ihrer doch so eingreifenden Wirksamkeit. Die Reduktion des geistigen Lebens auf Mathematik allein war damit ernsthaft bedroht. In unserer Vorstellungsreihe herrscht ein gebundener Kausalzusammenhang. Den Willen gibt Leibniz preis; in dieser Kardinalfrage trat er Spinoza gegen Cartesius bei. Demgemäß wird die Unterscheidung von gut und böse abgelehnt. Das Böse ist nur eine Privation, d.h. eine Begrenzung der positiven Kraft, ein Mehr oder Minder von Vollkommenheit. Ganz konsequent war er nicht. Seine – 118 –

Unterscheidung zwischen der metaphysischen Notwendigkeit und der hypothetischen Notwendigkeit stört zwar den Determinismus nicht. Auf diese hat er Wert gelegt, einmal, um den Gegensatz zur populären Tradition zu schwächen, sodann, weil ihm diese Unterscheidung für die Bestimmung des wissenschaftlichen Ziels wichtig war. Die metaphysische Notwendigkeit ergibt die apriorischen Urteile, den reinen Rationalismus. Aber auf diese allgemeinen und notwendigen Urteile läßt sich der Geschichtslauf nicht reduzieren. Er ist zwar auch notwendig, aber nur hypothetisch, d.h. durch den hier waltenden Kausalverband ist der Eintritt des bestimmten Vorgangs erzwungen. Dadurch erhält sich Leibniz, im Rationalismus. Die contingentia bleiben so das Untergeordnete, da sie bloß eine hypothetische Notwendigkeit haben, und die allgemeinen und notwendigen Wahrheiten behalten ihren bevorzugten Ehrenplatz. Dagegen ist eine Inkonsequenz darin sichtbar, daß wiederholt gesagt wird: im Moment der Willensentscheidung sei zwar von Freiheit nicht zu sprechen; aber wir könnten unsere Entscheidung vorbereiten durch den ihr vorangehenden Vorstellungslauf. Er benutzt damit einen Gedanken, der auch dem Theologen nie fremd war, daß die Zurechnung nicht nur auf den Willensakt allein beschränkt bleibe, sondern sich auf alles, was aus diesem entsteht, ausdehne. Aber bei Leibniz bleibt es völlig dunkel, wie denn in den früheren Momenten eine Erklärung der Zurechnung zu finden sei. Denn diese früheren sind alle ihrerseits determiniert. Die Verantwortlichkeit wird zurückgeschoben vom Willensakt weg auf das, was voranging; aber sie findet dort keinen Ort, wo sie sich festsetzen kann. Für die Natur gibt Leibniz zunächst das moderne Erlösungsprinzip ohne Einschränkung zu. Alles ist Stoß, alles Mechanik. Aber die mechanischen Gesetze sind selbst nicht mechanisch entstanden, sondern metphysisch zu begründen. Sodann erklärt er den Begriff »Kraft« für unerläßlich. Der Stoß fahre nicht nur durch die Materie durch wie durch ein Medium, das keinen Widerstand leiste. Deshalb sei der Körper nicht erklärt mit dem Merkmal der Extension allein. Die Kraft, die seine Solidität und Impenetrabilität ergebe, – 119 –

gehöre notwendig zum Begriff des Körpers. Dem entspricht, daß wir in der Natur nirgends nur Materie ansetzen dürfen. Alle Materie sei Leib einer Seele; d.h. Monaden, die ein Innenleben führen in Analogie mit uns selbst, sind überall zerstreut. Er bekommt also eine Wesenseinheit zwischen allem Seienden in einer unendlichen Skala gradueller Unterschiede, nach dem Grad des Innenlebens, d.h. des Vorstellungsvermögens. Zu oberst steht die von aller Verworrenheit und Beschränktheit freie Monas, Gott, d.h. die unbeschränkte Vorstellungskraft. Mit ihr verbindet sich als das die Gottheit konstituierende Merkmal das Schaffen, das sich Leibniz, als kontinuierlich fortgehend denkt. Aus der vollkommenen Vorstellungskraft gehen die unendlich vielen einzelnen, begrenzten Kraftzentren hervor, etwa wie bei der Fulguration. Wie entsteht nun unser Zusammenhang mit der Welt, sowohl im Sehen und Denken als im Wollen und Wirken? Der wirksame Verband zwischen Seele und Leib (influxus physicus) wird gestrichen. Die Monaden haben keine Fenster. Die Ableitung des Zusammenhangs aus Gottes Wirken ist, ob spinozistisch oder okkasionalistisch gedacht, ebenfalls zu verwerfen. Allerdings haben wir an unserer Verbundenheit mit der Welt den Gottesbeweis. Die Monaden würden nichts vorstellen, was objektiv wahr und weiter was objektiv wirksam ist, ohne Gott. Wir sind an dieser Stelle nicht nur Gottes bedürftig, sondern wir erleben ihn dadurch, daß der Kausalverband innerhalb jeder Monas so geordnet ist, daß ihr Vorstellungslauf mit demjenigen der andern zusammentrifft. Das ist die harmonia praestabilita, der entscheidende, Beweis für Gott a posteriori. Gemeinsam ist ihm also mit Spinoza, daß beide, soweit unsere Beziehung zueinander und zur Natur in Betracht kommt, den Akt, den Willen, den Zweck, die Liebe streichen. Der Unterschied zwischen beiden entsteht aber daraus, daß Spinoza dies für einen Schein erklärt, der aufzulösen und durch die angeblich adäquate Idee zu ersetzen sei, daß das Sein in allen das eine und selbe sei. Leibniz will diesen Schein nicht preisgeben, sondern hält ihn für real begründet; er beruhe auf Gottes Stiftung, weil in ihm die Har– 120 –

monie erscheine, die meine Innenwelt zum Spiegel des Universums macht. Darum ist Spinozas Ende Kontemplation, während Leibniz handeln möchte, und darum, wenn ihm auch das Handeln als unglaublich und unmöglich erscheint, doch den Schein desselben für objektiv begründet und für ein echtes Element des Lebens erklärt. Das Motiv, das Leibniz zur Abweisung der Theorie der Cartesianer bewog, ist für die religiöse Geschichte bedeutsam. Er sagt: der Einsatz, der Wirksamkeit Gottes an Stelle der wechselseitigen Wirkung der Seele und des Leibes aufeinander ergäbe ein permanentes Wunder. Nun hat schon Clarke, der Freund Newtons, der die Gravitation und den Willen gegen Leibniz verteidigt hat, erklärt: der Wunderbegriff erfordere als Merkmal die Ungewöhnlichkeit; ein beständiges Geschehen möge uns undurchdringlich und daher für den Rationalisten höchst anstößig sein, aber ein Wunder könne man es nie heißen. Er hat auch weiter mit Recht gesagt: Leibniz erkläre durch seine »Harmonie« nichts; der Vorgang bleibe so unbegreiflich wie vorher. Gleichwohl ist das Motiv, das Leibniz ausdrückt, religiös von Wichtigkeit. Er verlangt vom Naturprozeß, daß er ein in sich geschlossenes Ganzes sei und nicht Lücken habe, in die man zur Ausbesserung den Gottesgedanken einschiebe. Der moderne Weltbegriff setzt sich an als eine in ihrer Wechselwirkung in sich vollendete Totalität des Geschehens. Die Bedingungen sind für jeden Akt vollzählig innerhalb dieses Prozesses da. Daher verlangt Leibniz, auch den Kraftbegriff; die kausale Macht liege in den Dingen, nicht über ihnen. Der Weltbegriff ist bei Leibniz keineswegs schon atheistisch gewendet; vielmehr offenbart sich in der Totalität der Weltordnung die göttliche Kausalität, aber eben in der Totalität, und im Einzelnen deshalb, weil es Glied dieses Ganzen ist und durch dieses seine Gestaltung hat. Der Gedanke an Gott war hier in jeden Moment des Lebens hineingelegt; warum doch von hier aus keine kräftige religiöse Wirkung entstehen konnte, kam schon bei den religiösen Theorien der Cartesianer zur Erläuterung. Die »Harmonie« tritt in Kraft, ohne daß sie unseren Willen in Anspruch nimmt. Dieser Lehrsatz wird nicht Motiv. Da die Ordnung ein für alle Mal festgesetzt ist, hat – 121 –

man nur Anlaß, auf sie zu reflektieren, wenn die Frage nach der Möglichkeit unseres Verkehrs mit der Außenwelt auftritt, d.h. nur innerhalb rein theoretischer Erwägungen. Für die Lebensführung wird die Harmonie als ein für alle Mal gesetzt hingenommen ohne Reflexion auf Gott. Im leibnizischen Gottesbeweis erscheint die religiöse Richtung der Zeit und er hat seinerseits dieselbe wieder beeinflußt und fixiert. Im Innenleben läuft die Vorstellungsreihe nach ihrer kausalen Verkettung ab, ohne daß für einen einzelnen Lebensakt eine Beziehung desselben auf Gott wünschbar oder möglich wäre. Der Mensch ist so, wie er ist, aus Gott geworden, und seine Sache ist es nun, seine Kraft zu gebrauchen zu seiner Vervollkommnung. Dagegen entsteht ein Rätsel aus unserer Beziehung zur Welt, aus der Zusammenordnung der Monaden, oder populär ausgedrückt: aus dem Geschick. Hier kann der Mensch nicht eingreifen, hier ist er auf Gott gewiesen, populär ausgedrückt: auf Gottes Providenz. Die Religion schrumpft zusammen in den Providenzglauben. Man stand damit dicht neben der Antike. Der Vervollkommnungsethik entsprach der Tugendbegriff; dazu kam das Vertrauen auf die den Weltlauf unserer Tugend anpassende »Vorsehung«. Seine Tugend schafft sich der Mensch selbst; sein Geschick gibt ihm Gott. Und zwar überwiegt in dieser Form des Providenzglaubens das Quietiv. Wir haben zu nehmen, was uns trifft, in der Gewißheit, daß es mit dem Ziel unseres Innenlebens schlechthin harmoniert. Leibniz vertritt ja einen absoluten Prädestinatianismus in Bezug auf unser Geschick. So kam die Frage nach der Theodicee, nicht bloß der Zeitstimmung und ihrer Glücksethik wegen, sondern sie ist auch im System selbst begründet. Verhielt sich denn das Geschick zum Innenleben stets so, daß von einer göttlichen Harmonie gesprochen werden darf? Leibniz hat sich die Aufgabe dadurch erleichtert, daß er das Böse ablehnt als bloße Privation. Er hat also im Weltlauf nirgends einen Punkt, gegen den er absolut protestieren müßte, nirgends ein Ereignis, gegen das er einen radikalen Manneszorn und Gotteszorn einzusetzen hätte. Er darf sich an allen freuen, freilich in abgestuften Graden, denn die Vollkommenheit ist verschieden. – 122 –

Aber eben dadurch hat sich Leibniz die Aufgabe auch erschwert. Wie viel Freude hat er aus dem menschlichen Leben gestrichen dadurch, daß Wille, Liebe, Werk, Arbeit ausgelöscht sind, dadurch, daß die Monaden bei sich selbst eingesperrt sind! Und wenn er den Schmerz der Reue uns ersparen will, so ist das für die Theodicee keine Erleichterung, weil dieser Schmerz, eine Erhabenheit in sich hat, die bewirkt, daß keiner auf dieses tiefste Leid verzichtet, der es je gekostet hat. Leibniz sagt nun: Unvollkommenheit, d.h. Kraftbegrenzung ist der Welt wesentlich. Vollkommen ist nur Gott; Unvollkommenheit, d.h. Begrenzung des Vorstellungsvermögens ergibt die Kreatürlichkeit der Einzelnen und an den verworrenen Vorstellungen haftet, was wir Schwäche, Schmerz, Leidenschaft, Bosheit heißen. In der Vollkommenheit Gottes ist aber die Gewißheit begründet, daß die Welt die beste der möglichen Welten ist. Gott ist allmächtig, weise und gut; also ist diejenige Welt, die er unter allen möglichen Welten wählt, die beste. Das ist a priori gewiß, d.h. das ist einfach ein Glaubensakt, eine Prolepse auf Grund der Gottesgewißheit. Nicht aus der Beobachtung der Welt entsteht dieses Urteil, sondern es ist gefolgert aus dem Gottesgedanken. Es bleibt aber eine charakteristische Differenz gegenüber der Schriftaussage übrig, von der doch der leibnizsche Satz nach Form und Inhalt abhängt: »Siehe, es war alles sehr gut.« Das ist eine totale Zustimmung, ein ungebrochenes Ja für die Welt. Die »beste Welt« drückt dagegen nur ein relatives Urteil aus, das beträchtlich weniger sagt als der Schriftsatz. Leibniz kann nicht mehr sagen, weil er die Welt als ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes Ganzes ansieht. Darin sind Vorgänge, gegen die wir uns unwillkürlich sträuben. Daher kann er nur sagen, das Beste, was möglich sei, sei real. Anders der Schreiber von Gen. 1, weil er nicht nur die Welt, sondern Gott und die Welt im Auge hat. Damit hören die Relativitäten auf; damit ist volle Bejahung möglich. Gegenüber den Übeln tritt Leibniz nicht den Beweis an, daß sie gut seien, sondern nur, daß sie den Satz von der relativen Vollkom– 123 –

menheit der Welt nicht aufheben. Denn wir übersehen nur einen kleinen Teil des Ganzen. Das Ganze ist vollkommen; das sehen wir zwar an dem Bruchstück, das wir wahrnehmen, noch nicht. Leibniz, hält uns die Unendlichkeit des Ganzen vor, teils durch die Koexistenz der unendlich vielen Realia, die die Welt bilden, teils durch die nicht endende Sukzession der sich folgenden Ereignisse in den unsterblichen Monaden. Die Trostkraft des Gedankens ist jedoch gering. Denn die Zukunft kann uns nur dann über die Gegenwart trösten, wenn wir erwarten dürfen, daß diese wirklich vergeht. Bei Leibniz ist aber die Unendlichkeit der Zukunft eine mit der Gegenwart fest verbundene Kausalkette. Die Aussicht in eine unendliche Zukunft kann die furchtbarste Strafe, kann Verlorenheit sein. Auch die Erinnerung an die Herrlichkeit des mit uns koexistenten Universums ist ein unzulänglicher Trostgrund. Der Wille zu leiden ist damit noch nicht motiviert. Die Theodicee der Cartesianer war mehr wert. Sie sagten: wollt ihr die allgemeinen Gesetze aufheben? Nein! also wollt ihr auch diese für euch ungünstige Anwendung derselben. Das war wirklich ein Motiv zur Ergebung. Die allgemeinen Gesetze stehen über dem konkreten Einzelfall; ich kann mich ihnen mit meinem konkreten Einzelfall unterwerfen. Teil und Ganzes sind dagegen Korrelate. Der Zustand des Teils bedingt das Ganze wie das Ganze den Teil, und es bleibt undurchdringlich, wie das Ganze seine Vollkommenheit darin haben soll, daß es den Teil zerstört oder doch in seinem Lebensmaß herabsetzt. Gleichwohl ist es durchsichtig, warum Leibniz den Gedanken der Cartesianer aufgab. Sie erzielen, sagt er, nur Unterwerfung, und darin hat er recht. Leibniz möchte gern »Zufriedenheit« (contentement), und darum sagt er dem Leidenden: schau die Herrlichkeit des Ganzen an! Also Mitfreude am Ganzen wird uns zugemutet als das jedes eigene Leid überwiegende Motiv. Soll es aber gelten, dann zersprengt der Gedanke das System, dann muß die Monas heraus aus ihrem Schneckenhaus. Ein Gegensatz gegen den christlichen Gedanken ergab sich daraus, daß Leibniz, keine Eschatologie hat. Er hat eine geradlinige Fortbewegung in unendlicher Dauer, aber keine Eschatologie, kein – 124 –

Auferstehen, keine Vollendung, darum auch kein Hoffen, kein Ziel, das unser Wollen spannte. Dieser Gedanke ist wirksam geworden, weil die Eschatologie, die den Willen gegen das Bestehende in Spannung setzt, als Druck wirken kann, und weiter, weil im dankbaren, frohen Genießen des Gegebenen eine mächtige Wahrheit liegt. So kam es, daß dieses Minimum von Theologie dennoch eine große Wirkung tat.

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8. Die Popularphilosophie in Frankreich und Deutschland Für unsere Betrachtung ist die Tatsache von größter Bedeutung, daß es im 18. Jahrhundert zu einer Popularphilosophie kommt. Niemals gab es mehr Philosophen als damals, weil sich jeder, der sich und anderen vorgab, er denke von Autoritäten unabhängig, ohne Vorurteile, in reiner Wahrheitsliebe, Philosoph genannt hat. In der Ausbreitung des Namens zeigt sich die Freude an der neuen Freiheit des Denkens, das Vergnügen, mit dem man den festgefügten Ordnungen der großen Sozietäten, vor allem der Kirchen, entlief. Nun kam der eigene Kopf und das eigene Herz zur Geltung; welch ein Glück, Philosoph zu sein! Zugleich findet eine Anpassung an die gegebene Gestalt der Sozietäten statt, da ja die Kirchen eine beständige Lehrarbeit betrieben, die alle Teile des Volks umfaßte. Wie die Kirchen beständig das Volk um ihre Kanzeln sammelten, so verbindet nun auch der Philosoph mit seinen neuen Gedanken eine eifrige, an alle sich wendende Lehr- und Predigtwirksamkeit. Für den philosophischen Historiker mag die Popularphilosophie zurücktreten und Spinoza ihn mehr interessieren als Voltaire, Leibniz mehr als Lessing. Denn Popularphilosophie bedeutet eine Zerstreuung des Interesses, während die Konzentration des Denkens auf sein eignes Ziel den Wert der älteren Arbeit für den Philosophen steigert. Für den Religionshistoriker ist dagegen das Ausstrahlen der Philosophie in die Popularphilosophie von größter Bedeutung. Denn indem der Gedanke des Einzelnen Dogmas, vox populi, öffentliche Überzeugung und öffentlicher Wille wird, bestimmt er die Sozietäten. Freilich haben wir es nun mit den vielen Kleinen zu tun, sagen wir: mit den Allzuvielen! Aber die Aufgabe ist dadurch erleichtert, daß diese Vielen einen gemeinsamen Typus haben. Es – 126 –

entsteht ein kräftig ausgebildeter Gattungscharakter, eine in geistiger Einheit verbundene Sozietät. Übrigens sind unter diesen Vielen so scharfe Intellekte wie Voltaire, Rousseau, Montesquieu, für Deutschland Lessing. Das philosophische credo der Zeit besagt: das höchste Besitztum der Vernunft ist die Idee des weisen und guten Weltschöpfers. Gipfel und Zweck der Schöpfung ist der Mensch. Ihm sind somit alle Bedingungen zum Glück dargereicht. Seine Erhabenheit über die Natur vollendet sich durch die Unsterblichkeit. Das subjektive Erfordernis zum Glück ist die Tugend. Durch die Verkündigung dieses festgefügten, einfachen Gedankengangs übernimmt der Philosoph die Fürsorge für das intellektuelle und moralische Wohl der Völker. Daher hat diese Literatur eine praktische Richtung: sie will reformieren, bessern, beglücken. Der Philosoph wird eine öffentliche Macht. Als die Ziele, auf die er seine Tätigkeit richtet, lassen sich nennen: die Beglückung des Einzelnen, die Besserung des Staats, die Umwandlung der Kirche, die Reinigung der Religion.

Die Beglückung des Einzelnen Die Ethik der Aufklärung war Individualethik, d.h. sie gibt unseren Funktionen das Ziel in uns selbst. Der Einzelne lebt aus sich und für sich. Den Primat hat unter seinen Funktionen das Denken, da die Richtigkeit desselben die Zweckmäßigkeit des Handelns bedingt. Wir bekommen daher unvermeidlich eine Tugendethik. Der Parallelbegriff zur Tugend ist Vollkommenheit. Tugendhaft werden heißt sich vervollkommnen. Daß der Einzelne seine Kraft steigere, ist das Ziel, das er zu erstreben hat, wozu vor allem die Ausbildung seines Denkens gehört. So erlebt die antike Tugendethik eine Neubelebung, freilich in verschlechterter Gestalt, so daß der Rückfall in die antike Ethik zugleich einen Fall unter sie hinab ergab. Auch jene lehrte, die Steigerung der Summe der eignen Kräfte schaffe den Wert des Menschen; denn die »virtus« entsteht durch die Ausbildung der dem Einzelnen eignenden Kräfte. – 127 –

Doch war dies in der guten Zeit der antiken Ethik immer nur die Vorbedingung für die erfolgreiche Teilnahme des Einzelnen an der Sozietät, da ja auf die Ethik die Politik folgt und der Einzelne als ein Glied seines Staates vorgestellt wird. Zum Neuen Testament trat die Tugendethik vollends in einen radikalen Gegensatz. Dieses hat die Tugendethik abgestoßen und beschreibt die Willensgestalt der Christenheit durch das Wort: »Wir lieben die Brüder«, oder negativ ausgedrückt: »keiner von uns lebt für sich selbst.« Nun braucht freilich der Tugendbegriff nicht notwendig widerchristlich zu sein, weil das Lieben die Erweckung und Mehrung des eignen Kraftbesitzes fordert, anregt und immer neu einleitet. Wir brauchen zum Lieben alle Perfektionen, die uns erreichbar sind. Wohl aber entsteht dann ein radikaler, unversöhnlicher Widerspruch zwischen der Tugendmoral und dem Neuen Testament, wenn jene in diese Perfektionen das Ziel setzt, in dem unser Streben enden soll. Denn für die christliche Ethik ist all das nur das Mittel, mit dem der gute Wille seine Aktion vollführt. So heißt die Tugendethik gut, was nach dem christlichen Gesichtspunkt noch nicht gut ist, und dadurch, daß ein Wille als gut verherrlicht wird, der es noch nicht ist, wirkt die Tugendethik unsittlich. Sie verlegt mein Ziel in mich selbst, was durch die gemeinnützigen Tugenden nicht geändert, höchstens gemildert wird. Die Lebensarbeit bewegt sich auch so immer um das eigene Ich. In dieser Willensrichtung erkennt die christliche Ethik ihren Widersacher, den sie zerbricht. Sie verlegt unser Ziel in unsere Verbundenheit mit Gott und miteinander. Nun ist es nicht erst die Aufklärung, die den Tugendbegriff in die Kirche eingeschleppt hat, sondern ihre Verseuchung durch die Tugendethik ist schon alt und hat auch die Aufklärung überlebt (vgl. Schleiermacher). Es macht aber einen tiefgreifenden Unterschied, daß sich bis 1700 das Bewußtsein erhielt, die sog. »moralischen Tugenden« seien die Vorbereitung für die sog. »theologischen Tugenden«, d.h. für den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. In diesen beständen die Funktionen, die dem menschlichen Leben erst wirklich Wert und Sinn verleihen. Jetzt kommen diese Funktionen außer Kurs. Der Tugendbegriff übernimmt die Herrschaft und wir – 128 –

erhalten eine Renaissance der antiken Frömmigkeit: Vorsehung und Tugend, πρόνοια und ἀρετή. Die Tugendliteratur war höchst ausgebreitet, da auch zahllose Predigten und viele Romane ihr angehören. Sie war auch nicht unwirksam, da diese Tugendbilder viele sittlich richtige Urteile geben und in das Gesamtbild eines sog. Habitus verflechten. Natürlich läßt sich bei der Wirkung derselben namentlich für Deutschland nicht exakt scheiden zwischen dem, was davon der Tugendethik und was davon dem Christentum zukommt. Das wichtigste Mittel, die Aufklärung zu popularisieren, war ja die Predigt, in der immer die Aufklärungsgedanken mit den christlichen Motiven verbunden wirken. Die Tugendethik wird als Auslegung des Neuen Testaments vorgetragen und ist durch dessen Autorität gestützt; man lehrt sie an den Festen des Christus verbunden mit einem Gottesgedanken, der seinen Inhalt aus der Geschichte Jesu zieht. Doch überdecken für die Öffentlichkeit die der Aufklärung gehörenden Gedanken die altkirchliche Ethik stark. Die Kraft der Abstraktion, die viele Urteile in ein einheitliches Bild sammelt, erzeugt zugleich die Schwäche dieser Literatur und brachte die Tugendethik nicht ohne Grund in den Ruf der Langweiligkeit. Man war immer in der Gesellschaft von hypostasierten Abstraktionen und wurde nicht an die Wirklichkeit herangebracht. Die für den Wert dieser Moral entscheidende Frage war, wie die Tugend entstehe. Der Mensch hat für sie aufzukommen; er selbst ist jenes Kraftzentrum, das seine Fähigkeiten zur Virtuosität zu steigern vermag. Doch gibt es viele ihn hierbei unterstützende Tugendmittel, sowohl für die einzelnen Tugenden wie für die Tugendhaftigkeit als Ganzes, darunter nicht zuletzt die Religion, die man als ein wichtiges Tugendmittel empfiehlt und schätzt. Man sieht, wie die bei Cartesius auftretende Einordnung des Gottesgedankens in das gesamte Denken weiter wirkt; denn zur Mißhandlung des Gottesgedankens im Denken, wonach er als ein nützliches Füllmittel für die Lücken in der Weltanschauung dienen muß, tritt hier der ihr genau entsprechende praktische Mißbrauch desselben hinzu. Die Beziehung zu Gott dient den Zwecken des Menschen als ein – 129 –

recht nützliches Mittel zu seiner Ausbildung. Mit der Menge der Mittel blieb freilich die Frage immer noch unbeantwortet, wie der gute Wille gefunden werde. Da sich aber mit der Tugendethik eine ungestörte Zuversicht zur sittlichen Leistungsfähigkeit des Menschen verband, ließ sie sich zurückschieben. Nathan war ja weise und J. J. Rousseau gut. Man war also auch glücklich. Es bildet das unablässige Geschäft aller Aufgeklärten, glücklich zu sein und andere glücklich zu machen. Ein rührender Beglückungseifer erfüllt diese Generationen. Leider mußte dieses Glück auf eine sehr schmale Basis gestellt werben. Der Mensch muß aus seinem eignen Vermögen leben, aus sich fein Glück beschaffen. Damit war das Herabgleiten in die Sentimentalität unvermeidlich gegeben. Man braucht zum Glück die beständige Beschäftigung mit sich selbst, das Auskosten des Gefühls in immer wachsamer Reflexion auf dasselbe. Wir verbinden mit dem Begriff »sentimental« ein negatives Werturteil und rechnen diese Erscheinungen zu den krankhaften Vorgängen. Die Grenze zwischen dem normalen und abnormen Empfinden läßt sich nicht durch einen objektiv fixierten Stärkegrad bestimmen, bis zu dem das normale Empfinden gesteigert werden dürfte. An sich ist jede Stärkung des Empfindens ebensowohl ein Gut als die des Denkens oder Wollens. Die Normalität oder Abnormität ergibt sich aus seiner Relation zu den anderen Funktionen. Bleiben das Denken und das Wollen schwächlich, dann freilich ist die starke Erregung des Gefühls ein abnormer Zustand. »Sentimental« wird jene Zeit deshalb, weil sie im Gefühl das Ende hat, in dem ihre Lebensarbeit ausgeht. Es wird in der Ökonomie des inwendigen Lebens nicht weiter verwertet, nicht in einen neuen Wert umgesetzt. Die innere Aktion stockt im Gefühl und ruht in ihm aus. Das ergab für dieses unvermeidlich Überreizungen. Damit löste sich aber eine Bewegung aus, die dem ursprünglichen Willen der Aufklärung gänzlich zuwiderlief, so daß sie mit ihrer Sentimentalität sich selber das Grab bereitete. Zunächst verehrt die Vernunft die allgemeinen und notwendigen Wahrheiten und die Ethik ist demgemäß auf ein allgemein gültiges Menschheitside– 130 –

al zugeschnitten. Daneben stellt sich diese Gereiztheit des Empfindens, durch die der Einzelne sich und immer wieder sich beschaut. Dabei war man aber nicht mehr beim Allgemeinen, sondern beim Allerindividuellsten, nicht mehr beim universalen Menschheitsideal, sondern beim lieben Ich. Die Zeit der »klaren «Begriffe« war zugleich die der Tagebücher, ein seltsamer Kontrast. Weil es uns verwehrt ist, für uns selbst zu leben, und die Unentbehrlichkeit der Gemeinschaft uns immer wieder mit zwingender Deutlichkeit gezeigt wird, schuf auch die Aufklärung eine ihr entsprechende Form der Gemeinschaftspflege. An den durch die Natur begründeten Gemeinschaften, an der Ehe und am Volkstum, und vollends an der in Gott begründeten Gemeinschaft, an der Kirche, hatte die Aufklärung kein Wohlgefallen, da sie unserer eigensüchtigen Begehrung widerstehen. Zu ihrer Befriedigung ließ sich nur die Freundschaft verwerten, nur der vom Ich frei gewählte Verband. Die Freundschaft wurde darum von der Aufklärung eifrig begehrt, um das eigene Bewußtsein durch die eindringende Kenntnis eines anderen zu erweitern und das eigene Gefühl am Gefühl der anderen zu beleben. Weil aber diese Form der Gemeinschaft genußsüchtig blieb, zerbrach sie die Fesselung an das eigene Ich nicht und blieb ethisch unfruchtbar. Mit der Glücksethik und ihrer Neigung zur Sentimentalität hängt der mächtige Ausbruch der Erotik in der Literatur zusammen. Nicht die erotische Leidenschaft entsteht erst neu durch die Aufklärung; sie war in allen Generationen vorhanden; aber die unablässige Beschäftigung mit dem erotischen Thema als dem großen Hauptanliegen der Menschheit haben uns die Aufklärer gebracht. Die großen Franzosen (Voltaire, Rousseau, Montesquieu usf.) haben alle in dieser Richtung gearbeitet; für Deutschland genügt die Erinnerung an »Werther«, den viel gelesenen. Goethe führt uns dort vollständig in die durch die Aufklärung geschaffene Lage. Die Sentimentalität, die Unsterblichkeitsreligion mit der auf die abgeschiedenen Angehörigen gestellten Zuversicht und auch die Tugendhaftigkeit werden sichtbar. Nicht nur Lotte, sondern auch Werther ist tugendhaft; er beherrscht sein Verlangen, und der Mo– 131 –

ment, in dem er es enthüllt, führt die Katastrophe herbei. Aber nun wird eine Erotik dargestellt, von der Schellings Urteil, »Aufklärerei sei Ausleererei«, wirklich zutrifft. Werther ist völlig ausgeleert; er hat keinen Gedanken mehr, keinen Willen mehr, weder Staat noch Kirche, auch keinen Gott mehr, nichts als die eine Vorstellung, die er zwangsweise beständig wiederholt: »Lotte". Nicht als wären solche Prozesse nicht auch früher vorhanden gewesen; noch nie dagewesen war es aber, daß sie ohne Protest blieben, daß alle Welt mit Entzücken und Mitgefühl diese Erotik bewunderte und mitgenoß. Durch die Unfertigkeit der Ethik, die die Reformationskirchen besaßen, kam in ihre Zucht ein herber Zug, der der Erotik das, was ihr gebührt, nicht gewährte, so daß ein Stück natürlicher Freude vor dem kräftig erfaßten Keuschheitsideal zurücktreten mußte. Die Aufklärung hat aber eine ungleich schwerere Schädigung unserer Völker herbeigeführt. An ihre Bearbeitungen des erotischen Themas haben sich in unendlicher Breite und Öffentlichkeit zahllose Wiederholungen angeschlossen. Für den Effekt genügen zwei Worte: Neurasthenie und Erschütterung der Familie. Daß es heute bereits fraglich geworden ist, ob unseren zivilisierten Völkern die Ehe erhalten werden kann, ist ein düsterer Erfolg der Aufklärung. Mit ihrer Erotik hängt ihre Verbindung mit der Kunst zusammen, die auch wieder Beziehungen zur Glücksethik hat. Der Philosoph gewinnt seine Macht dadurch, daß er zugleich Künstler ist. Ohne seine Verse wäre Voltaire nicht zum Beherrscher Frankreichs geworben, und Reimarus für sich allein wäre vergessen; zusammen mit Lessing schafft er einen aus unserer Geschichte unauslöschlichen Vorgang; Lessing verdankt aber seine Macht dem, daß er zugleich Dichter ist. Auch im Verhältnis der Aufklärung zur Kunst lag eine für sie erschütternde Spannung verborgen. Denn der Rationalismus ist mit der Kunst nicht verbündet, sondern ihr Feind, weil er den Begriff zum Grund und Herrn des Willens macht und dadurch die Phantasie hemmt, die das künstlerische Denken und Handeln erzeugt.

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Die Besserung des Staates Einen Übergang von der Beglückung des Einzelnen zur Umwandlung der Sozietäten bildet d i e p ä d a g o g i s c h e A r b e i t der Aufklärung, wohl ihr größtes und wirksamstes Produkt, mit dem sie die öffentliche Ethik beeinflußt hat. Ihre Pädagogik ist universal; alles wird Schule, und jedermann lehrt, die Geistlichkeit wie die Regenten wie die Poeten, und kein Zweig menschlicher Tätigkeit wird von ihr übersehen. Die Anfänge der rationellen Landwirtschaft, des rationellen Theaterbetriebs, des rationellen Universitätswesens fallen ebenso gut in diese Periode wie die Rationalisierung des Dogmas, der Predigt und des Kirchenlieds. Durch die Herstellung der Schule überlebt die Aufklärung alle Wandlungen, die sonst ihr Gedankengefüge erschüttert haben. Die Schule verdeutlicht noch heute ihr Dogma nahezu unverändert. Denn im Bereich der Schule besteht der Mensch aus einem Kopf, sonst aus nichts. Von seite der Kirche ist gelegentlich daran erinnert worden, daß die Kinder auch ein Gewissen haben und z.B. die Pflege der Lüge durch die Schule ihren Wert schädige. Ärzte haben neuerdings behauptet, Schulkinder hätten auch einen Leib. Aber die dadurch veranlaßten Modifikationen des Betriebs bilden nur kleine Abweichungen vom fixierten Dogma, daß der Mensch aus Vernunft bestehe. Dasselbe gilt natürlich vom Lehrer, von dem lediglich die intellektuelle Leistung verlangt wird; die übrige Persönlichkeit kommt nicht in Betracht. Mit dem Intellektualismus verbindet sich der Universalismus der Zielsetzung; alles wird gelehrt, Religion ohne jedes Bedenken, ob man sie auch »lehren« könne, Naturkunde innerhalb der vier Wände eines Schulzimmers, Patriotismus usf. Das letztere ist keineswegs erst ein moderner Gedanke. Das Genfer Ratsprotokoll von 1776 berichtet von einer Verhandlung des Rats über die Erneuerung der Lateinschule der Stadt zum Zweck, »die bürgerliche mit der literarischen Erziehung zu verbinden, um dort nicht bloß den Gelehrten, sondern den Bürger zu bilden.« Das Mittel, durch das dieses universale Ziel als erreichbar erscheint, sind »Begriffe«. Durch die Übermittlung der – 133 –

Abstraktionen und Regeln soll Willen entstehen; an der Sicherheit, mit der dieser Effekt eintreten müsse, zweifelt man nicht. Dieser Einschätzung des hier Geleisteten entspricht die Verbindung des Staatszwangs mit der Schule und das Ganze ist durchdrungen vom großen Ideal der Gleichheit, wie es die Aufklärung beherrscht. Jeder lernt dasselbe, alle in derselben Stunde gleichviel. Wird der innere Zusammenhang der Schule mit der Aufklärung erwogen, so ist deutlich, wie nachhaltig sie durch die Jahrhunderte hinunterwirkt und wie viel wir ihr zu danken haben. Allerdings verdeutlicht derselbe auch, warum wir in eine Ära der Reformversuche, die auf Unzufriedenheit mit der Arbeit der Schule beruhen, eingetreten sind. Das Dogma, auf dem die Aufklärungsschule gebaut ist, hat jenseits ihres Bereichs nicht mehr unbeschränkte Geltung und das Gefühl, die Schule arbeite mit Fiktionen und setze ein unwahres Menschenbild voraus, breitet sich aus. Neben der pädagogischen Arbeit der Aufklärung darf ihre Wirksamkeit für d i e H y g i e n e genannt werden und auch damit hat sie den Staat seinem früheren Bestand gegenüber wesentlich verändert, wenn auch der Arzt weniger rasch als der Lehrer in die Reihe der von der Staatsmacht gestützten Beamten trat. Dieser Prozeß, der den staatlichen Arzt schafft, ist heute noch längst nicht abgeschlossen. In das bestehende R e c h t bringt die Aufklärung die Toleranz hinein. Sie arbeitet nicht mehr mit absoluten Gegensätzen, mit Recht und Unrecht, mit Gut und Böse, sondern kennt nur abgestufte Unterschiede, die mehr oder minder entwickelte Vernünftigkeit, mehr oder minder ausgebildete Vollkommenheit nebeneinander setzen. Dadurch war man von der Verpflichtung zu einem unerbittlichen Kampf befreit und war zur »Duldung« bereit; aber schon dies, daß die Aufklärung für die Härte, die am Begriff »Toleranz« haftet, keine Empfindung besaß und nicht spürte, daß mit der Gewährung der Duldung der Geduldete beleidigt wird, zeigt, daß sich durch die Toleranz die innere Verbindung der Aufklärung mit dem Despotismus nicht lockerte. Friedrich II. und neben ihm Voltaire geben hierfür eine typische Illustration. Dieser despotische Zug ist darin innerlich begründet, daß die Allgemeingül– 134 –

tigkeit der Vernunft einen Herrschaftsanspruch begründet, der keinen Widerspruch zuläßt. Die Unvernunft soll schweigen. Darum haben die Führer der französischen Revolution den Übergang von der »Freiheit« zur schroffsten Despotie ohne Bedenken vollzogen, und die rationale Geistlichkeit war ebenso herrisch als irgendein anderer Klerus. Sie vertrat ja die Generalvernunft. Die Folgen erstrecken sich bis in die Gegenwart hinab. Deutschland hat noch nie einen wirklich liberalen Liberalismus gehabt. Von ihrer weichen Seite her bringt die Aufklärung auf die Vermeidung der Härten in der Regierung des Staats. Hörigkeit, Folter, Galgen usf. verschwinden. Aber mit der Reinigung der Strafe von der grausamen Wollust, die sich an der Entehrung und Pein des Schuldigen ergötzt, verband sich der schwere Verlust, daß die Strafe ihr ethisches Ziel verlor. Sie war nun nicht mehr die vollständige, gegen jede Erweichung verschlossene Verneinung des Bösen. Darum trug die Aufklärung in alle unsere Gemeinschaften, in die Familie, das Volkstum und die Kirche, die Zuchtlosigkeit hinein. Vor allem stellte sich nun jede religiöse Justiz als Härte dar. Der Staat wird tolerant gegen alle Religionen. Damit beginnt die Bewegung, die zur Trennung von Kirche und Staat führt, ein wichtiger Erwerb der Aufklärung. Sie geht langsam voran, durchkreuzt teils von den despotischen Neigungen des Staats, der die Herrschaft über die Kirchen sich als ein Machtmittel erhalten will, teils von der Ängstlichkeit der Kirchen, die eine wesentliche Einbuße an Einfluß auf die Völker fürchten, wenn ihnen die vom Staat übertragenen öffentlichen Rechte verloren gehen. Immerhin ist das Verhältnis des Staats zu den Kirchen heute überall ein wesentlich anderes als das, welches die Reformation schuf, und die Bewegung steht nicht still. Auch Toleranz zwischen den Konfessionen wird erreicht. Rousseau erzählt im Rückblick auf seinen Übertritt zum Katholizismus: was ihn am meisten davon zurückgehalten habe, sei ein unbestimmtes Grauen gewesen, mit dem jeder Genfer Knabe den Katholiken betrachtet habe. Dieses Grauen wird allmählich überwunden, natürlich in den verschiedenen Gegenden nicht gleich schnell, und dies gilt auch dem Muslim und Heiden gegenüber. Man bemüht – 135 –

sich, auch sehr fremdartige seelische Zustände zu verstehen. Die Befreiung von den dunklen Angstgefühlen, die früher die religiösen Unterschiede umgaben, war mit eine unentbehrliche Bedingung für den ungehemmten Weltverkehr. Eine mächtige Wirkung brachte auch die von der Aufklärung genährte O p p o s i t i o n g e g e n d e n b e s t e h e n d e n S t a a t hervor. In dieser Richtung erstrecken sich ihre Wirkungen so weit wie die der französischen Revolution, da der Gedankenkreis, mit dem diese arbeitet, in deutlicher Verbindung mit der Aufklärung steht. Zur Rechtfertigung des Staats verwendet sie die Vertragsidee (Hobbes, Rousseau). Damit ist die Gemeinschaft den Interessen des Einzelnen nachgesetzt und dienstbar gemacht. Darum half die Vertragsidee nicht zur Überwindung der Verstimmung gegen den Staat. Sie stand in offenkundigem Widerspruch zur gegebenen Form desselben, da die Regierung mit ihrer Zwangsgewalt den Willen der Einzelnen nicht als die für sie und ihr Recht kausale Potenz anerkennt. So wird an den Staat der Anspruch gestellt, daß er anders werde; er wird aus seiner Tendenz, beim gegebenen Recht zu verharren, aufgescheucht und mobil gemacht. Bis aber die Forderungen der »Vernunft« durch den Staat realisiert sind, zieht sich diese gleichgiltig [sic] von ihm zurück oder kehrt sich erbittert gegen ihn. Ein greller Beleg dafür ist die Freimaurerei. Daß Geheimbündelei immer staatsfeindlich ist, ist ein einfacher Gedanke. Aber diese Einsicht, mag sie noch so einfach sein, blieb der Aufklärung versagt. Unter ihrer Führung nistete sich dieser Geheimbund unausrottbar ein.

Die Umwandlung der Kirche Mit den neuen Philosophen hatte sich ein neuer Lehrstand neben die Geistlichkeit gesetzt und ein neues Dogma war neben den bisherigen Konfessionen begründet. Damit waren die Kirchen von innen her zerstört. Ein Frankreich, über das Voltaire herrschte, war nicht mehr – 136 –

katholisch, ein Preußen, in dem Lessing der Stimmführer der Nation war, nicht mehr lutherisch. Wenn es auch zu einem gewaltsamen Angriff auf die kirchlichen Institutionen nur in Frankreich im Zusammenhang mit der Revolution gekommen ist und in Deutschland die kirchliche Gesetzgebung unverändert bleibt, so war doch auch hier der Bestand der Reformationskirchen überall nicht nur erschüttert, sondern aufgehoben. Denn diese hatten die Einheit der Lehre zum Fundament der Kirchenbildung gemacht. Dadurch, daß jedermann den Katechismus lernt und jeder Beamte die Lehrverpflichtung unterschreibt, wird gesichert, daß das eine und selbe Dogma als Einheitsband alle zur Kirche vereint. Diese Einheit war nun zerbrochen. Dennoch bleiben alle schweren Kämpfe aus. Noch gleichzeitig mit den Anfängen der Aufklärung vollziehen sich die durch den Pietismus erregten Kämpfe, der doch mit dem kirchlichen Dogma in festem Zusammenhang blieb. Dennoch gehen die durch ihn veranlaßten Kämpfe durch alle deutschen Staaten und Stätchen [sic] durch. Nichts Ähnliches geschieht beim Einzug der Aufklärung: geräuschlos breitet sie sich aus und gewinnt Sieg und Herrschaft. Man kann nicht sagen, daß von Anfang an Gewissenlosigkeit und List zur Anwendung kamen. Leibniz, z.B. hat im »Neuen Versuch über den menschlichen Verstand« Normen für das Verhältnis zwischen der Aufklärung und der Kirche aufgestellt, denen die ethische Sauberkeit nicht abgesprochen werden kann. Ein Eid auf die Bekenntnisse, sagt er, kann das inwendige Urteil nicht für die Zukunft binden, da wir über unseren Gedankenlauf keine souveräne Herrschermacht besitzen. Treten im Fortgang der Denkarbeit Differenzen gegen die Lehrvorschrift ein, so ist in der Lehre die Übereinstimmung mit dieser festzuhalten. Wird der Konflikt so, daß die Differenz zwischen der Lehre und der Überzeugung unerträglich wird, so ist das Amt mit Darlegung der Gründe niederzulegen. Ist von der Aussprache der Gründe zu fürchten, daß sie Gefahr und Leiden herbeiführe, so ist auch eine Preisgabe des Amts zulässig, bei der ihre Gründe verschwiegen bleiben. Um aber diese Normen auszuführen, dazu gab der Leibnizsche Determinismus und Eudämonismus bei weitem nicht die erforderliche sittliche Kraft und Entschlossenheit. – 137 –

Von beiden Seiten her waren Motive, die zur geräuschlosen Verschmelzung trieben, wirksam. Mit dem Pietismus waren die Vertreter des alten Dogmas deshalb in einem Kampf gekommen, weil jener an die Kirche das Bußwort richtete und ihre Umkehr von ihr forderte. Sowie die Bußforderung gestellt wird, die die Tat als unerläßlich verlangt, entsteht der Kampf. Die Aufklärung arbeitet nicht mit sittlichen Kategorien und hält keine Bußpredigt. Wie man denken müsse und was vernünftig sei, die Temperatur dieser Frage unterscheidet sich wesentlich von der, was man wollen müsse und was Sünde sei. Für Jesus hatten auch viele Aufklärer Hochachtung, namentlich die deutschen, und für das Christentum Verehrung. Man nimmt gern an, daß Jesus sicherlich vernünftig war und die Religion des Neuen Testaments die beste sei. Auf der kirchlichen Seite war der Übergang in den Rationalismus allmählich in einer stillen, aber beharrlichen Bewegung dadurch vorbereitet, daß die Lehre zum Hauptstück der Religion geworden ist. Man vollzieht das Glauben durch die Annahme der Lehre und den Gottesdienst durch die Erklärung der Lehre. Nachdem das Dogma zum Grund der Kirche gemacht war, folgte die Intellektualisierung der Religion nach, und damit war der Rationalismus schon im Wesentlichen da, auch wenn noch orthodoxe Vorstellungen als rational verteidigt wurden. Das starke griechische Element in der Lehre bildete das Einheitsband, mit dem die Aufklärung ohne Bruch und Kampf an die Orthodoxie sich angehängt hat. Ihr Verhältnis zum Katholizismus und zum Protestantismus war freilich nicht ganz dasselbe. Dort wurde ihr die Verschmelzung mit dem Kirchentum schwerer als hier. Auf dem protestantischen Boden nahm man gern an, das Christentum sei zwar der Reinigung bedürftig, jedoch auch fähig. Dadurch wurde freilich aus der Aufklärung eine wunderliche Mischung sich durchkreuzender Vorstellungen. Schon der philosophische Leibnizianismus war ein Gemenge: er war Idealismus, sofern die inwendige Lebendigkeit nur aus Denken besteht, und gab gleichzeitig den Naturkategorien die Obmacht, da alles unter den Kraftbegriff fiel. Er war Individualismus und feierte die allgemeinen Vernunftwahrheiten. Er reduzierte den Menschen auf die – 138 –

logische Funktion und erweckte in ihm gleichzeitig ein überreiztes Verlangen nach Glück. Dazu kam nun erst noch der christliche Zusatz; das verkündigte man im Gottesdienst, obwohl man den Kultus prinzipiell ablehnt, und als Auslegung des Neuen Testaments, obwohl man die Religion ohne den Christus fertig hat. Als positiver Wert läßt sich an dieser Konfusion herausheben, daß sie scharfe Risse verhütet hat. Bildung und Frömmigkeit bleiben beisammen. Schule und Kirche brechen nicht auseinander, und die Universitäten bleiben die Bildungsstätte der Geistlichkeit. Wir fürchten uns nicht ohne Grund vor dem Kampf; denn Kriege kosten Opfer, auch die geistigen. In der verborgenen Innerlichkeit des Einzelnen mußte er doch durchgekämpft werden. Über den Pietismus kam ein tiefes Gefühl der Vereinsamung. Aber auch hier erwiesen sich Not und Kraft als innerlich verbunden. Aus dem Druck, den die Vereinsamung auf die Vertreter der christlichen Überzeugung legte, entstand die neue Form der Vereinigung, die ihren Einigungspunkt in der gemeinsamen Arbeit hat, der religiöse Verein, und es liegt heute auf der Hand, wieviel fruchtbare Arbeit durch diese neu entstehenden Verbände geleistet worden ist. Darin, daß die Kirchen nicht mehr unter sich waren, sondern in ihnen ein deutlicher, lauter Gegensatz, vorhanden war, kamen sie unter eine kritische Macht, die anregend und reinigend auf sie wirkt. Man hatte nun im selben Volkstum verschiedene Ethiken nebeneinander, von denen die eine gut hieß, was die andere unfromm nannte. Es liegt im Kampf eine Kraft der Kritik, der nicht ausgewichen werden kann.

Die Reinigung der Frömmigkeit Von der christlichen Frömmigkeit warf man d i e R e u e weg. Ein ungebrochenes Selbstvertrauen des Menschen zu sich selbst blüht auf: der Mensch ist gut. Die berühmte Einleitung zu Rousseaus Konfessionen ist dafür typisch. Er will mit ihnen vor Gott treten, – 139 –

des Beifalls Gottes und der Menschheit gewiß. Und doch erweckt das Bild, das er uns zeichnet, notwendig das tiefste Mitleid. Und sein eigenes Bewußtsein wird von der Tragik seines Lebens berührt: das Ganze ist ja eine Apologie, und Apologie setzt das Bewußtsein um die Spannung voraus. Aber noch in den »Träumereien«, wo die Melancholie schon schwer und düster über ihm liegt, hält er eifrig seinen Lehrsatz fest: J. J. Rousseau war ein guter Mensch. Zum öffentlichen Lehrbestand bildet das einen merkwürdigen Kontrast. Er kam aus Genf und hatte dort in jedem Gottesdienst die Calvinische Beichtformel angehört, die totale, nichts frei lassende Bejahung der menschlichen Schuld, eine Verurteilung unseres gesamten Wesens und Lebens, die nicht überboten werden kann. Sie wurde auch damals ordnungsgemäß in jedem Gottesdienst gelesen und jeder Genfer lernte den auf diese Überzeugung gegründeten Katechismus. Und nun stellt sich, scheinbar völlig unvermittelt, die frohlockende Überzeugung an ihre Stelle: o nein! wir sind gut. Schuldbewußtsein entsteht nur mit dem Pflichtbegriff. Daß wir Gott und den Menschen verpflichtet sind, daraus erst kann aber Schuldgedanke entstehen. Ein Nichtseinsollendes gibt es nicht, wenn es kein Sollen gibt, und die Reue muß fallen, wenn die Liebe fällt. Das hatten die aus der Reformation entstandenen Kirchen vergessen, als sie zwar mit großem Ernst die Lehre von der Sünde ausbildeten und in ihrer Predigt vertraten, aber auf die Frage, was die Pflicht und der Dienst des Christen sei, keine deutliche Antwort erarbeiteten. Das machte die öffentliche Lehrtradition wehrlos. Indem sie jedermann das uns richtende Urteil vorhielt, die Beschreibung unserer Sündhaftigkeit, die angeblich der Anfang aller Erkenntnis, das erste Gewisse sein sollte, versperrte sie den Weg, auf dem das Schuldbewußtsein entstehen kann. Nicht am Bruch der Pflicht erlebte man die Schuld, nicht an der falschen Tat die Sünde, sondern sie war da als Erstes und Gewisses. Darum sah sie wie ein Dogma aus, das nur auf Autorität hin angenommen werden müsse. Nun waren aber geordnete Verhältnisse entstanden, eben durch die Energie der Reformationsethik, und zugleich die alte Autorität durch eine neue verdrängt. – 140 –

Nun verkündigen die Philosophen, daß der Mensch aufzublühen vermöge in einer Mannigfaltigkeit von Tugenden. Die Tugend ist ja das Vernünftige, und die Vernunft ist da! Man machte zugleich in allen Lebensgebieten Fortschritte und sah wie mit neuen Augen die Natur. Der Mensch war also gut. Mit der Reue fiel die L i e b e . Von ihr sagt die Aufklärung einmütig: am Glück des andern sich beglücken, das sei Liebe. Die Liebe Gottes fällt somit. Damit war gegeben, daß der G o t t e s d i e n s t aufhörte, natürlich nicht die Kultusformen, wohl aber der Kultus selbst. Der Kanzelredner hielt Kanzelvorträge. Auch die Sakramentsfeier wird eine Unterrichtsstunde. Der Geistliche wird Staatsbeamter, Beförderer der Volksbildung, Kulturträger usw. Für diejenigen Vorstellungen, die auf den Gottesdienst zielen, Gebet, Opfer, Berufung, Gehorsam, Absolution, Satisfaktion usw. geht jeder anschauliche Inhalt unter; sie werden einfach zu Nullen. Es war ein schweres nationales Unglück, daß durch lange Zeiträume und große Landstriche hindurch unser Volk nahezu ohne Gottesdienst war und teilweise noch ist, und zwar nicht trotz, sondern durch die Geistlichkeit. Während das Ende der Reue gegenüber der alten Tradition einen plötzlichen Bruch darstellt, ist die Einstellung des Gottesdienstes durch die Intellektualisierung der Religion in der orthodoxen Zeit reichlich vorbereitet. Immerhin tritt noch eine deutliche Wendung ein; denn die orthodoxe Predigt hatte daran festgehalten, daß sie die Verkündigung des gnädigen Wortes Gottes sei, und das orthodoxe Sakrament war ein Akt göttlicher Gnadenspendung. Im aufgeklärten Bezirk geschieht im Kultus nichts; alles wird zu einer Schulstunde. Wir haben jedoch auch dem Versinken des Kultus gegenüber festzuhalten, daß wir in der Geschichte immer auf die positiven Werte der göttlichen Regierung stoßen über und in aller mensch­ lich­en Verschuldung. Der Dienst Gottes erträgt keinen Servilismus; er wird mit einem amor generosus geübt oder er ist profaniert. Diese Profanation zum Servilismus lag auf dem orthodoxen Kult schon deshalb, weil er erzwungen war. Durch Zwang aufgenötigtes Sakra– 141 –

ment, aufgezwungene Evangeliumsverkündigung ist unvermeidlich mit vielen ethisch verwerflichen Vorgängen befleckt. Nun hörte der Kultus auf. Und indem man nicht mehr wußte, was der Dienst Gottes ist, entstand Raum für den Dienst an den Menschen. Mit der Umwandlung der Religion in ein Tugend- und Beglückungsmittel wird die Ethik selbständig. Denn der Herd der Kraft, die immer größere Vervollkommnung herbeiführt, liegt im Menschen selbst. Indem ich dies als einen Gewinn bezeichne, glaube ich den christlichen Standpunkt in keiner Weise verletzt zu haben, nach dem der Ursprung des guten Willens diejenige Stelle unseres Lebens ist, an der wir in ganz, besonderer Weise Gottes bedürftig sind. Einer ist gut, und guter Wille entsteht durch die Willenseinigung mit Gottes Willen. Allein damit ist nicht bestritten, daß es elementare ethische Erlebnisse und Gesetze gibt, die unabhängig von der christlichen Geschichte vorhanden und nicht erst aus dem Neuen Testament abgeleitet sind, die auch in ihrer elementaren Form schlechthin gültige Werte bleiben. Im orthodoxen Schema, wo sofort zu den spezifisch christlichen Funktionen übergegangen wurde, verdunkelte sich das. Es war ja schon von den ansehnlichen Werten die Rede, die durch die Ausbildung desjenigen Dienstes, den der Mensch dem Menschen schuldet, entstanden sind: Schule, Hygiene, Mobilisierung und Ethisierung des Staats. Von der Religion blieb die r e l i g i ö s e L e h r e übrig. Vom Standpunkt der Aufklärung aus bedurfte sie in zwei Beziehungen einer gründlichen Besserung. Sie verlangte die Ausscheidung des geschichtlichen Stoffes und die des Mysteriums. Zufällige Geschichtswahrheiten sind minderwertig, religiös belanglos; allgemeine und notwendige Wahrheiten ergeben den Inhalt der Vernunft. Typisch ist Lessing mit seinem Jammer über die bloßen Tatsachen; was sollen uns Tatsachen helfen? »Die Geschichte ist das Exempelbuch zur Moral, die Moral das Formelbuch zur Geschichte.« So pointiert steht die Sentenz in Schleiermachers Ethik; er drückt aber damit lediglich die Meinung der Aufklärung aus. Man muß also bei einer Tatsache erwägen, welche allgemeine – 142 –

Wahrheit man etwa aus ihr entnehmen kann, und diese allgemeine Formel ist einzig das Wertvolle, ja nicht das Geschehene, ja nicht die Wirklichkeit selbst. Mit dieser Opposition gegen die Geschichte ist aber die christliche Tradition kassiert. Denn diese ist Geschichte. Ein einzelner Mensch wie Jesus kommt also nur als Beispiel für eine allgemeine Wahrheit in Betracht. Sein Dasein, sein Wirken gilt nichts; es handelt sich einzig um seine Gedanken, seine »Lehren«. Die Einzigkeit des Christus, ebenso seine Wirkungsmacht in Richtung auf Gott als Versöhner und in Richtung auf die Menschen als Schöpfer der Gemeinde, wer den gestrichen. Das einzige Schema, unter das er gestellt werden kann ist: er sei der beste Lehrer der Moral. Darin, daß der Begriff »Religionsstifter« hinzukam, erreicht die mit Cartesius beginnende Wertung des Gottesgedankens ihre letzte Konsequenz. Es entspricht der Benutzung des Gottesgedankens zur Sicherung der intellektuellen und moralischen Bestrebungen des Menschen, daß er die Religion als seine eigene »Stiftung« ansieht, die er so gestaltet, wie es seinen Interessen entspricht. Die vollständige Unfähigkeit, den religiösen Vorgang wahrzunehmen, die sich in diesem Gedankengang ausspricht, bekam in der Religionsstiftung des Konvents ein weithin sichtbares Denkmal. Es kam darum notwendig in Frankreich wie in Deutschland zur bewußten Polemik gegen den Christus (Reimarus), jetzt nicht mehr nur jenseits der Kirche in den anderen Religionen bei Juden oder Muslim, sondern innerhalb der Kirche selbst, da die Aufklärung ja die Kirche durchdrang, ohne daß eine Abgrenzung gegen die, die den Christus bestritten, möglich ward. Es kam also für die Aufklärung nur das System der christlichen Begriffe in Betracht, und bei diesem stieß die Forderung der »klaren und deutlichen Vorstellungen« mit dem Mysterium zusammen. Die Ergebnisse dieser historischen Lage waren in hohem Grade abnorm. Das Interesse konzentriert sich auf das, was niemand weiß, als ob hier, im Bereich des Unwägbaren, die Entscheidungen fielen. »Erkläre mir die Trinität; dann glaube ich an Jesus«; als hinge unser Verhältnis zum Faßbaren vom Unfaßlichen ab. Ungezählte haben sich z.B. – 143 –

über die Frage nach der endgültigen Verlorenheit der Verdammten mit herzlichem Anteil den Kopf zerbrochen und davon ihre eigene Lebensführung abhängig gemacht, während sie hundert und hundert Dinge, die mit heller Faßlichkeit im Bereich unseres Bewußtseins stehen, unbeachtet ließen. Entweder Allwissenheit oder nichts – in dieses Dilemma hat uns die Aufklärung hineingestoßen, und es erzeugt heute noch eine weithin greifende religiöse Not. Die Kritik des Christentums, die damit innerhalb der Christenheit vorhanden ist, ergab eine neue Situation, mit der die konfessionellen Brüche des 16. Jahrhunderts nicht ganz vergleichbar sind, weil sich diese auf die Kirche bezogen, nicht auf den Christus. Jetzt der Streit um den Christus, damit auch um den ganzen Inhalt der christlichen Ethik, um den Geist und die Rechtfertigung, um das Glauben und die Kirchen Es ist historisch immer von großen Folgen, wenn sich eine Überzeugung im Kampf mit ihrer Antithese erhalten muß. Schwächung liegt darin, denn jeder Kampf ist Not und wirkt als Druck, Kraft verzehrend: aber auch Stärkung, denn der Kampf treibt zur Begründung der Überzeugung an. Der Providenzglaube, der nach der Entfernung der christlichen Gedankenreihen übrig blieb, war zunächst für die Aufklärung nicht ein unwirksamer Besitz. Wir stoßen nicht selten im 18. Jahrhundert auf echten, ernsten Providenzglauben. Es ist aber unverkennbar, daß er abnimmt. In Paris setzt sich in der Gruppe des Baron Holbach entschlossener Atheismus durch. Der Vikar von Savoyen trägt seinen Gottesgedanken in apologetischer Absicht vor. Lessing flüchtet sich zum Spinozismus. Interessant sind die Wirkungen der kantischen Kritik des Gottesgedankens: niemand hat sich ernsthaft für die rationale Metaphysik gewehrt, wohl aber für die Glücksethik. Garve sagte gegen Kant: der die Welt schaffende Gott bleibe doch immer die annehmbarste Hypothese, bei der man sich etwas denken könne, während bei der Ableitung der Welt aus einer generatio aequivoca niemand sich etwas denken könne. Er hat nicht Unrecht; nur erzeugt man mit einer immerhin empfehlenswerten Hypothese keinen Providenzglauben, jedenfalls keinen solchen, wie er für die schweren Jahre von 1790–1815 erforderlich war. – 144 –

9. Gegenwirkungen gegen die Aufklärungsethik Der philosophische Gegenstoß gegen die Aufklärung erfolgt teils von der englischen Arbeit aus, teils für Deutschland von Kant aus. Doch zeigt die Denkbewegung des 18. Jahrhunderts noch andere Vorgänge, die zum Ende der Aufklärung mitwirkten. Und mächtiger als die Denkgeschichte griff hier die reale Geschichte ein, von der jene in offenkundiger Abhängigkeit steht: der Untergang des altfranzösischen Königtums, der Erweis der Unentbehrlichkeit des Staats, und sei es auch nur in der Form einer napoleonischen Tyrannis, der ehrlose Tod des alten deutschen Reichs, die Rettung Preußens, die Arbeit, um nur einen Namen zu nennen, des Freiherrn von Stein für unser Volk. Daraus entstand zunächst eine Woge von atheistischer Stimmung, die durch ganz Deutschland fuhr, aber gleichzeitig auch eine Widerlegung der Aufklärungsethik, die für viele die Umkehr zu Gott begründete. Mit reiner Vernunft war hier nicht auszukommen, ebenso wenig mit sentimentaler Glücksethik. Es wird deutlich, daß der von der Aufklärung beschriebene Mensch eine Abstraktion ist. Ein anderes Selbstbewußtsein entsteht, damit aber ein anderes Verhältnis zu Gott. Diese in das Erleben der Völker fallenden Vorgänge treten für unsere Betrachtung zurück; es muß nur nachdrücklich an sie erinnert werden, damit die Vorstellung abgewehrt bleibe, die uns beschäftigende Geschichte sei nur durch Denkarbeit hervorgerufen. Wir bleiben aber bei der Denkgeschichte. An dieser ist zunächst der negative Tatbestand hervorzuheben, daß die Wehrhaftigkeit der christlichen Überzeugungen sowohl in Frankreich als in Deutschland auffallend gering war. Wo bleiben nun die Sprecher des Katholizismus, wie sie die Zeit des 14. Lud– 145 –

wig hatte, die Bossuet und Fenelon? Die französische Literatur des 18. Jahrhunderts hat nicht ein zu namhaftem Ansehen durchdringendes christliches Buch. Allerdings während der Revolutionsjahre hatte Frankreich einen großen Theologen, Louis Claude de St. Martin. Er verglich sich jedoch einem Geiger, der auf dem Kirchhof des Montmartre spiele; so ergreifend er spielt, die Toten erwachen nicht. Für Deutschland traf dies doch nicht ganz zu; er hat hier einzelne Leser gefunden, wenige, darunter auserlesene, Matthias Claudius, Franz Baader, Schubert usf. Daß seine Wirkung eine sehr beschränkte blieb, ist teilweise durch die Begrenzung seines eigenen Innenlebens bedingt. Er steht darin den Philosophen parallel, daß er seinen Gedankengang als Einzelner aus seinem eigenen Wahrnehmen und Wollen herausbildet, nur an Böhme durch ein ernstes Lernen angeschlossen. Eine solche Isolierung ist für einen Theologen noch unmöglicher als für den Philosophen. Ein Wissen von Gott haben wir nur als Gabe für alle in heller Öffentlichkeit, nicht als singuläre Ausstattung Einzelner. Sodann fehlt es ihm an kritischem Maß, sowohl in der Fragestellung, die kühn fortwährend auch ins Unerforschliche hinübergreift, als in der Regierung des Affekts, da in seinen Darlegungen ein hochgespanntes Pathos unablässig arbeitet und das Verständnis nicht nur erleichtert, sondern auch hemmt. In Deutschland stand es mit der Wehrfähigkeit der Kirchen nicht viel besser. Oetingers Dogmatik »ex idea vitae« geht von einem richtigen Gedanken aus; denn er wirft dem Leibnizschen Menschen vor, Denkmaschinen lebten nicht, und auch der Leibnizsche Gott habe kein Leben. Zugleich protestiert er gegen den Riß zwischen Seele und Leib. Aber es bleibt bei der Aufstellung eines Programms, als dessen Ausführung wir nur eine zwar nicht wertlose, kleine neutestamentliche Theologie bekommen. Nun ist es zweifellos ein Verdienst, daß sich die schwäbischen Theologen die Lesefähigkeit der Bibel gegenüber erhalten haben und nicht jener Täuschung erlagen, die einfach den rationalen Gedankengang in die neutestamentlichen Dokumente hineinlas. Nur war allein mit der Situation des Neuen Testaments die Aufklärung noch nicht – 146 –

überwunden. Hamann hat manches scharfblickende und zornesstarke Wort gegen die Aufklärung geschrieben, das in sein Ziel fuhr. Allein sein Besitz bleibt, ähnlich wie bei St. Martin, in der Hülle seiner Individualität verschlossen, die sich nicht zu öffnen und nicht Gemeinschaft bildende Kraft zu erlangen vermag. Es kommt in diesem Gang der Geschichte der innere Mangel der älteren theologischen Arbeit ans Licht. Man hatte nur für den eignen Kreis gearbeitet, der Katholik für den Katholiken, der die Autorität der Kirche anerkannte, der Protestant für den Protestanten, der an der Bibel seinen Kanon besaß. Nun waren diese Prämissen nicht mehr vorhanden, weshalb die theologische Waffenrüstung versagt hat. Es hat eine lange Zeit gebraucht, bis sich die theologische Arbeit einigermaßen auf die veränderte Situation eingerichtet hat, und das Urteil wäre schwerlich unbegründet oder übertrieben, daß die Theologie auch heute noch die Veränderung der Situation nicht vollständig begriffen hat. Die Schwächlichkeit der gleichzeitigen theologischen Arbeit hat vielleicht quantitativ die Ausbreitung der Aufklärung unterstützt, qualitativ dagegen den Wert ihrer Arbeit geschädigt. Es wurden durch sie Flachheiten in der Kritik der Religion und des Christentums möglich, die nicht denkbar wären, wenn sie eine mannhafte Theologie sich gegenüber gehabt hätte. Wie soll man sich z.B. Aussprüche wie die, die wir von Kant über das Gebet oder über das Alte Testament haben, zusammen mit einer lebendigen Kirche und Theologie vorstellen? Die Flachheit des Gegners wirkte verflachend auch auf die Philosophie. Dagegen bilden sich in der geistigen Arbeit andere Vorgänge heraus, die sich der Aufklärung widersetzen: der Fortgang der Naturforschung, die Ausbildung der Geschichtswissenschaft, die den Philosophen zurückdrängende Macht der Poeten. Die N a t u r f o r s c h u n g ging durch den Rationalismus ungestört ihren Gang. Leibniz hat über die Gravitation ernstlich geklagt als über einen Rückfall in »das Reich der Finsternisse«. Solche Rückfälle gab es jedoch noch mehr; es kam auch die Elektrizität, der Chemismus, die zunehmende Übersicht und Verdeutlichung – 147 –

der organischen Gebilde, Buffon, Linné, Alexander v. Humboldt usf. Diese neuen Erwerbungen kamen nicht nach den rationalen Regeln, nicht durch reine Vernunft, auch nicht bloß durch Mathematik, wenn sich auch der Wert der Berechnung unbestreitbar bewährte. Die Positivität der Naturvorgänge trat ins hellste Licht. Der Naturforscher muß sehen, verhält sich also der Natur gegenüber empfangend. Er muß auch ihr gegenüber handeln, um sehen zu können. Sie handelt in Richtung auf ihn, er experimentierend in Richtung auf sie. So wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Selbständigkeit der Naturforschung deutlicher, unwiderruflicher. Die Philosophie verliert ihre Macht über sie und der hellenische Traum von einer »Allwissenschaft« zerrinnt. Die Erschütterung der rationalen Zuversicht zum Denken trat umso sicherer ein, weil gleichzeitig auch nach der ethischen Seite das Überlegenheitsbewußtsein der Natur gegenüber brach. Es wird auch für die dem Willen vorschwebenden Ziele deutlich, daß wir die [sic] Natur bedürfen, so daß uns mit der Entfernung von ihr das Glück entrinnt. Aus ihr haben wir Gedanken und Willen, die Kraft und das Glück. Die Naturforscher mußten arbeiten, um ihre Resultate zu gewinnen, und die von ihnen vorbereitete und ermöglichte Technik setzte die Arbeit vollends in Gang. Es war eine ethisch wichtige Neubildung, daß dadurch die Arbeit geadelt wird. Wie fremd dieser Gedanke der Aufklärung noch war, läßt sich z.B. instruktiv an Werther beobachten. Er tut nichts; er zeichnet ein bisschen, aber ohne Ernst, und geht in einen kleinen diplomatischen Dienst, auch keine Arbeit. Indem wir seither durch die Ausbildung des Verständnisses der Natur und durch ihre Benutzung die Ehrung der Arbeit erhalten haben, war auch die Beschränkung auf das eigene Ich durchbrochen, weil die Arbeit immer Gemeinschaft setzt. Parallel damit entsteht die m o d e r n e G e s c h i c h t s f o r s c h u n g , von zwei Wurzeln her. Ein polemisches Interesse führte zu ihr, da die Kritik der gegebenen Zustände die Frage nach ihrem Entstehen schuf. So hat Montesquieu das Recht unter historischen Gesichtspunkten studiert; es wird beweglich gemacht dadurch, daß – 148 –

seine Beziehungen zu den philologischen Bedingungen deutlich werden, die das Werden der Völker beherrschen. Da man im Gegensatz zum Altertum steht, wird das Absterben desselben ein interessantes Thema (Gibbon, Montesquieu). Aus dem Gegensatz, gegen die gegebene Gestalt der Kirche entstehen Untersuchungen über ihre Geschichte; man scheidet am Christentum »Schale und Kern«, das historisch Bedingte und das Gültige (Semler). Die Polemik geht aber über in das Verstehen; man kann nicht polemisieren, ohne den Hergang zu verstehen, und vom Objekt sich nicht befreien, wenn man es nicht zuerst erkennend durchdringt. Die andere Wurzel, aus der die Geschichtsforschung entsteht, ist das Studium des Einzellebens. Es häufen sich die Selbstbiographien (Rousseaus Konfessionen, Hamanns, Semlers, Goethes Selbstbiographien, Lavaters nicht endende Papiere usf.). Immer greift dabei das universale Interesse ein; die Aufklärung interessiert sich auch in der Beobachtung des Einzelnen und des eigenen Selbst für den Menschen. Diese Arbeiten sind erst auf dem Wege zur Geschichte, noch nicht selbst schon Geschichtsschreibung; denn es fehlt ihnen noch die bewußte, ernste Unterstellung des Denkens unter den Kausalbegriff. Es überwiegt in ihnen ein ästhetischer, künstlerischer Gesichtspunkt, bei dem man den Anblick des eigenen Lebenslaufs genießt als eines durch eine Einheit zusammengefaßten Ganzen, etwa wie uns die Bewegung des pflanzlichen Lebens vom Samen zur Frucht auch einen künstlerischen Genuß verschaffen kann. Aber indem sich die Beobachtung dem Lebenslauf des Menschen zuwendet und sich die ihn bewegenden Kräfte zu verdeutlichen sucht, bricht die geschichtliche Wissenschaft mit zunehmender Klarheit herein. Dazu kamen die neuen Entdeckungen: Asien tritt in den Geschichtskreis der europäischen Völker, aber auch die »Wilden«; ebenso erhält das Altertum, die alte Kirche und die frühere Geschichte des eigenen Volks beträchtlich bestimmtere Umrisse. So erhalten wir nun Sprachgeschichte, Rechtsgeschichte, Kunstgeschichte. Was sich bei diesen Arbeiten ergab, war für die reine Vernunft genau so überraschend wie die Erträge der Naturwissenschaft. Auch hier – 149 –

setzt sich die Positivität des Geschehens unzweifelhaft durch, und die Geisteswissenschaften emanzipieren sich von der Philosophie so gut wie die Naturwissenschaft. Verarmt stand die angeblich höchste Wissenschaft, die Metaphysik, daneben. Auch die materiellen Erweiterungen des Wissens, die dabei erarbeitet wurden, sind wirksam geworden. Man lernte in der Beschäftigung mit dem Altertum einen anderen Staat kennen als den, den man verachtete, eine andere Religion als die, die bloß aus dem Providenzglauben bestand und das Innenleben des Menschen leer ließ. Doch hat nicht nur die stoffliche Mehrung des Wissens die Aufklärung beendet, sondern es bildet sich das heraus, was wir jetzt »geschichtlichen Sinn« nennen. Da die psychologische Terminologie immer schwankend ist, bedarf diese Formel freilich einer bestimmten Definition. Ich sehe geschichtlichen Sinn da, wo die Einsicht erworben ist, daß das menschliche Handeln seine Bedingungen in den vorangehenden Ereignisreihen hat und mit diesen durch einen festen kausalen Zusammenhang verbunden ist. Die Entdeckung wird gemacht, daß nicht nur die Natur gesetzmäßig geordnet ist, sondern daß ein ebenso festes kausales Verhältnis unser Innenleben mit dem, was vor ihm und neben ihm steht, verknüpft. Damit hört die von der Aufklärung vorausgesetzte Selbständigkeit der Vernunft auf und mit dem Eremitentum der vernünftigen Monaden ist es vorbei. Die Vernunft selbst ist in ein Werden hineingesetzt, und dieses vollzieht sich in der Gemeinschaft mit den vor uns und mit uns Lebenden. Der geschichtliche Ort gibt dem Intellekt seine Gestalt und damit sein Gesetz. Daraus leitet sich aber auch für unser Handeln das Gesetz ab. Die herrischen Postulate an das Wirkliche, daß es der Vernunft weichen müsse, hören auf. Die Erkenntnis dämmert, daß wir die Geschichte nur dadurch bewegen, daß wir ihr dienen, genau wie wir unsere Herrschaft über die Natur nur im striktesten Gehorsam gegen sie üben. Die Ausbildung der Geschichtswissenschaft brachte freilich neue religiöse Schwierigkeiten. Die Schranken, die den überlieferten geschichtlichen Horizont einfassen, brechen und die Menschheit stellt – 150 –

sich als älter dar, als man dachte. Es ging von der Wahrnehmung, daß die christliche Geschichte, in der doch der Wille Gottes zur Offenbarung gelangen soll, nur ein kleines Segment aus der Menschheitsgeschichte sei, viel religiöses Schwanken aus. Die Philosophen waren zwar auch davon berührt, da das, was sie als geschichtliche Deduktionen gaben, dieselbe Bahn durchmaß, die auch das Auge der Theologen übersah. Sollte z.B. das Wesen des Staats geschichtlich deduziert werden, so begann die Betrachtung des Philosophen in Athen und endete in Berlin. Allein für das christliche Denken bedeutete die Erweiterung des geschichtlichen Horizonts ungleich mehr als für die philosophischen Theorien, weil jenes durch die Geschichte seinen Stoff empfängt. Doch auch der religiöse Gewinn blieb nicht aus, weil es auch für die religiöse Geschichte gilt, daß wir nur innerhalb derselben denken und handeln können, nicht gegen sie. Geschichtslosigkeit bedeutet auch für unseren Anteil an der christlichen Geschichte Unwissenheit über das eigene Werden und Unfähigkeit zum eigenen Handeln. Mit der wachsenden Einsicht in die Geschichte waren die Tatsachen nicht mehr der Mißhandlung preisgegeben wegen ihrer angeblichen »Zufälligkeit«, sondern nun ergab sich dies als das große, ernste Anliegen zu wissen, was Tatsache sei. Am raschesten machte sich die Macht d e r P o e t e n geltend, da sie ja durch die Aufklärung selber hervorgerufen und getragen war. Ursprünglich hatte sie freilich für die Phantasie nur die negative Schätzung, sie sei la maitresse des erreurs, oder sie sah mit Garve in ihr die Erzeugerin der Schwärmerei, weil sie zu Aussagen verleite, die den Bereich des Wissens überschreiten, wobei völlig dunkel bleibt, was denn die Phantasie in der Ökonomie unseres Lebens soll. Sie erscheint lediglich als ein störendes, negatives Vermögen. Nun bekam man wieder Dichter, teils weil man die alten wieder entdeckte, Homer, Shakespeare, teils weil Zeitgenossen echte Dichter waren, Goethe und auch Schiller. War nun die Seele einzig ein denkendes Wesen? Als minderwertig ließen sich die Dichter nicht beurteilen; sie gewannen vielmehr die Herrschaft über die Völker, und die Aufklärung selbst bereitete sie ihnen, da sie die Kunst als – 151 –

einen wichtigen Bestandteil des Glücks gewünscht und gepflegt hatte. Was gab den Gebilden der Poeten diese Macht? Nicht einzig der künstlerische Genuß, den sie gewährten, weil die ästhetische Form immer eines Stoffs bedarf und keine Form ohne einen in sich gehaltvollen Stoff wirksam wird. Stellten nun Götz, Wallenstein, Faust usf. »Begriffe« dar oder Typen »reiner Vernunft«? Woller bildeten die Poeten und zeigten an ihren Gebilden, wie Wille wird und was er anrichtet, wenn die Tat aus ihm entsteht, rückwirkend auf den Täter als Schuld und Geschick, fortwirkend auf seine Umgebung als Heil oder Unheil. Damit wurde deutlich, was die Phantasie in uns leistet, daß sie derjenige Denkvorgang ist, durch den Wille in uns wird und erscheint. Daher kam auch die Macht der Poeten, weil sie den Willen der Nation bewegten. Sowie aber die Aufmerksamkeit auf den Willensvorgang sich richtet, so entsteht die Frage: was sollen wir denn wollen? und damit war die Glücksethik der Aufklärung durchkreuzt. Unsere Dichter suchten sich darum eine andere intellektuelle Basis als die Aufklärung. Schiller flüchtete sich zu Kant; vielleicht war das für seine dichterische Arbeit nicht nur ein Vorteil, da die kantischen Abstraktionen für Poesie kein günstiger Boden sind. Goethe richtete seinen Blick mit liebendem Verlangen auf die Natur. Soll eine einzelne Schrift als überlegener Gegner der Aufklärung genannt werden, so dürfte Faust an erster Stelle zu nennen sein. Er zeichnet das Bild der Aufklärung in zwei Stufen, unten die Schüler, Wagner, der lernbegierig von der Kunst gern profitieren möchte – es gab in der Tat viele Künste, von denen die Aufklärung gern profitierte und wirklich profitierte. Aber dieser viel profitierenden Vernünftigkeit hing Goethe das Urteil an: sie sei auch dann zufrieden, wenn sie bei ihrem Graben bloß Regenwürmer finde. Darüber steht der Meister, der das intellektuelle Streben auf einer Höhe darstellt, wie es nur die Großen der Aufklärung hatten, Spinoza, als er sich entschloß, nichts als ein Modus der bedenkenden Substanz zu sein, Cartesius, als er auf sein ganzes geistiges Erbe verzichtete und den – 152 –

radikalen Zweifel in sich nährte. Und diesem zur höchsten Höhe emporgehobenen intellektuellen Streben pflanzt Goethe das intensive Bewußtsein um die Not und Schmach unserer menschlichen Ignoranz ein. Mehr noch: er gibt der Aufklärung nicht zu, daß Faust nur Intellekt sei; er ist Mensch. Er trägt also nicht nur die Not des mißlingenden Erkenntnisstrebens, sondern ist zugleich als Person ziellos, ratlos, leer. »Im Anfang war die Tat.« Damit winkt ein Ausweg. Aber die Rettung ist damit noch nicht gefunden. Welche Tat? Was haben wir zu tun? Nun entsteht die Tragik. Faust weiß nichts zu tun; das einzige, was er fertig bringt, ist, daß er Gretchen zertritt. Statt der fruchtbaren Tat entsteht die Schuld, nicht nur da, wo auch die Aufklärung sie eventuell zuließ, bei den Hohen und Ungebildeten, sondern auf der Höhe der Intelligenz, doppelt schuldig, weil hier die aufs höchste gehobene Intelligenz den Sturz erzeugt. Und nun bricht vollends die Tragik hervor: was nun? Goethe verstummt. Faust ist Fragment und der zweite Teil zeigt nur, daß er nicht zufällig ein Fragment ist, sondern daß er es sein mußte, weil der Dichter nicht vorwärts kam. Und die gesamte Aufklärung kam nicht vorwärts. Vischer, der hegelsche Ästhetiker, hat gesagt: Faust müßte es nur richtig anfangen, nicht so unvermittelt, nicht so sprunghaft, sondern nach hegelscher Logik, schön methodisch; d.h. er gibt Faust den Rat, sich zu Wagner zu gesellen. Und etwas anderes blieb der Aufklärung nicht übrig; sie mußte sagen: Wagner hat das gute Teil erwählt. Aber diese Antwort hat Goethe seinen Lesern schwer gemacht. Nun hat Goethe die Wirkung dadurch erhöht, daß er die christliche Linie hineinzeichnet. Faust liest den Prolog zu Johannes; Ostern hindert seinen Selbstmord; Gretchen fragt bang: du glaubst nicht an Gott? und als alles verloren ist, betet sie, spät, zu spät; aber sie betet. Nur als Kontrast ist diese Linie gezeichnet, als von Faust überschritten und vom Dichter selbst überschritten. Es wäre Unsinn, Goethe evangelistische Tendenzen zuzumessen. Indem er aber als die beiden einzigen Möglichkeiten, die ernsthaft miteinander konkurrieren, die christliche Überzeugung und den Weg Fausts gegeneinanderstellt, hat er das Bild der Aufklärung richtig gezeich– 153 –

net. Diese beiden Wege hoben sich gegeneinander ab, und indem der Weg Fausts im Sturz und in der Ratlosigkeit endet, entstand die Frage wieder, was es mit dem anderen Wege sei. »Im Anfang war die Tat«; damit ist ein Gedanke ausgedrückt, der für Goethes Philosophie bedeutsam ist. Er hat mit Stolz gesagt: »Mein Kind, ich hab es klug gemacht; ich habe nie über das Denken gedacht.« Dem ganzen Kantianismus hielt er sich verschlossen, trotzdem Schiller neben ihm Kantianer wurde. Man denkt nicht über das Denken, sondern man denkt Gedanken, und wie gewinnen wir sie? durch Tun. Die Aktion ist der Erzeuger echter, wertvoller Gedanken. Abgeschnitten von der Aktion haben wir nur die leeren Schattenbilder einstiger und fremder Gedanken. Aber vor der Aktion steht als das Tiefere das Erleben, jene Empfänglichkeit, die das Wirken der Welt auf uns vermittelt. Vieles befruchtende Erleben sucht nun Goethe überwiegend in der Natur, im Sicheins-fühlen mit ihr. Daher rühren die großen Defizite in seinem Verhalten zur Nation, daß er in der ganzen napoleonischen Periode kein Wort gefunden hat, das ihr diente, weder als die Gefahr des Sterbens an sie herantrat, noch als ihr die Rettung widerfahren war. Daher rührt es auch, daß er es ertragen hat, den Faust ein Fragment sein zu lassen. Aber auch so war sein Protest gegen die Aufklärung und den Kantianismus wirksam. Ihr Menschenbild, nach dem der Mensch aus Sinnlichkeit und reiner Vernunft komponiert war, wovon jene ihm die Erfahrung, diese ihm die Mathematik und Metaphysik gab, warf Goethe um.

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10. Die englische Kritik der Vernunft Die englischen Arbeiter, Baco, Hobbes, Loche, Berkeley, Hume, erhalten dadurch einen gemeinsamen Typus, der sie von den Franzosen und den Deutschen unterscheidet, daß sie ein anderes Verhältnis zur Natur haben. Bei den Franzosen tritt das Überlegenheitsbewußtsein hervor; die Natur, wird berechnet und benutzt. Die Engländer stellen sich in die Natur, und zwar erzeugt diese auch das inwendige Leben des Menschen. Auch sie sind Rationalisten; ein reiner Empirismus ist noch nirgends erreicht. Aber die Basis, auf die sie ihre Schlüsse stellen, ist eine andere. Die Cartesianer fangen mit dem Unterschied des Denkens von der Gedehntheit an; die Engländer betonen den kausalen Zusammenhang zwischen dem physischen und psychischen Geschehen. Vielleicht kann auch Materie denken, meint Locke, und Hobbes hat gelehrt, daß das Denken aus der Bewegung der Köperteilchen entstehe. Das zeigt sich auch instruktiv an ihrem verschiedenen Verhältnis zum Tier. Die Cartesianer sahen hier eine totale Differenz, während die Engländer gern aus der Verwandtschaft des Menschen mit dem Tier ihre Argumente ziehen. Damit ist auch eine Differenz in der Fassung der kausalen Vorgänge gegeben. Für die Cartesianer ergibt die Maschine die Analogie, nach der sie sich die physischen Vorgänge deuten; ihr berühmtes Beispiel ist das Räderwerk einer Uhr. Bei den Engländern regt sich der Entwicklungsgedanke, dasjenige kausale Schema, das die Bewegung des Organismus aus dem Samen zur vollendeten Gestalt darbietet. Ein Einfachstes beginnt, und aus ihm entsteht ein immer bestimmteres und komplizierteres Gebilde. Hobbes denkt sich das Seelenleben als eine aufsteigende Bewegung; das Einzelne kommt hier vor das Allgemeine zu stehen, der sinnliche Vorgang vor den – 155 –

rationalen. Es fällt die reine Vernunft, die dem Sinnesvorgang gegenüber selbständig sein soll. Auch für die Mathematik hat er die empirische Herkunft behauptet. Wenn wir nicht in der Natur selbst Figuren sähen, hätten wir die idealen Raumbilder nicht an denen der Mathematiker seine Denkoperationen vollzieht. Ausdrücklich stellt sich Locke diese Aufgabe. Er unternimmt eine deskriptive Psychologie: den Aufbau des Bewußtseins aus den stufenweise aus einander sich ergebenden Vorgängen. Der ganze Inhalt des Intellekts stammt aus dem Naturprozeß. Die Seele denkt er sich nur als Empfänglichkeit; seine Füllung erhält das Bewußtsein aus der Außenwelt. Es beginnt die beobachtende und experimentierende Psychologie, die Parallele zur deskriptiven Ethik Spinozas. Allerdings bleibt sie bei Locke noch mit Rationalismus vermengt, der die genetische Darstellung hindert. Er baut sich das Bewußtsein wie eine Maschine aus Stücken auf, wie es ja stets die Art voreiliger Systematisierung ist, daß sie Stücke nebeneinandersetzt, wo sie den Hergang nicht begreift. Und mehr als ein Notsystem gibt Lockes Fachwerk: einfache Vorstellungen, zusammengesetzte Vorstellungen nicht. Dennoch gilt auch von ihm, was von Spinoza zu sagen war: eine Arbeit wird begonnen, die nicht mehr endet. Von der englischen Arbeit gingen religiös negative Wirkungen aus. Der französische Materialismus und Sensualismus hängt mit ihr zusammen. Und doch ist an sich der englische Ausgangspunkt nicht irreligiös. Damit, daß das geistige Leben in die Natur hineingesetzt wird, ist es nicht schon geleugnet, auch nicht von Gott abgerissen. Die Frage ist: was als natürlich anerkannt wird, wohin die Grenze zwischen Natur und Schein, zwischen Natur und Unnatur gelegt wird. Für die Engländer ist der entscheidende Punkt im Gottesgedanken der Kausalitätsbegriff. Bei Hobbes ist dies am interessantesten ausgeführt. Er hat Cartesius gegenüber bestritten, daß wir eine idea dei besäßen. Wir hießen »Gott« den Produzenten der Natur. Damit habe aber die Gottesidee keinen Inhalt über den Kausalitätsgedanken hinaus. Alles, was wir im Gottesgedanken wirklich als Inhalt – 156 –

dächten, seien Merkmale der Natur mit Einschluß unseres Innenlebens. Gott sei nur an seinem Werk erkennbar; indem wir uns das Werk Gottes vorstellen, bekommen wir den Inhalt für die Gottesidee. Cartesius hat nicht ausreichend geantwortet. Für Hobbes ergab sich daraus, daß die Theologie nicht die Aufgabe habe, Gott zu beschreiben. Sie verschaffe uns keine Ontologie Gottes. Was soll sie denn? Sie soll ausdrücken, wie wir Gott denken müssen, damit wir ihn verehren. Dem Willen, der Gott ehren will, entstammen die theologischen Aussagen und sie sind dann wahr und deshalb wahr, weil und wenn sie diesen die Verehrung Gottes wollenden Willen ausprägen. Wir sind schon ganz nahe bei Kant (beim regulativen Gebrauch der Gottesidee) und bei Schleiermachers Füllung des Gottesgedankens aus dem Abhängigkeitsgefühl. Sofern die Natur uns zur Verehrung Gottes führt, führt sie uns auch zur Theologie, obwohl sie uns kein Wissen von Gott verschafft. Das blieb aber ein Gedanke, mit dem Hobbes, wie in vielen seiner theologischen Sätze, seine Zeit überholt, und daß er nicht förderlich eingreifen konnte, hat er sich selbst dadurch zugezogen, daß er im Grunde auch mit seinen positiven Sätzen eine verhaltene Polemik betreibt. Locke läßt auch die Religion aus dem Naturprozeß entstehen. Eine Empfänglichkeit der Seele Gott gegenüber gab er nicht zu; in die berühmte »tabula rasa« schreibt Gott nichts hinein anders als durch die Vermittlung der Natur. Aus ihr entsteht uns aber die Erkenntnis des gütigen Schöpfers durch den in der Aufklärung üblichen Gedankengang. Daß diese Theorien religiös erklärend wirkten, nicht nur deshalb, weil sie keine Beziehung zum Christus hatten, sondern auch dem gegenüber, was sonst die Aufklärung besaß, entsteht durch die immer an der Natur haftende Gefahr, daß sie mit ihrer Unermeßlichkeit und der Festigkeit ihres Wirkens den Menschen zu sich herab und völlig in sich hineinzuziehen droht. Diese Gefahr wird dann vollends dringend, wenn das Menschliche von der Natur aus erklärt und hergeleitet werden soll. Dann ist es nie leicht, den dem Menschen gegebenen Besitz zu bewahren. Die Erklärung von – 157 –

unten her scheint dann gelungen, wenn der Mensch auf das Untere reduziert worden ist. Dies zeigt sich darin, daß nun die Skepsis kommt, noch nicht bei Berkeley, der bloß die Substantialität der Dinge zugunsten der Wirksamkeit Gottes ausschaltet, wohl aber bei Hume. Die Skepsis konnte sich an den Substanzbegriff hängen, da schon Locke mit unverhohlenem Erstaunen seine attributlosen Substanzen betrachtet hat, denen nichts mehr übrig bleibt, nachdem ihnen die Attribute alle abgezogen sind; es entspricht aber der Richtung des englischen Denkens, daß mehr als der Substanzbegriff der Kausalitätsgedanke bei diesem Kampfe in den Vordergrund trat. Damit hat sich der Zweifel gewendet; er kehrt sich nicht mehr nur gegen die Dinge, sondern nun gegen die Vernunft selbst, und der Mensch wird unsicher über sich selbst. Damit ist aber die Aufklärung in ihrem Fundament erschüttert; denn ihr Glaube an die Leistungsfähigkeit des Denkens war die Wurzel ihres ganzen Baus. Sie hat sich aber diese Erschütterung selbst bereitet, durch ihre Forderung, daß die Begreifbarkeit die Bedingung der Bejahung sei. Diese versagt vor allem bei unseren eigenen Funktionen, die wir als etwas schlechthin Gegebenes in uns finden und haben, hinter die wir aber nie zurücktreten können, um sie in ihrem Entstehen zu beobachten. Die Begriffe Wirken, Wirkendes, Gewirktes haben ihren primären Ort in unserem Selbstbewußtsein und sind uns hier als die uns gegebene Formation unseres Lebens immer gegenwärtig. Aber diese Wurzel des Kausalitätsgedankens hatte schon Locke angetastet, sofern er uns nur noch Empfänglichkeit zuschrieb, uns also in Passivität versetzt, so daß wir nur sehen gemacht, nur denken gemacht werden. Aus dieser Passivität entsteht bei Locke hernach noch als zweites die Aktion. Aber brauchen wir diesen Fortschritt wirklich zu vollziehen? Daß das Bewußtsein durch das Zeitschema geformt sei, hält Hume fest. Sukzession sei uns gegeben, aber ob uns mehr gegeben ist? Ist nicht der Kausalitätsgedanke bloß eine Variante zu der beharrlich wiederkehrenden Sukzession? Daß Hume von der »Ge– 158 –

wöhnung« sprach, war flach, weil die Gewöhnung den Kausalitätsgedanken in sich hat und eine die früheren mit den späteren Akten verknüpfende Wirkung jener aussagt. Sie ist schon an und für sich keineswegs ein durchsichtiger Vorgang und wird es erst recht nicht, wenn wir die kausalen Relationen gestrichen haben. Mit der Verneinung des Kausalitätsgedankens fiel der Gottesgedanke; aber auch die Ethik. Höchstens blieb eine mit Spinoza verwandte Hygiene des Vorstellens zurück. Hume hat den Gedanken nicht fertig gedacht; aber der Stachel seines Zweifels saß fest und hat auch Kant aus der Aufklärung herausgeführt.

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11. Kants Kritik der reinen Vernunft Kant war nicht nur, ehe er Kritiker wurde, sondern auch als Kritiker ein Mann der Aufklärung. Und doch geht eine empfindliche Gegenwirkung gegen die Aufklärung von ihm aus. Wie das kam, mag eine Parabel andeuten: Eine auf dem Eis befindliche Gesellschaft wird schwerlich durch den Warner am Ufer verscheucht; wenn aber einer aus ihrer eigenen Mitte durch das Eis durchbricht, dann entsteht die Wirkung; das Eis wird gemieden, und die Gesellschaft zerstiebt. Daß es mit der Logik der Aufklärung nicht in Ordnung sei, spürten manche; nun aber zerbrach einem berufenen Vertreter der Aufklärung ein für sie wesentlicher Satz, nämlich die Zuversicht zur Leistungsfähigkeit der reinen Vernunft. Den Erkenntniswert der rationalen Metaphysik gab Kant preis. Das machte einen Neubau nötig, den Kant selbst nicht versucht hat, der aber durch ihn unabwendbar geworden ist. Kritik der reinen Vernunft sollen wir bekommen; ihre Leistungsfähigkeit wird abgeschätzt. Wir haben schon in dieser Fragestellung den Aufklärer vor uns. Kant setzt nicht bei den großen Problemen ein, die die Älteren bewegt haben, wie das Sehen entstehe, wie Wirken möglich sei, durch das wir den Naturprozeß vom inneren Impuls aus bewegen, wie die Mannigfaltigkeit der Funktionen in uns entstehe, ob der Denkprozeß aus dem Sinnesvorgang, der Willensvorgang aus dem Denkprozeß herleitbar sei. Da Kant seinen geistigen Besitz durch die Aufklärung erhalten hat, widmet er seine Aufmerksamkeit ausschließlich den Operationen der reinen Vernunft. Diese Begrenzung der Fragestellung hat aber die historische Wirkung Kants erhöht. Jene Grundfragen berühren die Daten unseres Lebens und sind darum undurchdringliche Geheimnisse. Indem Kant sie beiseiteschiebt, faßt er – 160 –

mit seiner begrenzten Frage einen Punkt, an dem er mit Gewinn arbeitete. Sein Glaube an die reine Vernunft wurde von der Erschütterung, die ihn vorwärts trieb, nicht erfaßt. Er fragte nicht, ob wir sie haben, sondern nur, was sie leiste. Die Tatsache, in der der Glaube an die reine Vernunft seinen Grund findet, ist immer dieselbe: die Mathematik. Der Mathematiker braucht angeblich keine Erfahrung, da seine Sätze zeitlos und rein vernünftig sind. Also haben wir reine Vernunft und der Streit bezieht sich nur darauf, was sie leiste. So gibt Kant einen besonders deutlichen Beleg für den in der Religionsgeschichte immer wiederkehrenden Vorgang, daß die über unsere inwendige Geschichte entscheidenden Betätigungen des Glaubens an vereinzelten und einfachen Wahrnehmungen entstehen. Die mathematische Phantasie ist innerhalb unseres geistigen Lebens ein elementarer Vorgang; dieser beherrscht aber bei Kant den ganzen Verlauf seines Denkens und bildet das Fundament für alle seine Aussagen über Gott und die Welt. Ebenso deutlich wird aber an Kants Verhalten sichtbar, daß uns die Vereinzelung des Glauben schaffenden Motivs die Gefahr bereitet, daß aus dem Glauben die Hemmung des Erkennens entsteht, weil mit der zur Gewißheit gewordenen Bejahung des einen Vorgangs die Fähigkeit zur Wahrnehmung der neben ihm stehenden Tatbestände erlischt. Da Kants Glaube an die reine Vernunft nicht schwankte, war seine Frage nicht die, ob wir synthetische Urteile a priori bilden, sondern wie diese möglich seien. In der Apriorität der Urteile wird ihre Zugehörigkeit zur reinen Vernunft sichtbar. Daß es sich um das synthetische Urteil handelt, ergibt sich daraus, daß dieses den eigentlichen Erkenntnisakt ausmacht. In der Synthesis, die mit dem Subjekt ein Neues als Ausgesagtes verknüpft, erleben wir das Erkennen. In diesem Vermögen besteht die Sehkraft der reinen Vernunft. Wir machen uns also, indem wir nach der Möglichkeit solcher Urteile fragen, die Bedingungen deutlich, unter denen unser rein vernünftiges Erkennen zustande kommt, und aus der Einsicht in dessen Bedingungen entsteht unmittelbar auch das Wissen um seine Grenzen. – 161 –

Daß Kant ernsthaft nach der Genesis dieser vernünftigen Sätze fragt, unterscheidet ihn vom älteren Rationalismus. Diesem ist die vernünftige Funktion das Gegebene, die Basis des ganzen Systems. Darin, daß sich Kant zu verdeutlichen sucht, wie die rationale Metapsychik zustande komme, steht er unter dem Einfluß der beobachtenden Logik (Hume), obwohl er selbst prinzipiell Rationalist geblieben ist. Von seinem Standpunkt aus war aber die Frage nicht durch Beobachtung zu lösen. Naturwissenschaftliche Methoden sind hier nicht anwendbar. Wir kommen nicht zum Ziel dadurch, daß wir beobachtend oder experimentell feststellen, wie das Raumbild in uns entstehe, beobachtend, etwa an der Sprachpsychologie, zu konstatieren suchen, wie sich der Kausalbegriff ausbilde. Das wäre ja bloß Empirie, keine Philosophie. Der Genius allein kann helfen durch einen kühnen Griff; Kant hat bekanntlich an Kopernikus erinnert. Sodann steht fest, daß die Bedingungen, die das Denken möglich machen, einzig in der Vernunft selbst liegen können. Ein Abhängigkeitsverhältnis ist nicht da. Der Denkprozeß entsteht aus uns selbst; er ist aus uns, nicht bloß in uns. Wir bleiben also bei der leibnizschen Monas, die ihre Vorstellungen aus sich selbst produziert, und das gilt als Selbstverständlichkeit. Kants Gedanke ist nun der: die Allgemeinheit der Vernunftsätze sei dann begreiflich, wenn der sie bedingende Inhalt unseres Bewußtseins aus der Vernunft selbst stamme. Die Vernunft hat das, was sie ist, immer bei sich. Der Inhalt unserer Vernunft ist so allgemein, wie diese ist. Was sie aus sich selbst nimmt, hat sie unabhängig von aller Erfahrung. Dahin gehören 1. die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit; die Vernunft schaut und dadurch entsteht Raum und Zeit; 2. die Verstandeskategorien Einheit, Substantialität, Kausalität; die Vernunft denkt, und dadurch erhält unser Sinnesbild die Beschaffenheit von Substanzen, die eine Einheit sind, und von Kräften, die ihre Wirkung tun; 3. die Ideen Seele, Welt, Gott; auch das sind Formen, in denen unsere innere Organisation besteht. Diese Grundformen können wir nicht außer Kraft – 162 –

setzen. Wir sehen darum alles in Raum und Zeit, denken alles nach dem Schema Substanz und Kausalität, haben immer das Bewußtsein, unser Innenleben habe ein Subjekt, die Seele, unser Sinnesbild verdeutliche uns eine reale Einheit, die Welt, und geben der Welt den Urheber in Gott. Damit ist uns zugleich die Grenze für die Leistungsfähigkeit unserer Vernunft sichtbar geworden. Sondern wir diese Formen des Denkens vom konkreten Inhalt unseres Bewußtseins ab, so bleibt nichts Faßliches übrig. Ein Stoff ist natürlich da; sonst könnte man nicht von einer Form reden. Aber dieser Stoff ist schlechthin undefinierbar; wir haben ihn im Bewußtsein immer nur als geformten, d.h. unser Bewußtseinsinhalt sagt uns nichts über die Wirklichkeit. Kant gibt den Wahrheitsgedanken auf, sofern er die Übereinstimmung des von uns hergestellten Denkgebildes mit seinem Objekt verlangt. Eine solche ist nicht erreichbar, weil unser Denkgebilde durch die in uns liegenden Formen gebildet ist. Die Naturforschung erforscht also nicht die Natur, sondern nur unser Naturbild; der Mathematiker misst nicht den Raum, sondern das Raumbild. Das Selbstbewußtsein verschafft uns kein wissen von uns, sondern ist nur eine Beschauung unseres Bewußtseins ohne eine Aussage über unser Sein. Das »Ding an sich« bleibt unerforschlich. Wir sehen und deuten nur Erscheinungen. Dieser Gedanke hat eine merkwürdige Macht gewonnen. Sie beruht nicht darauf, daß uns irgendetwas am Denkvorgang deutlich gemacht wäre. Dieser bleibt vielmehr auch jetzt genau so undurchdringlich wie vorher. Wir schauen Räume; warum? Wir sind so organisiert; das ist die Form der Vernunft. Wir heißen das, was wir sehen, Dinge, Reales, Subsistentes, Substanzen; wir sind so organisiert. Das ist nicht mehr, als wenn wir fragen: warum fliegen die Vögel? und antworten: Sie haben das Vermögen zu fliegen usw. Nur das eine ist mit dem Begriff Form oder Vermögen ausgesagt, daß der Vorgang nicht nur durch besondere Bedingungen entstehe, sondern permanent geschehe. Wir sehen nicht nur dann und wann Räume, sondern immer; wir denken nicht nur dann und wann nach dem kausalen Schema, sondern stets. Wie aber die reine Vernunft einen ihr angeblich widerfahrenen Reiz faßt und nun in – 163 –

ihr Raumbild einstellt und daraus Dinge und Kräfte formt und unser Naturbild herstellt und unser Selbstbewußtsein macht, das ist bei Kant genauso mysteriös wie bei der antiken Logik. Und doch schien Ungezählten das Geheimnis deshalb wesentlich verändert, weil die Dinge aus der Rechnung herausfielen. Nun war im Wahrnehmen und Denken die Vernunft nur bei sich selbst. Kann sie nicht in ihrem eigenen Bereich walten, ohne daß dabei ein leidiges Mysterium uns in den Weg tritt? Wir begreifen zwar nicht, wie die Vernunft ihre formende Arbeit tut. Aber sie ist dabei doch nicht in eine Abhängigkeit, nicht in ein Wechselverhältnis gefaßt; sie ist für sich. Und es schien vielen leichter begreiflich zu sein, daß die Vernunft denke, wenn sie allein sei und aus sich produziere, als wenn sie eine Welt sehen soll. Der gefährliche Punkt kam weder Kant noch seinen Zeitgenossen zum Bewußtsein. Geht uns nicht die Welt verloren? Die Vernunft sieht nicht mehr aus sich heraus; sie formt ihre Gebilde mit ihren Formen, sieht aber weder sich selbst noch die Welt. Daß Kant hier keine Schwierigkeit empfand, ist durch seinen festen Glauben an die reine Vernunft bedingt. Damit ist von vornherein nicht vom Denken eines Einzelnen die Rede. Dieser hat wohl Vernunft, aber die Vernunft ist größer als das Einzel-Ich. Sie ist eine Hypostase, ein als real gesetztes Abstraktum, und da ein Generalbegriff immer die Erinnerung an die Vielheit bei sich hat, von der er abstrahiert ist, bleibt Kant der Gedanke ganz fern, das Ich könnte sich auf sich selbst reduziert finden. Die Vernunft ist ja da, die universale Macht, die uns alle umfaßt. Daher hat er in der Ethik ohne weiteres die menschliche Gemeinschaft eingesetzt. Darum ist Kant eines der merkwürdigsten Beispiele, wie eine Abstraktion als real behandelt werden kann. Er fragt nicht: wo ist denn diese Vernunft? Die Abstraktion ersetzt vollständig den Blick auf die Realität. Sodann war ja die reine Vernunft nicht das ganze Innenleben des Menschen, sondern nur der höchste Teil seines Intellekts. Nicht von der Erfahrung war die Rede, sondern nur von der Metaphysik, nicht von dem Denken, durch das wir leben, sondern nur von dem, durch das der Philosoph philosophiert. Skepsis schien hier unbedenklich. – 164 –

Aber damit war die Gefahr nur verdeckt, nicht abgewehrt. Erscheinung ist das Einzel-Ich, Erscheinung die Natur, alles. Erscheinung hat immer etwas vom Schein an sich, sonst nehmen wir nicht mehr bloß Erscheinung, sondern das Wirkliche wahr. Gab es denn überhaupt noch Wissenschaft, überhaupt noch ein Urteil, das Bejahung oder Verneinung war? Wir kommen in einen permanenten Schwebezustand, stehen in einer radikalen und unüberwindlichen Ignoranz. Um die Wirkungen dieses Gedankens zu verfolgen, haben wir drei Perioden zu unterscheiden. Zuerst Kants Zeitgenossen. Sie sind für die Ethik Kants empfänglich gewesen; gegen den Untergang der rationalen Metaphysik blieb die Reaktion auffallend schwach. Ernsthaft hat sich niemand für sie gerührt. Dann folgen rasch die großen Kantianer: Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Schopenhauer, alles Kantianer, auf dem Ergebnis Kants stehend, aber wirkliche Schüler, nicht bloß Kantphilologen. Sie bewegen Kants Gedanken fort. Dann folgt der Zusammenbruch des fortgebildeten Kantianismus und damit eine Rückbewegung zu Kant, nicht zu seiner Ethik, sondern zur kritischen These über die Leistungsfähigkeit der Vernunft, und jetzt wird dieselbe Gemeingut der Gebildeten. Nun strahlt sie aus als Popularphilosophie, nicht zusammen mit ihrer Begründung, lediglich als Resultat, Stimmung erzeugend. Es entsteht nun Verdacht gegen den sog. Dogmatismus. Das menschliche Wissen ist Phänomenologie, nichts mehr. Absolute Urteile sind verdächtig; das Urteil geschieht immer nur mit dem Vorbehalt: so erscheint es mir. Dogma und Kritik sind zwar an sich nicht Gegensätze, da ja die Kritik die Ausübung des Vermögens voraussetzt. Gibt es keine Betätigung der Vernunft mehr, so ist auch nichts mehr zu kritisieren. Kunstkritik setzt Kunstausübung voraus und sittliche Kritik hat vor sich sittliches Handeln; so setzt auch die logische Kritik logische Betätigung voraus. Aber Kants Kritik erscheint den Späteren als gelungen, als erfolgreich zum Abschluß gebracht. Er hat ja nicht besondere Gedankenreihen kritisiert, sondern die Vernunft in – 165 –

Summa. Ihr ist nun das Urteil gesprochen und dieses Urteil ist gültig. Aus dem Kritizismus entstand ein neues Dogma negativer Art. Die Tatsache ist wichtig, daß die Literaturwissenschaft sich wenig stören ließ, sondern unerschüttert ihre Arbeit fortsetzte. »Ihr habt nur Erscheinungen«, sagte Kant, aber die Naturforschung hat diese Erscheinungen immer als die erscheinende Natur behandelt. Auch die Geschichtsforschung hat sich nicht stören lassen, sondern daran festgehalten: wir beobachten wirkliches Geschehen. Ihr wurde die menschliche Gemeinschaft nie nur ein Phänomen. Aber die religiösen Gedanken wurden vom Kantianismus weithin schwer getroffen: das sei Dogmatismus! Es ist nicht ohne die Mitwirkung des dritten Stadiums des Kantianismus geschehen, daß die Zeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein von den früheren Generationen scharf sich abhebendes Gepräge erhalten hat. Von Luther bis Cromwell, für das Geschlecht, das den Bruch mit der Kirche vollzogen hat, stand die Wahrheitsfrage obenan. Um der Wahrheit willen wird die Kirche zerbrochen, um der Wahrheit willen werden sie Märtyrer in allen Lagern. Dann folgt das Geschlecht der Aufklärung von Cartesius bis Kant und Robespierre. Es ist von der Frage bewegt, was rationell sei. Der rationelle Staat, die rationelle Erziehung, die rationelle Religion sind seine Ziele. Daran schließt sich, zwar nur für Deutschland, für dieses aber als eine folgenreiche Episode, der spekulative Kantianismus an von Fichte bis zu Strauß: »Alter und neuer Glaube«. Nun wird die Vernunft der Aufklärung als gemeiner Menschenverstand gescholten; auf die absolute Vernunft komme es an, und die Frage stellt sich somit so: was ist wissenschaftlich? Eine wissenschaftliche Theologie, eine wissenschaftliche Kunstlehre, eine wissenschaftliche Staatslehre werden angestrebt usf. Was wird jetzt nach dem Zusammenbruch des Kantianismus zu dem das gemeinsame Denken regierenden Motiv? Nicht die Wahrheitsfrage, die sich in das verborgene Inwendige relativ Weniger zurückgezogen hat. Nicht einmal für unsere kirchlichen Entscheidungen und Aktionen steht gegenwärtig die Wahrheitsfrage obenan. Stärker wirkt die Vernünftigkeit oder Wissenschaftlichkeit der Aufklärung nach; – 166 –

wir haben uns aber alle mit der Überzeugung befreundet, daß wir viel Unbegriffenes als real zu ehren haben. Unsere Generation rund seit 1848 hat ihr Merkmal daran, daß jeder sein Interesse vertritt. Was will die Tagespresse? Aufklären? Auch, aber nur nebenbei; sie tritt für bestimmte Interessen ein, die sie in uns erwecken will. Unsere Buchliteratur wächst unendlich. Haben wir plötzlich so viele Denker? Woller haben wir und jeder verficht in der Literatur seine Interessen. Während die Zahl der Literaten anschwillt, nimmt die Fähigkeit zum Lesen notorisch ab. Wir durchfliegen die Bücher; denn wir fragen nicht, was der Mann denke, sondern was er wolle, und bewegen unser Interesse an dem seinigen. Unser öffentliches Leben ist durch die »Partei« bestimmt; der Einigungspunkt der »Partei« ist jedoch nicht die Wahrheit, auch nicht die Vernünftigkeit, sondern das gemeinsame Interesse. Ein Wille schafft Partei. Wir haben das Anwachsen des Katholizismus erlebt und ein universales Konzil ohne ernsthafte Erschütterung vorübergehen sehen; warum? Die Frage stellte sich so: was liegt im Interesse der Kirche? Derjenige Deutsche, der in der letzten Generation am wirksamsten zum ganzen Volk gesprochen hat, war Bismarck; er war ein Wollender. Ich breche ab. Daß eine mächtige intellektuelle Arbeit beständig unter uns geschieht, liegt auf der Hand, und sie ist uns unentbehrlich, weil kein Interesse sich begründen und verwirklichen kann ohne Denkarbeit. »Arbeit«, das ist das bezeichnende Wort auch für unsere wissenschaftliche Leistung. Wir sammeln von allen Seiten her »Stoff«; denn der Stoff ist verwendbar. Auch an der Schätzung der Wissenschaft wird die veränderte Situation deutlich: das wissenschaftliche Buch wird nicht gelesen, sondern zitiert, und der wissenschaftliche Mann als die Autorität, die man anruft und mit der das Interesse sich stärkt, hochgeschätzt, aber nicht so, als ob man von ihm lernen wollte. Die wissenschaftliche Arbeit bildet eine Funktion neben anderen dienender Art. Dazu ist die Tatsache nicht beziehungslos, daß unsere Generation keinen Denker so hoch ehrt wie Kant, nicht wegen seiner Ethik, sondern wegen seines negativen Resultats, daß uns unsere Denkformen für die Sinneswelt gegeben seien, sonst für nichts. – 167 –

Die Interessen waren immer da, auch im reformatorischen Mann, der der Wahrheit wegen stirbt, auch im Aufklärer, der sich stets sehr vernünftig benimmt. Aber es macht einen wesentlichen Unterschied, wie der Mensch seine Interessen vor sich und anderen begründet und rechtfertigt. Im Reformationszeitalter ist dem Interesse aufgegeben, sich an der Wahrheit zu bewähren; in seiner Übereinstimmung mit Gottes Wort ist es legitimiert. Im Aufklärungszeitalter hat es sich vor der Vernunft zu rechtfertigen. In unserer Generation hat das Interesse seine Legitimation dadurch, daß es besteht. Weil das Begehren da ist, verlangt es Erfüllung. Wir wollen, und weil wir so wollen, ist es unser gutes Recht, unseren Willen zu verwirklichen. Darin liegt der starke Gegenschlag, der sich zugleich gegen die Aufklärung und gegen den spekulativen Kantianismus wandte. Die Subordination des Interesses unter die Vernunft ist abgeschüttelt. Wir betrachten den Menschen nicht mehr mit den Augen von Leibniz als eine Denkmaschine. Er hungert, hat den Geschlechtstrieb, begehrt nach Eigentum, Macht und Ehre; er hat das Assoziationsbedürfnis, durch das er sein Interesse mit dem der anderen zusammenballt und dadurch zu einem Machtfaktor erhöht. Und wir haben unser Begehren nicht nur heimlich, gleichsam um Entschuldigung bittend, daß wir noch nicht reine Vernunft seien, sondern wir sagen: so und nicht anders ist der Mensch und so soll er leben. Zu dieser Formation unseres öffentlichen Denkens und Wollens wäre es nicht gekommen, wenn sich nicht der Zusammenbruch des spekulativen Kantianismus mit einer Rückwärtsbewegung zur kritischen These Kants verbunden hätte. Darin, daß dem Aufklärungsdogma nicht ein anderes Dogma folgte, sondern der Protest gegen allen Dogmatismus und die Proklamation des Primats des Wissens, darin wurde der kantische Satz wirksam, nun auch wiederholt von Ungezählten, die nicht in der Lage sind sich seinen originalen Bestand zu verdeutlichen. Bei dem wunderbaren Phänomen eines Gemeinwissens und eines Gemeingedankens behält es aber immer Wichtigkeit, wie die Wenigen, die denken, vor sich ihre Stellung rechtfertigen. Und diese Wenigen standen unter dem – 168 –

Einfluß von Kant. Sie haben alle gehört: die größte intellektuelle Leistung, die überhaupt vollbracht worden sei, sei eine Erkenntnistheorie; in ihr bestehe das letzte Wort der Vernunft! Wenn nichts anderes populär geworden wäre als dieser Satz, so hätten wir den Primat des Willens erhalten. Nicht ein Erkanntes wird uns dargeboten; unser Erkennen sollen wir erkennen, über unser Denken denken, und das sei natürlich eine schwere Sache, ja unlösbares Problem. Zugleich wird es ein öffentliches Wissen, daß die gesunde, normale Erkenntnistheorie Vernunftskritik sei und den Satz erweise, daß wir von unserer Sinneswelt wissen und sonst von nichts. Damit sind die Herrschaftsansprüche der Vernunft erledigt. Und wenn nun erst noch der skeptische Ton anklang: »Phänomena!« dann war vollends deutlich, daß das Leben einen anderen Inhalt brauche als den Denkvorgang. Kraft und Schwachheit liegen in diesem Geschichtslauf, Kraft, denn die unverhüllte Äußerung Begehrens ermöglicht Wahrhaftigkeit und erzeugt in allen Gebieten des Lebens »Realismus«. Die Fiktionen der Aufklärung sind verscheucht. Der Denkvorgang war von ihr falsch vorgestellt, ebenso der Willensvorgang. Die fix und fertig in uns auftretende Vernunft, die nichts empfangen und nichts lernen muß, war eine Fiktion. Aber der Gegenschlag war auch hier eine krankhaft überspannte Reaktion. Schwächend hat Kant gewirkt, weil er den Wahrheitsbegriff brach, soweit er über die Sinne hinausragt. Damit ist das Interesse herrenlos gemacht und der Primat des Willens wird zur Despotie der falschen Sucht. Die Linie, die von Kant zur Sozialdemokratie führt, ist deutlich und fest. Wir haben noch die im engeren Sinn r e l i g i ö s e n E r t r ä g e zu erwägen. Soweit Kants Einfluß reicht, ist die Generation unkirchlich. Schon die Aufklärung hatte den Grundriß des evangelischen Kirchentums gesprengt, da die Einheit des Dogmas dadurch aufgehoben war, daß die Aufklärung ein anderes Dogma in die Kirche gebracht hat. Aber sie hatte doch noch ein Dogma, das in abgestuften Beziehungen zum Bekenntnis der Kirche stand. Jetzt aber wird das Dogma überhaupt verdächtigt. Jede Metaphysik fällt ab, weil uns ja nur Erscheinungen zuteilwerden, und auch wenn der – 169 –

skeptische Ton nicht durchklingt, so steht doch fest, daß wir am Sinnesbild unsere ganze Erkenntnis haben, wodurch alles, was in den Bereich des christlichen Dogmas gehört, bestritten ist. Typisch prägt sich das in der veränderten Stellung der theologischen Fakultäten aus. Im Bereich der Aufklärung konnte die Frage nicht entstehen, ob die theologischen Fakultäten zur Universität gehören. Denn eine Gotteslehre muß es geben, und es ist die Pflicht der Fakultäten, die vernünftige Theologie zu lehren. Jetzt kommt die Frage mit öffentlicher Macht; denn von der Phänomenologie aus gesehen ist der Standort des Theologen von vornherein von der Wissenschaft abgetrennt, und innerhalb der Fakultät trifft dieser Verdacht naturgemäß vor allem den Dogmatiker. Für den Einzelnen wird im kantischen Zeitalter die Gewißheitsfrage das erste und dringendste Problem, nicht, was Wahrheit sei und sich als Reichtum der Erkenntnis in ihr uns darbiete, sondern wie Gewißheit Gottes entstehe. An dieser Stelle sind viele unserer Zeitgenossen in eine ernste, inwendige Arbeit versetzt, und die unmittelbar vor uns liegende Geschichte der Theologie zeigt denselben Vorgang. Das hat der Wissenschaft wie dem religiösen Verhalten vieler Einzelnen Vertiefung gebracht. Die Nötigung, Gewißheit zu begründen, schärft das Auge sowohl für die Erkenntnis als für das Wollen. Ein Ringen um das Glauben hat statt, da es nicht mehr einfach durch die Macht der Gemeinschaft in den Einzelnen hineingelegt wird, und diese Nötigung, selbst zu glauben und selbst zu wissen, weshalb man glaubt, und mit eigener Bewegung des Innenlebens zu Gott hinzuzutreten, ist eine unschätzbare Gabe, verglichen z.B. mit dem, was die Aufklärung ihren Generationen bot. Einen eigentümlichen Einschlag in das geschichtliche Gewebe bildet die Benützung des kantischen Gedankens zur Apologetik. Diese Verwendung desselben stammt von Kant selbst. Zwar meinte er in seiner geschichtslosen Abstraktheit, die Aufklärung sei noch völlig befestigt, und sagte von der Verneinung der Seele, der Freiheit und Gottes: es sei nicht zu befürchten, daß »sie die Grenzen der Schule jemals überschreiten und bei der großen Menge einige – 170 –

Gunst erwerben.« Er war kein guter Prophet; im Jahr 1781, wo er dies sagte, trennt uns nur noch eine kurze Frist von der Einführung des Kultus der Vernunft in Frankreich. Aber wenn er auch den realen Vorgängen gegenüber, die in den Völkern sich vollzogen, blind war, für sich selbst war er wenigstens darüber klar, daß die Beschränkung des Vernunftgebrauchs auf die Sinnenwelt Folgen haben könne, die, wie er sagt, alle Prinzipien der Religion und Moral aufheben. Er wappnet sich dagegen durch die Erwägung, daß wir ja bloß Erscheinungen vor uns hätten. Der Satz, Gott sei, und der andere, alles sei Natur, seien beide gleichmäßig Dogmatismus. Soweit die erkennende Vernunft in Betracht komme, hätten wir weder zu bejahen noch zu verneinen und das genüge, da ja von der Praxis her die Hilfe komme; für die Moraltheologie bleibe der Raum dadurch frei. Sein Gedanke ist sofort zur Apologetik ausgenützt worden, z.B. von Fries und weiter in der Ritschlschen Gruppe. Doch ist der Erfolg dieser Apologetik nicht hoch anzuschlagen. Sie gibt die Natur preis als unfähig, uns Gott zu bezeugen, und macht dadurch, daß sie die Natur zur Gewißheit Gottes in einen Gegensatz bringt, den ganzen konkreten Inhalt des Lebens religiös wertlos. Dieses »Glauben« schwebt über dem Inhalt unseres Bewußtseins und wird dadurch völlig unfaßlich und inhaltslos. Es bleibt nur ein Ahnen oder Empfinden übrig, das nirgends einen gesicherten Grund und bestimmten Inhalt erreicht. Daher erzeugt diese Apologetik eine negative, pessimistische Beurteilung der religiösen Wirklichkeit und eine die Gemeinschaft fliehende religiöse Einsiedelei. Ein unbefriedigtes Sehnen nach einer neuen Religion entsteht, die natürlich noch gänzlich unbeschreiblich ist. Fest steht nur das Eine, daß sie sich nur in der inwendigen Bewegung des Lebens einstellen kann. So entstand die scheinbar seltsame Wendung in unserer Geschichte, daß aus dem Kantianismus, der im Glauben an die reine Vernunft seine Wurzel hatte, ein sehnsüchtiges Verlangen nach Mystik entstand.

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12. Kants Lehre von Gott Die Vernunft bildet das »Ideal« »Gott« und denkt darunter den Besitzer der vollkommenen Realität. Kant steht also in der Fassung des Gottesgedankens ganz auf Seite der deutschen Aufklärung und ist von der englischen Theologie unberührt. Während für diese das kausale Verhältnis, in dem Gott zu uns steht, der Grund ihrer religiösen Gewißheit ist, bedeutete für die deutsche Aufklärung der Gottesgedanke die Erhebung über das Unvollkommene zum Vollkommenen, vor allem zum vollkommenen Intellekt. Darum hat Kant die Frage, ob wir die Reihen der Ursachen schließen sollen oder sie ins Unendliche erstrecken müssen, in der Kosmologie abgehandelt! Er bringt den Weltbegriff ohne den Gottesgedanken zustande, weil er bei diesem nur an das »An-sich-sein« Gottes denkt. Er faßt Gott als das ens entium. Dieses Ideal der Vernunft hat Kant nicht Aberglauben genannt; doch ist es auch keine Erkenntnis. Es gibt keine rationale Theologie. Die Verwerfung jeder rationalen Theologie ergibt sich schon mit Notwendigkeit, ehe wir zur Untersuchung des Gottesgedankens gekommen sind. Denn wenn einmal feststeht, daß der ganze Bewußtseinsinhalt von der Vernunft hergestellt wird und diese in der Bildung unserer Welt bei sich selber ist und bleibt, von dem unbestimmbaren Faktor abgesehen, den das »Ding« liefert, so gibt es keine Möglichkeit mehr, den Gottesgedanken zu begründen. Was wir sehen, ist nicht Gottes, sondern unser Werk, nicht Gottes Offenbarung, sondern die der Vernunft. In der Welt der Erscheinungen ist für ein Wissen von Gott kein Platz. Indem Kant dennoch den Gottesgedanken kritisch untersucht, haben wir im Guten und Schlimmen eine Professorenarbeit vor uns. Von den Führern der Aufklärung war keiner Professor; Kant – 172 –

ist der erste Universitätsmann in der Reihe der Philosophen. Der Wert der technischen, berufsmäßigen Ausübung der Denkfunktion tritt an ihm deutlich hervor durch die Architektonik seines Buchs, durch die Vollständigkeit und Exaktheit, mit der jedes Glied des Gedankengangs ausgebildet wird. Aber Kant führt uns auch die Schwäche des zunftmäßigen Denkens vor. Was im Kollegienheft eines Wolffianers stand, das präsentiert uns Kant als die Vernunft. Nichts ist vernünftig als die eigene Sekte, und was diese doziert, das ist d i e Wissenschaft und d i e Vernunft. Darin erscheint die einengende Macht der Zunft und des technischen Denkbetriebs. Unerhört könnte man es nicht heißen, wenn Kant erwogen hätte, daß die Vernunft nicht mit den Wolffianern geboren wurde, daß z.B. Paulus im Römerbrief sagt, daß er einen Gottesbegriff habe und warum, oder daß Augustin einen Gottesgedanken gehabt hat und man beispielsweise in seinen Konfessionen sieht, warum er ihn hatte. Doch mit dergleichen ist Kant zu viel zugemutet, da er ja nicht an die Wirklichkeit herantreten und nicht sehen darf, sondern an der von der Wirklichkeit abgeschiedenen Vernunft sein Arbeitsmittel hat. Bleiben wir deshalb bei dem, was die Aufklärung hervorgebracht hat. Cartesius hat gesagt: der Gottesgedanke müsse eine Ursache haben; aus der Welt entstehe er nicht; also entstehe er aus Gott. Dieser Gedanke bleibt von Kant völlig unbeachtet; denn er erzählt, die Theologie sei entweder geoffenbart oder natürlich, also nicht geoffenbart. Diese Einteilung ist genau so absurd, wie wenn er neben eine Physik, die auf Beobachtung beruhte, eine andere stellte, die nicht auf Beobachtung beruhte, neben eine Historie, die auf Bezeugung beruhte, eine solche, die nicht auf Bezeugung beruhte. Jene Unterscheidung denkt an verschiedene Offenbarungsmittel, an verschiedene Vorgänge, durch die uns die Gewißheit Gottes vermittelt und die Verbundenheit mit ihm gewährt wird. Aber der Gedanke wird radikal verdorben, wenn daraus eine Theologie wird, die der Mensch in der Abwesenheit Gottes fabriziert. Wenn Kant auch nur den einfachen Gedanken erwogen hätte, mit dem Cartesius anfing, daß wir Gott nicht anders kennen können als durch Gott, – 173 –

so hätte er uns das Märchen von einer aus freier Faust erfundenen Theologie erspart. Aber so stand es nun einmal im Kollegienheft der Wolffianer, und das war die Vernunft. Cartesius hatte gesagt, er bedürfe den Gottesgedanken [sic], weil er sonst den Wahrheitsbegriff verliere. Er müsse dem Sehvorgang trauen; zu diesem Vertrauen fehle der Grund, wenn er nicht Gott bejahen könne. Der Zusammenhang zwischen dem Wahrheitsgedanken und Gottesgedanken tritt klar heraus. Daß die Gottesfrage und die Wahrheitsfrage ineinanderliegen, wird bei Kant wieder völlig verdeckt. Spinoza hat auseinandergesetzt, weshalb er den Substanzgedanken nicht mehrzählig verwende, sondern es für unmöglich halte, von vielen Substanzen zu reden, und für notwendig, eine Substanz zu bejahen. Sein Gedankengang enthält unter allen Umständen eine ernste Denkarbeit; aber bei Kant weiß die Vernunft davon nichts. Leibniz hat gesagt, die »vorbestimmte Harmonie« sei der Beweis Gottes a posteriori, d.h. die Kongruenz zwischen unserem Gedankenlauf und dem Verlauf des Naturprozesses sei der permanente Erweis Gottes und ergebe die Nötigung, den Gottesgedanken zu bilden. Im Kollegienheft der Wolffianer stand das nicht. Was tut denn die reine Vernunft mit dem Gottesgedanken? Sie will ihn beweisen. Kant findet es bedenklich, daß, nachdem die Vernunft den Gottesgedanken geschaffen habe, sie ihn erst noch beweisen wolle. Von seinem Standort aus war dieses Bedenken nicht unbegründet. Wenn der Gottesgedanken das Produkt der Vernunft ist, sollte man erwarten, er sitze in ihr fest, sie habe für ihr eigenes Gebilde nicht noch einen Beweis nötig. Kant begnügt sich aber nicht bloß mit diesem Verdacht, sondern untersucht die Beweise im Einzelnen. Hierfür war die erste Pflicht, zu erwägen, was es heiße: Dasein beweisen, und zwar Gott beweisen. Der Begriff »Beweis« führt uns zur Frage, wie Gewißheit entstehe, wie es in uns zur Bejahung komme, und zwar zu einer geschlossenen, die ihrem Objekt »Wirklichkeit« zuerkennt. Es ist uns für ungezählte Gedanken, die wir haben, ein Beweis unentbehrlich, weil mit ihrer Existenz ihre Bejahung nicht immer – 174 –

gegeben ist und wir darum genötigt sind, die Begründetheit unserer Vorstellungen uns wieder und wieder zu verdeutlichen. Wie bewirken wir dies? Allein keine solche Erwägung stört die Widerlegung der Beweise. Denn es steht fest, daß die Philosophie »Dasein« durch Schlüsse beweist; also macht es »die Vernunft« so. Die Gedankenlosigkeit an dieser Stelle hat sich schwer gerächt. Kant hat nicht gesehen, daß er mit der Beweisfrage die Glaubensfrage anrührte. Denn Gewißheit begründen heißt Glauben begründen. Weil er einen Schluß für einen Beweis erklärte, beschrieb er folgerichtig einen Wunsch, ein »Postulat«, als einen Glauben, dann nämlich, wenn der Wunsch vernünftig ist und das Postulat von der Vernunft ausgeht. Das Kollegienheft eines Wolffianers hat d r e i S c h l ü s s e zur Verfügung, mit denen er Gott beweist. Es liegt ihm nicht an der Gewißheit Gottes, sondern er will bloß die Lücken in seinem Weltbild mit dem Gottesgedanken füllen, und darum hat er es eilig mit seinem Beweis. Den ontologischen Schluß stellt Kant voran, weil er in der Tat für den Rationalismus typisch war. Seine Kritik desselben ist nicht neu, aber immerhin verdienstlich. Kant hat mit Recht gesagt: aus dem Gedanken für sich allein sei nie diejenige Bejahung zu gewinnen, die das Gedachte als seiend setzt. Diese Kritik trifft aber den Rationalismus überhaupt. Wenn aber damit, daß wir etwas denken, uns jenes Urteil, durch das wir das Gedachte bejahen, noch nicht gegeben ist, worauf beruht es denn? Das bleibt in der Erörterung der Gottesbeweise völlig undeutlich, und damit, daß er gedachte und wirkliche hundert Taler für inhaltlich gleiche Denkgebilde erklärte, nur daß zu dem einen das Urteil hinzukomme, sie seien, und beim anderen nicht, trägt er selber wieder den Rationalismus in der schroffsten Form in die Erörterung ein. Die Vorstellung von möglichen hundert Talern, d.h. ein Phantasie- oder Erinnerungsbild von solchen, ist ein völlig anderer psychischer Vorgang als die Wahrnehmung wirklicher hundert Taler. Solange beide Vorgänge identifiziert bleiben, ist ein Verständnis dafür, warum wir mit dem einen Denkakt die Bejahung verbinden, mit dem anderen nicht, ausgeschlossen. Daher kommt – 175 –

auch der ontologische Schluß nicht wirklich zur Erörterung und es wird nicht deutlich, warum uns Cartesius versichern konnte, er müsse, wenn er den Gottesgedanken denke, mit ihm seine Bejahung verbinden und sei unfähig, ihn als nichtseiend zu denken; d.h. es bleibt ununtersucht, woher sich jene Aufforderung zur Bejahung an den Gottesgedanken hängte. Kant hat damit die Gottesfrage kurzerhand zurückgewiesen, nicht aber untersucht. Das kosmologische Argument wird damit abgetan, daß der Kausalitätsgedanke nur auf die Sinneswelt anwendbar sei. Damit bringt sich Kant notorisch mit seinem eigenen Verfahren in Widerspruch, sowohl damit, daß er »Dinge an sich« ansetzt, als damit, daß er die Vernunft als die schauende und formende Potenz betrachtet. Die »Form« enthält auch den Kausalitätsgedanken in sich. Auch wenn uns diese kausalen Vorgänge nur in ihrem Effekt sichtbar werden, wenden wir doch, falls nur wirklich ihre Effekte in unserem Bewußtsein heraustreten, logisch mit vollem Recht den Kausalitätsgedanken auf sie an und erkennen in der Wirkung ihren Wirker. Mit der formenden Vernunft gibt uns aber Kant den Kausalitätsgedanken auch so, daß sich sein zweites Glied: das Gewirkt- oder Gestaltetsein, auch auf die Vernunft anwendet. Sie ist selbst geformt, nicht nur formend; denn ihre Formen sind ihr gegeben und in allen gleichartig. Wir sehen alle denselben Raum und haben dasselbe Denkgesetz. Es wird uns aber verboten, diese Wirkungen auf eine Kausalität zurückzuleiten und zu fragen, wer denn die Vernunft geformt habe. Weil es für Kant feststeht, daß es für die Vernunft keine Abhängigkeit gebe, daß sie nichts empfange, sondern nur produziere, wendet sie zwar das Kausalitätsgesetz auf alles an, was sie hervorbringt, steht aber selber nicht unter ihm. Sie dient niemand, sondern herrscht und hat kein Gesetz über sich, dem sie gehorchen müßte, sondern gibt allem, was sie in sich hat, das Gesetz. Das war unverändert die antike Vorstellung vom Denkakt, die ihn nur als Machtübung verstand, durch die der Mensch die Dinge sich unterwirft. Wenn aber der Kausalitätsgedanke nur zwischen Erscheinung und Erscheinung verwendbar sein soll, dann fällt nicht nur die Theologie, sondern ebenso die Vernunftkritik. – 176 –

Das physikotheologische Argument verwertet den Zweckbegriff, der von Kant vollends tumultuarisch erledigt wird. Es war ja in der Kritik der Vernunft überhaupt noch nicht von ihm die Rede, obwohl der Gedanke »Vernunft« den Zweckbegriff unaustilgbar in sich hat, da ja die Vernunft etwas vernehmen will und ihre Arbeit dazu tut, damit das Wissen entstehe. Es zeigt sich in der Ausscheidung des Begriffs Zweck aus der Erkenntnistheorie wieder die Allherrschaft, die der Mathematik zugestanden wurde. Ist uns nicht mit ihr ein zweckloses, willenloses Denken gegeben, das nichts als die Anschauung der von unserer Phantasie in den Raum hineingesetzten Gebilde und ihre Deutung begehrt? Gegen den theologischen Gebrauch des Begriffs Zweck wendet Kant ein, das ergäbe nur einen Weltbildner. Daß wir nur sukzessiv beobachten und unsere Wahrnehmungen miteinander verbinden müssen ist freilich gewiß; aber damit ist über die Bedeutung der Tatsache, daß das Geschehen theologisch geordnet ist, falls sie nur eine Tatsache ist, nichts gesagt. Gesetzt, die Vernunft nähme nur den Weltbildner wahr, so hätte sie eine sehr bedeutsame Wissenschaft von Gott. Sodann wird weiter eingewandt, wir könnten die Zweckmäßigkeit nicht überall aufzeigen. Wer Allwissenschaft fordert, um Gewißheit Gottes zu gewinnen wird sie freilich nie bekommen. Aber dieses Postulat, erst müsse der ganz Weltlauf nach seiner Teleologie verstanden sein, ist logisch und ethisch in derselben Weise verwerflich. Das Ungewisse macht nie das Gewisse, das Unsichtbare nie das Sichtbare unsicher. Gesetzt, wir hätten nur an einem einzigen Vorgang die Teleologie unzweifelhaft erlebt, so hätte sich uns der zwecksetzende Regent des Weltlaufs offenbart. Kants Einrede zeigt wieder, wie er sich seine theologischen Gedanken abseits von der Wirklichkeit schafft. Hätte er den wirklichen religiösen Vorgang ins Auge gefaßt, so hätte er wahrnehmen müssen, daß die Gewißheit Gottes Omniszienz in Bezug auf Gottes Regierung weder verlangt noch bedarf, sondern in ungezählten Fällen mit voller Sicherheit dadurch entsteht, daß sich in ganz bestimmten besonderen Relationen die Teleologie derselben dem Bewußtsein unableugbar enthüllt. – 177 –

Kant vertröstet uns auf die »M o r a l t h e o l o g i e «, nicht so, als ob im Ursprung des guten Willens Gott offenbar würde; im Gegenteil, für den guten Willen kommt die Vernunft selber auf, da das sittliche Gebot von ihr selbst an sie selbst gerichtet ist, sie demgemäß Freiheit hat. Ebenso wenig ist im sittlichen Gesetz eine Bezeugung Gottes enthalten; denn die Vernunft ist autonom. Die ethische Aufgabe wird vom Menschen allein ohne Gott gelöst. Die »Moraltheologie« entsteht bei Kant einzig a u s d e r F r a g e n a c h dem Glück. Er hat entschlossen die aus der Unlust und Lust entstehenden Motive aus der Begründung des sittlichen Willens ausgestoßen. Das sittliche Gesetz verlangt seine Erfüllung um seiner selbst willen. Aber die Bedürftigkeit nach Glück bleibt dem Menschen. Er kann nicht selber für dieses sorgen, soll es auch nicht, da er sittlich wollen soll. So entsteht hier der vernünftige Wunsch, daß jemand vorhanden sei, der unser Glück herstelle und dem sittlichen Willen ein beglückendes Geschick zugeselle. Dieses vernünftige Postulat nach einem Gott, der zur sittlichen Richtigkeit unseres Willens auch noch Glück füge, ist Kants Gottesbeweis. So tumultuarisch die ganze Behandlung der Gottesfrage vor sich geht: um die mit Cartesius beginnende Theologie, die den Gottesgedanken als das letzte, leider noch unentbehrliche Kapitel in die Physiologie einstellt, zu beseitigen, dazu hat sie ausgereicht. Aber die Folgen des Vorgangs waren für Deutschland und schließlich über Deutschland hinaus, wenn wir auf das Ganze sehen, schwer. Denn auf dem Standpunkt, an den die Aufklärung die Gebildeten setzte, ergab sich aus dem von Kant Geleisteten unvermeidlich ein weitergreifender Schluß. Die Aufklärung beschrieb den christlichen Gottesgedanken als längst von ihr überwunden und durch ihre eigene vernünftige Gotteslehre ersetzt; nun starb nicht nur die alte kirchliche, sondern auch die gereinigte und verbesserte Theologie. War nun nicht jede Theologie tot und die Gewißheit Gottes überhaupt aufgehoben? Kant zeigte ja nicht nur, warum den Wolffianern, sondern warum der Vernunft eine Aussage über Gott unmöglich sei! Von nun an steht es, soweit der Kantianismus – 178 –

herrscht, und das ist in Deutschland der ganze Bereich der Universitätsbildung, fest, daß man von Gott nichts wissen könne und alle sog. Gewißheit Gottes unkontrollierbar und zweideutig sei. Das ist für ungezählte ein schweres Hemmnis geworden, das dem glaubenden Verhalten gegen Gott widerstand. Der Glaube an Gott erschien von vornherein als unmöglich, wenigstens als irrational. Das Schicksal des Gottesbeweises, den Kant übrig ließ, ist lehrreich. Der Grundriß seiner Theologie blieb vollständig der der Aufklärung. Nach dieser hat der Mensch Vernunft und Tugend durch sich selbst, während seine Frömmigkeit im Providenzglauben besteht, d.h. darin, daß er erwartet, Gott leite sein Geschick. Ebenso steht es bei Kant: die Vernunft schafft unser Naturbild; sie schafft auch das Sittengesetz und die Erfüllung desselben durch die Freiheit. Aber das Zusammentreffen von Pflicht und Glück liegt nicht in unserer Hand; hierfür hofft die Vernunft auf Gott. Darum kam der kantische Gottesbeweis mit dem Gegenstoß gegen die Aufklärung in Mißachtung. Fichte z.B. hat ihn in der »Kritik der Offenbarung« noch wiederholt: wahr sei am Christentum, daß es sich Gott als den moralischen Gesetzgeber vorstelle und weiter als den, der den Gerechten die Verheißung gebe. 1806 dagegen in der »Anweisung zum seligen Leben« hat er den kantischen Standpunkt als die prinzipielle Verneinung Gottes definiert, nicht in der Meinung, damit historisch anzugeben, was Kant gesagt habe, sondern in der Absicht den kantischen Gedanken konsequent und prinzipiell zu formulieren. Jetzt sah er im kantischen Gottesbeweis aus unserem Glückbedürfnis einen Überrest aus der Aufklärung, der abgetan werden müsse. Wenn wir nach Kants Anleitung unsere Autonomie konsequent festhielten, so sei der Mensch Gottes nicht bedürftig. Dazwischen liegt die Anklage gegen Fichte, er sei Atheist, und sein Streit mit seinen Verklägern, 1798. In diesem hatte Fichte der Aufklärung aufs schärfste vorgeworfen: ihr Gott, der bloß Glück spende, sei ein Götze; ihre Theologie sei weder christlich noch sittlich. »Gott ist nicht«, hatte Fichte damals gesagt. Wenn er den kantischen Gott meinte, hatte er nicht unrecht. Was Kant gab, war zu wenig und zu viel, dieses wegen des ersteren. Sein Gottesglau– 179 –

be mußte nur als ein dürftiger Rest aus der älteren Tradition erscheinen. Wenn wir selber für unser Wissen, für unser sittliches Gesetz und für den guten Willen sorgen ohne Gott, dann reicht die Glücksfrage nicht mehr hin, um die Gewißheit Gottes zu begründen. Kants Interesse an Gott erwacht viel zu spät, nachdem die für unser Innenleben entscheidenden Anliegen bereits erledigt sind. Und dieser Anhang erschien umso mehr als entbehrlich, weil ja auch hier ein Erweis Gottes, ein Aufzeigen seiner Regierung, die uns selig macht, von Kant nicht unternommen wird. Er schließt mit einem Postulat, d.h. mit einem Wunsch. Statt dessen glaubte Fichte damals an die »moralische Weltordnung«. Wir müssen handeln, obwohl die Ergebnisse unseres guten Willens unserer Macht völlig entzogen sind und sich unabhängig von uns durch den Ablauf des Weltprozesses gestalten. Wir können aber nicht ohne die Zuversicht handeln, daß die Naturordnung mit dem Sittengesetz zusammenstimme. Dem kantischen Beweis steht dieser Gedanke zwar nahe, ist aber dadurch qualitativ von ihm verschieden, daß sich Fichte nicht nur um das Glück, sondern um die Möglichkeit des Wirkens bekümmert. Er denkt nicht bloß an das, was neben unserem Wollen als unser Erleiden steht, sondern daran, daß unser Wollen nichts ist, wenn es nicht zur Tat wird, daß es aber eben damit aus dem Bereich unserer Freiheit hinaustritt in einen von uns unabhängigen Bereich. Darum gibt er die Sorge für den Erfolg seines Handelns Gott anheim. Es zeigt sich auch an dieser Stelle, wie unvollständig Kants Reflexionen über den Gottesbeweis gewesen sind. Die Frage, wie wir zu handeln vermögen, ist keineswegs eine fernliegende Erwägung; aber als über den Gottesgedanken abgesprochen wurde, existierte sie nicht. Es lohnt sich auf den Anfang der Aufklärungstheologie zurückzusehen: Cartesius sagte: ich kann nicht denken ohne Gott; Fichte meint: denken könne er wohl ohne Gott, denn er sei Vernunft; aber handeln – hier stecke das Geheimnis und die Not; handeln könne man nicht ohne Gott. Auch Schleiermacher hat den kantischen Gottesbeweis geringschätzig beurteilt, dafür aber ähnlich wie Fichte in der philosophi– 180 –

schen Ethik auf unser in die Wirklichkeit übergreifendes Vermögen zu handeln den Gottesbeweis gestellt. Doch ist es in den Kritiken des kantischen Gottesbeweises auch oft zu phantastischen Überspannungen gekommen. Mag sich der spekulative Denker noch so sehr zur Vernunft entwickeln und die Freiheit des guten Willens von den hedonistischen Motiven noch so kräftig besitzen und betätigen: des Glücks bedürftig bleibt er, und es ist nur affektiert, wenn er Kant deshalb schilt, daß der Mann der reinen Vernunft und der sittlichen Autonomie doch noch das Postulat für vernünftig gehalten habe, Gott möchte sich unseres Glück annehmen. Reicht auch diese Einsicht nicht aus, um eine die Person bestimmende und tragende Bezogenheit auf Gott zu begründen, so ist sie doch deshalb noch nicht Unverstand, sondern im menschlichen Wesen trotz alles wissenschaftlichen Übermuts immer und wirksam mitgesetzt. Sehen wir von Kants »Moraltheologie« ab: die in der Kritik der reinen Vernunft formulierte theologische These hat neben ihrer überwiegend antireligiösen Wirkung auch einen religiösen Effekt hervorgebracht, der mit erwogen sein muß, wenn das Entstehen einer kantischen Apologetik verstanden werden soll. Kam nicht gerade hier die Art und Erhabenheit des Glaubens besonders kraftvoll zum Ausdruck? Dieser Glaube hatte keine Stütze mehr in der Wissenschaft, keinen Grund in der Erfahrung, keine Beweisbarkeit, weder vor sich selbst noch vor anderen. Auch die Ethik war ihm gegenüber völlig frei gemacht und autonom. Und doch war noch etwas wie ein Gottesgedanke da; war das nicht der denkbar reinste Glaube, weil er ein vollständiges Nichtwissen und doch Glauben war? Daß er im Willensbereich irgendwie seinen Halt suchte, stimmte ebenfalls zu des Glaubens Wesen und Wert. Darum schien die »Phänomenologie« manchem die Retterin aus dem Zweifel zu sein, weil sie alle Theorien über den Grund und das Wesen der Welt beseitigte, ohne den Gottesglauben zu zerstören, der nun mit seiner Unbeweisbarkeit auch die Ungreifbarkeit und Unzerstörlichkeit zu erhalten und die rein »religiöse« Art zu gewinnen schien. – 181 –

Man hat schon oft Kant »echt protestantisch« genannt und ihn mit Luther zusammengestellt. Zufall ist es nicht, daß es bisher nur auf lutherischem Boden zu einer dauerhaften Ausbildung kantischer Frömmigkeit und Theologie gekommen ist, zu einer Theologie, die gleichzeitig Kant und die Augustana sich als ihren Schild vorhielt. Das halb oder ganz mißverstandene »durch Glauben allein!« stellte die Verbindungslinie zwischen dem Luthertum und dem kantischen Gottesgedanken her. War nicht damit unsere ganze Beziehung zu Gott auf das Glauben reduziert? Jedenfalls ist dieses nicht erst seiner ethischen Erträge wegen wertvoll oder wirksam; ebenso wenig zieht es seine Macht aus der Erkenntnis. Frei steht es allen anderen Funktionen gegenüber, in sich geschlossen, nur auf sein Objekt gewandt. Aber eben dies ergab den radikalen Unterschied zwischen Luther und Kant, der nicht verdeckt werden darf. Luther hatte für seinen Glauben einen bestimmten Inhalt. Er wußte, wo er Gott vernahm, wo sich ihm seine Gnade bezeugte, wodurch er somit zum Glauben berufen und ermächtigt war, auf welchen Grund hin er glaubte. Woher nimmt der kantische Glaube seinen Inhalt? Was verschafft ihm irgendeine Aussage über Gott? Die »Vernunft« bildet dieses Ideal! Ihr brachte Kant eine unbegrenzte Verehrung dar, die auch ihre Ideale und Postulate noch gegen Anzweiflung und Mißachtung schützte. Damit aber, daß mit dem Zusammenbruch des spekulativen Kantianismus die Verehrung für die Vernunft versank, war gegeben, daß in ihrer Hauptströmung die Erneuerung der kantischen Kritik nicht religiös geworden ist, sondern auf die positive Seite der kantischen Theologie verzichtet hat.

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13. Die neue Entdeckung des Pflichtbegriffs Kant stößt auf den Pflichtbegriff und zwar gerade darum, weil er die Empirie ausschaltet und feststellen will, was die reine Vernunft in der Praxis leiste. Die Glücksethik hat immer eine empirische Begründung nötig, weil Lust und Schmerz nicht Erzeugnisse der reinen Vernunft sind. Soweit der Wille durch diese gestaltet ist, ist die Anweisung für unser Handeln durch Erfahrung und Geschichte bedingt. Kant untersucht dagegen den Willensvorgang unter dem Gesichtspunkt, was von ihm ohne die Erfahrung und vor derselben vorhanden sei. Dadurch wurde er auf diejenige Formation unseres Bewußtseins aufmerksam, die sich im Satz ausdrückt: ich soll. Frei von aller Berechnung des Erfolgs steht dieser da. Zwei Merkmale sind am Sollen sichtbar, einmal die kategorische Art des damit uns gegebenen Gesetzes. Der Aufruf, der sich damit an unser Wollen richtet, ist unbedingt. Sodann: dieser Aufruf geht an uns und verlangt von uns den geforderten Willen. Er mutet uns das Vermögen zu demselben zu. Mit dem Sollen wird uns das Können bezeugt, und damit enthüllt sich uns unsere Freiheit. Freiheit! das war die rettende Erkenntnis, mit der Kant die Gefahr beschwor, die mit der Kritik der Vernunft drohend an ihn herantrat, die Gefahr, daß wir uns an die Natur verlieren und nichts mehr sind und haben, als was der natürliche Prozeß uns verschafft. Der Rationalismus verehrte die Erkenntnis als die Pforte, die den Menschen über die Natur erhob. Um der Knechtung durch die Sinne und die Lust zu entgehen, war in Athen die Formel gebildet worden, daß der Mensch »ein vernünftiges Wesen« sei. Darum war der von der Erfahrung abgelöste und über ihr schwebende »Begriff« mit heißer Inbrunst als der kostbare Ertrag der Vernunft verehrt worden. Denn damit war den von der Natur durch die Sinne und die – 183 –

Lust bewirkten Vorgängen der Kampf angesagt und dem Menschen die Waffe dargereicht, mit der er der Allherrschaft der natürlichen Prozesse widerstand. Nun war aber durch die Kritik der Vernunft dem Erkennen die Erhebung über den Bereich des natürlichen Geschehens versagt, da von nun an die Vernunft nur noch in dem ihr sinnlich vermittelten Stoff ihren Gegenstand hatte, und ihr Adel, daß sie uns »Metaphysik« verschaffe, war verblichen. Dennoch verschwindet die Verschiedenheit des Menschen vom Tier nicht, sondern wird erst recht deutlich. Denn nur die das Wissen erzeugende Vernunft war damit an die Natur gebunden. Die Vernunft ist aber zugleich »praktisch« und bringt den Willen hervor, und hier zeigt sich ihre Würde, die uns über die Natur erhebt. Denn wir sind frei. Das gilt freilich nur von der reinen Vernunft. Freiheit ist nicht das Merkmal der von unserem Bewußtsein beleuchteten Bewegungen unseres Willens. Diese sind vielmehr dem sie bindenden Kausalgesetz wie die Natur unterworfen. Da aber das, was unser Bewußtsein füllt, nur Erscheinung ist, liegt über ihm ein leerer Raum, und es kann uns nichts hindern, dort unsere Freiheit unterzubringen, die uns das unbedingt gültige Gebot offenbart. Da die Geschichte des menschlichen Denkens Grund genug zur Skepsis, wenigstens zur größten Bescheidenheit, gibt, ist der hier uns vorliegende Vorgang der Beachtung wert, weil er ermutigende Kraft hat. So verworren die ganze Fragestellung Kants war, da ja auch für die Ethik nur die reine, von aller Erfahrung abgezogene Vernunft in unser Sehfeld treten soll, ja gerade weil die Basis der Untersuchung so seltsam mißgestaltet ist, gelingt Kant eine echte, wirkliche Beobachtung. Darum fiel sein Blick auf die Tatsache unserer Verpflichtetheit. Daran, daß Kant sie als eine neue Entdeckung verkündigt hat, zeigt sich, wie weit die Aufklärung ihre Anhänger von der Kirche weggeführt hatte. Denn es gibt keine Berührung mit dem Alten und Neuen Testament, die uns nicht den Pflichtbegriff vermittelte, weil dort ein unbedingt gültiges Gebot vor uns tritt, das sich unseren ganzen Willen unterwirft und unser ganzes Schicksal schafft; denn die Schrift hängt an das uns erteilte Gebot das Leben oder – 184 –

den Tod. Da aber die Ethik der Aufklärung mit dem isolierten Menschen nur von seiner Vollkommenheit und seinem Glück zu sprechen wußte, konnte sie ihm kein Ziel mehr zeigen, das über dem eigenen Ich lag, und darum kannte sie auch keine Pflicht mehr, die über den vom Ich selbst begehrten Zwecken stand. Dies gab dem Satz Kants, der den im seelischen Leben stets vorhandenen Tatbestand von der ihn verhüllenden Theorie befreite, den Schein der Neuheit. Aber auch die aus der Reformation entstandenen Kirchen bekamen durch Kants »Entdeckung« den Anlaß zu schamvoller Reue und entschlossener Umkehr. Wo war in ihrem Zeugnis das göttliche Gesetz geblieben, wenn es für die Deutschen eine neue Botschaft war, daß es uns verpflichtende Gebote gebe? Diese Not hatte sich die Kirche dadurch bereitet, daß sie bloß eine Lehre von der Sünde hatte, dagegen keine solche von dem uns aufgetragenen Werk, und über der Bemühung, das Denken des Menschen durch die Bindung an die Lehrnorm zu ordnen, vergessen hatte, daß er einen Willen besitzt. Seinen Gedanken hat Kant nach seiner geradsinnigen Weise bis zum letzten Ende durchgeführt und alle Konsequenzen, die sich aus seinen verworrenen Obersätzen ergaben, mit entschlossener Tapferkeit auf sich genommen. Es erwies sich nun als unheilvoll, daß er sich nie ernsthaft mit dem Grundgesetz unseres inwendigen Lebens, das uns die Einheit gewährt, beschäftigt hat. Mit dem Erbleichen des Gottesbewußtseins, das sich zur leeren Idee verdünnte, verschwand ihm die Einheit des inwendigen Geschehens. Er konnte nur noch trennen, nicht einigen. Wie er die reine Vernunft von dem in uns geschehenden Denkakt schied und die praktische Vernunft von der erkennenden trennte und die den Stoff unseres Bewußtseins schaffende Vernunft von der Urteilskraft losriß, so trennte er auch beim Willen den Anteil, den der natürliche Prozeß an ihm hat, gänzlich von seiner vernünftigen Begründung. Alle hedonistischen Motive werden vom guten Willen radikal ferngehalten. Es handelt sich bei demselben nicht um Seligkeit oder Unseligkeit, um Güter und Übel, sondern einzig um die Gesetzmäßigkeit unseres Wollens, die dadurch entsteht, daß das Gesetz seiner selbst wegen – 185 –

bejaht wird. Wir haben zu wollen, was wir sollen, weil wir es sollen, aus keinem anderen Grund. Ebenso radikal zerschneidet er die Beziehung des moralischen Vorgangs auf Gott. Ein geborgter Wille kann nie ein guter Wille sein; er ist es nur, wenn er unser eigener ist. Uns gilt das: Du sollst. Das hier angesprochene »Du« sind wir und nur wir, und kein fremder Wille kann die Aufgabe für uns lösen, die durch das Sittengesetz uns gegeben ist. Ebenso wenig kann dieses ein fremdes Joch sein, das uns von außen her aufgelegt würde. Wie die Formen, durch die wir unser Weltbild gestalten, unser eigenes Besitztum sind, so sind auch die Imperative, die wir an uns richten, unsere eigene Setzung. Dadurch bleibt die Beschreibung der praktischen Vernunft mit der der theoretischen einstimmig. In ihren beiden Leistungen ist die Vernunft die frei aus sich schaffende und sich selbst genügende Kraft, für die jede sie zum Dienst berufende Abhängigkeit eine Entehrung wäre. Weiter kann der Kritiker der reinen Vernunft die Ethik nicht entfalten und Kant hat diese Grenze mit Konsequenz respektiert und ist Kritiker geblieben. Was das von uns zu Wollende ist und den Inhalt unseres Handelns bilden muß, bleibt unbestimmbar, da die reine Vernunft bloß die Form liefert, die dem Willen die Normalität verschafft. Nur das eine läßt sich zur kategorischen Notwendigkeit des guten Willens fügen: die Allgemeingültigkeit. Die kategorisch von uns gestellte Forderung muß immer und für alle gelten. Der sittliche Wille begründet sich auf Maximen, die sich für eine allgemein gültige, stets anwendbare Gesetzgebung eignen. Damit ist zwar nicht der Inhalt unserer Moral beschrieben, jedoch wenigstens ein Merkmal angegeben, woran sich der gute Wille jederzeit erkennen läßt. Bei der Bildung unseres richtigen Willens kann uns die Ethik nur dann unterstützen, wenn die »Urteilskraft« in ihr zum Wort kommt, die den Zweckgedanken handhabt. Denn wir bejahen mit dem Willensbild, mit dem ein konkreter Wille in uns entsteht, einen Zweck. Wie Kant schon seine Gotteslehre dadurch schädigte, daß er dem Zweckgedanken auswich, so machte er auch die Ethik – 186 –

dadurch inhaltsleer, daß er der Frage, was es für Zwecke gebe, die wir wollen sollen, keine ethische Bedeutung zugestand. Den Zweck zeigte ihm die Natur, die im Organismus die Vielheit der Funktionen zu einer Gesamtleistung verbindet, und darüber hinaus nur noch die Kunst. Die Wirkungen dieses Gedankens auf den Geschichtslauf waren sehr beträchtlich, wenn auch schwankend. Ersteres gilt schon deshalb, weil Fichtes Zusammenhang mit Kant durch seine Ethik vermittelt ist. Es hat aber für den Kantianismus viel bedeutet, daß er sofort von einer so kraftvollen Hand wie der Fichtes ergriffen und fortbewegt worden ist. Aber auch sonst sind Kants Zeitgenossen ihm weithin dankbar für seinen moralischen Unterricht gewesen, man denke an Schiller und Fries, da er sie von der Weichlichkeit und Öde der Glücksethik frei gemacht hat. Statt der von der aufgeklärten Ethik erstrebten Verbesserung der Vorstellungen war nun ein Willensentscheid das, was die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit ergab, und während die Ethik, solange sie mit dem Tugendbegriff arbeitete und sich um die Steigerung unseres eigenen Kraftbesitzes bemühte, kein anderes Ergebnis erreichte als ein egoistisches Wohlgefallen an der erreichten Vollkommenheit, wurde mit dem Pflichtbegriff dem Menschen wieder erlaubt, seinen Willen hinzugeben; wenn es auch nur sein eigenes Gesetz war, dem er sich ergab, so stand es doch über ihm, und in der Einigung mit ihm war nicht ein relativer, sondern ein schlechthin gültiger Wert erreicht, und während man durch die Aufklärung beständig mit der Sorge um das Empfinden beschäftigt blieb, war man jetzt von der Sorge um das Glück befreit und trat in eine entschlossene Sorglosigkeit hinauf, die die Glücksfrage unter sich sah. So kräftig der Gegensatz war, kräftig genug, um eine ansehnliche historische Wirkung hervorzutreiben, so stand doch andererseits die Ethik Kants seiner Zeit nahe genug, um die Verbindung mit ihr nicht zu verlieren. Von den Idealen der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, hat Kant die beiden ersten, während die »Brüderlichkeit« ihm nicht faßlich wird. Von seinem Pflicht- und Gesetzesbegriff aus kommt er zum »heiligen – 187 –

Recht«, um mit Fries zu reden; zum Verständnis der Liebe fehlen die Prämissen. Aber auch denen, die nicht nur die Moral der Aufklärung besaßen, sondern noch an der aus der Reformation entstandenen und in den Kirchen befestigten Ethik Anteil hatten, brachte Kants Eintreten für die unbedingte Gültigkeit der Pflicht eine wertvolle Reinigung und Förderung ihres Willens. Da ihre Aufmerksamkeit durch die Reformation ausschließlich auf die Begründung des Glaubens gerichtet war, blieben ihre ethischen Begriffe dürftig, und die Entstellung des Glaubens zum Besitz der reinen Lehre verleitete sie dazu, eine Gesinnungsethik zu pflegen, die den Willen mißachtete und das Werk für unnötig hielt. Kant hat es nicht nur den Aufgeklärten, sondern auch der evangelischen Christenheit wieder gesagt, daß ein Anspruch an unseren Willen gerichtet wird, der unbedingte Geltung hat. Vor der trägen Gesinnungsethik erschien wieder das Gesetz mit seinem den Menschen sich ganz unterwerfenden Herrscherrecht. Dagegen hat Kant die Bemühung der Christenheit, zu einer Ethik zu gelangen, dadurch gehemmt, daß seine Ethik nur das Dasein des Gesetzes und der Freiheit aufzeigte, dagegen dem Gebot keinen Inhalt gab. Dadurch verleitete er zu jener Beschäftigung mit der Ethik, die sich zwar über die Voraussetzungen des sittlichen Urteils mit Ernst besann und sein Recht sicherzustellen suchte, aber der Frage, was wir zu tun haben, auswich und auch bei den dringendsten Aufgaben die uns zum gemeinsamen Handeln führenden Normen undeutlich ließ. Im Fortgang der kantischen Bewegung kam rasch auch der Widerspruch gegen seinen moralischen Unterricht zur Geltung und überwog bald die im Anfang sichtbare Dankbarkeit. Unter den berühmten Kantianern halten einzig Fichte und Schelling den Freiheitsgedanken fest, letzterer in starker Umbildung. Hegel, Herbart, Schleiermacher, Schopenhauer streichen ihn, und die nachher sich einstellenden Kantphilologen sind überwiegend von seiner Ethik weit entfernt. Das hat Kant selbst verschuldet, weil der Konflikt seiner Gedanken mit der uns gegebenen Lebensgestalt in der Ethik, – 188 –

die die Normen geben soll, die schlechthin unser Handeln leiten, besonders gefährlich war. Was blieb, wenn aller Hedonismus aus der Begründung unseres Handelns ausgestoßen wurde, wenn Lust und Unlust für den nichts zu bedeuten haben, der sittlich zu handeln weiß? Tritt uns damit nicht das Gespenst einer freudlosen Pflicht entgegen, die mit dem Empfinden auch alle Aktionsfähigkeit verliert? War denn wirklich ein Handeln möglich, das mit dem Empfinden nicht in kausalen Relationen steht? Kant hat zerschneiden wollen, was sich nicht voneinander losmachen läßt: Lust und Begehrung. Der Versuch, sie voneinander zu trennen, ist ein Angriff auf die uns gegebene Organisation unseres Innenlebens und erzeugt unvermeidlich seine Denaturierung. Kant hat recht, daß der Akt das ist, was uns durch die sittliche Forderung als das zu Wollende bezeichnet ist, nicht die Lust oder Unlust, die auf ihn folgt. Die Meinung aber, daß diese übersehen werden könnte und, wenn sie nicht ausgerottet werde, an sich schon den Willen verunreinige, floss als unheilvolle Konsequenz aus der Hypostasierung der reinen Vernunft über dem wirklichen Lebensprozeß. Indem wir dem Antrieb der Lust gegenüber frei werden, sind wir deshalb nicht von ihr los und nicht für sie verschlossen. Eine dahin zielende Forderung führt zur Selbstzerstörung und erregt daher notwendig den Widerspruch. Sodann hält uns Kant eine sittliche Gesetzgebung vor, die sich nur aus Allgemeinheiten zusammensetzt. War denn das Individuelle das Unsittliche? Und konnte der Einzelne auch nur in einem einzigen Moment auf seine Besonderheit verzichten und einen Willen in sich erzeugen, der nicht mehr individuell geartet war? Und wenn er es könnte, gäbe er nicht damit sein Bestes preis? Mit Recht erhob sich sofort eine lebhafte Polemik zugunsten des Rechts der individuellen Eigenart, da die Persönlichkeit nicht zu einem Paradigma einer universal gültigen Gesetzgebung erniedrigt werden könne. Kant hat bloß einen abstrakten, leeren Gleichheitsbegriff, und die Frage »Individuelle Besonderheit oder allgemeine Regel?« blieb für seinen Begriffsapparat unlösbar. Es haben sich teilweise ernste sittliche Schwierigkeiten für Deutschland an diese Verren– 189 –

kung der kantischen Moral angehängt, weil das gute Recht des individuellen Lebens sich nur im Kampf gegen die Moral erhalten zu lassen schien, die ja als die Gesetzgeberin für alle früher nur abstrakte Tugendschemata und jetzt erst recht eine allen identisch auferlegte Pflicht vertrat. Am schwersten aber wird die kantische Moral dadurch getroffen, daß die mit dem Geständnis abschließen mußte, daß der Mensch radikal schlecht sei. Dieses Endurteil der Kritik des Willens ergab sich unvermeidlich aus der Zerspaltung des Ichs in den von der praktischen Vernunft geschaffenen Willen und in die von der Natur in uns erzeugte Begehrung. Für diese Entzweiung gab es bei Kant keine Heilung. War der vernünftige Wille schlechthin gefordert, so war die sinnliche Begehrung schlechthin verwerflich. Damit erschien im Bereich des Willens dieselbe Zerspaltung unseres inwendigen Lebens, die die Lehre von der Erkenntnis dadurch schuf, daß sie die reine Vernunft getrennt von der Wahrnehmung über unserem konkreten Bewußtsein schweben ließ. Hier wurde aber diese Entzweiung zur unerträglichen Not, da die Verurteilung unseres ganzen Begehrens uns ganz verneint. Der reinen Vernunft traute Kant die Herrschermacht zu, daß sie unser Bewußtsein mit ihren Formen und Kategorien absolut bestimme. Dem reinen Willen konnte er aber nicht dieselbe Herrschermacht zuschreiben; dazu war er zu gewissenhaft. Somit blieb ihm nichts übrig als die Verurteilung über den Menschen auszusprechen. Darf dies das letzte Wort einer Ethik sein? Wir stehen vor einem Vorgang, dem gegenüber die Erinnerung an Jesu Weisung »richtet nicht!« angezeigt ist, weil er in die verborgenen Grundakte, die das Personleben bilden, hinabreicht. Soll man Kant loben oder schelten? loben, weil er den selbstgefälligen Optimismus der Aufklärung zerbrach und unter all diesen guten Menschen den Mut hatte, zu sagen, sie seien schlecht? schelten, weil er uns die Botschaft von unserer Bosheit erzählte, als spräche er von einer Kleinigkeit, ohne daß auch nur die Frage ernsthaft auftritt, wie zu helfen sei? Der Hinweis auf unsere im Jenseits wohnhafte Freiheit gibt uns keine Hilfe, da dasjenige Wollen, das unser Be– 190 –

wußtsein bestimmt und erfüllt, unrettbar der Schlechtigkeit verfallen ist. Gleichwohl fährt Kant fort, das Sittengesetz mit tiefer Ehrfurcht zu bewundern; was wird aber aus dieser Bewunderung für ein von uns stets zertretenes Gesetz? Und er deutet kühn alle religiösen Aussagen in die »Moral« hinüber, obwohl er auf die Frage nach ihrer Verwirklichung nichts zu sagen hat. Dieses negative Ende des ganzen Systems, so wertvoll es für einzelne geworden sein mag als Stachel, der die Beruhigung in der Aufklärungsethik unmöglich machte, war für den Kantianismus ein düsteres Omen und macht durchsichtig, weshalb unter allen Kantianern Schopenhauer der mächtigste geworden ist.

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14. Die neue Religion der spekulativen Kantianer Es schien mit Kant ein Tiefpunkt des religiösen Verständnisses und der Übergang in ein irreligiöses Wissen und Verhalten erreicht zu sein. In der Welt der Erscheinung ist keine Offenbarung Gottes zu finden; die Vernunft gestaltet das Weltbild nach den ihr eignenden Formen, ohne daß sie etwas vernähme oder empfinge, was sie im Erkennungsprozeß mit Gott in Beziehung brächte. Das unserem Willen gegebene Gesetz ist die Setzung der Vernunft und die Ausführung desselben fällt der Freiheit zu. Daß es ein rationales Postulat bleibt, daß Gott sich mit der Fürsorge für unser Glück befasse, bot unserer Beziehung zu Gott nur noch eine schmale, brüchige Basis dar. Es war bei dieser Situation unvermeidlich, daß Kant der Religion geraten hat, sich in Moral zu verwandeln und die christlichen Begriffe in moralische Vorstellungen umzudeuten. Aber dieser scheinbare Tiefstand des religiösen Wissens wird direkt zum Ausgangspunkt einer begeisterten Religionsgründung, die auf die deutsche Geschichte während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts beträchtliche Wirkungen ausgeübt hat. Bei Kant steht die Vernunft in der Mitte zwischen einem Ding an sich, daß sie nicht entbehren kann, von dem sie aber nichts weiß, und einem Gott, dessen Dasein sie wünscht, von dem sie aber auch nichts weiß. Diese Endbegriffe stellten sich als Überreste der älteren Tradition dar, die sich an die neue Entdeckung Kants noch anhängten. Diese bestehe darin, daß unser Weltbild die Schöpfung der Vernunft sei. Es fällt also das Ding, ebenso der im Jenseits eingesperrte Gott. Aber nun wird die bei Kant völlig undeutliche Frage, wie sich denn »die Vernunft« zum denkenden Ich verhalte, ernst. Aus dem Ich geht die Natur, aus der Vernunft die Welt hervor. Aber dieses die Welt bildende, reine Ich ist nicht – 192 –

das Einzel-Ich. Man hat in ihm wieder Gott über sich. Die Allvernunft steht aber doch zum Einzel-Ich in einem unmittelbaren Einheitsverhältnis. Sie ist ja von Hause aus ein hypostasierter Allgemeinbegriff, der im konkreten, das er umspannt, seine Realität hat. Da bei Kant die Vernunft das Kausalitätsgesetz nur so besitzt, daß sie es hervorbringt, nicht aber so, daß sie ihm selbst unterstellt ist, konnte die Beziehung des reinen zum wahrgenommenen Ich, der Allvernunft zu dem Einzelnen gegebenen Denken nicht nach dem kausalen Schema gedacht werden, so daß das reine Ich der Schöpfer und das unsrige sein Geschöpf wäre und der Urgedanke den unsrigen erzeugte, sondern das Verhältnis zwischen der reinen Vernunft und dem einzelnen Ich wird in der Weise gedacht, wie der Typus im Realen, der Begriff im konkreten ist. Wir besitzen also Geeintheit mit Gott; er ist in uns, wir in ihm. Wir denken durch ihn, er durch uns. Unser Denken ist Gottes Werk in uns, Gottes Offenbarung und Gegenwart in uns. Man hatte plötzlich wieder eine sehr merkwürdige Religion. Mit der Aufklärung war sie dadurch verbunden, daß auch jetzt der Begriff »Vernunft« für das Selbstbewußtsein die Hauptkategorie ist. Die Kantianer sehen ihr Wesen darin, daß sie Denker seien, nichts als das, aber eben im Denken mit der Gottheit eins. Das ergab den Unterschied von der Aufklärung. Nun war es nicht mehr einzig das Glück und Geschick des Menschen, dem sich das religiöse Interesse zuwendet, während der Mensch für sein ganzes inwendiges Leben durch seine Vernunft und Tugend selbst aufkommt, sondern jetzt fällt der Berührungspunkt zwischen Gott und uns in unser Inneres. Er ist in uns dadurch, daß wir die uns inwendig bildenden Funktionen vollziehen. Unser Denken wird ein Mitdenken mit Gott und die Wahrheit, die den Inhalt und die Würde unserer Wissenschaft bildet, ist Gottes Besitz und Gottes Wirkung in uns. Während sich der Mensch nach dem Schema der Aufklärung seine Erkenntnis selbst herstellt und nur dann an Gott erinnert wird, wenn er seine Gedanken nicht vollenden kann, erkennt diese Frömmigkeit in der Geeintheit mit Gott den Grund, aus dem die ganze Tätigkeit des Menschen mit allen ihren Erträgen entsteht. – 193 –

Damit stellen sich Beziehungen zum Spinozismus her. Denn gegen die Allvernunft hat sich das konkrete Ich nicht mit einem Eigenleben zu behaupten. In der Drangabe der sinnlichen Eigenheit an das Alleins besteht der normale Lebensakt. Aber es bleibt Spinoza gegenüber ein wesentlicher Unterschied. Der Gott der Kantianer ist Vernunft, nicht Substanz, sondern Aktualität, die sich im Akt in uns offenbart. Die Preisgabe des Personlebens bedeutet also hier nicht den Eintritt in die Ruhe, die nichts mehr zu besorgen hat als Kontemplation, sondern sie setzt uns in die allerhöchste Bewegung, in die, die die Urvernunft in uns vollzieht. Das Denken ist aber zugleich der produktive Akt; es ist schöpferisch und erzeugt die Dinge. Daher stehen die Kantianer mit einem hochgehobenen Machtbewußtsein vor der Nation. Fichte zeigt ihr den Weg zur vernunftgemäßen Erneuerung; Schleiermacher redet als eine Art Evangelist; Hegel vollendet in sich mit der Wissenschaft den Weltprozeß; Schopenhauer weist wenigstens in der Ferne den Weg zur Welterlösung. Ihre Bewährung hatte diese Religion sich dadurch zu verschaffen, daß sie Erkenntnis erzeugt. Sie produziert nun Wissenschaft und erfüllt dadurch ihr höchstes Ideal. »Nicht räsonieren« sollt ihr, sagt Fichte den Aufklärern. Räsonieren heißt, über die Dinge, wie sie vor uns stehen, Gedanken fabrizieren, ein Geschäft, das vom Standpunkt der Kantianer aus sich gleichzeitig als eitel und gemein darstellt. Eitelkeit ist in der Aufklärung; denn sie erhebt den Anspruch, daß die Wirklichkeit ihren willkürlichen Gedanken weiche; sie meistert das Seiende, d.h. die Allvernunft. Aber dieser Verstand ist gleichzeitig gemein; denn er begreift nichts, kann nichts aus seinem Grund ableiten, sondern läßt sich alles gefallen, wie es ist. Die echte Wissenschaft konstruiert; sie erzeugt das Seiende aus seinem Grund und bildet den genetischen Vorgang, durch den es ward, in sich nach und darin, daß die Vernunft dies leistet, ist die Einheit unseres Denkens mit der Urvernunft erwiesen. Darin offenbart sich, daß die Vernunft die schaffende Macht ist und in uns diejenige Potenz, nämlich das Denken, formt, aus der auch das Sein der Dinge stammt. – 194 –

Dieser Beweis für die neue Religion ist mißlungen. Die Konstruktionen der Kantianer sind zerfallen. Was ihnen als die höchste Wissenschaft galt, steht heute verstummt und verstaubt in den Bibliotheken. Sie kamen nicht zum Denken ohne Beobachtung; fehlte diese, so gab es Wortgeklingel. Die angeblichen Deduktionen benutzten beständig das Gegebene und kamen ohne dessen Hilfe nicht vom Fleck. Und was als konstruiertes Resultat schließlich herauskam, war längst nicht konsequent mit dem Wirklichen, sondern ließ überall das Unbegriffene und Undurchdringliche an diesem stehen. Damit war bewiesen, daß der zugrunde gelegte Ansatz falsch ist und die angebliche Einheit zwischen unserem Denken und Gottes Denken nicht besteht. Unfruchtbar war deshalb diese Denkarbeit nicht, sondern sie hat nach vielen Seiten hin höchst förderlich gewirkt; denn dann, wenn sie an den konkreten Stoff herankam, trat sie bei ihrem hochgespannten Wissenschaftsbegriff mit einem starken Willen zu erkennen an diesen heran. Es kam weiter dazu, daß der Kantianismus gleich in eine lebhaft bewegte Geschichte hineingezogen wurde. Schon seine einzelnen Vertreter haben zum Teil eine merkwürdige Geschichte durchlebt. Fichte ging mit entschlossener Zustimmung von Kants Moral aus; als sich aber das reine Ich für ihn zum Gottesbegriff erhob, stand er wesentlich anders als in seinen kantischen Anfängen. Die Entfernung von der Aufklärung, die dadurch bedingt war, wird in seiner inneren Geschichte sichtbar. Schelling geht von der Naturdeutung aus, stößt dann aber auf das Willensproblem, auf die Begriffe Freiheit, Schuld, Fall; nach langem Schweigen folgen seine letzten Veröffentlichungen: die Philosophie der Mythologie und Offenbarung. Hegel hat bis zu seinem Tode in denselben Bahnen weiter gedacht; aber seine Schule spaltete sich in einen rechten und linken Flügel, und der linke Flügel, der über die Religion wesentlich anders dachte als der Meister, behielt den Sieg. Diese Geschichte war mit dem Ausgangspunkt des Gedankens nicht vereinbar, weil daran offenbar wurde, daß unsere Gedankenbildung nicht einzig durch die logischen Kategorien der reinen – 195 –

Vernunft bestimmt ist. Wenn unsere Denkarbeit durch Geschichte bestimmt wird, so steht sie in Abhängigkeit von Faktoren, die von den logischen Kategorien zu unterscheiden sind. Darum haben auch die Kantianer immer eine gewisse Täuschung über die von ihnen durchlebte Geschichte ausgebreitet. Niemand, der Fichte näher trat, wird geringschätzig von ihm sprechen; aber über das Verhältnis seiner letzten zu seinen früheren Gedanken spricht er nicht klar. Die Empfindung wirkt ein, daß der Standpunkt die geschichtliche Art des Denkprozesses eigentlich ausschließe; es soll doch die alte Doktrin sein, nur erneuert und vertieft. Die zweite Philosophie Schellings soll die Naturphilosophie voraussetzen und fortbilden. Zu einer klaren, durchgreifenden Kritik der früheren Sätze kommt es nicht. Nun hat auch dieses Urteil eine gewisse Richtigkeit, weil es sich ja um einen geschichtlichen Verlauf handelt, der die späteren Stadien mit festem Kausalverband an die ersten Gestaltungen des Gedankens fügt. Immerhin hat es den Kantianern an kritischer Schärfe gegenüber den Stadien ihrer Denkarbeit gefehlt, und dies stand mit dem die ganze Arbeit tragenden Obersatz in Beziehung, mit der Identifikation der Allvernunft mit dem eigenen Denkprozeß. Noch deutlicher machte die Zerspaltung zwischen den Kantianern die Unmöglichkeit ihrer Stellung offenbar. Es ergibt einen seltenen Moment in der Geschichte, daß dieser große Kreis von starken Intelligenzen den Gedanken Kants ergriff und in ihm die Eröffnung der Bahn zur Erkenntnis suchte. Sie ergaben sich dem Gedanken Kants nicht in serviler Schülerhaftigkeit, sondern waren für vieles offen, was die Zeit bewegte, und mit einem großen Reichtum innerer Kraft ausgestattet: Fichte der ehrliche Woller, Schelling nicht ohne ein deutliches künstlerisches Vermögen, Hegel eine ansehnliche logische Kraft, nicht des Spottes wert, Schleiermacher mit seinen romantischen Impulsen und zugleich einer ernsthaften inwendigen Berührung mit dem Christentum, Herbart ein kritisches Talent von großer Energie, und Schopenhauer der scharfe Beobachter der Willensvorgänge. Die Arbeit bleibt aber noch an denselben Punkt gebunden wie damals, als Cartesius einsam nach neuen Überzeugungen suchte – 196 –

oder Kant sich auf eine neue Formation der Metaphysik besann: der Genius hat Einfälle. Der himmlische Funke fällt in die großen Geister herab. Jeder zieht sich in sich selbst zurück und fängt von vorne an. Eine Gemeinsamkeit der Arbeit, ein Geben und Nehmen, ein Dienen und Leiten wird nicht erreicht. Jeder ist »der« Philosoph. Und doch sagten sie, die Allvernunft erscheine in ihnen und erzeuge ihr Denken. Aber diese Einheit mit der Allvernunft war nicht stark genug, sie miteinander zu verbinden. Zu Kant stehen alle in deutlicher, fester Beziehung. Allen gilt seine Entdeckung, daß die Vernunft unseren Bewußtseinsinhalt schaffe, als die sichere Basis, auf der ihre eigene Arbeit steht. Fichte hat in die kantische Ethik einen entschlossenen Willen hineingelegt und sie beharrlich als den ihn formierenden Gedanken festgehalten. Aber auch Schellings Problem steht unmittelbar in Beziehung zu Kant. Wenn Fichte von der Natur sagte, sie sei der Stoff für unsere Sittlichkeit, dazu entstehe sie, damit unsere Freiheit den Anlaß habe, sich zu betätigen, so war das heroisch; aber unmöglich konnte man die Frage nach der Natur und ihrem Verhältnis zur Vernunft durch diesen Willensentscheid und den ihn ausdrückenden teleologischen Gedanken für erledigt halten. Wenn die Vernunft wirklich die Natur hervorbrachte, so war der Naturwissenschaft eine Aufgabe gestellt, wie sie Schelling anfaßt, indem er sich zu verdeutlichen sucht, wie denn Natur und Vernunft eine Einheit seien. Hegel bleibt Kant sehr nahe, da auch für ihn die Formen der Vernunft, die Kategorien, die in allem Denken wiederkehren, die produktiven Faktoren sind, die den Weltprozeß schaffen. Schleiermacher bringt mit seinem christlichen Gefühl einen anderen Impuls zur Geltung; aber er formt nicht nur seine Philosophie, sondern auch seine theologischen Gedanken in bewußtem und konsequentem Anschluß an Kant. Der Bewußtseinsvorgang ist auch für die Religion der produktive Faktor, der alles aus sich heraussetzt, Kirche und Dogma und Kultus. Herbart steht mit dem kritischen Ziel Kants in direkter Gemeinschaft. Die Vernunft konnte doch nicht nur spekulieren und produzieren; Kant hat ja gezeigt, daß sie der Kritik bedarf und Neigung hat, Illusionen zu erzeugen. Die Aufgabe war zwar von Kant gezeigt, aber noch keineswegs – 197 –

erledigt, da der konkrete Bewußtseinsinhalt nach seiner Vernünftigkeit noch nicht beurteilt war. Herbart macht sich daran, unser Selbstbewußtsein zur Vernünftigkeit zu bringen. Auch Schopenhauer bleibt Kantianer. Als das dem Denken sich Offenbarende war ja bei Kant der Wille herausgetreten; er war in der Welt der Erscheinung das, was als das Reale sich kundgab in echter kausaler Macht. Hier setzt Schopenhauer ein: die Welt ist Wille und Vorstellung. Auch bei ihm bleibt das Verhältnis zwischen der Persönlichkeit und dem Allgrund dasselbe wie bei den Kantianern. Der einzelne Wille steht im selben unmittelbaren Einheitsverhältnis zum Allwillen wie bei Hegel unser Denken zum Alldenken, und »der Wille« ist bei ihm ebenso hypostasiert wie das Denken dort. So sind sie alle Kantianer und bewegen in sich die kantische These mit ernster intellektueller Anspannung. Aber sie verlieren die Einheit und brechen in einen Pluralismus von Theorien auseinander, die sich gegenseitig aufheben. Fichte hat Schellings Naturphilosophie abgelehnt, nicht ohne Grund, da Schellings Absolutes, das über Vernunft und Natur steht als die diesen Gegensatz unter sich habende Einheit beider, das, was Fichte als das vernünftige und sittliche Wollen heilig hielt, bedrohte. Jene unmittelbare Gegenwart der gesetzgebenden und das Gesetz vollführenden Vernunft in mir kam ins Schwanken, wenn der Allgrund weder Vernunft noch Natur, sondern ein Unnennbares über beiden war. Von Schelling und Hegel ließ sich nach den Anfängen erwarten, daß sie in vereinter Arbeit verbunden blieben, etwa wie Goethe und Schiller oder Luther und Melanchthon. Das hätte einen ernsten Wert für die Nation geschaffen; denn es ist für diese von höchster Bedeutung, wenn ihr starke, freie Geister die Verbundenheit miteinander vorleben. Allein sie schieden sich. Hegel kann die kantische These nur dann handhaben, wenn der Weltprozeß auf das Denken reduzierbar ist. Ihm bleibt die Logik das Gesetz alles Geschehens. Schelling stößt auf den Willen, auf die Freiheit, auf den Fall und die Schuld. Die beiden Gedankengänge schlossen sich aus. Schleiermacher und Hegel standen an derselben Universität, aber in bitterem Streit. Hegel fand in Schleiermachers Gefühlstheo– 198 –

logie eine sentimentale Tendenz, die durch die Selbständigkeit der Theologie, die von der Wissenschaft befreit werde, Obskurantismus einschmuggele, nicht ohne Grund. Schleiermacher lehnte seinerseits die Deutung der Geschichte als der Erscheinung der logischen Kategorien ab, wiederum mit Recht. Herbart hat ein tüchtiges kritisches Talent an die Aufgabe gesetzt, die Fiktionen aufzudecken, durch die die sog. Deduktionen der anderen Kantianer zustande kamen, und blieb in dieser Kritik unanfechtbar. Und vollends Schopenhauer hatte für die anderen Kantianer nur die herbste Verachtung. Fichte, Schelling, Hegel sind ihm die drei Sophisten und ihre angebliche Wissenschaft eine Schule der Verdummung. Er bleibt aber in seinen Thesen über unser Wollen einsam. Herbart meint, ein Urteil in sich wahrzunehmen, das das Wohlwollen mit einem unbedingten Wert versieht, während Schopenhauers Wille zu leben ist und nichts als das. Und doch denken alle Kantianer als die Vertreter und Organe der absoluten Vernunft. Ihr Ansatz, der ihr Denken und das weltbildende Denken als identisch setzte, wurde durch den Tatbestand widerlegt. Hier hat sich eine Geschichte vollzogen, die durch keine Restauration wieder beseitigt werden kann. Es gibt in der Geschichte so wenig als in der Natur gelingende Restaurationen. D a s Ve r h ä l t n i s d e r n e u e n R e l i g i o n d e r K a n t i a n e r z u m C h r i s t e n t u m wurde eine komplizierte Verbindung von Zustimmung und Gegensatz. Auf der Seite der Kantianer war die Neigung da, das Christentum als vernünftig zu verstehen, weil die Vernunft ja die Wirklichkeit, natürlich mit Einschluß des religiösen Tatbestandes, hervorgebracht hat. Man konnte nicht mehr, wie es die Aufklärung tat, den eigenen Gedankengang als den vernünftigen neben oder über das geschichtlich Gewordene setzen, etwa nach Kants Weise, der alles, was nicht in seinen Gedanken hineinging, für bloß statutarisch erklärte. Jetzt galt es Wissenschaft auch vom Christentum zu gewinnen; denn auch das war, wie alles Geschehen, eine Produktion der Allvernunft. Eben damit wurde die kantische These festgehalten, die der Vernunft an der Erfahrung den von ihr zu durchdringenden Stoff aufwies. – 199 –

Auf der Seite des Christentums waren positive Beziehungen zur kantischen Religion angelegt, einmal, weil auch in der christlichen Überzeugung der Satz enthalten ist, daß die Welt in der Vernünftigkeit Gottes ihren Grund habe; sie sei gedacht, gekannt und darum sei sie geworden und sie sei so geworden, wie sie ist, weil die Vernunft sie so gestaltet hat; sodann, weil auch für die christliche Frömmigkeit ein unmittelbarer und gegebener Zusammenhang zwischen uns und Gott besteht. Sicherlich hat der Vermittlungsgedanke für das Christentum die größte Wichtigkeit; aus der Geschiedenheit von Gott werden wir zurückgerufen zu ihm und in den die Versöhnung mit ihm bewirkenden Vorgängen hat es seinen Mittelpunkt; doch ruht die Erlösertat Gottes auf seiner Schöpfertat und hat weiter zum Zweck, unsere Geschiedenheit von Gott zu überwinden und uns Geeintheit unseres Denkens und Wollens mit ihm zu verleihen. Daher entstand zwischen der christlichen Überzeugung und der der Kantianer eine Parallele. Diese kommt in der Form zum Ausdruck, daß die »Religion« – mit diesem auch wieder unvorsichtig hypostasierten Abstraktum benennen die Kantianer den von ihnen vorgefundenen Stand des Gottesbewußtseins und Gottesdienstes – die der Philosophie zunächst untergeordnete Offenbarung der Weltvernunft sei. Daß sie unter die eigene Religiosität, unter die sog. »Wissenschaft«, zu stehen kommt, ist lediglich der Ausdruck für die Bedeutung, die auf jedem Standpunkt der eigenen Religion zukommt. Jeder ordnet die Religionen so, daß die seinige die oberste ist. Das Charakteristische liegt aber darin, daß auch das Christentum als Werk der Vernunft vor den Kantianismus gelegt wird, wenn es auch von diesem überboten und vollendet werde. Fichte ordnet Sinnlichkeit, Recht, Moral, Religion, Wissenschaft als die übereinander sich aufbauenden Stufen des menschlichen Lebens. Bei Hegel erscheint in der Religion die Einheit der Allvernunft mit uns in Vorstellungsformen, die freilich vom reinen Denken ausgelöst werden; sie werden aber dadurch nicht zerstört, vielmehr erhalten, wenn auch auf höherer Stufe. Die Gedanken des Christentums, Gottessohn, Trinität, Heiliger Geist, sind auch wieder das letzte Wort des Philosophen. – 200 –

Schleiermacher konstruiert ein künstliches Gleichgewicht zwischen dem Gottesgedanken der Kantianer und dem, der aus der Kirche stammt; in jenem sieht er das Erzeugnis der Vernunft, in diesem das Produkt des Gefühls, und beide werden an ihrem Ort ernsthaft bejaht und so miteinander ausgeglichen, daß kein allzu schroffer Riß im Bewußtsein entsteht. Schopenhauer beurteilt die religiöse Tradition als populäre Metaphysik, neben die der Philosoph seine wissenschaftliche Metaphysik setzt; eine gewisse innere Gleichartigkeit zwischen beiden Gedankenreihen ist auch damit anerkannt. Der Satz »Kunst, Recht, Religion, Wissenschaft bilden zusammen die Kultur der Menschheit« ist von den Kantianern der in der Universitätsbildung eingebürgert, auch mit der Rangordnung, die der »Wissenschaft« den obersten Platz einräumt. Es liegt darin nicht nur deshalb eine Konfusion, weil diese hypostasierten Abstrakta viel Verwirrung im Denken angerichtet haben, sowie ihre Beziehung auf die konkreten Vorgänge verdunkelt wurde, sondern auch deshalb, weil dieser Religionsbegriff, der sie mit anderen Funktionen als gleichartig zusammenordnet, nur unter den speziellen Voraussetzungen des Kantianismus möglich ist. Eine über sich selbst klare christliche Überzeugung stößt diese Bei- oder Unterordnung unserer Beziehung zu Gott neben oder unter andere Funktionen ab. Aus dem vergleichenden Blick auf das Verhältnis der eigenen Religiosität zum Christentum ergab sich für die Kantianer e i n e n e u e C h r i s t o l o g i e . Sie bedeuten für die Geschichte der Christologie eine Epoche. Die Geeintheit mit Gott, in der Fichte seinen religiösen Besitz sieht, sagt auch Jesus von sich aus und sie wird von ihm aus eine geschichtliche Macht. Er hatte in sich das Bewußtsein, der Sohn Gottes zu sein, und in der Hingabe seines sinnlichen Willens an den Gotteswillen hat er die Normalgestalt des menschlichen Willens offenbart, und wenn nun auch der Philosoph sie hat und wissenschaftlich begründet, so besteht hier ein geschichtlicher, genetischer Zusammenhang. Der Vorgang Jesu ermöglicht die religiöse Stellung des Philosophen; sein Gedanke ist ihm durch das Christentum vermittelt. – 201 –

Von der Aufklärung unterschied sich diese Christologie nicht unwesentlich, weil hier nicht ein von Jesu Person ablösbarer Wert seine Schätzung bedingt, so daß er als Lehrer gewisser Wahrheiten oder als Beispiel für gewisse Tugenden diente, sondern das, was die Schätzung Jesu bedingt, ist er selbst, das ihn gestaltende Bewußtsein, und dieses ist hier eins mit dem Sein. Lebensstand und Bewußtseinsstand decken sich hier. Von der neutestamentlichen und kirchlichen Christologie unterschied sich dieser Gedanke dadurch, daß er keine Subordination unter Jesus herbeiführte. Im Gegenteil, seine Bedeutung besteht darin, daß er ist, was wir zu sein haben und auch sind; in der Gleichgestaltung mit ihm liegt unser Ziel. Diese bezieht sich aber nicht darauf, daß ein Gedanke, den Jesus hatte, von uns übernommen werde oder Handlungen nachgeahmt werden, sondern sein Verhältnis zu Gott, seine Sohnschaft Gottes ist das, was unser Lebensstand werden soll. Das steht mit einer anderen Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Divinität und der Humanität in Zusammenhang. In der alten Christologie war dies eine Zweiheit, hier ist es eine Einheit. Die Divinität Jesu besteht in seiner wahren Humanität, die Humanität in seiner wahren, vollendeten Divinität. Nicht eine in ihm wohnende Substanz oder Kraft, sondern sein Bewußtsein, in dem sich Gottes- und Selbstbewußtsein durchdringen, ist das Wirksame und Wunderbare in seiner Person. Darum ist auch die geschichtliche Linie die einzige, die die Fortwirkung Jesu auf uns übermittelt. Er hat nicht nach oben hin in Richtung auf Gott ein Werk zu tun, ist auch nicht als Erhöhter durch Ubiquität und Geistspendung wirksam. Er hat vielmehr seine Wirksamkeit dadurch, daß die innerliche Geeintheit der Unvernunft mit den individuellen Ichheiten an ihm sichtbar geworden ist. Das gibt auch der Verehrung Christi eine andere Gestalt. Das Glauben an ihn hat Fichte nach seiner ehrlichen Art abgelehnt. Aber veranlaßt und bestimmt durch ihn sollen wir das Ziel bejahen, in dem auch wir die Freiheit und Seligkeit gewinnen. Er wirkt als Glaubensmotiv, ist dagegen nicht Glaubensobjekt. Es war eine Christologie ohne Metaphysik, und es ist durch diese Wendung unserer Geschichte – 202 –

zum Merkmal des heutigen Protestantismus geworden, daß wir nicht nur Verneinung und Bejahung Jesu unter uns haben, sondern zwei Christologien, die des Kantianismus und die des Neuen Testaments. Die Verschiebung in der Betrachtung Jesu äußert sich in einer U m s t e l l u n g d e s n e u t e s t a m e n t l i c h e n K a n o n s . Nun tritt Johannes oben an als der klassische Zeuge des Christentums mit bewußter Zurückstellung des Matthäus und des Paulus. Der synoptische Jesus, der den Bußruf an die heilige und gerechte Gemeinde richtet und in der Ausrichtung desselben stirbt und eben dadurch die neue Gemeinde schafft, war für die Kantianer ganz verhüllt. Die Begriffe Buße, Schuld, Gericht, Gemeinde waren ihnen unverständlich. Paulus zerbricht den Hellenismus mit der Antithese zwischen dem Evangelium und der Weisheit und zwischen dem Glauben und dem eigenen Verdienst. Der Kantianismus war aber durch seinen Vernunftbegriff mit der Aufklärung und weiter mit dem Hellenismus eng verbunden. Eine Union mit Paulus war für ihn unvollziehbar. Zu Johannes dagegen, der die Messianität Jesu in der Sohnschaft Gottes begründet und deshalb das Innenleben Jesu, sein Gestaltetsein im Denken und Wollen durch Gott, sichtbar macht, hatten die Kategorien der Kantianer Beziehungen. Und auch die Art, wie Johannes seine Antithese formt: hier der Sohn, dort die Welt, war ihnen nicht unfaßlich. Neben den der Selbständigkeit und Vernünftigkeit teilhaft gewordenen Wenigen standen ja die vielen sinnlich Gebundenen, eine nichtige Masse, die das höhere Leben aus Gott nicht kennt. Nicht nur Fichte hat diese Bevorzugung des Johannes, sondern auch Schelling (Johanneisches Zeitalter), Baader und Schleiermacher, und als die Hegelsche Linke deutlich sagte, daß das System die Ablehnung des Christus fordere, sah sie darin die große, vom Historiker zu vollbringende Leistung, daß er den Anspruch des vierten Evangeliums, Bericht über Jesus zu sein, widerlege (F. Chr. Baur). Weil Johannes als das reifste Endprodukt der christlichen Geschichte galt, mußte er zerschnitten werden, da die jüdische Seite am Urchristentum unverstanden blieb und abgestoßen wird, und seine bessere Hälfte, das Evangelium, – 203 –

mußte von den Anfängen der Kirche weggerückt werden, da es über diese hinausrage und daher beträchtliche Vermittlungen erfordere, damit es geschichtlich verständlich sei. Aber auch als Johannes zum Fälscher gemacht wurde, blieb er verehrt und wurde mit Vorliebe zitiert als der große Unbekannte, der für die christliche Frömmigkeit die tieften Formeln gefunden habe. Aber auch für d i e K i r c h e sind die Kantianer nicht unwichtig geworden, weil sie diese mit in ihre Konstruktion einbeziehen. Sie wollen ja die Wirklichkeit als vernünftig begreifen und an dieser ignorieren sie die Kirche nicht. Fichte hat sie schon in der Sittenlehre 1798 konstruiert. Schleiermacher sagt in der Ethik vom Christus nichts; der Ethiker hat zur Lösung seiner Aufgabe den Christus nicht nötig; wohl aber konstruiert er die Kirche. Bisher galt die Kirche als ein nur einmal vorhandenes Gebilde, durch den Christus und für ihn geschaffen, so daß das Urteil über die Kirche mit dem Urteil über das Christentum gegeben war. Jetzt wird der Begriff Kirche von ihrer konkreten Gestalt abgelöst und mancherlei Inhalts fähig. Fichte gewinnt sie in der Sittenlehre 1798 aus der Tatsache, daß die sittlichen Überzeugungen, weil sie allgemein gültig sind, jeden antreiben, sie zu verbreiten. Aus dieser Notwendigkeit, daß jeder seine Überzeugungen verbreiten will, entsteht eine besondere Form der Gemeinschaft, die Kirche. Einerlei wie wir uns zu Christus stellen: Kirche muß sein, ist durch die Vernunft gefordert und sie ist mit neuem, von der Überlieferung wesentlich verschiedenem Inhalt erfüllbar. Diese Deduktion Fichtes zeigt, wie schwach noch das Verständnis für die Bedeutung der Sozietäten war. Erst wenn jeder fix und fertig seine Überzeugung hat, tritt er in die Sozietät ein. Der Einzelne wird für sich vollendet; lediglich aus dem Aktionstrieb, der den eigenen Besitz verbreiten will, entsteht die Sozietät. Daß wir durch die Sozietäten erhalten, was wir haben, davon wußte die Vernunft der Kantianer noch nichts. Über die Vo r g ä n g e , d i e d i e c h r i s t l i c h e F r ö m m i g k e i t b i l d e n , urteilte die neue Religiosität nicht wesentlich anders als die Aufklärung. Auch sie lehnte die Reue, die Liebe und den Kultus ab. Allerdings ist der Optimismus der Aufklärung im – 204 –

Kantianismus wesentlich erschüttert und dies nicht erst bei Schopenhauer. Aber die Reue als Verneinung des eigenen schlechten Willens läßt das System nicht zu. Fichte hat harte Worte über den sittlichen Unwert des gewöhnlichen Menschen gesprochen; aber seine Meinung ist, der sinnliche Mensch sei ein Nichts, einfach eine Nullität im strengen Sinn des Worts. Dieses sinnliche Denken und Wollen muß sterben. Dann ist es aber auch weg. Schuld, bei der der Mensch behaftbar wäre, Reue, die den Kampf mit dem eigenen bösen Wollen führte, gibt es nicht. Die Geeintheit der Allvernunft mit dem Einzel-Ich läßt dies nicht zu. Fichte hat sich gegen das Armsündertum der Kirche verwahrt und darin bekanntlich viele Nachfolger gefunden. Schleiermacher hat es in der Ethik für überflüssig erklärt, vom Bösen zu handeln. Er blieb dadurch mit der Aufklärung verbunden und schuf zur kirchlichen Ethik ein vollständiges Gegenbild. Während diese nur von der Sünde und ihrer Beseitigung sprach, dagegen über das Gute keine deutliche Auskunft gab, sollte jetzt der Ethiker keinen Anlaß haben, sich mit dem Bösen zu beschäftigen. Schopenhauer hat Verständnis für die asketische Seite am Evangelium; aber diese wird dadurch entstellt, daß sie von ihrer ethischen Begründung abgerissen ist. Verneinung des Willens und Verneinung des bösen Willens ist nicht dasselbe. Die Liebe zu Gott hat Schleiermacher für unmöglich erklärt, und er hat auch dafür viele Nachfolger gefunden. In der Sittenlehre bringt es Fichte zwar zum Gleichheitsbegriff, zur Gleichschätzung des anderen mit mir selbst, sofern auch er Erscheinung der Allvernunft und seine Freiheit mit der meinen gleichwertig ist. Liebe ist aber mehr als Gleichheit zwischen zwei in sich fertigen Ichheiten. In der Anweisung zum seligen Leben heißt er die Liebe das letzte Wort der Weisheit, die Seligkeit, die Sittlichkeit. Er denkt an die Preisgabe des sinnlichen Eigenwillens, an das Einswerden mit dem Vernunftwillen. Aber der Gedanke blieb unfruchtbar, weil er unklar war. Verschmelzungstheorien und die Liebeslehre sind nicht zu vermengen. Es fehlte zu dieser eine wesentliche Vorbedingung, solange das Menschsein mit dem Vernunftsein identifiziert wurde. Wären wir nichts als Denker, so wäre unser Beruf nicht Liebe. – 205 –

Daher wird auch der Kultus, sofern er ein auf Gott gerichtetes Handeln erstrebt, abgelehnt. Nur einen Kultakt übt diese Religion, das Denken, dieses aber mit tiefem Ernst. Mit welcher Gewissenhaftigkeit dieses betrieben wird, zeigt, um aus vielen Tatsachen ein einziges Beispiel hervorzuheben, die Vorlesung, mit der Fichte 1813 nach dem Aufruf Friedrich Wilhelms III. »An mein Volk« seine Vorlesungen abgebrochen hat. Er bewies sich und seinen Zuhörern auch in dieser zum Handeln berufenden Stunde mit der sorgfältigsten Überlegung, daß jetzt etwas anderes als Denken von ihnen besorgt werden dürfe. Alles liegt am Denken, und wenn dieses erreicht ist, erfolgen alle übrigen für die Einzelnen und für die Sozietät erforderlichen Aktionen von selbst in ihrer Normalität. Auf die Predigt hat der wissenschaftliche Ernst der Kantianer deutlich hebend eingewirkt. Die Andacht, die sie in ihr Forschen legen, hob nicht nur die theologische Arbeit, sondern mit ihr zugleich die von der Gemeinde in ihrem Gottesdienst auszuübende Denkarbeit. Dagegen zu einer »Philosophie des Gebets« hat es keiner der Kantianer gebracht, auch Schleiermacher nicht.

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15. Fichte Wenn wir vom religionshistorischen Geschichtspunkt aus an Fichte herantreten, dürften drei Vorgänge als geschichtlich bedeutsam herausgehoben werden: seine Einwirkung auf den S t a a t , sein Erziehungsideal, sein Reformprogramm für das Christentum. Wie kommt der vollendete Idealist zur Beschäftigung mit dem Staat? Eben deshalb, weil er entschlossener Idealist gewesen ist, der die Botschaft von der Freiheit des Menschen als leuchtende Sonne und alles beherrschendes Motiv in sich trug. Nicht einzig, vielleicht nicht einmal zuerst aus erkenntnistheoretischen Erwägungen hat Fichte die Phänomenologie Kants kassiert und das Ding an sich gestrichen. Allerdings bleibt bei Kant eine »Wissenschaftslehre« unerreichbar, weil über den Beziehungen der Dinge zu unserem Denken das absolute Geheimnis liegt. Der Fichte regierende Wille war aber sittlich begründet. Er will handeln, und zwar sittlich mit totaler Bejahung des Sittengesetzes. Handeln kann man nicht in einer Welt von »Erscheinungen«, sondern nur dann, wenn die uns gegebene Welt schlechthin unsere Bejahung fordert und erhält. Fichte akzeptiert sie mit einem totalen Ja. Sie ist das Produkt des Ichs, aber auch ganz das Produkt desselben. Nicht ein Anschaubares geht dem Anschauen voraus, sondern das Anschauen produziert das Angeschaute. Allein dies ist nun eben das, was die Vernunft uns vorhält als das von uns zu bejahende Nicht-Ich. Somit ist die Aufgabe des Ethikers nicht, ein Ideal zu konstruieren, das jenseits der Wirklichkeit schwebt, sondern unser Handeln, das an der Wirklichkeit seinen Stoff hat, zu normieren. Weil aber der Staat unser Handeln durch die in ihm wirksame Sitte und durch das von ihm geschaffene Recht uns möglich macht und regelt, konnte ihn Fichte nicht auf die Seite schieben und er konnte ihn auch nicht nur als – 207 –

einen Feind betrachten, vor dem er sich zurückzöge. Denn nur der Freie will und kann sittlich handeln, und Freiheit ist Macht, die die uns formenden Verhältnisse sich dienstbar zu machen weiß. Am vorhandenen Staat entstand freilich für Fichte die Verpflichtung zum unversöhnlichen Kampf. Er hieß den gegenwärtigen Zustand des Volks einen Notstand, ein Provisorium, das den sittlichen Ansprüchen nicht genügt. Den Gegensatz zu demselben bildet der Rechtsstaat. Das Recht ist diejenige Begrenzung der Freiheit des Einzelnen, die die Freiheit aller ermöglicht. Wir sind also am Recht und Staat durch unseren sittlichen Willen beteiligt. Denn die Freiheit ist das Unveräußerliche und Wesentliche an uns, weshalb es unmöglich ist, den Staat bloß passiv zu erleiden. Es ist unsere Pflicht, unsere Freiheit nicht durch Gewalt von außen beschränken zu lassen, ebenso sehr aber unsere Pflicht, sie so weit zu beschränken, daß die Selbständigkeit aller und damit die Gleichheit aller erreicht werden kann. Der Rechtsstaat steht also im Gegensatz nicht nur zur egoistischen Ausnützung des Staats als eines Privateigentums des Fürsten, sondern auch zur schlaffen Beruhigung beim gegebenen Rechtsstand, falls nur der Besitz gesichert ist, aber auch zu aller Anarchie, die die eigene Machtsphäre willkürlich erweitert. Aber auch der Rechtsstaat kann nicht als die bleibende Form der menschlichen Gemeinschaft gelten. Denn der Zwang, der am Recht haftet, steht mit der Freiheit immer im Widerspruch. Soweit Sittlichkeit vorhanden ist als freie Einigung mit dem Vernunftgesetz, wird der Zwang als Mittel zur Sicherung der Freiheit der anderen unnötig. Der vernünftige Wille anerkennt frei die Selbständigkeit der anderen. Die Bewegung, in die die fortschreitende Erkenntnis und Sittlichkeit den Staat zu versetzen hat, besteht also darin, daß der Staat überflüssig und das Recht unnötig wird. Das Ende ist, daß der Staat aufhört und in das Reich der Freiheit übergeht, welches das Reich Gottes ist. Damit ist Gleichheit zwischen den Menschen verwirklicht. Von den Faktoren, die die Ungleichheit erzeugen, Privateigentum und Ehe, hat Fichte im Urstaat 1813 gesagt, daß sie aufzuhören haben. Ebenso werden die Könige vor der fortschreitenden Erkenntnis verschwinden. Die Besorgnis, daß – 208 –

uns das Recht nötig bleibe zur Verhütung des Unrechts, wäre verkehrt. Denn mit der Gleichheit fällt der Anlaß zum Unrecht weg. Es wäre ein unrichtiger Satz, wenn wir Fichte wegen seiner Staatslehre als den Urheber des Sozialismus bezeichneten. Damit dieser entstehe, bedurfte es noch anderer Männer als Fichte, da dieser den natürlichen Prozessen keine Aufmerksamkeit und keine Pflege zuwandte. Sein Freiheitsbewußtsein zeigte ihm in den natürlichen Vorgängen nur den bildsamen Stoff, der sich dem Machtgebot der Vernunft ohne Widerstand füge, wenn nur der Wille die Vernünftigkeit und damit die sieghafte Überlegenheit über die Dinge erlangt habe. Wirksamen Sozialismus konnte es erst geben, als die natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens und der menschlichen Gemeinschaft ernst gewürdigt wurden. Gleichwohl ist es für die Kritik der kantischen Ethik belangreich, daß wir schon 1813 beim Verlangen nach einem Staat ohne Obrigkeit, ohne Privateigentum und ohne Ehe angelangt sind. Die Positivität des Geschichtslaufes macht sich wieder ergreifend sichtbar. Als Kant seine Vernunft mit ihren Formen erfand, hatte er keine Ahnung, daß er dem Sozialismus die Bahn bereitete. Der positive Grund, der hier den Zusammenhang herstellt, besteht darin, daß Kant mit der Freiheit den Begriff des Sollens verband. Es ist unsere Pflicht, die Abhängigkeitsverhältnisse zu zerbrechen, Willen zu haben, der unser eigener Wille ist. Daher entsteht das intensive Interesse am Staat, das weit über das hinausgeht, was das Humanitätsideal etwa Goethes oder Herders zuließ, aber auch weit über das, was die bisher erreichte christliche Ethik aufwies. Negativ, hemmend und blendend wirkte die kantische Ethik deshalb, weil sie die Liebe verwarf und darum zur Regelung des Handelns nur leere Formbegriffe verwenden konnte. »Freiheit« drückt aus, daß wir kausale Macht haben. Was diese kausale Macht hervorzubringen hat, bleibt schlechthin unbenennbar. Das Gesetz bleibt inhaltlos; ein Gutes, das wir zu wirken hätten, läßt sich nicht zeigen. Also stellt sich als sittliche Aufgabe einzig das dar, alle Abhängigkeitsverhältnisse aufzuheben in radikaler Gleichmacherei, die jeden auf sich selber stellt. Mit der Reue und der Liebe fällt der – 209 –

Dienst, fällt jede Einigung der vielen durch Unter- und Überordnung. Alle Vorgänge, die zwischen uns Verbundenheit herstellen, gelten hier als unsittlich. So ernsthaft Fichte den vernünftigen Staat schaffen will: er kennt ihn doch nur als Mittel für die Einzelnen, durch die allen Einzelnen dasselbe Recht verschafft wird. Die Sozietät ist das Mittel, das Ich in seiner absoluten Herrschermacht das Ziel der Vernunft. Das Mittel, durch das die fortschreitende Bewegung im Staat hervorgebracht wird, ist die Schule. Das war das, was Fichte in den napoleonischen Jahren aufrecht hielt. Unzerstört wird die Schule bleiben, mag alles zerfallen, und damit ist die fortschreitende Macht der Vernunft gesichert. Bisher hat nach Fichtes Urteil das Christentum das Interesse am Erkennen und an der Vernünftigkeit wach gehalten; der Respekt vor demselben schwinde; aber es gebe Surrogate für diese Minderung, die verhindern werden, daß sich die Völker nur den sinnlichen Trieben ergeben: der Leibarzt und der Finanzminister. Nie werden die Regenten auf diese beiden Funktionen verzichten. Der Leibarzt setzt Medizin und Naturwissenschaft, der Finanzminister Rationalökonomie und Technik voraus. Diese beiden werden die Universitäten und die Wissenschaft retten. »Die Staaten werden nicht genug Schulen haben können«, eine erfüllte Voraussagung. Aber genügt das, um wirklich die Vernunft zur Herrschaft zu bringen? Für den Optimismus Fichtes ja. Denn er kennt nur den Gegensatz, zwischen Denken und Nichtdenken, nicht innerhalb des Denkens einen Gegensatz zwischen wahren und finsteren Gedanken, zwischen erhellender und verwirrender Erkenntnis. Wenn es nur zur wissenschaftlichen Arbeit kommt, wird die Vernunft sich durchsetzen, und daß das Denken den Völkern nicht mehr verloren gehen kann, dafür sorgt zwar nicht mehr die Theologie, aber die Medizin und die Rationalökonomie. Weil das Menschsein identisch ist mit dem Vernünftigsein, so ergibt die Schule nicht nur die Bildung einer einzelnen Funktion, sondern sie ist die Bildnerin des Menschen. Das Erziehungsideal wird absolut: der Lehrer ist der einzige Herrscher, der einen unver– 210 –

gänglichen Beruf hat. Es entstehen zwei Stände: Denker und Arbeiter. Aber auch die Arbeiter sind zur Freiheit und Vernunft berufen. Fichte verlangt die Volksschule, nicht um Wissen zu verbreiten und Nutzen zu gewähren, sondern um den Menschen zu schaffen, der frei geworden ist. Daher bestimmt sich das Unterrichtsziel zunächst dahin, daß die Erhebung über die Sinnlichkeit, die Einsicht in die Realität der Vernunft, und damit die Freiheit in der Vernunft erlangt werde. Dadurch wird die Berufswahl als eine freie jedem ermöglicht, und dies zu erreichen, daß jeder seinen Beruf mit Vernunft und Freiheit wähle, ist das Ziel der Volksschule Es wird sich durch diese zeigen, bei wem die Denkfähigkeit vorhanden ist, die nicht nur aufnimmt, sondern selbständig forscht. Ist die letztere Fähigkeit vorhanden, so tritt der Mensch in den Lehrstand über und wird Glied der Gelehrtenrepublik. Ist sie nicht vorhanden, so wird er Arbeiter, und zwar in der Richtung, in der seine besondere Befähigung zur Naturbeherrschung liegt. Eben dies erkennbar zu machen, an welcher Stelle der Naturprozeß unserer Bearbeitung und Benutzung besonders offen ist, ist das Ziel der Volksschule. An dieser Stelle entstand der Patriotismus Fichtes. Zunächst ist er Kosmopolit. Völker sind nicht Vernunft-, sondern Naturgebilde. Was gehen sie den Ethiker an? Und doch hat Fichte in der Erweckung des Patriotismus durch die Reden an die deutsche Nation eine wichtige Stelle. Was ihn zu einer sittlich gearteten Verehrung für das deutsche Volkstum treibt, das ist die deutsche Schule, die deutsche Universität und Wissenschaft. Fichtes Religion ist Denken; darum gibt es auch nur ein religiöses Amt: Lehren, und diesen Beruf, zu denken und zu lehren, haben die Deutschen vor den anderen Völkern. Darum wird sein Gegensatz gegen Frankreich und Napoleon absolut. Sie zertreten die deutsche Wissenschaft, ein Verbrechen, ein schlechthin nicht sein Sollendes. Darum hat Fichte nicht nur den Patriotismus, sondern auch die unethische Verderbnis desselben erweckt, eine maßlose Selbstüberhebung, die für andere Völker nur Verachtung hat, unmittelbar im Zusammenhang mit seiner religiösen Grundstellung. Das Ich ist mit dem Absoluten eins, sofern es denkt; das macht den Professor – 211 –

zum allein berechtigten Herrscher, und mit dem deutschen Professor ist auch das deutsche Volk das allein berechtigte. Was wird nun in dieser Geschichte, die die Vernünftigkeit und Freiheit aller herbeiführt, aus dem C h r i s t e n t u m ? Fichte stellt ein Reformprogramm für dasselbe auf. Abzutun sind am Christentum folgende vier Punkte: 1. Die Christologie hat nur historische Bedeutung, keine religiöse. 2. Das auf Christus gestellte Glauben ist nicht mehr möglich, auch unnötig. 3. Das Wunder ist zu verneinen. 4. Die Rechtfertigungslehre ist erledigt und nicht mehr zu erneuern. Von J e s u s hat Fichte in seiner späteren Zeit anerkannt, daß er die normale Beziehung zwischen Gott und dem Menschen offenbart habe und daß dies geschichtlich die Ermöglichung unserer eigenen Religion geworden sei. In seiner ersten Periode mußte für die Frage, wie wir guten Willen erhalten, einfach der Freiheitsbegriff genügen. Der gute Wille ist causa sui; er springt hervor aus unserer produktiven Macht. Später trat er der Willensfrage näher und nimmt wahr, daß wir ein Bild des guten Willens nötig haben, das wir bejahen und mit uns einigen. Die Herstellung dieses Willensbildes nennt er das Wunder; darin offenbare sich die Providenz. Die Größe Jesu besteht nun darin, daß in ihm dieses Willensbild auftritt. Dort liegt die unmittelbare Geeintheit mit Gott vor. Allein wir sollen diese auch in uns realisieren und darauf, daß wir selbst in die Freiheit treten, die mit der Herrschaft des Vernunftgesetzes in uns identisch ist, kommt alles an. Das dazu erforderliche Willensbild können uns aber auch andere liefern, und warum soll es weniger wirksam, weniger heilsam sein, wenn uns die Gottessohnschaft statt an Jesus an anderen sichtbar wird? Jedenfalls brauchen wir, um das religiöse Ziel zu erreichen, nicht auch noch die Kenntnis seiner geschichtlichen Vermittlung. Damit ist bereits gegeben, daß ein a u f C h r i s t u s g e r i c h t e t e s G l a u b e n keinen Grund mehr hat. Geschichtlich sei es freilich so gewesen, daß die religiöse Wirkung Jesu durch den Glauben an ihn begründet gewesen sei, da der Eintritt der Jüngerschaft Jesu in seinen religiösen Besitz zunächst so zustande kam, daß sie – 212 –

ihr Vertrauen an ihn hefteten. Da aber die Gottessohnschaft Jesu in uns selber sich wiederholen und zu unserem eigenen Erlebnis werden muß und ein Geben Jesu uns gegenüber ausgeschlossen ist, schon dadurch, daß die Vermittlung seiner Wirkung nur durch den geschichtlichen Zusammenhang erfolgen kann, also nie das innere Erlebnis unmittelbar berührt, in dem doch allein der religiöse Besitz bestehen kann, so fehlt für den auf Christus gestellten Glauben die Voraussetzung. Das W u n d e r war schon seit der Aufklärung stark in die Debatte hineingezogen, zunächst jedoch vom philosophischen Standpunkt aus, auf dem sich die Wunderfrage immer nur einseitig der Beurteilung darbietet. Fichtes Protest erfolgt nicht vom Naturbegriff aus, sondern aus religiösen Motiven, und dadurch wird die Verneinung des Wunders erst vollendet, wenn es nicht nur von naturwissenschaftlichen Erwägungen aus, sondern wegen seiner religiösen Zweckwidrigkeit abgelehnt wird. Für Fichte ist das Wunder nicht annehmbar, weil im Bereich der Religion für den sinnlichen Menschen überhaupt nichts zu verlangen ist. Eben darin, daß mit dem Wunderbegriff Gott für die natürlichen, sinnlichen Interessen verwendet werden soll, liege das Heidnische am Wunder. Jesus Stellung zum Wunder sei daraus zu begreifen, daß er auf der Wende der Zeiten stand. Er besitze die sittliche Geeintheit mit Gott; daraus entstehe die Ablehnung des Zeichens; er sei aber noch von der vorchristlichen Tradition abhängig; daher entstehe der Anspruch, Wunder zu erleben und zu tun. Die R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e sei das geschichtlich unentbehrliche Mittel zur Einführung des Christentums gewesen, weil die vorchristlichen Religionen Gott gegenüber ein Bewußtsein der Geschiedenheit und Feindschaft gehabt hätten. Dies überwunden zu haben bilde die Tat Jesu und den Erfolg des Christentums. Dieser Erfolg sei aber erreicht und die Störungen im vorchristlichen Gottesbewußtsein getilgt. Wir hätten nun die Gewißheit der göttlichen Liebe, der Verbundenheit Gottes mit uns. Die Rechtfertigungslehre habe damit ihre Erledigung gefunden, sie habe sich selbst überflüssig gemacht. – 213 –

Daran schließt sich Fichtes P o l e m i k g e g e n d e n P i e t i s m u s . Dieser wolle die Rechtfertigungslehre mit seiner Bekehrungspredigt konservieren, verderbe sie aber dadurch, daß er sie auf die sittlichen Vorgänge hinüberlege. Sie sei nur als Überwindung der religiösen Mißbildungen berechtigt. Werde die sittliche Aufgabe in die Rechtfertigungslehre eingemengt, so entstehe sowohl ein religiöses als ein sittliches Zerrbild, jenes, weil wir künstlich in die vorschriftliche Stufe zurückgestoßen würden; der Pietismus mache uns zuerst zu Heiden, damit er uns bekehren könne; dieses, weil nun als Gottes Leistung aufgefaßt werde, was die Tat unserer Freiheit sei. Gutes Wollen könnten wir nur dadurch haben, daß wir in unserer Freiheitsbetätigung das Gute wollten. Hier einen Rechtfertigungsakt Gottes als den produktiven Faktor einzuschieben verderbe die Sittlichkeit. Damit ist bestimmt, was als Christentum bleiben kann: die Grundidee desselben ist das R e i c h G o t t e s . Das ergibt für die Wissensgestalt der einzelnen Persönlichkeit die Gotteskindschaft. Erlangt wird sie durch die Preisgabe des sinnlichen Willens und die Einigung des Willens mit dem Sittengesetz, also durch den Aufgang der Freiheit, die zugleich unser Einssein mit Gott ist. Der mit Geschichtskunde Ausgestattete kann sich dabei verdeutlichen, daß historisch sein guter Wille auf Jesus zurückgeht. Festzuhalten ist auch der Kern in der Eschatologie Jesu, freilich so, daß das wunderbare Element in derselben zu streichen ist. Es ist jedoch zwischen zwei Perioden im Christentum zu unterscheiden, zwischen der, in der es nur als Lehre existiert und wirkt, und der, in der es als Macht wirkt, Tat schaffend und daher den Staat bildend. Diese ist noch Zukunft, und wir können sie das Kommen Christi in Macht heißen. Die Wandlung in der Eschatologie gegenüber der Unsterblichkeitslehre der Aufklärung ist keineswegs zufällig. Der Vernunft, die über der Wirklichkeit eine aus Abstraktionen komponierte Metaphysik schafft, entspricht ein Hoffen, das ins Jenseits fährt und dabei völlig individualistisch bleibt. Dem konstruktiven Denken Fichtes dagegen, das eine jetzt Gehorsam heischende und Tat erzeugende Ethik schafft, entspricht eine Eschatologie, zu der die – 214 –

Geschichte hinstrebt als zu ihrem Ziel und in der die Menschheit als Sozietät gedacht ihre Vollendung gewinnt. Weil sich die Ziele, die Fichtes Programm ausspricht, aus der kantischen Frömmigkeit mit Notwendigkeit ergaben, schlugen alle Formen der von ihr beeinflußten Frömmigkeit und Theologie diese Richtung ein, auch wenn sie ihr Programm nicht mit derselben Entschlossenheit und Deutlichkeit durchführten, wie es Fichte tat. Da das vom Neuen Testament begründete Christentum daneben fortbestand, so gab es seither im deutschen Protestantismus zwei Formen von Christentum, neben dem Glauben an die königliche Sendung Jesu eine Verehrung Jesu, die den auf ihn gerichteten Glauben als unmöglich ablehnt, und neben derjenigen Gewißheit Gottes, die durch Bekehrung und Rechtfertigung entsteht, eine Gotteskindschaft, die die Reue nicht kennt und daher keiner Rechtfertigung bedarf. Daß die Philosophen die Väter und Führer der neuen Frömmigkeit waren, gab ihr an den Universitäten und in der Literatur einen kräftigen Vorsprung, so daß sie allein das Merkmal der Wissenschaftlichkeit erhielt, während die ursprüngliche Form des Christentums von nun an als Reaktion erschien. Für die innere Geschichte Deutschlands kam dieser Spaltung im religiösen Unterricht eine ernste Bedeutung zu.

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16. Schelling Seine Geschichte ist insofern tragisch verlaufen, weil sie ihn zum Gegenstand des öffentlichen Mitleides gemacht hat. Er hat zwei Philosophien nacheinander in sich ausgebildet; die Wende bezeichnen die philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 1809. Diese Bewegung gilt der öffentlichen Meinung als ein Sinken. Sogar Eucken hat für sie ein mitleidiges Bedauern, und vollends Titularphilosophen etwa von der Art Überwegs redeten von Mystizismus und Theologie, natürlich unauslöschlichen Schandflecken. Das tragische Moment, das an seiner inneren Geschichte allerdings hängt, haftet aber nicht an Schellings persönlichem Verhalten, sondern am Kantianismus. Stellen wir uns auf Schellings Standpunkt, so bezeichnet seine Bewegung keineswegs eine Verdummung oder ein sittliches Sinken, sondern ist innerlich begründet. Schelling ist unter den Kantianern der N a t u r p h i l o s o p h . Dabei wirken auch andere Faktoren als Kant mit, z.B. Goethe und die Romantik. Aber die Frage, wie die Natur zu verstehen sei, war durch die kantische Prämisse in aller Schärfe gestellt. Es war unmöglich, es einfach bei der Antwort zu lassen: die Natur sei das Nicht-Ich, freilich eine Kinderwahrheit, darum aber unmöglich das letzte Wort der Philosophie. Auch die teleologische Reflexion, sie sei der Stoff zu unserer Sittlichkeit, machte die Naturphilosophie nicht überflüssig. Gesetzt, wir hätten damit ausreichend begriffen, wozu die Natur da sei, so wüßten wir damit noch nicht, was sie sei. Indem Schelling der Natur sich zuwendet als dem der Vernunft gegenüberstehenden Anderen, verändert sich sofort sein Gottesgedanke. Dieser stellt sich über diesen Gegensatz als der Grund beider Hälften desselben, als die Indifferenz beider. Das Absolute – 216 –

ist weder Vernunft noch Natur, sondern das Eine, das beides hervorbringt. Die Aufgabe für unsere Erkenntnis besteht nun darin, die Bezogenheit der Natur auf die Vernunft, der Vernunft auf die Natur darzutun. Nun ist hierfür ein doppelter Ausgangspunkt möglich. Wir können vom Intellekt ausgehen oder vom Willen. Jenes ergibt die erste, dieses die zweite Periode Schellings. Dort kommt es an auf die Intelligibilität der Natur; sie ist durch das Intelligible an ihr die Erscheinung des Absoluten und mit der Vernunft verbunden. Hier kommt es an auf den Bildungstrieb in der Natur, dem unser Wollen entspricht als das, was uns mit der Natur zusammenbindet und in dem das Absolute erscheint. Diese Schwankung: was soll die Basis der Konstruktion sein, Intellekt oder Wille? war für den Kantianismus nicht vermeidbar. Sie sitzt schon in den beiden »Vernunften« Kants. Sie liegt wieder grell vor im Verhältnis Schleiermachers zu Fichte, da jener bei aller Anlehnung an Fichte die Freiheitslehre streicht, ebenso im Verhältnis Herbarts zu Schopenhauer, da jener den Willen auf das Vorstellen reduziert, dieser den Willen als die primäre Potenz bejaht. Daß hier eine Schwankung eintritt und die Qual der Wahl sich beständig hervordrängt, hängt am konstruktiven Verfahren. Man kann nicht den Menschen in seiner gegebenen Lebensgestalt lassen, so daß etwa eine Mehrheit von Funktionen anerkannt würde. Das ergäbe keine Konstruktion, kein genetisches Nachbilden des Menschen und des Alls. Wir brauchen dazu eine Urzelle, ein Urvermögen, aus dem alles wird. Und nun entsteht die Schwankung: was ist es nun? entsteht die Natur durch einen Denkprozeß oder durch einen Willensvorgang? Und es bedeutet durchaus keinen Niedergang, wenn Schelling vom Versuch, die Natur als eine Art Denkvorgang zu deuten, zum Willensvorgang hinüberging. Er hat in beiden Perioden Anschluß an Vorbilder gesucht, in der ersten an Plato, in der zweiten an Jakob Böhme. Durch diesen Wechsel in den Meistern hat er den öffentlichen Spott auf sich genommen. Statt des Hellenen, des Künstlers ohnegleichen, den ungebildeten Schufter, der nicht einmal mit der Sprache zurecht– 217 –

kommt, geschweige denn mit seinen Gedanken, sich zum Führer zu wählen – welch eine Narrheit! Der Spott ist unbegründet. Neben dem platonisch-aristotelischen Naturbild und neben dem von Galilei vorbereiteten und von den Cartesianern verbreiteten erscheint in Böhmes Vorstellung ein drittes Naturbild, das keineswegs von vornherein gegen jene anderen im Nachteil ist. Die Sokratiker denken sich die Natur als das Gebilde der Denkkraft, die ein System von Typen, von Artbegriffen, von allgemeinen Vorstellungen in sich hat. Indem diese mit der Materie sich einen, entstehe die Natur. Damit ist das Intelligible an ihr als ihre mit uns verwandte und für uns offene Seite ergriffen. Die Cartesianer arbeiten mit der Figuren formenden und Maße setzenden mathematischen Phantasie. Auch damit ist eine bestimmte Funktion des Intellekts als das Prinzip der Natur bejaht. Auch Böhme war vom Geheimnis der Natur innerlich ergriffen und rang mit der Frage, wie Natur aus Gott entstehe und wie sie darum mit unserem eigenen Leben vereint sein könne. Auch er kann wie alle, wie Plato, wie Cartesius, nur dem eigenen Lebensprozeß die Vorstellung entnehmen, durch die er die Natur sich deutet. Nun verdeutlicht er sich, daß wir in unserem Willen etwas haben, was vor dem Denken und Wählen steht, ein Unterpersönliches, das doch unabtrennbar ist vom Persönlichen in uns. Das ist die primäre Begehrung in ihrer Unmittelbarkeit, nach seiner Terminologie »die Sucht«, noch nicht Wille, denn hier wird noch nicht gedacht, noch nicht ein bestimmter Zweck geformt, aber Bedingung alles Wollens und Wirkens, so daß der innere Prozeß dadurch geschieht, daß in die Sucht das Licht der Idee fällt und nun der vollendete Wille entsteht. Werde das Willensbild durchgedacht, dann hätten wir das Gottesbild, die Enthüllung der inneren Lebendigkeit Gottes, und sähen auch die Stelle, wo aus Gott die Natur und aus der Natur wir entstehen; denn die Natur sei Sucht. Die Reduktionen der Natur auf den Intellekt sind bestimmt durch das Überlegenheitsbewußtsein des Forschers. Als das Höhere steht der Mensch als Denker über der nur Gedachtes aufzeigenden Natur. Aber das ist jedenfalls nur die halbe Wahrheit; ein Abhän– 218 –

gigkeitsverhältnis besteht hier. Wir sind selbst Gebilde der Natur. Und nach dieser Seite zielt die These, daß das, was Naturkraft sei, im Trieb sich enthülle, nun freilich so, daß in uns die Natur die Mutter des Geistes wird, weil wir nicht nur Trieb haben, sondern denkenden Trieb, d.h. vollendeten Willen. Eine ernste Beschäftigung mit der Natur wird aber immer darauf weisen, daß wir sie nicht nur unter uns sehen, sondern uns in ihr wahrnehmen und sie in uns finden. Und dann ist die Bearbeitung des Böhmeschen Gesichtspunktes, wenn überhaupt spekuliert werden soll und das Ideal einer absoluten Wissenschaft als gültig ergriffen wird, keineswegs Torheit. Unsere heutige Naturwissenschaft mit ihren »Kräften« ist jedenfalls näher bei Böhmes Sucht als bei Platos Idee. Darin, daß Schelling an der Erneuerung älterer Gedankengänge seine Freude hat, spielt die R o m a n t i k mit. Schon die erste platonisierende Gedankenreihe bildet zur Aufklärung einen scharfen Kontrast. Sie begann ja mit der Ausstoßung der aristotelischen Physik, mit der Verbannung der Formen und Ideen aus der Naturlehre. Nun bringt sie Schelling wieder. Ebenso hebt er den verachteten Böhme, der bisher nur im Pietismus, soweit er mystisch gerichtet war, geehrt war, ans Licht. Los von der Vergangenheit wollte die Aufklärung eine nagelneue Zukunft bauen; mit der Romantik kommt der Gegenstoß. Der hinter uns liegende Teil der Geschichte sei viel reicher als die öde Gegenwart. Um für diese Inhalt zu gewinnen, müßten wir uns füllen mit der phantasievoll rekonstruierten Vergangenheit. Aber es wirken bei Schelling doch keineswegs nur literarische Vorbilder oder ästhetische Motive mit, sondern ein aus der Grundthese sich ergebendes Motiv: das Absolute wird ja in uns offenbar. Es muß uns mit dem All verbinden, auch mit dem Denken der früheren Generationen, mit dem Denken namentlich der Heroen, die in sich ein Neues empfingen und darum der Menschheit ihre Gedanken gaben. Für die erste Zeit, in der Schelling mit den intellektuellen Kategorien arbeitet, ist bezeichnend, daß er die »i n t e l l e k t u e l l e A n s c h a u u n g« einführt. Daß wir die Einheit von Natur und Geist sehen, also das Absolute wahrnehmen, das die beiden Glie– 219 –

der des Gegensatzes aus sich heraussetzt, das ist eine intellektuelle Anschauung. Aber auch die Ideen, die Besonderungen, in die doch die Totalität sich hineinlegt, so daß das Besondere im Allgemeinen, das Allgemeine im Besonderen ist, entstehen durch intellektuelle Anschauung. Auf eine abstrakte Kategorientafel sind die Gebilde der Natur nicht reduzierbar und mit der in der Empirie uns vermittelten Anschauung kann Schelling nicht auskommen, weil dadurch der Apriorismus aufgegeben wäre. Darum gelten die Sinne als unzulänglich, deren Funktion dadurch bedingt ist, daß die Natur existiert, während dieses höhere Anschauen des Intellekts die Natur produziert. Verwandt mit dem Begriff »Idee« ist der Begriff »Organismus«, der von Schelling aus eine außerordentliche Beliebtheit erhalten hat. Er belegt im Unterschied vom [sic] Aggregat anschaulich das Intelligible in der Natur. In der Vereinigung der Vielen, die ein Eigenleben haben, zu einem Ganzen, das durch die Tätigkeit aller seiner Glieder einen jedes einzelne weit überragenden Effekt erzielt, offenbart sich ein Gedanke. Schelling hat den Begriff auch auf den Staat angewendet und dadurch die Sozietät und die Einzelnen miteinander ins Gleichgewicht gebracht. Besonderen Nachdruck legt er auf die Kunst als auf das offenkundige Dokument der Verbindbarkeit von Natur und Geist. Sie leiste in dieser Hinsicht noch mehr als die Wissenschaft, die doch immer im Gegensatz von Realem und Idealem verharre. In der Kunst dagegen werde das Absolute offenbar wie nirgends sonst. Was über dem Naturprozeß als Erscheinung der Vernunft steht, faßt Schelling in den Begriff »Geschichte« zusammen. Er bahnt die Einteilung unseres Wissens an a) in Naturwissenschaft, b) in Geschichtswissenschaft, so daß Natur- und Geschichtsphilosophie zusammen den Ertrag unseres Erkennens und die Offenbarung des Absoluten bilden. Er faßt damit das Innenleben des Menschen von derjenigen Seite, nach der es der Natur zugekehrt und mit ihr verbunden ist. Im Zusammenwirken ungezählter Agenten vollzieht sich die Geschichte analog dem Naturprozeß, beherrscht durch Gesetze analog den Naturgesetzen. Die Aufgabe des Philosophen – 220 –

hierbei ist, Perioden zu erkennen, wie er in der Natur Ideen zu sehen hat, und diese Perioden werden sich als Stufenbau zu einer Entwicklung aneinanderfügen. Nach der Weise Schellings in dieser ersten Zeit wirft er den Gedanken hin: die Geschichte verlaufe in drei Perioden, der des Fatums, des Schicksals, der Providenz. Die des Fatums bringt das menschliche Leben zur reichsten Blüte, doch so, daß sich die absolute Macht, die den Geschichtslauf gestaltet, ihm widersetzt und es zerbricht. So entsteht daraus die Periode des Schicksals, in der das menschliche Handeln durch seine von außen ihm gesetzten Bedingungen beherrscht ist und in der Unterwürfigkeit gegen diese geschieht. Darüber erhebt sich die Periode der Providenz, in der die äußeren und inneren Bedingungen des Handelns zusammenstimmen und jene diese begründen und dem menschlichen Wirken das Gelingen geben. Der Gedanke kann als Beispiel dienen für die Kühnheit dieser von Schelling sorglos ausgestreuten und unfertig gelassenen Gedankenkeime. Die Aufklärung kannte nur ein einziges und permanentes Kausalverhältnis zwischen Gott und dem Menschen. Etwa wie das Nordlicht seine Strahlen emporschießt, wirft der Leibnizsche Gott die Monaden aus sich heraus. Stattdessen nimmt Schelling wahr, daß der Mensch in innerlich verschiedenen kausalen Relationen zu Gott stehen kann: er kann ihn wider sich haben (Fatum), über sich haben (Schicksal), für sich haben (Providenz). Aber mit diesem Gedanken wäre nun eine unermeßliche Aufgabe gesetzt gewesen, wenn am konkreten Geschehen aufgezeigt werden soll, wie diese dreifache Aktion Gottes im menschlichen Geschichtslauf hervortritt und diesen bestimmt. Schelling beharrt aber bei seinen Gedanken nicht, sondern begnügt sich, einen solchen Entwurf hinzuwerfen, ohne daß die spekulierende Ahnung in ein konkretes Wahrnehmen emporgeführt würde. In der Abhandlung über das akademische Studium sagt er besonders dem Theologen, daß sein Standort der der Geschichte sei. Er meint damit nicht, daß sich die Theologie bloß auf Geschichtserzählung reduzieren lasse, als dürfte der neutestamentliche Theologe nur registrieren, was ihm seine Quellen sagen, oder der Dogmatiker sich in den Dogmenhistoriker verwandeln, der bloß zu berichten – 221 –

hat, was einst Dogma gewesen sei. Für Schelling geht die Wissenschaft immer vom Absoluten aus. Wohl aber sei dem Theologen sein besonderer Standpunkt dadurch gegeben, daß er den Weltprozeß als Geschichte, nicht als natürliches Ereignis auffasse, weil er ihn aus dem Willen ableitet. Die Schöpfung gilt ihm als die Tat des Schöpfers und ihre Vollendung erfolgt durch seine Tat. Es hat sich mit dieser Betonung der Geschichte eine Verschiebung des religiösen Gedankengangs verbunden, weil sich die Beobachtung nun nicht auf die Persönlichkeiten, sondern auf die als geschichtliche Macht heraustretenden Gesamtwirkungen richtet. Schelling redet über das »C h r i s t e n t u m«. Sein Unterschied von [sic] Fichte ist in dieser Hinsicht lehrreich. Fichtes Frömmigkeit entsteht vom Christus aus; der inwendige Besitz Jesu, daß er in der Verbundenheit mit Gott stand, verschafft ihm jenes Willensbild, in dessen Herstellung er das »Wunder der Providenz« verehrt. Schelling leitet eine Theologie ein, deren Kernfrage die nach dem »Wesen des Christentums« ist. Jesus wird neben dem ins Große greifenden geschichtlichen Prozeß nebensächlich. Was wissen wir überhaupt von ihm? In den Vorlesungen über das akademische Studium sagte Schelling: der größte Teil der Evangelien seien jüdische Fabeln, die dazu konstruiert seien, um den Weissagungsbeweis zu leisten. Er hat bereits das Thema für das Straußsche Leben Jesu aufgestellt. Parallel damit ist ein negatives Urteil über die Reformation. Richtet sich das Interesse überwiegend auf die großen geschichtlichen Gesamtwirkungen, so tritt Luther zurück. Was ihn auszeichnet, ist der innerliche religiöse Vorgang, sein die Persönlichkeit inwendig Gott zuwendendes Erlebnis. Dafür hat Schelling kein Auge, und so stellt sich ihm die Reformation als ein religiöser Rückschritt und Niedergang dar. Sie habe uns eine schlimmere Knechtschaft gebracht, als sie früher war, die bloße Buchreligion, eine unwürdigere und drückendere Abhängigkeit als die, die das vorreformatorische Christentum der Kirche gegenüber pflegte. Diese negativen Urteile über das Urchristentum und die Reformation haben zum endlichen Niedergang der kantischen Spekulation ihren wirksamen Beitrag geliefert. Sie leitete den Menschen – 222 –

an, sich in unmittelbarer Einheit mit dem Absoluten zu wissen. Nun hatten aber die Völker bisher Jesus als den verehrt, der in der Einheit mit Gott lebte, so daß sich Gott in ihm offenbare. Damit war es nichts und Jesus verschwand hinter dem Mythus. War es nun noch glaublich, daß das Absolute in Schelling rede, daß es sich in uns offenbare? Es war eine unglaubliche Zumutung, daß an die Stelle der Offenbarung Gottes in Jesus diejenige in uns zu treten habe. Und wenn die Reformation ein Unglück war, war denn die Philosophie ein Glück? Hinter diesen negativen Urteilen steht eine pessimistische Geschichtsbetrachtung und sie haben mit dazu beigetragen, daß das letzte Wort im Kreise der Kantianer an Schopenhauer kam und dieser über alle anderen die Obmacht behielt. Ob der Pessimismus vom kantischen Standort aus abzuwehren sei oder nicht, das ist auch das tiefe Interesse, das an derjenigen Arbeit Schellings haftet, die mit den Untersuchungen über die Freiheit 1809 beginnt. Er geht damit zu der Frage hinüber, ob sich der kantische Standpunkt auch am W i l l e n s v o r g a n g bewähre. Sie mußte angefaßt werden und ihre Lösung war für das System eine Lebensfrage. So verständlich es ist, daß zunächst der Intellekt an unserem Innenleben als derjenige Vorgang erschien, der die Offenbarung des Absoluten sei, da ja schon der einfachste intellektuelle Vorgang, z.B. jeder Sehakt, die tiefste Bewunderung begründet, während unsere Willensleistung daneben als klein und armselig erscheinen kann: auf die Dauer ließ sich der Willensvorgang dennoch nicht ignorieren. Wir sind Woller, und wenn wir die Erscheinung des Absoluten sind, muß dies auch an unserem Willen aufgezeigt werden. Schelling faßte nun diese Aufgabe an. Die spannende, hoch bedeutsame Frage war dabei die: läßt sich das menschliche Wollen als Erscheinung des Absoluten, als Teil des göttlichen Lebens, als Abdruck und Offenbarung des Willens Gottes verstehen? Hier begegnet uns der Gegensatz von gut und böse [sic] und damit die Alternative: entweder wird das Böse als wirklich anerkannt, dann zerbricht die Einheit des Ichs mit dem Absoluten; oder die sittliche Antithese wird kassiert; dann haben wir den Pessimismus. Denn dann wird unser schlechtes Wollen divinisiert, – 223 –

das Böse zur Offenbarung Gottes gemacht und dem Weltschöpfer werden diabolische Züge gegeben. Schelling hat dieser Alternative auszuweichen und sie zu überwinden versucht. Er will beides; er hält den kantischen Standpunkt fest: auch unser Wollen ist die Enthüllung des göttlichen Lebens, ja es ist dessen tiefste Offenbarung. Wir haben an unserem Wollen das Reale vor uns, das, was Natur und Geschichte erzeugt, und dürfen die Gleichung zwischen unserem Lebensakt und der göttlichen Lebendigkeit vollziehen. Aber gleichzeitig bleibt der sittliche Gegensatz gültig, ja gerade in der Erzeugung und Überwindung dieses Gegensatzes besteht die Offenbarung Gottes. Hätte Schelling eine führende Stellung im deutschen Denken erlangt, so wäre diesem der Pessimismus erspart worden. Damit, daß dies unmöglich war und Schellings Versuch insofern scheiterte, als er vom öffentlichen Stand unseres Denkens und Wollens abgestoßen wurde, war gegeben, daß den Deutschen der Pessimismus nicht erspart werden konnte. Das ist das tragische Moment in Schellings Geschichte. Er verdeutlicht sich den Willensvorgang. Vor demselben steht ein Unnennbares. Unser Bewußtsein ist begrenzt und gibt uns durch seine Begrenzung nur noch das Wissen, daß ein Etwas unter demselben steht, ein Unsagbares, der Urgrund. Aus ihm steigt das Wollen auf, das in drei Potenzen geschieht, in trinitarischer Gestaltung. Zuerst erscheint das Wollen als Sehnsucht, noch nicht geformt durch einen Zweckgedanken, als ein Streben, Begehren, Suchen, das in Bewegung ist, aber noch im Dunkeln bleibt. Darüber steht der besonnene Wille, derjenige, der ein Auge hat, der wählt und gestaltet mit Zwecke setzender Energie. Aber beide bleiben nicht neben einander unverbunden. Der wählende Wille und die Sehnsucht einen sich und ergeben dadurch die dritte Potenz des Willens, den vollendeten Willen, der die Strebekraft der Sehnsucht und die Besonnenheit des Gewählthabens gleichzeitig und einheitlich in sich faßt. Aber die dadurch entstandene Zweiheit von Urgrund und Willen bleibt auch ihrerseits keine Geschiedenheit. Die Einigung geschieht, und mit ihr ist die Person vorhanden, in der Wille und – 224 –

Urgrund verbunden sind. In Gott entsteht durch die drei Potenzen des Willens die dreifache Personalität. Schelling gibt eine spekulative Ableitung der Trinität. In Gott ist die Zeitlichkeit mit ihrer Trennung der einzelnen Akte und Potenzen nicht vorhanden; sie ist nur unser Merkmal. Was das Erste ist, ist in ihm auch das Letzte, der Urgrund nicht früher als die Person, sondern eins im anderen in vollendeter Koexistenz. Darum sind in Gott die den Willen bildenden Potenzen schlechthin geeint; im Menschen dagegen ist das Einheitsband zwischen den Willenspotenzen lösbar, und nicht nur dies: es ist gelöst, und die vor dem besonnenen Willen stehende Begehrung hat ein Eigenleben erhalten und diese zum eigenen Sein und Wirken gelangende Sucht ist das Böse, das freilich eine Realität ist und nicht ignoriert ober wegerklärt werden kann. Ist nun noch die unmittelbare Geeintheit unseres Innenlebens mit Gott haltbar oder bedeutet der Fall, daß wir aus jener herausgetreten sind? Schelling hält an der These der Kantianer fest: auch diese Erregung der ersten Gestalt des Willens ist Gottes Akt, der sich nicht offenbaren kann, wenn nicht die in ihm geeinten Potenzen in ihrer Spannung sichtbar werden. Wir wüßten nicht, was Wille und was Gottes Wille sei, wenn nicht die Entzweiung in uns gewirkt wäre, die die Willenspotenzen auseinanderreißt. Damit ist aber zugleich gegeben, daß nicht wir schon in unserem gegebenen Lebensmaß die ganze Erscheinung des göttlichen Willens und Lebens sind. Nun ist die Offenbarung in ihrer Notwendigkeit erkannt, und zwar nicht nur Mythologie, als Bildung eines Menschheitsideals jenseits der Not und Enge der Geschichte, sondern die Notwendigkeit des Christus, weil sich in ihm nun der geeinte, vollendete Wille Gottes offenbart, in dem die Erlösung von der für sich schlechten Willensgestalt gegeben ist. Bisher haben nicht die einzelnen Vorstellungen, aus denen Schelling seine Christologie bildete, geschichtliche Wirksamkeit erlangt, wenn auch die schließliche Wendung seines Denkens für den Ausgang des Kantianismus nicht ohne Wirkung blieb. Er hat – 225 –

Unmögliches versucht: die Bewahrung der sittlichen Kategorien und das Verschmelzungsgefühl mit Gott lassen sich nicht einen. Hier gibt es nur eine Wahl. Indem er die beiden Glieder der Antithese gleichzeitig zu umspannen versuchte, wurde sein Gedanke notwendig »esoterisch«; er verlor die Gemeinschaft stiftende Macht. Er bemüht sich, dem Gewissensvorgang gerecht zu werden; aber deutet er ihn richtig, wenn er jenes falsche Leben einer Sucht, die im Streit mit dem höheren Willen liegt, auf die Aktion Gottes zurückführt und in sein ihn offenbarendes Wirken einschließt? Ist damit das totale Nein, das wir unserem bösen Willen schulden, noch bewahrt? Und ist die Liebe verstanden, wenn Schelling die alle Potenzen in Eintracht verbindende Vollendung des Willens in Gott seine Liebe heißt? Ist sie nicht etwas anderes als das Einheitsband der in uns selbst liegenden Potenzen? Entsteht sie anderswo als in der Relation eines Ich zum Du? Wie die Reue, so erfordert auch die Liebe die Preisgabe der Verschmelzungsversuche mit Gott und hebt die Grundthese der Kantianer auf. Es ist aber Schelling gegenüber anzuerkennen, daß er so nahe an das Verständnis des Christus herangekommen ist, als dies ohne Aufgabe der kantischen These möglich ist.

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17. Franz Baader Von 1806–1813 war Schelling mit Baader in München befreundet, und er erwähnt ihn auch in den Untersuchungen über die Freiheit 1809 mehrmals mit Dank. Diese Freundschaft hat, auch wenn wir auf Prioritätsfragen, die ohnehin überwiegend in den Bereich der wissenschaftlichen Eitelkeit gehören, nicht eintreten, zweifellos dazu mitgewirkt, daß Schelling ernstlich in seine neue Bahn trat und in ihr verblieb. Es ist für das historische Bild nützlich, an Baader zu erinnern, weil uns damit ein für die Geschichte des letzten Jahrhunderts wesentlicher Vorgang näher tritt: das Erstarken des Katholizismus. Die Aufklärung und der Kantianismus haben nach dieser Seite hin verschieden gewirkt. Die Aufklärung hat den Katholizismus, soweit sie in ihn eindrang, geschwächt. Jene französischen Geistlichen, die in der Nationalversammlung saßen, waren wohl aufgeklärt, aber keine Stützen des Katholizismus Der Kantianismus ist dagegen zwar bei weitem nicht der einzige, aber immerhin ein mitwirkender Faktor, der für den Katholizismus positive Erträge herstellt und an seiner Belebung mitwirkt. Als 70jähriger Mann schrieb Franz Baader 1835 eine Abhandlung »über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht aus dem Standpunkt des Rechts betrachtet.« Er tut dort dar, daß dieses Mißverhältnis dadurch eingetreten sei, daß nach der Aufhebung der früheren Hörigkeit nichts an ihre Stelle getreten sei als die formale Gleichheit vor dem Gesetz. Mit dieser Freiheit und Gleichheit sei der Arbeiter dem Lohndruck hilflos preisgegeben, und in seiner Vereinzelung könne er ihm nicht – 227 –

widerstehen. Das dadurch entstehende Mißverhältnis werde Erschütterungen erzeugen, neben denen die früheren Revolutionen als kleine Bewegungen verschwinden. Die Abhilfe könne weder bloß durch Wohltätigkeit noch bloß durch Polizeigewalt erreicht werden, sondern bestehe darin, daß der Staat selbst und freiwillig die Arbeiter in Assoziationen vereinige und dadurch dem Staat eingliedere und ihnen auch eine eigene Vertretung gegenüber den regierenden Instanzen gewähre. Damit geschehe den Arbeitern nur ihr Recht. Hierbei ergebe sich auch ein Beruf für die Kirche, da die Arbeiter der Beratung bedürfen, jetzt aber in den Händen von Demagogen seien. Der gegebene Berater für die Arbeiter sei der Priester. Darin bestehe diejenige Erneuerung der kirchlichen Diakonie, die durch die gegenwärtige Lage gefordert sei. Er macht sich die Einrede: die Assoziation der Proletarier sei gefährlich, weil sie ihre Macht stärke. Seine Antwort ist: sie vereinigen sich ohnehin, wenn nicht durch den Staat, dann gegen den Staat. Er wirft sich weiter ein: die Mitwirkung der Priester bei den Arbeiter-Korporationen sei gefährlich. Er antwortet: die Arbeiter leiden nicht nur an Brotmangel, sondern darben auch intellektuell. Sie leiden durch das irreligiöse Wissen der Zeit. 1835 – schwerlich wird jemand die Jahreszahl dieser Abhandlung ohne tiefgehende Empfindungen erwägen. Noch reichlich ein Jahrzehnt trennt sie von 1848; wir stehen vor der Propaganda Lassalles, vor Marx. Es läßt sich nicht berechnen, was erreichbar gewesen wäre, wenn auch unsere protestantischen Theologen ebenso die Augen offen gehabt hätten, wenn z.B. Schleiermacher etwas anderes verstanden hätte, als »Vernunft in Natur und Natur in Vernunft« umzusetzen! Baaders Darlegung ist nicht völlig unwirksam geblieben, wenn sie auch nur langsam zu geschichtlicher Wirksamkeit heranreifte. Spät, in vieler Hinsicht zu spät erwachten auch andere, sei es durch die Liebe geweckt, sei es durch den geängstigten Egoismus, dem die Not fühlbar ward. Was gab Baader schon 1835 den Mut, für die Arbeiter vom Staat die Vereinigung in Körperschaften als seine Pflicht zu fordern? Und worauf beruht in dieser Richtung sein an die Kirche gerichtetes – 228 –

Postulat? Und wie ist der Zusammenhang seines Gedankengangs mit dem Kantianismus zu fassen? Bei Baader haben wir nicht mehr nur eine Individualethik vor uns, die den Monaden Anleitung gibt, sich zu beseligen oder in kantischer Form sich als frei zu erweisen, sondern er hat wirklich eine Lehre von der S o z i e t ä t als ein Glied der Ethik. Die Sozietät entsteht nicht erst nach den Einzelnen, sondern mit ihnen, und diese werden ebenso gut durch die Sozietät wie die Sozietät durch sie. Den Menschen zwar als Kreatur Gottes zu fassen, die Sozietät dagegen nicht als Kreation Gottes, sondern als ein Kunstprodukt des Menschen, ist absurd. Auf Vorstellungen über die Herkunft des Staats, wie sie Hobbes oder Rousseau vertreten, verzichtet Baader mit Konsequenz. Eben daher haben die Arbeiter ein Recht auf ihre Eingliederung in den Staat, das nicht vom Belieben der Regierenden abhängt oder durch Wohltätigkeitsanstalten ersetzt werden könnte. Denn der Anteil an der Sozietät ist nicht ein Zusatz zur Menschlichkeit, für den es Surrogate gäbe, oder der vom Belieben anderer abhängig wäre. »Separatismus ist Selbstmord«; demgemäß ist auch die Versetzung der Arbeiter in einen vogelfreien Zustand ein Unrecht und ihre Einigung mit der Gesellschaft durch ihre Verbindung in Korporationen ist Pflicht. Rechte entstehen überhaupt nicht durch eine willkürliche Setzung des Menschen, so wenig als die Sozietät. Wir können das Recht nicht schaffen, sondern nur deklarieren, aussprechen und ausführen, ebenso, wie wir auch nicht Naturgesetze schaffen. Wie entsteht zwischen uns Verbundenheit? »Zwei werden im Dritten eins«, in der Unterwerfung beider unter den über ihnen stehenden Höheren. Indem der eine Gott in den vielen sich vergegenwärtigt, sind sie geeint, wie das Zentrum seine Peripherie gestaltet und eint. Die Grundformen der mathematischen Phantasie hat Baader gern mit den höchsten geistigen Vorgängen in Vergleichung gebracht, von der Überzeugung geleitet, daß sich die Grundverhältnisse, nach denen sich Gottes Wirken an uns vollzieht, auch in ihnen kundtun. Der Austritt aus der Sozietät ist darum nur dadurch möglich, daß Gott die Unterwerfung aufgesagt wird. – 229 –

Daher sind die Sozietäten nicht auf Zeit geschlossene Verbindungen, sondern totale Einigungen, die Unauflöslichkeit erstreben. Baader hat die Ehe auf Zeit, die Familie auf Zeit, den Staat nach Fichtes Rezept, der den Beruf hat, sich selbst überflüssig zu machen, abgelehnt. Demgemäß ist auch nicht der Zwang das, was das Recht schafft und den Staat herstellt. Die totale Gemeinschaft ist Willensgemeinschaft, also Liebe. Erst wenn der gute Wille fehlt, verwandelt sich die natürliche Gemeinschaft, die die Liebesgemeinschaft ist, in die Rechtssozietät, und erst, wenn das Recht gebrochen wird, tritt der Zwang ein. Da der Mensch gefallen ist, sind Zwang und Recht unentbehrlich; aber sie sind nicht das primäre Merkmal des Staats, sondern die Hilfsmittel und Surrogate, die wir leider nötig haben, weil und soweit uns die Liebe fehlt. Damit war gegeben, daß Baader im Blick auf die beginnende Arbeiterbewegung nicht nach der Polizeigewalt griff. Die normale Sozietät schafft nie Helotentum. Die Verbundenheit setzt notwendig Über- und Unterordnung. Es gibt keine Sozietät ohne Regierte und Regierende und die Gleichmacherei ist ihre prinzipielle Leugnung. Sie besteht vielmehr durch ein beständiges innerliches Ausgleichen des äußerlich Ungleichen. Ebenso gewiß wie die Sozietät Kreation Gottes ist, ist es auch die sie begründende Autorität. Autorität und Sozietät sind nicht trennbar. Jene stammt, wenn sie echt ist, wie diese von Gott. Allerdings entsteht hier die Möglichkeit der Denaturierung unserer Verbundenheit. Die Sozietät kann in Despotismus und Servilismus zerbrechen, die immer beieinander sind, als die Erscheinung des Schlechten, des Widerstandes gegen Gott. Der sie erzeugende Wille ist das Zerrbild der Liebe, indem hier ihre beiden Strebungen auseinandergebrochen sind. Sie hat Demut und Erhabenheit gleichzeitig in sich und übt die Doppelfunktion des Sichsenkens und Sichhebens ohne innere Spannung in Eintracht. Brechen wir sie entzwei, dann bekommen wir die Bosheit als Hoffart und als Niedertracht und damit auch die despotisch und servil zerrüttete Sozietät. Aus der Liebe dagegen ergibt sich die heilsame Leistung der echten Autorität, die nicht als Hemmung, sondern als Spen– 230 –

dung der Kraft wirksam wird. Autorität entsteht und bewährt sich durch Autorschaft, nicht durch eine die anderen absorbierende und entwertende Wirkung, sondern dadurch, daß sie ihre Aktion durch ihr Geben und Leiten erzeugt. Von solchen Gesichtspunkten aus erschien Baader der Schutz des Proletariats nicht nur als klug, sondern als eine Pflicht des Staats. Das Proletariat darbt aber auch innerlich, und darum hat auch die K i r c h e an ihm ihren Dienst zu tun. Es gelten für sie dieselben Gesetze, die jede normale Sozietät gestalten. Es gibt darum auch in der Kirche Despotismus und Servilismus nur durch den bösen Willen und der Arbeiter hat eben sowohl ein Recht an den Dienst der Kirche wie an den Schutz des Staats. Beide Sozietäten sind nicht ineinander zu verschmelzen, aber auch nicht zu trennen. Die Kirche ist die Versöhnungsanstalt, durch die uns Gott mit sich vereint. Darum ist sie universal, eine Weltkorporation. Weil auch der Staat religiös begründet ist, bedarf er der Kirche, wie die Kirche des Staats bedarf, weil sie dem Menschen zu dienen hat, der nicht anders als im Staate lebt. Das normale Verhältnis beider zueinander ist das der freien Verbündetheit. Dem irreligiösen Wissen schuldet die Kirche die Lehre. Die die Völker bewegenden Mächte sind die Theorien. Die Völker bewegen heißt ihre Theorien ändern. Hierzu haben mir die Denkarbeit zu tun als ein wesentliches Glied unseres Gottesdienstes und religiösen Berufs. Wohl ist uns ein Wissen gegeben, auch ein Wissen von Gott, das unseren Denkakt begründet und ohne das er nicht möglich wird. Aber es ist uns auch ein Wissen aufgegeben, das wir zu suchen haben und an dessen Erwerb wir unsere Arbeit für uns selbst und die anderen zu setzen haben. Dazu ist uns die Autorität des von Gott begründeten Lehramts gegeben, nicht damit wir nicht denken, sondern damit wir begabt und gestützt durch dasselbe richtig denken. Zwischen jenem ersten unmittelbaren Wissen von Gott und diesem vermittelten Erkennen unserer Beziehungen zu Gott steht der Optativ, der Gott zugewendete Willensakt, das ihm erwiesene Glauben, ohne das niemals das zweite Wissen uns erreichbar ist. Der Glaube, nämlich das credere deo, während das deum credere – 231 –

nicht von uns gefordert ist, da uns die Gewißheit Gottes durch Gott selbst gegeben ist, kann nicht als Surrogat des Wissens dienen und wird ebenso wenig durch dieses überflüssig gemacht, sondern ist die unerläßliche Bedingung für das Gelingen der auf Gottes Erkenntnis gerichteten Aktion. Doch die Kirche hat nicht nur zu lehren. Baader hat ernsthaft den Kultus als die Funktion der Kirche bejaht und eine Theorie desselben angestrebt. Sein Ziel ist die Zurückführung des Menschen zu Gott, und wir haben auch an den Grundbedingungen unseres Daseins, an unserer Zeitlichkeit und Materialität, den Erweis unserer Desintegration vor Augen, aber auch die Möglichkeit unserer Reintegration, zu der der Christus durch die Kirche die Wirklichkeit schafft. Das Erbe, das Baader von seiner Kirche her hat, ist hier sofort deutlich im lebendigen Bewußtsein von der Unentbehrlichkeit der religiösen Gemeinde und von ihrem Beruf, nicht nur zu lehren, sondern auch zu handeln, nicht nur an den Menschen, sondern zugleich und zuerst für die Menschen vor Gott. Aber auch kantische Einwirkungen liegen unzweifelhaft vor. Eine religiöse Erschütterung hatte ihm nicht erst Kant, sondern schon die Aufklärung mit Rousseau gebracht. Darauf zeigen seine Tagebücher eine warme Naturandacht. Kant gibt ihm den Anstoß zur Verinnerlichung, zunächst mit einer zum Subjektivismus sich wendenden Tendenz. Er überwand diese durch eine tiefgreifende, erkenntnistheoretische wie ethische Kritik Kants, die sich die Unvereinbarkeit des Apriorismus der Vernunft mit dem Gottesgedanken in beiden Richtungen verdeutlichte. Er bleibt aber in positivem Zusammenhang mit Kant, weil auch er keine abstrakte Metaphysik anstrebt, die jenseits der Erfahrung und des wirklichen Geschehens nach Begriffen sucht, sondern den Stoff für das Erkennen in dem uns gegebenen Erlebnis hat. Auch seine Wissenschaft ist Wissen von den Erscheinungen, aber so, daß er der Erscheinung nicht mit Kant das Vertrauen entzieht und ihren Erkenntniswert skeptisch verneint, sondern so, daß er in den Erscheinungen Gott bejaht als den, der sich durch sie uns – 232 –

bezeugt. Daher ist ihm alle Theologie anthropozentrisch, ohne daß sie dadurch aufhört, Theologie zu sein, da in dem uns gestaltenden Wirken Gottes Gott sich uns erkennbar macht. Ebenso wenig beschränkt sich dadurch seine Theologie auf Psychologie; denn der innere Lebensprozeß steht mit der Natur in fester Verbundenheit, und es gibt kein Wissen des Menschen von sich selbst und von Gott, das uns nicht zugleich die Natur erschlösse. Auch in dieser den ganzen Bewußtseinsinhalt umspannenden Kühnheit des Blicks und Schlusses, die alles Wahrnehmbare miteinander beständig in eine Einheit bringt, stellt er sich deutlich als einen Genossen der spekulativen Kantianer dar. Seine Nachwirkungen liegen nicht an der Oberfläche, sind aber nicht gering anzuschlagen. Er hat die Kirche, zunächst die seinige, dann aber auch über die konfessionelle Trennung übergreifend den Protestantismus, kräftig an ihre wissenschaftliche Pflicht erinnert, die ihr mit der christlichen Gewißheit Gottes übertragen ist, hat auch die mit dem Kantianismus verbundenen Erschwerungen und Gefährdungen derselben mit großer Klarheit gesehen und ihr den Mut und Glauben gestärkt, daß sie an Gott auch für unseren Intellekt die Hilfe habe, die jenen Gefahren überlegen ist und unserem Denkvermögen den unerschöpflichen Inhalt gibt.

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18. Hegel Eine neue Form der Denktätigkeit erscheint hier, die wir in der ganzen Reihe seit Cartesius so noch nicht vor uns hatten. Bei Fichte und Baader entsteht das Denken aus einem intensiven Streben, das den Erkenntnisakt herbeizuführen sucht. Daß dieser erreicht wird und vollzogen werden kann, das gibt dem eigenen Lebensprozeß die Füllung. Daher ist die Vernunft hier in steter Bewegung; alles ist im Fluss, wenn auch über diesem die Zuversicht steht, daß über ihm eine Einheit walte und die mannigfachen Leistungen der Vernunft zur Totalität eines Systems verbinde. Darum stellen ihre Schriften ihre Geschichte ans Licht. Diese Arbeitsweise wurde besonders typisch von Baader gepflegt, bei dem sie auch die Form seiner Arbeit vollständig beherrscht. Er gibt »fermenta cognitionis, Gärungserreger für das Erkennen«, weil »der Blitz der Vater des Lichts ist«. Ein System läßt sich nicht aufsagen und nachsagen, das Denken nicht als Präparat vorzeigen. Es ist das Leben des Denkenden und darum ist alles Lehren nur ein Helfen, das die eigene Aktion erweckt, weil der Einzige, der wirklich lehrt, Gott und nur er ist. Bei dieser Methode blieb er ein einsamer Mann, von seinen Zeitgenossen kaum verstanden. Hegel dagegen wird ein Regent, der eine große Gemeinde um sich sammelt und unter seinen Gedanken stellt. Denn sein Ziel ist D o g m e n b i l d u n g, mit den beiden Merkmalen, die dem Dogma wesentlich sind: Abschluß des Denkens in die Vollendetheit des Erkannthabens und Ausbreitung desselben als des Fundaments der Sozietät. Die großen Aufklärer Cartesius, Spinoza, Leibniz waren auch Dogmatiker; aber ihre Arbeit hat an ihrem persönlichen Bedürfnis ihr Motiv. Cartesius räumt mit dem auf, was er bei sich als morsche – 234 –

Überlieferung mißachtet, und sucht für sich einen rationalen Gedankenbestand. Spinoza ordnet sich sein Denken und Wollen nach den Normen, die er aus dem neuen Naturbild ableitet; Leibniz entwickelt auf Grund des neuen Wissens sein Weltbild. All das ist freilich beherrscht durch die Überzeugung: so denke die Vernunft, also werde hier für jedermann ein bedeutsames Resultat herausgestellt; denn die Vernunft denkt allgemeine und notwendige Wahrheiten. Aber nicht der Denker schafft das Dogma, sondern die Vernunft, der es auch überlassen bleibt, die Wahrheit zum Gemeingut aller zu machen; für den Denker selbst genügt es, wenn er in sich selbst seinen Vernunftbesitz möglichst steigert, womit er auch für die anderen erworben ist. Die populäre Aufklärung bildet ein sehr festes Dogma; aber sie übernimmt nicht ein System als solches, sondern das Dogma besteht aus wenigen Leitsätzen, die in das Denken und Handeln der Vielen Eintracht bringen. In derselben Weise erhebt Kant den Anspruch, der Vernunft, d.h. allen zu zeigen, was sie können und nicht können. Aber es kommt dabei nicht zu einer Systembildung, sondern nur zu Instruktionen und Normen, wie jeder seine Vernunft zu brauchen habe. In Hegel dagegen stellt die Vernunft ihre Gesamtleistung aus als vollendet, nicht als ein Ziel für künftige Arbeit, sondern als ein Erkannthaben, das in seinem Besitz ruht und alle umfaßt und einigt, die überhaupt an der Wissenschaft Anteil haben. Ohne das religiöse Motiv, das den spekulativen Kantianismus bestimmt, müßte der Vorgang lediglich als barocke Komik erscheinen, nicht nur an Hegel, sondern auch an dem ganzen langen Schülerschweif, der nun plötzlich hegelisch sprach. Kierkegaard schrieb in sein Tagebuch: »Über Hegel haben die Götter gelacht.« Wer das Tübinger Stift, das Hegel seine Bildung gab, kennt, hat zahlreiche, freilich oft kleine und allerkleinste Analogien zu diesem »Schwabenstreich« vor sich, die dem Unternehmen Hegels darin gleichen, daß sie vollständige Unkenntnis der Welt, Unfähigkeit, das Wirkliche wahrzunehmen, die kindlich und kindisch träumend durch die Welt stolpert, mit einem Selbstbewußtsein verbinden, das kein – 235 –

Zagen, keinen Bruch, keine Schranken kennt, sondern sich mit Wonne an den Leistungen des eigenen Denkens labt und ihm tapfer die höchsten Ziele steckt. Darum waren auch zwei der stärksten Vertreter des hegelschen Dogmas, die ihm die unsere Geschichte erschütternde Stoßkraft gaben, D. Fr. Strauß und F. Chr. Baur, im Stift erzogene Schwaben. Die nationale Art und die Mißleitung durch die rationalistische Schulung erläutern aber Hegels Versuch, das absolute Dogma herzustellen, noch nicht ganz; die ernsthafte, innerlich begründete Notwendigkeit seines Unternehmens wird dann deutlich, wenn wir die Tragweite des kantischen Axioms erwägen, daß unser Denken eins sei mit der Allvernunft. Nicht nur einem Schwaben oder einem Berliner Professor fiel es ein, das Allwissen zu verkünden, und nicht seiner Persönlichkeit, mochte sie noch so genial sein, lief die Schar der wissenschaftlichen Arbeiter nach, sondern die Allvernunft sprach in ihm. Konnte sie stumm bleiben? Sie mußte reden, so gewiß sie da war, nicht nur in Stößen und Schwankungen, nach einem Ziel ringend, das ihr doch entfloh, vielmehr so, daß das System der Vernunftbegriffe erschien und der ganze Weltprozeß von demselben durchleuchtet und begreiflich wird. Dogmenbildung, und dies in der Form, daß ein universales System vollendeter Erkenntnis das Dogma war, wurde durch den Standpunkt erzwungen, und mit dem Schicksal dieses Unternehmens war auch das Urteil über den Standpunkt gefällt. Daher ist zur hegelschen Dogmenbildung die nächste geschichtliche Parallele die Dogmenbildung der lutherischen und reformierten Kirchen, weil auch dort ein logisch durchgebildetes System von Gedanken zum Einheitsband der Sozietät geworden ist, allerdings mit dem Unterschied, daß sich jene Orthodoxie auf die Erkenntnis eines einzigen, von ihrem Standort aus zentralen Vorgangs beschränkte, nämlich des Glaubens, der nach seinen Bedingungen und Ergebnissen mit systematischer Klarheit definiert wird, während die hegelsche Orthodoxie die ganze Natur und Geschichte erklärt. Beide Systeme bleiben aber darin einander parallel, daß bei beiden das Dogma denjenigen Vorgang endgültig fixiert, der unsere Verbundenheit mit Gott herstellen soll, und eben deshalb wirkten – 236 –

ihre Formeln als Gemeinschaft stiftende Macht. Bei Hegel besteht im Denken unser Anteil an Gott und das Dogma deshalb in der universalen Wissenschaft. Dazu war freilich eine Vereinfachung der vielen, im Kantianismus hervorgetretenen Anregungen nötig. Mit den Postulaten der Moral Fichtes ließ sich kein Dogma gewinnen, auch nicht mit der Fülle von Gedankenkeimen, die Schelling ausstreute. Eine Einheit muß sich finden lassen, unter die sich das ganze Weltbild stellen läßt. Demgemäß werden die Willensvorgänge gestrichen; das System hat im Intellekt sein Fundament. Am intellektuellen Vorgang fällt der Sinnesprozeß weg; die Erfahrung ist ein Unendliches, ein Arbeitsfeld ohne Grenzen, das nicht abzuschließen ist. Es bleibt die L o g i k übrig, und von ihr aus entsteht das System, und in ihr hat die wissenschaftliche Gemeinde das sie einigende Gesetz. Die Vollendung des Erkennens ist die Vollendung der Logik, der hüllenlose Anblick des Denkvorgangs, und die Logik ist die Metaphysik. Der Weltprozeß ist ein Denkprozeß, das Menschenleben ein Denkvorgang, nichts als dies, dies aber auch in dem, was wir für Natur oder Realität erklären. Der Parallelismus mit demjenigen Vorgang, durch den die lutherische Orthodoxie entstand, bestätigt sich. Auch damals wurde die geschlossene Einheitlichkeit des Systems dadurch erreicht, daß aus der Fülle der unser Leben bildenden Funktionen eine einzige hervorgehoben wurde, während die mit ihr verbundenen verhüllt werden. Der lutherische Dogmatiker gewann sein System dadurch, daß er das Werk aus unserem Leben strich und einzig eine Glaubenslehre schuf. Ebenso strich Hegel den Willen und das Handeln, beschrieb aber, da er ja am Kantianismus teilhatte, den religiösen Vorgang nicht mehr als Glauben, sondern gewann das die ganze Welt begreifende Dogma durch die Denklehre. Zur Einigung der uns verliehenen Fülle des Lebens war auch Hegel nicht fähig, da er die Einheit durch die Ausstoßung der Fülle herzustellen sucht. Deshalb sammelte er die Kategorien, deren Reihe das Organon unseres Denkens ausmacht. Darin bleibt Hegel dicht bei Kant: die Formen, die wir im Denken verwenden, sind die Erzeuger des – 237 –

Geschehens. Nicht intellektuelle Anschauungen, »Ideen«, wie sie Schelling mit Plato wollte, bilden den Inhalt der Vernunft, sondern Kategorien, d.h. zur größtmöglichen Abstraktion erweiterte Aussagen über Tätigkeiten: Sein, Nichtsein, Werden, Dasein usf. Wenn wir die Vollzahl der Tätigkeitsweisen beisammen haben, sei das Erkennen vollendet. An sich läßt sich gegen das von der hegelschen Logik angestrebte Ziel nichts einwenden; der Versuch mag einen gewissen Wert haben, Rubriken zu bilden, unter die wir alles Geschehen, soweit es in unserer Erfahrung liegt, unterbringen. Die entscheidende Frage war dabei die: woher bekommt das System ein Prinzip der Bewegung? Wille, der Ziele schafft, Kraft, welche Aktion erzeugt, gibt es hier nicht. Sitzen die Kategorien nicht fest wie die platonischen Ideen, die als unbewegte Sterne in der Idealwelt leuchten? Dann gab es aber kein Begreifen, kein Konstruieren, und das Axiom, auf dem die ganze Arbeit steht fiel um. Genetisches Verständnis leistet die Vernunft; sie ist in der Aktion als verstehende, und ohne das ist sie nicht. Aber ein Bewegungsprinzip ist nach Hegels Meinung dadurch da, daß die Begriffe in ihr Gegenteil umschlagen. Sie erzeugen aus sich ihre Antithese, und nun ist dafür gesorgt, daß die Bewegung nicht mehr stille steht. Denn im Streit der Thesis und Antithesis wird die Synthesis geboren, und da diese wieder ihre Verneinung aus sich selbst schafft, geht die Bewegung ohne Stillstand fort. Da aber die Kategorientafel sich nicht endlos erweitern läßt, oszilliert sie zwischen ihren beiden Endpunkten, zwischen der vollendeten Abstraktion, dem reinen Sein, und der vollendeten Konkretheit, dem reinen Geist. Damit ist auch das Geheimnis des Weltbestands, die Zweiheit von Natur und Geist, erklärt. Die Idee schlägt um in ihr Gegenteil; so wird sie Natur und erhebt sich nun zur Synthese beider im bewußten Geist. Es ist also der subjektive Vorgang, daß wir sich Widersprechendes nicht miteinander bejahen können, zur weltbildenden Potenz erhöht. Es hat für den ganzen großen Wirkungskreis des Hegelianismus entscheidende Bedeutung gehabt, daß er keinen anderen Motor für den Lebensprozeß hat als den Widerspruch. Immer wieder fällt der Gedanke herunter in seine Verneinung, nicht um – 238 –

ihr zu erliegen, sondern er steht wieder auf, aber nicht zu fixiertem Bestand. Es gibt hier kein Stehen, sondern nur ein beständiges sich Bilden und sich Wiederauflösen, ein Sein und Nichtsein gleichzeitig in unlöslicher Verschlungenheit. Nochmals war das System zu einer wichtigen Reduktion genötigt: auf das Verständnis der Natur mußte es verzichten. Zwar hat Hegel auch den Naturprozeß als Denkprozeß zu deuten gesucht; aber der Gedanke war unausführbar und seine Naturtheorie hatte nur insofern geschichtliche Wirkungen, als sie das ganze System erschüttert hat. Im Bereich der G e s c h i c h t e schien die Methode dagegen anwendbar und verheißungsvoll zu sein. Denn die Geschichte ist immer auch Denkgeschichte, da wir nicht ohne Denken handeln, und in der Denkgeschichte waltet das logische Gesetz in objektiver Macht über das logische Vermögen der Einzelnen hinweg. Nach dieser Seite hat Hegel allen die Aufmerksamkeit auf den Geschichtslauf geschärft und das Beobachtungsfeld erweitert. Auch eine Darstellung der philosophischen Geschichte wie die uns jetzt beschäftigende hat in Hegels Arbeit ihre Voraussetzung, so wenig sie konstruiert, sofern sie daher vom Axiom des Kantianismus ist. Sie hat aber die logischen Zusammenhänge für die Beobachtung herauszuarbeiten, die die einzelnen Denker und die Generationen in ihrer Folge miteinander verbinden. Hat ein Gedanke seine Gestaltung empfangen und ist er der Sozietät übergeben, so wirkt er weiter als Bewegungsprinzip für die um ihn herumgelagerten Denkgebilde, abstoßend, was ihm widerspricht, anziehend, was sich mit ihm einigen läßt, und in dieser Bewegung bildet er sich selber um, enthüllt seine Konsequenzen und deckt seine Gründe auf, schärfer, tiefer, als es das Auge seines Erzeugers sah. Es ist nicht eine Fabel, von der Logik zu reden als von einer die Geschichte regierenden Macht. Aber ist es nur die Logik, die in ihr sich offenbart? Diese These wird für den unmöglich und phantastisch, der erkannt hat, daß wir zum Denken das Handeln nötig haben, daß unser Wille den Gedankenlauf mitbestimmt, daß unsere Denkarbeit an dem, was wir erleben, an dem, was in uns produziert und gestaltet – 239 –

wird, ihre Bedingungen besitzt. Damit hört die Konstruierbarkeit der Geschichte aus der Logik auf. Vom hegelschen Gesichtspunkt aus war eine doppelte Betrachtung der Geschichte möglich, weshalb sich die Schule in zwei Flügel zerlegt. Auf der einen Seite tritt sie mit dem Willen, zu verstehen und zu bejahen, an alles Geschehende heran; denn alles ist das Gebilde der Vernunft. Man hat dies Optimismus genannt, mit zweifelhaftem Recht. Denn bei dem optimum oder bonum, das diese Theorie in der Geschichte sucht und findet, bleibt alles im Menschen leer, abgesehen vom Denken. Der Optimismus besteht hier lediglich im Wohlgefallen des Denkers, der in allem Geschehen die Richtigkeit des Denkvorgangs wahrnimmt und billigt. Freilich in den Denkvorgang sollen wir nach Hegel eine unbeschränkte, totale Affirmation hineinlegen: das ist ja das Wesen der Gottheit, das Reale im Weltprozeß, das Reale und einzig Wertvolle in uns selbst. Und sofern sich der Denker überall im Weltprozeß zurechtfindet, alles versteht, alles erklärt, ist er überall in demselben heimisch. Der Streit, die Anklage, der Widerstand hört auf, sowie erkannt ist, daß in diesen Vorgängen das Denkgesetz sich vollzieht. Aber die Billigung, die wir den einzelnen Gebilden des Geschichtslaufs schulden, ist von vornherein nur eine eingeschränkte. Diese Gebilde sollen nicht beharren, nicht sich fixieren, sondern sich auflösen und höheren Formationen Platz machen. Wird dieser Gedanke vom Unwert des Einzelnen, von der Endlichkeit alles Realen und der Sterblichkeit alles Bestehenden zum regierenden Motiv, dann stehen wir auf dem linken Flügel der Schule. Dann fordert das System eine kraftvolle Widerrede gegen alles, was beansprucht, zu gelten und zu befriedigen und als Autorität uns zu leiten. Denn das Endliche muß weichen und die Thesis endlich stürzen in ihre Antithesis. Große Wirkungen sind vom hegelschen Dogma ausgegangen; wie mächtig es noch unsere Gegenwart bewegt, verdeutlichen die beiden Namen Strauß und Marx, die auch für unsere Generation noch unmittelbare Bedeutung haben. Das hegelsche Dogma wandte die öffentliche Aufmerksamkeit zur Geschichte hin und brachte ein arbeitsames und ausgebreite– 240 –

tes Studium derselben hervor, wobei das hohe Ziel, die Vorgänge zu konstruieren und dadurch zu begreifen, der Arbeit Spannkraft gab. Aber diese ganze Arbeit ist in eine pessimistische Beurteilung und Entwertung der Geschichte hineingetaucht. Man vertieft sich in alle Stadien der Vergangenheit, beobachtet aufs fleißigste und stellt die das Werden bestimmenden Prozesse möglichst vollständig ans Licht; aber der Beobachter gewinnt an der Geschichte nichts, sondern bleibt leer. Er darf sich für das Geschehene nirgends mit einem Glauben öffnen, der ihn bestimmte, nirgends an dasselbe eine Liebe heften, mit der er einen Willen gewänne, nirgends in ihm eine Kraftquelle finden, die ihn zum eigenen Wirken befähigte. Das ist höchstens populäre Geschichtsbetrachtung, aber niemals »Wissenschaft«. Vor dem Denker bewegen sich die Formationen der Geschichte in stetem Fluss auf und ab; jede ist eben deshalb, weil sie in die Geschichte eintritt, vergänglich. Damit, daß ein Gedanke sich in der Geschichte als wirksam erwies, ist er gerichtet; denn nun hat er seine »Schale«, seine »Rinde«, seine konkrete, individuelle Formation und muß folgerichtig sterben. Wird ein Wille zur Tat und dadurch eine die Geschichte bewegende Kraft, so ist er verendlicht; er kann nur als »Einzelnes« in die Geschichte hinaustreten, und dies ist das Richtige, in dem die Idee nie heimisch wird. Nur insofern hat die Geschichte für uns Wert, als sich aus ihr Abstraktionen ergeben. Als das Ziel der Geschichte dachte sich Hegel den S t a a t; er ist der Schlussgedanke, in dem die Vernunft ihre Objektivierung erlangt. Hegel hat noch wirksamer als Fichte dazu beigetragen, daß wir eine Sozialethik erhalten haben, die es unseren Gebildeten, auch unseren wissenschaftlichen Arbeitern deutlich macht, daß sie das Ziel ihrer Tätigkeit nicht in der Steigerung ihres Eigenlebens, sondern in dem der Gemeinschaft zu leistenden Dienst zu finden haben. Daraus, daß nicht eine religiöse Sozietät, nicht eine Kirche, sondern der Staat das Ziel der Geschichte bildet, ergab sich eine wesentliche Stärkung des Staatskirchentums. Die von der Aufklärung eingeleitete Unterscheidung der religiösen von der staatlichen Sozietät wird durch die hegelsche Strömung in Deutschland aufge– 241 –

halten. Es ist nicht Zufall, daß wir in der großen Zahl von selbständigen und höchst ehrenwerten Theologen des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht einen einzigen Vertreter der kirchlichen Freiheit und des religiösen Individualismus gehabt haben, etwa Vinet vergleichbar oder Kierkegaard. Die hegelsche Orthodoxie bringt eine monistische Tendenz, in alles Denken hinein. Nicht auf scharfe Durchführung der Unterschiede, sondern auf Ausgleichung derselben geht der Zug. Überall waltet die Allvernunft; überall haben ihre Bildungen freilich nur ein relatives Recht, und das Ziel, in dem sie alle geeint werden, ist der Staat. So ist es zu verstehen, daß die Kirche die hegelsche Periode in ihrem äußeren Bestand unverletzt überstanden hat trotz der inneren Schärfe der Gegensätze. Die beiden Theologien, die gegeneinanderstanden, waren scharf getrennt. Sie hatten eine verschiedene Anthropologie, bei Hegel die Reduktion des Menschen auf den Denkprozeß, in der Kirche den Persönlichkeitsgedanken mit Willen und Schuld; eine verschiedene Christologie, bei Hegel den Verkündiger einer Idee, die über ihn hinausschreitet und ihn selbst entbehrlich macht, in der Kirche den einzigen und ewigen Wirker des gnädigen Willens Gottes; eine andere Soteriologie, bei Hegel die Erhebung des individuellen Bewußtseins zum reinen Denken, in dem das ewige Leben gelebt wird, so daß der Einzelne an der Vernünftigkeit des Staats mitwirkt, der die objektive Ausprägung der Vernunft ist, in der Kirche die Tilgung der Schuld durch Vergebung und die Willenseinigung mit Gott im Glauben und der Anteil an der ewig lebenden Gemeinde. Dennoch entsteht kein Bruch in der Kirche, nicht einmal von Marx und der Sozialdemokratie aus, da auch diese sich damit begnügt, die Überordnung des sozialen Interesses über das religiöse durchzuführen mit dem Satz, die Religion sei Privatsache; das allgemeine Interesse sei die vernünftige Ordnung des Staats. Es treten dabei Abstufungen heraus, je nachdem der psychologische Vorgang, in dem die Religion bestehen soll, eingeschätzt wird. Im allgemeinen [sic] unterschieden sich Religion und Wissenschaft wie Vorstellung und Begriff. Das religiöse Denken bleibt an sinnliche Ausdrucksmittel gebunden und wird der Einheit mit – 242 –

Gott nur in dieser unvollkommenen Form inne. Darüber steht das reine Denken, das sich von den sinnlichen Vorstellungsformen und damit auch von den individuellen Begehrungen gereinigt hat. Nun kann dieses Verhältnis antithetisch gefaßt werden, so daß die sinnliche Vorstellungsform damit, daß der Begriff erreicht wird, zergeht. Diese Abart des Hegelianismus ist durch den Begriff »Mythus« charakterisiert; denn eine als Mythus beurteilte Vorstellung ist entwertet und verliert ihre Brauchbarkeit für den Wissenden. Auf diesem Standpunkt ergibt sich die Formel: die Kirche sei die für die Bauern zurzeit noch unentbehrliche Form der Sozietät. So die württembergischen Radikalen: Strauß, Vischer. Oder die Vorstellung wird im psychischen Prozeß für unentbehrlich und unausrottbar angesehen. Auch dies war im hegelschen Gedanken vorbereitet und vielleicht nach hegelschem Maß orthodoxer als die Subsumtion [sic] des Christentums unter den Begriff »Mythologie«. Dann ist auch der Philosoph als Mensch immer wieder fähig, der niederen Denkformen sich zu bedienen und an ihnen sich zu erbauen. Für die Kirche ergibt sich daraus der Toleranzgedanke, die sog. Zweispurigkeit. Die Kirche darf selbstverständlich die wissenschaftlich korrekten Formeln nicht unterbrücken, ist vielmehr derselben bedürftig, damit sie ihrer Aufgabe genüge und Organ der Idee bleibe; aber sie braucht die Vorstellungsformen nicht auszurotten, sondern kann sie für die pflegen, die ihrer bedürftig sind. So z.B. Biedermann. Stellen wir noch Rothe dazu, so sind die hier vorhandenen Möglichkeiten der Variation in ihrer Schwingungsweite beleuchtet: der Geist bedarf der Verleiblichung und erleidet durch sie nicht Lähmung, sondern Vollendung; demgemäß ist das Ziel der Geschichte die Vereinerleiung der natürlichen und der religiösen Sozietät, ebenso sehr Verkirchlichung des Staats als Verstaatlichung der Kirche, ebenso die Gleichgestaltung von Philosophie und Theologie ihrem Inhalt nach: Aufstieg der Philosophie vom Selbstbewußtsein zum Gottesbewußtsein wie Abstieg der Theologie vom Gottesbewußtsein zum Weltwissen, wobei der schriftliche Gottesgedanke durch die Bewegung der hegelschen Kategorien beschrieben und die christliche Soteriologie in die hegelsche Geschichtsbetrachtung – 243 –

eingefügt wird. Aber alle diese abgestuften Verhältnisbestimmungen zwischen Religion und Vernunft, Kirche und Staat haben dies gemeinsam, daß sie ihre Ziele ohne Zerstörung des kirchlichen Bestands neben ihm vorbei und durch ihn hindurch angestrebt haben. Für die Auseinandersetzung mit dem Christentum war es wesentlich, daß dabei der Allgemeinbegriff »R e l i g i o n« die Führung bekommt. Der monistische Zug in der hegelschen Geschichtsbetrachtung hat auch hier dazu geführt, die qualitativen Unterschiede auszugleichen und Gegensätze als Entwicklungsstadien aneinander anzugliedern. Daher wird das Christentum mit allen übrigen religiösen Erscheinungen in eine Entwicklungsreihe hineingestellt. Die Differenzierung zwischen Gott und Götze, zwischen Glaube und Aberglaube, zwischen Gebet und Zauber, zwischen Priester und Pfaffe fällt. In allem, was Religion genannt werden kann, manifestiert sich die sich selbst suchende und findende Allvernunft. Dadurch hat Hegel einen wichtigen Zweig der Theologie geschaffen: die Religionswissenschaft in ihren beiden Stufen als Religionsgeschichte und als Religionsphilosophie. Ursprünglich war dem Christentum in dieser Entwicklungsreihe die oberste Stufe zugedacht als »absolute Religion«. Hegel gab den Entwicklungsreihen Abschlüsse entsprechend dem dogmatischen Ziel seines Denkens. Wie für den Geschichtsprozeß der Staat ein absolutes Ziel bildet, in dem sich der Prozeß vollendet, wie innerhalb des Denkens der Hegelianismus die absolute Wissenschaft ist, so ist in der Reihe der religiösen Bildungen das Ziel erreicht im Christentum, weil in Christus die Geeintheit mit Gott als eine totale und vollkommene zum Ausdruck gelangt. Allein dieser Theorie war der Zweifel von Haus aus eingeimpft. Ließ sich wirklich die Reihe der Bildungen an dieser Stelle schließen? Solange die Zuversicht anhielt, für die Wissenschaft sei ein Absolutes erreicht, konnte man auch mit Ernst davon reden, das Analoge sei für die Religion schon durch Jesus geschaffen. Aber sowie jene Zuversicht ins Schwanken kam, fiel unvermeidlich auch diese. Der Gegensatz zwischen dem hegelschen Dogma und den christlichen Überzeugungen mußte notwendig ans Licht treten. Wenn – 244 –

der Kultus, der Pflichtbegriff und der Wille aus dem menschlichen Leben gestrichen werden und einzig das Denken als unsere Funktion übrig bleibt, dann wird die Natur unvermeidlich die alles andere überwiegende Realität. An ihr hat dann unser Denken noch seinen Gegenstand; aus ihrer Berechenbarkeit entsteht Wissenschaft, und in ihrer Verwendung besteht die Vernunft. Daher sind Strauß wie Marx Naturalisten, und damit endete die »Absolutheit des Christentums«. Was zum Naturprozeß noch als Höheres hinzukam, war höchstens noch die Kunst. Für die Auseinandersetzung zwischen dem hegelschen und dem christlichen Dogma war es geschichtlich von großen Folgen, daß sie einen s c h o l a s t i s c h e n Charakter erhielt. Innerhalb der Mannigfaltigkeit der religiösen Formationen wird die Rangordnung durch den Denkwert derselben bestimmt; ebenso wird für die mancherlei Erscheinungen der christlichen Geschichte von ihrer Denkleistung der Maßstab zur Urteilsbildung her geholt. Das folgt unmittelbar aus dem System, weil die Denkformen die Geschichte erzeugen und aus ihr entstehen. Auch dem Christentum gegenüber war die Frage nicht die: was hat Jesus geschaffen? was tut die Kirche? was erlebt ein Christ? sondern wir haben nur zu fragen: was ist gedacht worden und was können wir dabei denken? Woher soll nun aber, wenn wir es nur mit Gedanken zu tun haben, eine Verurteilung derselben entstehen? Die Logik gibt uns das Mittel für sie. Wir üben an den hier vor uns tretenden Gedanken logische Kritik; wir heben die Widersprüche heraus, die in ihnen liegen, und bilden sie dadurch weiter, daß wir diese Widersprüche aufheben. Wir brauchen also zur Entscheidung der Probleme, mögen sie auch die letzten Fragen berühren, nur den überlieferten Gedankenkreis und unsere logische Denkfähigkeit. Damit war wieder in typischer Deutlichkeit derjenige Vorgang in Gang gebracht, den man Scholastik nennt. Sie entsteht dann, wenn der Denker nicht mehr an das Objekt herankommt, sondern nur noch zum Gedanken seiner Vorgänger. Die mittelalterliche Naturlehre heißen wir scholastisch, weil sie wohl Aristoteles studiert und deutet, aber nicht zur Natur selbst beobachtend kommt. Sie ist die Wissenschaft von der Wissenschaft – 245 –

eines andern über die Natur. Wir heißen auch die damalige Theologie scholastisch, weil sie ihr Objekt in der Lehre der Kirche über die Religion besitzt. Sie sagt nicht, was der Mensch sei, sondern was Augustin über ihn gesagt habe, nicht, was die Kirche tue, wie sie sündige und wieder aufstehe, sondern was die Lehre der Kirche über ihren Beruf und ihre Mittel sei. Das Werkzeug, mit dem der Scholastiker seine Arbeit tut, ist immer die logische Regel, nur daß es früher die aristotelische Logik war, jetzt die hegelsche. Da ihm der Stoff zum Denken in den vorhandenen Gedanken gegeben ist, so besteht seine Arbeit in ihrer logischen Ordnung und Einigung. Aber damit ist niemals ein Erkennen weder begründet noch entgründet. Und wenn der Gottesgedanke in hunderte von Antinomien zerbräche und wir sofort an der Schwelle desselben auf unvollziehbare Gedanken stießen, was wäre damit über die Gottesfrage gesagt? Das wäre vielleicht erwiesen, daß wir nur eine schlechte Theologie haben, vielleicht sogar, daß wir keine solche haben können. Aber über die Wahrheit des Gottesgedankens ist auf diesem Wege niemals ein Entscheid zu gewinnen; dazu müssen wir heran an die Wirklichkeit. Was wird durch die logische Kritik der Christologie erreicht, dadurch, daß in ihr Undenkbarkeiten und Widersprüche aufgewiesen werden? Unser Christusbegriff mag damit entwertet sein. Ob uns ein Christus gegeben ist oder nicht, diese Frage ist damit überhaupt nicht berührt. Diese scholastische Wendung, die die Kontroverse nahm, hat sie nach der einen Seite beruhigt, da man sich ja nur auf dem Boden der »Ideen« tummelte, gleichzeitig aber auch verworren und nutzlos gemacht. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich die Kontroverse um den C h r i s t u s sammelte und das Leben Jesu von Strauß in der überaus großen hegelschen Literatur eines der berühmtesten und wirksamsten Bücher geworden ist. Der Konflikt ergab sich von zwei Seiten her; einmal aus dem Verhältnis des Einzelnen zur Idee, sodann aus dem Maß, mit dem Jesus an der Denkleistung beteiligt ist. Ein Einzelner erhält durch Jesu Christusnamen eine absolute Bedeutung, da hier ein persönliches Einzelleben in totaler Geeintheit mit Gott – 246 –

stehen und darum über die ganze Menschheit Herrschermacht haben soll. Das ist sowohl, wenn wir die Idee betrachten, als wenn wir uns ihre geschichtliche Wirksamkeit verdeutlichen, nach dem hegelschen Gedankengang eine Unmöglichkeit. Die Idee schüttet ihre Fülle nicht in einen Einzelnen hinein, als wäre sie in ihm fixiert und in seiner Besonderheit vollkommen offenbart. Nur die Vielen vermögen der Idee zum Träger und zur Offenbarung zu dienen, ja korrekt gesprochen, nur die Allheit. Jesus tritt also aus seiner Überordnung über uns in die Gleichheit mit allen Einzelnen herab, in dieselbe Vergänglichkeit wie diese, sofern er ein Einzelner ist. Aber auch im Blick auf die Erregung der geschichtlichen Wirkung tritt er notwendig zurück; denn eine solche wird erst dann erreicht, wenn die Vielen die Träger der Idee geworden sind. Was kann Jesus als Einzelner für den Geschichtslauf bedeuten? Damit Christentum möglich sei, war Gruppenbildung nötig, mußten Parteien entstehen und in ihrer Bildung, ihrem Kampf, ihrer Union und immer sich wiederholenden Umbildung entstand und besteht das Christentum. Alles kommt dabei auf die Denkleistung an; und war nach diesem Maß die dem Christus zuerkannte Bedeutung begründet? Wie ganz anders hob sich Paulus hervor, er nun ohne Frage ein Denker großen Stils. Von Jesus ist die Hauptsache, die wir von ihm wissen, daß er sich kreuzigen ließ – gewiß auch ein Gedanke, der mit wunderbarer Leuchtkraft ausgestattet ist, aber ein Gedanke, der nicht als Denkleistung gewertet werden kann, sondern der einem Willen entspringt und die Tat erzeugt. So entsteht im Blick auf die Ursprünge des Christentums die Frage: Jesus oder Paulus? Werden die Evangelien nur daran gemessen, was sie beweisen und als System uns darbieten, dann treten sie notwendig zurück. Sie erzählen, wie Jesus gehandelt und gelitten hat, beschreiben seinen Willen, berichten uns ein Werk, in dessen Vollzug seine ganze Leistung besteht. Aber Wille, Tat, Werk sind Kategorien, die hier bedeutungslos sind. Der Denker offenbart die Idee, und da Jesus sich nicht als solchen legitimiert, tritt er ins Dunkel, und die Anfänge des Christentums werden ohne den Christus konstruiert. Diese Ergebnisse reichen in populärer Ausstrahlung in ungezählte Einzelleben der Gegenwart – 247 –

und bedingen immer noch höchst mächtig unsere religiöse Situation. Was aus dem hegelschen Staatsgedanken wurde, wenn der im spekulativen Kantianismus wirksame religiöse Impuls schwand und die Denkreligion abblaßte, das haben wir im s o z i a l i s t i s c h e n Dogma vor Augen. Das Ziel der Geschichte ist die Herstellung des vernünftigen Staats. Neben der Sozietät ist der Einzelne rechtlos. Von den zu seinem Schutz bestimmten Institutionen wendet sich das Interesse ab. Das Ziel liegt somit nicht in der Privatwirtschaft sondern in derjenigen wirtschaftlichen Organisation, die die Sozietät durch sich und für sich betreibt. Ihr Ziel erreicht die Geschichte durch die ihr immanente Dialektik, die zur These die Antithese fügt und aus diesen die Synthese bildet. Die Privatwirtschaft hebt sich selber dadurch auf, daß sie die Versammlung des Besitzes in den Händen weniger herbeiführt, der die Verarmung der Vielen gegenübersteht. Daraus erfolgt der Umschlag aus der privaten Wirtschaft in die des Staats. Vermittelt und beschleunigt wird diese Bewegung durch die Aufstellung der vernünftigen Staatslehre. Das korrekte Dogma vom Staat führt auch eine korrekte Gestaltung des Staats herbei. Soll die orthodoxe Lehre vom Staat wirksam werden, so muß sie im strengen Sinn Dogma werden; es gilt also möglichst viele Köpfe so zu schulen, daß sie in der orthodoxen Staatslehre denken und handeln. Dann dreht sich die Geschichte mit Sicherheit aus ihrem jetzigen unvernünftigen Stadium hinüber in die vernunftgemäße neue Verfassung des Staats. Darin, daß ein nationalökonomisches Dogma aus der kantischen Religionsbildung entstanden ist, hat sie sowohl ihre Kraft als ihre Reformbedürftigkeit gezeigt. Es ist Kraft in einer religiösen Bewegung, wenn sie Sozietät bildet; freilich damit, daß das Dogma nun materialistisch gerichtet ist und sich nur um die physischen Lebensbedingungen bemüht, sind wir von der Denkandacht des jugendfrischen Kantianismus weit entfernt. Jenes Hochgefühl, das im Denken unsere Gemeinschaft mit der Allvernunft feiert, ist vergangen. Doch ist in dieser Endgestalt der hegelschen Bewegung der religiöse Impuls immer noch dadurch sichtbar, daß sie von einem – 248 –

starken Glauben an die Vernunft als die die Geschichte bildende Macht geleitet ist. Obwohl sie in scharfer Opposition den bestehenden Staat bekämpft, hat sie doch zu Gewaltakten nicht gegriffen, im Vertrauen, das Dogma werde und müsse sich durchsetzen und die Vernunft über alles, was ihr widerstehe, den Sieg erlangen. Für die Beurteilung der unserem Geschlecht gestellten Aufgaben ist es nicht unwesentlich, daß wir uns den Zusammenhang zwischen Hegel und Marx verdeutlichen. Er macht klar, daß sich die Faktoren, die die Schwierigkeit unserer Lage schaffen, nicht allein bei den Arbeitern, sondern auch in den Trägern der Intelligenz und im Verlauf der wissenschaftlichen Arbeit finden. Sofern die sozialdemokratische Bewegung durch ihren heftigen Konflikt mit dem bestehenden Staat zu einem »Zeichen zur Umkehr« wurde, gilt dieses nicht nur den Arbeitern, sondern auch unserem Wissenschaftsbetrieb und den Universitäten. Es wurde den unser Volkstum gefährdenden Vorgängen das, was ihnen gebührte, nicht zuteil, wenn man sich von der wissenschaftlichen Seite her mit der Erklärung begnügte: »die Wissenschaft habe den Sozialismus widerlegt«. Die Einsicht ist uns unerläßlich: zuerst hat die Wissenschaft ihn erzeugt. Mit dem Versuch, unser Leben auf das Denken zu reduzieren, hat sie verdeckt, was dem Einzelnen seinen Wert und dem Eigenleben seine Füllung und Unantastbarkeit verleiht; sie hat mit der Pflege des eigensüchtigen Machtwillens verdunkelt, was die Sozietät zu einem fest verbundenen und für alle ihre Glieder leistungsfähigen Ganzen macht. Wir haben an diesem Geschichtslauf anschaulich vor Augen, daß die ausschließliche Pflege des Denkens, obwohl das Denken unzweifelhaft eine Funktion Gottes und des Menschen ist, verheerende Folgen hat, weil sie die eigensüchtige Fesselung des Wissens nicht durchbricht, sondern verstärkt.

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19. Schleiermacher Für den Gang der Geschichte war es folgenreich, daß sich im Kreis der Kantianer auch ein Theolog [sic] befindet, nicht nur so, daß er die neue Religiosität des Kantianismus kräftig entwickelt, – in dieser Beziehung war Fichte Schleiermacher überlegen, – sondern so, daß er gleichzeitig einen wirksamen Anschluss an das Neue Testament und die Reformation erreicht. Schleiermacher verkündet kantisches Christentum oder christlichen Kantianismus. Die Bedenken, die sich immer gegen R e l i g i o n s m e n g e r e i wenden, treffen auch sein Unternehmen. Schleiermacher will mit der Vereinigung der beiden Religiositäten zu viel. Zwei Dogmatiken, zwei Ethiken werden uns gleichzeitig vorgetragen, ein unmögliches Ziel. Und dieses Zuviel ist immer ein Zuwenig nach beiden Seiten hin. Die Einrede ist sofort gegen ihn erhoben worden, er nehme beiden Standpunkten die Möglichkeit, ihre Konsequenz zu entwickeln. Im Kantianismus nimmt er seinen Standort nicht nur vor dem zweiten Schelling, sondern auch vor Hegel; er bleibt in intimer Fühlung mit Fichte und dem ersten Schelling. Der Allgrund ist die Einheit von Vernunft und Natur, somit unserem Bewußtsein schlechthin jenseitig, da dieses sich im Gegensatz von Natur und Vernunft bewegt. Der Gottesbeweis liegt ihm im Wissen, im Aufeinanderbezogensein von Denken und Sein, und im Wollen, im Aufeinanderbezogensein von Gesetz, und Weltordnung. Indem unser Wissen Seiendes erfaßt, setzt es den einheitlichen Grund von Natur und Vernunft voraus; dasselbe geschieht, indem unser Wirken das Seiende erfaßt und gestaltet. Es braucht nur eine geringe Aufmerksamkeit, um zu sehen, daß diese Gotteslehre und Schleiermachers christliches Dogma sich gegenseitig ausschließen. Von dem so bestimmten Absoluten aus kommt man nicht zum Christus. – 250 –

Mit der Ineinsbildung von Natur und Vernunft hatte es Jesus nicht zu tun. Schleiermachers Ethik stellt die Kultur dar; ist dies unser höchster ethischer Begriff, so ist der Christus abgetan. Wiederum fällt von seiner Dogmatik aus sein philosophischer Gottesgedanke um. Jene arbeitet ernsthaft mit dem Gegensatz von Sünde und Gnade. Dieser ist nicht vereinbar mit der unmittelbaren Geeintheit mit dem Allgrund, sondern bestimmt unser Verhältnis zu Gott qualitativ anders, als es die Schleiermachersche Wissenschaft tut. Allein diese logischen Erwägungen geben dem Historiker nie die einzig anwendbaren Maßstäbe. Denn die logische Einheitlichkeit eines Gedankengangs ist nicht der einzige Faktor, der seine geschichtliche Macht bestimmt, wenn auch die logischen Risse in demselben seine Geschichte und Wirksamkeit unvermeidlich gefährden und trüben. Wir haben nicht einzig in Schleiermacher die Tatsache vor uns, daß Synkretismen, die recht Heterogenes verbinden, im historischen Prozeß eine große Wirksamkeit gewinnen. Das Bedürfnis, zwischen dem Kantianismus und dem Glauben der Kirche eine Einigung herzustellen, ergab sich auch vom Kantianismus aus mit Lebhaftigkeit, eben weil in diesem ein religiöses Motiv arbeitet, da das weltbildende Denken im Denken des Forschers erscheint. Damit war das Bedürfnis begründet, die tatsächlich vorhandene Religion nicht unbeachtet zu lassen und gegen das Christentum und die Kirche nicht bloß eine Kampfesstellung einzunehmen. Die eigene religiöse Position stärkt sich stets in dem Maß, als sie den vorhandenen frommen Besitz in sich aufzunehmen vermag. Schleiermachers Beziehung zum Neuen Testament und zur Kirche ergab sich zunächst daraus, daß er Geistlicher war. Diesem war, wenn er zugleich Kantianer war, die Aufgabe unvermeidlich gestellt, mit der von ihm mit persönlichem Anteil vertretenen kirchlichen Überzeugung die neue Religiosität irgendwie innerlich zu verbinden. Wenn das Unternehmen gelungen und die Bedingungen zu einer echten, innerlichen Union der beiden Gedankenreihen vorhanden gewesen wären, so hätte er unsere Geschichte aufs tiefste beeinflußt, noch mehr, als er es schon durch den bloßen Versuch getan hat. Dann wäre heute nicht das – 251 –

hegelsche Dogma in der von Marx ihm gegebenen Fassung unter uns eine öffentliche Macht. Auch von der christlichen Seite her waren die Motive, die eine Union als wünschbar erscheinen ließen, durchaus vorhanden. Denn der Kantianismus wies eine frisch aufblühende Frömmigkeit auf und der Universalismus, der im religiösen Gedanken stets enthalten ist, nötigte zu einer Verständigung mit der neuen Bewegung. Das Mittel, durch das Schleiermacher den religiösen Besitz der Kirche mit dem Kantianismus verband, bestand darin, daß er die Religion als G e f ü h l definierte, womit ihr ein selbständiges Recht neben dem Denken zuerkannt war. Für unser Geschlecht ist es nicht mehr leicht, sich die Macht dieses Gedankens über seine Zeitgenossen zu verdeutlichen. Zur Erläuterung des Vorgangs kann uns der Kantianer Fries dienen. In engem Zusammenhang mit Kant schreibt er uns drei Vermögen zu: Wissen, d.h. das mathematische Verständnis des Naturvorgangs, die exakte Naturtheorie, daneben das Glauben, das Ideal des höchsten Gutes, Gottes, ein selbständiges Vermögen neben dem Wissen, daneben das Ahnen, d.h. die Beziehung jener Ideale auf den uns wahrnehmbaren Bestand der Erscheinungen. Mit dem Ahnen wird uns das Geglaubte irgendwie am Geschichtslauf spürbar; vor allem stellte Fries die Kunstbegriffe hierher. Scheinbar ist die Abweichung, die Schleiermacher von diesem Gedankengang durch die Bestimmung, Religion sei Gefühl, herbeiführt, klein. Wir haben ja auch bei Fries schon die deutliche Unterscheidung: hier ein Wissen, das der Welt zugekehrt und in sich selbständig ist; dort ein Glauben, auch wieder in sich selbständig, keiner Begründung bedürftig, das den Gottesgedanken in sich trägt und unsere Religion schafft. Dennoch war es für Schleiermachers Zeitgenossen eine befreiende Gabe, daß er ihnen verkündigte: Gefühl ist Religion; gefühlt wird Gott; ihr habt ihn, weil ihr ihn fühlt und soweit ihr ihn fühlt. Denn den kantischen »Glauben« bedrängte eine von ihm nicht zu beseitigende Unklarheit. Wenn uns Fries sagt: ihr habt ja das Glauben! so tritt ihm sofort der Gedanke in den Weg, daß das Glauben eines Objekts bedürfe; wem glauben wir und warum glauben wir ihm? Damit überfällt uns aber die Not, – 252 –

die uns der Intellekt deshalb bereitet, weil er den Erscheinungsbereich nicht überschreiten kann. So wird aus dem Glauben ein kühnes Wagen von zweifelhaftem Recht. Von dieser Not befreit uns Schleiermachers Botschaft: nicht jenseits des Bewußtseins, im Bewußtsein macht sich Gott kund; wir haben seine Wirkung in uns; das Verhältnis zu ihm ist gestiftet, wird erlebt und tritt in unserem Bewußtsein hervor; wir fühlen ja unsere Abhängigkeit von ihm. So tritt die Religion aus dem Bereich der Theorie, des Zweifels und der Diskussion heraus und wird erlebt. Um die historische Macht dieses Gedankens zu würdigen, müssen wir beachten, daß die Zeitgenossen noch überwiegend durch die Aufklärung bestimmt waren. Doktrin und immer wieder Doktrin bildet das Geschäft des Theologen, die Gabe der Kirche, das Objekt der frommen Bemühung. Man war all der Rationalität müde geworden mit ihren zweifelhaften Erträgen. Die führenden Kantianer entwickelten aber wieder ein Dogma, das nun erst recht kompliziert und vollends zu einer Totalität des Wissens entfaltet war, die den ganzen Weltprozeß umspannen wollte. Man ließ sich gern von Schleiermacher auf ein Unmittelbares hinweisen, auf ein dem Lebensvorgang selbst immanentes Ereignis, das dadurch für unser Denken die Basis schafft, weil es die lebendige Wurzel des Lebens ist und nicht erst vom Theologen hervorgebracht wird. Dazu gehört sofort eine zweite Erwägung: was Schleiermacher als Religion beschreibt, ist Gefühl der A b h ä n g i g k e i t und zwar der totalen. Er geht damit in eine Bahn hinüber, auf der sich das Denken der Engländer schon längst bewegt hat. Die philosophische Theologie der Engländer arbeitete mit dem Kausalgedanken und hat in Gott den Verursacher und Bewirker des Weltprozesses. Nun erkannte auch Schleiermacher im Kausalgedanken das, was dem Gottesbewußtsein die Füllung gibt. »Abhängigkeit« spricht aus, daß der Mensch das Bewirkte und Gestaltete sei, und dieses Gewirktwerden umfaßt unseren ganzen Lebensprozeß. Damit widersetzte sich Schleiermacher dem regierenden Gedanken der kantischen Religiosität. Nach dem Urteil Kants war die Freiheit unseres Willens das Einzige, was uns vor dem Versinken in – 253 –

die Natur bewahren kann, und Fichte baute seine ganze Wirksamkeit auf diese Überzeugung auf. In der Freiheit sah er die Offenbarung unserer Einheit mit der Allvernunft. Wo die Freiheit fehlt, sah er nur Tod, nur in ihrer Sinnlichkeit erstorbene Menschen, nur den verdorbenen und verderbenden Staat. Selbständig sein, sein Leben selber bilden, alle Abhängigkeitsverhältnisse zerbrechen, das waren seine ethischen Kategorien, mit denen er die Aktivität aufs höchste spannte. Hegel strich zwar wie Schleiermacher den Willen; aber auch er beschrieb das Leben als Aktivität, da wir als die Denkenden produzieren und in dieser unserer Produktionsmacht unsere Frömmigkeit haben. Damit setzte die Religiosität der Kantianer die der Aufklärung fort, da auch diese die Frömmigkeit zu einer angestrengten Aktivität gemacht hatte. Wir sollen uns ja möglichst vollkommen machen, im Denken durch die vollendete Vernunft und im Handeln durch die Tugend. Standen aber diese die Freiheit verkündenden und das Wirken gebietenden Formeln nicht in einem offenkundigen Widerspruch zu der uns tatsächlich gegebenen Lebensgestalt? Und war damit nicht das, was die Frömmigkeit aus uns macht, völlig verkannt? Nach allen diesen Tätigkeiten beschreibenden Theologien klang es wie ein Evangelium: ihr seid abhängig, nicht die Schöpfer eures Lebens, nicht die Produzenten eures Denkens und Wollens, nicht die Organisatoren eurer Sozietät, und daß ihr abhängig seid und euch abhängig fühlt, schlechthin, das ist das Beste in euch, Gottes Offenbarung in euch und für euch der Quell der Seligkeit. Die Angst vor der Natur, die die Kantianer trieb, die Freiheitslehre zum Eckstein ihrer Ethik zu machen, erschien Schleiermacher als ein unfrommes Gefühl. Von seiner religiösen Erziehung her kannte er die beruhigte Stimmung, die durch keinen natürlichen Vorgang erschüttert wird, sondern auch im Leiden und Sterben den Frieden bewahrt. War nicht damit gewonnen, was die Freiheitslehre zwar begehrte, aber zugleich durch ihr überspanntes Ziel unmöglich machte? War es denn etwas Erschreckendes, Leben Zerstörendes, ein Teil des Universums zu sein? War nicht dieses fähig, Andacht in uns zu erwecken, und verlor nicht durch die von ihm – 254 –

hervorgerufene Bewunderung die unbiegsame Festigkeit seines Mechanismus die uns bedrohende Furchtbarkeit? Wieder zeigt sich in diesem Vorgang die von der Orthodoxie begonnene und von der Aufklärung vertiefte Schwächung der Kirche. Denn die Trennung von der Christenheit, die Schleiermacher dadurch vollzog, daß er den Willen strich, nahm er ohne Bedenken auf sich. Mit dem Alten Testament verlor er dadurch die Berührung, da sich dieses, weil es Gesetz und Bußwort ist, an den Willen wendet. Der Aufklärung schien es, sie könne den Riß zwischen dem Judentum und Christentum wieder schließen. Lessing sah zwischen beiden keinen Unterschied mehr und Mendelssohn sprach als Führer der Aufklärung nicht zur Judenschaft, sondern zur deutschen Christenheit. Die Trennung zwischen den beiden Religionen ergab sich angeblich nur aus dem Ritus, der in keiner Beziehung zum inneren Lebensakt stehen soll. Auch Schleiermacher hat den Verkehr mit geistreichen Jüdinnen noch als großes Glück genossen. Mit dem aber, was er als Religion beschrieb, zerbrach diese Union, da mit dem Verzicht auf den Willen der ganze Ertrag der alttestamentlichen Geschichte verschwand und dem Juden sein ganzer religiöser Besitz genommen war. Dieser Verlust zerriß aber auch das Neue Testament. Im Gefühl blieb freilich nach Schleiermachers Urteil der Gegensatz, zwischen der Sünde und der Gnade sichtbar. Aber die vollständige Verneinung, die das Urteil »Sünde« ursprünglich aussprach, zerfiel, wenn es vom Wissen abgelöst und auf die Gefühle hinübergelegt wurde, die als Druck und Pein auf uns lasten, und ebenso war die Bezeugung der göttlichen Gnade um ihren Sinn gebracht, wenn sie nicht mehr die Entzweiung überwand, die unser verwerflicher Wille schafft, und uns nicht mehr die Einigung unseres Willens mit dem göttlichen Willen gewährte, sondern uns nur die Verklärung unserer Stimmung durch die Entfernung uns peinigender Gefühle gewähren soll. Beim geschwächten Zustand der Kirche hinderte aber die Abwendung vom Neuen Testament die historische Macht der neuen Theologie nicht. Sie stellte sich vielmehr deshalb als einen großen – 255 –

Fortschritt, verglichen mit der Aufklärung und der kantischen Frömmigkeit, dar, weil Schleiermacher mit der Bejahung unserer Abhängigkeit für die Religion wieder die Beziehung zur G e m e i n s c h a f t und zur G e s c h i c h t e gewann. Die Aufklärungsethik und auch die der ersten Kantianer war Individualismus; ihre Staatslehren beruhen alle auf der Überordnung des Einzelnen über die Sozietät. Indem der Abhängigkeitsgedanke die Führung gewinnt und die Frömmigkeit als Bewußtsein der Abhängigkeit beschrieben wird, sind wir in die Gemeinschaft gesetzt, und das Empfangen ist uns wieder erlaubt. Zugleich wird das Verhältnis zur Geschichte neu. In dieser Hinsicht sind Schleiermachers Beziehungen zur Romantik einflußreich geworden. Diese hatte ans Licht gebracht, daß sich aus der Geschichte dadurch positive Werte gewinnen lassen, daß sie zum Gefühlserreger wird, und hatte sich starke Empfindungsströme durch den Verkehr mit der Vergangenheit verschafft. Konnte nicht auch Jesus als Gefühlserreger dienen? Ließ sich das religiöse Empfinden nicht an ihm in unvergleichlicher Weise erwärmen? Damit hört aber die Geschichte auf, für uns vergangen zu sein, und gewinnt Vergegenwärtigung und beständige Fortwirkung innerhalb unserer eigenen Religion. Mit dieser Definition der Religion schien Schleiermacher der Friede z w ischen der Wissen scha f t u nd der Frömm i g k e i t , zwischen der Philosophie und der Theologie gegeben, und auch diese Verheißung hat zu seiner geschichtlichen Bedeutung wesentlich beigetragen. Friede ist stets eine anziehende Verheißung; denn jeder Kampf schwächt. Was bot er bei diesem Friedensschluß dem Christen und Theologen? Die Unabhängigkeit seiner Überzeugung von der Geschichtsforschung. Seine religiösen Begriffe haben ihren Ursprung im inwendigen Vorgang und ihre Bedeutung darin, daß sie diesen ausdrücken. Wir haben also nicht erst das Resultat der philosophischen Arbeit abzuwarten, damit der Theolog [sic] seine Aussage darauf begründe, als wäre die Vollendung des Erkennens die Bedingung des religiösen Vorgangs. So müßte er für immer vertagt werden oder erschiene immer nur als ein voreiliges Wagnis, das – 256 –

jederzeit wieder erschüttert werden kann. Als nicht weniger notwendig und wichtig erweist sich die Unterscheidung der religiösen Überzeugung von der Wissenschaft nach der ethischen Seite; denn das auf das Wissen gerichtete Streben hat ein anderes Ziel als das, in dem die Frömmigkeit besteht. Jenes erstrebt die Entfaltung unseres Wissens um seiner selbst willen, weil mit ihm unser Leben und Können gesteigert wird. Der Gottesgedanke kommt so nur unter dem Gesichtspunkt in Betracht, wie er zur Erklärung der Natur und Geschichte nützlich sei. Der Fromme ist aber durch das Abhängigkeitsbewußtsein bestimmt; er will nicht an sich, sondern an Gott denken und sucht in der Theologie nicht eine Steigerung seines Lebens, sondern Gewißheit über das, was Gott für ihn sei und tue. Daß sich beide Ziele voneinander trennen, sichert der Theologie ihre Reinheit und befreit sie von einem ihr fremden Zweck. Aber auch die Selbständigkeit gegenüber der Geschichte hat große Bedeutung gehabt, weil ja Schleiermacher den Frommen in die Gemeinde stellt und an der Kenntnis Jesu die Gnade erfahren läßt, die die Sünde überwindet. Historische Prozesse scheinen aber unvermeidlich Unsicherheit, Streit, unruhige Bewegungen in die Frömmigkeit hineinzutragen. Sind wir denn je über das Geschehene beruhigt und seiner gewiß? Doch darauf kommt es gar nicht an, sondern darauf, daß das durch die Geschichte an uns Herangebrachte unserem Empfinden zum Erreger und zum Ausdruck diene. Schleiermacher hat z.B. nachdrücklich die Augustana benutzt und eine halb kanonische Geltung dieses Dokuments in Gang gebracht. Allein das erfordert nicht die historische Festsetzung, was denn die Reformatoren gelehrt haben und warum. Nur die Beziehung des Dokuments zu unserem Bewußtseinsvorgang kommt in Frage. Wir wählen aus, was unserem Gefühl entspricht, benutzen es, weil es unserem Gefühl entspricht, und eben dadurch, daß sich diese Beziehungen zu unserem Gefühl herstellen, erhält das reformatorische Dokument Gewicht. Wir werden durch Schleiermacher in ein religiöses Verhältnis zu Jesus versetzt. Zwar bleibt seine Christologie innerhalb des vom Kantianismus zugelassenen Maßes. Immerhin überschreitet sie – 257 –

Fichtes oder Hegels Stellung. Während Fichte fragt, was uns die Geschichte helfen solle, da alles auf den in uns selbst geschehenden Vorgang ankomme, verbindet uns Schleiermacher innerlich mit Jesus, weil an ihm unser religiöses Bewußtsein seine Vollendung gewinnt und die Befreiung vom Schuldbewußtsein durch die Empfindung der göttlichen Gnade eintritt. Tritt nun die ganze Schwere der historischen Frage an uns heran? Keineswegs. Wir haben einzig darauf zu achten, wie Jesus auf unser Empfinden wirkt, wie er unseren religiösen Zustand beeinflußt. Der Theolog [sic] beschreibt nicht, was gewesen ist, sondern drückt aus, was Jesus dem Frommen leistet. Daher verwickelt ihn auch das neutestamentliche Zitat in keinerlei Beziehungen zur Historie. Er wählt aus, was sich seinem Empfinden als wirksam erweist. So vollzog Schleiermacher z.B. die scharfe Trennung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, ohne daß ihn die Frage störte, ob sie historisch möglich sei und das Neue Testament verständlich bleibe ohne seine Beziehung auf das Alte. Weil der Theolog [sic] mit dem Alten Testament die Erregung seines frommen Gefühls nicht erreicht, ist es für ihn bedeutungslos. Es war eine lockende Vereinfachung des theologischen Arbeitsziels; doch war die Bedingung, damit der Gedanke wirksam werde, die, daß Schleiermacher dem Theologen eine ernste Arbeit anzuweisen habe, die seiner Funktion ihre Unentbehrlichkeit und wertvolle Zweckmäßigkeit sicherte. Das Gefühl schafft sich Äußerungen; es muß diese Wirkung haben, so gewiß es echt ist, umso mehr, als es die Gemeinschaft durchbringt und durch sie uns zugeleitet wird. Es schafft also Gedanken, die eben darin, Ausdruck des Gefühls zu sein, ihren Sinn und Grund haben. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Theologie: sie schafft dem frommen Gefühl die Sprache. Dieser einfache Gedanke: Theologie sei Bildung der religiösen Sprache, gehört zu den größten Verdiensten Schleiermachers. Die großen Theologen sind immer Sprachbildner gewesen: Paulus, Augustin, Luther schufen Sprache. Aber es war auf die Wichtigkeit des Vorgangs nie reflektiert worden. Im Gegenteil, die Theologen dachten, und dann war es ja genug. War nicht das Ziel erreicht, wenn die Erkenntnis da war? Die Sprache konnte barbarisch blei– 258 –

ben; sie kam ja nur als auswendiges Gewand zum Gedanken hinzu. Nein, sagt Schleiermacher, das innere Erlebnis ist nicht vollendet, ehe ihr sprechen könnt. Daß ihr zu sprechen vermögt, ist nicht nur ein nachträglicher Zusatz, zu dem an sich schon fertigen inneren Erlebnis. Die Sprache gehört zum Fühlen; sie fixiert dasselbe; sie verständigt uns selbst. Es ist nicht Zufall, daß Schleiermachers erste theologische Leistungen Arbeiten eines Rhetors gewesen sind. Mit der Überführung in die Phrase war sein Gedanke freilich verdorben; denn die Phrase ist falsches Sprechen, verfälschte Sprache. Aber das Ziel, das Schleiermacher dem Theologen zeigt, wird dadurch, daß er selbst auch zur Rhetorik griff, nicht widerlegt. Mit der Sprachbildung stehen wir in der Gemeinschaft. Sie ist das Verständigungsmittel, durch das das Gefühl vom einen zum anderen übergeht und sich dadurch bereichert und verstärkt. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt im Arbeitsprogramm Schleiermachers für den Theologen. Er stellt ihn in die Kirche hinein. Aus dem Zustand der Gemeinde ergibt sich seine Aufgabe, und für sie hat er zu arbeiten. Eine wissenschaftliche Bearbeitung der praktischen Theologie gibt es daher erst seit Schleiermacher. Das steht damit im Zusammenhang, daß er die ganze Theologie verkirchlicht. Er hat es ins öffentliche Bewußtsein hineingesetzt, daß der Theolog [sic] die Theorie der religiösen Sozietät zu geben habe und verstehen müsse, was in dieser geschieht und geschehen soll. Das gilt auch für den Dogmatiker, da auch er nicht nur für sich selbst, sondern für die Gemeinde zu denken hat, somit ein kirchliches Amt verwaltet. Er hat die Verständigung innerhalb der Gemeinde über ihr religiöses Erlebnis zu bewirken und ihr das Bewußtsein von dem zu geben, was sie ist und hat. Man kann nicht sagen, daß der Theolog [sic] bei Schleiermacher nicht Arbeit bekomme, wenn er sprechen lernen muß, so sprechen, daß Kirche entsteht, nicht Zank, sondern Verständigung. Doch bleibt noch der Einwand möglich: wozu gerade Wissenschaft und Systembildung, wenn es sich nur um die Darstellung des christlichen Gefühls handelt? Ist nicht auch der Rhetor oder der Poet befähigt, dem Gefühl zur Sprache zu verhelfen? Sorgt nicht die Natur selbst dafür, daß es sich zu äußern vermag? Aber diese ersten – 259 –

und nächsten Äußerungen desselben bleiben in logischer Hinsicht unvollkommen; ein bunter Reichtum von Gebilden entsteht, die sich gegenseitig bedrängen. Es gilt hier logische Zucht zu üben, die Fülle dieser Formen miteinander in eine Einheit zu bringen, immer unter dem Gesichtspunkt, wiefern sie dem religiösen Gefühl entstammen und dasselbe zum möglichst reinen Ausdruck bringen. Das Friedenswerk, das der Theolog [sic] besorgt, gilt zuerst der religiösen Überlieferung selbst mit ihren mannigfaltigen Schöpfungen und dadurch verständigt er auch die Gemeinde über ihre Vorstellungen. Eine Art Scholastik, ähnlich wie bei Hegel, entsteht auch hier. Man denkt über Gedanken; die Denkbarkeit der Gedanken ist hier das entscheidende Maß, nach dem die Bejahung oder Verneinung erfolgt. Das Ziel ist Systembildung, Verflechtung aller religiösen Gedanken in eine möglichst feste Einheit. Schleiermacher hat dadurch nicht nur wohltätig gewirkt, sondern ein Übermaß von Systembildung erzeugt. Doch ist auf seinem Standpunkt für das religiöse Denken nichts anderes möglich. Die Wahrheitsfrage hat hier nicht den Sinn, daß wir den Gedanken mit einem Objekt vergleichen, an dem er zu messen wäre, und ihm dadurch den Beweis verschaffen; sondern der Beruf des wissenschaftlichen Arbeiters besteht darin, die Vereinbarkeit seiner Gedanken zu einem System darzutun. Freilich muß dabei der Zusammenhang der Sätze mit dem religiösen Gefühl deutlich bleiben. Dieses religiöse Grundfaktum soll aber kein Wahrnehmen sein, also keine Beziehung zu einem Objekt herstellen. Wir sind dabei als Fühlende auf uns selbst bezogen und mit uns selbst beschäftigt. Somit bleibt für die wissenschaftliche Aufgabe das Ziel, aus den dem Gefühl entspringenden Vorstellungen mit möglichster Genialität das Kunstwerk eines einheitlichen Gebildes zu schaffen. Wir litten schwer unter den ungünstigen Nachwirkungen dieser Zielsetzung. Sie hat bewirkt, daß wir heute soviel Systembildungen haben als Dogmatiker. Wir verschwenden immer noch viel zu viel Arbeit an die logische Dressur unserer Gedanken im Unterschied von der klaren Wahrnehmung im festen Kontakt mit der Wirk– 260 –

lichkeit. Die von Schleiermacher beeinflußte theologische Arbeit hat einen träumerischen Zug; es tritt in ihr stark ein ästhetisches Wohlgefallen an der schönen Frisur des Systems heraus. Für die Friedensstiftung Schleiermachers war es natürlich ebenso von Bedeutung, ob bei derselben die Wissenschaft zu ihrem Recht komme. Erhält der Philosoph Grund zur Beschwerde, wenn sich der Theolog [sic] nach Schleiermachers Anweisung selbständig betätigt? Diese Theologie ist tolerant, kirchlich auch in dem Sinn, daß sie an der Kirchlichkeit ihre Grenze hat. Sie will das religiöse Grunderlebnis nicht erzeugen; wie könnte sie das, da es ja ein Lebensvorgang ist! Wo es vorliegt, da ist das Verständnis für die theologische Ausführung da; wo es fehlt, bleibt die Rede des Theologen bedeutungslos. Die Geltung der Dogmatik reicht so weit als die Religion, wobei Schleiermacher freilich annimmt, daß das religiöse Erlebnis zum normalen Bestand des menschlichen Bewußtseins gehöre. Auch diese Seite Schleiermachers hat die deutsche Kirche tief beeinflußt, da dadurch auch das Ziel der Predigt und des Gottesdienstes weithin bestimmt worden ist. Auch sie werden tolerant, im guten Sinn, aber auch mit einem Verlust, den seither die Erfahrung der Kirche deutlich genug ans Licht gebracht hat. Die schleiermachersche Predigt will im Hörer nichts erzeugen, was er nicht schon ohne den Prediger hätte; sie gibt sich als Aussprache des in der Gemeinde schon vorhandenen religiösen Bewußtseins. Die Feier, die den vorhandenen religiösen Besitz genießt, wird der Grundton des Kultus, während das Handeln im Kultus, sowohl die Buße wie das Gebet, dabei zurücktritt. Wir verdanken dieser Seite Schleiermachers unsere kultischen Romantiker mit ihrer auf die Erzeugung der feierlichen Stimmung gerichteten Technik. Als wohltätig darf freilich herausgehoben werden, daß dieser Betrieb des Gottesdienstes die Geistlichkeit vor einer krankhaften Steigerung ihres Selbstgefühls und vor der Überreizung des Gewissens durch ein überspanntes Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber den Hörern schützt. Sodann hat Schleiermacher durchaus anerkannt, daß unsere Geeintheit mit dem »Absoluten«, in dem die Kantianer den Weltgrund – 261 –

sehen, nicht nur im religiösen Vorgang sich äußere. Der Theolog [sic] erkennt daher freudig auch jenseits der Grenzen seines eigenen Gebiets die reiche Fülle des aus dem Absoluten strömenden Lebens an. Dieses bildet den Stoff der philosophischen Ethik. Aus dem Absoluten gehen die Natur und die Vernunft hervor in ihrer gegenseitigen Beziehung aufeinander. Der Ethiker gibt uns die Anleitung, wie wir diese Beziehungen zu ordnen haben, und auch die philosophische Ethik ist in sich ein geschlossenes Ganzes, nicht etwa bloß eine Propädeutik, die durch die christliche Ethik ergänzt würde. Als philosophischer Ethiker war Schleiermacher mit dem Kulturideal befriedigt. Für den späteren Geschichtslauf ist es ein merkwürdiges Vorzeichen, daß Schleiermacher und Hegel nebeneinander in Berlin lehrten. Von Hegel rührt die Verherrlichung des Staats her, an dessen vernünftige Gestaltung alle Kräfte gesetzt werden müssen. Von ihm aus kommen wir zum Sozialismus. Daneben stand Schleiermacher, der Kulturethiker. Demgemäß steht auch heute der sozialen Stimmung die Angst gegenüber, die Güter der Kultur würden durch sie bedroht. Freilich sind Schleiermacher und Hegel beide in den zur öffentlichen Macht gelangten Gedanken aus ihrer ethischen Höhe herabgedrückt. Wie für Hegel in der Vernünftigkeit des Staates die weltbildende Vernunft ihr höchstes Werk vollbringt, so hatte auch für Schleiermacher der Kulturgedanke eine ernste ethische Bedeutung. Er verherrlicht nicht den Naturtrieb als solchen, sondern will ihn als Organon der Vernunft, und sieht nicht in der Ausnützung der Natur an sich ein Gut, sondern darin, daß die innere Einheit von Natur und Vernunft auch in unserem Handeln erscheine. Dadurch hat Schleiermacher als Gegner der Askese gewirkt. »Christliche Welt« – dieser Gedanke stammt weder aus der Orthodoxie noch aus dem Pietismus, sondern geht auf Schleiermacher zurück. In seinem Kreise hat man sich gern auf Luther berufen, der ja in der Freudigkeit seines Glaubens auch zum Gegner der Askese wird. Allein Luthers Glaube schaut und strebt ernsthaft über die Welt empor und hat seinen Stützpunkt in dem zu Gott erhöhten Christus, nun freilich so, daß er mitsamt seiner Fleischesart und allen – 262 –

seinen natürlichen Beziehungen in die göttliche Gnade versetzt und dadurch zu ihrem freien Gebrauch ermächtigt ist. Auch durch diese Tendenzen hat Schleiermacher der Kirche Hilfe und Schwächung gleichzeitig verschafft. Es ist für sie eine Wohltat, wenn sie gegen den Kampf mit den natürlichen Bedingungen unseres Lebens geschützt wird; wir haben aber auch Asketen nötig, damit sie uns die Freiheit von den natürlichen Faktoren vorleben, und diese bekommen wir nicht aus Schleiermachers Schule. So aussichtsreich diese Friedensstiftung von beiden Seiten her scheinen konnte: der Verlauf der Geschichte zeigt unzweifelhaft, daß sie g e s c h e i t e r t ist. Weder die Philosophen noch die Theologen haben sich auf diese Grenzbestimmung eingelassen. Gleichzeitig mit Schleiermachers Lehrtätigkeit geht die hegelsche Dogmenbildung vonstatten, die nicht willig war, die religiösen Vorstellungen unter dem Titel; so fühlen wir! zu akzeptieren, sondern die sie als Vorstellungen am reinen Denken maß. Und nach dem hegelschen Dogma wurden Schopenhauer und naturalistische Gedankenreihen mächtig, die ebenfalls die schleiermachersche Fundamentierung der Religion als nicht solid verwarfen. Hatten sie denn kein Abhängigkeitsgefühl? Darin hat sich Schleiermacher nicht getäuscht, daß wir Abhängigkeitsgefühl haben, und wir können es auch schlechthinnig heißen, weil wir uns selbst in der Totalität aller unserer Vermögen als geworden und gestaltet fühlen. Aber die Tatsache wird offenkundig, daß das Auftreten des Gefühls für sich über die Formation unseres Denkens und Wollens nicht entscheidet, sondern alles darauf ankommt, in welche Beziehungen unser Gefühl zum Verlauf unseres Denkens und Wollens tritt. Je nachdem sind die Differenzen, die das Personleben verschieden bestimmen, außerordentlich groß. Aber auch da, wo Schleiermacher direkt dankbar benutzt wird, im Bereich der Theologie, entstehen die parallelen Resultate. Hofmann z.B. gibt der Theologie das Objekt im christlichen Bewußtsein. Er steht damit dicht bei Schleiermacher, wobei zugleich Kants Sätze zur Geltung kommen. Diese Theologie wird jedoch sofort lutherisch, d.h. das christliche Bewußtsein, das sie beobachtet, stellt – 263 –

Aussagen über Gott, über den Christus, über die Kirche auf, die den objektiven Tatbestand des Seins und Geschehens benennen wollen. Was sie darstellt, ist der Glaubensvorgang, der den zu uns in Beziehung tretenden Objekten eine geschlossene Bejahung gibt. Demgemäß tritt diese Theologie als Wissenschaft auf und beansprucht Erkenntniswert, allerdings nur für den esoterischen Kreis, der das christliche Bewußtsein besitzt, aber mit dem Anspruch, daß wir dasselbe haben sollen. Fühlten denn diese Theologen nicht? Gewiß, aber sie besitzen ihr Fühlen nur als einen mit ihrem ganzen personhaften Leben verflochtenen Prozeß. Es ist also von beiden Seiten her Schleiermacher die Isolierbarkeit des Fühlens bestritten worden, und diese Bestreitung besteht zu Recht. Nicht das ist die Frage, ob das Gefühl als der primäre Vorgang des Bewußtseins und speziell des Gottesbewußtseins zu gelten habe, ob also die anderen Funktionen aus dem Gefühl zu erklären seien. Die rationalistische Frage nach der Erklärbarkeit der religiösen Phänomene kommt hier gar nicht in Betracht. Selbst wenn es so wäre, daß das Gefühl die Wurzel aller unserer Lebensakte sei, so wüßten wir das nie, da wir die Genesis unserer Funktionen nie beobachten. Schleiermachers Versuch mußte deshalb scheitern, weil sich in der Ausübung unserer Funktionen die Separation des Gefühls unmöglich festhalten läßt. Wie wurde sie ihm selber möglich? Mit der Formel »Abhängigkeitsgefühl« hat auch er schon die Sphäre des Gefühls überschritten und eine wichtige Kategorie des Denkens, nämlich den Kausalbegriff, in die Beschreibung des religiösen Vorgangs hineingenommen. Was »abhängt«, ist bewirkt und gestaltet von einem anderen. Allein Schleiermacher verwendet den Gedanken »Abhängigkeit« rein formal, genauso, wie Kant oder Hegel mit ihren allgemeinen Formen arbeiten. Der Gedanke »Abhängigkeit« für sich sagt über das nichts aus, was abhängig ist. Lediglich ein Kausalverhältnis wird statuiert, aber nicht gesagt, was das Bewirkte sei. Dieser Frage weicht die schleiermachersche Religion aus, und sie muß ihr ausweichen, wenn sie das Gefühl von den anderen Lebensfunktionen isoliert halten will. Es genüge, daß wir uns schlechthin abhängig – 264 –

fühlen; wir wüßten ja, was wir seien, wüßten also, was abhängig ist. Sowie aber die Frage entsteht, was denn abhängig sei, was an diesem Ich geschehe infolge seiner Abhängigkeit, ist die Grenze, die die Frömmigkeit vom Denken scheidet, abgetan. Damit entstehen sowohl Aussagen über das Ich, die beanspruchen auszudrücken, was wir an uns wahrnehmen, als auch Aussagen über Gott. Denn wenn wir nicht ein abstraktes, leeres Ich, sondern unsere konkreten Funktionen als in uns bewirkt und uns gegeben bezeichnen, so liegt in der bestimmten Aussage über das Bewirkte auch eine solche über den Wirker. Gott bleibt dann nicht nur die Ursache einer als leer vorgestellten Abhängigkeit, sondern wird der Geber dieser ganz bestimmten Funktionen, z.B. der Erzeuger unseres Denkens mit seiner Befähigung für die Wahrheit und unseres Willens mit seiner Unterwerfung unter ein gutes Gesetz. Wenn aber das religiöse Interesse auf den konkreten Inhalt unserer Funktionen geht, dann ist es auch an der Gemeinde und am Christus nicht nur so interessiert, daß es sie als Gefühlserreger benutzt, sondern dann entsteht auch für sie sehr ernsthaft die Frage, was denn in ihnen das Abhängige, Bewirkte und Gegebene sei. Damit fällt der Zaun zwischen der Religion und der Geschichte um, und die Geschichte, die uns den Vorgang in den anderen zeigt, wird für unser Verhalten zu ihnen die bestimmende Macht. Aber ebenso wichtig ist die Relation zwischen der Frömmigkeit und der Ethik. Auch hier wird die Selbständigkeit der Religion bei Schleiermacher nur dadurch erreicht, daß wir den Gedanken »Abhängigkeit « leer lassen und nicht fragen, was denn abhängig sei. Sonst würde sofort deutlich, daß wir die Abhängigkeit von unseren Vermögen aussagen und das Bewußtsein der Bedingtheit und des Bewirktseins an unsere Aktionsmacht heften. Bei Schleiermacher schiebt sich dagegen vom Kantianismus her das Verschmelzungsgefühl mit dem Alleins ein, das nun nur Abhängigkeit, nur Passivität als Merkmal der Frömmigkeit zuläßt. Wird aber wahrgenommen, daß wir unsere Aktionen ausüben mit dem Wissen, daß wir in diesen nicht souverän, nicht unsere eigenen Produkte sind, sondern den Grund und das Gesetz derselben über uns haben, dann – 265 –

treten Pflichtformeln in die Religion ein, und es stellt sich uns die Aufgabe, unsere Aktionen so zu vollziehen, daß sie in der sie begründenden Abhängigkeit bleiben und das durch sie uns Gegebene bewahren. Damit hört der behagliche Quietismus der schleiermacherschen Religion auf, die ihr Gefühl genießt, und das ist umso nötiger, weil die ethischen Begriffe Sünde und Gnade dabei beständig zur Verwendung kommen, die Schleiermacher dadurch einem schweren Mißbrauch ausgesetzt hat, daß er sie nur in ein ästhetisches Miß- und Wohlgefallen umsetzte. Sowie aber die Ausübung unserer kausalen Macht in die Frömmigkeit hineingestellt wird, haben wir wieder den Kampf, zunächst im Einzelleben und ebenso in der Sozietät. Dann treten der normale und der abnorme Freiheitsgebrauch auseinander, und der Ernst der Willensentscheidung legt sich in unser Verhältnis zu Gott. Gegen das unser inwendiges Leben gestaltende Gesetz waren die schleiermacherschen Abstraktionen und Definitionen machtlos. Wer zwischen den Bewegungen, die in unseren Sozietäten gegeneinanderstoßen, Frieden stiften will, muß zuerst imstande sein, zwischen unseren inwendigen Funktionen, die zusammen unseren Reichtum bilden, die Einigung herzustellen. Schleiermacher war ebenso unfähig wie die anderen Kantianer, sie zu einigen. Durch seine Verehrung für die Abstraktion schuf er nur die Entleerung, nicht die Einigung der inwendigen Vorgänge und, da er zur Begründung der Frömmigkeit nur das selbstische Motiv zuließ, weil mit der Verneinung des Willens auch die Liebe verneint war, blieb das verhüllt, was uns für unser inwendiges Leben und für die Gemeinschaft den Frieden gewährt. Darum ging der intellektuelle und der ethische Kampf um die Gottesfrage über Schleiermachers Friedensstiftung hinweg.

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20. Herbart Auch Herbarts religiöser Einfluß auf die Geschichte des letzten Jahrhunderts ist sehr beträchtlich. Er zeigt sich in der Schule und hier als positive Kraft. Persönlichkeiten wie Ziller oder Dörpfeld veranschaulichen, wie in der Lehrerschaft der religiöse Anstoß, der von Herbart ausging, positive Werte schuf. Er ist aber auch direkt für die Kirche wichtig geworden. Eine Auseinandersetzung über den Gottesbegriff, wie sie Lotze gab, ist in der theologischen Literatur nicht häufig anzutreffen und die Bedeutung, die der Begriff »Werturteil« für die Begründung und Zielsetzung des religiösen Denkens gewonnen hat, macht Herbarts Wirkung sichtbar. Denn das »Werturteil« als selbstständiger Ausgangspunkt einer von der übrigen Wissenschaft unabhängigen Überzeugungsreihe stammt von ihm. Wir haben auch hier die Positivität und Unberechenbarkeit des Geschichtslaufs vor Augen, da es zunächst, wenn Herbarts Metaphysik erwogen wird, gänzlich ausgeschlossen scheint, daß eine fruchtbare religiöse Aktion von ihm ausgehen könnte. Wir scheinen uns vielmehr in der denkbar größten Entfernung von den Prämissen der Gottesbejahung und des Gottesdienstes zu befinden. Dennoch hat er fruchtbarer und stärker auf den religiösen Besitz eingewirkt als viele Glieder der theologischen Fakultäten. Er nimmt die kritische Zielsetzung Kants wieder auf. Denn wir genügen auch nach seinem Urteil der Verpflichtung, die Leistungen unserer Vernunft zu beurteilen, noch nicht, wenn wir uns nur dem Irrtum widersetzen, da dieser nur einzelne Betätigungen unseres Denkvermögens verdirbt. Zwar hat Herbart auch in der Kritik seiner Mitarbeiter Namhaftes geleistet. Sein Widerspruch gegen die Vernunft reicht aber weiter; denn er ist überzeugt, daß Kant – 267 –

mit Recht den Illusionismus in die Erkenntnislehre eingeführt und endgültig den Nachweis erbracht habe, daß unser Bewußtsein mit Illusionen gefüllt sei, die unvermeidlich in uns entstehen und erst durch einen zweiten, den kritischen, Denkakt als solche erkannt werden. Darum weigert er sich, die immer vorhandenen und in allen hervortretenden Erzeugnisse unseres Bewußtseins als uns gegeben zu schätzen, und wendet seine Kritik gegen den Bewußtseinsvorgang an sich. Er verwandte dazu eine andere Methode als Kant, der bei seinen kritischen Urteilen nur dem rationalistischen Unwillen über das Unerklärbare gehorchte, der sich gegen die unserem Bewußtsein gesetzten Schranken aufbäumt und das Geheimnis als unerträglich wegwirft. Weil es keine Theorie des Sehens gibt, die uns zeigte, wie der Sehende das Gesehene berührt und unser Raumbild an dem die Natur formenden Raum entsteht, und weil der kausale Vorgang uns undurchsichtig bleibt und wir uns keine Vorstellung bilden können, wie die Wirkung aus dem Wirkenden heraus in den Bewirkten hineintritt, versagte Kant unserem Bewußtsein die Bejahung. Herbart sah, daß wir auf diesem Weg der Skepsis verfallen und nicht zur Berichtigung, sondern zur Zerstörung unseres Bewußtseins gelangen. Er machte darum zum Mittel seiner Kritik einen Vorgang, den unser Bewußtsein uns gibt und dem er eine unbeschränkte Bejahung gewährt. Das ist das logische Gesetz, der Satz, der uns den Widerspruch verbietet; mit ihm sei uns das Mittel gegeben, mit dem wir uns über unser Bewußtsein zu erheben und es zu richten vermögen. Durch das in uns hervortretende Denkgesetz ist uns untersagt, gleichzeitig sich Widersprechendes zu bejahen. Da die Gebilde unseres Bewußtseins diesem Anspruch nicht genügen, müssen sie als Schein entwertet und berichtigt werden. Herbart hat also das Gesetz der Einheit, das den Grund unseres Lebens formt, wahrgenommen und es als unverletzlich geehrt. Er ließ aber nur die Einerleiheit als Einheit zu und sah in der Fülle des uns gegebenen Lebens nur den Widerspruch. Einen konnte auch er nicht, nur leeren. Darum hatte auch er für sein Denken kein anderes bewegendes Prinzip als den Widerspruch. Nur die Verwirrung – 268 –

und Not des Denkens, die in dem Vorhandensein der Widersprüche in uns besteht, macht ihn zum Forscher und Philosophen. Die Entfernung, die uns von Cartesius trennt, ist somit noch äußerst gering. Auch hier entsteht der philosophische Antrieb wieder aus dem Zweifel, der durch den Konflikt sich gegenseitig aufhebender Vorstellungen hervorgetrieben wird. Darin, daß auch Herbarts Denken im Widerspruch sein Bewegungsprinzip hat, bleibt er neben Hegel; er trennt sich aber von ihm dadurch, daß er sich weigert, den Widerspruch zu denken, und ihn durch Korrekturen des Bewußtseins wegschaffen will, während Hegel im Hervorgang des Gegensatzes aus dem früheren Gedanken den produktiven, die Fülle des Geschehens erzeugenden Faktor erkennen zu dürfen glaubt. Wir finden in uns Gebilde, von denen wir Einheit und Vielheit gleichzeitig aussagen. Unser eigenes Bewußtsein gilt uns als eine Einheit, während es doch gleichzeitig eine unendliche Fülle von Vorgängen umfaßt. Aber auch den Dingen schreiben wir mit der Einheitlichkeit eine Vielheit von Eigenschaften zu, die nicht nur die Außenseite der Dinge bestimmt, sondern in das innere Wesen derselben hineinragt, da ja die Eigenschaften als Aktionsweisen der Dinge notwendig in diesen selbst eine Vielheit voraussetzen. Wir haben dieselbe Rätselhaftigkeit an den räumlichen Gebilden mit der in ihnen umfaßten, also geeinten Unendlichkeit von Räumen, die sich nicht begrenzen läßt. Wir sagen von den Dingen Veränderungen aus, wiederum ein Widersprechendes, wobei unser Urteil zwischen Bejahung und Verneinung in der Schwebe bleibt. Sofern die Dinge werden, sind sie und sind gleichzeitig nicht. Unser Ich hat eine ähnliche undurchdringliche Rätselhaftigkeit, da wir uns selbst als Objekt uns gegenüberhalten und doch nicht sagen können, was das Ich sei, so daß hier eine Unterscheidung zustande kommt, die doch keine solche ist. Daraus ergibt sich, daß unser Bewußtseinsinhalt Schein ist, aber real begründeter Schein, weshalb unsere Aufgabe darin besteht, die uns gegebenen Bewußtseinsformen so umzubilden, daß sie von den logischen Unmöglichkeiten gereinigt sind. Das Resultat dieser Arbeit sind bei Herbart die vielen Realen, jedes schlechthin ein– 269 –

fach, mit einer einzigen, uns nicht faßlichen Qualität, vereinigt im intelligiblen Raum. Aus ihrer Beziehung zueinander entsteht die Vorstellung als Selbsterhaltung des Realen gegen ein mit ihm sich Berührendes und in den Bewegungen dieser Vorstellungen, die sich miteinander verbinden oder ausstoßen, besteht der Lebensprozeß. Wir scheinen von der ganzen religiösen Gedankenreihe völlig abgeschnitten zu sein. Nicht nur das Wollen ist uns genommen und auf das bloße Vorstellen reduziert, sondern überhaupt die Geschichte, alle Veränderung, alles Werden. Wir sind leere Einheiten, die mit sich identisch bleiben, und vollziehen mit allem, was in uns geschieht, nur die Erhaltung unseres Selbst. Wie entstand dennoch von Herbart aus eine religiöse Wirkung? Er hat den Zweckbegriff in der Gestaltung unseres Lebens und desjenigen der höheren Organismen anerkannt, und am Zweck entsteht ihm die Bejahung Gottes. Hier haben deutlich nicht rein logische, sondern aus dem Willensbereich stammende Motive die Entscheidung bedingt. Neben den starken Eingriffen, die die herbartsche Metaphysik an den gegebenen Bewußtseinsformen wagt, wäre die Auflösung der teleologischen Vorgänge in »Schein« eine Kleinigkeit. Aber die Erwägung hält ihn zurück, daß uns die Lebensführung unmöglich werde, wenn der Zweckgedanke kassiert sei. Eine ontologische Füllung des Gottesgedankens ist uns zwar nicht möglich; seinen Inhalt erhält das Gottesbewußtsein durch die Verbindung des Zweckbegriffs mit den sittlichen Ideen. So entsteht ein ethisch gerichteter Providenzglaube. Diese Formation des Gottesgedankens war nicht neu; wenn sie doch kräftig auf die deutsche Geschichte eingewirkt hat, so haben wir daran ein charakteristisches Beispiel für die kausale Macht des Glaubens. Wenn auch Herbart gegen den ganzen Bewußtseinsinhalt seine Einrede erhebt und ihn als Schein wertet: Phänomenologie wird er nicht, und in die Unentschiedenheit eines halben Ja und Nein versenkt er uns nicht, sondern formt abschließende Überzeugungen, in die er ein entschiedenes Ja legt. Damit ist uns die »Seele« gesichert; wir sind reale Wesen, und sowie die Seele gesichert ist, erhält auch die Bejahung Gottes Ernst. Zur realen Seele gehört ein – 270 –

realer Gott, nicht nur ein »Ideal« aber ein »Postulat« sondern ein Gott, dem unser Glaube gehört. Darum entstand von Herbart aus positive Religiosität. Während er in der Bildung der Theologie nahe bei der Aufklärung bleibt, bildet die A b t r e n n u n g d e r E t h i k v o n d e r M e t a p h y s i k und ihr Aufbau auf einer selbständigen Basis ein Novum, das als ein wesentlicher Gewinn zu schätzen ist, wenngleich Herbart seine richtige Beobachtung sofort wieder überspannt. Er sah in der Vermischung theoretischer und ethischer Gesichtspunkte eine wirksame Fehlerquelle in der bisherigen philosophischen Arbeit. Und doch unterscheiden sich die beiden Fragen, was ist, und was sein soll, deutlich. Sie stehen nebeneinander wie Wahrnehmung und Wille. Unser Wünschen trägt nie Schlüsse auf das, was ist; ebenso wenig ist für das, was von uns gewollt werden soll, einzig die Wahrnehmung der Tatbestände maßgebend. Herbart klagt, daß wir unsere beiden Aufgaben, das Seiende zu sehen und unserem Wollen das richtige Ziel zu setzen, beständig verwechselten. So hänge z.B. an der Idee, einem Lieblingswort Schellings und Hegels von Plato her, die üble Zweideutigkeit, daß das Wort halb ein Willensziel, halb einen Tatbestand ausdrücke, wobei häufig die Intensität des Wollens als Beweis für die Richtigkeit des Denkens gelten müsse. Im Interesse beider Aufgaben sei ihre Trennung nötig, zur Entfernung von sog. Deduktionen aus der Metaphysik und zur Verhütung falscher Akkommodationen an die schlechte Wirklichkeit in der Ethik. Die Parallele zwischen Herbart und Schleiermacher ist in dieser Hinsicht lehrreich. Schleiermacher will die Religion selbständig gegen die Wissenschaft machen, Herbart die Ethik. Beide stehen unter dem Eindruck, daß die wissenschaftliche Arbeit durch den Kantianismus eine Wendung nehme, die die Basis unserer Aktion erschüttere, wenn ihr nicht Selbständigkeit gegenüber den Schwankungen der Spekulation verschafft werde. Was Schleiermacher am Herzen liegt, das war die Rettung der Religion. Herbart kämpft für die Selbständigkeit der Sittlichkeit. Die Frage ist auch hier: was ist die Basis, auf die eine gegen die Spekulation autonome Ethik gebaut wird? Es treten als gegebene – 271 –

Bewußtseinsgrößen Urteile in uns auf, die die Willensverhältnisse, sei es billigend, sei es mißbilligend, einschätzen. Diese Tatsache ist vom Bestand unserer Theorien unabhängig. Nicht einmal die Willensfrage, sagt Herbart, sei für diese Urteile belangreich. Die Mißbilligung oder Billigung erfolge unabhängig von der Erwägung, ob wir anders wollen könnten. Die Qualität des Willens erzeuge die Urteile, und davon sei die theoretische Frage, wie der Wille entstehe, gänzlich abzuscheiden. Wir könnten uns das am ästhetischen Urteil verdeutlichen, das auch nicht frage, ob der Maler es anders hätte machen können. Ein Gemälde bleibe hässlich, auch wenn es das Beste ist, was dieser Maler malen kann. Urteile findet also der Ethiker in sich, und diese hat er wahrzunehmen. Das scheint zunächst nur eine kleine Differenz von Kants Denkweise zu ergeben, wo die praktische Vernunft Imperative erläßt. Urteil und Befehl sind ja nicht zu trennen. Aus der Beurteilung des Willens ergibt sich die Forderung, den mißbilligten Willen zu lassen, den gebilligten zu haben. Wiederum aus der Gesetzgebung entsteht die Urteilsfällung über das Verhältnis unseres Willens zum Gesetz, sei dieses nun Erfüllung des Gesetzes oder Gesetzesbruch. Dennoch ist es keineswegs nebensächlich, daß Herbarts Ethik nicht allein und sofort als Gesetzgebung auftritt und unsere ethische Aufgabe nicht bloß so beschreibt, daß wir uns unser Gesetz geben, sondern daß er bei der Tatsache einsetzt, daß wir einem Urteil unterworfen sind, das nicht unserer Willkür untersteht, und dadurch fortwährend erleben, daß wir in unserem Willen entweder verworfen werden oder Zustimmung finden. In Kants Formel nistet sich leicht der rationale Übermut ein; in derjenigen Herbarts kommt dagegen die Abhängigkeit, in der wir auch in unseren Willensakten stehen, zur klaren Erfassung. Sie stärkte dadurch die nüchterne, für den Tatbestand offene Besonnenheit und bot Schutz gegen eine schwärmende reine Vernunft. Sodann war auch darin eine richtige und fruchtbare Beobachtung erreicht, daß das Objekt der sittlichen Urteile nicht einzelne Willensakte für sich sind, sondern die Verhältnisse zwischen zwei Wollungen. Es kommt darauf an, wie wir den Willen zum Willen – 272 –

fügen; in diesem Anschluß entsteht Bruch oder Verbundenheit, Normalität oder Abnormität. Damit war gegeben, daß Herbart im Unterschied von der Aufklärung und von Kant eine Sozialethik bekam. Bei Kant ist jeder für sich der Gesetzgeber und Gesetzerfüller. Die verbindende Macht der Pflicht kommt nicht klar zur Erkenntnis. Indem Herbart die Hypostase »praktische Vernunft« entläßt und stattdessen beobachtet, nimmt er wahr, daß die Ethik es damit zu tun hat, wie unser Wille zu dem des anderen sich verhält. Damit ist gegeben, daß die ethischen Normen auch für die Sozietät Geltung haben, wenn auch die Wissenschaft von der Sozietät nicht nur aus Ethik besteht, so wenig als unser Bewußtsein einzig den Gewissensvorgang aufzeigt. Aber die Geltung der ethischen Normen bestimmt nicht nur unser individuelles, sondern auch unser soziales Handeln, und der Ethiker hat die Aufgabe, die Idee der Sozietät auszubilden, indem er angibt, wodurch sie die sittlichen Urteile für sich hat und realisiert. Da wir hier ein aufmerksames Studium des Gewissensvorgangs vor uns haben, ist die Frage für den Theologen von einigem Interesse, ob der Grundbegriff der christlichen Ethik auftritt oder nicht. Von der Ethik Jesu aus steht es fest, daß der gute Wille im Verhältnis zueinander die Liebe des Nächsten ist. Natürlich hängt die Geltung dieser Norm nicht vom Votum dieses oder jenes Philosophen ab; es bleibt aber eine für das Schicksal unseres Volks und die Arbeit der Kirche folgenreiche Tatsache, ob ein auf Ethik ernsthaft gerichteter Beobachter im Studium des Gewissensvorgangs die Liebe als uns geboten findet oder nicht. Die Aufklärer wissen nur von jener Liebe zu reden, mit der wir uns glücklich machen; bei den anderen spekulativen Kantianern fehlt sie natürlich, da die Persönlichkeit kassiert ist zugunsten des Alleins, und wo sie, wie in Fichtes und Schellings letzter Zeit, auftritt, ist sie spekulativ umgebogen. Diese Hindernisse liegen bei Herbart nicht vor, da er das sittliche Urteil aus allen spekulativen Zusammenhängen herauslöst. Er hat das Wohlwollen als ein mit stabiler Urteilsbildung gebilligtes, das Übelwollen als ein mißbilligtes und verworfenes anerkannt. Wir bekommen also den Liebesgedanken in reiner, einfacher – 273 –

Fassung; aber er sagt uns, das sei nicht die einzige sittliche Idee. So würde sich das Verhältnis, wie es scheint, so bestimmen: der herbartsche Ethiker würde uns zugeben, daß wir, wenn wir die Liebe des Nächsten in uns haben, zwar einen guten Willen, allein noch nicht den ganzen guten Willen haben; das sei noch nicht die Ethik. Was entdeckt er daneben noch als sittlich gebilligte Willensform? Die ersten beiden Gruppen von Urteilen, die er nennt, bleiben innerhalb des einzelnen Bewußtseins. Das Verhältnis meines Willens zu dem über dasselbe ergehenden Urteil unterliegt selbst wieder der Beurteilung, da die Billigung meines Willens das inwendige Wohlgefallen, die Mißbilligung desselben das inwendige Mißfallen erweckt. Dieser Vorgang unterliegt keinem Zweifel. Herbart hat ihn mit der mißverständlichen Formel Freiheit benannt; heißen wir ihn Gewissenhaftigkeit. Ebenso wenig entsteht an Herbarts zweiter »Idee« eine Kontroverse: der stärkere Wille wird vor dem schwächeren bevorzugt, vorausgesetzt, daß die Übereinstimmung mit dem sittlichen Urteil vorliegt, wobei nicht nur die Intension, sondern auch die Extension des Wollens in Betracht kommt. Diese sittliche Idee nennt er Vollkommenheit. Aber damit haben wir noch nicht gehört, was die sittliche Norm sei. Daß die Übereinstimmung mit der sittlichen Norm und der starke Wille gefalle, ist eine richtige Beobachtung; aber wir achten dabei nur auf die Form des Willens; das Gewollte ist damit noch nicht genannt und der Inhalt der Norm unbestimmt gelassen. Nun geht er sofort zum Verhalten gegen die anderen über. Das ist eine der klaren und wertvollen Aussagen Herbarts: er hat darauf verzichtet, innerhalb des Einzellebens irgendeine schlechthin wertvolle Zielsetzung zu finden, womit der Tugendbegriff aufgegeben ist. So, wie ihn Herbart unter dem Titel Vollkommenheit hat, so nämlich, daß wir unserem Willen zur Kraft zu verhelfen haben, ist er natürlich unanfechtbar; der starke Wille wird aber nur dadurch wertvoll, daß er das sittliche Urteil für sich hat, und für dieses gewinnt Herbart den Inhalt erst aus unserem Verkehr miteinander. Hier steht nun das Wohlwollen voran. Darauf folgen bei ihm noch zwei sittliche Forderungen die Vermeidung des Streits, aus der – 274 –

das Recht entsteht, und die Vergeltungsregel, die Talionsnorm für Wohl und Schmerz unter dem Titel Billigkeit. Das sind bei Herbart die sämtlichen fünf sittlichen Ideen. Der Gegensatz, in dem sich diese Statistik der sittlichen Urteile gegen das Wort Jesu bewegt, ist sehr klein; wir sind dicht beim Neuen Testament. Den Streit vermeiden, das ist eine negative Anweisung, die nicht für sich allein stehen kann, sondern der Begründung durch einen positiven Gedanken bedarf. Und ist wirklich der Friede immer sittlich gefordert? Bedürfen wir nicht einer näheren Bestimmung, weil es sittlich notwendigen Streit gibt? Wir in der christlichen Gemeinde wissen, daß der, der uns den Frieden schafft, gleichzeitig dazu kam, um das Schwert auf die Erde zu werfen, und uns in den heiligen Kriegsdienst Gottes versetzt, ohne daß hier irgend eine Spannung entstände. Herbart muß uns im konkreten Fall sagen, wann wir den Streit vermeiden müssen und wann nicht, und hat hierfür auf das Wohlwollen zurückzugreifen. Der mit Übelwollen begonnene Streit, nur er ist Rechtsbruch. Dasselbe gilt vom dritten Gedanken. Ist es wirklich ein sittliches Bedürfnis, auf das Weh, das wir erleiden, ebenso viel Weh zu tun und den Dank genau gleich der Gabe zu bemessen, die wir empfangen haben? Das Gleichheitsideal, das er hier verwertet, ist ein zweifelhaftes Erbe der Aufklärung. Auch hier bedürfen wir zur Regelung des ethischen Problems den Rückgriff auf das Wohlwollen. Wir bekommen also nicht nebeneinanderstehende ethische Ziele, Liebe und Vermeidung des Streits und Billigkeit, sondern die letzteren sind subordinierte Fälle und Besonderungen der Liebesregel. Wir haben also Herbart gegenüber das Vergnügen, auch einmal einen philosophischen Ethiker zu finden, der gemerkt hat, was Güte und guter Wille ist. Dadurch, daß Herbart den Bewußtseinsvorgang nur als Bewegung von Vorstellungen beschreibt und gleichzeitig ein ernstes Interesse an den ethischen Normen hat, die als Urteile in den Verlauf der Vorstellungen eintreten und über ihn kausale Macht gewinnen, wird er Pädagog [sic]. Die Einwirkungen, die wir auf den Vorstellungslauf der anderen üben, kann [sic] uns nicht gleichgültig blei– 275 –

ben, und es wird zu einer sittlichen Pflicht, die Regeln festzustellen, nach denen diese Einwirkung zu logisch und ethisch positiven Resultaten führt. Auch in dieser Zielsetzung steht Herbart noch näher bei der Aufklärung als die anderen Kantianer. Die fortgehende Wirkung der herbartschen Ethik auf die Theologie ist dadurch vermittelt, daß sie einer Kombination mit Schleiermachers Ausgangspunkt fähig schien. Mit der Selbständigkeit der Moral war ja ein Hauptstück des theologischen Besitzes gesichert; ließ sich der Gedanke erweitern, so daß zu den sittlichen Werturteilen noch andere Willensformen treten, die in unserem Bewußtsein eine deutliche, gesicherte Abschätzung erhalten? Dann hätten wir vielleicht das von Schleiermacher angestrebte Ziel in haltbarerer Form erreicht: Selbständigkeit der Theologie, Unabhängigkeit des religiösen Denkens von allen Weltanschauungsfragen, Befreiung der Gemeinde von der Herrschaft der Wissenschaft dadurch, daß ihre religiöse Erkenntnis ihre eigene Basis erhält. Daß dies mit dem Fühlen nicht zu erreichen war, war durch den an Schleiermacher sich anheftenden Geschichtslauf deutlich geworden. Am Werturteil sind aber unsere inwendigen Funktionen alle beteiligt. Denn das Urteil ist ein Denkakt; und der Wert, über den das Urteil ergeht, hat das Begehren bei sich. Ohne Begehren gibt es keine Werte, und wo Begehrung ist, ist auch Empfindung. Mit der Begrünung der Theologie auf Werturteile scheint nicht nur die Beschränkung derselben auf die Gefühlsvorgänge, sondern gleichzeitig auch ihr Versinken in einen dürren Intellektualismus abgewehrt, da ja damit, daß die von uns zu begehrenden Werte das Objekt der Darstellung bilden, ihre Beziehung zum einheitlichen Zentrum unseres Personlebens gesichert ist. Die theologische Frage würde sich somit so bestimmen: ob es als in uns wahrzunehmende Tatsache nicht nur in unserem Verkehr miteinander stabile Werturteile gibt, sondern ob solche auch unsere Zuwendung zu Gott uns wünschbar machen? Der Gedanke hat in unserem Theologiebetrieb schon seine Geschichte gehabt und wird sie wahrscheinlich noch weiter haben. Doch ist schon von Herbart her dies mit Sicherheit zu sagen: die Unterscheidung der beiden intellektuellen Funktionen, des theore– 276 –

tischen Urteils und des Werturteils, kann unmöglich zur Separation werden. Herbart hat richtig beobachtet, daß im sittlichen Gebiet die Werturteile von unseren sonstigen Gedanken unabhängig sind. Sie haben das Gewicht einer Tatsache genauso wie ein Resultat der Sinnesfunktion und stehen als ein Erlebnis neben den anderen psychischen Vorgängen mit derselben Macht der Tatsächlichkeit. Allein wir können unser Bewußtsein unmöglich in zwei Hälften spalten, a) theoretische Urteile, b) Werturteile. Denn zwischen unseren Urteilen stellen sich die Verbindungen beständig her. Wir haben, indem wir ein Urteil fällen, gedacht und verwenden für jedes Werturteil Seinsurteile, nicht bloß so, daß das Wollen als Faktum auch vom Theoretiker die Anerkennung fordert, sondern auch so, daß wir für unser Wollen ein Gewolltes brauchen, das unserem Bewußtsein mittelst eines Gedankens gegenwärtig ist, der ein Reales oder zu Realisierendes erfaßt. Damit sind unsere Werturteile in eine notwendige Beziehung zu unserem übrigen geistigen Besitz gesetzt, und wir werden nie eine Theologie anstreben können, die zu jeder anderen Erkenntnis beziehungslos bliebe, nie ein Gottesbewußtsein bilden dürfen, das sich mit jeder beliebigen Deutung des Menschen und der Welt kombinieren ließe, eben deshalb, weil jedes Werturteil zerfällt, wenn das in ihm enthaltene Seinsurteil gestrichen wird. Die von Herbart ausgehende Anregung hat zwar die theologische Arbeit nicht von vornherein schief bestimmt, bedarf aber des Schutzes gegen Überspannungen.

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21. Der Pessimismus: Schopenhauer und Nietzsche Wir müssen noch einmal zurück zu Kant; denn Schopenhauer ist Kantianer. Die Vernunft Kants, die die Erscheinungen erzeugt, mit dem bloß subjektiven Raum- und Zeitbild, wird von Schopenhauer übernommen. Demgemäß ist die Wissenschaft nur Phänomenologie. Aber auch er sucht einen Stützpunkt wie die anderen Kantianer und lehnt das beständige Schweben im völligen Verzicht auf eine endgültige, das Leben formierende Affirmation ab. Während aber die anderen Kantianer ihren Stützpunkt in der Vernunft suchen, die die Erscheinungen erzeugt und eben darin ihre Macht betätigt, daß sie diese reiche Welt erzeugt, wendet sich Schopenhauer vom Intellekt ab, da er ja bloß Erscheinungen schaffe, und wendet sich dem W i l l e n zu, zunächst noch mit Berufung auf Kant, der ja im Willen ein hinter den Erscheinungen stehendes und in der Vernunft sich offenbarendes Reales entdeckt habe. Er geht aber dadurch über Kant hinaus, daß er die Vernunft und den Willen nicht nebeneinandersetzt in einer verschwommenen Unbestimmtheit, sondern ein kausales Verhältnis zwischen beiden lehrt. Der Intellekt entsteht aus dem Willen, nach Schopenhauer durch die Vermittelung des Leibes. Das erste Produkt des Willens ist der Leib, speziell das Gehirn, und im Gehirn entsteht der Intellekt und dieser produziert Raum und Zeit und alle Erscheinungen. Mit dem Subjekt ist nun auch das Objekt da. Das ist eine Wandlung in der Selbstbetrachtung und Weltdeutung, wie wir sie seit dem Hellenismus nie gehabt haben, abgesehen natürlich vom Christentum mit seiner Aufhellung des Gottesgedankens. Cartesius, Spinoza, Kant sind relativ kleine Abwandlungen desselben, nämlich des griechischen Typus: der Mensch ist Vernunft; sein Leben besteht im Denken; ebenso ist die Welt ge– 278 –

dacht, und weil sie gedacht ist, besteht sie. Von dieser Bahn weicht Schopenhauer ab: die Welt ist Wille, und der Intellekt ist erst das Abgeleitete und hat weder seinen Grund noch seinen Zweck in sich selbst. Das Denken muß dem Willen dienen und ist das Mittel, wodurch er sich das Begehrte verschafft. Da keimt eine neue Logik und damit selbstverständlich auch eine neue Ethik. Auch Fichte und Schelling waren Freiheitslehrer; aber sie stellen noch keine scharfe Antithese zum Rationalismus her, weil Fichte Vernunft und Willen identifiziert und bei Schelling in der zweiten Gestalt das Denken in den Willensprozeß selbst eintritt, so daß der vollendete Wille das Denken in sich hat. Bei Schopenhauer ist der Wille an sich das Erste und der Intellekt sein Produkt. Aus diesem Gedanken, soweit er jetzt formuliert ist, mußte nicht notwendig eine Abwendung vom Christentum entstehen, vielmehr war die Entzweiung zwischen der Philosophie und der religiösen Überlieferung wesentlich dadurch entstanden, daß die auf den Willensvorgang zielenden Aussagen der Kirche von den Philosophen abgelehnt wurden, und die Zertrennung der öffentlichen Autorität in zwei sich bestreitende Wissenschaften, Philosophie und Theologie, begann mit dem cartesianischen Entschluß zur reinen Rationalität. Wenden wir uns nun zum Satz zurück: der Mensch will und ist Erzeugnis des Willens, so kommen wir zu Gedanken, die in der christlichen Lehre immer lagen. »Durch deinen Willen wurden sie und sind sie geschaffen«, sagt Johannes. Doch kommt nun alles darauf an, wie Schopenhauer diesen Willen faßt. Hier war schon dies von Bedeutung, daß die Abstufung zwischen dem Intellekt und Willen bei ihm lediglich nach dem Schema Effekt und Ursache vorgestellt wird. Der eine herrscht, der andere wird beherrscht und ist schlechthin abhängig, wenn es ihm nicht gelingt, zur Genialität zu gelangen. Das bildet den Unterschied dieses Kantianers von Fichte und Schelling. Obwohl auch Fichte Freiheitslehrer ist und Schelling sich zum Willen hinüberwendet, ohne den das Verständnis des Weltprozesses nicht erreichbar sei, so wird doch von beiden das Verhältnis zwischen dem Intellekt und Willen anders bestimmt als von Schopenhauer. Vernünftigkeit und – 279 –

Freiheit fallen für Fichte zusammen, und Schelling hat zwar später zwischen dem Willen und dem Intellekt unterschieden, jedoch so, daß das Sehvermögen in die Willensbildung selbst hineintritt, da die zweite Potenz in der Schellingschen Willenslehre, der besonnene, wählende Wille, das Denken in sich hat. Schopenhauer vermag dem Intellekt nicht mehr so viel einzuräumen. Er erzeugt ja bloß Phänomene; der Wahrheitsbegriff ist weg; so kann er auch dem Willen nicht helfen, seinen Inhalt zu finden, sondern ist selbst durch das Wollen schlechtweg bestimmt. Die letzten Konsequenzen dieses Gedankens sind noch lange nicht gereift, bei Schopenhauer selbst schon deshalb nicht, weil er immer wieder mit Verehrung auf den Rationalisten Kant rückwärts sieht. Immerhin sind die negativen Konsequenzen dieser Deutung des Intellekts schon bei ihm sichtbar. Ein Hegelianer, der in der Logik das die Welt formende Prinzip sieht, wird auch für sein eigenes Denken die logische Verpflichtung ernsthaft anerkennen; wie steht es aber, wenn der Intellekt lediglich der Diener des Willens ist und seinem Impuls gehorchen muß? Werden wir noch Einheit und System im Denken behalten? Woher kommt überhaupt dem blinden Willen die Logik? Erst spät tritt sie hervor als ein seltsames Gebilde, das er aus der Fülle seiner Produktionsmacht herausstößt. Schon der erste Ansatz der Gedankenbildung Schopenhauers zeigt sprunghafte Phantastik: Wille, Leib, Gehirn, Intellekt! Was ist ein Gehirn ohne Raum? Wir dürfen jedoch nicht fragen, wie der Wille sich rechtfertige, und ihm keine Gründe abzuzwingen suchen. Er macht, was er will, für die Wissenschaft eine nicht ganz angenehme Situation. Die folgenreiche Tatsache besteht nun darin, daß Schopenhauer P e s s i m i s t geworden ist; warum? Zunächst scheinen sich aus der Grundthese auch andere Möglichkeiten zu ergeben. Das ist freilich klar, daß der Wille, von dem Schopenhauer redet, Selbstbehauptung sein muß und nichts anderes; er ist ja solitär, einsam, das Erste und Einzige. Er beschreibt uns ein reines Wollen wie Hegel ein reines Denken, ein Wollen, von dem nur gesagt werden kann: sich will es, wie das reine Denken sich denkt. Allein es könnte ja ähnlich – 280 –

wie bei den kantischen Logikern daraus ein hochgehobenes Selbstgefühl entstehen, da wir in unserem Willen die Besonderung des Urwillens besitzen. Das Verhältnis zwischen dem einzelnen Willen und dem weltbildenden Willen denkt sich Schopenhauer nach dem kantischen Schema als unmittelbare Geeintheit. Indem wir in uns auf einen Willen stoßen, finden wir nicht etwas Abgeleitetes, sondern das Reale. Wir stehen also vollends in der Einheit mit dem Weltschöpfer, in der Einheit mit Gott. Unser Wollen, Gottes Wollen: das ist eins. Daraus könnte leicht eine feierliche, andachtsvolle Gedankenreihe entspringen; aber – Schopenhauer wird Pessimist und stellt sich mit einem negativen Urteil dem Willen entgegen. Daß persönliche Erlebnisse diese Wendung seines Denkens mitbedingt haben, ist zweifellos; sie reichen jedoch zur Erklärung des Vorgangs nicht aus. Logische Notwendigkeiten, die aus dem Tatbestand des menschlichen Lebens und der Geschichte des philosophischen Denkens entstehen, werden in diesem Ergebnis wirksam und haben diesem Gedanken die unausrottbare Macht verschafft und aus Schopenhauers persönlicher Geschichte ein wirksames Stück unserer nationalen Geschichte gemacht. Schopenhauer ist in Verlegenheit uns zu sagen, was eigentlich der Wille wolle. Er will leben, sich selbst erhalten und schafft sich dazu den Leib und den Intellekt; aber dadurch wird rätselhaft, was der Wille eigentlich will. Wenn er sich als Materie versichtbart oder den Intellekt produziert, so entsteht immer etwas wesentlich anderes als der Wille. Schopenhauer kann nur sagen: der Wille ist blind. Das Rätsel würde sich lichten, wenn Schopenhauer einen Willen kennte, an den sich eine unbedingte Zustimmung anheftete. Aber dem widerspricht die Tatsache, daß der Mensch stets Mühe hat zu sagen, was er denn wolle. Leere, Langeweile – das ist das Phänomen, das Schopenhauer überall entdeckt. Dazu kommt als zweites die Tatsache des Schmerzes, für die er ein geschärftes Auge besaß. Seltsam, daß der Wille zu leben gleichzeitig das Leiden schafft. Brauchen wir nicht zwei kausale Faktoren, um das Phänomen des Leidens zu fassen, da ja am Schmerz sich immer die Gegenstrebung erregt? In dem Moment, wo wir leiden, – 281 –

haben wir zwei Willen. Fragen wir nicht! Seltsam genug, daß der Wille zu leben sich so manifestiert. Doch dürfen wir nicht fragen, sonst sind wir wieder Intellektualisten und Rationalisten. Es lohnte sich, es einmal wieder zu sagen, daß der Schmerz da ist, nachdem ein Jahrhundert lang jeder sich und die anderen beglückt hatte. Schopenhauer hatte den Mut zu sagen: wir leiden. Er hat aber noch ein Drittes gesagt: der Wille sei schlecht. Es ist merkwürdig, daß er von diesem Gedanken nicht losgekommen ist, da er nicht aus seinen Prämissen entsteht. Freilich hat an demselben Kant einen gewissen Anteil, obwohl Schopenhauer den Pflichtbegriff abstößt. Auch so bleibt es aber mirakulös, wie wir dazu kommen sollen, den Willen als schlecht zu verurteilen. Wenn die Selbstbehauptung, die Sucht nach Leben in uns glüht und keine Schranken achtet: wie kann denn dies anders sein? Das ist ja das Reale, die uns und das All produzierende Macht; warum soll ich denn meinen Willen schlecht heißen? Der Schmerz, begünstigt ein solches Urteil, begründet es aber nicht ausreichend. Sichtlich wirkt die Tradition hier ein. Das sittliche Urteil ist nun einmal vorhanden, das die schrankenlose Selbstbehauptung verwirft. So kann sich auch Schopenhauer an dem Schauspiel nicht freuen, daß jeder den anderen zertritt, und er hat nun mit schonungsloser Feder die Schlechtigkeit des Menschen, speziell des Deutschen, beschrieben. Mit der Verurteilung des Willens als schlecht bereitet sich Schopenhauer das Recht und die Wollust des Hasses. Er hat vieles gehaßt, die Deutschen, die Juden, die Christen, die Frauen, die Kantianer, so ziemlich alles, was er gekannt hat; ausgenommen sind die beiden Genien Goethe und Kant, denen er, so verschieden sie voneinander sind, gleichzeitig seine Verehrung weiht. Für die öffentliche Ethik sind dadurch schwere Ergebnisse entstanden. In der deutschen Literatur war es das erste Mal, daß der Haß mit öffentlicher, wissenschaftlich begründeter Autorität bekleidet wird und zur Nation sprechen darf. Hobbes steht in dieser Beziehung Schopenhauer am nächsten; auch er war ein tiefer Hasser, aber gleichzeitig Rationalist. In der Theorie besitzt dort die Vernunft die Herrschaft über die Gedanken; bei Schopenhauer – 282 –

spricht sich dagegen der Wille ohne Verhüllung aus und proklamiert sein Recht, das, was die anderen sind, zu verneinen. Die Schar seiner Nachfolger ist ungezählt. Sogar dann, wenn dieser Haß das Schlechte trifft, ist die mit Schopenhauer beginnende Richtung der Literatur ein das Volkswohl bedrohender Vorgang. Die moderne Literatur ist voll von schonungsloser Enthüllung des Schlechten und taucht unser Geschlecht in eine Bußpredigt von grausamer Offenheit ein. Für die Kirche war es freilich nichts Neues, daß der Mensch schlecht sei und einen verwerflichen, dem Gericht Gottes verfallenen Willen in sich habe; aber ihr Bußwort ist mit der Anbietung der Gnade vereint. Auch Kant hat bereits gesagt, der Mensch sei radikal schlecht; er sagte dies aber im trockensten Philosophenstil und auch dort war die Gefahr schon vorhanden, daß wir eine Moral erhalten, die den Menschen entwertet, ihm aber nicht hilft. Sie ist durch Schopenhauer beträchtlich gewachsen. Ist denn eine so offene Bußpredigt nicht ein Glück, weil ihr der Wert der absoluten Wahrhaftigkeit zukommt? Barmherzige Bußpredigt ist eine Wohltat; hie Schopenhauers ist unbarmherzig, und seither gibt uns die Literatur oft genug nur die totale Bloßstellung des Bösen – ohne Rat. Wer das Böse darstellt, hat die Pflicht, die Scham nicht zu verletzen, und es gibt auch eine Schamhaftigkeit des Volks. Wenn auch die Bewahrung der Scham nicht das letzte Ziel ist und es Momente gibt, wo sie zurückstehen muß, damit die Buße und Befreiung möglich werde, so bleibt es doch bei jeder Bußpredigt eine heilige Pflicht, die Scham vor dem Absterben zu schützen, nicht nur im Einzelnen, sondern auch im Volk. Darum ist barmherzige Bußpredigt das, was wir brauchen, nicht nur der kalte Scharfblick des Realisten. Auch Schopenhauer gewinnt noch eine Ethik vom M i t l e i d aus. Das ist das Einzige, was er als Motiv zur Wendung des Willens schätzt. Er ist Determinist, da zwar der Urwille natürlich kein Gesetz vor und über sich hat, dagegen die Individualisationen desselben schlechthin determiniert sind. Es kann also weder von einem uns gegebenen Gesetz noch von einer Wahl gesprochen werden. Der Schmerz jedoch kehrt den Willen gegen sich selbst, und er ent– 283 –

steht nicht nur an unserem eigenen Leiden, sondern ist ein Gemeingefühl, das vom einen auf den anderen überspringt, und indem wir mit den anderen leiden, können wir unsere Schmerzfähigkeit so steigern, daß wir den Willen zum Leben verlieren und die Verneinung des Willens erreichen. Logisch ist der Gedankengang nicht in Ordnung, da wir nicht mit dem Willen zum Leben anfangen und mit der Verneinung desselben enden können. Wir dürfen hier aber überhaupt nicht nach der Logik fragen. Seltsam, daß das Mitleiden die einzige Form ist, in der das Gemeingefühl für Schopenhauer Bedeutung gewann. Er hat zwar gern auf die indische Spekulation und ihren Kernsatz verwiesen, die das Wort: »das bin ich« auf alles anzuwenden vermag. Indem ein und derselbe Wille in uns allen lebt, könnten wir ja eine starke Verbundenheit zu einer Sozietät durch ihn erhalten und zu einem Gemeinleben verknüpft sein. Schopenhauer ist aber von einer Sozialethik noch unberührt. Der Staat gilt ihm nur als Schutzanstalt, die uns zähmt. Zusammenhang mit den anderen erreicht er nur vom Mitleid aus. Der sich selbst behauptende Wille erzeugt lediglich den Kampf, bis uns das Mitleiden die Überzeugung beibringt, es sei besser, wir lebten nicht. Auch nach dieser Seite ist Schopenhauer für unser Volk ein einflußreicher Mann geworden; denn der Wert des Lebens ist in unserer Schätzung seither nicht gestiegen; wir sind geneigter als die früheren Geschlechter, es als leer und nichtig wegzuwerfen. Daß dies auch unseren Verkehr miteinander tief beeinflußt, liegt auf der Hand. Wichtig für seine historische Bedeutung ist auch der Begriff »Ge n i u s«. Zunächst wird der Intellekt lediglich als der Knecht des Willens betrachtet, und der hochgehobene rationale Anspruch, zu denken um des Denkens willen, an der Wirklichkeit gemessen, wo er sich vielleicht etwas weniger vornehm präsentiert. Auch dieser Gedanke hat sich kräftig in unser allgemeines Bewußtsein eingepflanzt. Es hat zwar nicht Schopenhauer allein bewirkt, daß man auf die Studierten nicht mehr mit derselben Andacht schaut wie einst; er hat aber als einer der ersten am Professor das Menschliche öffentlich ins Licht gestellt, auch dann, wenn er die Welträtsel – 284 –

deutet. Über dieses an den Willen verkaufte Denken steigt jedoch der Genius empor. Seltsam, daß sich der Intellekt doch wenigstens hie und da von seinem Herrn befreien kann; aber wir dürfen nicht fragen, wieso und warum. Die Tatsache ist da, daß der Intellekt in Einzelnen sich vom Drang des Bedürfnisses und vom Zwang der Not befreit, sich selbst findet und zu denken lernt, ohne daß ihn der Wille beherrscht. Das ergibt die großen Momente in der Geschichte; nun ist der Genius da. Was soll er denken? Allgemeines! Damit tauchen in dieser ganz anderen Umgebung noch einmal die »allgemeinen und notwendigen Wahrheiten« des 18. Jahrhunderts auf, noch einmal die Andacht für die Abstrakta, teils wegen des Zusammenhangs mit Kant, teils aber auch wegen Schopenhauers eigener Erkenntnistheorie. Einzelnes und Konkretes zu erfassen – das ergäbe ja die Knechtschaft des Gedankens unter das Begehren, weil am Wirklichen der Reiz haftet, der den Willen weckt. Darum ist derjenige der freigewordene Genius, der Allgemeines zu denken und Ideen zu bilden vermag. Es entsteht damit eine neue Form der Religiosität. Denn wenn der Genius erscheint, dann hebt die Feier an, freilich nicht die des Pöbels, wohl aber die der Wissenden. Zwischen dieser Art von Religion und dem Christentum entstand notwendig ein Kampf. Überhaupt verändern sich die Beziehungen zwischen der Philosophie und dem Christentum mit Schopenhauer. An die Stelle der bisher üblichen Anpassung und Umbildung tritt entschiedener, offener K a m p f . Vom Standort der Kirche aus ist dies nur zu begrüßen, da die Religionsmischungen nicht nur förderlich, sondern auch lähmend wirken. Sie machen die beiden miteinander vermengten Gedankenreihen ohnmächtig, während mit dem Kampf beide frei werden. Mit dem Pessimismus entstand die Notwendigkeit zum Kampf deshalb, weil sich nun entgegengesetzte Willensformationen gegeneinanderstellten. Gedanken lassen sich umbilden und verschmelzen, und wenn die Logik dabei zu kurz kommt, so wird dies nicht als ein schmerzhaftes Leiden empfunden; dagegen muß es zwischen sich widersprechenden Willensgestalten zur Entscheidung kommen. Den – 285 –

Willen zum Leben wollte Schopenhauer verneinen; das Christentum verheißt ihm Befriedigung. Die schlechte Selbstbehauptung nannte Schopenhauer zwar hässlich, aber notwendig; das Christentum fordert ihre Verneinung. Man muß ihm darin Recht geben, daß er sagte, er könne das Christentum nicht unangefochten lassen, obgleich es eine populäre Metaphysik darstelle, die manchen trösten möge; denn es hindere die Philosophie, natürlich die seinige. Als Kampfmittel benutzt Schopenhauer den Antisemitismus. Der Jude sei eine minderwertige, niederträchtige Rasse; das Christentum sei aber nach seiner einen Wurzel Judentum. Zum jüdischen Faktor geselle sich dann irgendwie eine Einwirkung aus Indien und gebe dem Christentum den weltflüchtigen, pessimistischen Ton. Hier ist zunächst als interessantes Phänomen hervorzuheben, daß sich an den religionsgeschichtlichen Entwurf sofort der Anspruch heftet, damit sei das Christentum abgetan. Es sei ja begriffen, wie es entstanden sei, also sei es erledigt. Als ob es irgendeinen uns berührenden Vorgang gäbe, der nicht durch Geschichte entstanden wäre. Es wirkt aber in diesem Gedankengang die rationale Stimmung nach: die Philosophie hat keine Geschichte; sie entsteht im Genius frei und unbefleckt durch das Geflecht geschichtlicher Bedingungen. Wo dagegen die Vernunft solche aufdeckt, ist sie über das so Entstandene erhaben und von ihm frei. Was erkannt ist, ist uns unterworfen und beherrscht. Das ist die pessimistische Betrachtung der Geschichte, die bei Schopenhauer im Einklang mit seinem Grundgedanken steht, aber auch unabhängig von diesem, z.B. auch von der hegelschen Lehre erzeugt worden ist und nun als wirksame Grundstimmung unsere heutige Lage mitbestimmt. Das Geschichtsbild, das Schopenhauer entwirft, ist mit philosophischer Methode ins Blaue hineingezeichnet. Von Beziehungen zwischen Indien und Jesus weiß er nichts; doch das nimmt dem Gedanken nichts von seiner Wahrscheinlichkeit. Die Beziehungen der Bußpredigt Jesu zum Alten Testament werden dagegen ignoriert, obwohl sie offenkundig sind. Es ist eine Kinderei, das Alte Testament ein optimistisches Dokument zu heißen, während es in – 286 –

der ganzen Reihenfolge der Geschlechter im schärften Kampf mit dem Willen und Handeln Israels steht. An der Kirche tadelte er ihren Jugendunterricht scharf; es sei unehrlich, das Kind sofort mit dem Gottesgedanken zu vergiften; dadurch werde es für die philosophische Erkenntnis verdorben. Eine scharfe Polemik richtete er auch gegen die Mission; es sei Überhebung, z.B. den Indiern [sic] das Christentum bringen zu wollen. Sein Angriff auf den Sonntag ist verunglückt; nicht dasselbe ist von dem auf die monogame Ehe zu sagen, der durch das Bündnis unterstützt war, in dem schon die Aufklärung mit der schrankenlosen Erotik stand; seit Schopenhauer ist die Frage, ob das Grundelement unserer Sozietät, die monogame Ehe, in Geltung bleiben soll, aufgerollt. Auf Schopenhauer, den Kritiker des Willens, folgte Nietzsche als Dogmatiker. Ihr Verhältnis zueinander läßt sich dem Hegels zu Kant vergleichen; denn es ist auch hier eine gewisse innere, logische Notwendigkeit in der Fortbewegung des Gedankens wahrnehmbar. Schopenhauer hat gesagt, unser Wille zu leben sei uns gegeben, aber gleichzeitig denselben kritisiert, ja gescholten. Wie kommen wir denn dazu, unseren Willen zu verneinen? Wir haben ihn und wollen ihn haben, so gewiß er das Reale an uns ist. Da im Einzelnen das Ganze sich manifestiert, wer will es richten? Wer ist über dem Ganzen? »Ich bin ein Jasager«, sagt uns Nietzsche; die Verneinung des Willens ist Widersinn. Festgehalten wird die Grundthese, daß der Intellekt eine Begleiterscheinung zum Willen sei. Damit ist weiter gegeben, daß wir besser täten, den Begriff »Wille« zu meiden, da für diesen das Bewußtsein mit seiner Zwecksetzung wesentlich ist. Diese Vorgänge sind aber für den Lebensakt sekundär. Zur Erzielung des Effekts ist das Bewußtsein eher hinderlich als förderlich. Was uns die Natur gibt, ist Trieb; wie weit derselbe auch Wille wird, ist eine sekundäre Frage. Jedenfalls wirkt der Wille nichts; dem Bewußtsein gegenüber ist Nietzsche Phänomenologe. Daß wir uns als Besitzer des Willens erscheinen, überhaupt, daß wir den Ichgedanken haben, das ist Schein. Ein Ja gibt er dagegen der Natur; darin wird der zweite – 287 –

Faktor sichtbar, der die Umbildung der Gedanken Schopenhauer durch Nietzsche beeinflußt: die Naturwissenschaft. Nietzsche arbeitet stark mit naturwissenschaftlichen Begriffen: Rasse, Vererbung, Instinkt, Degeneration. Wie ist der in uns vorhandene Trieb zu bestimmen? Zwecke, demgemäß auch alle ethischen Normen, fallen weg. Die Unterscheidung ist nur vom Gesichtspunkt »gesund« und »krank« zu gewinnen. Aufsteigende Lebensbewegung, absteigende Lebensbewegung unterscheiden sich. Jene erzeugt Stärke; diese Schwäche. Der Trieb ist Tr i e b z u r M a c h t . Die Macht wird ohne Widerstand im Bewußtsein nicht wahrgenommen. Wir brauchen, um der Macht bewußt zu werden und uns an ihr zu freuen, den Kampf und damit die Ungleichheit. Nietzsche hatte sehr lebhaft das Gefühl, er sage etwas Neues, und das ist auch, wenn wir auf die philosophische Tradition sehen, richtig. Unter seinen Vorgängern ist wahrscheinlich Hobbes am weitesten von der christlichen Überzeugung entfernt; aber auch er erklärt uns: das Naturgesetz, das unser Verhalten ordnet, sei durch das Wort definiert: daß wir dem anderen nicht tun, was wir selbst nicht leiden wollen. Damit ist die Gleichheitsregel als Naturgesetz behandelt; wir sollen den anderen gleich schätzen wie uns selbst. In fester Beziehung steht Hobbes Bedürfnis nach Frieden zu diesem Gedanken. In denjenigen Philosophien, die mit der religiösen Tradition in intimerer Fühlung stehen, z.B. bei Kant, finden wir vollends den Gleichheitsgedanken als das große sittliche Ziel, den Rechtsgedanken als unverletzliches Heiligtum und demgemäß auch das Friedensziel. Das empfindet Nietzsche alles als Degeneration, da damit der Naturtrieb im Menschen verfälscht und seine Zähmung dadurch bewirkt werde, daß man ihn zuerst krank mache. Interessant ist hierbei zunächst, daß wir, wenn uns bloß der Machtgedanke gegeben wird, wieder einen rein abstrakten Kausalgedanken vor uns haben. Macht – wozu? So scharf Nietzsche und Schleiermacher voneinander geschieden sind, darin gleicht die schleiermachersche »Abhängigkeit« der »Macht« Nietzsches. Was will die Macht bewirken? Zur Beantwortung der Frage kommt der – 288 –

große Gegensatz in Betracht, den uns Nietzsche immer vorhält: aufsteigende Lebensbewegung, absteigende Lebensbewegung. Soll die Macht zerstören oder beleben? Nietzsche hält uns bei dem Lustgefühl fest, das an der Machtübung haftet, einerlei, was sie wirkt. Sollte der Machtgebrauch geregelt werden, so schliche sich gleich wieder die Moral ein. Eins ist klar: mit dem Machtgebrauch, wie er ihn uns beschreibt, zerstört er die Sozietät; mit dieser zerstört sich aber auch der Einzelne. Dieser Machtgebrauch schlägt in Ohnmacht um, weil er unsere Lebensbedingungen antastet. Von diesem Gedankengang aus mußte der K a m p f g e g e n d i e K i r c h e ernst werden. Ihr hat Nietzsche dadurch eine wesentliche Besserung der Lage verschafft, daß er antischolastisch wirkt. Er entzieht die religiöse Frage der bloß logischen Operation. Denkbar oder nicht denkbar? Das ist nicht die von Nietzsche gestellte Frage, sondern er fragt: was wollt ihr, und könnt ihr das wollen, was ihr als Christen wollt? Diese Frage lassen wir uns gerne stellen; denn ihre Beantwortung ist für jeden innerlich gefestigten Christenstand ohnehin erforderlich. Wille zur Macht – warum ist von diesem Standort aus das Christsein schlimmer als jedes Laster? Erstens arbeitet das Christentum mit dem Gedanken »Sünde« und bringt damit in den Menschen eine Entzweiung hinein, die nie anders als mit der Degeneration des Triebs zusammen bestehen kann, schon deshalb, weil der Trieb umso sicherer wirkt, wenn er unbewußt bleibt. »Sünde« ist aber ein Reflexionsbegriff. Wir sollen aber nach Nietzsche den unmittelbaren Trieb obenansetzen, nicht die Reflexion. Nur ein entstelltes Bewußtsein und eine gebrochene Aktion kann daraus entstehen, daß wir uns selber richten und reuig uns von unserem eigenen Willen zu lösen versuchen. Verzichtet aber Nietzsche auf die Beurteilung des Wollens der anderen? Er wendet auf dasselbe beständig die schärfsten Maßstäbe an und hat starke Anathemata bei der Hand. Er verachtet und haßt und mutet uns zu, sein Urteil zu teilen. Wie können wir denn auf eine Begründung für unser verachtendes Urteil verzichten, wie uns das Nachdenken ersparen, durch das sich unser Neinsagen recht– 289 –

fertigt? Wollen wir andere verachten, so ist die Frage nicht mehr abweisbar, wie denn unser eigener Wille sich bewähre. Diese Polemik trifft auch nicht speziell das Christentum; denn wo finden wir die Moral nicht? Nietzsche empfiehlt uns den Griechen; aber wo ist der Grieche ohne Moral? Plato gehört selbstverständlich zur Dekadenz. Aber auch jene Jonier, die auf Homer lauschten, besaßen, so leichtfertig sie waren, eine Moral. Der Mensch, den Nietzsche schildert, ist noch gar nicht dagewesen, und er selbst hat ihn nicht erzeugt mit seinen leidenschaftlichen Antithesen, die hier den Lorbeer, dort die Verachtung spenden. Das Christentum speziell trifft sein Vorwurf, es bestehe aus einer schwächlichen Fürsorge für das Kranke. Mit der Scheidung in Schwache und Starke entsteht eine zwiefache Willensformation, die des Starken, der an der Unterdrückung des Schwachen seine Lust hat, und die des Schwachen, der sich an seinem Unterdrücker zu rächen sucht. Aus der Moral der Schwachen stamme das Christentum, dem der Haß gegen alles Starke wesentlich sei. Es gehört in der Tat zu den christlichen Merkmalen unserer Sozietät, daß sie nicht bloß für die Starken, sondern auch für die Schwachen da ist. Der Schutz für die Kranken, die Dummen, die Verbrecher, sobald sie vom Verbrechen sich lösen, ist unseren Staaten durch das Christentum beigebracht, und er folgt notwendig aus dem Universalismus des Evangeliums. Es ist aber religionsgeschichtlich merkwürdig, daß Nietzsche nur diese Seite am Christentum sah. Ist das wirklich alles? Schafft es nicht Willen, ungebrochenen Willen, der handeln kann und auch dann nicht zuletzt als Kraft sich erweist, wenn er des Schwachen sich annimmt und ihn aufrichtet? Ich zähle auch die Weise, wie Nietzsche seinen Angriff gegen das Christentum formuliert hat, zu den Belegen, daß wir im deutschen Protestantismus noch nicht den Normalbestand der christlichen Ethik erreicht haben und die kirchliche Tradition nach der ethischen Seite hin einer ernsthaften Korrektur bedarf. Er stammt aus Sachsen und kennt die lutherische Frömmigkeit, hat aber keine andere Vorstellung von ihr als: sie tröste, sie erspare die ethische – 290 –

Anstrengung, immer nur das Quietiv! Zwar hat er kein scharfes Ohr und steht zum Wahrheitsgedanken so gespannt, daß auch seine geschichtliche Beobachtung darunter notwendig litt. Aber wenn wir auch den Defekt in seiner Beobachtung stark in Anschlag bringen, so liegt doch in der Möglichkeit, daß ein deutscher Protestant sagen kann: die Kirche habe nichts als Trost für die Schwachen! ein Merkzeichen für die Kirche. Wenn uns Nietzsche fragt: wollt ihr nichts als Fürsorge für die Schwachen? habt ihr nicht den Mut zur Macht? so ist damit der Finger auf einen Punkt der Ethik gelegt, der unserer Pflege bedarf. Freilich können wir niemals eine Macht wollen wie Nietzsche, die die anderen und sich selbst zerstört, die Gemeinde zersprengt, Eremiten schafft, Napoleone u. dgl., auch nicht eine Machtübung, die wegen der Lust, die an ihr haftet, uns zum Selbstzweck wird. Unser Wille kann sich nur mit Paulus darauf richten, daß »Gottes rettende Macht« uns in ihrem Dienst verwende. Nur so gehört der Machterweis zu dem der Christenheit aufgetragenen Beruf. Bezeichnend ist auch, daß Nietzsche die vereinende Macht des Christentums unbekannt blieb. Daß es Kirche schaffe, nicht nur als Institution oder privilegierten Stand, sondern als innerlich geeinte religiöse Sozietät, das lag nicht in seinem Blick. Er hat im »Antichrist« auch eine historische T h e o r i e ü b e r d e n U r s p r u n g d e s C h r i s t e n t u m s gegeben, nach Philosophenart mit poetischer Lizenz. Jesus denkt er sich mit großer Schmerzfähigkeit ausgestattet und darum vor der Berührung mit der Außenwelt zurückbebend. Merkwürdigerweise hat er dennoch revolutionäre Tendenzen, getrieben von jenem Haß der Geringeren, die den Vorzug der Höhergestellten nicht ertragen. So kommt er an das Kreuz, das er entsprechend seiner nach innen gerichteten Sinnesart ohne Gegenwehr leidet. Dadurch entzündet sich nun erst recht die Rachsucht der Bedrückten, und die Lehre vom Kreuz des Christus entsteht als das Dogma der Enterbten, fähig, den Hellenismus zu vergiften und den römischen Staat zu zerstören. Diese Theorie trennt die passive, duldende Seite am Bilde Jesu von der aktiven, machtvollen; für alle Worte, die diese bezeugen, – 291 –

steht die Unechtheit von vornherein fest. So bringt er für Jesus eine überspannte Weichheit des inneren Lebens heraus, die doch einzig durch sein konstruierendes Verfahren entsteht. Interessant ist seine Darstellung doch als ein Beispiel für eine neue Wendung der religiösen Polemik, die uns wohl noch lange beschäftigen wird. Sie erörtert nicht mehr den christologischen Begriff oder die Beziehungen Jesu zu Gott, sondern wirft die Frage nach der psychologischen Denkbarkeit des evangelischen Christusbildes auf, wobei an seine Stelle neue Christusbilder treten, für die, wenn auch nicht ohne Feinheit der psychologischen Beobachtung, doch im Wesentlichen der Darsteller selbst den Stoff liefert. Für Nietzsche war Jesu Verzicht auf die Gegenwehr, jenes ganze Lieben, das leiden kann, einzig als Passivität vorstellbar, die mit weicher Träumerei von der Welt sich abkehrt und nicht mehr sieht, nicht mehr will und keinen Beruf mehr kennt. Der Griff nach der weltüberwindenden Macht zusammen mit Selbstlosigkeit, die auf die ewige Vollendung gerichtete Aktion zusammen mit der zum Sterben fähigen Demut blieb für ihn ein undurchdringliches Rätsel. Das hat für ihn zum Schluß genügt, so könne Jesus nicht gewesen sein. Solche Versuche, dem Christusbild eine dem Historiker vertraute psychologische Formation zu geben, haben sich seither wiederholt und werden sich vermutlich noch häufen; sie sind ein nicht unwichtiger Faktor, der unsere heutige religiöse Lage mitbestimmt.

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22. Der Gegenstoß gegen den spekulativen Kantianismus Die Motive dieser Bewegung liegen auch im K a n t i a n i s m u s selbst, nicht nur in äußeren Faktoren. Das hegelsche Dogma endete nicht dadurch, daß es widerlegt oder durch einen parallelen Gedankengang ersetzt worden wäre. Es verschwindet einfach, und man wendet sich »zurück zu Kant«. Dieser Gang der Geschichte hat darum auch für die Zukunft Bedeutung, weil er die Wiederholungen des spekulativen Kantianismus nicht unmöglich machte. Auf ähnliche Weise war das kirchliche Dogma am Anfang des 18. Jahrhunderts erloschen. Auch damals trat nicht eine stärkere Überzeugung mit festerem Grund an die Stelle des überlieferten, sondern das alte Dogma erlahmte und hörte auf ähnlich wie ca. 1850 das hegelsche Dogma. Zur Lebensfähigkeit eines Dogmas gehört, daß es darauf verzichte, ein fertiges System zu sein. Erhebt es dagegen den Anspruch, die dem Erkennen gestellten Aufgaben endgültig gelöst zu haben, so wird es sicher aufhören, in der Art, wie wir es nun in Deutschland schon zweimal erlebt haben, das erste Mal im großen Stil, als der mächtige Lehrbau der Kirche zusammenstürzte, das andere Mal im kleineren Maß, als die hegelsche Philosophie aufhörte. Wenn das Dogma nur noch zur Repetition auffordert, wird es absterben, weil wir den Denkprozeß nie so zur Ruhe bringen können und dürfen, daß sich der Akt nicht immer wieder von seiner Wurzel aus neu vollzieht. Ein zweiter hier wirksamer Vorgang war der Fortbestand der K i r c h e . Sie hätte nach der hegelschen Geschichtstheorie eigentlich verschwinden oder sich doch auf die zum Denken Unfähigen beschränken sollen, nachdem die höhere Form der Geeintheit mit Gott erschienen war. Allein die Kirche existierte auch im 19. Jahrhundert, und dies kräftiger als im 18. Wir haben für die evange– 293 –

lische, teilweise auch für die katholische Kirche das erhalten, was man im weitesten Sinn die »Erweckung« (revival) heißen kann. Es ging dabei nicht ohne Restaurationen ab und es mußte, weil das alte Dogma im 18. Jahrhundert einfach aufgehört hat, auf dieses zurückgegriffen werden. Daher entsteht in Erlangen Luthertum, in Tübingen ein kräftiges Streben nach Rückbildung der Lehre in das neutestamentliche Vorbild, in Halle eine Neubelebung des Pietismus, etwa in der spenerschen Form. Das war darin begründet, daß reiche, aber unbenutzt gebliebene Werte aus der Vergangenheit zu neuer Verwertung hervorgeholt werden mußten. Deshalb läßt sich aber die Kirche des 19. Jahrhunderts nicht bloß als künstliche Wiederbelebung früherer Bewußtseinsformen beurteilen, sondern wir haben in ihr vielfach einen echten Christenstand und wirkliche Überzeugung vor uns, die das Handeln so bestimmt, wie es die Gegenwart bedarf, mit offener Wahrnehmung der in der neuen Situation liegenden Ansprüche. Damit stand aber gegen die Alleinherrschaft der kantischen Gedanken ein energischer Gegner auf. Parallel damit vollzieht sich in Deutschland innerhalb des letzten Jahrhunderts eine das ganze Volk ergreifende G e s c h i c h t e , an der zwar die Intelligenz, in der Form der Aufklärung und in der Form der kantischen Wissenschaft ebenfalls mitbeteiligt war, jedoch nicht so, daß die Illusion entstehen könnte, nur die Denker hätten uns den Staat geschaffen und die Philosophen seien die Reichsgründer. Auf seiten der Universitäten hat man den Anteil, den die wissenschaftlichen Arbeiter am Gang der Ereignisse haben, nachdrücklich betont, gewiß mit Recht, und doch wurde es anno 1848 und 1870 sehr deutlich, daß die Geschichte nicht nur ein logisches Exempel sei, sondern daß wir für unsere Sozietät die bedürfen, die wollen können, wozu freilich auch das Denken unentbehrlich ist, daß aber mit dem Gedanken allein der die Tat schaffende Wille noch nicht gegeben ist, und mehr noch, daß wir die bedürfen, die nicht bloß einen starken, sondern einen guten Willen haben, und daß der für das Ganze zum Wohltäter wird, der den guten Willen so hat, daß er ihn zu vollbringen vermag. Auch in der Ausprägung des hegelschen Dogmas in der marxistischen Theorie – 294 –

kam das ergreifend zum Ausdruck. Einzig mit geschulten Köpfen, mögen sie noch so zahlreich sein, macht man keine Sozietät; die Frage ist immer wieder die: wer handelt? Um zu handeln, brauchen wir den Willen; um heilsam zu handeln, den guten Willen. Die deutsche Geschichte der letzten Jahrzehnte war eine Widerlegung des Intellektualismus und hat die Reduktion des Lebens bloß auf den Denkvorgang als eine Torheit dargetan. Mit der Geschichte verband sich die Naturwissenschaft und führte eine tiefe Veränderung in unserer geistigen Lage herbei. Wir hatten diese Beziehungen in ihrer erfolgreichen Wirksamkeit schon am ganzen Geschichtslauf vor Augen, an der Aufklärung, deren Geschichte durch ihr Verhältnis zur Natur und zu ihrer Deutung wesentlich mitbedingt ist, ebenso in den Endprodukten der hegelschen Arbeit (Strauß und Marx) und im Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer. Sie greifen aber über den philosophischen Kreis hinaus und gestalten die religiöse und ethische Lage des gesamten Volks. Dasjenige Ereignis, das hier die größte Macht betätigt hat, ist der D a r w i n i s m u s , mehr noch als die materialistische Theorie. Denn von Büchner und seinen Genossen wird uns eine Erklärung des Naturvorgangs vorgelegt, die nicht unsere Kenntnis und Auffassung desselben erweitert oder verändert, sondern zunächst nur das Urteil über seine Verursachung betrifft. Wenn auch davon die letzten Fragen sofort betroffen waren und für den Gottesgedanken nur Ablehnung übrigblieb, so war das Ganze nur eine Theorie, die nie die Macht der Tatsache besitzt. Dagegen hat der Darwinismus deshalb eine Epoche herbeigeführt, weil durch ihn die Prozesse, durch die die Gebilde der Natur entstehen, teilweise zuerst sichtbar oder doch neu beleuchtet worden sind. Er erläutert uns unmittelbar, was geschieht und geschehen ist, und spricht nicht nur von dem, was etwa im Grund der Prozesse als die sie schaffende Potenz anzusetzen sei. Er gewann auch nicht nur einzelne Beobachtungen, sondern eine neue Methode der Naturdeutung. Wie in den Anfängen der Aufklärung und der an der Vernunft geübten Kritik war es wieder die besondere Richtung des englischen Denkens, die aufregend und befruchtend das deutsche Denken – 295 –

vorwärts trieb. Neben dem zur Beobachtung bereiten Blick, der nicht nur den eigenen Lebensstand beschaute und genoß, sondern mit starkem Willen nach der Wirklichkeit griff, und neben der Unterordnung des Denkakts unter den Kausalgedanken, die das Werden der Dinge zum Gegenstand der Forschung machte, erwies sich die Herstellung von Abstraktionen, mit denen das Ich die Welt sich unterwerfen wollte, als leeres Spiel. Warum ist die Ausbildung der phylogenetischen Forschung auch ein religiöses Ereignis geworden? Warum stehen wir mit den Fragen, ob die Formationen des pflanzlichen Lebens auseinander entstanden seien, ob die Tierwelt sich in einer einheitlichen Linie entwickelt habe, wie die Arten zustande gekommen seien, nicht bloß bei technischen, dem Spezialforscher zu übergebenden Aufgaben? Warum haben sie notorisch die Ethik und Religion intensiv bewegt? Schon von der Logik her wird deutlich, daß die Veränderung des Artbegriffs folgenreich sein mußte. Rund gesprochen, war von Plato bis Darwin der Artbegriff ungefähr in derselben Fassung stillgestanden: er beschrieb die Art als ein intelligibles Ganzes, zur Materie hinzutretend und sie durchdringend, wobei jeder Artgedanke für sich ein geschlossenes Eins darstellt. Nun faßt die Beobachtung die Arten in ihrem Werden; die Bedingungen werden gesucht, unter denen diese Komplexe von Funktionen entstehen. Das war ein Ereignis, das tief in die Logik eingreift und die hellenischen Traditionen in derselben, die Verehrung des Abstraktums und des Syllogismus, erschüttert. Es hat aber sofort auch über sie hinaus den religiösen Gedanken bewegt. Denn die religiöse Beurteilung der Natur hat sich immer an den Artbegriff mit Eifer gehalten. In ihm besteht neben der Mathematik das Intelligible in der Natur und darum bewies die rationale Naturtheologie mit ihm den Schöpfer, den Intellekt als den Herrscher über die Materie, den Zweck, der den die Mechanik sich dienstbar machenden Willen offenbart. Wird das Werden der Art, wenn auch noch keineswegs gleich schon erläutert, doch wenigstens der Forschung zugänglich gemacht, so entstand der Eindruck unvermeidlich, das Fundament der religiösen Betrachtung der Natur stürze um. – 296 –

Durch die Stärke, die dieser Stoß erlangt hat, wird wieder offenbar, wie fest sich von Cartesius her der Gedanke mit dem allgemeinen Denken verbunden hat, daß erst da, wo die Naturwissenschaft versage, für die Theologie der Raum entstehe. Daher scheint er ihr dadurch entzogen zu sein, daß die natürlichen Gebilde in ihrem Entstehen verständlich werden und die Mechanik auch diese Seite am Naturprozeß erklärt. Eine Naturtheologie, die nur da an Gott erinnert wird, wo unser Wissen zu Ende ist, kam dadurch notwendig ins Gedränge. Doch nicht nur die von der Aufklärung vertretene Naturbetrachtung, auch Hegels These war durch die neue Forschungsweise schwer verletzt. Dafür, daß Ideen das seien, was den Naturprozeß erzeuge und lenke, waren die Arten stets der einleuchtendste Beleg. Nun kehrte sich aber das Verhältnis zwischen der Idee und dem Naturvorgang um; die »Ideen«, die den Artbegriffen Inhalt geben, sind das Zweite und Gewordene, nicht produktive Mächte, die die Vorgänge schüfen, sondern ihr Endprodukt. Allein die vom Darwinismus ausgehenden Erschütterungen sind überall spürbar geworden, nicht nur da, wo die Naturtheologie das Hauptstück im Gottesbewußtsein bildete, sondern auch da, wo die christlichen Überzeugungen dieses füllen, so daß die Kirche durch den Darwinismus vor eine Aufgabe gestellt wurde, die intellektuell und ethisch tiefen Ernst besaß. Sie wurde dadurch groß, daß sich der Darwinismus mit den aus der Aufklärung stammenden Überlieferungen verband. Nur dadurch kam der zunächst wunderliche, barocke Vorgang zustande, daß ein glänzender Fortschritt der Naturwissenschaft irreligiös gewirkt hat. Wenn sich uns der Einblick in die Natur öffnet und das Gebiet, das uns an ihr bekannt und verständlich ist, wesentlich erweitert wird und die Einheit, die aus dem ganzen Leben der Natur eine zusammenhängende Bewegung macht, uns ihre Majestät dartut, wie kann das als Motiv zur Verneinung Gottes wirken? Nur deshalb tritt diese Wirkung ein, weil die wissenschaftliche Arbeit seit der Aufklärung mit einem krankhaften Selbstgefühl verwoben ist, das Begriffene sei beherrscht und in die Gewalt des Menschen gebracht. Mechanische Faktoren, die Zuchtwahl, der Kampf um – 297 –

die Lebensmittel und ähnliches sind ja in der Bildung der Formen am Werk, so daß sich die Berechnung auch auf dieses ihr bisher entzogene Gebiet erstreckt. Vielen schien dadurch wegen des Machtgefühls, das am Begreifen und Berechnen haftet, der Naturprozeß um jede religiöse Tiefe gebracht. Vor einer Maschine betet man nicht. Notwendig ist es jedoch keineswegs, daß unsere Intelligenz, indem sie wächst, alles, was sie erfaßt, für uns profaniere und entwerte. Das Geheimnis, das wir brauchen, um uns vor der Natur zu beugen und ihren Wirker über uns zu sehen, bleibt wahrhaftig auch bei der glänzendsten Durchführung der Entwicklungslehre groß genug und wird uns durch sie erst recht eindrucksvoll vorgehalten. Die Naturandacht ist aber nicht einzig oder zuerst auf das gestellt, was uns an der Natur verborgen und unbegreiflich bleibt, sondern die Natur dient Gott zur Offenbarung durch ihre uns offene und sichtbare Wirkungsmacht. Wir brauchen die Naturandacht deshalb nicht zu verlieren, weil wir sehen lernen. Der Gegensatz gegen die vorhandenen sittlichen und religiösen Überzeugungen wurde dadurch verstärkt, daß von der Aufklärung her die wissenschaftliche Arbeit leicht in den Rationalismus übergeht. Damit wuchs die immer vorhandene Gefahr, daß wir unseren Lebensstand vollständig als das Produkt der natürlichen Prozesse deuten. Nach dem Darwinismus haben die höheren Formen in den niederen ihre Erzeuger, so daß die Bewegung als Entwicklung von unten nach oben verläuft. Die kausalen Potenzen sind in den einfachsten Funktionen enthalten; die ersten Bildungen sind noch am ärmlichsten ausgestattet; aus diesen entstehen erst die zu zahlreicheren und kräftigeren Leistungen ausgerüsteten. Das gab dann unvermeidlich einen heftigen religiösen Anstoß, wenn und weil sich mit der Beobachtung der Entwicklung zugleich der Rationalismus verband, der sie nicht bloß in ihrem realen Hergang wahrnehmen, sondern sie auch restlos erklärt haben will. Der Rationalismus kann sich in dieser Lage nur so helfen, daß er nichts wirklich Neues zustande kommen läßt, sondern im Neuen doch nur das Alte wiedererkennt. Dann bleiben die ersten, einfachsten Funktionen als das einzig Reale zurück, und es erscheint als die Aufgabe und das – 298 –

Resultat der Naturdeutung, alle höheren Lebensformen, vor allem den menschlichen Lebensbestand auf jene einfachsten Prozesse zu reduzieren. Die Verbindung der Entwicklungslehre mit einem spekulierenden Rationalismus ergibt aber ein phantastisches Gebilde, über das die nüchterne, zur Wirklichkeit gewendete wissenschaftliche Arbeit Herr werden kann und soll. Die Stoßkraft dieser Erwägungen wurde dadurch erhöht, daß nun die Geschichte der Natur und die der Menschheit eine Einheit bilden. Den Werdeprozessen, aus denen die natürlichen Gebilde entstanden sind, schließt sich die menschliche Geschichte an als von denselben Gesetzen beherrscht, und sie bildet in der Weltbewegung nur ein kleines Segment. Diese Seite der Theorie übte eine merkwürdige Doppelwirkung aus. In der einen Richtung wirkte sie stärkend. Man ergreift diesen Gedanken begeistert als Schutz gegen den Pessimismus; denn das ergab für das eigene Leben und für die Gesamtgeschichte ein anderes Ziel als die Verneinung des Willens zum Leben oder jenen trostlosen Griff nach der Macht, die nur zu töten und zu sterben weiß. So war der Einzelne in eine große Gesamtbewegung hineingestellt, die zu immer höheren und reicheren Formationen vorwärtsschreitet. Diese den Willen stärkende und der Verzweiflung am Leben widerstehende Verwendung des Gedankens hat seine rasche Ausbreitung und Popularisierung nicht wenig begünstigt. Im Kantianismus war man immer nahe am Pessimismus, auch bei Hegel, bei dem kein Endliches sich erhalten darf. Hier war der Mensch dagegen ein Kraftzentrum, das in seinem Maß die große Gesamtbewegung mitträgt, die zu neuen, reicheren Lebensformen aufwärts steigt. Freilich fehlt diesem Gedankengang eine Kehrseite nicht. Entwicklung – das klang trostreich, solange man vergaß, welche Zeiträume sie erfordert, welches komplizierte System von Bedingungen sie nötig hat und wie wenig das Einzelne für sie bedeutet. Drängten sich diese Erwägungen vor, dann heftete sich an die Theorie ein starkes Richtigkeitsgefühl und damit ein Erschlaffen des Willens, wobei sich der Mensch den Kräften hingibt, die ihn treiben und von denen er sich nun resigniert auch treiben läßt. – 299 –

Klarer und wohltätiger als die religiösen Wirkungen sind die ethischen Werte, die durch den Darwinismus gewonnen worden sind. Hier ist schon der Kampfbegriff zu nennen, der freilich noch näherer Bestimmung bedarf, damit er eine sittlich wirkende Erkenntnis sei. Wir haben es aber namentlich im Bereich unserer evangelischen Frömmigkeit nötig gehabt, wieder daran erinnert zu werden, daß wir uns nicht ohne Kampf die zum Leben erforderlichen Bedingungen erwerben. Die vom Neuen Testament ausgehende Gegenwirkung gegen die weichliche Passivität hätte uns schwerlich so wirksam und nachhaltig aus ihr aufgeweckt. Damit die Herrschaft eines schlaffen Glücksideals gründlich ende, mußte uns gezeigt werden, wie fest unser Leben an der Natur hängt, in der sich beständig in Stoß und Gegenstoß die Kräfte aneinander messen. Den Mut zum Kampf brauchen wir, weil wir handeln müssen. Mit der Notwendigkeit des letzteren ist auch jener gegeben, und da uns diese durch die Naturwissenschaft verdeutlicht worden ist, hat sie eine kräftige Gegenwirkung gegen die Sentimentalität und den bloßen Intellektualismus ausgeübt. Einen zweiten sittlich wertvollen Antrieb gab sie uns durch den Vererbungsgedanken. Die früheren Generationen haben den Vererbungsvorgang mit einem Leichtsinn behandelt, der uns heute nicht mehr möglich ist. Uns ist nun demonstriert, daß wir die Verantwortlichkeit für die tragen, die aus uns entstehen, wie wir unsrerseits die Gebilde derer sind, die uns erzeugten. Das kräftige Verantwortlichkeitsgefühl, das an dieser Einsicht entsteht, hat bereits wohltätige Folgen in unserem öffentlichen Leben hervorgebracht. Es ist heute nicht mehr einzig die Christenheit, die gegen die das Volk verderbenden Laster, z.B. gegen die Erotik und den Alkoholismus, kämpft. Was erweckt auch über den Bereich der christlichen Moral hinaus die Gegenwirkung gegen jene? Der Gedanke an die Vererbung, die Einsicht, daß die Generation, die mit ihrem Leben spielt, sich an den Nachgeborenen versündigt, weil die Geschichte einen festen Verband nicht nur zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, sondern auch zwischen ihr und der Zukunft stiftet. Und wenn die Ethik, die aus diesen Gesichtspunkten entsteht, – 300 –

zunächst nur Gesundheitslehre ist, im Bereich der Ethik gibt es keinen Raum für Eifersucht. Es handelt sich darum, für unser Volk die Bedingungen einer gesunden Lebensführung herzustellen. Das Resultat ist wertvoll, einerlei, ob es der Arzt oder der Geistliche schafft. Die darwinistisch verstandene Natur wirkt auch der egoistischen Beschränkung auf das eigene Leben entgegen. Denn der Organismus lebt nicht aus sich, sondern steht unter dem Gesetz, das ihm die Anpassung zur Bedingung seines Gedeihens macht. Auch damit ist freilich noch nicht an und für sich eine wertvolle Zielsetzung gegeben, sondern sie bedarf analog wie der Kampfesgedanke einer konkreteren Fassung, damit sie sittlich wirke. Immerhin ist es durch diesen Gedanken zur öffentlichen Überzeugung gemacht, daß wir uns für unsere Umgebung zu öffnen haben, weil in ihr sich für uns die Lebensbedingungen finden, und daß der Versuch, das Ich durch den einsamen Verschluß in sich selbst zur Vollendung zu bringen, selbstmörderisch ist. Der Wert aller Sozietäten ist daher für unsere Generation gestiegen, und es ist nicht Zufall, daß die Zeit des Darwinismus auch die einer steigenden nationalen Begeisterung geworden ist. Diese Stärkung kommt natürlich zunächst denjenigen Sozietäten zugut, die naturhafte Wurzeln haben, dem Volkstum und der Familie, aber auch diese besitzen einen ernsthaften ethischen Wert und sind für den Einzelnen eine Kraftquelle, ohne die er verarmt. Gleichzeitig haben uns die von der Naturwissenschaft ausgehenden Impulse einen gewissen Schutz gegen den Sozialismus verschafft, da die von ihr her begründbare Vorstellung von der Sozietät nicht sozialistisch ist und das abstrakte Gleichheitsideal nicht anerkennt. Differenzierung ist eines der Stichworte, durch die wir die Erträge der Entwicklungsprozesse benennen, ohne daß durch die Differenzierung das Gebilde aus den wesenhaften Verbänden heraus, gelöst würde, in denen es entsteht. So erhalten wir eine Lehre von der Sozietät, die für jede Besonderung der individuellen Kraft Raum hat und gleichzeitig das Bewußtsein begründet, daß jeder nur in den anderen die Bedingungen seines Lebens hat. – 301 –

23. Die religiösen Erträge der letzten philosophischen Bewegungen Durch das Erlöschen des spekulativen Kantianismus, durch die Wiederbelebung des Kritizismus, durch die gleichzeitige Obmacht der vom Standort der Entwicklung aus entworfenen Naturlehre sind die Bedingungen zum starken Aufwachsen des A g n o s t i z i s m u s reichlich gegeben. Er unterscheidet sich von der Skepsis dadurch, daß er das Denkgebilde überhaupt nicht mehr teleologisch versteht und nicht mehr daraufhin prüft, wie weit es Erkenntnis vermittle. Er hat auf die teleologische Deutung der Bewußtseinsvorgänge grundsätzlich verzichtet. Die in uns auftretenden Gebilde haben Tatsächlichkeit wie jedes andere Geschehen und müssen daher beobachtet werden; aber eine Beziehung derselben auf den Erkenntniszweck, die den Wahrheitsbegriff verwenden würde, erscheint als eine Überschreitung des uns gesetzten Kraftmaßes. Das Urteil über die Denkgebilde wird somit sistiert; haben wir wahrgenommen, daß und wie diese als eigentümliche Glieder des Lebensprozesses in uns wachsen, so ist unsere Aufgabe erschöpft. Die Agnostiker behalten dadurch Anschluß an Kants Phänomenologie, da auch sie die Bewegungen im Bewußtsein als Phänomene einschätzen. Sie stehen aber dadurch nicht nur von den Rationalisten, sondern auch von Kant in einer wesentlichen Differenz, daß im Agnostizismus der Begriff »Vernunft« fällt und vollends die »reine Vernunft«. In der »Vernunft« ist immer die teleologische Beziehung des Denkvorgangs auf das Erkennen mitgesetzt; sie wird als Organ betrachtet, mit dem etwas, sei es viel oder wenig, begriffen werden soll, eine Annahme, die der Agnostizismus streicht. Das ganze Innenleben wird hier nur zum Objekt einer lediglich den Tatbestand konstatierenden Beobachtung. – 302 –

Der Wert, den die Agnostiker zu unserer gemeinsamen Willensleistung beitragen, ist der, daß sie tolerant sind, und wir haben gegenwärtig die Toleranten nötig, nachdem unsere öffentlichen Überzeugungen zerbrochen sind und wir einander nur noch mühsam verstehen. Der Agnostiker kann von seinen Bewußtseinsgebilden nicht sagen, daß jedermann sie haben müsse wie er; denn die Bedingungen, unter denen sie entstehen, sind verhüllt; in anderen werden die auf sie einwirkenden Faktoren anders auftreten. Das ergibt prinzipielle Toleranz. Daraus kann sich noch ein weiterer ethisch wertvoller Ertrag ergeben: der Respekt vor der Tatsächlichkeit der inneren Prozesse, die sich in uns vollziehen. Der Agnostizismus kann daher einen gewissen Schutz gegen Verkünstelungen und Vergewaltigungen des inneren Lebens schaffen. Er besitzt kein fertiges Schema, in das er dieses hineinzwängen dürfte, hat also auch keinen Anlaß, an seinen inwendigen Vorgängen zwischen Schein und Echtem zu unterscheiden und, etwa in Spinozas Weise, einen großen Teil derselben als bloßen Schein zu entwerten, sondern er kann die Gebilde nehmen, wie sie in ihm entstehen. Kann er keinen Machtanspruch an andere erheben, so ist er gleichzeitig dazu befähigt, gegen sich selber treu zu sein. Vor der Benutzung des Agnostizismus zur Apologetik ist dagegen zu warnen, weil es immer ein Mißverständnis des Glaubensvorgangs ist, wenn auf die Ignoranz, oder die Skepsis begründet wird. Damit ist nicht jede Möglichkeit der Verständigung zwischen dem Agnostiker und dem Theologen abgeschnitten. Jenem kann vielleicht die Beobachtung vermittelt werden, daß sein Innenleben mit dem der anderen in den wesentlichen Grundzügen übereinstimmt, daß es auch hier nicht an einer Gesetzmäßigkeit fehlt, darum auch hier ein Urteil für unvermeidlich ist wie gegenüber allen anderen uns berührenden Prozessen. Dann, wenn das Innenleben die Gemeinsamkeit mit den anderen findet und unser Denken sich in seiner Einheit dem der anderen bewährt, ist der Agnostizismus auf rechtmäßige Weise überschritten, während ein Glauben, das auf die Verzweiflung am Erkennen begründet wird, daran eine stets schwankende Basis hat und sich mit Gewaltsamkeiten vermengt. – 303 –

Ein zweiter Vorgang, der unsere religiöse Lage beeinflußt, ist die Bildung des »M o n i s m u s«, wenn er auch für die wissenschaftliche Arbeit kaum eine führende Bedeutung gewinnen wird, da er mit spekulativer Kühnheit die Grenzen der Beobachtung weit überschreitet. Dagegen mag er über die das öffentliche Bewußtsein bestimmenden Gedanken leicht Macht gewinnen und wachstumsfähig sein; er wird vielleicht neben der Kirche die am kräftigsten ausgebildete Religion Deutschlands werden. Er beruht auf der Annahme, daß sich die ganze Mannigfaltigkeit des Naturprozesses auf eine Grundform des Geschehens zurückführen lasse. Die physikalischen Prozesse gehen ineinander über (Erhaltung der Kraft); vom physikalischen Prozeß zum Chemismus läßt sich ein Übergang ahnen; auch am Lebensvorgang mögen bestimmt physikalische und chemische Vorgänge aufgezeigt werden, die ihn begründen; zwischen den lebendigen Formationen setzt ohnehin der Entwicklungsgedanke die Einheit ins Licht; und bei dem kräftigen Bewußtsein von der Verbundenheit unseres inwendigen Lebens mit dem Leibe, das wir heute haben, scheint es keine Schwierigkeit zu bieten, die inwendigen Vorgänge in den einen großen Prozeß hineinzuflechten, der eine einzige Ursache habe, die aus ihrer unerklärlichen, produktiven Macht heraus diese Fülle von Formationen erzeugt. Indem hier der körperliche und der inwendige Vorgang als eine Einheit betrachtet und diese über den ganzen Naturprozeß ausgebreitet wird, verleiht der Monismus diesem eine gewisse Idealität, da wir nun nirgends mit etwas Totem, sondern überall mit einem zwar vielfach abgestuften, jedoch mit uns verwandten Innenleben in Beziehung stehen. Religiöse Wärme kann sich daher mit monistischen Betrachtungen leicht verbinden, und da alles, was uns die Naturandacht stärkt, eine positive Hilfe für uns ist, können auch sie ähnlich wie der Agnostizismus einen gewissen Schutz gegen die durch falsche Kultur verursachten Verkünstelungen des inneren Lebens gewähren. So erhalten wir aber immer nur eine Denkreligion, die sich in Meditation, Stimmung und Rhetorik erschöpft. Denn das Eine wirft seine Produktionen aus sich heraus und bildet sich in unendlicher Variation in seine Formationen um, ohne daß eine – 304 –

Rückwendung des Gebildes zu seinem Bildner möglich würde. Der Prozeß bewegt sich nur in der Richtung von der Ursache zu ihrem Effekt, so daß die Begriffe »Verkehr« und »Gemeinschaft« auf die Beziehung des Gewirkten zur wirkenden Kraft nicht anwendbar sind. Daher kann es in dieser Religion keinen Kultus geben; nur denkend werden wir unseres Hervorgangs aus der Urkraft inne, da uns die Natur merkwürdigerweise einen Rückblick auf die Fülle der aufsteigenden Entwicklungsreihe gewährt und uns dadurch das Bewußtsein verschafft, daß wir in allem, was in uns entsteht, immer wieder den einen Grundvorgang vor uns haben, der uns mit dem All vereint. Eine Gefahr tritt an den Monisten stets dann heran, wenn er die Differenzierungen, die in unserem Bewußtsein und dem Weltbild gesetzt sind, zu streichen und das Unterschiedene zu identifizieren unternimmt in Kraft seines Glaubens an die ursprüngliche und wesenhafte Einheit alles Geschehens, wenn er das Nichtdenken und das Denken, das Richtigdenken und das Falschdenken, das Nichtwollen und das Wollen, den richtigen Willen und den verwerflichen Willen vereinerleit. Alle monistischen Theorien erzeugen die Versuchung, das qualitativ Verschiedene zu identifizieren. Wird ihr nachgegeben, so entsteht die Denaturierung des Menschen, eine gewaltsame Verbildung des menschlichen Bewußtseins aus der ihm gegebenen Gestalt heraus in ein sog. Ideal, das sich dann im Kampf mit der Wirklichkeit unvermeidlich zerstört.

Durch diese Erträge der philosophischen Arbeit ist uns die Frage gestellt, wie sich durch diese Vorgänge die innere Lage der Christenheit gestaltet habe. Hier ist vor allem die Tatsache als wertvoll zu beurteilen, daß sich die Christenheit auf ihre S e l b s t ä n d i g k e i t besinnt. Sie muß es, nachdem der Kantianismus in den Pessimismus ausgegangen ist, die griechische Logik in den Agnostizismus umschlug und als das philosophische Schlußwort der Naturforschung der Monismus ihr gegenübersteht. Dadurch wird endlich in unserer Christenheit das Bewußtsein um ihre intellektuelle Pflicht erweckt, – 305 –

daß sie ihren Wahrheitsbesitz, selbständig zu erwerben und zu verwerten hat, daß es ein unmögliches Beginnen ist, gleichzeitig zweier Meister Jünger zu sein, daß die ihr gegebene Gewißheit Gottes und die Sendung des Christus und der uns verliehene Bestand seiner Gemeinde Tatsachen sind, deren reine Beobachtung und unverfälschte Darstellung eine Pflicht für sich ist, wozu sie keiner Erlaubnis vom Philosophen bedarf. Ist die Philosophie längst nicht mehr die Dienerin der Theologie, so ist nun auch das umgekehrte Verhältnis vorbei. Darum ist es auch nicht die Aufgabe der Christenheit, selber mit ihren Mitteln eine Philosophie zu erzeugen oder doch mit Sehnsucht auf einen künftigen Genius zu warten, der der philosophischen Bewegung irgendwie einen neuen, wirksamen Anstoß vermittle. Er soll uns willkommen sein wie jeder Genius; für die Kirche ist aber seine Ankunft keine Lebensfrage und es kann nicht ihre Sache sein, mit dieser Hoffnung sich die Kraft zur Arbeit zu lähmen, die ihr aufgetragen ist, ganz abgesehen von der Frage, ob diese Hoffnung gegenwärtig irgendwelche Aussicht auf Erfüllung hat. Diese Tatsache, daß der Kirche durch die philosophische Geschichte der letzten Jahrhunderte zur Selbständigkeit verholfen ist, stellt k e i n e s w e g s e i n e n M i ß e r f o l g d e s C h r i s t e n t u m s dar, wenn auch über viele Sonderbestrebungen der christlichen Geschichte mit dem Zusammenbruch der philosophischen Bewegung das Urteil gefällt worden ist. Es gibt in der religiösen Geschichte nur einen einzigen Vorgang, der den stets gültigen Kanon schafft, weil sich in ihm eine kreatorische Tat Gottes vollzogen hat: das sind der Christus und seine Boten. Wir haben daher unser Urteil über das, was »das Christentum« sei, vom Neuen Testament aus zu bilden und dieses erleidet durch die intellektuelle Selbständigkeit der Kirche keine Widerlegung seiner Ziele und keine Kassation seiner Weissagung. Das Neue Testament scheidet ernsthaft zwischen der »Welt« und der »Gemeinde Gottes«. Jene Gestalt der Kirche, in der sie alle Geister beherrscht und zwingt, ist dem Neuen Testament unbekannt. Der Kampf, in den wir durch den Ablauf der philosophischen Geschichte versetzt sind, entspricht seinen Aussagen über die menschliche Leistungsfähigkeit. – 306 –

Zusammengebrochen sind allerdings die nach Allwissenheit strebenden Dogmatiken, die die normative »Weltanschauung« herzustellen unternahmen. In den auf die Weltanschauung zielenden Fragen sind wir weiter von der Verständigung entfernt als je; wer eine solche für sich und andere herstellt, vertritt seine individuellen Ahnungen und Wünsche. Aber dieser Mißerfolg trifft nicht das Neue Testament, nicht die, die wir als die Zeugen Gottes mit dem Offenbarungsberuf ehren. Denn sie haben nicht eine Denkreligion vertreten, so daß wir durch die Arbeit unseres Intellekts unsere Verbundenheit mit Gott herstellten, und nicht eine Weltanschauung als Gottes Gabe geschaffen, durch die unser Denken mit Gottes Gedanken geeinigt würde. Dieses Ziel stammt aus dem Hellenismus und zerfällt mit dem Verwelken der hellenischen Traditionen, das die Veränderungen unseres Natur- und Geschichtsbildes herbeigeführt haben. Freilich macht das Neue Testament auch unseren Intellekt fromm, weil es den Menschen mit Gott eint, der nichts ist ohne seinen Intellekt, sondern auch für diesen der göttlichen Gabe und Hilfe bedürftig ist und deshalb diese auch empfängt. Wir haben im Gottesgedanken des Neuen Testaments den Antrieb zur freudigen und tapferen Denkarbeit. Aber das hat das Neue Testament bewußt und entschieden abgelehnt, daß die göttliche Gnade und Gabe nur oder zuerst darin bestehe, daß wir die Welträtsel lösen lernen und Gottes Weisheit uns aneignen, so daß wir daran das Maß der göttlichen Liebe hätten, daß sich der Weltprozeß für uns enthüllt. »Gott hat die Weisheit dieser Welt zur Narrheit gemacht.« Das geschah durch den Ausgang der Arbeit Jesu und die Gründung der Kirche; es ist wieder durch die philosophische Geschichte der letzten Generationen geschehen. Wieder stehen wir vor dem Weltlauf nicht als die Wissenden, sondern als die ihrer Unwissenheit Überführten. Und damit sind uns wieder die Bedingungen zum Verständnis des Christentums gegeben, zur Wahrnehmung des Glaubensvorgangs, ohne daß er beständig – sei es zur Ignoranz, sei es zu einer Abart der Wissenschaft – verbogen wird, und zur besonnenen, aufmerksamen Erfassung der das Werk Jesu bildenden Vorgänge. – 307 –

Wird die Christenheit selbständig, so braucht sie deshalb ihre Denkarbeit nicht bloß feindselig und gegnerisch den neben ihr stehenden Gedankenreihen entgegenzusetzen. So wenig wir im Rückblick auf die hinter uns liegende philosophische Geschichte sagen dürfen, sie bedeute den Bankerott der Gottesidee, ebenso wenig begründet der aus unserer Lage sich ergebende Vorblick das Urteil, sie sei für die Christenheit unerträglich und müsse ihr den Untergang bringen. Gewiß, der Kampf hat seine Schwere; von der Notwendigkeit, daß wir in ihm unterliegen, sprach aber nie der Glaube, der Gott als den Geber auch dessen, was der Intellekt bedarf, erfaßt. Dieser gibt uns die Zuversicht, daß wir den Kampf vollführen können und uns nicht notwendig an der Opposition gegen die das Christentum verneinenden Gedanken ethisch verderben. Dieser Ausgang würde allerdings dann eintreten, wenn die Christenheit verdummte und sich mittelst der Ignoranz schützen wollte und an der Gottesgewißheit bloß das Quietiv, nicht mehr ein Motiv zum Denken und Erkennen hätte. Es läßt sich jedoch eine positive und fruchtbare Teilnahme an aller geistigen Arbeit, auch an der, die jenseits der Kirche getan wird, recht wohl erreichen. Schon die K r i t i k ist ein positiv fruchtbarer Akt, sofern sie von der Wahrheitsliebe regiert ist, nicht vom Zank. Der Theolog [sic] ist der philosophischen Bewegung stets ernste kritische Aufmerksamkeit schuldig, da die Probleme, die diese bearbeitet, nie willkürlich gebildet werden, sondern aus dem Tatbestand des menschlichen Lebens entstehen. Es wäre freilich anders, wenn die Philosophen mit Recht von Weltanschauung sprächen als von dem, was ihre Arbeit erstrebe und leiste. Das ist aber eine Illusion; in Wahrheit handelt es sich immer um die Verständigung des Menschen über sich selbst. Allerdings führt uns die Frage, was der Mensch sei, sofort zu den Lebensbedingungen hinüber, die jenseits unseres Bewußtseins stehen, zu den formativen Kräften, die das Ganze und uns als Glied des Ganzen bilden. Damit bewegt sich aber der philosophische Gedanke nie weg von seinem Ausgangspunkt in unserem eigenen Lebensstand. Würde es sich bloß um »Weltanschauung« handeln, so könnten wir die Träumer träumen lassen. Da sie uns aber Darstel– 308 –

lungen des menschlichen Bewußtseins und Willens geben, besitzen die philosophischen Arbeiten auch für die Christenheit immer wieder großen lehrhaften Wert, da sie ja selbst auch das Humane an sich hat, in Fleisch und Blut ihren Gottesdienst übt und allem, was menschlich ist, in Gottes Auftrag die hilfreiche Hand zu bieten hat. Doch mehr als Kritik, G a b e u n d G e g e n g a b e haben hier reichlich Raum, ohne daß die der Christenheit gutstehende Selbständigkeit wieder gefährdet und der unserer Beobachtung überwiesene Tatbestand durch fremde Theorien immer wieder verdunkelt würde. Von demjenigen Menschen und seiner Bezogenheit auf Gott redet der Theolog [sic], um dessen Deutung sich der philosophische Gedankengang müht in allen seinen auseinanderklaffenden Gestaltungen. Nicht dadurch, daß wir den Philosophen nachahmen, sondern dadurch, daß wir ernsthaft beobachten ohne die Fabrikation von Systemen, werden wir dem Philosophen nützlich sein, wie auch er, was er an Beobachtung besitzt, uns als wertvollen Stoff für unser Erkennen darbietet. Selbständigkeit und Abschluß gegen die Gedanken, die der christlichen Überzeugung fremd sind und als Gegensatz ihr widerstehen, läßt sich nicht erreichen, ohne daß die Christenheit in ihrem eigenen Kreis die Einigung gewinnt. Durch den Ertrag der philosophischen Arbeit ist uns daher ein ernstes Bemühen um D o g m e n b i l d u n g aufgegeben. Nicht religiöses Eremitentum, nicht Liebhabereien, die nur die eigene Individualität in ihrem religiösen Denken wirksam machen, sondern Einverständnis zu schaffen, Dogma zu bilden, das ist jetzt unsere Pflicht, lebendes Dogma, nicht papiernes, begründetes, nicht bloß legales. Dieses gewinnen wir nur durch die Teilnahme aller am Erkennen, dadurch, daß jeder von uns die Denkarbeit ernsthaft besorgt, die uns durch unsere Berufung zu Gott erteilt ist. Dogma entsteht nicht durch Tyrannis; diese schafft nur tötende Gesetze; sondern daraus, daß wir alle darüber uns ein klares Bewußtsein verschaffen, was in unser Leben von Gott als die für dieses formativen Kräfte hineingelegt wird. Damit wird die starke und berechtigte Neigung unserer Zeit zur Individualisierung nicht gehemmt. Für den Theologen ist diese nicht nur – 309 –

durch naturgeschichtliche Analogien, sondern durch die am Christus entstehende Gewißheit Gottes begründet; in ihr liegt das echte »Prinzip der Individualisation«, das Recht des Eigenlebens und die Besonderung desselben zu einer nicht wiederholbaren Einzigkeit. Für die dogmatische Arbeit, wie sie unsere Lage von uns fordert, muß es ein Hauptanliegen bilden, den individuellen Differenzierungen auch im religiösen Verhalten den ihnen zustehenden Raum zu schaffen. Nur so und eben dadurch wird die wirksame und echte Gemeinschaft erreicht, und diese bildet das klar zu erfassende Ziel. Die Kirche von heute muß lehren können, nicht ihre Einfälle, auch nicht Philosophie, auch nicht irgend ein dogmatisches S­ystem, sondern begründen soll sie ihre Erkenntnis, und nur so wird sie sie bewahren, Gewißheit Gottes erwecken; denn sie findet sie nicht schon vor. Nicht Fremdes soll sie lehren nicht Mischreligionen schaffen; sie soll lehren, was ihr anvertraut ist, was sie von dem, der sie schuf, empfangen hat. Um zu lehren, muß sie denken; denn ohne Denken gibt es kein Erkennen, und die Notwendigkeit, daß wir denken müssen, steht durch den Verlauf und Ausgang unserer philosophischen Geschichte felsenfest.

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Fremdwörter und Latinismen (Auswahl von weniger gebräuchlichen Fremdwörtern, die in der philosophischen Fachsprache oft einen von der Umgangssprache abweichenden Sinn haben) Affirmation Bejahung Aggregat ein äußerlich Zusammengesetztes im Unterschied zu dem organisch Verbundenen Agnostizismus grundsätzlicher Verzicht auf verbindliche Erkenntnis Akkommodation Anpassung amor generosus hochherzige Liebe Antinomie Widerstreit von zwei Aussagen, die sich beide gleich gut begründen lassen a posteriori »vom späteren her«; wird verwendet für eine Erkenntnis, die aus der Erfahrung stammt Apperzeption Wörtlich »Hinzu-wahrnehmung«. Eingliederung eines neuen Inhaltes in das vorhandene Wissen; auch Selbstbewußtsein a priori »vom früheren her«; apriorisch heißt eine Erkenntnis, die durch Erfahrung weder bewiesen noch widerlegt werden kann und die der Erfahrung vorausgesetzt ist asylum ignorantiae Freistätte der Unwissenheit Attribut Merkmal, wesentliche Eigenschaft Axiom ein unmittelbar als richtig einleuchtender Satz causa sui Ursache seiner selbst contingentia zufällige Gegebenheiten, im Gegensatz zu notwendigen divinisieren vergöttlichen, als göttlich behandeln ens entium das Wesen aller Wesen, das eine Sein, das alles andere Sein begründet esoterisch nur für einen »inneren Kreis« bestimmt

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Eudämonismus eine Ethik die »Glückseligkeit als Ziel alles Strebens ansieht Evidenz die unmittelbar einleuchtende Selbstbezeu gung einer wahren Erkenntnis Fulguration Wetterleuchten generatio aequivoca eine Erschaffung, bei der das Erschaffene vom Schaffenden der Art nach verschieden ist harmonia praestabilitata eine (von Gott) zum Voraus gesetzte Übereinstimmung hedonistisch auf Glück als sinnliche Lust bezogen heterogen aus Ungleichartigem zusammengesetzt hypostasieren eine transzendente (göttliche) Wirklichkeit bzw. einen Begriff konkret oder personhaft auffassen Impenetrabilität Undurchdringlichkeit influxus physicus natürlicher Einfluß intelligibel wesenhaft vom Denken bestimmt und dem Denken zugänglich Intension der einem Quantum anhaftende Grad kassieren aufheben, für ungültig erklären kategorisch unbedingt gültig Korrelat ein Zusammenhang, der nur als wechsel seitige Beziehung sinnvoll ist Kosmogonie Lehre von der Weltentstehung lex naturalis natürliches Gesetz, nicht unser »Natur gesetz« Metaphysik ein Sammelbegriff für das, was Aristoteles »erste Philosophie« nannte, nämlich die Bemühung um die Sinnfragen, die den »Augenschein« überschreitend unser Dasein betreffen und die alles begründende Wirk lichkeit erörtern modus Daseinsweise Monade (Monas) eine »innerliche« Einheit als ursprünglich Ganzes, nicht Zusammengesetztes und also Teilbares Monismus eine Lehre, welche die gesamte Wirklichkeit aus einem einzigen Prinzip ableitet Obskurantismus Neigung zu unberechtigter Dunkelheit Omniszienz Allwissenheit Ontologie Lehre vom Sein als solchem, d.h. seinen allgemeinsten Bestimmungen und Begriffen

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ordine geometrico nach geometrischer Methode Organon Werkzeug; auch Bezeichnung für die logischen Schriften des Aristoteles Paradigma Musterbeispiel Pauperismus Armut Phänomenologie Lehre von dem Erscheinenden Perzeption jeder psychische Akt, der etwas repräsentiert Positivität einfache Gegebenheit Postulat Forderung, auch im Sinne einer denkerisch notwendigen Annahme Privation Beraubung, Entziehung Prolepse Vorwegnahme Providenz Vorsehung Quietiv Anlaß zur Beruhigung, auch zu falscher Reduktion Zurückführung, auch im Sinne einer Minderung Spekulation gedankliches Erfassen von »Sachen«, die jenseits der Erfahrung liegen; bei Hegel: konkretes Erfassen von Begriffen statutarisch auf eigener, eigenmächtiger Setzung beruhend subsistent durch sich selbst bestehend Substanz das durch sich selbst Seiende, der Träger alles Realen, das Beharrende Syllogismus Schluß in einem logischen Schlußverfahren synthetisch synthetische Urteile fügen etwas Neues hinzu, weil das Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist; Gegensatz: analytische Urteile, die inhaltlich nichts Neues bringen tabula rasa leere »abgeschabte« Schreibtafel Teleologie die Lehre von der Zweckbestimmtheit Theodicee denkerischer Versuch der Rechtfertigung Gottes Theologumenon Gegenstand theologischer Erörterung Ubiquität Allgegenwart virtus Tüchtigkeit, Tugend

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Personenregister Aristoteles (384–322 v. Chr.) . . . 9, 29, 36, 50, 57f, 182, 212f Arnauld (1612–1694) . . . . . . . . . . . 37 Augustin (354–430) . . 130, 212, 227 Baader (1765–1841) . . . . . . . 100, 165, 191–198, 199 Baco (1561–1626) . . . . . . . . . 37, 110 Baur (1792–1860) . . . . . . . . 165, 201 Berkeley (1685–1735) . . . . . . 37–41, 110–114 Biedermann (1819–1885) . . . . . . . 209 Böhme (1575–1624) . . 100, 180–182 Bossuet (1627–1704) . . . . . . . . . . . 99 Büchner (1824–1899) . . . . . . . . . 269 Buffon (1707–1788) . . . . . . . . . . . 102 Cartesius/Descartes (1596–1650) . 7, 9, 14–49, 69, 81, 96, 107, 112, 122, 130f, 133, 136, 139, 157,181, 198, 239, 250 Clarke (1675–1788) . . . . . . . . . . . . 71 Claudius (1740–1815) . . . . . . . . . 100 Cromwell (1599–1658) . . . . . . . . 122 Darwin (1809–1882) . . . . . . 269–277 Dörpfeld (1824–1893) . . . . . . . . . 237 Eucken (1846–1926) . . . . . . . . . . 178 Fenelon (1651–1715) . . . . . . . . . . . 99 Fichte (1762–1814) . . . . . . . . . . 121, 122, 137–139, 146, 148, 154–159, 164–167, 168–178, 180, 186, 194, 198, 202, 207, 217f, 221, 226, 250f Friedrich II. (1712–1786) . . . . . . . 87 Fries (1773–1843) . . . 128, 146f, 220 Galilei (1564–1641) . . . . . . . . . . . 181 Garve (1763–1841) . . . . . . . . 98, 106 Gibbon (1737–1794) . . . . . . . . . . 103 Goethe (1749–1832) . . . . 55, 63, 83, 103, 106–109, 159, 171, 179, 255

Hamann (1730–1788) . . . . . 100, 103 Hegel (1770–1831) . . . . . 43, 121, 148, 154–159, 165, 198–217, 218, 222, 226, 229, 231–234, 239, 252, 259f, 266f, 269, 271 Herbart (1776–1841) . . . . . . 58, 121, 148, 157–159, 180, 237–249 Herder (1744–1803) . . . . . . . . . . 171 Hobbes (1588–1679) . . . . . . . . 19, 37, 46–49, 88, 110–114, 193, 255, 261 Hofmann (1810–1877) . . . . . . . . 233 Holbach (1723–1789) . . . . . . . . . . 98 Homer . . . . . . . . . . . . . . . . . 106, 263 Humboldt, A. v. (1769–1859) . . . 102 Hume (1711–1776) . . . . . . . . . 16, 37, 110–114, 117 Jakobi (1743–1819) . . . . . . . . . . . . 63 Jesus der Christus . . . . 90f, 96f, 113, 150, 162–166, 174–178, 186f, 197, 211–215, 218, 224–226, 259, 265f Johannes . . . . . . . . . . 108, 164f, 251 Kant (1724–1804) . . . . . . 10, 16–20, 40, 43, 64, 98, 101, 107, 109, 112, 115–151, 151–160, 171, 179f, 186f, 191, 197f, 201, 203, 220f, 233f, 237f, 249f, 252, 254f, 258, 260f, 267 Kierkegaard (1813–1855) . . . 200, 208 Kopernikus (1473–1543) . . . . . . . 117 Lasalle (1825–1846) . . . . . . . . . . 192 Lavater (1741–1806) . . . . . . . . . . 103 Leibniz (1646–1716) . . . . 10, 18, 43, 50, 60, 67–76, 77, 90, 100f, 117, 124, 131, 185, 199 Lessing (1729–1781) . . . . 63, 77, 84, 89, 96, 98, 223 Linné (1707–1778) . . . . . . . . . . . . 102

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Locke (1632–1704) . . . . . . 16, 37, 34, 110–114 Lotze (1817–1881) . . . . . . . . . . . . 237 Ludwig XIV. (1643–1715) . . . . . . . 99 Luther (1483–1546) . . . . . . 122, 140f, 186, 227, 232 Malebranche (1638–1715) . . . 18, 20, 31, 37–46, 54 Marx (1818–1883) . . . 192, 206, 208, 211, 216, 219, 269 Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Melanchthon (1497–1560) . . . . . . 159 Mendelssohn (1729–1786) . . . . . 223 Montesquieu (1689–1755) . . . 77, 83, 103 Napoleon (1769–1821) . . . . 99, 109, 1 72, 174, 265 Newton (1643–1727) . . . . . . . 49, 71 Nietzsche (1844–1900) . . . 260–266, 269 Oetinger (1702–1782) . . . . . . . . . 100 Pascal (1623–1662) . . . . . . . . . 20, 32 Paulus . . . . . 130, 164, 214, 227, 265 Plato (428–348 v. Chr.) . . . . . . . . 50, 180–182, 203, 263 Plotin (204–270) . . . . . . . . . . . . . . . 9 Reimarus (1694–1768) . . . . . . 84, 97 Ritschl (1822–1889) . . . . . . . . . . 128 Robespierre (1758–1794) . . . . . . . 122 Rothe (1799–1867) . . . . . . . . . . . 210 Rousseau (1712–1778) . . . . 64, 77, 81, 83, 88, 92f, 103, 193, 197

Rudolff (1646–1718) . . . . . . . . . . . 32 Schelling (1775–1854) . . . . . . 63, 83, 121, 148, 155–159, 165, 178–191, 202f, 217f, 250f Schiller (1759–1805) . . . . . 106f, 109, 146, 159 Schleiermacher (1768–1834) . . 58, 65, 79, 96, 112, 139, 148, 154, 156, 158f, 165–167, 180, 193, 217–236, 262 Schopenhauer (1788–1860) . . . . . 58, 121, 148, 151, 154, 157–160, 162, 167, 180, 187, 233, 249–270, 269 Schubert (1780–1860) . . . . . . . . . 100 Semler (1725–1791) . . . . . . . . . . . 103 Shakespeare (1564–1616) . . . . . . 106 Sokrates (469–399 v. Chr.) . . . . . . 50 Spener (1635–1705) . . . . . . . . . . . 268 Spinoza (1632–1677) . . . . 18, 49–66, 69, 71, 77, 107, 111, 114, 131, 153, 199, 250, 278 St. Martin (1743–1803) . . . . . 99–101 Stein Freiherr v. (1757–1831) . . . . . 99 Strauß (1808–1874) . . . . . . 122, 186, 201, 209, 211, 213, 269 Überweg (1826–1871) . . . . . . . . . 179 Vinet (1797–1847) . . . . . . . . . . . . 208 Vischer (1807–1887) . . . . . . 108, 209 Voltaire (1694–1778) . . 77, 83f, 87, 89 Wolff (1679–1754) . . . . 130–132, 137 Ziller (1817–1882) . . . . . . . . . . . . 237

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Unveröffentlichte Manuskripte Band 1

Adolf Schlatter Einführung in die Theologie Im Auftrag der Adolf-Schlatter-Stiftung herausgegeben von Werner Neuer 2013. 223 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, Format: 14 x 22 cm ISBN 978-3-7668-4274-9

Die 1924 gehaltene und aufgrund einer stenographischen Mitschrift des Kirchenhistorikers Erwin Mülhaupt für die Nachwelt erhaltene Vorlesung »Einführung in die Theologie« vermittelt einen ganz neuen Einblick in Schlatters Verständnis von Theologie, ihren Voraussetzungen, Methoden und Zielen. Die von dem Schlatter-Forscher Werner Neuer mit einer Einführung und sachkundigen Erläuterungen versehene Vorlesung spiegelt nicht nur die damalige theologische Diskussion wider, sondern sie vermittelt auch einen oft verblüffend aktuellen Eindruck von den immer wiederkehrenden theologischen Fragen. Sie stellt daher gerade für Theologie und Kirche heute eine Bereicherung dar. Das vorliegende Buch enthält auch Schlatters Rede »Erfolg und Miß­erfolg im theologischen Studium«, mit der sich der Tübinger Theologe 1931 nach einer 50-jährigen akademischen Lehrtätigkeit von seinen Studenten verabschiedet hat.

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Unveröffentlichte Manuskripte Band 2

Adolf Schlatter Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I Die Berner Vorlesung (1884): Einführung in die Theologie Franz von Baaders Im Auftrag der Adolf-Schlatter-Stiftung herausgegeben von Werner Neuer 2016. 181 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, Format: 14 x 22 cm ISBN 978-3-7668-4385-2

Der bedeutende Exeget und Systematiker Adolf Schlatter (1852– 1938) hat in seinem Frühwerk tiefgründig und eigenständig über das Verhältnis von Theologie und Philosophie, Glaube und Vernunft nachgedacht. Ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem katho­lischen Philosophen Franz von Baader (1765–1841) entwickelt er in dem hier veröffentlichten Nachlasstext eine klare und knappe Auseinandersetzung mit der gesamten neuzeitlichen Philosophie. Sie ist zugleich ein überraschend frischer und aktueller Beitrag zu den Grundlagen ökumenischer Verständigung. Der Leser lernt Schlatter von einer neuen, unerwarteten Seite kennen und wird zugleich Zeuge eines theologischen Ansatzes, der alles andere als überholt ist.

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Unveröffentlichte Manuskripte Band 3

Adolf Schlatter Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II Die Berner Vorlesung (1883): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis Im Auftrag der Adolf-Schlatter-Stiftung herausgegeben von Werner Neuer 2019. 181 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, Format: 14 x 22 cm ISBN 978-3-7668-4497-2

Der bedeutende Exeget und Systematiker Adolf Schlatter (1852– 1938) hat in seinem Frühwerk tiefgründig und eigenständig über das Verhältnis von Theologie und Philosophie, Glaube und Vernunft nachgedacht. In seiner bislang unveröffentlichten Vorlesung über »Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis« setzt Schlatter die dem christlichen Glauben zugrundeliegende Offenbarungsgewissheit nicht einfach voraus, sondern stellt sich dem in der neuzeitlichen Philosophie verbreiteten »Zweifel, ob Theologie überhaupt möglich sei«. Ein beträchtlicher Teil seiner Vorlesung besteht aus philosophischen Erörterungen. Dies ist für eine evangelisch-theologische Vorlesung jener Jahre eher ungewöhnlich und macht die Originalität, Besonderheit und Kühnheit von Schlatters Kolleg aus.

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